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HAND5UCH DER KLASSISCHEN
ALTERTUMSWISSENSCHAFT
in systematischer Darstellung mit besonderer Rücksicht
auf Geschichte und Methodik der einzelnen Disziplinen
In Verbindung mit P. Arndt, G. Autenrieth f, Ad. Bauer, Erich Bethe, Th. Birt,
Fr. W. V. Bissing, Fr. Blass t, H. Blümner, Ad. Bonhöflfer, K. Brugmann, H. Bulle,
G. Busolt, W. V. Christ f, Leop. Colin, L. Curtius, K. Dieterich, H. Dragendorff,
K. DyrofF, A. Ehrhard, E. Fiechter, H. Geizer t, E. Gerland, H. Gleditsch f, O. Gruppe,
S. Günther, C. Hammer, F. Heerdegen, A. Heisenberg, G. Herbig, Fr. Hommel, E. I lübner t,
Chr. Hülsen, W. Judeich, Jul. Jung f, G. Karo, K. Krumbacher f, W. Kubitschek,
W. Larfeld, H. G. Lolling t> E. Lommatzsch, E. Löwy, P. Maas, M. M^itius, P. Marc,
B. Maurenbrecher, A. Mayr, K. J. Neumann, B. Niese f, H. Nissen f, iß: Oberhummer,
G. Oehmichen, E. Pernice, E. Pfuhl, B. Piek, A. Eehm, 0. Richter, "g. Rodenwaldt,
G. Roeder, B. Sauer, M. v. Schanz, H. Schiller f, J. H. Schmalz, W. Schmid, H. Schmidt,
A. Schulten, J. Sieveking, K. Sittl f, O. Stählin, P. Stengel, Fr. Stolz, M. Streck,
L. V. Sybel, Herm. Thiersch, A. Thumb, G. Fr. Unger f, L. v. Urlichs f, M. Voigt f,
R. Volkmann f, K. Watzinger, K. Wessely, Th. Wiegand, W. Windelband, G. Wissowa,
P. Wolters, R. Zahn, Th. Zielinski
Begründet von IwäH VOIl MÜllCF, fortgeführt von Robcii VOn PÖhlmanil
Erster Band
Einleitende und Hilfsdisziplinen
Dritte völlig neubearbeitete Auflage
3. Abteilung
Kritik und Hermeneutik / Abriß des antiken Buchwesens
Von Theodor Birt
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK MÜNCHEN 1913
KRITIK UND HERMENEUTIK
NEBST ABRISS
DES ANTIKEN BUCHWESENS
VON
THEODOR BIRT
\WMtn*i*&hi^nm
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK MÜNCHEN 1913
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65"
Alle Rechte vorbehalten.
J. H Beck'sche Buchdruckerei in Nördlingei
Frinted in Germany
DEN DEUTSCHEN PHILOLOGEN
UND SCHULMÄNNEEN ZU IHEER
52. TAGUNG IN MAEBUEG A. L.
IM HEEBST DES JAHEES 1913
DARGEBRACHT
VOM YEEFASSEE
VORWORT.
Als ich nach Friedrich Blaß' Ableben es übemahm, eine dritte Auf-
lage der „Kritik und Hermeneutik" zu besorgen, konnte ich mich
doch nicht entschließen, die Ausführungen des ausgezeichneten Ge-
lehrten nach über zwanzig Jahren einfach zu wiederholen, noch weniger
aber, sie wie ein Korrektor abzuändern. Ich habe es daher vorgezogen,
den Gegenstand, den ich auch in Vorlesungen seit langem behandle, in
meiner Weise neu vorzutragen, indem ich an meinen Vorgänger nur hin
und wieder mich anlehnte. Dabei sind von mir sowohl die „Paläographie"
wie das „Buchwesen" ausgeschieden worden. Kritik und Hermeneutik
sind die Kunst, mit richtigem Verständnis zu lesen; die Kenntnis der
Paläographie und des Buchwesens wird von ihr vorausgesetzt und steht
zu ihr in dienendem Verhältnis.
Die Paläographie wird von kundigerer Seite in diesem „Handbuch"
eine Darstellung finden. Dagegen habe ich die Behandlung des Buch-
Avesens meinerseits übernommen und der Kritik und Hermeneutik in
diesem Teilband hinzugefügt. Es handelt sich dabei nicht um eine
Wiederholung meines früheren umfangreicheren Werkes „Das antike Buch-
wesen in seinem Verhältnis zur Litteratur", zu dessen angemessener Neu-
bearbeitung ich vorläufig nicht gelangen kann, sondern um eine übersicht-
lichere Zusammenfassung und deutlichere Entwicklung des Wichtigsten
und Wissenswertesten, wobei ich vielfach die neuen Studien und Ergeb-
nisse zugrunde legte, die von mir in dem Buche „Die Buchrolle in der
Kunst" im Jahre 1907 veröffentlicht sind. Denn ein Tag belehrt, wie
man sagt, den anderen, und so ist es auch nicht wunderbar, daß der
Leser in dem, was ich jetzt hier vorlege, wieder nicht weniges antrifft,
worin ich von den beiden früheren, ungleich stoffreicheren Werken ab-
weiche oder sie ergänzen zu können glaube.
Wende ich mich zu dem Abschnitt über Kritik und Hermeneutik
zurück, so werden Aufbau und Gliederung, die ich dem Stoff gegeben,
einer Rechtfertigung kaum bedürfen. Die Aufgabe selbst aber, die in der
Kritik und Hermeneutik Behandlung findet, ist im Grunde grenzenlos
und unerschöpflich. Bin ich zu ausführlich gewesen? oder zu karg? Dem
subjektiven Ermessen ist bei solchem Thema ungefähr alles anheimgegeben.
Ich habe mich bemüht, für die methodologische Erörterung möglichst
VTTT Vorwort.
zahlreiche Gesichtspunkte aufzustellen und sie durch eine angemessene
JBeispielgebung zu erläutern. Diese Beispielgebung führt aber nicht selten,
ja, fast allerorts mitten in die Kontroversen hinein, die die heutige For-
schung bewegen. Daher die gelegentlichen Exkurse, die das Gleichmaß
des Vortrags beleben sollen, ohne es zu zerstören.
Der Durchsicht der Druckbogen hat sich Prof. Chr. Jensen (Königs-
berg) freundlichst unterzogen und mir zudem mehrere wertvolle Hinweise
gegeben, die ich, vornehmlich in den „Zusätzen", noch verwerten konnte.
Ebenso haben meine Schüler F. Iber und G. Esau sorgsam Korrektur ge-
lesen, bei Herstellung der Inhaltsverzeichnisse Dr. H. Hollstein (Fulda)
wesentliche Hilfe geleistet. Allen Genannten sei auch an dieser Stelle
mein herzlicher Dank gesagt.
Marburg, 18. JuH 1913.
Theodor Birt.
INHALTSÜBERSICHT
Kritik und Hermeneutil^. Seite
Einleitung 3
I. Die Textgrundlegung 10
1. Die handschriftliche Überlieferung 10
2. Zitate 29
3. Lexika 33
4. Exzerpte 34
5. Florilegien 35
6. Übersetzungen und Paraphrasen . 36
7. Entlehnungen 37
8. Stichometrische Angaben .......... 39
II. Der niedere Teil der Hermeneutik 40
A. Formale Auslegung nach Grammatik und Stil ... 41
1. Das Wort 44
2. Lehnwörter 46
3. Über Homonyme und Synonyme 47
4. Die Veränderung der Wortbedeutung 53
5. Einfluß des Dialekts 55
6. Einfluß der Litteraturgattung ........ 58
7. Individuelles ........... 64
8. Metrisch-Prosodisches ; Ehythmik der Prosarede .... 69
B. Historische Interpretation und Sacherklärung ... 83
1. Biographisches 84
2. Zeitumstände . 93
3. Textauslegung 97
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes .... 124
1. Wort- und Silbentrennung ......... 125
2. Eigennamen 126
3. Die Veränderung der Akzente . . . . . . . . . 127
4. Berichtigung der Interpunktion 127
5. Verteilung der Worte an die Personen des Dialogs .... 130
6. Verkennung von Zahlzeichen 132
7. Vertauschung ähnlicher Buchstaben 132
8. Der Einfluß der Aussprache 134
9. Elision vokalischer Endungen in der Schrift 138
10. Falsche Auflösung von Compendien 139
11. Haplographie und Dittographie 140
12. Verstellung von Buchstaben im Wort 141
13. Auslassung oder Zufügung eines Buchstabens 141
14. Angleichung 142
15. Cruces .143
16. Lücken im Text 144
17. Umstellungen 147
X Inhaltsübersicht.
Seite
18. Modernisierung der Sprache 149
19. Doppellesnngen im Text 151
20. Emendationsversuche der Schreiber (jiagadioQi^coosig) .... 152
21. Ausfüllung von Lücken 153
22. Buchtitel gefälscht . 153
23. Falsche Initialen 155
24. Einschaltung erklärender Notizen 155
25. Sachliche Einschaltungen zur weiteren Belehrung .... 156
26. Äußerungen des Beifalls oder Tadels 157
27. Antwort des Lesers auf eine Frage im Text 157
28. Resümees 157
29. Trieb zur Amplifikation 158
IV. Die höhere Hermeneutik . 164
A. Persönlichkeit und Werkgattung 164
B. Zweck und Plan der Litteraturwerkc ...... 170
1. Kommentare 170
2. Lexika 171
3. Varia 171
4. Anthologien und Exzerpte 172
5. Die Historiker 172
6. Die kleinere Erzählung und die historische K^leinarbeit . . 173
7. Lehrschriften 175
8. Redekunst 176
9. Kleinere Gedichte und Briefe 177
10. Drama 182
11. Der Dialog 196
C. Quellen und Vorbilder 198
V. Die höhere Kritik 213
1. Veränderungen in der Buchteilung 213
2. Breviarien 214
3. Anstöße in der Komposition 214
4. Postume Werke und Verwandtes 216
5. Doppelte Redaktion und Umdichtung 218
6. Athetese einzelner Abschnitte 221
7. Pseudepigrapha 222
Abriß des antiken Buchwesens.
Einleitung 245
I. Beschreibstoffe 247
1. Naturwüchsiges 249
2. Türen und Älmliches 249
3. Geglättete Steinflächen 251
4. Bronzeplatten 251
5. Vaseninschriften 251
6. Palmblätter 252
7. Baumbast 252
8. Ostraka 254
9. Tierhäute 254
10. Holzplatten, Alba 256
11. Bleiplatten 257
12. Bücher aus Leinen 258
13. Die Wachstafel . . * 259
14. Die Papyrusrolle 263
15. Das Pergament 280
Inhaltsübersicht. XT
Seite
II. Die Verwendung der Beschreibstoffe 284
A. Praktische Zwecke 284
B. Litterarisches 289
1. Das Brouillon • 289
2. Buchbegriff und Buchgröße 292
3. Das Großrollensystem der älteren Zeiten . • . . . . 295
4. Eintragung der Schrift in die Bolle ....... 297
5. Das Lesen 303
6. BUderbücher und Goldschrift 305
7. Edition und Bucliliandel 307
8. Dedikation und Anekdota 312
9. Geldgewinn def Autoren ......... 315
10. Bücherpreise 322
11. Privatabschrift 325
12. Ausstattung der Rollen 327
13. Aufbewahrung der Rollen 332
14. Öffentliche Bibliotheken 335
15. Neueditionen und Bücherverluste . 341
16. Das Aufkommen des gehefteten Pergamentbuchs .... 344
17. Über Martial 12..... 346
18. Der Codex das Buch der Ärmeren 351
19. Beschaffenheit der Codices 356
20. Die allmähliche Übertragung der Litteratur in den Codex . . 360
Anhang I 367
Anhang II 373
Zusätze und Berichtigungen 377
Inhaltsverzeichnisse 383
KRITIK UND HERMENEUTIK
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft, I, 3. 3. Aufi.
EINLEITUNG.
Der Pliilologe mul5 Texte lesen; er muß sie lesbar machen, erklären.
Kritik und Hermeneutik sind gleichsam die beiden Augen, mit denen
er liest. Soll es die Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen sein,
uns Zweck und Wesen der philologischen Kritik und Hermeneutik zu
verdeutlichen, so muß dabei zunächst auf einiges Allgemeinere zurück-
gegriffen werden, das in ähnlicher Weise auch von L. von Urlichs in
seiner Grundlegung und Geschichte der klassischen AltertumsAvissenschaft
dargelegt ist.
Die Philologie ist von den alten Griechen begründet worden. Jedoch
hieß sie damals nicht „Philologie", sondern „Grammatik" (}^^a//^aar<x:iy, ^oa^aTiKö?
sc. rexvt]). Ihre Wesensbestimmung aber war, daß sie als die Kunst der
Betrachtung und Untersuchung dessen galt, was man in den Dichtern
und Prosaisten findet (Dionys. Thrax 1 und Schob Dionys. p. 667: rexvrj
&€a)QrjTixi] Tcbv Tragd jzoirjTaTg xal Xoyevoiv. Abweichendes bei Sext. Empiricus
adv. grammat. 1, 44). Sie war also die Kunst und der Beruf der Be-
trachtung des Gesamtbestandes der Litte ratur. Dazu waren allerdings
auch enzyklopädische Kenntnisse nötig, die uns Quintilian 1, 4, 2 aufzählt,
wie Musiktheorie, Astronomie u. s. f. Aber diese Kenntnisse galten nicht
als Selbstzweck; sie dienten nur der Lektüre; sie halfen nur den vor-
liegenden Text verstehen.
Dies die „Grammatik" im Dienst der Schule. cpdoXoyog war dagegen (piXoXoyog
ursprünglich der Gelehrte, der das Wissen mn des Wissens willen erwirbt,
der Vielwisser, Polyhistor und Antiquarius. Um sich von den eigenthchen
Grammatikern und Schulleuten zu unterscheiden, nannte sich zum ersten-
mal Eratosthenes den Philologen, so auch später Ateius in Eom (Sueton
gramm. 10) sowie Andromachos, der Gatte der Dichterin Myro (Wester-
mann, Biograph. S. 77). Das Wort war noch nicht Berufsbezeichnung.
Später freilich, bei Martianus Capella im 4. Jahrhundert, ist dann Philo- Philologie
logie der Inbegriff der höheren Bildung jener Zeit geworden als Summe
des enzyklopädischen Wissens, das auf Lektüre und Bücherkenntnis be-
ruht. Heute hat „Philologie" endlich die Stelle des antiken Begriffs der
Grammatik eingenommen. Sie ist ein Schulbegriff. Wenn wir aber heute
unseren Beruf und unser Lehrfach nach ihr nennen, dürfen wir nicht
vergessen, daß das Wort nicht ein Wissen, sondern nur die Liebe ziun
Wissen bedeutet; das (pdo-j der erste Bestandteil in (pdo-Xoyog, ist zu be-
tonen. Philologie ist also keine Wissenschaft, sondern ein Verlangen
nach ihr; sie ist Forschung.
4 Kritik und Hermeneutik.
Ihre Aufgabe aber hat ijich inzwischen erhebHch verändert, nicht nur
deshalb, weil das klassische Altertum für uns zeitlich so ferngerückt und
als ein abgeschlossenes Yölkerleben weit liinter uns liegt, sondern auch,
weil sich unser Gesichtsfeld heute wesentlich erweitert hat; wir kom-
mentieren heute nicht nur Schriftsteller, und nicht nur die Litteratur
ist es, was wir erfassen, sondern das Leben der alten Zeiten selbst.
Dieser weiten Aufgabestellung suchte August Böckh zu entsprechen, in-
dem er der Philologie eine umfassendere Begriffsbestimmung gab,i) als
selbst Kant sie ihr gegeben hatte.
Definition Nach Kant ist sie diejenige Disziplin, „die eine kritische Kenntnis
der Bücher und Sprachen (Litteratur und Linguistik) in sich faßt. Einen
Teil der Philologie machen die Humaniora aus, worunter man die Kenntnis
der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Ge-
schmack befördert. ..." Dies läuft auf die Vorstellung hinaus: Philologie
ist Wissenschaft von den Werkzeugen der litterarischen Gelehrsamkeit
und der Geschmacksbildung. 2) Böckh stellte die Philologie zur Philo-
sophie in Gegensatz und definierte: „Philosophie ist Erkennen des Un-
erkannten, Philologie ist Erkennen des Erkannten"; d. h. die letztere hat
die Aufgabe, alles das wiederaufzudecken, was die Vorzeit dereinst in Moral,
Naturkunde, Kimst u.s.f. erdacht und für die Menschheit erworben. Allein
auch diese Definition ist noch zu eng. Denn wenn z. B. der Grammatiker
fragt, warum griecliisches C aus Jod (in Cvyor) oder aus dj (in Zevg) hervor-
ging, so ist dies kein Erkennen des Erkannten (denn die alten Griechen
waren sich dieses Lautprozesses nicht bewußt), sondern es ist ein Er-
kennen des Gewesenen. Wir sagen also: Philologie ist das Erfassen
alles dessen, was im Bereich mensclüicher Kultur einmal gewesen ist;
sie ist Rekonstruktion vergangener menschlicher Kulturen. In
diesem Sinne reden wir auch von Altertumskunde; Altertumsforschung
aber wäre das richtigere Wort.
Hiernach erhebt sich noch eine Schwierigkeit. Trifft das Gesagte
zu, wie sollen wir dann noch die Geschichtsforschung von der Philologie
trennen und unterscheiden? Sind nicht beide dasselbe? In der Tat sind
sie das bei oberflächlicher Betrachtung; und doch läßt sich das scheinbar
Identische folgendermaßen auseinanderhalten. Der Philologe behandelt
das Gewesene, der Historiker das Geschehene. Solange ich von dem,
was vergangen, die einzelnen Erscheinungen und das in sich ruhende
Detail feststelle und untersuche, bin ich Philologe. Ich werde zum Histo-
riker, sobald ich die Einzeltatsachen in ursäclilichen Zusammenhang zu
stehen beginne und ein Hergang entsteht. Der Historiker kombiniert
das Gewesene zum Geschehen, indem er Bewegung, Werden, eine
Entwicklung vorführt, nach den Motiven der Veränderungen fragt. Der
Philolog analysiert des Sophokles Antigene als solche mit größter Sorg-
falt, um sie als Kunstwerk und Organismus für sich allein ganz zu be-
greifen. Für den Historiker kommt das Drama nur als Glied einer Ent-
1) Enzyklopädie und Methodologie der . ^) Vgl. A. Ludwich in Altpreuß. Mo-
phüol. Wissenschaften (s. unten S. 6). j natsschrift 40 (1903) S. 244.
Einleitung. 5
Wicklung in der Geschiclite der Dichtkunst in Betracht. Der Historiker
läßt uns die Varusschlacht erleben; der Philologe sucht das Schlachtfeld
für sie festzustellen. Daher schreibt der Philologe Kommentare und Ab-
handlungen; der Historiker erzählt.
Die Aufgabe der klassischen Pliilologie ist somit das Erforschen
der Kultur der sog. klassischen Völker. Ihr dienen die einzelnen
Forschungsgebiete, als da sind Religionsgeschichte und Mythologie, Staats-
imd Rechtsaltertümer, Litteraturgeschichte u. s. f., wie sie in dem groß
angelegten Unternehmen des Iwan-Mtillerschen Handbuchs der klassischen
Altertumswissenschaft systematisch verbunden, doch jede selbständig, vor-
geführt werden.
Ais Quelle aber für all diese Forschungsgebiete dient die Litteratur Hüfs-
der Alten, die erst gelesen sein will, die uns in den Handschriften des ^^^jg^ pi"ji^".
Mittelalters vorlieai und die wir durch Kritik und Hermeneutik benutzen logi«
lernen. Aber nicht nur diese Litteratur; weitere wichtige, ergänzende und
imentbehrliclie Hilfsdisziplinen sind:
1 . die A r c h ä o 1 o gi e als Erforschung der antiken Bildwerke und Bauten,
2. die Epigraphik oder Inschriftenkunde,
3. die Numismatik oder Münzkimde,
4. die Papyrologie.
Der unermeßliche Wert der Archäologie und auch der Epigrapliik
steht vor aller Augen. Auf Grund der Baubefunde und Inschriften wird
ja heute die Stadt- und Baugeschichte Roms gemacht, ebenso die Athens
mit seiner Akropolis, ebenso die Pergamons, Prienes u. s. f. Wie viel
hat uns allein das ausgegrabene Pompeji gelehrt! wde viel wird nicht das
jetzt auch halbAvegs ausgegrabene Antinoe lehren! Mehr als viele Autoren.
Auf Grund der Inschriften werden ferner heute die griechischen Dialekte,
Jonisch, Thessalisch, Böotisch u. s. f., dargestellt, wird seit Ritschi auch
die Geschichte der lateinischen Orthographie gemacht. Aber auch die
Münzen haben nicht nur handelsgeschichtlichen Wert, indem sie uns un-
mittelbar auf den antiken Geldmarkt versetzen; ihre datierten Prägungen
sind oft von hohem Kunstinteresse, immer aber historisch wichtig, und
ihre Legenden bringen für die Grammatik mitunter wertvolle Schreibungen
(besonders die griechischen; aber auch gen. plur. Romano) oskisch hampano
f. kampano u. a.). Die Papyri endlich überschütten uns mit einer Fülle
der Belehi-ung; icli erinnere nur daran, daß sie uns das Griechisch des
Neuen Testaments besser verstehen lehren, indem sie uns das echte Volks-
griechisch zeigen, das man in Ägypten sprach.
Selbstverständlicherweise findet nun auch auf diese vier Hilfsdisziplinen
die Kunst der Kritik und Hermeneutik Anwendung, von der wir handeln
wollen. Baureste, Statuen, Münzen, Grabsteine, Papyri bedürfen eben auch
der Auslegung, für die man nach sicheren Methoden sucht, sie bedürfen auch
der Kritik ; denn ihre Echtheit ist zu prüfen, an Bauten ältere und jüngere
Bestandteile kritisch zu sondern (wie an der Serviusmauer, am Theater
in Athen), zwei Teile eines in Stücke zerrissenen Papyrus sind wieder zu-
sammenzusetzen u. s. f. Aber nicht damit haben wir uns an dieser Stelle
zu beschäftigen. Denn auf jenen vier Gebieten der Forschung handelt es
0
5 Kritik und Hermeneutik.
sich um lauter Originale, die das Altertuin uns unmittelbar vorlegt. Auch
die heutige Papyrologie beschäftigt sich mit lauter Originalmanuskripten
der Antike. Im Nachfolgenden soll es dagegen vorzugsweise unsere Auf-
gabe sein, darzulegen, wie Kritik und Hermeneutik an solchen
litterarischen Werken auszuüben ist, die uns indirekt über-
liefert sind.
Die antiken Inschriften sind Yotivsteine, Grabsteine, Bauinschriften,
Gesetzestafeln, und ihr Inhalt betrifft meist das praktische Leben. So
gehört abei- auch der Inhalt der Papyri, die uns aus Ägypten so reichlich
zufließen, großenteils dem praktischen Leben und Privatverkehr an : Briefe,
Urkunden, Rechnungsablagen, Quittungen in Unzahl. Gleichwohl besitzen
wir sowohl Inschriften wie auch Papyri mit Htterarischen Texten, und
diese beanspruchen natürHch unsre höchste Aufmerksamkeit. Ich erinnere
nur an die Fülle der Homerpapyri, oder an den Hyperides, Alkman,
Timotheos, Herondas, BakchyHdes, Menander, Autoren, die uns nur auf
diesem Wege bekannt geworden sind. Aber auch als Steininschrift
besitzen wir einen epikureischen Lehrabriß (Inschrift von Oenoanda,
ed. Williams, Lips. 1907), Bruchstücke einer Rieseninschrift über grie-
chische Komödie (Körte, Rhein. Mus. 60, 444), die Gründungssage
Magnesias, eingegraben an den Mauern der Agora dieser Stadt; dazu das
Marmor Parium, dazu das Monumentum Ancyranum oder das Testament
des Augustus, auch letzteres ein Buchtext, der auf Stein pubhziert Avurde.
Dies sind die Fälle, in denen die Epigraphik und Papyrologie unserer
Aufgabe und dem Litteraturstudium des Pliilologen auf das nützlichste
entgegenkommt und sie ergänzt.
An dieser Stelle haben Avir es jedoch nicht mit solchen Texten zu
Aufgabe tun, die uns in Originalniederschrift, auch nicht mit solchen, die uns nur
in Exemplaren, die der Antike angehören, vorhegen. Über sie muß die
Papyrologie, resp. der betreffende Abschnitt der Paläographie Auskunft
geben. Ich will hier dagegen ganz vorzugsAveise von solchen Texten
handeln, die in Abschrift und meistens in Aviederholter Wiederabschrift
durch kontinuierliche traditio oder jiagddooig von Kennern and Litteratur-
freunden aus dem Altertum durch das Mittelalter hindurch uns überhefert
sind. Sie sind es, an denen sich die Kritik und Hermeneutik in erster
Linie zu üben hat.
Fragen Avir endlich, Avas Kritik und Hermeneutik wollen und wie sie
sich zu den großen Sachdisziplinen der Philologie verhalten, so ist die
Antwort durch das Gesagte schon angedeutet. Sie sind ledighch formale
Disziplinen und füi^ die Traktation aUer gi'oßen Materialgruppen der Alter-
tumskunde die notAvendige Voraussetzung. Ilire Behandlung hat darum
propädeutischen ZAveck. Kritik und Exegese sind Aveder Wissenschaft
noch Avissenschaftliche Forschung, sondern Kunst (rexvi]). Sie sind, zu-
sammengenommen, die Kunst der Behandlung und Auslegung von Texten,
oder einfach: sie sind die Kunst zu lesen. Einerlei, ob Avir die Autoren
ästhetisierend um ihrer selbst Avillen oder ob AA^ir sie nur als QueUe füi-
grammatische oder antiquarische Untersuchungen benutzen: für beide
Zwecke dient Kritik imd Hermeneutik gleicher Aveise.
Einleitung. 7
Nur der kann eine Kunst, lernen, der für sie Talent hat. So ist auch
die Kunst des Lesens nicht für jeden lernbar. Sie ist Sache einer be-
sondei'en philologischen Begabung. Hier gilt Huhnkens Wort: criticus
non fit, sed nascitur. Die Theorie hinkt hinter der Praxis immer er-
bärmlich nach, sowie die Poetik des Aristoteles erst kam, als die Poesie
Athens ihr Werk vollendet oder doch nahezu vollendet hatte. Unsere
Theorie der philologischen Textbehandlung kann also nicht lehren, wie /
man Konjekturen machen soll — das wäre ein verwegenes Unterfangen — ,
wohl aber kann sie lehren, wie man sie nicht machen soll. Für die Kritik
gilt es „per exempla docere", gute Vorbilder in Erinnerung zu bringen,
vor allem klarzustellen, durch welche Übergänge im Schriftwesen die
Texte auf uns gelangt sind und auf welche Ursachen die Textschäden
^äelfach zurückzugehen pflegen; für die Exegese gilt es, die Bedingungen
sich gegenwärtig zu halten, unter denen jedes einzelne zu interpretierende
Werk ursprünglich entstanden ist; denn jedes Werk ist immer aus seiner
eigenen zeitlichen Bedingtheit zu erklären.
Hiernach sei einiges zum Wort gebrauch angemerkt. Der ältere Herme-
Ausdruck für „auslegen" war eQjUfjveveiv, zunächst das Dolmetschen des "^^^^^^
in fremder Sprache Gesprochenen (Xenoph. Anab. 5, 4, 4); daneben aber
das Yerständlichmachen schwieriger Dichterstellen (rd rwv jioirjTOjv, Plato
Ion p. 535) ; öfter so bei Dionys von Halicarnaß und Plutarch. eQjurjvsla el'g
Ti hieß später der Kommentar (Script, ecclesiast.). Daneben steht bei Dionys
von Halicarnaß auch der Ausdruck „Exegese", yga/njuaTixi] e^rjyrjoig. Dazu die
l^rjyrixaL Exegeten hießen übrigens auch die astrologischen Zeichendeuter,
so auch die Ciceroni oder Führer und Erklärer von Kunstwerken am Ort.
Der Römer sagt interprefari, interpretes.
Ein seltenes Wort im Text heißt ylmooa und yXcooorjjua, und es findet
Erldäning dm'ch Einsetzung des geläufigen Wortes, des övojua xvqiov.
Während Avir diese Termini auch heute im gleichen Sinne weiter Kritik
führen (nur nennen wir heute das zur Erklärung eines schwierigen Aus-
drucks verwendete övo/ua xvqiov mißbräuchlich „Glossem"), so steht es
anders mit dem AVort „Kritik". Hier ist zu erinnern, daß die Alten die
Tätigkeit des Philologen in ^der oder auch in sechs Aufgaben (grammatici
offtria) zerlegten; die viere sind 1. lectlo, das richtige laute Yorlesen
des Textes nach Prosodie und Akzent {ävayvcoorixov juegog, xard JiQoowdiav),
2. emendatio, die Emendation des verderbten Textes (öioQ^corixov juegog),
3. enarratio, Sacherklärung (eirjyrjrixdv jusgog), 4. iudicium, Kunsturteil
{xgnixov /legog). So lehrt das Scholion zu Dionysios Thrax p. 659 Bekker.i)
Die Sechsteilung bei Dionysios Thrax selbst gibt fünf geringere officia:
1. das Lesen, ävdyvMoig, 2. das Erklären nach den im Text verwandten
rhetorischen Figuren, e^ijyrjoig 'xard rovg evvjidgxovrag noirjxixovg TQonovg,
3. sprachliche und sachliche Erklärung, Behandlung der yXwooai und
lOTogiai, 4. granmaatische Exkurse über Ableitung der Wörter, hvjuoXoyiag
fvgeaig, 5. ebensolche über Formenlehre, dvaXoyiag exXoyiojuog; dazu endlich
als jueydXr] rexvr} 6. das Kunsturteil, xgioig.
») Ebenso Varro bei Diomedes p. 421, , Bayr. Akad. 1892 S. 592 ff.
nach Tyrannio? Vgl. Usener, Sitz.Ber. d. j
S Kritik und Hermeneutik.
Die alexandi'inischen Gelehrten verstanden demnach unter Kritik das,
was wir weiterhin als höhere Hermeneutik bezeichnen werden, und dies
galt ihnen als höchste Aufgabe und xdXXiorov juegog der pliilologischen
Tätigkeit (Dionjs. Thrax): die künstlerische Würdigung einer Schrift, i)
Wir dagegen brauchen das Wort „Kritik" in ganz anderem, empirischen
Sinne, als Prüfung des Standes der Überheferung und als Vorbedingung
zur Diorthose oder zum Teil 11 der obigen Einteilung.
LLttoratiu- Litteratur. Die Werke, die die Geschichte der klassischen Philologie in Alter-
tum und Neuzeit behandeln, aufzuzählen, ist nicht dieses Ortes (s. Urlichs, Gesch.
der Philologie^ S. 41). Ueber die Worte q)d6Xoyog, xQizixog, ygafifjarocög s. K. Lehrs,
Progr. Königsberg 1838; Güdeman, Grundriß zur Gesch. der klass. Philologie, 1907,
S. 1 ff. Weiteres bei K. Lehrs, Aristarch^ S. 36 ff. u. 198 ff.; A. Ludwich, Aristarch
II S. 483 ff. — C. G. CoBET, De auctoritate etc., in Commentationes philologicae tres,.
Amsterdam 1853.
Uebrigens sei in Auswahl auf folgende Litteratur verwiesen : Jon. van derWowerbn,
De polymathia, de studiis veterum apospasmation, Hamburg 1604 (auch in Gronovs
Thesaurus griech. Altertümer, Bd. X a. 1735). — Gerhard Vossius, De philologia
liber, Amsterdam 1650. 4. — Jon. M. Gesner, Isagoge in eruditionem etc., Leipz.1756;
ed. altera 1784. — F. A. Wolf, Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie
der Studien des Altertums, vom J. 1786, herausgegeben von Westermann 1845; der-
selbe, Darstellung der Altertumswissenschaft nebst Auswahl s. kl. Schriften, ed. S. F.
W. Hoffmann, Leipz. 1833. — F. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und
Kritik, Landshut 1808. — Chr. Dan. Beck, Observat. historicae et criticae de proba-
bilitate critica, exegetica, Programme, Leipz. 1823 u. 24. — F. Schleiermacher, Herm.
u. Kritik, 1838 (Werke Bd. VII). — G. Bernhardt, Grundlinien zur Enzj^klopädie der
Philol., Halle 1832. — A. Böckh, Enzyklopädie und Methodologie der philol. Wissen-
schaften, ed. Bratuschek, Leipz. 1877; 2. Aufl. von Klußmann, 1886. — W. von Hartel,
Aufgaben und Ziele der klass. Philol., 2. Aufl., Wien 1890. — H. Usener, Phüologie
und Geschichtswissenschaft, Bonn 1882. — Zur Hermeneutik sei noch notiert:
G. Hermann, De officio interpretis, Opusc. Bd. VII. — C. G. Cobet, De arte inter-
pretandi, Leiden 1847.2) Zut Kritik: Fr. Eobortellus, De arte corrigendi anti-
quorum libros, Padua 1557 (wiederholt bei Caspar Scioppius, De arte critica com-
mentarius, Amsterdam 1662). — J. J. Scaliger, De arte critica, Leiden 1619. — H.
Valesius (Valois), Emendationes und De arte critica, ed. Burmann, Amsterdam 1740. —
JoH. Clericus (Le Clerc), Ars critica, 3 Bde., Lips. 1713. — F. Bücheler, Philol.
Kritik, Bonn 1878. — Auch auf Gercke und Norden, Einleitung in die Altertums-
wissenschaft, Leipz. 1909, sei noch hingewiesen, wo der Abschnitt über „Methodik''
von Gercke verfaßt ist (2. Aufl. 1912).
Plan Kommen wir nunmehr zur Sache. Womit beginnen? Man hat ge-
stritten, was das Frühere sei, Kritik oder Auslegung. Der Platoniker Ast
meinte, die Kritik sei das Spätere; zuerst nehmen wir aus dem Text die
Antike wie eine Wiedererinnerung in uns auf, die Kritik meldet sich nur
gelegentlich, wo diese Wiedererinnerung sich gehemmt fühlt. Umgekehrt
urteilten andere. In Wirklichkeit lösen sich vielmehr, wie es der psy-
chische Hergang bei der wissenschaftHchen Lektüre von selbst ergibt,
fünf Aufgaben folgendermaßen ab:
1. Der Philologe beginnt mit der kritischen Leistung der Text-
grundiegung. Welcher Wortlaut ist die echte, d. h. älteste Überlieferung?
2. Hiernach beginnt das erste Stadium der Auslegung : das als über-
liefert Konstatierte wird seinem Sinne nach bestmöghchst zu verstehen
gesucht.
1) Hierfür sei nur an Aristarch er- i ^) Karl Bone, Usigaia xexvijg (sie):
innert; s. W, Bachmann, Die ästhetischen ! über Lesen und Erklären von Dichtwerken
Anschauungen Aristarchs in der Exegese (132 S.), Leipz. 1909, kann nicht ernstlich
und Kritik, Nürnberg 1902 u. 1904, in Betracht kommen.
Einleitung. 9
3. Der Leser tritt in ein drittes Stadium; hier luid da hat sich Un-
verständliches ergeben. Die Kritik setzt neu ein und suclit das Unver-
ständliche auf irgendeine Ursache zui'ückzuf ühren luid aufzuklären : negativ
durch den Nachweis der Korruptel, positiv durch die Konjektui*.
4. Alle Einzelschwierigkeiten im Text sind endlich erledig-t. Jetzt
regen sich bedeutsamere, umfassendere Aufgaben, und zunächst beginnt
ein viertes Stadium; die höhere Hermeneutik setzt ein. Sie fragt
nach dem Gesamtplan des Werkes; nach der Litteraturgattung, der es
angehört, und wie es sich als Individuum zu seiner Gattung verhält?
i]l^^'ieweit sich in ihm femer die IndividuaHtät des Autors offenbart, die
den feststehenden Gattungscharakter des Werkes leise abwandelt und
modifiziert? Sie sucht zu erkennen, ob das Werk der Jugend oder einer
späteren Lebenszeit des Autors angehört. Von fragmentiert erhaltenen
Werken sucht sie den Inhalt zu erraten; endlich forscht sie nach Quelle
und Vorbildern, zu dem Zweck, die Arbeitsweise der Autoren und Dichter,
die wir besitzen, beurteilen zu lernen.
5. Bei dieser Art der Interpretation, die Avie ein inneres Durchleben
des Schriftwerkes ist, regt sich nun endlich wieder die Kiitik; die
höhere Kritik. Es haben sich Anstöße ergeben, die sich auf keine
organischen Ursachen zurückführen lassen. Es erhebt sich die Frage:
kann das Werk echt sein? ist es durch Irrtmn unter einen falschen
Namen geraten oder gar absichtlich gefälscht? imd zu welcher Zeit hat
die Fälschung stattgefunden?
Es soU im Nachfolgenden demgemäß von mir behandelt werden:
I. Objektiver oder technischer Teil der niederen Kritik: die Text-
grundlegung.
IL Die niedere Hermeneutik oder Einzelauslegung
a) formal, sprachlich, grammatisch und stilistisch,
b) material, als Sacherldärung.
III. Subjektiver oder ingeniöser Teil der niederen Kritik: Emendation
der Textschäden.
IV. Höhere Hermeneutik.
V. Höhere Kritik.
L Die Textgrundlegung.
1. Die handschriftliche Überlieferung.
Das Altertum kannte weder Buchdruck noch Schreibmaschinen. In
Handschrift geschah nicht nur die erste Feststellung des Textes durch
den Autor, sondern auch seine Vervielfältigung. Daher ist es für alle Text-
kritik grundlegend, sich klar zu machen, erstlich Avie das Schreibmaterial
und das Buch beschaffen war, das die Texte aus der Hand des Autors
durch Altertum und Mittelalter zu uns trug, zweitens, in welcher Schrift-
gattung die Texte vorliegen und ursprünglich niedergeschrieben worden
sind. „Buchwesen" und „Paläographie" sind Hilfsdisziplinen der Textkritik.
Buciiroiie Über ersteres ist in dem „Abriß des antiken Buchwesens" dieses Bandes
ox ^^^ Wichtigste zusammengestellt. Es gilt zu wissen, daß das Homerische
Zeitalter vielleicht schon die Schrift, aber noch kein Buch und keine Buch-
vervielfältigung kannte; daß ferner das Buch der Antike eine Rolle von
mäßigem Umfang war, die nur wenig Text aufnahm, und daß der ge-
räimiigere geheftete Codex erst seit dem 4. — 5. Jahrh. n. Chr. diese Rolle
als Träger der Litteratur wirklich abgelöst hat. Die Übertragung des
Textes aus Rollen in den Codex ist überall das wichtigste Ereignis der
Textgeschichte. Ein Codex konnte wohl nicht den ganzen Livius, wohl
aber den ganzen Yergil in sich aufnehmen. So sind im Codex Clarkianus
des Plato 24 Dialoge vereinigt; Aeschylos liegt ims mit Sophokles und
mit ApoUonius Rhodius in einer Florentiner Hs. vereinigt vor. Der
Typus der Miscellenhandschrift des Mittelalters brachte es mit sich, daß
wir die herrenlose Schrift „Vom Erhabenen", Jiegi iripovg, mit den
Aristotelischen (pvoixd jtQoßhjjuara, daß wir Senecas Claudiussatire, die
„Apotheosis", zusammen mit Heiligenviten, medizinischen und anderen
Fragmenten überliefert erhalten, Theophrasts Charaktere in rhetorischen
Sammelwerken, mit Aphthonius, Hermogenes.
inscriptiou. Eine antike Buchrolle enthielt dagegen nie mehrere Bücher (über
scnp lo ^T^ignahmen späterhin) ; andererseits mußten, da die Rolle nicht groß,
umfangreichere Werke in mehrere Bücher, d. i. Rollen zerfallen. Wenn
wir über jedem Buch eines Autors den Werktitel von neuem drucken
(z. B. Lucanus de hello civili Über V), so geht dies darauf zurück, daß im
Altertum jedes Buch des betreffenden Werkes als Rolle für sich bestand,
jedes also auch als Anzeichen seiner Zugehörigkeit des genauen Titel-
vermerks mit Numerierung bedurfte. Ebenso schließt jedes Buch mit
dem Vermerk explicit oder explicitus, d. h. „ganz aufgerollt oder bis
zum Ende aufgerollt", und wer die Originaledition eines Werkes wie der
Aeneis zur Anschauung bringen will, hat auch dies jedesmal ^^^eder mit
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. H
abzudrucken, sowie wir auch die unverdächtigen Buchüberschriften genau
abzudrucken verpf Hebtet sind. Tragweite hat dies letztere z. B. bei der
Monohihios des Properz (ein liber primus des Dichters fehlt). Jetzt
endlich hat sich ein Herausgeber dieses Dichters, C. Hosius, entschlossen,
das Monohihios^) wenigstens mit in den Titel zu setzen. Ebenso gilt
das Gesagte von dem Editio ad libellum des Apollinaris Sidonius. Dieser
originelle, durch die beste Überlieferung garantierte Titel besagt, daß die
„Herausgabe", personifiziert, das Gedichtbüchlein, das in die Welt gehen
soll, anredet.^) Weiter ist es falsch, in der T i b u 1 1 Sammlung über den
Fanegyricus MessaUae gegen die Hss. ein über quartus zu drucken,
da vielmehr Panegyricus MessaUae die antike Aufschrift der auf das
dritte Tibullbuch folgenden EoUe war, in die dann, wie es scheint, noch
die Tibullgedichte, die man fälschlich als IV 2 — 14 numeriert, im Alter-
tmn als Anhang eingetragen worden sind. Ein „viertes" Tibullbuch gibt
es nicht. Noch verkehrter aber ist es, den Inhalt des sog. 4. Buches des
Tibull zum 3. Buch zu schlagen, wie Hiller dies tat.
Weiter aber kann ein Einzelprosabuch Avieder in Kapitel sowie ein Kapitel-
Gedichtbuch in Einzelgedichte zerfallen. Es gilt nachzuprüfen, inwieweit ^^^^"^^^
jene Kapitelteilung nebst Kapitelüberschriften sowie die dem Gesamt-
text oftmals vorauf geschickten Inhaltsübersichten antik sind, und sie
eventuell sorglich mit abzudrucken. In diesem Punkte wird bis auf die
neueste Zeit noch schwer gesündigt, indem man, was echt ist, veruntreut
und unter den Tisch fallen läßt. Neuerdings ist von P. Friderici^) er-
Aviesen, daß die Kapitelteilung von Prosatexten, wie sie im Neuen Testa-
mente vor uns steht, durchaus antik ist und in Lehrschriften soAvie be-
sonders in Kollektivschriften mit oder ohne Überschriften herrschte. Zur
Veranschaulichung dienen Inschriftentexte; so hat schon das Gortynische
Gesetz Kapitelteilung. Von den Herakleer Tafeln zerfällt der Text der
ersten in zwei Teile, die durch die Überschrift ovv&rjxa Aiovvow xmQOJv
getrennt werden. So also auch in der Litteratur. Die großen Ilivaxeg
oder Schriftstellei'^^erzeichnisse des Kallimachos zerfielen in Abschnitte
mit solchen Überschriften Avie demva öooi eyQaipav (Athenäus p. 244 A).
Jede Vita im Buch des Nepos hat eine Überschrift, auf die gelegentlich
gradezu mit hie Bezug genommen wird, wie z. B. cap. 2: Themistocles
Neocli fiUus Atheniensis. Huius vita ineuntis adidescentiae eqs. Ebenso
macht es Putilius Lupus, und in einem inschriftlich erhaltenen Kranken-
journal des 5. Jahrh. v. Chr. ist das Verfahren schon ganz ähnlich:
auf der großen epidaurischen Inschrift IG. IV 951 f. werden erst immer
kurz die Personalien des Kranken gleichsam als Überschrift gegeben,
dann mit ovxog die Heilungsgeschichte asjndetisch angefügt.^) Daraus
erklärt sich bei den Pömern der Terminus „Pubrik", rubrica (Digest.
43, 1, 2). Die Kapitelüberschrift wurde nämlich in roter Farbe gemalt;
so schon in der lex Acilia repetundarum A^om Jahr 123 auf 122 v. Chr.
^) Ueber monohihios s. Khein. Mus. 64 ; sione atque summariis, Marburg 1911.
S. 393 ff. I ^) Auch an den Achiqarpapj'^rus sei
2) Max Krämer, Res hbraria cadentis erinnert, wo die einzelnen Sprüche ab-
antiquitatis u. s. f., Marburg 1909, S. 49. [ getrennt stehen: s. Ed. Meyer, Papyras-
') De librorum antiqu. capitum divi- • fnnd von Elephantine S. 111.
12 Kritik und Hermeneutik.
Man hat bei den Autoren, z. B. bei Catos Schrift vom Landbau, die über-
lieferten Kapiteleinteilungen deshalb beanstandet, weil bisAveilen die Sinn-
abschnitte nicht gut getroffen sind. Dafür aber haben Avir den klassischen
Beleg des Monumentum Ancyranum, dessen Einteilung — auch nach
Mommsens Urteil — nicht besser ist.
Der Begriff caput muß noch einmal besonders untersucht werden, i)
Vielleicht deckt sich Keq)dXaiov damit. Nach meiner Meinung heißt caput
im Buchwesen ursprünglich „Anfangszeile eines Abschnitts" und danach
ist dann der Abschnitt selbst so benannt, aucli gelegentlich numeriert
worden. 2)
Summarieii Ebouso siud aber endlich auch, wo nicht zA\'ingende Yerdachtsgründe
vorliegen, die überlieferten Summarien an den Werk- oder Buchanfängen
echt und vorne mit abzudrucken, wie dies jetzt H. Mutschmann in seinem
Sextus Empiricus einsichtig getan. Echt sind sie z. B. auch in Josephus'
Antiquitates ; echt ist der niva^ rwv xecpalaUov des Rhetors Hermogenes,
vor allem das erwähnte Summarimn des Cato, Avie icli schon früher betont
hatte und wie es Friderici mit sprachlichen und sachlichen Gründen er-
härtet hat. Nicht anders steht es dann mit Columella, Palladius u. s. f.
Plinius hat in seiner Natm-geschichte, Avie es scheint, Überschriften ver-
mieden, aber sein ganzes 1. Buch für die Inhaltsübersicht seines stoff-
reichen Werks eingeräumt, und darin Avar, wie er uns sagt, Yalerius
Soranus sein Vorbild, dessen ßlßkoi sjiojzTideg genannten Bücher demnach
nichts anderes als „Übersichten", eigentlich „die Hüterinnen" bedeuten. 3)
Der Ausdruck eTiojirideg steht dem ovvoyng „Compendium" nahe (Plutarch
Mor. p. 1057 C).
Gedicht- Dagegen richten sich berechtigte Zweifel gegen geA\dsse Gedichtüber-
schrrften schriftcn, solclicr Gedichte nämlich, die geringeren Umfangs und nur Teile
eines Buchs sind. In Horaz' Oden müssen sie nicht allzu lange nach des
Dichters Tod hinzugefügt sein, da sie gute Personalkenntnisse A^erraten.*)
In Wirklichkeit scheint es erst nach Ovids Tod allmählich Sitte geworden
zu sein, auch die Einzelgedichte im Sammelbuch mit Titeln zu versehen.
Zweifelhafte Zeugen sind Statins' Silvae, sichere Zeugen Martials Buch
XIII und Xr\^. Zuerst aufgekommen ist dies Verfahren, wie ich ver-
mute, im Dienste der Anthologien oder Gedichtauslesen. Dahin gehört
das frülieste mir bekannt gCAvordene Beispiel, die Überschrift "lajußog
0oivixogy die in einem Sammelpapyrus des 2. Jahrh. a'. Chr., nachdem
anderes voraufging, den Phönixtext eröffnet. 5) Ebenso muß es Meleagros
in seinem Zrecpavog gehalten haben, der für die einzelnen Epigramme,
die er gab, solcher Titel, die den Dichter nannten, doch nicht entbehren
1) Hieronymus nennt das Kapitel auch crimina selbst kurz formuliert mitteilt,
comma, s. Vulgata, praef. lob: lihri par- wie z. B. De Postumi criminihus, so
vum comma quod remanet ; und in Habac. sind das, wie ich meine, Kopfworte oder .
3,11, p. 649: commatice per capitula dis- Titelüberschriften, mJ)^Y<7, für die die Aus-
seramus. arbeitung fehlt.
2) Ueber Kapitelzählungen im Alter- ^) Friderici S. 56.
tum Friderici S. 12 f. Wenn Cicero pro *) Vgl. Ad. Kibsslixg, Progr. Greifsw.
Murena § 57 nicht die Widerlegung der 1876.
einzelnen gegen Murena gerichteten An- j ^) Siehe Gr. A. Gerhard, Phoinix von
klagepunkte ausarbeitet, sondern nur die ' Kolophon >S. 5.
I. Die Textgrnndlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 13
konnte. Nicht älter als Meleager ist der Bakchjdidespapyrus, der nicht
nur Überschriften zeigt, sondern auch einige Gedichte alphabetisch nach
den Titeln ordnet, i) Die zu Theokrit erhaltenen Titel sind zum Teil
verdächtig. Erst in der Spätzeit, in der Zeit des Ausonius, wo die Ge-
wohnheit sich durchgesetzt hatte, hat man solche für die älteren Dichter,
Yergils Eclogen, Properz, Martials Buch I — XII, nachträglich erfunden
und zugesetzt. Gewisse Gedichtüberschriften in der Anthologia Palatina
scheinen aber doch verhältnismäßig alt zu sein, d. h. noch vor des Ausonius
Zeit zu fallen, da sie Ausonius mit übersetzt; dies gilt von Anthol. Pal.
16, 275 elg äyaX/ia tov KaiQov, vgl. Auson. epigr. 11 in simulacrum Occa-
sionis et Paenifentiae, und 16, 129 eig äyaX^ua Nioßrjg, vgl. Auson. epigr. 51
in Signum marmoreum Niobes.
Insonderheit sind es die Rätsel, die uns in der Spätzeit regelmäßig
mit Überschrift entgegentreten; die Überschrift gibt uns dann jedesmal
die Lösung, und sie ist unentbehrhch. Das sehen wir nicht nur bei
Symphosius, sondern auch Anthol. lat. 281 — 284; 481 ff.; also z. B.:
De funambulo.
Vidi hominem pendere cum via,
cui latior erat planta quam semita,
ein Verfahren, das von Martials Geschenkbüchern XIII und XIV aus-
zugehen scheint; denn auch Martials Geschenkbeschreibungen wären uns
ohne den Titel, der das Rätsel löst, oft sehr schwier verständlich.
Gehen wir w^eiter und kommen endlich zui* Hauptsache. Wer heute Paiäo-
eine Textausgabe zu machen unternimmt, muß vor allem auch alte Hand- """^p^'*
Schriften lesen können, und das lehrt die Paläographie. Das Mittelalter
hat durch zehn Jahrhunderte, vom 6. — 15. Jahrhundert, Klassikerabschriften
geliefert, und es ist nicht immer leicht, die Zeit und womöglich auch den
Ort der Herkunft der Handschrift, die man eben benutzt, zu bestimmen,
wennschon es auf der Hand liegt, daß die Schrift des 14. Jahrhunderts
anders aussah als die des 8., und in Irland, Schottland anders geschrieben
wurde als in Spanien. Aber auch die Buchschrift des Altertums selbst
kennen wir jetzt aus den Papyri und sind so in der Lage, uns für jeden
antiken Autor die Beschaffenheit der ersten Originaledition seines Werkes
annähernd zu rekonstruieren. Der Autor schrieb seinen Text im Entwurf
zunächst auf Wachstafeln oder Membrane, zumeist geiviß in Kui'sivschrift.
Die vom Verleger zum Verkauf bestimmten Textkopien wurden mit Sorg-
falt vorwiegend in Unzial- und Kapitalschrift, und zwar auf Charta ge-
schrieben; Privatabschriften dagegen wiederum oft minder sorglich in
Kursive. Jedenfalls gab schon dies erste Kopieren eine Fülle von An-
lässen zur Textverderbung. So ist es wahrscheinlich, daß schon Varius
oder der erste Herausgeber des Vergilischen Catalepton in das c. IIb die
schweren Textfeliler, die uns beschäftigen, hereintrug, weil er das Brouillon
auf der Wachstafel nicht sicher lesen konnte.
*) v.WiLAMOWiTZ, Die Textgeschichte ' dagegen bei Strabo p. 728 Zificoviörjg tV
der griechisclien Lj^riker, Abhandl. der i Ms/nvovi dißvQdfißco xxX. zitiert, so füllte
Göttinger GW. 1900 ». 43, führt diese Auf- ; diese;- Memnon, ob echt oder nicht, jeden-
schriften auf die zu supponierende Text- j falls ein ganzes Buch,
ausgäbe tier Alexandriner zurück. Wird :
14 Kritik und Hermeneutik,
Doppel- Dagegen ist es unglaublich, daß Textvarianten oder Doppellesungen,
und"edh;k) ^16 ujis lieute vorliegen, bis auf das Brouillon des Autors selbst zurück-
princeps gehen könnten. Für Senecas Tragödien hat man z. B. versucht, die
Lesungen beider Handschriftenklassen E und A auf Seneca selbst, der
sein Konzept durchkorrigiert hätte, zui'ückzuführen. Aber dem wider-
spricht das antike Editions- und Yervielfältigungsverfahren. Denn bei
einer gleichzeitigen Herstellung von 100 oder 500 Exemplaren nach Diktat
konnten nicht wohl durchgehende Varianten aus dem Konzept mit über-
nommen werden. Auch für Ovids Metamorphosen läßt sich solche Ver-
mutung i) nicht genügend begründen. In keinem Fall bleibt es ims dem-
nach erspart, zu entscheiden, welche Lesung der Autor selbst in die editio
princeps seiner Zeit hat aufgenommen wissen wollen.
Woher aber sind jene Varianten in den Texten entstanden? Darüber
einiges in Kap. IIL
Das aufgestellte Postulat, daß wir den Text der antiken editio prin-
ceps wiederherzustellen versuchen müssen, duldet Ausnahmen nur in Hin-
blick auf Autoren hohen Alters und von besonders schwieriger Text-
geschichte wie Homer und Plautus. Plautus selbst schrieb noch keine
Doppelkonsonanz, noch kein ?/, kein c, und wir sind zufrieden, den Text
dieses Komikers annähernd so wiederherstellen zu können, wie er etwa
in den letzten Dezennien vor VaiTOS Ausgabe hergestellt worden war und
wie Varro ihn dann weitergab. Auch für gewisse Fragmentsammlungen
trifft dies beiläufig zu. Für die Fragmente der alten jonischen Philo-
sophen sucht Diels nur die Textform, in der sie die Alexandriner lasen,
wiederzugewinnen, und mit den Pesten der römischen Saliarlieder müßte
es nicht anders gehalten werden. Maurenbrecher hätte sich in seiner
Sammlung dieser Peste damit zufriedengeben sollen, sie so vorzulegen,
wie Aelius Stilo sie las, edierte und kommentierte, und die problematischen
Vermutungen über den ursprüngUchen, d. i. präliistorischen Wortlaut der
Gesänge durchgängig in die Anmerkung verweisen sollen.
Kollation Nähern wir uns nunmehr der Sache. Es gilt zunächst von der vor-
Hegenden Hs. eine Kollation anzufertigen. Man trage sie an den Rand
eines nicht zu unmodernen Druckes ein, achte auf Kompendien, Kor-
rekturen, Pasuren, auf Interpunktion, unterscheide Korrekturen erster,
zweiter und eventuell noch weiterer Hände. Anwendung der Lupe ist
dazu nötig. Bisweilen finden sich dieselben Errata in verschiedenen Hand-
schriften, und es läßt sich daraus auf eine nahe Zusammengehörigkeit
schließen. Oftmals gibt die durchkorrigierende zweite Hand eine ganz
andere recensio als die erste; so steht es z. B. mit der Haupthandschrift
des Polybius, dem Vaticanus des 11. Jahrhunderts; so auch mit dem
Bernensis A des Valerius Maximus. 2) Im Laurentianus L des Euripides
sind nur de Korrekturen erster Hand {L 1), nicht die zweiter Hand {l bei
Prinz) von Wert.
Aber auch darauf ist acht zu geben, ob der Text selbst von einem
1) R. Helm in der Festschrift f." Joh. 2^ Vgl. L. Traube, Sitz.Ber. d. Bayr.
Vahlen, 1900, vS. 337 f. i Akad. 1891 S. 387.
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung.
15
Abschreiber oder von mehreren, die sich ablösten, hergestellt ist. Im
,, Codex Vetus" B des Plautus lösten sich am Schluß der Hs. mehrere
Schreiber ab; diese schwanken dabei in orthograpliischen Dingen, und
der eine bewahrte diese, der andere jene Eigentümlichkeit der Vorlage;
s. LiNDSAY, Ancient editions of Plautus S. 136. Ebenso ist die beste
Pro[)erzhandschrift von zwei Sclireibern hergestellt, die in der Ortho-
_;raphie zum Teil verschiedene Prinzipien befolgen. i)
Man notiere beim Kollationieren ferner Beschaffenheit des Beschreib-
uiaterials, Seitenhöhe mid -breite, Zeilenzahl, Länge und Höhe der Schrift-
zeilen, Heftung und Einteilung der Blattlagen. Man suche nach ein-
getragenen Notizen, die auf Ort und Zeit, Urheber oder Besitzer der Hs.
einen Schluß ermöglichen ; gewisse orthographische Erscheinungen (espiritus
f. Spiritus) weisen eventuell auf französische Herkunft. 2) Man übersehe
endHch auch die Kustodenzahlen am Schluß der Blattlagen nicht, die,
falls alt, den ursprünglichen Bestand der Handschrift garantieren. Aus
den Kustoden a\ ird erschlossen, daß der Cod. Decurtatus C des Plautus, der
Cod. L des Properz ursprünglich vollständiger war. Die erste Blattlage
im Cod. L des Properz ist mit dem Kustodenzeichen K versehen; also
gingen ihr 9 Lagen voraus, die die Kustoden A bis / trugen. Diese
Lagen reichten grade aus, um den Catull imd Tibull aufzunehmen. Also
enthielt L ursprünglich die drei römischen Elegiker.») Dei- Decurtatus
des Plautus trägt davon seinen Namen, daß er von 20 Plautusstücken nur
die letzten 12 enthält, die sich auf 30 Blattlagen verteilen. Aber seine
vierte Lage läßt die Kustodenzahl XX noch erkennen, ebenso die vier-
zehnte die Zahl XXX u. s. f., woraus sich derselbe Schluß ergibt; ur-
sprünglich gingen noch 16 Quaternionen voraus, die just ausreichenden
Platz für die fehlenden 8 Plautuskomödien boten. Es war dies also ur-
sprünglich eine vollständige Plautushandschrift.^)
Eine große Hilfe ist jetzt die Photographie, 5) und sie kann bis zu
einem gewissen Grade die Kollation ersetzen. Für ein erstes Kennen-
lernen von Handschriften ist nichts praktischer, als sich ein paar Seiten
daraus .typen zu lassen. Von den bedeutsameren Codices hat man nicht
wenige sogar ganz abphotographiert und so zu allgemeinem Nutzen ver-
öffentlicht. Das war vor allem bei solchen dringende Pflicht, die durch
ihr hohes Alter gelitten haben oder sonst schlecht konserviert sind. Ich
erwähne das von de Vries in Leiden geleitete großartige Unternehmen
der „Codices graeci et latini photographice depicti". Jedoch liegt auf der
Hand, daß über gewisse oft belangreiche Subtilitäten, wie verschiedene
Farbe der Tinte und Rasuren, das photographische Abbild nicht Aus-
kimft gibt. Selbstsehen ist also in allen wichtigen Fällen immer noch
geboten. Davon, daß Ribbecks Kollationen zu Vergil nicht überall zu-
1) Siehe den Propertius phototypico
editus, Leiden 1911, praef. S. XIII ff.
■^) Die orthographischen Eigentümlich-
keiten von Hss. französischer Herkunft
bei Ch. Eice, The phonologie of Gallic
clerical Latin, Harvard Universit. 1902.
^} P. Köhler, De Properti cod. Lusatico,
Marburg 1899, S. 4 f.
*) Vgl. über die Kustoden im Bruxel-
lensis des Olaudian meine Claudianaus-
gabe S. XCVI.
^) Vgl. Krumbacher, Die Photographie
im Dienste der Geisteswissenschaften.
Plioto-
16 Kritik und Hermeneutik. .
verlässig, überzeugt man sich z. B. leicht i) an der Hand der schedae Vati-
canae F, die in der angegebenen Weise reproduziert vorliegen. Aber
erst seitdem ich diese Schedae auf der Vaticana selbst einsah, kann ich
darüber Genaues aussagen. So steht dort, um ein paar Beispiele heraus-
zugreifen, Georg. III 3 vacua mit übergeschriebenem s über dem Schluß-a.
Dies s ist aber nicht in der üblichen Unzialform, ferner mit schwärzerer
Tinte geschrieben, also nicht von erster Hand. Im selben Vers geben
die Schedae carmin mit übergesetztem a; dies a ist sichei*, keinesfalls e,
und ist von m. 1 . Ebenso ist dort III 5 das über BVSIRIS übergeschrie-
bene DI von m. 1 ; in dem QVOI des nächsten Verses 6 aber ist Q und 0
nicht etwa wegradiert, wie Ribbeck sagt, sondern durch zufällige
Schabung des Pergaments imdeutlich geworden. III 14 steht deutlich
PROPTEAQyAM' zu lesen; das R hinter E ist weggelassen, Eibbecks
Angabe ganz hinfällig, u. s. f.
Fiiiation Catull liegt nun aber in über 70, Claudian in über 100 Hss. vor,
Priscians Grammatik in gegen 1000, Homer in unzähhgen. A. Ludwich
und Th. W. Allen *) haben sich die Mühe genommen, annähernd sämtliche
Homerhandschriften wirklich zu vergleichen. Doch kann kein Apparat
all die Lesungen aufnehmen, und man hat bei Neueditionen in solchem
Falle zunächst nur Stichproben von allen Hss. zu nehmen, um danach
aus der Fülle diejenigen auszuwählen, die nach AusAveis charakteristischer
Lesungen als beste Vertreter eines Typus eine vollständige Durchver-
gleichung verdienen.
Hier erhebt sich die Aufgabe der Fiiiation der Handschriften.
In früheren Zeiten, als das Reisen, als auch das Versenden noch
nicht so erleichtert war wie heute, und man auch noch nicht photo-
graphierte, benutzte man für den Text irgendwelche Handschriften, die
sich eben darboten. Ein methodisches Verfahren brachten die ersten Jahr-
zehnte des 19. Jahrhunderts, und Immanuel Bekker gab Muster der Hand-
schriftenbenutzung auf griechischem, C. Lachmann auf lateinischem Ge-
biet. Treffliche methodische Erwägungen gab auch H. Sauppe in seiner
Epistola critica (Ausgewählte Schriften, 1896, S. 82 ff.). Doch waren auch
sie nicht ohne rülimenswerte Vorgänger ; ich nenne nur Nie. Heinsius, den
weitgereisten, der z. B. für seinen Claudian schon nahezu alles wichtigste
Material heranzog und zum Teil richtig wertete.
Erster Grundsatz: Ist eine Handschrift aus einer andern, die wir
noch haben, kopiert, so ist nur diese zu benutzen; denn was jene etwa
Eigentümliches darbietet, kann nur auf Willkür und Konjektur beruhen.
So verwerfen wir im Plato viele Hss., weil sie aus dem Venetus T, den
wir besitzen, oder aus dem Clarkianus sich herleiten. Der Text der Pala-
tinischen Anthologie begründet sich auf der einen berühmten Pfälzer
Hs., die zur Hälfte in Heidelberg, zur Hälfte in Paris liegt. Wenn Stadt-
müller in seiner Ausgabe noch vier Abschriften gelegentlich heranzieht,
so haben deren abweichende Lesungen nur konjekturalen W^ert. Eine
^) Vgl. über den Mediceus Vergils i ^) Homeri opera recogn. D. B. Monho
M. HoFFMAXN, Progr. von Pforta 1889 und I et Th. W. Allen, ed. alt. Oxford 1908.
1901.
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 17
Ausnalime tritt natürlich ein, falls die Vorlage nicht mehr vollständig ist,
wie im Festus, der nach einer einzigen Neapler Handsclirift gedruckt
wird; für die in ihr verloren gegangenen Quatemionen 8, 10 und 16 sind
aber natürlich die früh hergestellten Kopien zu benützen.
Zweiter Grundsatz: Man bevorzuge die älteren Hss. vor den
jüngeren. Auch dies scheint selbstverständlich. Es wäre ein Unsinn,
Vergil nach Hss. des 9. — 12. Jalirhimderts zu drucken, da Avir die des 5.
besitzen. Aber erst die Neueren konnten dies planvoll durchführen,
E-ibbeck im Vergil, Ritschi und seine Schüler im Plautus, Schanz im
Plato, Lachmann, Tischendorf, dann Westcott und Hort im Neuen Testa-
ment. Besonders das 14. und 15. Jahrhundert war eine gefährliche Zeit,
die Zeit der wiedererwachten Eleganz und der E/enaissancemänner, die
pflatt lesbare Texte haben wollten und sie darum durch dreiste Inter-
polationen lesbar machten. Unsere Scheu vor den schönen E/Onaissance-
handschriften ist daher begreifUch. Gleichwohl kann zufälligerweise ein-
mal der Fall eintreten, daß w^ir solch junges Manuskript bevorzugen
müssen; so in Ciceros Rede pro Cluentio die Hs. aus Salzburg des
15. Jahrhunderts. Auch im Claudian gibt der späte Ambrosianus A, im
Properz der Lusaticus L unerwartete und erwünschte Hilfe. Jedenfalls
sind die sog. deteriores in Zulvunft durchw^eg planvoller heranzuziehen,
als man es bisher zumeist getan hat.
Dritter Grundsatz: Je mehr Hss. nun aber von einem Autor vor-^ stemma
Liegen, desto zahlreicher pflegen die Abweichungen zu sein, und es gilt,
die vielen nach gewissen Merkmalen zu klassifizieren. Bezeichnen wir
sie mit Buchstaben und stehen sich auf der einen Seite die Hss. AB CD,
auf der anderen EFGH besonders nahe, so kommen nicht eigentlich
mehr diese acht Einzelhandschriften in Betracht, sondern nur der Con-
sensus jeder der beiden Klassen, die wir etAva Klasse a und ß nennen.
Nur was a oder ß bietet, ist dann die garantierte alte Lesung. Weicht
D von ABC, also von a ab, so erweckt er unser Mißtrauen. Denn a
und ß sind dann eben die verloren gegangenen Grundhandschriften.
Diese müssen nun irgendwie w^eiter auf eine gemeinsame Vorlage, den
sog. Archetypus zm'ückgehen. So ergeben diese durch sorgsame Varianten-
vergleichimg festgestellten näheren Beziehungen also scliließlich das,
was wir das Stemma, den Stammbaum der Hss. nennen. Aus den vor-
handenen Kindern werden ihre Ahnen und ersten Ureltern erschlossen,
rekonstniiert.
Als erster Archetyp eines Werkes ist natürlich immer ein Exemplar Archetyp
der Originaledition im Altertum selbst zu betrachten. Da jedoch im Lauf
der Zeiten beim Wiederabschreiben wiederholte Textrezensionen statt-
fanden, ist als Archetyp oftmals nur ein Exemplar einer solchen späteren
recensio anzusehen. Bei Werken, die nur in späten Hss. des 14., 15. Jahr-
hunderts vorliegen, gelangen wdr für den Archetyp oft nur bis etwa in
das 8. oder 9. Jahrhundert zurück. Dies ist z.B. der Fall bei Xenophon,i)
Properz, Tibull, Catull.
^) Siehe z. B. für die Anabasis A. HuG, De Xenoph. naab. codice C, Zürich 1878.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 2
1^ Kritik und Hermeneutik.
Ohne Frage ist diese Zeitbestimmimg von großer Wichtigkeit. Hilfs-
mittel dazu ist das Beobachten der Orthographie und der Korruptelen,
die aus Buchstabenverwechselungen entstanden. Die Vorlage des cod.
Marcianus des Athenaeus war z.B. in Unzialen geschrieben; denn p. 657
steht daselbst al yaXXixal geschrieben f. ai yaldi xal, eine Yertauschung
von A und A, ebenso p. 256 xejuaxldeg statt xXijuayJdeg, was auf xaifiaxiöeg
zurückweist; denn e wurde, der Aussprache entsprechend, massenhaft für
ai gesetzt. Auf dem gleichen Wege läßt sich auch für Horaz, für Senecas
Tragödien erschließen, daß ihre Grundhandschrift Majuskelschrift zeigte,
womit immer eine ungefähre Datierung gegeben ist. Aber auch solche
phonetische Erscheinungen dienen zur Altersbestimmung, wie wenn wir
exsidit statt excidit lesen: eine SibiHerung oder Palatalisierung des c, die
nicht wohl vor dem 5. Jahrhundert eingetreten sein kann.
Als Beispiel für die Tragweite solcher Feststellungen diene Plautus.
Plautus liegt in zwei Handschriftenklassen, d. h. in zAvei erheblich ab-
weichenden Textgestaltungen vor; die eine vertritt der Palimpsest, cod.
Ambrosianus A des 5. Jalirhunderts, die andere wird durch etliche Hss. des
10. — 12. Jahrhunderts BCD u.a.m. vertreten, die man, Aveil BC der Pfälzer
Bibliothek in Heidelberg angehörten, resp. angehören, a potiore die Pfälzer
Hss. P nennt. Man wird zunächst denken, daß so späte Hss. gegen die des
5. nicht aufkommen können. Auch läßt sich die verlorene Grundhandschrift
P selbst zunächst nicht früher als in das 8. — 9. Jahrhundert ansetzen,
was zunächst schon aus gewissen, den Hss. gemeinsamen Yerschreibungen,
die auf Minuskelhandschrift weisen, sich folgern läßt : cispellam f. aspellam
Amph. 1000; perhibeas f. praehibeas As. 188; isfiid f. isti id Aul. 450; ius
f. uis Aul. 490; nauderio f. nauclerio As. 69; poda f. pocla As. 771. Auf die-
selbe Zeit deuten audatiae Amph. 367; contief f. conciet ib. 476; vgl. 793;
875; extiam f. exciam Cure. 295; effitiam Aul. 695. Doch Avar natürUch
auch dieser P wieder Kopie einer Vorlage, und es läßt sich weiter zeigen,
daß diese, die wir P« nennen, sehr viel älter und in Kapitalschrift ge-
schrieben, also mit dem Palimpsest A gleichaltrig Avar. Dies ergeben
solche Fehler in P wie eace f. face As. 4, forum f. eorum As. 554 u. 769,^)
fiirgifer f. furcifer Amph. 285, cessissem f. gessissem ib. 524 (C und G ver-
wechselt), flat f. fiat 996, egoua f. ecqua {ECQYÄ) As. 516. So stehn sich
also doch A und P« an Autorität gleich. Sucht man nun noch Aveiter
zurückzugehen, so ist zunächst klar, daß soaa^oIiI A Avie P« Textes-
rezensionen sind, d. h. daß keines von beiden Exemplaren dem Original-
manuskript des Plautus entsprochen haben kann. GleichAA^ohl müssen beide
schließlich aus einem gemeinsamen Urtext abgeleitet Averden, und es
scheint notAvendig, daß dieser der Zeit Varros noch etAvas A^orauflag und daß
in Varros Zeit selbst, die den Plautusstudien A^orzügiich oblag, die beiden
abAveichenden Buchrezensionen hergestellt Avurden.2) AVer also Lesungen
0 Vgl. auch eidem für fidem oder fule in wichtigen Punkten durch Eugen Sicker
bei Cicero und sonst: BüCHELER, Rhein. im Philol. Suppl. Bd.XI korrigiert. Die den
Mus. XI S. 515. i Prohus betreffende Suetonstelle De gramm.
2) Diese Fragen sind besonders durch 24istA^onLEO,Plautin.rorschungen2S.23f.,
W.M.LiNDSAY, Ancient editions of Plautus, nicht richtig aufgefaßt worden ; sie kommt
Oxford 1904, gefördert worden. Doch wird er ; für diese Fragen nicht in Betracht.
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 19
anzweifelt und abändert, in denen AF übereinstimmen, muß sich klar
inaclien, daß er ein Exemplar korrigiert, das etwa im Jalire 100 v. Chr.
geschrieben wkiv.
Aber nicht nur nach Zeit und Schriftgattung des Archetyp ist zu ^^^.g'*^^"
fragen; auch anderes festzustellen kann von Nutzen sein; vor allem der Archetypus
Zeileninhalt der Seiten. Hultsch setzt an, daß derYaticanus des Polybius
die Zeilenstellung seiner Vorlage genau übernommen hat.») Bei den
Dichtern sind gelegentliche Umstellungen und Ausfälle von Versen hierfüi-
ein Merkmal; so hatte der Archetyp der Heroides und Amores Ovids
26 Zeilen auf der Seite; denn die Umstelhmgen von Versen 2) betreffen
da Gruppen von je 26 oder je 52 (2 X 26) Zeilen; es woirden also bei
solchen Versehen jedesmal ganze Seiten übersprimgen; und auch die
Ausfälle in den Heroiden XVI (XV) 39—142 und XXI (XX) 13—248
weisen Verssummen auf, die just durch 26 teilbar sind. 3) Ganz ebenso
hatte auch die Vorlage des Vaticanus Claudians wahrscheinlich Seiten zu
26 Zeilen.*) Für die Grundhandschrift Pa des Plautus hat man Schrift-
seiten zu 19 — 21 Versen A^ennutet; doch ist das unsicherer, s)
Vorsicht ist auf alle Fälle hierbei geboten, und solche Vermutungen
Ivönnen sehr in die Irre führen; dafür ist F. Ritschis Abhandlung über
Tibull I 4 (Opusc. III S. 616 f.) ein warnendes Beispiel. Ebensowenig
überzeugen die Bereclinungen für den Archetyp Catulls,^) und auch
Büchelers Hypothese hält nicht stand, der, um die Un Vollständigkeit der
letzten Juvenalsatire zu erklären, ansetzte, daß der letzte Vers des
Juvenal, wäe in der einen Haupthandschrift P(ithoeanus), so auch im
Archetyp der übrigen Hss. (co), just am Schluß eines Folium gestanden
haben müsse, sodaß der Schluß des betreffenden Gedichts in P wie in
(I) mit dem Wegfall eines w^eiteren FoHums weggefallen sei.') Viel glaub-
licher ist, daß Juvenal seine letzte Satire nie vollendete und daß er somit
sein letztes Buch gar nicht mehr selbst herausgegeben hat. Denn die
Analogien sind zur Hand ; aus dem dazwischentretenden Tod des Dichters
erklärt sich, Avie niemand bezweifeln kann, daß sowohl die Gigantomachie
wie die Laus Serenae Claudians mitten im Text abbricht. Auch Statins'
letztes Buch der Silven, auch die unfertigen pseudo-ovidischen Hali-
eutica sind zu vergleichen; der Fälscher dieser Halieutica fingierte, daß
der altgew^ordene Ovid in Tomi sie unvollendet ließ. Schon Phnius hat
sie als Fragment gelesen. Von Persius meldet uns seine Vita: hunc
ipsum librum imperfectum reliqiiit; versus aliqui dempti sunt ultimo libro
nt quasi finitus esset, und vom Valgius erzälilt uns Plinius nat. bist. 25, 4:
temptavit C. Valgius eruditione spectatus (sc. agere de medicina) imperfecto
volumine ad divom Augustum, inchoata etiam praefatione eqs. Auch dieses
unvollendete Werk war also in den Buchvertrieb gelangt. Nicht anders
1) Fleck. Jbb. 1867 S.292f. \ in Wochenschr. f. klass. Phüol. I (1884)
«) z. B. Ovid ars am. II 77; Herold
14, 114.
3) Göttinger Gel. Anz. 1882 S. 841
S. 152 f. u. a.
') Ueber das Problem eines vollstän-
digeren Juvenaltextes soll hier nicht ge-
) Claudianausgabe praef. S. 95. redet werden; s. F. Leo, Hermes Bd. 44
^) LiNDSAY a. a. O. S. 79. 1 S. 600 ff. ; unten S. 27.
6) M. Haupt, Opusc. I S. 27; E.Fisch |
2*
20 Kritik und Hermeneutik.
stand es mit Piatos Ejitias, um das namhafteste Beispiel dieser Ai-t nicht
zu übergehen (vgl. Plutarch Solon 32).
Es seien schließlich noch ein paar Beispiele für die mehr oder
minder verwickelte handschriftliche ÜberUeferung Htterarischer Werke
angeführt.
Einkiassen- ^ni einfachsten liegt für den modernen Editoi- die Sache, wenn ein
sys em ^^^^j^ ^^^ ^^ cinor einzigen Hs. vorliegt; denn alsdann ist eben zu-
nächst nur deren Text abzudrucken. Das betrifft alle jene oben S. 6
genannten Schriftsteller, die wir den neueren Papyrusfunden verdanken.
Zu ihnen gehört auch Philodem und der ganze Papyrusrollennachlaß
aus Herculaneum. Nur haben sich in Herculaneum bisweilen auch
mehrere Exemplare desselben Werkes vorgefunden , und alsdann wird
die Arbeit des Editors komplizierter, gCA^dnnt aber auch mehr Sicherheit.
In einer einzigen Hs. hegen aber auch die Exzerpte aus den grie-
chischen Historikern, z. B. aus Polybius und Cassius Dio, vor, die Kon-
stantinos Porphyrogennetos im 10. Jahrhundert anfertigen heß. Ebenso
die Fabeln des Babrios und der yvjuvaoriKÖg des Philostrat, die Minas
Minoides um das Jahr 1843 im Athoskloster auffand; ebenso auch der
Hirtenroman des Longo s von Daphnis und Cliloe (cod. Florentinus) ;
ebenso Hesych. Denn mit dem Lexikon des Hesych steht es ähnlich
wie mit dem des Festus (oben S. 17). Dies so wichtige Werk existiert
nur in einer Hs., und zwar in Venedig (Marcianus 627), welche Hs. des
15. Jahrhunderts eben damals von Musuros durchkorrigiert und dann in
Venedig in Druck gegeben wurde (Aldine 1514).
Auf römischem Gebiet reiht sich z. B. der Grammatiker Charisius
an (in Neapel), sowie alle jene Palimpseste, aus denen uns Cicero De
republica, Gaius' Institutionen, Frontos Briefe, der Historiker Granius
Licinianus, die Gedichtreste des späten Merobaudes bekannt geworden
sind. Nicht anders aber auch Commodians Carmen apologeticum (Hs. in
Middlehill), nicht anders die Hauptwerke des Tacitus.
Das Schicksal will, daß uns selbst Tacitus' Historien imd Annalen
wie durch Zufall nur in einem Exemplar des 11. Jahrhunderts vor-
liegen. Buch I — VI der Annalen stehen nm- im sog. Mediceus primus,
einer Handschrift deutscher Herkunft (Corvey), die im 16. Jahrhundert
durch Papst Leo nach Florenz kam; sodann Annalen Buch XI — XXI
und Historien Buch I — V im Mediceus alter (aus Monte Cassino). Von
letzterem wurden allerdings später einige Kopien angef ertig-t , die das
Verdienst haben, eine inzwischen in Hist. I eingetretene Lücke zu er-
gänzen.
Auch da aber, wo mehrere Hss. vorhanden sind, stellt es sich öfter
heraus, daß wir nur eine zu benutzen haben, da die übrigen aus ihr
kopiert sind. Dafür sind schon S. 16 ein paar Beispiele angeführt. Auch
für den Redner Lysias trifft dies zu; denn für die meisten seiner Reden
kommt, wie dereinst Sauppe zeigte, i) nur der Palatinus in Heidelberg
saec. XI — XII in Betracht; in dieser Hs. sind nämlich der 16. Quaternio
') Ausgew. Schriften S. 80 f.
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 21
und einige Blätter des 5. ausgefallen; alle anderen Hss. aber haben diese
Textlücken übernommen, sind also aus ihr geflossen. Auch des jüngeren
Pliilostrat Imagines gehören hierher. i)
Nach solchen Feststellungen wird die Textedition natürlich sehr be-
quem oder doch der Apparat sehr vereinfacht. Doch ist auch hier Skepsis
geboten. So ist man für Ciceros Briefe ad Atticum und ad familiäres
von der Einhandschriftentheorie längst zurückgekommen (Haupthandschrift
sind Medicei).
Am erwähnenswertesten sind hier die Tragiker Aeschylus und
Sophokles nebst ApoUonius Rhodius (oben S. 10). Seit Cobet und
Dindorf glauben viele, daß ihr Text nur der berühmten Mediceerhand-
schrift Laur. 32, 9 des 11. Jahrhunderts (L), die Aurispa aus Griechen-
land nach Florenz gebracht hatte, zu entnehmen sei. 2) Aber dieser Hs.
fehlen von erster Hand mehrere Verse. 3) Sie Avürde ferner als Text-
grundlage nicht genügen, wären in ihr nicht die Lesungen von zweiter
Hand, die aus einer anderen Vorlage als der Text stammen. Dieser
zweiten Hand ist aber der cod. Parisinus 2712 des 13. Jahrhunderts eng
verwandt, der auch für die Sophoklesscholien der wichtigste Zeuge ist."*)
Also beruht in Wirklichkeit hier unser Text auf einer doppelten Über-
lieferung, erstlich L^, zw^eitens PL 2. Trotzdem stellt sich die Praxis im
übrigen Avirklich so, daß man den Text des Mediceus ganz vor^viegend
zugrunde legi.-^)
Stehen nun also mehrere Hss. unabhängig nebeneinander, so können
sie unter sich doch durch gleiche Merkmale so nahe verbunden sein,
daß man sie ohne Filiation als eine einzige Klasse betrachtet; so im
Pausanias^) (Hss. des 15. Jahrhunderts, gemeinsame Interpolation ejzei
ixQfzTovv IV 20, 5). Gewöhnlich aber treten sie, wie bei Plautus, mehr oder
minder scharf in ZAvei oder mehrere Klassen auseinander. Als weiteres Zwei-
Beispiel diene hierfür Lukrez. Dieser Dichter liegt uns im cod. Oblongus syst^em
zu Leiden saec. IX vor und in einer Gruppe junger Hss., die indirekt
Abschriften nach einem verlorenen Exemplar sind, das der Italiener
Poggio im 15. Jahrhundert nach ItaHen brachte; unter diesen die zu-
verlässigste eine Hs. in Florenz, Laurent. 35, 30. Eine zweite Gruppe
von Hss. ist dadurch kenntlich, daß mehrere Blätter ausfielen und ans
Ende geheftet wurden: dafür ist Hauptvertreter der sog. Quadratus in
Leiden saec. X; eben hierzu gehören aber auch lose Blätter, die teils in
Kopenhagen, teils in Wien liegen (schedae Havnienses und Vindobonenses) :
woraus sich also folgender Stammbaum, in d,en nur das Wichtigste auf-
genommen ist, ergibt:
S. Xlf.
") Siehe ed. ScHENKL und Reisch (1902) j und P, Jahn, Quaest. de schol. Lauren-
tianis, Berlin 1884,
2) Siehe C. Meifert, De Soph. codici- i ^) Ueber Nebenhandschriften im Aes-
bus. Halle 1891. ! chylos s. Blass ed. Eum. S. 17 ff. Auch
») Elektr.1485, Oed.EexSOO, Oed.Col. 1 für ApoUonius Rhodius hat Merkel noch
1256 (1105). Auch im Agamemnon erlitt
der Mediceus Blätterausfall.
*) Siehe W. Kausch, De Sophoclis
fab. apud Suidam reliquiis, Halle 1883,
eine Wolfenbüttler Hs. herangezogen.
«) ed. Schubart und Walz I p. XXY;
übrigens Ztschr. f. AW. 1853 p. 388. Dazu
ed. Blümner-Hitzig T, Vorwort.
22
Kritik und Hermeneutik.
(o (saec. IV — V; verloren)
ß (verloren)
Oblongu
Laurentianus
Quadratus
schedae*Havn.
-f Vindob.
Der Editor hat demnach im Lukrez eklektiscli vorzugehen und vor-
nehmlich zwischen dem Oblongus und Quadratus zu wählen. Denn das
exemplum Poggii stand dem Oblongus nah, Avar aber stark interpoliert, i)
Häufig liegt indes der Fall so, daß Klasse I die Avesentlich reine Über-
lieferung gibt und wir zur Klasse II nur im äußersten Notfall greifen.
So steht es in Senecas Tragödien, wo oft die Yersclireibungen im
E(truscus) richtiger sind als die glatten Lesungen der reliqui; ebenso im
Properz, für den die Neuausgabe von Hosius, die im Apparat den Codex
N(eapolitanus) vernünftig ^voranstellt, höchst Avillkommen Avar.2) Die gleiche
jnvenai Methode wurde von Bücheier für den Juvenal durchgeführt und ist von
Neueren wohl vergeblich angefochten Avorden: hier steht der cod. P(ithot^-
anus) des 9. Jahrhunderts in Montpellier den reliqui gegenüber. Als
Beispiel sei die Juvenalstelle zitiert lY 67, wo der große Fisch verspeist
werden soll: propera stomachum laxare sag'mis. So, saginis, geben hier
nur die reliqui; P hat saginam, und daß sich hierin das richtige sagina
verbirgt, bcAveist die Nachahmung in der Versifikation des Heptateuchs,
die unter Cyprians Namen geht, Numeri 355: laeta ventres laxare sagina.
Juv. 10, 304 korrigierte 0. Jahn non licet esse viro nach P, der viros gibt;
die reliqui aber machten ?ion licet esse viris daraus. 10, 35 schrieb Juvenal
praetextae traheae; P teilte die Buchstaben nur falsch ab imd gibt: prae-
texta etrabeae; erst die reliqui machen praetexta et traheae daraus. Jua^
4, 120 ist ^ae?;wm Yulgatlesung ; P aber hat laevo\ Juvenal schrieb laevom
(so Ade er volgus, nicht vulgiis schrieb, 7, 85). Juv. 7, 23 ist spectanda
mit Bücheier, gegen Leo, zu halten; Bücheier AA'ußte, daß spectare so viel
wie expectare ist; A^gl. Claudians, Eapt. I 286, Anthol. ed. Riese 687, 54
omnia te spectant^) und 253, 154 te spectat lacrimans (avo man gleichfalls
expectat druckt). Aber Bücheier Avar noch nicht konsequent genug.
Juvenal begünstigt volkstümlichen Yokalismus, Avie 7, 26 clude f. Claude;^)
so ist auch z. B. 7, 4 aus P das wertvolle fornos statt fumos aufzunehmen;
denn das o in fornus bezeugte schon Yarro (Non. 531, 33), und es reichte
^) Siehe Lucrez ed. A. Brieger, 1894,
S. XIII.
2) Wennschon ich im übrigen ihrer
Einrichtung noch niclit ganz zustimmen
kann.
3) Vgl. Ehein. Mus. 54 S. 91.
4) Siehe GtRöber im Archiv f. Lex. I
S. 548. ,
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 23
wohl bis auf Plautus zurück, i) 80 sollte man auch dypeus aus P auf-
nehmen, auch gijla 5, 158, eine ganz echte Ynlgärschreibung.'-*)
Bisweilen ging Bücheier freilich auch zu Aveit. vSo verdächtigte er
das autem, Juv. 7, 217, Aveil es in P ausgefallen, und suchte 16, 20
tota tarnen cohors est (so P) zu halten, indem er hier die vulgäre Form
chors zu erkennen glaubte, die aber dieser Dichter scliwerlich zuließ.
Priscians Zitate zeigen uns, daß auch die Handschriftenklasse II bei
Juvenal aus dem Altertmn stammt; so liest Priscian mit ihr gegen P
moechos Juv. 14, 30. Doch beweist das nur, Avas Avir auch sonst Avissen,
daß schon im Altertum die Texte stark A^erderbt AA^urden.
Älmhch steht es Aveiter auch bei Properz, bei dem z. B. die rieh- Propeiz
tigen Lesungen dixerit 1, 20, 4; sint 2, 3, 10; Priamo 2, 3, 40; duxistis
2, 9, 21 der ersten Klasse verdankt Averden; so auch 2, 3, 24 ardidus (ver-
kannt und schon im Altertum entstellt). Da nun im Properz der Vorzug
der Klasse I anerkannt ist, hat man mit ihr z. B. auch 2, 9, 44 zu lesen :
Te nihil in vita nobis accoptius umquam.
Nunc quoque eris quamA'is sie inimica mihi.
Es ist begTeiflich, daß Klasse II quamms sis inimica mihi daraus machte;
aber diese Lesung ist minder AvirkungsA'oll und ergibt zudem eine schmäh-
liche Kakophonie in den drei Wortschlüssen eris quamvis sis.^) Ebenso
ist das qiii {= quomodö) bei Properz 2, 13, 58 im cod. A^ ganz unmiß-
A^erständlich :
Nam mea q u i poterunt ossa minuta loqui?
Die übrigen Schreiber meinten, quid sei deutlicher, und setzten es ein.
„Genieße das Leben und die Liebe", heißt es endlich bei Properz 2, 15, 49:
Tu modo dum lucet, fructum ne desere A'itac.
Omnia si dederis oscula, pauca dabis.
80 NL, die Vertreter der Klasse I. Man verstand das lucet nicht und
setzte dafür licet, mit Zerstörung des Versmaßes. Aber lux ist das
„LebensHcht" und CatuU hier das deutliche Vorbild, der 5, 5 sagt: cum
semel occidit brevis lux . . . da mihi basia mille {basia, w'iq liier oscula);
vgl. auch Catull 8, 3: fulsere candidi tibi soles. Das lucet ist also vor-
trefflich.
Natürlich liegt bei jedem Autor die Sache besonders. Im Aristo-
phanes sucht man dem cod. Il(avennas) den Vorzug zu geben; doch ver-
sagt er nur zu oft.*) Plato Hegt uns in gegen 150 Hss. A^or,^) und es piato
hat gCAvaltige Arbeit erfordert, aus ihnen die brauclibaren auszusondern.
Dabei gilt es zu unterscheiden. Von Piatos 36 Schriften, die das Alter-
tum in neim Tetralogien zerlegte, sind die achte und neunte Tetralogie
*)SieheLövvE,AnalectaPlautinap.ll5. Berl. phil. W.schv. 30 8. 549 f. Siehe übri-
2) Siehe „Sprach man avrum" S. 176 ! gens unten S. 25 f.
bis 191. j 6) Ueber den textkritischen Wert der
') Ueber solchen vSigmatismus und I Platopapyri kann das Urteil nicht günstig
seine Vermeidung s. unten. • i lauten, und das muß sich aus dem Zweck,
*) Hierüber J. van Leeuaven, Pro- j dem diese Manuskripte liöchsten Alters
legomena ad Aristoph., Leiden 1908, S. 270 j dienten, erklären; s. darüber Const. Rit-
bis 356, mit Einwendungen A-^onHoLZiNGER, ; tp:r in Bursians. Jahresber. Bd. 157 S.8ff.
Drei-
k lassen -
24 Kritik und Hermeneutik.
(danuiter die Nö/wi) dui'ch die vortreffliche Pariser Hs. A gesichert. So
versuchte nun Schanz auch für Tetralogie 1 — 6 (in Tetralogie 7, Hippias I
und II, Ion und Menexenos, ist die Sachlage minder günstig) den Text
wesentlich auf zwei Hss., den berühmten Bodleianus (Clarkianus) des
9. Jahrhunderts und den Yenetus T mit grundsätzlicher Zurückdrängung
des letzteren zu gründen, imd seine Ausgabe ist daran gescheitert. Auch
die zalilreichen mit T zusammenhängenden Nebenhandschriften lassen
sich nicht so radikal beiseite tun.i) Denn oft tauchen in ihnen alte,
sicher aus antiken Exemplaren stammende Lesungen auf. Die ägyptischen
Papyri bringen für Plato und ebenso auch für andere Autoren nicht selten
Varianten, die in solchen -späten luid gering geschätzten Hss. unerwartet
wieder auftauchen. Eine sorgliche Aufarbeitung auch des geringeren
Handschriftenmaterials, wie ich sie einst für Claudian ausgeführt, wird
dalier jetzt für alle Autoren, die in weitverzweigter Überlieferung vor-
liegen, mit Recht verlangt.
Dies sind Belege für doppelte Textesrezensionen, deren Differenzen
System in mehreren Fällen zweifellos schon aus dem Altertum selbst sich her-
leiten und die abschriftlich weiter durch das Mittelalter propagiert worden
sind. Gelegentlich aber wird die Saclilage noch komplizierter, und wir
haben zAvischen drei Rezensionen die Wahl. Dafür könnte man schon
CatuU imd Theognis anführen: Catull, bei dem wir zunächst zwischen
den zwei Haupthandschnften (0 und G) die Wahl haben, wo sie aber
beide versagen, zu der Gruppe der interpolierten greifen müssen; 2)
Theognis, dessen Text vor allem auf dem Mutinensis A in Paris (saec. X),
daneben auf dem Yaticanus 0 saec. XHI gegründet wird; avo beide irren,
greift man zur Gruppe der Deteriores. Ganz ebenso liegen auch beim
Yalerius Maximus die Yerhältnisse.^)
Wichtiger ist, daß auch die zalillosen Horazhandschriften in drei
Gruppen zerfallen, die drei unter sich abweichende Yorlagen voraussetzen.
Diese Yorlagen gehörten aber schon der Antike an. Dies Dreiklassen-
system im'Horaz hat 0. Keller einst dargelegt imd neuerdings vor allem
für die Oden gegen Zweifel gesichert.*) Keiner dieser Klassen felilt es
dabei an Yorzügen, und das Rezept, das Keller dem Editor gab, ist un-
gefähr dies, abzustimmen: zwei gegen eins. Wo zwei Klassen zusammen-
gehen, ist die dritte im Unrecht.
In drei Klassen zerfallen aber auch die Hss. des Terenz, wie die
des Horaz, doch mit dem Unterschiede, daß beim Terenz die erste Klasse,
die der ehrAvürdige Codex Bembinus, saec. Y, vertritt, an Autorität bei
weitem prävahert.
Demo- Auch Dcmostlienes sei noch genannt, der uns in circa 170 Hss.
st enes ^;.Qj.][^Qgt. Demostlieues' Reden wurden in den Rhetorenschulen der römi-
schen Kaiserzeit tausendfältig benutzt und sind im Altertum mehr als
1) Vgl. O. Immisch, Studien zii Plato
2. Heft, Leipzig 1903.
2) Vgl. Catull 73, 4 und 70, 11
TiNi in Studi di filol. class. 1910 S. 289 f.
4) Ehein. Mus. 61 S. 78 ff. Vgl. J. W.
Beck, Horazstudien, Haag 1907: J. Bick
) A^gl. oben S. 14 und dazu Lindsay, ■ in Burs. Jahresber. 1909 Bd. 143 S. 6 ff.
Class. Philol. IV (1909) S. 114; E. Valen-
I. Die Textgrandlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung. 25
irgendein anderer Autor, wenn Avir von Homer absehen, der Interpolation
ausgesetzt gewesen. Hier steht es nun ähnlich wie bei Terenz. Als
Hauptcodex gilt der Parisinus ^ des Demothenes, saec. X; er vertritt die
erste Klasse und gibt die äg^nla exdooig, den reinsten Text ; i) daneben gibt
die zweite Klasse, die örjjuajdijg exdooig, den antiken Viilgattext, wie man
ihn in den Schulen gebrauchte, und zwar noch in reinerer Form (z.B. Pari-
sinus Y)', die dritte Klasse gibt den letzteren in überarbeiteter Gestalt.
Wie nun, wenn es in einer der Klassen Handschriften gibt, die stärker AescUines
divergieren? Man darf in solchem Fall innerhalb jeder EHasse jedenfalls
nicht nach Majorität abstimmen, sondern muß, wie Max Hej^se es kürzlich
füi- Aeschines getan, 2) oline die Mülie zu scheuen, die Zuverlässigkeit jeder
Einzelhandschrift nachprüfen; wobei es zu fragen gilt: hat die betr. Hs.
selbständige Lesungen von Wert? und in Avelcheni Grade ist sie von Hss.
aus einer anderen Klasse beeinflußt? Leichter als für Demosthenes oder
Horaz ist dies eben für des Aeschines Reden zu kontrollieren, weil sie
eine geringere Textmasse bilden. Für die zAveite und dritte Rede des
Aeschines unterscheidet man drei Klassen, A^ B und M\ für die erste
Rede fällt Klasse A fort. Hier ist beispielshalber das Ergebnis, daß die
Klasse B wieder selbst in drei Gruppen auseinandertritt, die verscliie-
denen Wert beanspruchen.
Bei Aristophanes pflegten wir bisher den beiden hochangesehenen Aristo-
Hss. Ravennas, saec. X — XI, und Yenetus, saec. XI — XII, die unter sich ^
an Wert konkurrieren, unser ganzes Vertrauen zu schenken. Aber die
jüngeren Hss., vor allem der beste der Parisini, saec. XIII, lassen sich
nicht entbehren, und es regt sich neuerdings der Trieb, sie gTadezu in
den Vordergrund zu drängen. 3) Es ist gefährlich, darin^zu weit zu gehen.
Jedenfalls ist aber auch hier ein Dreiquellensystem anzuerkennen. Es sei
in diesem Sinne hier eine AristophanessteUe behandelt, die keiner der
Neueren richtig beurteilt zu haben scheint. Achamer v. 61 macht der
Herold (?) die Meldung: oi jzQeoßeig 01 Tiaga ßaodecog. So der Ravennas.
Aber das ist Prosa, ist kein Versgiied und kann also in der Komödie
nicht stehen. Die Schoben zu den Achamem aber beginnen mit den
metrischen Anmerkungen des Heliodor. Da lesen w^ir betreffs der Prolog-
szene dieses Stücks: oi de orixoi eiolv lafißixol Tglfiergoi äytaxdXi^xjoi od (es
sind 201, da man Halbverse nicht mitzählte) wv rekevraiog • eycb de (pev^o/Liai
ye Tovg 'A/agreag. Wir bemerken schon hier: der v. 201 = 203 ist rein
jambisch gebildet, offenbar mit Absicht, um die Eile des Davonlaufenden
zu schildern, und der Ravennas gibt hier also mit Unrecht (pev^ovjuai.
Weiter heißt es : 6 juevroi juy' xojujudriov an eldooovog (vgl. v. 53 ndgir
eg rö jzooodevY) ^^^ Q^^ Jievi^rjjuijueQi^g (geht auf 124 oiya xdd^ii^e). Dann
aber folgt: 6 de ^ eq^&rjjtiijueQi^g. HeHodor las also im Vers 60 = 61, von
') Doch hatte Harpokration einen [ stoph., Straß bürg 1908; W. Süss, Kleine
besseren Text; s. Helmke, De Demosth. Ausgabe der Frösche, 1911.
codicibus, Berlin 1896.
2) Max Heyse, Die handschriftl. Ueber-
lieferung der Eeden des Aeschines, Progr.,
Ohlau 1912.
') OouLONS, Qnaest. criticae in Ari-
*) Hierzu sei K. v. Holzinger, lieber
die Paragraphae zu Aristophanes, Wien
1883, und Max Consbruch, De veterum
71. TToiri^idron' doctrina, 1890, vS. 70 verglichen.
26 Kritik und Hermeneutik.
dem ich handle, eine jambische Hepthemimeres. Das ist aber die Lesun*;'
der dritten Handschriftenklasse:
Ol Tiaoa ßaodkog jrosoßeig.
Diese Hss. haben also auch hier recht, mid diese Lesung ist auf Grund
des bestätigenden Zeugnisses des Heliodor in den Text zu nehmen.
Wechseln- Nun hat sich aber weiter bei Demosthenes herausgestellt, daß in ^er-
Charakter schiedcnen seiner Reden das Handschriften Verhältnis ein anderes ist.^)
von Hss. ]3iese Möglichkeit, daß das Verhältnis der Hss. zueinander verschieden
ist in den verschiedenen Stücken ein und desselben Autors, ist aucli
sonst offen zu halten, und die Mühe der Untersuchmig wird dadmxh
gesteigert. So muß man für jede der Aristophaneskomödien, ebenso
auch für jeden der philosophischen Dialoge Cicero s die Untersuchung
besonders führen. Der Ravennas steht in den Acharnern z. B. anders
als in der L^^sistrate,^) Ciceros Leidensis C (oder H) in De natura deoruiu
anders als in De legibus. Der Yaticanus B des Thukydides scheint vom
sechsten Buch an, cp. 92, 5, einer anderen Vorlage zu folgen als vorher. 3)
Der Wert der Pliilostrat-Hs. des Minas (in Paris) ist im Heroikos geringer
als in der ersten Dialexis.*) Audi der cod. La des Pausanias gehört hier-
her, u. a.
Texterwei- Die Sachlage kann abei' noch verzwickter Averden, und die Über-
II. -ausfälle licferung bringt mitunter ganz unerwartete Überraschungen. P]s gibt
Werke, die uns, so wie die Jiokvorixog exdooig Homers neben dem Vulgäi-
text stand, in knapperer und erweiterter Form vorliegen. W^ie ist da zu
ciaudian mteilen? So haben Avir Claudi ans. Raptus Proserpinae in einer kürzeren
und längeren Fassung, beide gut lesbar. 0) Die längere, die wir abdrucken,
ist auch noch dadurch umfangreicher, daß sie vor dem dritten Buch ein
nicht zugehöriges Proöm eingestellt hat ; die kürzere läßt im ersten Buch
die Verse 139 — 213 und im dritten Buch nicht allein den Schluß, Vers
438—448, sondern auch die 80 Verse 280—360 fort, für die der nicht
ungeschickte Ersatzvers Omnis hono:^ recti nohls. sie fata recedit eintritt,
der den Zusammenhang herstellt. Endlich felilt nm^ in der kürzeren
Fassung des Raptus der unechte Vers II 118. Beide Fassungen haben
also ihre Vorzüge. Die kürzere ist mit Geschick hergestellt, und Aver
nur sie allein läse, Avürde Adelleicht kamn A^ermuten, daß etAA^as fehlt. ^')
Beide können sehr aa^oIiI dem Altertum entstammen. Doch bezAA^eifle ich,
daß beide vom Dichter selbst, der sein Werk unvollendet liinterlassen
hatte, so hergestellt Avorden sein können.
Juvenai In dicscn Zusammenhang AVürde, Avenn Leo recht hätte,') auch da.s
1) J. H. LiPSius, Ber. sächs. G.W. 45 Ber. der Wiener Akademie).
S. 1 ff. und Leipz. Stud. 18 S. 319 ff.; E. ^) Siehe Clandian p. CXLYII ff.
DRERUP,Philol.Suppl.Bd.AT:il899S.533ff.; ^) Daß der Yers T 214 an I 139 auf
E. Bethe, Demosth. script. corpus etc., das beste anschließt, hat Winterfeld nicht
Rostock 1897. : wahrgenommen, der „Schedae criticae",
2) Siehe Zacher, Burs. Jbb. 71 (1892) \ Berlin 1895, S. 42 den Tatbestand aus
S. 1 ff. ; BlätterA^erlust erklären wollte. Man er-
') Siehe z. B. R.Richter in Dissert. : kennt vielmehr eine planvoll hergestellte
von Halle Bd. XVI S. 253 ff. I kürzere Redaktion des Gedichts."
*) Siehe Jul. JCthxer, Der Gymnasti- ">) Hermes 44 S. 600 ff.
kos des Philostratos, Wien 1902 (aus Sitz.-
I. Die Textgrundlegung. 1. Die handschriftliche Überlieferung.
ZI
neue Jiivenalproblem gehören. Es handelt sich um die interessanten
Winstedtschen Juvenalfraginente aus der sechsten Satire, Zusätze im
Text, die an den Vers 365 und an Vers 373 anschließen, i) Daß diese
neu bekannt gewordenen Verse antik sind, leidet wiederum keinen Z^veifel.
Hatte sie also der Dichter selbst nachträglich eingefügt? oder hei-nach
ausgeschaltet? Oder sind sie, wie ich glaube, erst im 4. Jahrhundei-t von
einem Nachdichter Juvenals hinzugedichtet? 2) Und wie kommen sie grade
in den einen Codex Oxoniensis (0), der sonst in seinen Lesimgen über
die anderen Vertreter der zweiten Handschriftenklasse nicht hei-A^orzuragen
scheint? Es ist scliAvierig, das Handscliriftenstemma hiernach zu gestalten,
(rfinstiger liegt Avieder folgender Fall.
Es handelt sich mn die fehlenden Verse im Panegyricus Probini et ciaiuiian
Olybrii und im Panegyricus de IV cons. Honorii des Claudian. Denn da
ist es nur 3) der Claudiandruck des Michael Isengrin (Basel 1534), dei- uns
überraschenderweise die Verse IV cons. 315, 432, 509 und 636 sowie Paneg.
T^rob. et Olybr. 201 — 204 überliefert. Daß diese Verse echt und unent-
behrlich, habe ich Idargelegt.'*) Hier haben wir also sicheren Boden unter
den Füßen, imd es ergibt sich für die Hauptmasse der Claudiangedicht^
folgender komplizierter Stammbaum : &)
Q
B
A B
Vcm den hier \ orausgesetzten Hss. des Claudian sind uns nur die mit
Crl^P.4J^/7CJ]^ bezeichneten erhalten: F der Vaticanus, C die Hs. in Brüssel,
R die in Verona u. s. f. E und e sind Exzerpte. Eine genaue Prüfung
^) Siehe Class. Eeview 13 S. 201 f.
2) Ich bemerke hier nur, daß die frag-
lichen Verse dem Urheber unserer Juvenal-
^cholien, die sonst doch nirgends aus-
-letzen, unbekannt sind.
3) oder fast nur
zum Text.
*) Claudian S. OLXXXVII.
->) ib. S. Olli.
die Anmerkungen
28 Kritik und Hermeneutik,
der Isengrinausgabe aber, die ich vornahm, ergab, daß die in ihr benutzte
Claudianhandsclirift auch sonst große Vorzüge aufwies, i)
Lucan In dicseu Zusammenhang gehören aber endhch auch noch die über-
schüssigen Verse, die versus controversi, gewisser Hss. des Dichters Lucan
(Vossianus V), die einst Nie. Heinsius, und doch w^ohl nicht mit Unrecht,
hoch einschätzte. 2) Auch hier muß ein irgendwie ähnlicher Fall vorliegen.
So verschiedenartig stellt sich die Tradition der antiken Autoren dar.
Unsre Überschau sei hiermit erledigt. Doch ist es gut, noch einige ander-
weitige Zufälligkeiten in Erinnerung zu bringen, die uns die Textrezen-
sion erschweren. Ich meine den FaU, der übrigens, wie wir sahen, sich
auch schon ^n der Claudianüberheferung beobachten ließ, daß Hand-
schriften, die früher einmal von Liebhabern und Editoren benutzt
wurden, heute verloren sind. Alsdann stürzt sich natürlich die Unter-
suchung darauf, über sie Notizen zu sammeln.
Verlorene Wie vicl Fleiß uud Di\4nation ist nicht auf den sog. codex Blan-
dinius antiquissimus des Horaz vei'wendet worden! Der Holländer Cru-
quius benutzte diesen Blandinius dereinst; aber der Codex ist verbrannt,
und die Lesungen, die Cruquius aus ihm auf das unordentlichste mit-
teilte, haben schon früh die Achtsamkeit erAveckt, ja zu einer über-
triebenen Verehrung des Codex geführt. Keinesfalls aber ist er gering
zu achten, wie Keller es tut. Um \^eles nützliclier ist die Kollation einer
hernach verloren gegangenen Hs., die wir von Politian zu Catos und
Varros Schriften De re rustica besitzen. Eine ähnliche besitzen wir zum
Dichter C lau di an (von mir mit £" bezeichnet) ; in geringem Umfang auch
zu Plaut US (Marginalien des Turnebus). Für die dritte Dekade des Livius
ist der verlorene codex Spirensis von Wichtigkeit, über den wir in der
Baseler Liviusausgabe des Jahres 1535 Mitteilungen besitzen. 3) Zu Mark
iVurels Werk Elg eavxov muß neben einer Vaticanischen Hs. der Erst-
druck Xjdanders vom Jahre 1558 benutzt werden; die Hs., nach der
dieser Druck gemacht, ist verloren.'^) Der erwähnte Renaissancegelehrte
Poliziano gibt uns auch Lesungen zu Statius' Silvae, die er einer von
Poggio kopierten Ils. entnahm; es fragt sich, ob diese Hs. identisch war
mit dem Codex M (Matritensis), der für uns heute die beste Textquelle
der Silvae ist; es scheint, daß jenen Lesungen doch ein selbständiger
Wert zukommt.^) Und so können auch heute noch Handschriften abhanden
kommen. Die Straßburger Hs. zu Senecas philosophischen Schriften ver-
brannte mitsamt der Bibliothek bei der Belagerung Straßbm'gs im Jahre
1870. Zum guten Glück hatte Bücheier sie kurz zuvor kollationiert.
Erstdrucke Aber es gibt auch solche Schriftsteller, für die wir ganz oder fast
^*H*ss^*'^ ganz auf alte Drucke angewiesen sind, da die Hss., nach denen damals
gedruckt wurde, nicht mehr existieren. Ich denke z. B. an den Metriker
Terentianus Maurus, den man nach einem Mailänder Druck vom Jahre
1) a. a. 0. S. CXOI. : Sitz.Ber. 1869, 2, S. 580.
2) Siehe F. Beck, Untersuchungen zu *) Siehe J. H. Leopolds Ausgabe, Ox-
(len Handschriften Lucans, München 1900, i ford, Clarendon Press, sine anno (1909).
S. 51f. j 5) Siehe Postgate, Olass.EevieAv 1903
3) Grenaueres bei Halm, Münchener ! S. 344 f.
I. Die Textgrundlegung. 2. Zitate. 29
1497 ediert; an die Briefe Ciceros, die im zweiten Buch ad Brut um
beisammenstehen; an des Plinius Briefwechsel mit Trajan; an Hygins
Fabehi, sowie an Rutilius Namatianus' Gedicht De reditu (suo). Bei
letzterem tritt zur editio princeps noch eine späte Hs. des 16. Jahr-
hunderts hinzu; und ähnlich steht es auch mit dem Historiker Yelleius.
Im Jahre 1515 wurde von Beatus Rhenanus in der Abtei Murbach im
Elsaß eine einzige Hs. des VeUeius aufgefunden. Dieselbe wurde damals
sogleich, aber schlecht von Bonifacius Amerbach in Basel kopiert; besser
ist der Druck, den Beatus Rhenanus im Jahre 1520 nach ihr herstellte.
Danach verschwand sie.
Es ist nun begreiflich, daß sich gegen Texte, die uns nur in Drucken
vorliegen, oftmals die Skepsis regt. Kein Geringerer als M. Haupt hat
danma. die Elegie Consolatio ad Liviam, die unter O^dds Namen geht
und von der er glaubte, daß ihr Text nur auf gedruckten Exemplaren
beruhe, füi' eine Fälschung der Renaissancezeit erklärt. Inzwischen haben
sich für dies Gedicht einige ganz junge Hss. hinzugefunden; vornehmlich
aber ist Haupt durch sonstige Erwägungen, die den Inlialt des Gedichts
betreffen, längst widerlegt. Ebenso unbegründet sind aber auch die Ver-
dächtigungen, die man gegen zwei Abschnitte in 0\dds Heroiden XYI 31 ff.
vmd XXI 13 ff. (s.oben S. 19) gerichtet hat; auch diese Abschnitte sind antik
und zugehörig, und es gilt hier nur, die eigentümhchen fata libelli auf-
zuldären. Dies sind indes Probleme, die nicht diesem Abschnitt, sondern
der höheren Kritik zufallen. Ich werde im letzten Kapitel, am Schluß
meiner Ausfülirungen, auf sie und Ähnliches zurückkommen.
Hat nun aber der Herausgeber, wenn er Handschriften und Drucke
ausgiebig heranzieht, seine Hilfsmittel erschöpft? Keineswegs, und noch
eine Fülle weiterer wichtiger Hilfen stehen ihm zu Gebote, die freihch
stets mit Kritik zu verwerten sind. Ich meine antike Zitate, Imitationen
und Ahnliches. Versuchen wir denn auch dies zu verdeutlichen.
2. Zitate.
Selbstverständlicherweise müssen hier, wo es sich um Zuverlässig- Zitate bei
keit handelt, Zitate bei Grammatikern von solchen unterschieden werden, Gram-
die sich bei Pliilosophen und Autoren der Unterhaltungslitteratur finden, i) matikem
Wer einen Ausspruch nur des Sinnes oder einer Pointe wegen zitiert,
ist oft lässig in der Einfülirung desselben, und er schlägt nicht erst
nach, sondern vertraut seinem Gedächtnisse. So deklamieren wir ruhig:
„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde", ohne uns an den Wortlaut
in Schillers Piccoloinini („Die Uhr schlägt keinem Glücldichen") zu
kehren. Plutarch ist der Autor, bei dem das Zitieren zur Krankheit wird.
Aber man muß ihn für die Textkritik mit Vorsicht heranziehen, und es
dürfte selten sein, daß er einmal Hilfe gibt wie bei Euripides Orest 667,
wo Aristoteles und Plutarch ri del qpiXcov garantieren, was auch im cod.
Vatican. B steht; die anderen Hss. des Euripides geben ri XQ^I ^f'^f^v. Zu
Aesch. Prom. 314, Suppl. 948 W. hat Plutarch schwerhch recht. Cicero
^) Manche Beispiele bringt Ed. Stemp- i Litteratur, Leipzig 1912, 8. 242 ff.
LiNGER, Das Plagiat in der griechischen !
30 Kritik und Hermeneutik.
zitiert oft auf das legerste, z. B. De nat. deor. 1, 13 itaque mihi Übet excla-
mare ut in Synephebis, worauf dann z. T. in Prosa aufgelöste Yerse aus
Caecilius Statius folgen, deren richtige Herstellung den Gelehrten immer
noch nicht gelungen ist.
Ebenso frei geht Seneca natürlich mit seinem Yergil um. Er brauchte
Yergilworte als Perlenschmuck im Golde seiner Lehrvorträge; aber er
fühlte sich nicht berufen, der Nachwelt als besonders zuverlässige Text-
quelle für diesen Dichter zu dienen. Epist. 10, 4 bringt er pone in ordine
uites aus Eclog. 1, 73 mit Zusetzung des in\ er nennt Vergil dabei gar
nicht und akkommodiert die Worte einfach seiner Prosa. Epist. 92, 30
zitiert er ohne Slaaipel animusque in corpore praesens, wähi-end der Dichter
selbst Aen. 5, 363 in pectore schrieb; Seneca brauchte hier eben corpus,
nicht pectus, für den Zusammenhang seines Exposes. De benef. 7, 1, 1
bringt er den Vers Georg. 2, 45, er schrieb aber statt carmine ficto, was
zu seinen Gedanken doi-t nicht paßte, wiederum einfach cat^mine longo.
Diese Textveränderimgen darf man also nicht etwa als wirkliche Lesungs-
varianten im Apparat vorbringen.
Höchst seltsam ist bei Vergil Aen. 6, 95 der Sachverhalt, wo alle
Hss.: audentior ito quam tiia te Fortuna sinet. Ribbeck druckt hier
q^ia statt quam mit Verweis auf „Senecae co". An der betreffenden
Senecastelle Epist. 82, 18 ist aber gleiclifalls quam tua te eqs. Avirklich
überliefert. Hense indes druckt in seiner Senecaausgabe wiedeiiim mit
Rücksicht auf Vergil gegen seine Hss. qua. Das qua bei Seneca findet
also keine Stütze an der Vergilüberlief erung , und das qua bei Vergil
findet keine Stütze an der Überlieferung des Seneca. i) Es hängt wie
ein Phantom in der Luft.
Der Autor TleQi vxpovg cap. 9, 6 begnügt sich nicht damit, aus Ilias
21, 388 die Worte, die er braucht, ä^Kpl d' eodhiiy^ev fieyag ovgavog an-
zuführen, sondern er füllt den unvollständigen Vers mit ovkvfijiog re eigen-
mächtig aus, offenbar nur zu dem Zweck, um dann die Verse aus Ilias
20, 61 ff., die er auch noch zitieren will, unmittelbar daran anknüpfen
zu können. Er ersparte sich damit für sie eine neue Einführungsphrase.
Man kontaminierte eben gern beliebige Stellen aus Homer; das tut schon
Plato im Staat p. 389 E. Im cap. 4, 5 zitiert derselbe Autor „vom Er-
habenen" eine Stelle aus Plato legg. p. 741 C folgendermaßen: jiegl de
Teiyo)v, o) MeyiXXe, iycb ivju^eQOi^uf]i> äv rfj Ztkiqt}] t6 xa&evdeiv iäv iv Tfj
yfj xataxei^ueva rd rsix^f] xai /li] tjTapioraodai. Plato selbst aber schrieb
nach dem Vokativ MeydXe etwas anders: c5 Meydke, eycoy' äv rfj Znägri]
ivjLKpegoffifjv t6 . . . xai jui] enavioTavai. Plato setzt also vor allem am
Satzschluß das Aktivum, der Rhetor setzt dafür das Medium. Warum
dies? um die jambische Satzldausel zu vermeiden. 2) Er ist also kein
sicherer Textzeuge.
1) Hense gründet hier den Text auf j «) Ueber die Satzklauseln in der Schrift
die Hss. FP, weil cod.^ schon Epist. 71,7 | IIsqI vyxwg s. Hans Freytag, De anonymi
zu Ende geht (praef . p. IV). Auch Norden, | n. vy^ovg sublimi gen. dicendi, Marburg 1897,
in der Ausgabe der Aeneis Buch VI, hat S. 72.
den Sachverhalt nicht wahrgenommen. }
I. Die Textgrundlegung. 2. Zitate. 31
Genialiscli frei sprang man besonders mit Homer mn, und schon
früli. Man darf z. B. glauben, daß die meisten Homerzitate des Aii-
stoteles naeli dem Gedächtnis gegeben sind;i) sie sind also nicht allzu
hoch zu werten. Auch Plato zitiert z. B. Hipp. min. p. 370 C aus Homer
/M)ior statt cpEQTFQov (IL 1, 169). Dennoch haben für die Geschichte unsies
Homertextes die voralexandi'inischen Homerzitate, die Ludwich sammelte,*)
entscheidenden A\'ert; denn sie zeigen, trotz aller untergelaufener Ver-
sehen, daß es vor Zenodot verbreitete Homertexte gab, die von dem
unseren, vom sog. Yulgattext des Altertums, gar nicht wesenthch ab-
wichen. Ja, öfter läßt sich erkennen, daß Lesungen, die uns als ari-
starchisch überliefei-t werden, mit dem Wortlaut jener Zitate, die ihm
zeitlich voraufliegen, übereinstimmen, daß Aristarch folglich in diesen
Fällen nur für das eintrat, Avas er schon vorfand. Aristarch tilgie B 192
— 197: dieselben Verse felilten aber schon in Xenophons Exemplar; s.
Memorab. 1, 2, 58. £"128 las Aristarch fjöe xal ävdga wie schon Plato
(Alkibiad. II [). 150 D). Aristarch schrieb im Homer xal xeivog, nicht xä-
xeh'Os, ebenso las schon Aristoteles. 3) Die amplifizierende Neigung der
TioXvoTixoi (darüber unten) bestand allerdings schon damals;'*) gleichwohl
scheint in Piatos Homerexemplar kein Vers mehr gestanden zu haben
als in unserer Homervulgate. Auch hierüber werden wir durch die Zitate
l)elehrt.
Manche Textstellen aus Thukydides finden sich bei dem Redner Aid-
stides, manche auch bei dem Rhetor Hermogenes angeführt ;ö) aus Plato
schreibt femer Eusebius (in der Praeparatio evangelica) breitere Abschnitte
aus. Auch dies dient uns als Hilfe; denn Avir sehen, daß den genannten
Zeugen gute Hss. vorlagen. Die Sammlung der Platozitate aber, die man
bei Proklos, Alexander von Aphrodisias u. a. findet, hat die wichtige Be-
lehrung gebracht, 6) daß schon jenen Männern im 3. — 5. Jahrh. n.Chr. ein
Platotext vorlag, der unserer zweiten Handschriftenklasse (Venetus T) ent-
spricht. Damit wächst im Plato das Ansehen der Hss., die vom Bodleianus B
abweichen (oben S. 24). Analog steht es vielleicht im Galen, dessen Text
man an den Galenzitaten, die bei Oribasios vorliegen,') kontrollieren kann.
Quintilian ist Rhetor, nicht Grammatiker, und Avenn er uns aus Horaz
Od. 1, 12, 41 hunc et intonsis Curium capillis zitiert, so ist das Flüchtig-
keit; Horaz selbst schrieb hier incomptis; das wird allein schon dm-ch die
starke Alliteration empfohlen. Dieselbe Nachlässigkeit zeigt Quintilian,
wo er eine sprachliche Seltenlieit aus Catidl beibringt; er hielt für nötig,
das AvertvoUe, A^olkstümlich doppelt gesetzte dum bei Catull 62, 45
Sic v'iTgo dum intacta manet, dum cara suis est
') A. Römer, Sitz.Ber. d. Bayer. Akad.
1884 'S. 278.
2) A. Ludwich, Die Homervulgata,
Leipz. 1898, S. 71 ff.: 138 ff.
3) Ludwich a. a. O. S. 88.
* ) Zum Wortgebrauch fxSootg jiokvanxog
vgl. Simplicius, der, Comment. in Epicteti
Encheirid. praef., von Arrian sagt: 6 zag
EjTiy.TrjTov hiaiQißag h jioXvoziyoig oi'vtd^ag ! et DarembERG, Paris 1851 ff.
ßiß).inig. ' !
^) Siehe F. Schröder, Thucyd. histo-
riarum memoria . . . apud Aristidem, Göt-
tingen 1887. Weniger brauchbar sind die
Thukj'dideszitate bei Dionys von Hali-
karnaß.
6) A. ScHÄFFER, Quaest. Piaton., Straß-
burg 1898.
^) Oeuvres d'Oribase ed. Bussemaker
G-ram.
matikern
32 Kritik und Hermeneutik.
genauer zu erklären, und nui- daclui'cli ist uns das dum hier erhalten.
Aber er schreibt innupta statt intacta, prosaisch und gewiß unrichtig, da
Ovid in einem ähnlich lautenden Verse das intacta nachahmt (Metam.
3, 355). 1)
Zitate bei Grammatiker dagegen Avar Flavius Capei", imd wir haben die Gram-
matiker ernster zu nehmen, da es zu ihrem Beruf gehört, Texte zu trak-
tieren und auf das Einzelwort genau acht zu geben. Zitiert also Caper
für Horaz Od. 1, 13, 2: lactea Telephi bracchia, so fand er das auch in
seinem Dichtertext; unsere Lesung cerea^) gibt auch sonst zu Bedenken
Anlaß. Man lese also lactea.
Soll man nun aber auch bei Horaz Od. 3, 14, 19:
Spartacum si qua potuit vangantem
nach Charisius p. 66 ed. Keil vagacem für vagantem einsetzen? Das va-
gacem wäre ein äjia^ eiQrjfieyov, dem fiigacem durchaus tadellos nachgebildet,
und es wäre immerhin diesem Dichter zuzutrauen.
Wie groß im übrigen der Nutzen der Grammatikerzitate ist, läßt
sich hier nicht einmal andeuten. Man denke, was allein Nonius zum
Plautus bringt! oder an die griechischen Schollen, die ja immer von Zeile
zu Zeile bestimmte Lesarten in dem Text, den sie erklären, voraussetzen:
Schollen zu Aristophanes, zu Pindar, zu den Tragikern u. s. f. Das Wicli-
tigste aber sind die Iliasscliolien. Denn durch sie kennen wir Aristarch
und alles Wesentliche zui' antiken Textgeschichte Homers.^) Ein paar
zufällig herausgegriffene Litteraturstellen seien hier wieder vorgeführt:
Plaut. Truc. 121 wird die Lesung odio es nicht unseren Hss., sondern einem
Priscianzitat, Plaut. Cui'c. 99 die Schreibung nautea dem Nonius verdankt.
Nonius las auch Mostell. 1 colina f. culina; so las aber auch schon Varro,
der das Wort von colere ableitete. Der Lulo-ezvers 11 44 steht in keiner
Hs. ; Nonius gibt ihn uns, und Lambin hat ihn [an dieser Stelle in den Text
eingefügt. Wie die Aristophanesscholien gelegentlich dem Aristophanes-
text dienen, zeigt A. E/Ömer, Studien zu Aristoph. (1902) S. 57 f. Im
Aeschylus Eum. 730 Weckl. ist das daljuovag unverständlich; im Schohon
zu Euripides, Alk. 12, wird aber diese Aeschylusstelle zitiert und diayojudg
gelesen; das ist richtig:
ov xoi jialaiag öiavo/näg ^caracpßioag
oivcp jraQrjjidrrjoag dgxacag ßsdg.
Gleich im Anfang des Prometheus Vers 2 steht irrig äßazov t eig igrjjuiav.
Dem^ Homer- und Aristophanesschohasten wird das richtige wirkungsvolle
äßgoTov ek eQfjjuiav entnommen. AlinlichJ[steht es auch ebenda im Vers 6.
Die Form aloj für a<a>va 'bezeugen als äschyleisch die Bekkerschen Anek-
dota p. 363,*und diese Form hat*man in den Choephoren 349 W. passend
eingesetzt.
Dies aber führt uns unmittelbai* zu den Lexika weiter.
aUeber den Wert der Cicerozitate | ^) Die auch zweihundert Jahre später
uintilian hat gehandelt P. Emlein, i Servius als Yulgate kannte.
De locis quos ex Cic. orat. laudavit Quin- \ ^^ K. Lehrs , De Aristarchi studiis
tUianus, Karlsruhe 1907, ohne ein festes Homericis, s. oben S. 8. Für Pindar vgl.
Gesetz zu finden. Die Frage wäre in A. Böckh, Kl. Schriften Y S. 369.
weiterem Umfang zu behandeln.
I. Die Textgrundlegung. 2. Zitate. 3. Lexika.
33
3. Lexika.
Es sei hier auf griechischem Gebiet nur an Hesych (ed. M. Schmidt), ^""j^^^'^^j^^^®
vSuidas (ed. Bernhardy), Photius (ed. Naber) i) und die Etymologika (Etym.
Magnum; Etym. Gudianum) kurz erinnert. *) Dies sind umfangreiche
zusammenfassende Arbeiten; daneben stehen Speziallexika, wie Harpo-
kration zu den Rednern, Timaeus zu Plato, Apollonius Sophista zu
Homer. Die wichtigsten der genannten sind Hesych und Suidas. Diese
Werke sind aber zum Teil aus SchoHen hervorgegangen^) und haben
also gleichen Wert wie sie. Manche PlatosteUe ist aus dem Timaeus,
manche Tragikerstelle aus Hesych geheilt. Denn Hesych nennt zwar meist
den Dichter nicht, aus dem die Glosse stammt, die er erklärt. Aber wir
können ihre Herkunft oft mit Sicherheit erkennen. So steht Soph. Oed.
CoL 1199 sinnlos ov ßiaia; man liest hier ovxi ßaid nach Hesych; so wird
Aescli. Choeph. 424 das Wort irjhjuioTQiag dem Hesych verdankt; das
äyyaQov nvQog Agam. 294 dem Etymol. Magnum und Suidas. Bei Hesiod
Erga 344 stellte Spohn eyxcojuiov aus den Lexika her, wo die Hss. eyxcDQiov
bieten; ersteres heißt „was im Dorf {xcojuf]) ist". In dem Callimachus-
fragment bei Athenaeus p. 329 A ist der Fischname ixiag in iKräga zu
emendieren nach Hesych s. v. Für Thukydides aber läßt sich das
geographische Lexikon des Stephanos von Byzanz (ed. Dindorf), betitelt
^EdviyA und nur im Auszug erhalten, gelegentlich heranziehen. Thuk.
2, 23 steht sinnlos IIsiQaix^; es ist nach Stephanos yfj rgacxi] einzusetzen;
4, 56 steht 'A^Qodiola; Stephanos aber gibt die richtige dorische Form
'A(pQodiria.^)
Gleichwohl sind die Lexika mit Vorsicht auszunutzen, da sie zu ihren
Glossen, wie gesagt, zumeist den Autor nicht nennen. G. Hermann hat
hier zum Aeschylus in maßvoller Weise den Weg gewiesen, Heimsöthö)
dagegen überschritt die Grenze des Rationellen, als ob es uns freistünde,
für jedes etwas trivial Idingende Wort in den Tragikern ein seltenes aus
dem Glossenschatz der Lexika einzusetzen.
Bisweilen tritt aber auch der umgekehrte Fall ein, daß uns die
Lexika durch Angabe der Herkunft des Zitates in Verlegenheit setzen.
Wenn Hesych folgendes bringt: äoxevoig- yjdoTg äjiaQaoxevoig Aloxvlog
Ayajusjuvovi, so sucht man im Agamemnon nach dem hier angeführten
Wort vergebens. 6) Ähnliche Schwierigkeit bereitete die Mitteilung des
Scaurus, der behauptete, in Plautus' Captivi verliere ornatus sein s
(s. Grammatici lat. VII p. 561); doch kann dies schUeßHch wohl auf
Captivi 997 bezogen werden. AuffäUig ist auch manches, was der liber
de dubiis sermonibus bringt. Besondere Schwierigkeiten macht mit ihren
Zitaten die Schrift De generibus nominum; mehr noch Fulgentius.
1) Dazu R. Eeitzenstein, Der Anfang
des Lexikons des Photios, Leipz. 1907.
2) Eine genügende Ausgabe dieser
Etymologika fehlt noch; die Vorarbeiten
gab Eeitzenstein. Danach Etymolog. Gu-
dianum ed. A. DE Stephan! , begonnen
Leipz. 1909.
3) Vgl.z. B.F.Heimsöth, Die indirekte
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I
Ueberlieferung des äschylischen Textes,
Bonn 1862; J. J. Frey, De Aeschyli schol.
Mediceis, Bonn 1857.
4) Niese, Hermes 14 S. 423 ff.
2 Die Wiederherstellung der Dramen
eschylus, Bonn 1861 ; Krit. Studien
zu d. griechischen Tragikern, Bonn 1865.
6) Vgl. Agam. 1323 W.
3. 3. Aufl.
3
Glossare
34 Kritik und Hermeneutik.
Endlich ist für das Latein hier Festus, zum Teil auch wieder Nonius
Lat. zu nennen; dazu die Sammlung der lateinischen Glossare. Natürlich
schaffen auch diese namenlosen lateinischen Glossare ihren Nutzen. Doch
sind sie großenteils nicht aus Schollen hervorgegangen und können daher
zur Emendation nicht in gleicher Weise Verwendung finden. "Wenn z. B.
Usener^) bei Plautus Most. 40 versuchte, rullus für rusficus einzusetzen, weil
die Glossare CGL. II 175, 60 rullus in diesem Wortsinn glossieren, so
überzeugt das nicht. Etwas anderes ist es, wenn gewisse Wörter, die in
unsem Texten stehen und die da als d'jral etQr]jLieva unser Befremden er-
regten, auf diesem Wege ihre Sicherung und Bestätigung finden. So-
wird uns das basso in sudore (= pingui, crasso in sudore) bei Catull
68 B 61, so das formitata in Vergils Catalepton IIP 3 in der Tat durch
die Glossare bestätigt.*) Man vergleiche auch Corp. gloss. V 72 zu dem
habitior bei Plautus Epid. 10 und das haedüiae bei Horaz in den Oden
I 17, 9, das Bücheier aus Corp. gloss. III 432 gewann. Auch für Petron
sind so die Glossen nützHch geworden. 3) Bei Juvenal 7, 87 steht der
Akkusativ Ägauem, so mit m, in den Hss. Die Herausgeber haben die
Pfhcht, zu dieser Stelle anzumerken, daß Agauuem cantionem novam auch
im Corp. gloss. lat. Y 652, 13 steht, welche Glosse, wie Götz erkannte,,
eben auf diese Juvenalstelle hinbhckt; und zwar stimmt mit der Glosse
das JuvenalschoHon, das Ägauem mit cantionem inauditam erklärt, so über-
ein, daß ein Zusammenhang mit den Schollen evident ist. Das m im
Akkusativ wurde also sicher im 4. — 5. Jahrhundert gelesen.
4. Exzerpte.
Wert der Eine Geschichtc der antiken Breviarien oder imrojuaij die schon
früh und schon vor der Alexandrinerzeit einsetzt, zu geben, ist hier
unmöghch.^) Natürhch sind diese Auszüge für uns da, wo das Ori-
ginalwerk ganz oder teilweise verloren ging, unschätzbar; ich erinnere
nur an die Periochae des Livius und an die Controversiae des Seneca,
wo uns die Exzerpte die verlorenen Bücher ersetzen müssen. Wo der
Autor dagegen vollständig erhalten ist. Hegt es nahe, den Auszug ganz
beiseite zu werfen. Indes stellt es sich bisweilen heraus, daß er nach
einer besonders guten Textvorlage hergestellt ist und also sonst un-
bezeugte Lesungen enthalten kann, wie jener Paris, der den Valerius
Maximus exzerpierte. Daher hat Niese die Josephusexzerpte vollständig
zimi Abdruck gebracht, ebenso Boissevain die Auszüge zmn Cassius Dio.^)
Schwenke edierte die zu Ciceros philosophischen Schriften.^)
Theophrast Auch die kleine Epitome zu Theophrasts Charakteren bewährt
sich, wennschon sie oft frei verfährt und das überlieferte Wort durch ein
anderes sinnverwandtes ersetzt, und es ist gut, daß man sie mit abdruckt.
Ehein. Mus. 14 S. 469.
2) Siehe Ehein. Mus. 59 S. 428 und
meine Cataleptonausgabe S. 40.
3) Siehe W. Heraeus, Die Sprache des
Petronius und die Glossen, Offenbach 1899.
^) Vgl. Das antike Buchwesen S. 381
Anm. ; Stemplinger a. a. O. 219 f.
^) Vgl. die Neuausgabe der Excerpta
historiae des Oonstantinos PorphjTogenetos
(1906 f.), an der De Boor, Büttner-Wobst,
Boissevain beteiligt sind.
6) Vgl. über die Oiceroexzerpte jetzt
Wiener Studien 1912.
I. Die Textgnmdlegung. 3. Lexika; 4. Exzerpte; 5. Florilegien. 35
Aber auch von den neuesten Herausgebern der Charaktere wird sie m. E.
noch nicht genügend ausgenutzt, und es seien hier deshalb ein paar
Stellen daraus vorgeführt, i) 1, 1 gibt die Epitome jiQoojiolrjoig im t6
X^^QoVy und das ist besser als das ejtI xeiQOv der Hss., wie z. B. c. 28, 1
elg To yeiQoy beweist. Auch 3, 5 hat sie den Artikel rd vor Aiovvoia
erhalten. Zu 2, 3 ist klar, daß der Epitomator mit den besten Hss. Xeyeiv,
nicht Xeycov las; wenn er schreibt xai anXayg eiJieiv ndvxxov C^jlcoTÖrarog xal
öoa totavra xtX., so muß er in seiner Vorlage folgendermaßen gelesen
haben: xal äkXa roiavxa keyeiv (xai) dnb xov ijuariov äcpeXeXv xgoxvda, und
dies ist gCAviß anzunehmen. 2) 5, 4 sichert er uns den Akkusativ rovg
^evovg de eijielv cbg . . . 1, 4 ist der Wortlaut q)i]oai eri ßovXeveo&ai voll-
kommen sinngemäß, das en kaum zu entbehren und eine Bereicherung
des Textes, die gCAviß aus der Vorlage der Epitome stammen kann. Diese
dem cod. Parisin. B nächstverwandte Vorlage übertraf hie und da unsere
Hss. der „Charaktere" an Treue.
Daneben sei hier nur noch an Exzerpte aus lateinischen Dichtem,
die uns für den Text des Catull, Tibull und Ovid wichtige Dienste
leisten, erinnert. Eine Haupthandschrift dafür ist der codex Thuaneus,
Parisinus lat. 8071 saec. IX — X, in welchen Catulls carm. 62 vollständig
Aufnalime fand. So ist auch Martial viel exzerpiert Avorden.^) Zahlreiche
solche Dichterexzerpte sind dann in das allumfassende Speculum doctri-
nale des Vincentius Bellovacensis gelangt.
Eine Hs. wie der angeführte cod. Thuaneus ist aber in Wirklichkeit
nichts anderes als ein Florilegium, eine sinnvolle Auslese schöner oder
denkwüi-diger Litteraturstellen, und so führt uns dies unmittelbar zur Be-
sprechung der Blütenlesen weiter.
5. Florilegien.
Ein Florilegium ist entweder ein verkürzender Auszug, wofür wir
soeben Beispiele kennen gelernt haben, oder es ist eine Zitatensamm-
lung. Im erst^ren Fall ist seine Wirkung, daß die zugrunde ge-
legten Originalwerke selbst in der Folgezeit in Vergessenheit geraten;
dafür ist die Palatinische Anthologie das bekannteste Beispiel; aber
auch die Geschichte der antiken Tierfabel fäUt unter diesen Gesichts-
punkt. Der originale Phaedrus ist uns verloren, weil man aus seinen
fünf Büchern die Auslese herstellte, die uns vorlieg-t. Uns interessieren
an dieser Stelle \delmehr die alten Zitatensammlungen, die meist unter zitaten-
moralistischem Gesichtspunkt zustande^ kamen. Der- moralistische Ge- l^^^^
Sichtspunkt herrscht nicht nm- in vielen Florilegien des Mittelalters,^) er
^) DiELS Beurteilung derselben praef. 1 gesellt, wie Sokrates es mit den Sophisten
p. XXII überzeugt mich nicht. ' hielt. Das o?' /nioeTv muß aus 6/m^Tv ver-
2) Denn ein xai fiel in diesem Text j schrieben sein, ein xai aber ist dabei un-;
leicht aus : so wird xai von Diels 4, 9 vor | entbehrlich ; also roTg sx^goTg e&eXeiv laksTv
TTjv OtfQav ergänzt, und auch 1, 2 gehört
hierher, wo es § 2 sinnlos heißt: roTg i/ßgoTg
e§Ehiv laXsTv, ov ^loeTv. Dies ov fiioElv versucht
man umsonst zurechtzurenken. Ob der
Ironicus liaßt oder liebt, ist überhaupt
gleichgültig. Gesagt soll werden, daß er
grade seinen Widersachern sich gern zu-
xui o^ihlv. So fiel 3, 4 auch (hg aus, wo
zu lesen ist: xal <ök> ;ft?£? ^fieos. Denn
im cap. 3 wird die indirekte Rede durch-
geführt.
3) Siehe ed. Friedländer S. 67 u. 89 f.
*) Siehe meine Claudianausgabe praef.
S. 175 f.
3*
36 Kritik und Hermeneutik.
herrscht auch schon in den antiken Monosticha Menanders und den] Sen-
tentiae PubHlii Syri.i) Den wertvollsten Zitatenschatz des Altertums aber
stobaeiis hinterließ uns Joannes aus Stobi, den man Stobaeus nennt, aus dem
Anfang des 6. Jahrhimdeits, unter dem Titel \4vdoX6yiov (im Mittelalter
in zwei Werke 'Exloyal und "Av&oXoyiov zerlegt) : 2) ein System der grie-
cliischen Ethik, Gesellschafts- und Pfhchtenlehre. Stobaeus bringt eine
unendliche Fülle ethischer Sentenzen oder auch größere Abschnitte aus
über 500 Autoren. Natürlich war er dabei öfters genötig-t, die Anfangs-
worte der betreffenden Stelle willkürlich abzuändern, da sie, aus ihrem
Zusammenhang gerissen, selbständig dastehen sollte. Dasselbe Verfahren
kann man auch in den lateinischen Florilegien des MA. beobachten. Im
übrigen aber schreibt Stobaeus seine Vorlagen sorglich aus, und er be-
nutzte oft gute Vorlagen. An gelegentlichen Abweichungen von unseren
Texten fehlt es nicht, z. B. in den Xenophonabschnitten. Im Plato geht
er mit Venetus T; vgl. z. B. Protag. p. 324 B; Euth^^d. p. 280 D. Welche
Fülle von Fragmenten nicht erhaltener Autoren wir dem Stobaeus ver-
danken (ich nenne nur Teles), kann hier nicht dargelegt Averden.
6. Übersetzungen und Paraphrasen.
über- Welchen Nutzen eine Übersetzung hat, zeigt am einleuchtendsten die
se Zungen gj.JQ(,]^ig(3}^ß Soptuaginta, die für die Gestaltung des hebräischen Urtextes des
Alten Testaments als erste und wichtigste Quelle dient. 3) Es versteht sich,
daß es mehr Fälle dieser Art gibt;*) ich erwähne nur den Dichter Arat mit
den lateinischen Versionen des Cicero,^) des Germanicus und des Avien; so-
dann Piatos Timaeus, übersetzt von Cicero und von Chalcidius ; auch Pseudo-
Aristoteles de mundo, übersetzt von Apuleius; füi- des Eusebius Kirchen-
geschichte die lateinische Übersetzung des Rufinus und die wichtigere
syrische ; vor allem die griechische Chronik desselben Eusebius, dio mit Hilfe
der lateinischen Übersetzung des Hieronymus, aber auch einer armenischen
Übersetzrmg sich hat rekonstruieren lassen (ed. A. Schöne). Für den Histo-
riker Eutrop benutzt man die griechische Übersetzung des Paionios. Aber
auch die translatio . vetus des Aristoteles aus dem 13. Jahrhundert sei er-
wähnt, da sie als wortgetreu und wertvoU gilt. Endlich aber stehen hiermit
Para- auf einer Linie auch solche Prosaparaphrasen von schwierigen Gedicht-
phrasen ^^rgi-j^^jj^ ^^{q (jj^ (jgg Eutoknios ZU Nikaudors Alexipharmaka und Lykophrons
Alexandra, paraphrasieii von Tzetzes. Wenn man die metrischen Fabeln
des Babrios in Prosa auflöste, so läßt sich auch dies als eine Art Para-
phrase hier anreihen.
Natürlich kann also nun in solchen Fällen das Original nach der
Übersetzung, bisweilen aber auch die Übersetzung nach dem Original
korrigiert werden. Im Josephus latinus contra Apionem II 202 steht
unter den Vorschriften, die das „Gesetz" gibt: universis autem mulieribus
^) Beispiel eines Florilegiums aus vor- i 1905.
christlicher Zeit s. Kaibel, Hermes 28 j '*) Einiges stellt Stemplinger a.a.O.
S. 62 f.; Stemplinger S. 10. i S. 212 zusammen.
2) ed. Wachsmuth und Hense. | ^) Vgl. 0. Atzert, De Cicerone inter-
') Vgl. G. Jahns Ausgaben des Buch | prete Graecorum, Göttingen 1908.
Esther und des Ezechiel; letztere Leipz. :
I. Die Textgrundlegung. 6. Übersetzungen; 7. Entlehnungen. 37
interdixit vel celare quod statum est vel . . . Das ist unverständKcli ;
C. Boysen stellte hier nach Nieses Vorschlag quod satum est her; denn
im Original steht oTiagev. So korrigiert C. Atzert^) unter Anleitimg der
Ciceroübersetzimg in Piatos Timaeus u.a. p.43A äXmoig in avroig. Nützlich
erweist sich auch die arabische und die syrische Übersetzung für den Text
der Poetik des Aristoteles. Poetik I, 3 gibt die Pariser Hs. sinnlos: rcß
yevei hegoig juijUMo&ai, zu fordern aber ist reo ev hegoig juijuelo&m. Wirklich
las so der Arabs: imitatur rebus diversis. Ebenda IX, 9 fehlt im Arabs
das övvajä yiveodai, das an dieser Stelle bloß Dittographie ist zu ola äv
eixög yevEo&ai. Es ist also zu tilgen. Ebenda IV, 12 lesen wir nach
Vahlens Emendation: Mv rig ecpe^fig §fj giqoeig fjd^ixdg xal Ae^ei xai diavoia
fv 7i€Jioü]juevag (wo Aeieig xal diavoiag die Hs.). Dies bestätigt der Syrus.
7. Entlehnungen.
Mit Entlehnung ist hier zimächst der Fall gemeint, daß ein Autor eine i» der Prosa
Vorlage ausschreibt, und zwar eine solche, die wir noch besitzen. Zunächst
in der Prosa. Plinius exzerpiert in seiner Naturgeschichte die Tiergeschichte
des Aristoteles, freilich wohl nicht direkt, sondern nach der Übersetzung
imd Redaktion des Pompeius Trogus. Wer nun beide genau vergleicht»
ge^vinnt soAvohl für den Aristoteles- wie für den Pliniustext Berichtigung.
Bei Aristoteles p. 598 A 25 ist ev rcp Älyaio) zu lesen nach Plin. 9, 48; da-
selbst p. 598B 8 ist TÖ Tivevjua in t6 Qevjua zu ändern; 2) denn Plinius gibt
an der entsprechenden Stelle fluctus. Besonders aber verrät Phnius, daß
der Aristotelestext \a elf ach lückenhaft ist und Kürzungen erfuhr. 3)
Aber auch der Fall kommt vor, daß zwei Autoren eine gemeinsame
Vorlage, die nicht erhalten ist, ausschreiben. Alsdann können wir einen
am andern kontrollieren. So beruhen die Lexika des Suidas und des Photios
auf gemeinsamen Vorlagen, und da das letztere schlecht überliefert ist,
zieht man zur Herstellung seines Textes Suidas durchgängig heran.
Plutarch erzählt De sollertia animalium p. 977 E^ daß der Fisch Xdßga^
sich durch List dem Netz entzieht: xal rvjirei xodaivcov ro edaqjog, Avas
unverständlich, denn durch rvjtreiv erreicht der Fisch seinen Zw^eck nicht;
in den Halieutica des sog. Ovid steht nun vom selben Fisch lupus die-
selbe List, aber es heißt Vers 24: submissus sidit harenis, d. h. er bückt
sich nieder. Also ist auch bei Plutarch xvjirei zu schreiben. Die gemein-
same Vorlage war wohl Chrysipp.'*) Das glossographische Material des
Athenaeus steht mit dem des Hesych in quellenmäßigem Zusammenhang,
und wenn wir bei jenem p. 308 E lesen vjiö noXXwv oajiegdrjv Jigooayo-
oeveo&ai, bei diesem aber zu oajregdrjg notiert wird vtio Uovtixöjv, so wird
auch Athenaeus vjio IJovrixöjv geschrieben haben. '^) Am lehrreichsten ist
das Corpus glossariorum latinorum; denn viele] dieser spätlateinischen
Glossare wirtschaften mit dem gleichen Wortschatz, und ungefähr auf
jeder Seite kann [man die barbarischen Verschreibungen des einen mit
*) a. a. 0. S. 16. I dum trahit tnare.
2) Dies ist in Dittme:yers Ausgabe i ») Vgl. De halieuticis p. 137 — 154.
nicht bemerkt. Es ist das Scholion zu | *) De halieut. p. 75.
Juvenal 4, 43, das auf den Pontes Bezug ^) Vgl. De halieut. p. 182.
hat, zu vergleichen: ülicmwi rheuma qtiae- \
38 Kritik und Hermeneutik.
Hilfe eines der übrigen korrigieren. Als musterhaftes Beispiel sei liier
noch Mommsens Ausgabe des Solinus genannt, der zur Kontrolle des
Textes die Quellenstellen aus Plinius und Mela notierte und überdies
zeigte,!) Avie des Plinius Text selbst mit Hilfe des Solin zu emendieren ist.
bei Hierzu kommen nun noch die Imitationen bei den Dichtern. Denn
^^ wenn ein Dichter einen andern nachahmt, so können Avir Aviederum, avo
die Lesung SchAvierigkeiten bereitet, mit Hilfe der Beobachtung solcher
Imitationen eine Entscheidimg treffen, und es muß Pflicht jeder kritischen
Ausgabe sein, auch die Imitationen mit vorzuführen. 0. Ribbecks erste
Vergilausgabe ging damit rühmlich A^oran. Freilich ist dem subjektiven
Ermessen hier breiter Spielraum gegeben und die Grenze ZAAäschen zu-
fälligem Anldang und beAvußter Nachahmung oft scliAver zu ziehen. 2)
Centone Voran stehen dabei die eigentlichen Centone, Avie der X^iotog ndoxojv,
ein Cento aus Euripides, der Cento nuptialis des i^uson und die Nummern
11 — 20 der Anthologia latina (darunter Hosidius Geta's Medea); ferner
Anthol. Pal. 9, 381 und 382 nach Homer; so aber auch schon der alte
homerische Hymnus auf Aphrodite. 3)
Imitation Di OSO Centonc sind so gut Avie Zitatensammlungen aus Euripides,
aus Vergil und Homer. Daneben steht sodann die freie Nachahmung
der eigentlichen Dichter. Für sie könnten hier scliließHch sämtliche alten
Autoren aufgezählt Averden; denn im Grunde beruht ja die ganze Ent-
Avicklung der antiken Poesie auf solcher Imitation (schon innerhalb des
Homer selbst). In Adelen Fällen Avar sie auch parodistisch, \Ade bei den
Komikern,*) und diese Parodien geben dann gelegentlich Avieder Hilfe.
Bei Aeschylos Ag. 113 AAdrd das xal ysQi aus Aristophanes' Fröschen 1288
entnommen. Übrigens parodierten auch die Philosophen, avo sie spotten,
in lustiger Weise ihre Dichter. Auf Arkesilaos, den Eklektiker, Avurde
der Vers gemacht: jiQooße TTXdrov, om&ev Uvqqwv, jueooog Aiodojgog (Diog.
La. 4, 33). Der Cyniker Diogenes verspottete den, der reichlich opsonia
einkaufte, mit dem Vers (hxvjuoQog di] juoi, rexog, eooeai oV äyogäCsig (nach
^ 95), setzte also äyogaCeig für äyogeveig ein (Diog. La. 6, 53).
Aber auch in der Prosalitteratui' ist auf stilistische Imitation zu
achten; so ahmt Prokopius in dem Grade den Thukydides nach, daß
sich daraus Adelleicht auf die Beschaffenheit seines Thukydidestextes
Schlüsse ziehen lassen.
Der Nutzen solcher Beobachtungen sei endlich noch durch ein nam-
haftes Beispiel illustriert. Gleich an der SchAvelle der Aeneis Vergils strau-
cheln AAdr über eine Variante. Aen. 1, 2 lautet:
Italiam fato profugus Laviniaque venit Litora.
SerAdus merkt dazu an: Lavlnaque legendum est, und Lavina gibt Avirklich
der cod. Eomanus Vergils, und auch im Mediceus ist das l getilgt. Denn
durch dies i Avird der Vers zerstört, da an Synizese des ia nicht zu
1^ 2. Ausgabe Berlin 1895, S. IX f. j nerem Homerico, Dissert. phil. Hai. Bd. 15
2) Imitationen sammelten für die rö- j (1903).
mische Litteratur besonders Zingerle und | *) Vgl. z. B. W. Scherrans, De poet.
Hosius. i com. Atticorum studiis Homericis, Königs-
3) Vgl. H. Trüber, De h;>Tnno in Ve- ' berg 1893.
I. Die Textgrimdlegung. 7. Entlehnungen; 8. Stichometrisches. 39
glauben ist. Yergil kennt solche Synizese im Versinnern nicht. So be-
stätigt denn schon Properz II 34 64 die Fordemng des Servius, wo er
von Vergil sagt: Qui nunc Äeneae Troiani suscitat arma lactaque -Lavinis
moenia IHoribus: eine deutliche Anspielung auf den Anfang der Aeneis.
Properz kannte damals, als er die Elegie II 34 dichtete, vom Yergilwerk
gewiß nur Entwürfe, noch kein ediertes Exemplar; auch da aber stand
also schon Lavinaque. Denn daß bei Properz etwa Lavinis durch Kon-
traktion für Laviniis eintrat, ist durch den Sprachgebrauch dieses Dichters
ausgeschlossen. Es gab also ein Nomen Lavinus, das sich zu Lavinium
verhielt wie Umher zu Urnbriay Uns zu Ilium, und auch Juvenal schrieb
darum 12, 71, wo er von Roms Urgeschichte redet, Lavino. Eine auf-
fälUge Analogie bietet auch das subigit omne{m) Loucanam der Inschrift
des Scipio Barbatus; aus Yersnot ist hier Loucanam für Loucaniam ein-
getreten. ^) Wir haben also bei Yergil Lavinaque venit in den Text zu
nehmen.
Bequemer hegt die Sache in anderen Fällen. So sahen Avir oben
iß. 22), daß bei Juvenal lY 67 die Lesung sagina durch die Imitation in
Cyprians Heptateuch gesichert wird. Bei Properz r\" 8, 15 heißt es sinnlos
von der kutschierenden C^Titliia:
Huc mea detonsis avecta est Cj^nthia ab annis.
Statt ab annis ist equis zu fordern. Beroaldus stellte mannis her, und
dies bestätigt der Nachahmer Ovid Am. 2, 16, 49.2) Ebenso wird bei
Ovid selbst Trist. I 1, 90 gegen den Codex Florentinus die Lesung Icariis
nomina fecit aquis durch Auson. Epist. 19, p. 180, 33 Schenkl: Icario qui
fecit nomina ponto gesichert.
8. Stichometrische Angaben.
Zu manchen Schriftwerken, auch Prosawerken, wird mis die Stichen- sticho-
zahl, also die Summe der Zeilen, die das Werk enthält, aus dem Alter-
tum sorgHch überhefert, so bei den Reden des Demosthenes ; oder es
steht gar eine Zeilenzählung am Hand des Manuskriptes. Es ist klar,
daß wir alsdann an diesen Zalilen die Integrität des erhaltenen Textes
messen können. Bei Demosthenes ist es die Frage, ob die in die
Staatsreden eingelegten vofxot echt und ursprüngUch zugehörig sind.
Blaß aber zeigte, daß die stichometrischen Zahlen dies widerlegen. s)
In Piatos Kratylos stehen in gewissen Abständen Zahlensummen am
Rand; Schanz zeigte, daß danach ein Abschnitt von zehn Zeilen Um-
fang im Platotext unecht sein muß.'*) Marginalstichometrie findet sich
\n elf ach in den Herkulanensischen RoUen.^) So stehen am Rande des
*) Vgl. H. Bergfeld, De versu Satur- ihr Vorhandensein voraus ; s. Christ, Abh.
nio. Marburg 1909, S. 43 u. 57. i bayr. Akad. 1882 S. 192 ff. Uebrigens Dre-
«) Die Korruptel AB ANNIS aus MAN-
NIS weist eher auf Kapitalschrift alf? auf
Unziale.
3) BLASS, Ehein. Mus. 24 S. 531 f.;
Wortmann, Marburg 1877. In den Privat-
reden steht es anders; z. B. in der Eede
gegen Neaera setzen die Stichenzahlen
RUP, Philol. Suppl. 24 S. 223 : auch H. BüR-
MANN, Rhein. Mus. 32 S. 353 ff.
4) Hermes 16 S. 309 f. Vgl. sonst noch
Fuhr, Rhein. Mus. 37 S.468: Blass, Archiv
für Papyrusforschung 1906 S. 480.
5) Vgl- !>• Basst in Rivista di filol. 37
S. 321 ff.
40 Kritik und Hermeneutik.
Herkulanensischen Philodempapyrus Tiegl oixovojuiag immer im Abstand
von je 180 Zeilen Buchstaben gesetzt. Der Herausgeber Chr. Jensen
konnte, da diese Buchstaben mit jz anheben, mit co endigen, danach
genauer den Umfang des verlorenen Anfangs der Rolle, der die Buch-
staben von a bis o' umfaßte, berechnen; es ist von ihr nur etwa ein
Viertel erhalten. Asconius zitiert sogar Stellen aus Ciceros Rede pro
Milone genau mit Angabe der Zeilenzahlen. Aus diesen Zeilenzahlen
folgt aber unweigerlich, daß der Anfang dieser Cicerorede damals etwas
umfangreicher gewesen sein muß, als er heute vorliegt; in § 2 sind etwa
acht Zeilen ausgefallen, i) Daß neuere Herausgeber dieser Cicerorede
diese Beobachtung nicht berücksichtigen, kann ich nur aus der Scheu
erklären, die manche noch heute so äußerlichen Argumenten gegenüber
empfinden. Aber ein stichometrischer Vermerk ist ein Dokument von
ebenso zwingender Natur wie das Mitei oder vacat in den mittelalter-
lichen Handschriften.
') Ant. Buchwesen S. 199.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik.
Der niedere Teil der Hermeneutik betrifft die Einzelauslegung der
Schriftwerke von Wort zu Wort. Wir haben im vorigen Abschnitt die Hilfs-
mittel, Handschriften, Exzerpte, Zitate und Imitationen, durch die zunächst
ein möglichst zuverlässig beglaubigter Text gewonnen Avird, aufgezeigt.
Die egju)]yeia oder Auslegung und Kommentierung, über die wir jetzt
handeln, setzt die Herstellung und Klarstellung dieses beglaubigien Textes
voraus. Zwei Aufgaben aber sind ihr selbst gestellt: sie gibt erstens eine
sprachlich formale Erk'lärung, zweitens eine Erklärung des Sachinhalts.
A. Formale Auslegung nach Grammatik und Stil.
Das Fragen nach dem rein Sprachlichen geht notwendigerweise voran, ^'^er-
insofern ja überhaupt erst die Bedeutung der Wörter festgestellt werden
muß. Damit verbindet sich dann alsbald die weitere Pflicht, den Sprach-
gebrauch des vorliegenden Schriftstellers mit dem herrschenden Usus
durch Yergieichung festzustellen. Die formale Interpretation fängt also
mit dem AVortverständnis, mit der Übersetzung an. Jedoch gehe ich,
indem ich liierüber handle, auf eine Besprechung moderner Klassikei*-
übersetzungen, die mir für die Auffassung der Geschichte des deutschen
Geschmacks lehrreicher scheinen als füi' die Interpretation der alten
Texte, nicht ein. Als Übersetzer sei hier nur Fr. Bücheier erwähnt;
denn indem mis Bücheier die schwer verschatteten umbri sehen Tafeln
lateinisch vertieiie, gelang es ihm, uns in den Zusammenhang des Inhalts
dieser Ritualvorschriften auf das geschickteste einzuführen, imd seine
Übersetzung selbst vertritt an vielen Stellen den Kommentar. So hatte
auch seine lateinische Übersetzung des damals neu erschienenen Herondas,
so auch die des Gesetzes von Gortyn propädeutischen Wert. In diesem
Sinne nenne ich auch noch die beigegebenen Übersetzungen in H. Diels'
Vorsokratikerfragmenten und in W. Schmidts Ausgabe des Hero. Auch
Rebers Vitruv-, E. Schellers Celsusübersetzung sind nennenswerte Hilfs-
mittel. Das Haupthilfsmittel zum Übersetzen nun aber ist die Lexiko-
graphie, die die Wortformen und die Wortbedeutimgen feststellt. Mit
ihr sei hier begonnen.
Es gilt in einem Satz wie ävöga jnoi evvejie Movoa oder arma vlrumquc
f-ano nicht nur die Bedeutung dieser drei oder vier Wörter, sondern auch wort-
die syntaktische Bedeutung ihrer Endungen, ihrer Flexion oder Abwand- Bedeutung
lung zu verstehen. FoiTnenlehre und Lexikographie, ja schließlich auch
die Syntax begründeten dereinst schon die Griechen, indem sie mit in-
tensivstem Eifer ihre Nationaldichter traktierten und zu verstehen suchten.
42 Kritik und Hermeneutik;
So entstand also auch die Lexikographie; aber sie war ursprünglich nicht
ZAveisprachig, sondern Griechisch wurde mit Griechisch erklärt. Zu sel-
tenen Worten im Homer oder im Aeschylus schrieb man sich ein er-
klärendes övofia xvgiov an den Rand oder zwischen die Zeilen; dabei
leitete sich die Dunkelheit der Wörter oft aus dem Umstand her, daß sie
• vom Dichter aus irgendeinem Dialekt herübergenommen Avaren, und die
Erldärer mußten nun die Dialekte vergleichen, und ein Dialekt erklärte
den anderen. Diese Erklärungen wurden dann ausgehoben und gesammelt
und nahmen die Form von Verzeichnissen an, die man alphabetisch
Glossare ordnete. Es entstanden Glossare zu einzelnen Autoren (Didjmos ist hier
Hauptname), dann aber auch zusammenfassende Wortthesauren, von denen
wir oben vS. 33 die Avichtigsten unter den erhaltenen aufgezählt haben.
Auch Vocabularien von Dialekten Avurden gemacht, z. B. A^on Seleukos,i)
A'on Aristophanes von Byzanz,^) endlich aber auch nach sachlichen Ge-
sichtspimkten der Wortschatz rubriziert, Gefäßnamen, Tiernamen u. a. zu-
sammengestellt. Ebenso sammelte man die Namen der Winde, die termini
technici für Unterhaltungsspiele (Sueton) u. s. f.
Mit diesen A^orAviegend griechischen Arbeiten konkurrierten bald auch
entsprechende lateinische. Auch die Römer aber erklärten das Latein
zunächst nur einsprachig mit Latein. Endlich kamen dann aber im Dienst
desselben Römers und des zweisprachigen Kaiserreichs auch die unent-
behrlichen bilinguen Glossare auf; schon aus dem Jahr 207 n. Chr. be-
sitzen wir ein solches bilingues Schidbuch;») die graecolatina begannen.
Schulmeister lieferten das; im Notfall aber half auch jeder sich selber.
Dafür ist ein hübsches Beispiel ein in Ägypten gefundenes Papyrus-
blatt, auf dem sich irgendein Reisender oder ein in Ägypten zeitweilig
stationierter römischer Soldat die nötigsten griechischen Vokabeln, die für
den Gasthausverkehr ausreichten, mit XJbersetzung, so gut er es verstand,
aufnotiert hat: binu (vinum) Avird da mit enari {olvägi) übersetzt, bile (vile)
mit ntele {evTe^sg), laba manos (laA-a manus) mit nibson ceras u. s. f.*)
BiJinguen Bilingue Inschriften, die denselben Text sowohl griechisch wie latei-
nisch geben, kennen AA^ir schon aus vorchristlicher Zeit: z. B. CIL. I 587.
Die großartigste Inschrift dieser Art ist das Moniimentum Ancyranum.
Dann aber trat dies Verfahren auch in den Dienst des christlichen Kirchen-
lebens ; denn die lateinischen Bibelübersetzungen, die man mit dem Namen
der Itala zusammenfaßt, Avaren ursprünglich augenscheinlich A^ielfach inter-
lineare Versionen, die, dem griechischen heiligen Text folgend, die Wort-
folge ängstlich beibehielten und nicht nach dem Sinn übersetzten, sondern
sklaA^isch AVort init Wort und Kasus mit Kasus, so gut es ging, Avieder-
gaben. So barbarisch sich dies liest, so erscheint dies Verfahren doch
bei einem Text, avo jedes Wort heilig ist, natürlich; zur Veranschau-
lichung können uns ZAveisprachige Bibelhandschriften dienen, die A\dr aus
') Siehe M.Schmidt, Philol. 8 S. 436 ff. ler in Fleckeis. Jbb. 1875 S. 309. Ein
2) z. B. Aaxoivixal yX&oaat. ■ anderes solches Glossar auf Papyrus s.
3) Dersog. Dositheusmagister; s. Corp. Kenyox, Grreek papA^ri of the Brit. Mus.
gloss. lat. III S. 56 f. I II S. 322.
) Siehe Corp. gloss. II fin. und Buche-
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung.
48
Lexik
dem Mittelalter besitzen, wo zwischen den griechischen Zeilen die latei-
nischen Zeilen stehen, i)
Das zweisprachige Glossar war es nun, dem die Zukunft gehörte, und
ich habe hier schließlich nur noch auf die großen Lexika hinzuw^eisen, die
dem Sammelfleiß der neueren Zeiten verdankt Averden, wie der Thesaurus
gi'aecae linguae des H. Stephanus (3. Ausgabe von den Dindorfs, Paris
1831 — 65), Avie der lateinische des Aegidius Forcellini (herausgegeben von
De-Yit 1858 — 87), sowie des J. M. Gesner; auch F. Corradini sei genannt;
dazu die trefflichen Handlexika von Passow, von Georges;^) für das
mittelalterliche Latein und Griechisch Du Gange: Glossarium ad scriptores
mediae et infimae latinitatis (herausgegeben von Henschel, Paris 1840 — 50);
desselben Glossarium ad scriptores mediae et infimae graecitatis, Leiden
1688 (2 Bde). Aber sie alle befriedigen wie die antiken Glossare doch
nur das primitive Bedürfnis des minder geübten Lesers alter Texte, der
nur die Wortbedeutungen selbst sowie Angaben über übliche Konstruktions-
Aveisen und Wortverbindungen finden will. Wir aber haben mehr und Aufgabe
anderes nötig. Wir brauchen, statt der Zusammenfassung des Sprach-
materials in solchen Sammelwerken, vielmehr Sonderung und Unterschei-
dung. Denn Avir haben unserer Betrachtung die folgenden Gesichtspunkte
zugrunde zu legen. Der Interpret muß sich gegenwärtig halten:
1. Die Wortbedeutungen sind verschieden in den verschiedenen
Zeiten oder Sprachperioden.
2. Der Dialekt A^erändert die Sprache.
3. Der Sprachschatz ist ein verschiedener in den verschiedenen Litte-
raturgattungen : anders im Epos als in der Lyi'ik, Avieder anders in der
Prosa u. s. f.
4. Dazu tritt akzidentell, und das ist das Interessanteste, der Einfluß
der einzelnen Persönlichkeit auf die Sprache. Le stile, c'est l'homme.
Mit Freuden war daher der neue, von fünf deutschen Akademien
herausgegebene, umfassende Thesam'us linguae latinae zu begrüßen, der
seit dem Jahre 1900 erscheint und von Wolf f lins Archiv für lateinische
Lexikographie Bd. I — XY vorbereitet wurde. Dieses gewaltige Werk»)
A\''ird zum Av^enigsten unsere erste Forderung erfüllen; denn es ist histo-
risch angelegt und unternimmt es, für jedes lateinische Wort mit reich-
lichen Belegstellen seine Geschichte nachzuweisen. Daß Avir für d^s
Griechische auf ein entsprechendes monumentales Werk A^orerst nicht
hoffen dürfen,*) ist ein schAverer Nachteil.
Für den, der ein solches Lexikon arbeitet, muß das Prinzip gelten, Thesaums
möglichst treu sämtliche in den Handschriften überlieferten Wörter zu ver-
zeichnen und auch da, avo sie Schwierigkeiten zu bieten scheinen, nicht einfach
A^on ihnen abzusehen und statt ihrer konjekturale Lesungen zu verzeichnen.
linguae lat.
*) Evangelien in St. Gallen, Stiftsbibl.
N. 48 saec. TX; Psalmen in Cues a.d. Mosel
saec. IX — X: vgl. F. Steffens, Latein.
Paläographie, 2. Aufl., II Taf. 57.
2) Von beiden, Passow und Georges,
beginnen jetzt eben Neuausgaben zu er-
scheinen.
') ?]ine „Epitome" daraus will uns
F. Vollmer geben.
*) Siehe K. Krumbacher in Inter-
nationale Wochenschrift für Wissenschaft,
Kunst und Technik 1909, 29. Mai.
44 Kritik und Hermeneutik.
Andernfalls entsteht die Gefahr, daß das Lexikon über den antiken Wort-
schatz ungenügend Auskunft gibt. Ich muß bemerken, daß auch der
große lateinische Thesaurus, von dem ich soeben sprach, dieser an-
gedeuteten Gefahr nicht ganz entgangen zu sein scheint. So vermisse
ich in ihm (und auch bei Vollmer in der „Epitome") das Adjektiv ahic-
tinus. Der Codex Salmasianus der Anthologia latina überliefert uns nämlich
das Epigramm, Nr. 259:
Abietine calix, inensi« decor ante ^) paternis,
Ante manus medici quam bene sanus eras.
Hier ist ein calix ahietinus, ein Becher aus Tannenholz, erAvähnt. Gil)t
das Anstoß? Man druckt statt dessen Arretine^) AVarmn? Hölzerne
Becher in Bauern wirtschaften sind doch bekannt; pocula fagina, aus
Buchenholz, besitzt der Menalcas bei Vergil Ecl. 3, 36; dieselben kennt
TibuU 1, 10, 8; auch Plinius bist. nat. 16, 185. Mehr über Holzgefäße
geben die Anmerkungen zu Theokrit 1, 27 (xioovßiov); dazu Kratinos fr. 74.
Das Adjektiv abietinus aber ist von dbies wie arietinus von aries voll-
ständig korrekt gebildet; auch qiierelmifi von quercus ist zu vergleichen.
Und die Messung im Verse? Die Buchstabengruppe ahi- bildet hier zu-
nächst eine Länge in Hebung ganz so wie bei Properz 3, 19, 12: Indnif
ahiegnae coniua falsa bovis; das e in abietinus aber steht hier gleichfalls
als Länge; denn wir haben es mit einem Verseschmied der späteren
Kaiserzeit, nicht vor dem 3. Jahrhundert, zu tun, und es entsprechen
diesem gelängten Vokal solche Messungen wie ariete Anth. lat. 247, 17:
Non ariete gravi eqs. durchaus. Somit ist es geboten, ahietimis in den
Wortschatz des Latein mit aufzunehmen.
Nun aber ist es mit solchen Thesauren, die die Sprache erschöpfend
registrieren, trotzdem noch nicht getan. Denn sie können unserer dritten
Forderung kaum, unserer vierten nie genügen, und Avas wir fordern und
brauchen, sind vielmehr und vor allem erschöpfende Speziallexika zu
sämtlichen Autoren. Erst Avenn die nebeneinander stehen, läßt sich
richtig arbeiten.
Bevor wir indes die gestellten Forderungen näher erörtern, gilt es
zu erinnern, daß der Begriff „Wort" selbst mitunter ein schwankender
ist, sodann aber auf diejenigen Wörter hinzuweisen, die wir Homonyme
und Synonyme nennen. Die Homonyme sind es, die den Exegeten oft
das Verständnis erscliAveren.
1. Das Wort.
Die Wortbedeutung wird durch die Vergleichung vieler Stellen
festgestellt; so machte es schon Aristarch. Ist dies nicht möghch und
handelt es sich um ganz selten vorkommende Wörter, archaische Wortver-
bindungen oder äna^ elgrjjueva, so müssen zufällige Umstände heKen, den
Wortsinn zu ermitteln. 3) Was ist homerisches äyoorcp in der Verbindung
') So Scaliger ; decorate die Hs. j Mantua dazu kommen, Becher aus Arezzo
2) Arretine wäre auch der Sache nach \ zu besitzen?
unglaublich; denn es handelt sich um ' ^) Ueber seltene Ausdrücke des Bau-
Vergils Yater. Wie soll der Bauer bei wesens s. Ernst Fabricius, Commenta-
IL Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung.
45
eAf yalav äyooTcp'l Was ist yvxrog ä/uoXycol jiiegoTieg är^gamoil Was ist
das salaputium bei Catull? Wir können nur raten, dies und das ver-
muten, aber keine sichere Übersetzimg geben.
Was verstehen wir aber unter Wort? Zum A\'oii: gehört als inte- •^«^«''sots
grierender Bestandteil allemal auch die veränderliche Flexionsendung;
nicht so unbedingt galt dasselbe von den Praefixen und den ersten
Bestandteilen einer Wortkomposition. Wenn Aeschylus schreibt, Prome-
theus 665: oacpmg imoxijJiTovoa y.ai jnvi%i\iierr]^ so scheint das im- be-
weghch; denn es ist auch zu jiiv&ovjU€V7] zu ergänzen, also emjuvd^ov/uevr]
zu verstehen. 1) Ganz ebenso steht es mit x^ristoph. Acharn. 78: xara-
fpayelv xe xai mely, ähnlich Em'ip. Heracl. 1056: äjiohi jiohv, äno de Tiarega
(statt äjioXel de). So löst der Altlateiner noch vos ohsecro in oh vos sacro
auf, und in der Verfallszeit verbreitet sich die Rekomposition, die aus coii-
cludo wieder ein condaudo macht. Bei Herodot 7, 25 ff. ist es fragHch, ob
wir Xevxov Urov oder XevxoXivov (so dreimal im Genetiv) lesen sollen. 2)
Nea Ttohg Avaren zwei Wörter, die erst in Neajto?dTr]g definitiv verwuchsen.
fCbenso stand es mit cotti die, einem doppelten Lokativ, der danach
ein cottidianus zuließ. Aus cor dolet wurde ein cordoUum, worin cor also
Nominativ ist. 3) So verwuchs si vis zu sis, Quinti puer zu Quintipor,
und dies Quintipor ging dann sogar weiter in die sogenannte dritte Dekli-
nation über. Die izagd^eoig geht also in die ovv^eoig über, wie es das
Etymologicum Magnum uns sagt, p. 649, 14: jzakjujiXayx^evrag ist die Syn-
thesis, jzdXiv Jilayx&svrag die jiagd&eoig, und der Gelehrte schAvankt auch
in diesem Fall, Avie er schreiben soll. Verbreitet war (auch noch im
Mittelalter) die Neigiing, die Praepositionen mit dem folgenden Nomen
eng zu A'erbinden, und man schrieb dequa AA'ie denuo (aus de novo) in
• 'inem Wort; daher cicmnobis AAde nobiscum und AA^eiter assimiliert cunnobis;
so assimiliert auch cod. P im Plautus impetaso Amph. 143, siippetaso ib.
145; annos für ad nos ib. 256 u. s. f. Es ist zunächst fraglich, Avie in
solchen Fällen der Autor selbst schiieb ; AA^er sich aber solcher griechischer
Original Schreibungen Avie ey^egol statt er /e^ö/, Tr]/i juev statt ri^v tiiev, Jiegi
TÖjLi ßojjuöv, TÖvde toju jiaiöjva u. ä. erinnert,*) Avird nicht mehr zAv^eifeln,
daß derartiges auch auf die Idiographa der Autoren zurückgehen kann.
So ist auch zu erAvägen, ob nicht, Avie dmn taxat, auch sei licet, vide licet
und i licet als je zwei Wörter sich hielten; denn sei, vide und i sind hier
sicher Imperative. 0) Daß iusiurandum für manche Römer noch als zwei
Wörter galt, zeigt jedenfalls Horaz sat. 11 3, 179
praeterea ne nos titillet gloria iure
iurando obstringam.^)
Das sind also die Fälle, avo die Wortgrenzen für den Sprechenden imd
auch für den Schreibenden sich leicht verloren.
tiones epigraphicae de architectura graeca,
Berlin 1881.
^) R. Rehme, De Graecorum oratione
obliqua, Marburg 1906, S. 28.
2) W. Schulze, Kuhns Zeitschr. 1909
S. 188.
3) Mehr der Art Potroavsky in Idg.
Forsch. 25 S. 101 f.
'•) Siehe z. B. W. Schulze, Quaestiones
epicae S. 222; Blass, Aussprache des
Grriechischen^ S. 123; Wilamoavitz, Nord-
ionische Steine, 1909, S. 41 und sonst überall
Ähnliches.
^) Siehe Catalepton S. 82 f.
«) Dies sei gegen W. Christ, Metrik^
S. 104 bemerkt.
46
Kritik und Hermeneutik.
2. Lehnwörter.
Lehnwörter sind in vielen Fällen als solche leicht zu erkennen.
Wert für Es sci liier nur kurz daran erinnert, daß sie für die Kulturbeeinflussung
ges^hte "^on Volk zu Volk ein wichtiges und unzweideutiges Merkmal und Er-
kennungszeichen sind. An ihnen erkennt man den Einfluß der Griechen,
der Punier, der Etrusker, der Samniten, endlich auch der Gallier auf
Rom ; 1) man erkennt an ihnen ebenso den Einfluß der Phönizier
und Perser, später den der Römer auf die Griechen. 2) Wie stark, der
griechische Orient im 2. — 6. Jahrh. n. Chr. vom Latein beeinflußt, ja,
unterjocht wurde, kann man aus L. Halms treffhchen Arbeiten ersehen. 3)
Was wir heute über die Geschichte der Haustiere und Kulturpflanzen im
Altertum lesen, beruht zu einem guten Teil auf der Beobachtung der
Lehnw^örter. Als Beispiel vergleiche man die Gescliichte der Katze, wie
sie neuerdings 0. Keller gegeben hat.*) Hier begnüge ich mich, das
Wort sapo, „Seife", herauszugreifen. Denn daß das Vorkommen der Seife ein
wichtiges Symptom der Volkskultur, wird niemand bestreiten, sajjo steht
zuerst mn das Jahr 70 n. Chr. bei Plinius als gallisches Haarfärbemittel;
auch das Wort selbst war gallisch. Martial zeigt dann, daß auch die
Römer den sapo als solches Färbemittel alsbald in Gebrauch nahmen; im
2. Jahrhundert ist 6 odjicov dann auch schon ein griechisches Wort ge-
woi'den (z. B. bei Aretaeus) und es dient jetzt als Waschmittel, jigog ro
lafjLTiQvvai ro jtqoocojiov. So ist denn auch der Neugrieche stolz, daß er
das Wort oajiovvi besitzt. &)
Purismus Das Vermeiden der Lehn- oder FremdAvörter nun aber ist eine
Tugend; wir nennen sie Purismus; dieser Purismus ergab sich bei
dem Reichtum des nationalen Wortschatzes für den griechischen Schrift-
steller fast von selbst; in der römischen Litteratur wurde er ein wich-
tiges Motiv zur alhnählichen Veredelung der Sprache, und als römische
Klassiker gelten im Grunde nur solche Autoren, die ilm. pflegen, also
noch nicht Plautus und Lukrez, w^ohl aber Cicero und Vergil und ihres-
gleichen. Daß diese Sprachreinheit des ser7no purus als Ideal galt, sagt
uns Cicero ausdrücklich; Cicero half vor allem es durchzusetzen; er ent-
schuldigt sich, w^o immer er ein griecliisches Wort einführt; ja, dies
Prinzip bestand schon in Ciceros Jugendzeit und schon bei dem Autor
ad Herennium. Aber auch für die Dichter galt es. Auch Vergil erwähnt
im Catalepton c. 7, 3 die praecepta, die ihm ein Wort wie pothos (jzodog)
anzuwenden verbieten.
Wie aber schrieb der Römer seine Lehnwörter? mit griechischen oder
mit lateinischen Lettern? Wie schrieb er, w^enn er griecliisch zitierte
1) Siehe z. B, Weise im Ehein. Mus.
38 S. 540 ff.
2) Vgl. A. Müller in Bezzenbergers
Beitr. I S. 273 ff.; E. Eies, Quae res a
gentibus semiticis eqs., Breslau 1890.
Aegyptisches s. Kuhns Ztschr. 41 S. 127 ff.
Uebrigens O. Schrader, Sprachverglei-
chung und Urgeschichte 3 S. 76 ff.
3) Ludwig Hahn, Eom und Eomanis-
mus im griechischen Osten, Leipz. 1906.
Dazu: Sprachenkampf im römischen Eeich,
Philologus 1907 S. 677 ff.
^) Arch. Jahrbuch 1908 S. 40 ff. Vgl.
übrigens desselben Geschichte der antiken
Tierwelt Bd. I, Leipz. 1909.
^) Vgl. M. Triandaphyllidis , Die
Lehnwörter der mittelgriechischen Vulgär-
litteratur, Straßburg 1909, S. 172.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 47
oder griecliische Redefloskeln dazwischen warf? Für den Texteditor ist Griechi-
dies eine wichtige Frage, aber mit der größten Sorglosigkeit geht man latsThSt
ihr aus dem Wege und druckt im Cicero oder Seneca alles Griechische
schlankweg in griechischer Schrift. Sieht man dann in den Hss. nach,
so findet man vielfach, wennschon keineswegs bei allen Autoren, daß die
Wörter dort vielmehr lateinisch transkribiert überliefert stehen, und das
letztere ist sicher oft das Echte und Originale geAvesen. Jeder Editor hat
in dieser Beziehung zunächst die Gewohnheit seines Autors festzustellen.
Schon solches Glossar wie das S. 42 erwähnte zeigt, was Gewohnheit war.
Daher auch in den Buchtiteln Clerumenoe, nicht Kkrjgovjuevoi, Catalepfoii,
nicht yMTa Xetitov. Ganz ebenso also auch im Text selbst bei Yergil Catal.
IIb 4 min und spin, nicht fjuv und ocplv^ ib. VII 2 pothos, nicht 7i6§og, Seneca
epist. 45, 10 pseudomenon,^) Cicero de nat. deor. 1, 18 pronoeam, 28 Stephanen,
30 asomaton, Corn. Nepos Milt. 6 poecüe u. ä. m., wo zu ändern jeder Anlaß
fehlt. Anders steht es, wenn ganze griechische Sätze eingelegt werden,
anders hielt es auch Ausonius in seinen makarronischen Poesien. 2) Man
prüfe daraufliin auch den Frontotext, der in besonders alten Pergamenten
überliefert ist und uns viel eingelegte griechische Sätze in griecliischer
Schrift bringt. Einzel werte aber wie de mea prothymia p. 26 (Naber)
werden lateinisch geschrieben; p. 30 pausan facio; p. 28 durcheinander:
0 argutiae, 0 Jcharite.'<, 0 äoxrjoig. Ja, so wie Ausonius lateinische Worte
griechisch flektiert und vinoio bonoio schreibt (Epist. 12, 13), so bildete-
Fronto, wie ich überzeugt bin, von Plautus ein Plautinotatos\ s.p. 156,1,
wo überliefert ist: eloqnentiam . . . [siibvertendam censeo radicitus, immo
vero Plaut'mo trato verbo, exradicitus (vgl. Plautus Most. 1112); Fronto
schrieb in lateinischer Schrift: immo vero Plautinotato verbo exradicitus.^)
3. Ober Homonyme und Synonyme.
Synonyma nennen wir zAvei Wörter, die dieselbe Vorstellung aus- Synonymik
drücken, wie fores und porta, jivkai und dvQai, ßiovv und t^r. Indes wird eine
feinere Interpretation zumeist dahin gelangen, die ursprüngliche Bedeutungs-
verschiedenheit solcher Wörter aufzudecken, und schon die Griechen be-
gannen damit. Im Interesse der Philosophie und der Logik ging schon der
Sophist Prodikos diesen Unterscliieden nach ; Sokrates lernte dies von ihm ;
ein erstes Beispiel steht vielleicht in Aristophanes' Fröschen 1153 ff., wo dem
Aeschylus das fjy.o) xal xatsQ/ajuai wegen des ölg ravrdv emeiv zum VorAVurf
gemacht, dann aber der Vorwurf widerlegt wird: denn yjxoj bedeute im all-
emeinen heimkehren, xaTeQxofiai „ich komme aus der Verbannung zurück".'^)
Freilich wird schon dem Sophokles die feine Unterscheidung eym TTaXaiorarog
*) V^l. Henses i^inm,
2) Vgl. zur Sache W. Niesciimidt,
Quatenus in scriptura Romani litteris
graecis usi sint, Marburg 1918.
') Ueber lateinische Wörter mit grie-
chischen Suffixen s. Weise, Philol. 47 S. 45.
Joh. A'ahJen sicherte einst bei Varro im
Gerontodidascalos frg. 197 B. das hybride
Partizip empaedatuH (zu s/ijiaiozog), indem (6 Teile).
er auf das von ev&sog abgeleitete entheatus
bei Martial 12, 57, li verwies; s. Vahlen,
Ges. philol. Schriften Bd. I (1911) S. 528.
■*) Vgl. F. G.Wiehe, De vestigiis syno-
nymicae artis apud Graecos, Hauniae 1856:
J. H. H. Schmidt, Synonj-mik der griech.
Sprache, 1876 ff., 4 Bde.; L. Döderlein,
Lat. Synonyme und Etymologien, 1826 ff.
48 Kritik und Hermeneutik,
sijjLi, ov de jiQeoßvxarog zugeschrieben; \) doch weiß man nie, Avie zuverlässig
derartig kolportierte Aussprüche sind. Weiter ist fores {ßvQai) die zwei-
flügelige Haustür, ]f)orta das Durchgangstor, Stadttor (zu portus, jiögog),
ebenso mdai das große Tor, Stadttor (zu jioXog „Angel"? so G. Curtius).
Verbindet Homer ßrj ihm, ßrj l'juev und ßdox' Wi, so wird dies nur ver-
ständlich, Avenn in der Grundbedeutung sich ßaiveiv und levai ergänzten.
äoTv ist örtlich die Stadt oder die befestigte Burg, dagegen nohq (zu
TiolXoi) „die Gesellschaft vieler". So braucht auch das Vulgärlatein civitas
für „Stadt" {ciU frz.), und Nonius bemerkt darum p. 429, 5 M. : inter urbem
et civitatem hoc inter est: urhs est aedificia, civitas incolae. In allen diesen
Fällen ist also auf die Etymologie zurückzugehen ; das stv^uov ist die Wort-
vvurzel und zugleich die Bedeutungswurzel, Avir sagen besser der Wort-
keim und Bedeutungskeim, der den ursprünglich „wahren" Wortsinn
enthält. Dem nachzugelien helfen uns heute unsere etymologischen
Wörterbücher, die die Sprachvergleichung zur Hilfe rufen. 2) Oft aber ge-
hören die Synonyma verschiedenen Sprachscliichten oder Dialekten an, Avie
viog, Ivig, xeXmQ „der Sohn", äöeXcpog, xaoiyvrjrog „der Bruder" neben (pgarrjg
„Geschlechtsgenosse". So steht im luRtein popina „die Küche" neben culma,
u. ä. m. ; denn es ist glaublich, daß popina dialektisches LehnAvort war.
Homonyme. Größere Interpretationsschwierigkeiten bringt, AAde gesagt, die Homo-
nymität. Homonyma sind Wörter oder Silbenkomplexe, die in zAA'ei
oder mehreren Bedeutungen auftreten. Wenn AA'ir //elog lesen, so kann
nur der Zusammenhang verraten, ob Glied oder ob Lied gemeint ist; ob
Avir ovxovv oder ovxovv zu akzentuieren haben, entscheidet der Sinn; der
Nominativ frons ist „Laub" und „Stirn"; hellum kann auch „das Hübsche"
bedeuten {omnia hella Catull 3, 14); fiicas Biene und rote Farbe; desero
„ich verlasse" oder „ich säe ins Land" (Varro r. rust. 1, 23, 6). Ein
Examinator kann in dieser Hinsicht manchmal Erstaunliches erleben.
miindus victus kann „die besiegte Welt" bedeuten, aber auch „die saubere
Lebensführung". AVerden nun bei Horaz Epist. I 4, 10 f. die Lebensgüter
aufgezählt :
atia fama valetudo contingat abunde
et mundus victus, non deficiente cnimina,
SO Avill es das Unglück, daß man die Übersetzung: „und die besiegte
Welt" za hören bekommt, tu canis schreibt Properz II 34, 77 und ver-
steht darunter „du singst". Der Prüfling aber übersetzt fröhlich „du
Hund". GcAAdß, das kann es auch heißen. Ein schneller Überblick über
den Zusammenhang muß vor solchem Irrtum retten.
Wortwitz Homonymität ist also Doppelsinnigkeit, und sie ist die Quelle des
AVortwitzes oder Kalauers, und ist dies ausgiebig auch schon im Alter-
timfi gcAvesen. Denn mit jedem AVortwitz Avird dem Hörer eine Exegese
auferlegt, deren doppelsinniges Ergebnis ihn überrascht und zum Lachen
reizt. Hier hat also eine Geschichte des Witzes einzusetzen. 3) Behebt
^) Plutarch Nikias 15. ; Lat. etym. Wörterbuch, Heidelberg 1906,
2) Vgl. z. B. G. Curtius, Grundzüge j 2. Aufl. 1909.
der griech. Etymologie, 5. Aufl., Leipzig j ^) Vgl. z. B. Döderlein, Oeffentliche
1879; Prellavitz, Etym. Wörterbuch der | Eeden S. 292 ff.; Holzixger, De verborum
griech. Sprache, Gröttingen 1905 ; A.Walde, I
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 49
waren Kontroversien wie folgende es soll eine avkrjxQig verkauft werden;
ist nun damit eine Flötenspielerin gemeint? oder dreimal ein Platz oder
Gutshof (aMr) rgig)"? Es kommt zum Prozeß, weil ein Toter in seinem
Testament verfügt hat corpus suum poni in culto loco; denn die Erben
behaupten, es sei mcidto loco zu verstehen, was für sie ja freilich viel
billiger und bequemer ist. Oder im Testament steht, es soll erhalten rä
äya&d TTm^ra Äecov, aber Avieder behauptet jemand, das sei falsch inter-
pretiert; es sei vielmehr rd äya&ä IlavTaXecov zu lesen. Wer soll nun
entscheiden, ob Leon oder Pantaleon der Erbe ist? Derartige Fälle ver-
deutlichen uns beiläufig das Schriftwesen jener Zeiten und die mangelnde
AVorttrennung selbst in den Urkunden. Diogenes von Sinope sieht auf
einem Bild zwei schlecht gemalte Centauren und fragt: welcher ist nun
der yeiQCDv'^. wobei ^yit Xiqcov verstehen sollen, beiläufig ein Beweis, daß
man schon damals nicht ;^£/^a)v, sondern xiqwv sprach. Der Cynismus
liebte solche Witze. Man fragt den Antisthenes, was zum Unterricht
nötig sei, und er antwortet: ßißXagiov xaivov xal ygacpeiov xaivov xal Jiiva-
xidiov xaivov, wo wir statt xaivov jedesmal xal vov verstehen sollen. „Yer-
stand" ist also beim Unterricht dreimal nulig.') Die Einwohner von Lao-
dicea schlenmien gern; daher scherzt PHijIus: die Laudiceni sind qui
lauclant cenam ep. 2, 14, 5. In der Ilias steht Z 143: äooov W a>g xev
&äooov oH&Qov 7i€iQa&' Txrjai, und das wird bei Strabo p. 614 witzig auf
die Stadt ''Aooog bezogen: ^Aooov Wi. Oviol versclimäht nicht, eine Dame
Füria mit einer fiiria gleichzusetzen, tesles sind die Hoden, aber auch
die Zeugen, und beliebt war daher in Rom der Witz vom sine testibus
amare; vgl. Martial 1, 33, 4. Jemand hat einen Sprachfeliler und lautiert
immer P statt T; daher die Zote in den Priapeen c. 7: nam te pe dico
semper, wo wir te pedico verstehen sollen. Feiner das Spiel mit ius „das
Recht" und ius „die Sauce". Der .ehemalige Koch, der jetzt höchster
Justizbeamter geworden ist, heißt bei Claudian Eutrop. II 347 prudens
inovendi iuris; er besitzt also die iuris prudentia, aber im Umrühren der
Sauce; ganz ebenso heißt bei Martial 7, 51, 5 ein Jurist iure madens; aber
schon Varro de r. rust. 3, 17 bezeugt die Wendung pisces in ius vocantur;
und nicht] anders sind die iura siluri bei Lucilius 54 Mx. zu deuten. 2)
Lehrreicher sind die Silbenspiele, die uns Cicero De oratore II 249 aus
dem Munde des jüngeren Scipio tiberliefert. Von einem Naevius sagte
Scipio: quid hoc Naevio ignavius? Dies ergibt einen zwingenden Schluß
auf die voll diphthongische; Aussprache des ae\ denn der Anldang an
ignavius kommt nur zum Vorschein, wenn man nicht „Nävius", sondern
mit zweigipfeHgem ae „Naevius" spricht. Zu einem anderen, der durch
Bocksgestank, hircus, ihm lästig war, sagte Scipio: video me a te circum
veniri. Auch diese Stelle ist für die Lautlehre von Belang; denn, wie
lusu apud Aristophanem, Wien 1876; j 235— 289 ; Quintilian VII 9, 2 ff. und VIII
WÖLFFLiN in Sitz.ber. bayer. Akad. 1881
8.24; E.Arndt, De ridiculi doctrina, 1905;
P. FaulmCller, Die rednerische Venven-
dung des Witzes und der Satire bei
Cicero, Erlangen 1906. Zusammenstel-
lungen im Altertum bei Cicero De or. II
Handbucli der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl
2, 13; Macrob. Sat. Buch II.
^) Vgl. übrigens C. Wachsmuth, Cor-
pusculum poesis epicae ludibundae II
S. 71 f.
*) Zwei politische Satiren des alten
Rom S. 75 u. 126.
50 Kritik und Hermeneutik.
die Erkläfer längst erkannt haben, sollte hier das circum an hircum an-
klingen; also war für Scipio und Cicero das h in hircum ein stark ver-
nehmbarer Guttural. 1) Auch ein so verständiges Buch wie Niedermanns
Historische Lautlehre des Lateinischen referiert hierüber ganz falsch und
spricht davon, daß anlautendes h im Latein sehr schwach gewesen; ich
habe dagegen nachgewiesen, daß Catull im carm. 84 nicht nur das unechte
h in hinsidiae, sondern auch das regelrechte lateinische h im Anlaut horri-
hile nennt, und Scjireibungen beigebracht wie Plaut. Amph. 429 implevit
cyrneam (= hirnemn); so dort Nonius; dann aber auch Plaut. Merc. 272:
ego illum circum castrari volo mit Allitteration, wo also circum statt hircutn,
ganz so wie das circum im Diktum des Scipio; nicht der Ambrosianus,
sondern der cod. Yetus gibt liier das Richtige. Umgekehrt steht hareo
statt careo Most. 500; Lucil. 1155 Mx. hrysizon f. chrysizon; Lucil. 71
h(i)rodyfi f. chirodyti; Plaut. Trin. 963 cheus f. heus; Cure. 238 cliirae f.
hirae. Das war altes Volkslatein, und es taucht im Spätlatein Avieder
auf: im Glossar des Placidus steht unter h geordnet haus f. chaos, vechi-
cula bei Priscian u. ä. m.^)
Doch ich breche ab ; denn wenn es mir bisher nicht gelang, die Acht-
samkeit unserer Grammatiker auf diese Dinge der Lautlehre zu lenken,
so wird es mir an dieser Stelle wohl noch weniger gelingen; und ich
habe über den lateinischen Spiritus den Witz vergessen. Ich handelte
von Witz und Silbenspiel.
Wir könnten fortfahren: Kaiser Claudius Avar in Gallien geboren,
also Oallus\ gallus ist aber auch der Hahn; daher wendet Seneca auf ihn
höhnend das Sprichwort an: gallum in suo sterquiUno plurimum posse
(Apotheos. 7). Doch sei vielmehr noch auf solche Fälle hingewiesen, wo
nicht eigentlich die Lachlust geweckt werden soll, sondern nur in dis-
Doppeisinn, Ureter Weise ein Nebensinn durchschimmert. Wie oft empfinden wir da,
"^^ ^ " ^® wo der Name Roma steht, daß dem Autor dabei die Vorstellung der Kraft,
QWjurjy gegenw^ärtig war! Denn dies ist die Etymologie des Namens, an
die das Altertum glaubte. 3) Wenn die Frösche bei Aristophanes singen
(Vers 245), daß sie an sonnigen Tagen dui'ch das Riedgras springen:
fxäXkov jusv ovv
(p&ey^6fieai&\ si dr) Jior' ev-
rjXloig EV a/Liegaioiv
rjldixeo^a dia xvjieiQOfv
xal q)Xsco x^^^QO^tsg MÖfjg
Jlo)MXolv^ßoiOl /LI also IT,
SO versteht man dies nicht, wenn man den Doppelsinn von jusXeoiv nicht
wahrnimmt; denn es sind damit zwar Melodien des Liedes gemeint; da
diese jueXr] jedoch „viel tauchend" {nblvxoXv juißa) heißen, so sind zugleich
darunter die Glieder des Tiers verstanden. Ganz so bedeuten auch xcbXa
die körperhchen „Glieder" und zugleich die Satzgheder, die Melodieteile.
Wenn also Properz in bezug auf einen Nachahmer des Aeschylus schreibt
2, 34, 42:
1) Siehe Der Hiat bei Plautus S.40ff. j gesammelt in dem Programm: De Eomae
2) Siehe a. a. 0. I urbis nomine.
3) Ich habe hierfür zahlreiche Belege |
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 51
Desine et Aeschyleo componere verba cothurno,
Desine et ad molles membra resolve choros,
so gellt componete verba auf die gewaltigen Wortkomposita, die Aeschylus
bildete, memhra aber bedeutet gleichzeitig die „Glieder" des Tanzenden
und die Melodieteile, xcbXa, des Cliorgesanges. Die Parcae klingen an parcus
„sparsam" an. Bei Seneca aber spinnen die Parzen Apotheos. cap. 4 den
Lebensfaden Neros, und Apoll redet ihnen zu, daß sie den Faden mög-
lichst lang spinnen, mit den "Worten ne demite Parcae. Auch hier schimmert
der Doppelsinn durch: „nehmt von der Wolle nichts weg, als wäret ihr
geizig" (parcae): ne parcae sitis nee demite.
Daß die Amphibolie gern ins Obszöne geht, ersahen wir schon aus
den Priapeen. So waren die amphiboliae vor allem auch eine SpeziaUtät
der Atellane, wie Quintilian uns sagt., VI 3, 47. Die erstaunlichste
Leistung ist in dieser Hinsicht vielleicht der Cento nuptialis des
Ausonius. AndersAVO verrät sich der niederträchtige Doppelsinn erst
allmählich wie bei Claudian in Eutrop. I 358 ff. und in Vergils Cata-
lepton 13 Vers 24 — 26. Auch die Griechen standen hierin nicht zurück;
ich erinnere an die oavga bei Straten Anthol. Pal. XII 3,5 und Y 241, 1;
an Diogenes von Sinope, der das homerische ev dögv jifjie (O 95)
obszön verwendete (Diog. Laert. 6, 53) oder an das Spottgedicht auf den
Grammatiker Menander Anthol. Pal. XI 139. Einer der unanständipfsten
Dichter war Laevius, der lyricus poeta, von dem ich das frg. 4 (Bährens)
liierher setze:
[te] Andromacha per ludum manu
lascivola ac tenellula
capiti meo trepidans libens
insolita plexit munera.
E. Bährens hat dies anscheinend nicht verstanden; das zeigen seine so-
genannten Korrekturen. Das te tilgt« Bücheier. Wer hier spricht, ist,
kurz gesagt, der penis des Hektor. Nicht umsonst führt Ausonius grade
den Laevius als Entlastungszeugen für seinen Cento nuptialis an.
Hiervon genug. Doch seien noch einige Fälle angefülirt, wo der
Interpret zaudert, wie er übersetzen soll. Bei Horaz Od. 2, 18, 14 steht
das satis beatus unicis Sabinis. Hier wollte Mad^^ag satis mit „Saaten"
übersetzen. Jeder wird dies ablehnen; aber äußerlich betrachtet ist die
Möglichkeit zuzugestehen. Hör. Od. 1, 7, 17 f. heißt es: sie tu sapiens
finire memento tristitiam vitaeque lahores moUi, Plance, mero. Ist hier
moUi Ablativ? oder Imperativ zu mollirel Letzteres scheint besser;
denn man kann wohl schwerlich die Mühen mit Wein beendigen {finire),
aber man kann sie durch ihn lindern. Bei Cicero ad Att. 15, 3, 1 lesen
wir: praesertim cum Marcelliim scribas aliosque discedere. Was ist hier
scribasl Maßgebende Gelehrte verstehen es als „die Schreiber". i) Aber
dann fehlt ein verbum finitum, und in Wirklichkeit kann es nur kon-
junktivisch heißen: „du schreibst". 2)
') MoMMSEN," Staatsrecht HI S. 1016;
KuBiTSCHEK bei Pauly-Wissowa, RE. I
S. 288.
») So Arthur Stein, Die Protokolle
des röm. Senats, Prag 1904, S. 21.
52 Kritik und Hermeneutik. ,
Bei Horaz, Ars poet. 139, steht der bekannte Satz : Parturiunt montes,
nascetur ridiculus mus. Ist liier montes Alikusativ? So verstand aller-
dings schon Hieron jmus adv. Rufinum HI 3 die Stelle. Daß Horaz selbst
jedoch den Nominativ meinte, zeigt das griecliische Vorbild cödivev ooog,
eha juvv äjiEiexev. Eine viel erörterte Schwierigkeit bietet uns endlich
Minucins Fehx 14, 1, wo es vom Christen Octavius heißt: Etquid ad liaeCy
ait, audet Octavius, homo Plautinae prosapiae, ut pistorum praecipuus, ita
postremus phüosopkorum? Octavius ist also zwar postremus philosopJioniyn,
aber pistorum praecipuus. Was heißt hier pistorum"^ Da ihm an dieser
Stelle zugleich eine plautinische Natur (prosapia) zugeschrieben wird, so
sollen wir augenscheinlich daran denken, daß Plautus Müller, pistor, Avar.
Aber das genügt nicht zum Verständnis der Antithese pistorum und philo-
sophorum, die vielmehr statt des ersteren Wortes ein Christianorum er-
warten läßt. Also haben diejenigen recht, die ansetzten, daß liier eine
absichthche Amphibolie vorliegt und zugleich auch an Jiioroi, die Gläu-
bigen, gedacht ist.i) Es ist also eine Kühnheit in der Identifizierung
griechischer und lateinischer Vokabeln anzuerkennen, die wir auf ganz
anderem Litteraturgebiet, z. B. auch in den Priapeen c. 68, antreffen.
Absichtlicher Doppelsinn: dieser kann sich aber auch auf dem Gebiet
der Syntax bewegen, und dies erinnert uns schließlich auch noch an die
Orakel des Altertums. Bei diesen Orakeln war Doppelsinn Pflicht, und
die Kunst der Exegese hat sich grade an ihnen von früli an geübt.
Schon Herodot bringt uns die Belege. Das platteste Beispiel aber steht
wohl [in Ennius' Annalen Vers 186 V., wo dem Aeaciden Pjrrhus, der
gegen E-om kämpfen will, ge weissagt wird:
aio te, Aeacida, Romanos vincere posse.
Es kommt hier eben darauf an, was das Subjekt im Accusativus cum
infinitivo sein soll; macht man Romanos zum Subjekt, so wird Pyrrhus
besiegt; ist te Subjekt, so siegt er. Ein grammatischer Witz! eine Spiegel-
fechterei! Der Orakelspender ist auf aUe FäUe gedeckt.
Parono- ^^^ Auscliluß au dic Homonymik sei auch noch ein Wort über das
Silbenspiel der Paronomasie gesagt. Gewisse Autoren suchten solche
Assonanzen, und es ist also PfHcht des Auslegers, der die Intentionen
seines Schriftstellers verstehen wiU, auch hierauf acht zu geben. Eine
maßgebende Stelle hierfür ist Piatos Symposion p. 185 C, avo nach der
Hede, die dort Pausanias gehalten, die Worte stehen Uavoaviov de nav-
öajuevov mit augenfälligstem Anklang und mit dem Zusatz : diödoxovoi ydg
jue i'oa Xeyeiv omcool oi oo(poL Gewisse Autoren befürworteten also das
loa XeysiVy und so spielt denn auch Plato öfter in dieser Weise, Avie im
Phaedrus p. 230 A mit dem Namen Tvcpmv und dem Verb smTvqpeo^m.
Sophokles findet im Namen des „Aias" den Anklang an die Wehklage
alälj und in der Antigene Vers 794 sagt der Chor, als die Streitszene
zAvischen Kreon und Haimon eben zu Ende gegangen, zum Liebesgott:
ov xal rode veipcog ävÖQcbv ivvaijuov s'xeig ragdiag, wo uns ivvaijuov an den
Namen Äijucov selbst erinnern soll.
1) Diese SteUe scheint mir von A. 1 Bonn 1909, nicht glücklich beurteilt.
Elter, Prolegomeha zu Minucius Felix, |
masie
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 53
In diesen Zusammenhang gehört auch der Titel ^AnoMwoig der
Seneca, der tiber einer Satire steht, in der das Gegenteil der Apotheose
stattfindet.!) Kaiser Claudius ist von Agrippina als Gott konsekriert
worden. Juvenal erinnert 6, 622 an die gleichen Vorgänge, und der
Scholiast merkt dazu an: apotheosin deridet. Daher also der Titel. Aber der
Inhalt der Apotheose geht in Wirklichkeit dahin, daß Claudius aus dem
Himmel gestoßen wird; binnen drei Tagen soll er den Olymp verlassen
(cap. 11); aber auch auf Erden duldet ihn keiner; die Menschen woUen ihn
/ahovreg evqprjfiovvteg ixjiejujieiv döjucov (cap. 4) und alle sind laeti hilares, als
er aus Rom auf den BegTäbnisplatz hinausgetragen wird (cap. 12); und das
geht noch -weiter : in der Unterwelt soll Claudius erst Sklave des CaligTÜa sein ;
aber Cahgula will ihn nicht und gibt ihn an Aeacus weiter, der ihn auch
wieder von ;sich stößt. Er ist also überall der Nichtbegehrte, 6 jui] jzo^ov-
jLterog, 6 dji6&7]Tog, kein äjio&eovjLieyog, und in der ironischen Aufschrift
äjio&Ecootg klingt ominös das Wort no^eiv mit Alpha privativum an. Natür-
lich hat Seneca das Wort nicht etymologisch von jio&ko abgeleitet, aber
er hörte den Anklang, so wie wir ihn hören. Ganz dasselbe Alpha pri-
vativum fand man, und zwar im Ernst, in dem Namen Apolls; denn wir
lesen, daß ^AtioXXcdv nach Auffassung der Mysterienlehre (^uvoTixeög) „den
einen Gott'' bedeute: 6 elg eori &e6g, weil er „nach der Negation der vielen"
benannt sei: xard oxeQrjoiv rcbv noXXcbv voovjuevog (so Clemens Alexandr.
Strom. 1, 164, 3). Also d-jioXXd)v. Und wenn der alte Gorgias, der Liebhaber
der Paronomasien, in seinem Epitaphios fr. 5 (Sauppe) von den Gestorbenen
sagte: ror/agovv avxiöv djto^avövrcov 6 jto&og ov ovvajie&avev, so hörte
auch er in djio&avovrcov einen Anklang an jto&og mit Alpha privativum.*)
Endlich erwäline ich dazu noch das Adjektiv djio&eorog (Callimach. frg. 302),
das man geradezu von jzoüeoj ableitete. 3)
4. Die Veränderung der Wortbedeutung.
Der Grundsatz ist selbstverständlich, daß man jedes Wort in der fililiesten Griechi-
Zeit seines Vorkommens zuerst aufsuchen muß. Dies erhob einst schon Ari-
starch zum Prinzip, indem er durchzuführen suchte, Homer nur aus Homer
zu erklären ; denn er sah, daß das spätere Griechisch die nämlichen AVörter
oftmals in veränderter, nuancierter Bedeutung brauchte. (pQaCeiy heißt bei
Homer noch nicht dicere, sondern indicare ; jud^aiga nicht Schwert, sondern
Messer; oc7)ua nur „die Leiche"; ygacpeiv nur „ritzen"; jidliv nicht „Avieder",
sondera „zuiiick"; rdxa nicht „vielleicht", sondern „bald"; xegdioTog „der
Schlauste "."*) vygdg heißt bei ihm nur „naß"; erst in den jungen home-
nschen Hymnen heißt es „schmachtend" (18, 33); dann nennt Plato im
Symposion den Eros vygdg xö eidog „geschmeidig" u. ä. m.&)
Bekannt ist, daß Homer den Artikel noch kaum kennt; 6 iind ^ haben
für ihn noch den Wert von Demonstrativen. Aber auch die Adverbien
auf -(og sind bei ihm noch recht selten und Avenig ausgebildet; sie sind etwas
sches
M De Senecae apocoloeyntosi et apo- meri interprete, Straßburg 1893, S. 79.
theosi, Marburg 1888/89 S. VIII. 1 *) Siehe LEmis, De Aristarchi studiis
2) Vgl. G. Thiele, Hermes 36 S. 231. Homericis.
3) Vgl. F. V. Jan, De Oallimacho Ho- &) Vgl. Böckh, Pindar I 2 S. 227 ff.
54 Kritik und Hermeneutik.
häufiger in der Odyssee als in der Ilias ; erst die Odyssee bringt einmal KaXoyg
(ß 63). In den ältesten Teilen Homers heißt äyogeveiv nur „auf dem Markt-
platz {äyoQu) sprechen", also „öffentlich reden" ; erst hernach verflacht sich
diese Bedeutung, i) fiegog „der Teil" ist dem Homer noch unbekannt, u. s.f.
Nichts aber ist sittengeschichtlich wertvoller als in der Sprache die
Entwicklung der etliischen Begriffe zu verfolgen, wie dies Leop. Schmidt,
Ethik der alten Griechen I S. 289 ff., freilich in etwas schwerfälliger Dar-
stellimg, getan. Es handelt sich um die Terminologie des Guten und
Schlechten. Abstrakte Wörter wie dixmoovvrj, ävÖQeia kennt Homer noch
nicht. Der Gottesfürchtige heißt ihm gelegentlich §eovdrjg, aber der evoeßrjg
ist ihm noch fremd, fremd auch der ßelriorog, der xoo/uog und juhgiog.
XQrjoTÖg steht erst in der Batrachomachie. dgerri ist bei Homer noch jed-
weder Vorzug, also bei Frauen die Schönheit, und erst in den jüngsten
Teilen der Odyssee erhält dget}] die eigentlich moralische Wertung. 2)
Lehrreiche Beispiele für den Wandel der Anschauungen gibt auch
die Geschichte der Wörter oo(piorijg und sI'qmv: oo(piGri]g ursprünglicli der
kundige Lehrer*, speziell Weisheitslehrer, hernach durch die Sokratiker
zum Prahler und Charlatan gestempelt, dann in der Kaiserzeit als Berufs-
bezeichnung des Rhetors rehabilitiert; eigcov eigentlich der hinterhaltige,
feige Selbstverkleinerer voll innerem Hochmut, hernach zum Träger
sokratisch-platonischer Ironie, in der wir die Blüte feinsten attischen
Geistes erblicken, umgewandelt und geadelt. 3)
Lateini- Aucli für den lateinischen Sprachgebrauch läßt sich Ähnliches dartun,
sches wennschon der Zeitabstand von Plautus zu Cicero, der nur etwas über
hundert Jahre beträgt, zu gering ist, als daß wir für ihn einen zahlreichen
Wandel der Wortbedeutungen erAvarten könnten ; bonus ist dvenus, eigent-
lich der Zuverlässige und Besitzende;*) optimus ist opitumus, eigentlich
also der Helfer (zu ops), luppiter optimus maximus eigentlich der größte
Helfer, im Vergleich nämlich zu den loves anderer Städte, carus heißt
„teuer" und seit Ciceros Zeit erst „lieb". In besonderer Weise entwickelt
sich der urhaniis, der zunächst den Großstädter, dann den Witzbold be-
deutet, s) sodann das Wort amicus^ das allmählich entwertet wm-de; denn
da der kaiserliche Hof seine Hofschranzen amici nannte, nannten auch
die sonstigen großen Herren ihre Klienten ebenso, ß) und die amicitia
verlor die Gegenseitigkeit, die zu ihrem Wesen gehört. Die augusteischen
Dichter nannten ihre Geliebte domina; das kam aber gleichfalls erst seit
der Knechtung Roms unter Octavian auf; seitdem der Bürger über sich
einen dominus erträgt, kann er auch seine Geliebte zu seiner Herrin oder
Königin, zur domina oder Donna erheben. CatuU aber kennt diesen
Sprachgebrauch noch nicht, vielmehr ist bei ihm der Liebhaber der do-
1) Vgl. Jon. Berger, De Iliadis et
Odysseae partibus recentioribus, Marburg
1908, S. 52 (eine Arbeit, deren Hauptergeb-
nisse man ablehnen mag, die aber viele nütz-
31 S. 387 f. ; von demselben : Alazon, ein
Beitrag zur antiken Ethologie, 1882 ; Kolax
1883; Agroikos 1885.
■*) Siehe Sprach man avrum S. 70 f.
liehe sprachliche Beobachtungen enthält), j ^) Siehe Lutsch, Creceliusbuch S. 80.
2) Vgl. J. Ludwig, Quae fuerit vocis \ ^) W. Rüdiger, Quibuscumvirisfuerit
ägsrt] vis ac natura, Leipz. 1906. j Statio poetae usus, Marburg 1887, S. 20
3) Ueber sI'qwv O. Ribbeck, Rhein. Mus. | u. 35 f.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 55
minus (45, 14), luid wer etwa Catiill 68 B 68 isque domum nobis isque dedit
dominam auf die Geliebte des Dichters deutet, bringt sich um das Ver-
ständnis des ganzen Gedichtes. Es kann da nur die Hausbesitzerin ge-
meint sein, die zum Eendezvous der Liebenden ihr Haus öffnete, i) ele-
menhnn ist eigentlich der Nährstoff, alimentum, dann physikalisch der
Bestandteil des Körperaufbaus, dann litteransch der Bestandteil des Wort-
körpers, der Buchstabe 2) u. s. f.
Eine umfassende Behandlung solcher semasiologischer Entwicklungen
gab einst Döderlkin, „Lateinische Synonyme und Etymologien". F. Heer-
DEGEX, Untersuchungen zur lateinischen Semasiologie I (Erlangen 1875),
gibt die Geschiclite des Yerbum ontre.
5. Einfluß des Dialekts.
Von dialektischer Beeinflussung der römischen Litteratursprache läßt Latein
sich nicht viel reden; denn die wenigen Lehnwörter, die aus italischen
Dialekten stammen, kommen hier doch nicht in Betracht. 3) Der eine
lateinische Dialekt hat vielmehr damals Italien und dann den Okzident
erobert. Ja, aucli bei der gewaltigen räumlichen Ausdehnung des Latein
in der Kaiserzeit können Avir von Entwicklung lokaler Sprachverschieden-
heiten, wie sie die Entstehung der romanischen Sprachen voraussetzt, in
der Litteratur wenig verspüren. Die Versuche, ein afrikanisches Latein,
dann auch ein gallisches neben dem zentralen italischen Latein in der
Litteratur nachzuweisen, sind vorläufig mißlungen und die Symptome zer-
fließen uns unter den Händen.-*) Auch was wir von einer römischen
Soldatensprache hören, &) ist schließlich kein Dialekt.
An die Stelle dialektischer Differenzen tritt in Rom dagegen von Piattiatoin
Anfang an der Gegensatz von Plattlatein und Hochlatein. ZAvischen
beiden steht vermittelnd die Konversationssprache des Großstädters, wie
sie in Ciceros Briefen uns vorliegt. Den Anteil festzustellen, den seit
Plautus die einzelnen Autoren am Plattlatein nehmen, ist ein Haupt-
merkmal für ihre richtige Würdigung. Erstorben ist es nie; die Bauern-
gespräche bei Petron zeigen es in herrlicher Blüte, ebenso die Wandkritze-
leien (Graffiti) Pompejis, in denen Avir sogar schon solche ScliAvächungen
des Auslauts antreffen, wie sie im Romanischen herrschend Avurden: quis-
quis ama valia, peria qui noscit amare.^) Vor allem seit dem 2. Jahr-
himdert bricht das Volkslatein Avieder mächtig hervor.
Das Plautinische Altlatein ist also Volkslatein. Der Komiker hat es
mit dichterischer Genialität gemodelt. Volkslatein ist aber nicht immer
auch Altlatein, und bei Plautus findet sich eine Menge spraclilicher
') Xg\. Rhein. Mus. 59 S. 430 u. 442. i ergibt z. B. A. Carnoy, T.e latin d'Espagiic,
'') Siehe Archiv f. Lexik. XV S. 153 ff . | Brüssel 1906, 2. Aufl.
^Qgan H. DiELS Elementum. I ') Siehe J. G. Kempf, Sermonis ca-
ä) Pränestinisches : A. Ernout, Le ' strensis reliquiae, Fleckeis. Suppl. Bd. 26.
parier de Preneste d'aprös les inscriptions, j ^) Carm. epigr. 946 : noscit ist wohl
Paris 1905 (Mem. de la soc. de linguisti- I nicht f. nescit verschrieben; sondern es
quo). Manches Irrige bei Ernoust, Les | scheint non seit gemeint, non seire f. nes-
elements dialectaux (Collection lingu.III), j cire ist plautinisch, also Volkslatein.
*) Kroll, Rhein. Mus. 52, 569 f. Wenig i
56
Kritik und Hermeneutik.
Griecli.
Dialekte
Attisch
Koiii6
Phänomene, die bald nach ihm für immer untergingen : ?wer/ und ted,
postidea, postilla, gratiis f. gratis, obiurigo, daniint, perdiilnt u. s. f. u. s. f.
Charakteristisch für das Altlatein ist auch der Indikativ in cum-Sätzen
und solchen E/elativsätzen, in denen später die sogenannte „consecutio
temporum" sich entwickelt hat; so lesen wir vldeas, mercedis quid tibi est
aecum dari, Bacch. 29, vide num moratur Most. 614 und scio quid ago
Bacch. 78.1) Natürlich wurde das noch parataktisch empfunden. Die
Hypotaxis ist hier noch in ihrer Entstehung.
Diese Bemerkungen aber führen zur Betrachtung der Sprachgeschichte
und ihrer Perioden, die nicht dieses Ortes, sondern Aufgabe der Grammatik ist.
Im Gegensatz zu dieser Uniformität des Latein steht der Dialekt-
reichtum des Griechischen.
Die griechischen Dialekte sind in ihrer reinen lokalen Färbung durch
die Inschriften mehr und mehr bekannt geworden. 2) Um so deutlicher
ist die Erkenntnis, daß diese Dialekte in der Litteratur nur in seltenen
Fällen rein zur Anwendung kamen. 3) Die Reste des Epicharm und
Sophron geben uns echtes sizilisches Dorisch, die Korinnas reines Böotiscli,
Anakreon reines Ionisch.'*) Die attische Komödie läßt gelegenthch Per-
sonen auftreten, die urwüchsig und ziemlich echt lakonisch, böotisch,
megarisch reden. 0) Die lesbische Lyrik dagegen, Sappho voran, dichtete
nicht ganz rein äolisch, sondern die Einflüsse der epischen Sprache auf
sie sind unverkennbar. 6) Denselben Einfluß erfuhr schon Archilochos.
Herodot schreibt ein künstliches Ionisch; und die Tragiker Athens
wagten in ihren Dialogpai*tien nicht mit der Tradition zu brechen, sondern
untermischten ihr Attisch vor allem mit jonischen Bestandteilen.') Und
zwar verfuliren sie so in Rücksicht auf ihr Publikum. Denn ein Aeschylus
dichtete nicht nur für Athen, sondern für die weitere griechische Welt,
und die Tragödie wurde an den großen Dionysien gespielt, zu denen
auch die auswärtigen Griechen zusammenströmten. Erst in der attischen
Komödie, deren Gesprächston sich der Prosa nähert, stellt sich das Attische
reiner dar, dann bei den Prosaautoren selbst seit Gorgias. Dies Attische
war der zur Rolle einer herrschenden Landessprache prädestinierte Dia-
lekt, der der „Keine" den Boden bereitete. Doch Avagt auch Thukydides
noch nicht das echt attische t in Jigärroj, i^dkarra einzuführen und joni-
siert in diesem Punkte wie die Tragödie. Erst nach ihm, seit Lysias,
zeigt sich das Attisch in seiner uneingeschränkten Natur.
Zur eigentlichen Weltsprache wurde statt des Attischen schließlich
die Koine. Ihr erster großer Vertreter ist für uns Polybius. Prüft man
an ihm und an verwandten Autoren die xoivi], so ergibt sich, daß dieser
*) Vgl. Lorenz zu Mosteil. 142.
2) Vgl. E. Meister, Die griech. Dia-
lekte, 1882—1889. O. HoFFMANX unter
gleichem Titel 1891—1898. A. Thumb,
Handbuch der griech. Dialekte, 1909.
3) Vgl. E. Zarncke, Die Entstehung
der griech. Litteratursprachen, Leipz. 1890.
*) Vgl. V. WiLAMOWiTZ, Die Text-
geschichte der griechischen Lyriker S. 22
u. 44 ff.
5) Siehe Aristoph. Acharn. 729 ff.:
Lysistr. 81 ff . ; 980 ff.: 1076 ff., und vgl.
V. AViLAMOwiTZ a. a. O. S. 98 f.
6) W. Schulze, Gott. gel. Anz. 1897
S. 883 f.
■>) Vgl. DiELS, Rhein. Mus. 56 S. 29 ff. :
W. Aly, De Aeschjdi copia A-erborum,
Berl. 1906.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 57
Dialekt ein Mischdialekt, d. h. ein vornehmlich mit starken jonischen
Elementen durchsetztes Attisch ist. Daher Vokabeln wie xaToxt'j, xgea-
qpaydvy xoivoXoyia, gäyi? (y, Bergrücken"), daher auch eine Reihe von scheinbar
poetischen Vokabeln, die vor der Koine sich schon in der Tragödie finden,
wie äXexToyg, der Halm im Neuen Testament, XaUaip, ödrjyelr, ßaordCeiv.
Auch die Tragödie hatte sie dereinst dem Ionischen entnommen, i) Der
Dialog der Tragödie ist ein Vorläufer der Koine.
Was die Dichtkunst anlangt, so gilt im allgemeinen der Satz, daß an
bestimmten Versmaßen oder Dichtungsarten ein bestimmter Dialekt haftet
(s. Aristoteles Ehetor. p. 1404 xA. 29). Herodas dichtet jonisch, Aveil eben der
Hipponacteus, den er braucht, dies fordert. Sonst aber war doch Mischung Mischung
beliebt. Die eigentlich getragene Poesie der Griechen hat den reinen p^esie
Sprachtypus stets vermieden. Es gab keine attische Lyrik. Selbst Sparta
hat niclit daran gedacht, von den Sängern, die ihm dienten, lakonische
Gesänge zu fordern; sondern T^^rtäus schrieb episch, Alkman, der z. B.
lakonisches oiö<; f. ß^eög setzt, mischte doch Episches in das Dorisch.
Und dies Prinzip der Dialektmischung beherrscht in verscliiedener Weise
auch Pindar, die Chorgesänge der Tragödie und alles Verwandte. *) Warum
das? Diese große Poesie Avollte allgemeinverständlich international, oder
besser, panhellenisch sein. Das Dichten war ein fortgesetzter sprachlicher
Kompromiß.
So hat denn auch Theokrit zwar vereinzelt Alohxä gearbeitet, in
seinen Bouxokixd aber, dcogldi öialexxcp (Avie Suidas sie charakterisiert), doch
wiederum überall episches Sprachgut, d. h. jonisch-äolisches, ja, auch nicht-
ej)ische Aeolismen in das Dorische eingemischt.
Und dies führt auf Homer selbst. Auch seine Sprache ist gemischt. Homer
Und auch das ist ursprünglich und echt und gehörte gewiß von vorn-
herein zum Wesen des epischen Vortrags. Die HA^pothese, die ansetzt,
die Ilias, ja, auch die Odyssee sei dei-maleinst reines Aeolisch gewesen,
ist um so bedenklicher, da der Versuch einer Rückdichtung mißlungen
scheint.») Vielmehr lehrt die Gesamtsprachgeschichte der griechischen
Poesie es verstehen, ja, sie ergibt es als Forderung, daß auch schon die
alten epischen Erzähler die reine Dialektdichtung vermieden. Denn aUe
Dialektdichtung ist Ideinbürgerlich. Den wandernden Aöden lag es fern,
ihren Vortrag lediglich auf äolisch redende Fürs.tenhöfe zu beschränken;
und auch diese Fürsten selbst waren keine Bauern und gemß niemals
so borniert, nur äolisch zu verstehen.*)
') A. Thumb, Die griechische Sprache ; *) Die Annahme, daß in Smjrna,
im Zeitalter des Hellenismus, Straßburg Erythrä und Umgegend ein äolisch-joni-
1901, S. 213 u. 217 f. scher Mischdialekt gesproclien wurde, ist
'-) H. Schultz, De elocutionis Pin- nach dem Gesagten, wie ich meine, zum
daricae colore epico, Göttingen 1905; Verständnis des Homer unnötig. Vgl. O.
übrigens Wilamowitz a. a. O. S. 47 f. Hoffmanx, Geschichte der griechischen
3) Trotz Bechtel (bei C.Robert) und Sprache, Sammlung Göschen Nr. 111 S. 74.
Haxs Berger, De lliadis et Odj^ssiae parti- Wenn die dort gefundenen Inschriften
bus recentioribus, Marburg 1908. Am einen solchen Mischdialekt wirklich er-
meisten werden diese Hypotliesen durch weisen, so ist dies gewiß willkommen,
das abenteuerliche Buch A. Ficks, Die Wer ihn aber aus Homer selbst erschließen
Entstelmng der Odyssee, Göttingen 1910, ; will, müßte auch aus den jonisierenden
diskreditiert. " : Dialogpartien des Aeschylus schließen.
58 Kritik und Hermeneutik.
Text- Den modernen Textkritiker bringen nun aber Texte mit gemischtem
kritisches j)ialekt oft in Verlegenheit. Wenn die Hss. selbst so schwanken wie
bei Theokrit, sollen wir bei diesem Dichter 1, 12 Teide oder rfjde, sollen
wir 5, 30 xotde, 15, 2 amfj, 15, 34 dagegen amdv lesen oder herstellen?
Wenn eine Hs. so inkonsequent ist Avie der Lam-entianus des Sophokles,
der z. B. Aiax 172 eXacprjßoliaig, Track. 214 ela(paß6lov gibt, sollen wir
etAva gegen ihn den dorischen YokaUsmus durchführen? Oed. Rex 475
steht (pYjfia. Sollen Avir (pdua schreiben? Für diese Dinge hat uns die
Kenntnisnahme des Bacchylidespapyrus einige Zurückhaltung gelehit.
Denn auch er ist sclion ebenso inkonsequent, und er gibt Bacchyl. 2, 1
und sonst just ebenso (prii^ia, nicht (pdua. Soph. Electra 1277 stellte Din-
dorf äöovdv her, ohne Nötigimg; denn ßacchylides hat ddimrovg, aber da-
neben fjdvg.^) Vielleicht beobachtete der Dichter bei dem scheinbar will-
kürlichen AVechsel der Formen Gesetze des Wohllautes, die Avir nicht mehr
nachempfinden können. An rem tu am interroga sagt der Grammatiker
Probus bei Gellius 13, 21, 1 in bezug auf A^ergilisches urhes und urhis\
der Dichtei- hatte eigenhändig bald dieses, bald jenes gesetzt. Warum?
Andererseits kann es nicht zAveifelhaft sein, daß wir in den zwei
großen Sapphogedichten, die die Rhetoren Dionysius A^on Halikarnaß und
Pseudo-Longin uns geben, das Aohsche gegen ihr Zeugnis strenger durch-
zuführen haben; denn es ist nicht zu verkennen, daß diese Texte in den
Handschriften der Zeit des Augustus stark vom Gemeingriecliisch durchsetzt
Avaren. Pseudo-Longin modernisiert so auch das Jonisch, avo er den Herodot
zitiert p. 143 imd 153; 2) ja, schon Aristophanes hat, avo er Stesichoros-
A^erse bringt, im Frieden 774 ff. die überlieferten strengen dorischen
Formen abgeändert. Ebenso ist das Jonisch im Aites Theokrits nach
dem Vermerk der Überschrift ^Idöi öialexrco auch da, avo die Hss. Avider-
streben, durchzuführen. Die Soloni'este, die Avir in des Aristoteles \4&?]vaio)i>
' TioXizeia lesen, geben gel. attisches ä, avo wir jonisches r] erAvarten, auch
dies vielleicht eine Veruntreuung des Dialektischen durch den Schreiber.
Auch das Jonisch des Herodot und Hippokrates ist in den Handschriften
dieser Autoren durch jüngere Überarbeitung und Akkommodation an das
Attische entstellt; entstellt auch die Sätze der altjonischen Philosophen,
die uns die Aristoteleskommentatoren zitieren. 3)
6. Einfluß der Litteraturgattung.
Schon aus dem soeben Vorgetragenen erhellt zur Genüge, daß der
Sprachcharakter eines Werkes jedesmal vom ZAveck des Autors, d. h.
mit andern Worten a on der Litteratm'gattung abhängt, der er sich Avidmet,
und es ist kaum nötig, hierbei zu A^erAveilen. SoAveit es sich um poetische
Werke handelt, kann man auch sagen: Die Sprache ist abhängig A^om
Versmaß.
daß zu des Aeschylus Zeit in Athen '^) Vgl. Stemplinger, Das Plagiat in
solch Jonisches Attisch gesprochen wurde, i der griechischen Litteratur S. 248.
Aeschylus war Kunstdichter, und Homer | ^) Siehe Simplicius ed. H. Diels 1
auch. I S. IX.
) Siehe übrigens v.Wilamoan^tz a. a. 0.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 59
Zunächst rein äußerlich im Wortschatz; denn der daktylische Yers
ei-fordei-te eben daktylisch fallende Vokabeln, so A\'ie der Trimeter jam-
bische. Wichtiger aber noch ist die Stimmungslage, die sich mit jedem
Versmaß ändert.
Der Trochäus bildet den eigentlichen Schnellvers, und Avenn der Trochäen
C'hor an zu rennen fängt, brauclit er ihn, wie bei Aristophanes Acli. 204:
Tf)dE JTäg k'jiov MoiXE xai lov ävöga jtvt'Oävov.
Aber iXidv Trochäus diente auch dem yeköiov, dem Spaß und ülk, der nicht
t^föyog ist.
Dagegen ist der Jambus, das iafißeXov, der eigentliche Si)rechvers, lamben
von dem Aristoteles sagt,i) er eigne sich für den Dialog des Theater-
stücks, weil man im täglichen Leben geradezu in Jamben spreche. Wo
immer also la/ißeTa auftreten, haben wir, ähnlich wie auch in den Trochäen,
ganz vorAviegend realistischen Sprechton, und so ist der Jambus von
vomlierein auch der Vers der Insulte oder des ifoyog.^) Allerdings wissen
die Tragiker im Jambus doch auch erhaben zu sprechen, und eine epische
Wucht erliält er in den ergreifenden Botenberichten, in denen Euripides
sich als Meister zeigi.
Der Hexameter gibt Erzählung, aber ihm ist eigentümlich, daß er Hexameter
stets nur getragene Erzählung gibt, die sich einer überwirklichen Sprache
bedient; und das Blülien der breitgebauten, Avohlklingenden und die
Anschauung belebenden Epitheta ist dabei Hauptmerkmal. Der epische
Yers idealisiert und wahrt eine erhabene UnAvdrklichkeit des Ausdrucks,
wie in den Schmuckwörtern, so in der Wortkomposition überhaupt. Dieser
e[)ische vStil geht von Homer bis Nonnos. Um so reizvoller war es für
den antiken Leser, wenn derselbe Hexameter nun trotzdem einmal rea-
listisch Avurde, skeptischen Ton anschlug und sich in den Dienst des
Mimus stellte, Avie in Theokrits 15. Gedicht, in den Komödien des E,hinton,
A'or allem in der römischen Satire. Und hier ist denn in der Tat Wort-
schatz und Charakter radikal A^erändert.
Eine Veredlung oder Steigerung des Redetons strebt auch die grie-
chische Lyrik oder Melik an. Aber sie zeigt sich in diesem Streben MeUk
ungleichmäßig, und eben in dieser Ungleichmäßigkeit verrät sich AA^eder
der Einfluß des Versmaßes auf die Sprache. Denn avo die Metra so
kurzgliedrig und schlicht sind aa^c in Sapphos Aedvxe fiev ä oeMvva \ y.al
rjh]iadeg, jueoai de \ vvxreg xtX., da AA'ird sogleich auch die Sprache schlicht
mid meidet den Aufputz der Epitheta, den die Chorlyrik großen Stiles
bringt imd der z. B. in den Daktylo-Epitriten zu Hause ist. Älinlich
steht es mit den Dochmien; sie sind zu pulsierend erregt und meiden
darum gleiclifalls den Pomp der SchmuckAv^örter. Dies ist die Sprache der
Dochmien : (pQaCe Srj ri (prjg ; tov divayfj qnXov jhijtiot ig ahiav en ä(pavei Xoycp
ö' ärifiov ßaXFiv, oder: äcpiXog öri jivjiiaTov ö?Mijuav, (poovqoiv et tdvd' e/M, avo
kein Wort im Dienst der erregten Erörterung überflüssig (Oed. Rex 655 ff.).
Die Grammatiker und Musiker des Altertmns selbst Avußten den
Charakter der Versmaße zu bestimmen; so sagen sie uns u. a., daß die
') Poetik cap. 4, 8. v£^l. Philol. LXTTT 8. 455.
2) Der Jambus als pes citus ist jung:
60
Kritik und Hermeneutik.
Elegie
Prosa
Daktylo-Epitriten den hesychastischen Charakter tragen. Dalier nun eben
der feierliche Redeschmuck daktylo-epitritischer Strophen, wie z. B. in der
Parodos des Aiax Yers 172 ff. mit der ravQOJioka Aiög "ÄQTejuig und dem
'/aXxo^öjgai "Evvdhog. Man könnte zweifeln, ob dieser breite und wuch-
tende Ton an dieser Stelle der Tragödie die Stimmung richtig ausdrückt.
Denn der Chor zeigt auch schon Avährend der Parodos ernstliche Sorge
und eine gewisse Erregung um das Schicksal des Aiax. Aber dies Gefühl
soll erst im Verlauf des Dramas sich steigern und voll entfalten, und
Sophokles handelte weise, wenn er mit der hes^^chastischen Stimmung
begann.
In gewaltigem Kontrast zu dieser Parodos des Aiax steht die zur
Alkestis. Da ist alles Angst und Bangen um die edle Frau: ist sie schon tot
oder nicht? Jamben, auch Glykoneen und Daktylen reden da die knappste,
ja, eine fast geschäftsmäßige Sprache. „Hört jemand ein Ächzen oder
Händeschlagen im Haus oder ein Seufzen, als wäre es schon geschehen?
Nein! An der Haustür ist auch kein Diener'' : so schlicht lautet die erste
Strophe Vers 86 f., um nur in ihrer Schlußzeile et yäg /Lieraxvjuiog ärag cb
Ilaiav cpaveirjg plötzlich zu der üblichen Verwegenheit des Ausdrucks sich
zu erheben; und ganz so realistisch geht die Gegenstrophe; aber auch
ihre Schlußwendung Vers 103 schlägt wieder ebenso kühn empor; die
yeiQ veoXaia ist da noch exaltierter als das voraufgehende jueraxvfuog ärag.
Das elegische Distichon aber ist nur ein Ableger der hexametrischen
Kunst und die elegische Sprache deshalb auch nach der epischen zu be-
urteilen, und zwar so gut in Rom wie in Hellas. ^) Indem der Hexameter
sich mit dem Pentameter vermählte, wurde die Elegie die Tochter und
nächste Deszendentin des Epos. AVie Mimnermos sprachlich von Homer
beeinflußt ist, so war Pro})erz geneigt, sich dem Einfluß seines großen
Zeitgenossen Vergil auszusetzen.^) Aber auch die Elegie hat dabei, wie
der epische Vers, verschiedene Stilarten durchgemacht: man vergleiche
nur Ovid mit Kallinos, das Ende mit dem Anfang der Entwicklung. Auf
alle Fälle aber ist es sinnlos und eine Verkennung des Wesens, wenn
neuerdings jemand versucht, uns das elegische Distichon durch den Ver-
gleich bayrischer Schnadahüpfeln nahe zu bringen, ja, Distichen in solche
Schnadahüpfeln zu übersetzen.») Das ist, als gäbe man uns Kohl und
Rüben statt des Lorbeers und der bacchischen Traube.
Blicken wir auf die Prosa, so hat sie vom „gradezu", vom „grade
darauf los reden" ihren Namen (proversa, provorsa). Sie steht also zu
jeder bewegteren Gefühlsäußerung ursprünglich in Gegensatz, und in der
Sprache der Gesetzestafeln und der Lehrbücher gibt sie sich am natür-
*) Ygl.F.WEiGEL, Quaest. de elegiaco
sermone eqs., Dissert. Vindob. IIT, 1891,
vS. 109 ff. ; N. EiEDY, Solonis elocutio qua-
tenus pendeat ab exemplo Homeri, Mün-
chen 1903 u. 1904; dazu Berl. phil. W.schr.
1905 S. 1428. Inwieweit auch einmal ein
Abschnitt im Homer von der Elegie be-
einflußt worden ist. (s. D. Mülder, Homer
und die altionische Elegie, Hannover u.
Berlin 1906), kommt hier nicht in Betracht.
2) Vgl. H. Hollstein, De Properti
monobibli sermone et de tempore, quo
scripta sit, Marburg 1911.
3) Stowasser, Griechische Schnada-
hüpfeln, Wien 1903. Feinsinniger sind die
Versuche Eskuches (Hellenisches Lachen,
Hannover 1911), antike Distichen in deut-
schen Eeimversen wiederzugeben.
n. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung.
61
lichsten. Eben dalün gehört aber auch die ke^ig elgojuevrj der primitiven
altjonischen Historiographen, die man die Logographen nennt. Aber auch
die Prosa belebte sich zum Kunstwerk. Sie rundete ihre Sätze ab und Griech.
bildete in Nachahmung der lyrischen Versifikation „Perioden", die sich ^^^^^^^^^
aus „Kola" zusammensetzten, und begann obendrein auch den poetischen
Sprachausdruck zu kopieren, zunächst in der tastenden und geschmack-
losen Weise, von der uns die yvjieg eui^wxoi rdcpoi des Gorgias ein typisches
Beispiel sind. Für alles das geben die Reste der Ethika des Demokrit
interessante Belege. Im Gegensatz hierzu war es endlich das große
Werk der klassischen attischen Rednerkunst, eine wirkUch stilreine Kunst-
prosa zu schaffen, d. h. der Kunstprosa ihren eigenen Stil zu sichern,
der dabei in verschiedenen Charakteren auftreten kann, anders im Lysias,
anders im Isokrates. Die klassische Prosa hat seitdem ihren eigenen, von
der Poesie verschiedenen Wortschatz ; sie hat eine eigene Rhythmik, die
den Dichtern fremd. Ihre Kraft und ihre Mannigfaltigkeit offenbart sie
in den Redefiguren und den Tropen.
Die r()mische Prosa hatte es leicjiter als die der Griechen. Ihr ge- Rom. Prosa
nügte es, die verschiedenen Stilarten, die die Griechen ausgebildet, lern-
eifrig zu übernehmen. Die größte Stilreinheit zeigt die römische Prosa
in Cicero und Caesar. Dann aber änderte sie unter dem Einfluß der
nachklassischen griechischen Rhetorik ihr Wesen, und die Entwicklung
ging dahin, daß die Schriftsteller Roms, Livius voran, sich von der Phraseo-
logie und von der poetischen Syntax der augusteischen Dichter beein-
flussen ließen. Ich nenne aus ihrer Reihe hier nur Apuleius, den Afrikaner,
dessen Sprache mit besonderer Liebe, aber doch bisher immer noch in zu
einseitiger Weise untersucht worden ist; denn man hat sie vorwiegend
nur auf Yolkslatein und Altlatein hin ins Auge gefaßt; das Hauptmerkmal
ist aber, daß Apuleius in der Syntax i) und vielfach auch im Wortschatz
der Fortsetzer jener silbernen Latinität ist, die aus dem Usus der Dichter-
sprache ihr Wesen zog. Gleich im Einleitungskapitel braucht er das Ad-
jektiv Ephyraeus nach Ovid und Lucan, verbindet advena mit dem Genitiv
wie Statins Theb. 8, 555, sagt veniam praefatus wie Statins Achill. 2, 53
pacem praefatus, im cap. 2 emergere mit dem Akkusativ des Orts wie
Vergil erumpere nubem, schreibt sititor novitatis nach dem sltitor aquae
bei Martial 12, 3, 12 u. a. m.
Wichtiger als diese nachciceronische Prosa sind aber die augusteis chen Augustei-
Dichter selbst; denn nichts kann den Satz, daß das Versmaß die Sprache Dichter
gestaltet, so bequem veranschaulichen als sie. Dies ist vollständig über-
zeugend schon in dem alten Buch von Köne, Sprache der römischen
Epiker, Münster 1840, dargelegt. 2) Der daktylische Vers war es, der es
einem Vergil und den andern Daktylikern unmöglich machte, Worte wie
hellicosuSj hospitalis, nuptiae, iudicamus, insulae, fortiores, Adverbien wde
prospere überhaupt zuzulassen. Siculus sind drei Kürzen; in Siciliam
war man gezwungen, die erste zu längen; das e in Macedo konnte man
') Wenig gibt J. v. Geisau, De Apulei
syntaxi etc., Münster 1912.
2) Vgl. Bednara, De sermone dacty-
licorum lat., Leipz. 1906; ders. in Archiv
f. Lex. XV.
62
Kritik und Hermeneutik.
Homer
kurz belassen, in Macedoniam mußte man es dehnen. Ebenso ist es durch-
sichtig, weshalb die Feminina certa dies, dura silex bevorzugt Avurden.
Ein praemium, otium widerstrebte; man half sich mit dem „poetischen''
Plm-al otia, praemia, den die Not erzeugte; den gleichen Dienst leisteten
die Neutra carbasa, Tartara, Pergama trotz carbasus, Tartarus, JJeQyajuog.
Daher auch circlos, frigdaria. Der ganze Genetiv der Partizipien aman-
tium, volentium mußte Avegf allen; amantum tritt dafür ein. reliqui war
noch im 1. Jahrh. v. Chr. viersilbig i^elicui; daher vermied man das Wort;
kein augusteischer Dichter braucht es.\) gratulari gab keinen Daktylus;
man sagte gratari; „erziehen" hieß edücare; im gleichen Sinne mußte nun
educere aushelfen. So Avird monstruosus zu monstrosus; audiendi ging
nicht an, also Avurde auch die Syntax A^erändert, und Vergil konstruiert
amor audirl (Aen. II 11); v^gl. natus tolerare lahores u. a. invidetur mihi
ging ebenfalls nicht; Horaz verschmäht es deshalb nicht, invideor zu
schreiben. Im Dienst des Daktylus sind dann aber auch alle jene neuen
Wortbildungen auf -fer und -ger gemacht, die unter den SchmuckAA^örtern
in dieser römischen Poesie einen so breiten Raum einnehmen.
Die kühnen Veränderungen, die Avir die römischen Dichter vornehmen
sahen, haben nun aber ihr Vorbild in der homerischen Sprache gehabt,
die im Verse der Alexandriner, eines Kallimachus und Apollonius Rhodius,
AA^eiterlebte, und dies dürfen wir zu ihrer Rechtfertigung nicht A^ergessen.
Denn es ist Tatsache, daß auch Homer und seine Nachahmer sich ge-
zAVungen sahen, in vielen Fällen AAde in den folgenden, die ich zufälHg
auslese, 2) die natürliche Kürze in Hebung AAdder den Usus gradeswegs
zu längen; ich meine Eigennamen Avie ngiajuidrjg und ^vXaxiörjg und
Wörter wie ä&dvaTog, änoveeo&ai, äjiodujojuai, övrajuevoto, d^vyaregeg, xvdveog,
weiter £«A»/Ao?;j^a, sogar ovßooia mit gelängter di-itter Silbe Ä 679, ^ 101 ; Aveiter
ovrojua und die Präposition eiv, die in dieser Schreibung und Messung
statt iv immer nur in Hebung und immer vor Vokal vorkommt. 3) Ja,
auch das choriambische Italiam und Siciliam der Römer hat bei Kalli-
machus in 'halb] und bei Theokrit in ZixeUöag seine Analogie.
Mimetische ^{^ Sagten in weitester Fassung, der Sprachcharakter eines Werkes
weise sci jedesmal durch seinen ZAveck bedingt. Für diesen Satz ist Plato das
glänzendste Beispiel. Plato hat den gCAvandten Dialogstil, den er sich
ausgebildet hatte, lange Zeit beibehalten und durchgeführt. Aber er Avar
dabei imstande, ihn zugleich nach der Eigenart des Sprechers, den er
redend einfülirt, zu A^erändern, und persifliert also bald den Lj^sias, den
Prodikos, bald die Gorgianer, indem er ihre Manier nachahmt, oder er
bringt uns die Wichtigtuerei des Protagoras zur Anschauung, Avenn er
diesen Sophisten im gleichnamigen Dialog seinen soziologischen Vortrag
halbAvegs mit logographisch-naiA^en, halbwegs mit dichterischen Wendungen
1) Man sieht also, was man \^on der
Vermutung zu halten hat (A. Gandiglio
in Atene e Roma XIV S. 346), bei Cic.
de fin. IV 72 A^erberge sich in den Worten
Aristoteles reliquique Piatonis alumni ein
Hexameterrest, der \'ielleicht aus Lucilius
stamme. In Ciceros und des Lucilius Zeit
Avar relicuus A^iersilbig.
2) Siehe W. Schulze, Quaestiones epi-
cae, Gütersloh 1892.
3) Siehe Schulze S. 216 f.
n. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 63
spicken läßt, Protag. p. 320 ff. ; naiv das sorgliche Wiederaufnehmen des-
selben AVoites, besonders stai'k bei vejueiv {jisigäTai abzog veijuai, veijuavrog .
d' sjLiov, €(pt] . . . xai ovtwg jieioag ve/biei, vejuwv de xrL); poetisch das yfjg
h'vÖov, äXXt]Xoq^&oQu7)v diacfwydg enriQxeoe, Jiobg rag ex Aiog ojgag (aus Odyssee
24, 344), imodcüv rd juev önkalg xä de degjiiaoiv, öhyoyoviav jigooi]yje, xXejirei
{rigojutj&evg) rrjv evrexvov ooq?lav ovv Jivgl^) und xXetpag rijv ejuTivgov xexvrjv.
Dazu gorgianischer Gleichklang ixavoXg juev . . . dvvaxolg de und xoojuoi
xe xai öeojnoi Dazu ferner das Metrische, im altmodischen Sinn, ganze
Yersausschnitte, z. B.:
Dimeter: yV^ evSov ix yfjg xai Jivgög ...
veficov de xoXg f/sv lo/vv
ävev rdxovg jtQoofjjixev . . .
Trimeter: sfUj/aväTO di'va/iuv eig ocoTt]gtav
4 Bakchen: ejisiöi] ö'äysiv avza Jigog qjwg E^Xkov
Daktylen: äX/Mg i^sjioQcCsv . . .
— im Jidvrag, s'qpT] 6 Zevg,
xai Jtdvtsg fiexexdvccov.
Endlich am Schluß des Ganzen drei ausgewachsene, nm- durch ein kleineres
Kolon unterbrochene Glykoneen:
xai vofiov ye &kg Jiag' ijnov
ZOV fXT] övvdfisvov
aldovg xai öixtjg fiers/etv
xxeivEiv ojg vöoov jioAecog.
Das ist nicht Zufall und gemahnt ernstlich an den Stil Demokrits.*) Es
läßt sich zwar nicht behaupten, daß Plato die Einzelwendungen, die ich
hel•^^orhob, getreu aus einer der Schriften des Protagoras, etwa der Uok-
xela,^) entnommen habe, Avohl aber, daß sich dieser Sophist dort sehr
ähnlich auszudrücken beliebt haben muß.
Der Interpret, der von Plato z. B. den Phaedrus oder das S;^Tnposion
liest, hat darum überall auf das wechselnde Kolorit der Rede, auf ihren
mimetischen Zweck acht zu geben. Schon liieraus ergibt sich die Tat-
sache, daß es dem Genie gegeben ist, verschiedene Stilarten auszuüben.
Der Satz aber, daß die Sprache von der Litteraturgattung abhängt, Wech-
führt uns noch einmal zu den Römern liinüber. Denn ist nicht der art eines
Horaz der Satiren nach Wortschatz iind Wurf der Rede ein total anderer Autors
als der Horaz der Odenpoesie? In beiden Fällen redet gewissermaßen
die Litteraturgattung statt seiner. Sie zwingt dem Dichter die Sprache
auf. Ganz so erklärt siöh aber auch der Unterschied des Tons in Catulls
Werken. Man höre etwa Worte aus seinem Parzengesang (64, 323):
O decus eximium magnis virtutibus augens
Emathiac tutamen opis, clarissime nato
und daneben seine Hendecasy Ilaben :
Pedicabo ego vos et irrumabo
Aureli pathice et cinaede Furi.
') ai'v bei Plato nur 30 mal, fiszd c. i ') Der Schrifttitel des Protagoras Ttegl
gen. 510 mal; s. Th. Lina, De praepositio- | x^g iv dgxfi xaxaoxdoecog bei Diogenes Laer-
num usu Platonico, Marburg 1889, p. 32. i tius ist vielleicht im Hinblick auf den be-
') Siehe P. Natorp, Demokrits Etliika, ; sprochenen Platoabschnitt zurecht ge-
Anhang, i macht, also unzuverlässig.
64
Kritik und Hermeneutik.
Auch CatuU ist ein zweispracliiger Dichter. ^) Und ebenso steht es mit
Petron (man denl^e anPetrons Bellimi civile); ebenso vor allem mit Tacitus.
Wie viel DruckerscliAvärze hat man nicht einst vergeudet, um zu beweisen,
der Dialogus de oratoribus könne nicht von Tacitus sein; so auffällig
kontrastiert dieser wundervoll breitflüssige Dialog in der Tat mit der
knappen, gepreßten Art der Historien und Annalen desselben Autors.
Aber man hat vergessen, daß die Gattung des Dialogs bei den Römern
damals eben ihre traditionelle Sprache besaß, dies war ausschließlich die
ciceronische, so noch bei Minucius Felix, und daß ebenso damals für die
Büstorien als maßgebend die Sallustische Form galt, wie Martial 14, 191
bezeugt. Tacitus war unfrei in beiden Fällen; er gehorchte nur der
Tradition und dem Zeitgeschmack, wenn er im Dienst des einen Zwecks
Ciceronianer, im Dienst des anderen Sallustianer war.
7. Individuelles.
Gruppen Wir haben den Ausspruch gCAvagt, daß in manchen Fällen gewisser-
f^^^' maßen die Dichtungsgattung statt des Dichters die Sprache erzeugt. Und
Autoren es läßt sich nicht leugnen, daß es Gruppen von gleichartigen Autoren
gibt, die man als eine Litteraturmasse zusammenfassen kann. Dies gilt
z. B. von den Resten der mittleren und neueren griechischen Komödie
(Amphis, Eubulos; Posidipp, Philippides, Euphron), dies gilt von den Pal-
liaten des Naevius und Plautus; sodann von den sogenannten novi poetae
E/Oms, Calvus, Cinna, zu denen Catull gehörte. Denn wenn wir z. B. die
Fragmente des Calvus einsehen, merken wir, daß, was uns bei Catull als
hochoriginell erschien, in vielen Punkten doch diesen jungen Größen
gemeinsam war. Auch von den alten jonischen Logographen, auch von
den alten griecliischen Elegikern kann man bis zu einem gewissen Grade
dasselbe sagen, resp. vermuten. Wenn Stücke des Selon, des Mimnermus
eingeschaltet im Theognis stehen, so werden die wenigsten Kenner einen
erheblichen Stilunterscliied wahrnehmen, und der Hersteller der Theognis-
sammlung nahm ihn sicher nicht wahr. AVeiter die zahllosen Epi-
grammendichter, die in der Palatinischen Anthologie vor uns stehn und
ihr Eigentum mischen: eine mühsame und liebevolle Obsorvation gehört
dazu, um aus dieser Schar einzelne Individualitäten wie Mnesalkas von
Sikyon, Leonidas von Tarent, Asklepiades von Samos, Antipater von Sidon
herauszuheben.
In solchen Fällen kann also der Interpret, wo sprachliche Schwierig-
keiten vorUegen, den einen Vertreter der Gruppe nach dem anderen be-
urteilen und sagen: dies und das ist Sprachgebrauch der Komödie oder
des Epos oder der Elegie, wonach wir unsere Imtische Entscheidung zu
treffen haben.
Doch es gibt überragende Größen, die vielmehr für sich stehn und
die — wie Homer (oben S. 52) — womögHch nur aus sich selbst zu er-
klären sind. Es sind die Männer, die die griechische Sprache ganz neu
geprägt haben : Herodot und Thukydides, jeder in seiner Art ohne seines-
gleichen. Ebenso Plato, Xenophon, deren Gegensatz sich später im
1) Vgl. Süss, Oatulliana, Erlangen 1876.
Individuali-
täten
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 65
Plutarch vmd Arrian wiederholt, u. s. f. Mögen liinter Thukydides, hinter
Antiphon iind L^^sias Theoretiker der Rhetorik wie Gorgias und Thrasy-
machus stehen, mag Cicero von der rhodischen Rednerschule gelernt
haben — Aver wird bestreiten, daß hier in sich geschlossene, überragende
stilistische Individualitäten vor uns stehen, die es wagen, Wörter und
Wortverbindungen so zu wählen, daß alles ganz neu und alles ganz
eigen scheint? Und was ist großartiger als die Idealschöpfung der
äschyleischen Sprache? was interessanter als die klug .berechnete Natür-
lichkeit des Ausdrucks, mit der die räsonnierende Tragödie des Euripides
den Aeschylus überwindet?
Schon die Alten selbst haben diese großen Individualitäten erkannt,
jeden füi* sich genommen imd in kurzen Foraieln zu charakterisieren
versucht ; dies sehen wir bei Dionys von Halicarnaß De vett. Script, cen-
sura und QuintiKan X 1. Danach zeiclinet Aeschylus Avie Pindar die
fieyaXoTTQijieia, der Prunk der Rede, aus; Aeschylus ist ferner 7ioir]Ti]g
idiojv örojndjMv, Euripides dagegen ovte vipr]l6g ome jur]v liTog. Von den
Historikern aber heißt es z. B.: ev juevroi xoig fj^ixoTg Tigazei "Hgodoiog, ev
de Tolg jia^rjTixolg 6 Oovxvöiöijg, Thukydides hat die gayjurj und den rovog,
das yla)oo)]jnarixdv xal jzeQieQyov, Herodot die ;ca^<?, die jiei&oj und das
ungezAAungen Natürliche, amocpveg äßaodviorov.
Für Livius, den Historiker, sind in einer Reihe tüchtiger Arbeiten
die Merkmale seiner lierA^orragenden schriftstellerischen Eigenart ge-
sammelt Avorden.i) LiAdus vermochte, obwohl Ciceros Verehrer, doch
das Latein Avesentlich neu zu gestalten; es geschah vielfach nach grie-
chischem Vorbild (Gräcismus): so substantiviert er die Adjektiva, als
hätten AA^ir den griechischen Artikel hinzuzudenken: Romana „die Rö-
merin", medium diei aa^c t6 jueoov. Der Grieche konnte verbinden ?/ ^^
Boiioriag eig Maxsöoviav ööög, so nun auch Livius: iter ex Boeotia in
Macedoniam; er begünstigte alii f. ceteri, Yg\. ol äUoi. Übrigens aber
borgt Livius auch gern von den Dichtern; vergilisch ist das fragende
en umquam bei ihm (z.B. IV 3, 10); das ^tc. perosus in aktivischer Funk-
tion (III 34, 8); horret animus mit folgendem InfinitiA^ (26, 24, 8); super-
vacuus statt supervacaneus u. s. f. Zur Semasiologie gehört das adorare
in der Bedeutung „verehren", das von Vergil aufgebracht, von Livius über-
nommen Avurde; zum Phraseologischen z. B. das fit via vi LiA^IV38, 4;
das inter spem metnmque, das zuerst bei Liv. VIII 13, 17 und Verg. Aen.
I 218 steht, hernach bei Tacitus, u. s. f.
Doch genug. Das Gesagte zeigt hinlänglich, daß es berechtigt AA^ar, Speziai-
Avenn wir im Voraufgehenden erschöpfende Speziallexika für sämtKche
Autoren als Idealforderung hinstellten. Auch entsprechen dieser Forderung
schon eine Reihe schöner Arbeiten Avie Bonitz' musterhafter Aristoteles-
index, sodann aber das Lexikon zu Homer ed. Ebeling, die Lexika zu
Ciceros Reden und zu Ciceros philosophischen Schriften von Merguet,
lexika
^) VgL.L. Kühnast, Die Hauptpunkte gebrauch des L., Leipz. 1894; S. G. Stacey,
der Livianischen Syntax«, Berl. 1872; O. Archiv. Lex. X S. 17ff.; nUi --^ ccterl übri-
RiEMANN, Etudes sur la langue de T. L.', gens gel. schon die Komiker; vgl.V.VAC-
Paris 1884; A. M. A. Schmidt, Sprach- | caro, ahi = ceteri, Palermo 1889.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 5
ßß Kritik und Hermeneutik.
das zu Tacitus von Gerber und Greef, Joh. Rumpels Lexika zu Pindar
und zu Tlieokrit, und manches Weitere. Dringendstes Bedüi'fnis ist das
Gleiche für Plato, für Ovid sowie für Plautus; aber auch für diese Desi-
derien naht langsam die Erfüllung, i) Dazu kommen dann solche Werke
wie Eiemanns Etudes sur la langue de Tite Live, 2) Drägers Tacitus-
syntax; Constans, De sermone Sallustiano, besser S. L. Fighiera, La
lingua e la grammatica di C. Sallustio Crispo u. a. m. Yor allem ist hier
noch rühmend Willi. Schmid, Der Atticismus (Stuttgart 1887 — 96) zu
nennen, ein Werk, das zur Charakteristik Dio's, Lucians, der Philostrate
und anderer glänzender Autoren der Kaiserzeit Grundlegendes bringt..
Füi* das Neue Testament haben wir Winer-Schmiedel, Grammatik des
neutestamentlichen Sprachidioms; F. Blaß, Grammatik des neutestament-
lichen Griechisch ; L. Rademacher, Neutestamentliche Grammatik, und eine
Fülle anregender Untersuchungen.^) Aber es gibt noch lange nicht genug
derartiger zusammenfassender Werke. Wer bringt uns eine Syntax des
älteren Plinius? des Seneca?
Daß solche Studien und Thesauren auch den Zwecken der höheren
Kritik und Hermeneutik dienen, wird sich später zeigen. Hier sei nur
noch betont, daß uns die Beobachtung des Sprachgebrauches gegebenen
Beachtung Falles die Pflicht der Emendation auferlegt; so setzt Plautus z. B. zu
Gebrauchs slmiUs HUT den Genetiv, und darum stellte Ritschi Plaut. Men. 1089 neqiie
bei der lactcst lacü, cvede mihi, usqiiam mnilius statt des Dativs mit Recht ladis
Textkritik
her; daß es aber vor allem verfehlt ist, in einen Autor durch Konjektur
Wörter aufzunehmen, die nachweislich seinem Sprachschatz fremd, die er
also entweder nicht kannte oder die er verschmäht hat. Usener Avollte
einst bei Horaz Ars poet. 253:
Syllaba longa brevi subiecta vocatur iambus,
pes citus: unde etiam trimetris adcrescere iussit
nomen iambeis . . .
momen statt nomen einsetzen. Aber Horaz kennt das Lukrezische Wort
momen nicht mehr,-^) und das ÜberHeferte, so schwierig es aussieht, muß
■ und kann hinlänglich erklärt werden : weil der Iambus der schnelle Fuß
ist, „deshalb hat er auch gewollt {iussit), daß den jambischen Zeilen
{iambeis) der Name Trimeter anwachse" {trimetris durch Attraktion statt
trimetroriim), durch -welchen Namen nämlich zum Ausdruck gebracht
wird, daß die sechs Füße des Verses nm- drei Takte sind mit nur drei
Haupthebungen: also ein Schnellvers, ein Vers des jjes citus. In anderer
Fassung: pes iambicus, quia citus est, propterea iambeis accrescere iussit
nomen trimetrorum, quo scilicet nomine exprimitur senarium tarn citum esse
versum ut non nisi tres in elationibus ictus habeat.
Bei Lukrez steht V 1112:
nam facies multum valuit viresque vigebant.
') Vgl.G.LoDGE,LexiconPlautianum, j Dazu nützlich E. Mayser, Grammatik der
Auch - ein Vocabularium iurisprudentiae
Romanae hat zu erscheinen begonnen.
2) Siehe oben S. 65.
3) z. B. A. Dbissmann, Bibelstudien,
Marburg 1895 und Neue Bibelstudien 1897 ;
„Licht von Osten", Tübingen 1908.
grie eh. Papyri aus derPtolemäerzeit, Leipz.
1906.
•') Dem Terentianus Maurus kann man
es eher zusprechen : Ries, De Terent. Mauri
aetate S. 33.
1
IL Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 67
Daß Lachmann hier statt vigebant^ das schon im Vers 1107 sich findet,
vigorque schrieb, bleibt bedenklich, da das Wort vigor im Latein erst bei
Vergil und Livius auftaucht. Besser Faber vigentes. In Plautus' Mil.
glor. 8 heißt es vom Schwert, mit Korruptel:
quae misere gcstit* f rat rem facere ex hostibus.
Es ist wiederum verfehlt, wenn hier die Editoren stragem einsetzen. Denn
strages ist kein plautinisches Wort und dem Altlatein fremd. Wahrschein-
licher ist fartim (oder farfitm) zu lesen, i) Mit gleichem Unrecht duldet
man bei Aristophanes Acham. 3 jenes ipaiijmaxooioydQyaQa, wo, wie man
sieht, mit i^'ajujuaxöoio- ein Zahlwort imitiert wird. Aristophanes (und
die Komödie) kennt jedoch Kardinalzahlen als ersten Bestandteil von
Komposita gar nicht, und nach deutlichen Spuren der Überlieferung
selbst ist A^ielmehr ym/ijnax6oia ydgyaQa getrennt zu drucken. Ebendort
im Vers 4 wird gefragt: (peg' l'da) ri Ö' fjo&rjv; Hier gibt das winzige (5'
Anstoß, das bei Aristophanes auf ein (peg' idco sonst nie folgt, also zu
tilgen ist. Wir müssen uns darum wohl entschließen, drj zu lesen, das
lüer Synaloephe resp. Krasis erfuhr, eine nicht unzulässige Annahme. 2)
Mit Unrecht wird dagegen Acharn. 197 em ^= ejieoTi vermutet. Ein solches
em ist nur homerisch. 3)
Besonders grausam ist die neuere Kritik mit dem spätgriechischen Musaeu»
Dichter M US aeus und seiner schönen Erzählung vonHero und Leander um-
gegangen. Seitdem feststeht, daß dieser Musaeus nicht nur im Metrischen
Nonnianer ist, sondern auch phraseologisch aus Nonnos sehr vieles her-
übemahm, kapriziert man sich darauf, überall, avo er einmal von seinem
Vorbild sich abzuweichen erlaubt, den Text zu ändern und eine direkt
aus Nonnos bezogene Wendung einzuflicken, als ob Nonnos gradezu der
Verfasser des Gedichtes Aväre oder zwei Dichter gradezu als identische
Personen behandelt werden düi-ften. Schon Dilthey, besonders aber
L. Schwabe hat dies schematische Verfahren übertrieben. Wir brauchen
eine Neuausgabe*) und einen gereinigten echten Musaeustext, der getreuer
den Zeugnissen der Handschriften folgt. Im Vers 18 heißt es z. B.
von Eros:
eva ^vvETjxsv oiorov
t]i&eov (pks^ag xal Jiaodevcn',
wo ^vverjxev „nicht nonnisch", ja, ein ganz neugeprägtes Wort ist. Musaeus
hat, weil er dessen bedurfte, sich gestattet, dies Wort im Sinne von
„simul misit" neu zu prägen ; d. h. Eros schickte „gleichzeitig" den einen
Pfeil gegen Hero und gegen Leander; wobei das ^vv die Gleichzeitig-
keit ganz ebenso ausdrückt, wie wir im Vers 14 desselben Gedichtes
lesen: fjLiav ovvdeiöe teXevxiqv. Auch hier drückt das ovv das Gleichzeitige
aus: besinge zugleich den einen Tod von zweien. Daher ist im Vers 17
für das koirupte ävä xo^a rnaivMv auch, wie ich nicht zweifle, äjua rdl«
Tiraivojv herzustellen. Femer ist dem Musaeus zu belassen Vers 145 ÖQxia
*) Siehe Rhein. Mus. Bd. 52 Supplem. '^) Siehe H. Weber, Aristophanische
S. 184. Dies war auch Lambins Vor- Studien 1908 S. 5 f.
schJag, der auf des Turnebus Hs. zuriTck- ^) ibid. S. 59.
gehen könnte. j *) Ludwich hat sie uns versprochen.
5*
ßg Kritik und Hermeneutik.
mard, 193 und 315 rjxVf l'^ß ot juoi, 101 sWu^ev öjicojidg, so im Aorist,
weil nämlich im Yers 105 äjiexgvipev ömojtrjv entspricht, u. a. m. Alles
das ist „nicht nonnisch", aber es schützt sich gegenseitig. So gehört
auch das (pdro juv^ov Yers 73 dem Musaeus, aber es ist dem Nonnos
fremd; ebenso Yers 11 ovvegn^og, 14 all' äye, 21 jiroUedgov, 22 jieQixal-
Xeeg, 26 ährjxV'^^ 27 elohi Jiov, 30 dioTQe(peg aljua, 70 öjuodejuviog. Wenn
man in all diesen Fällen nichts ändert, Avarum in den vorherigen? Ja,
auch metrisch geht Musaeus gelegentlich seinen eigenen Weg; er duldet
den Hiat im Yers 38 und schreibt Yers 41 dAA' ovo' Sg, dazu ro tiqwxov
Yers 243 u. a. Der Philologe soll die Autoren nicht gleichmachen, son-
dern unterscheiden lernen,
vergii Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem Text desYergil. Er ist
durch alte Membranen und durch Grammatikerzeugnisse so sicher gestellt,
daß man sich zehnmal besinnen muß, bevor man etAvas an ihm ändert.
Hier seien ein paar Stellen aus diesem Dichter kurz vorgeführt, an denen
mit Unrecht die handschriftliche Überlieferung A^on unseren Editoren
preisgegeben Avird, Aveil sie das Sprachliche meines Erachtens nicht richtig
aufgefaßt haben. Aen. I 667 f. sagt Yenus zu Amor:
frater ut Aeneas pelago tuus omnia circum
litora iacteturque odiis Iiinonis acerbae,
nota tibi.
Man tilgt das que, das A^on allen alten Hss., auch A^on Nonius, auch von
SerAius bezeugt Avird. SerA^ius bemerkte kritisch: vacat que, d. h. das
que ist hier überflüssig. Aber es stand auch für ihn da, und es ist auch
selbstverständlich richtig. Es ist nur ein nicht ganz ungeAvöhnliches Hyper-
baton eingetreten. Aeneas Avird vom Meer, pelago, „und" A^om Haß der
Juno umgetrieben: pelago iactatur odiisque lunonis. Wer für diese Inversion
des que Beispiele braucht, findet sie bei E. Herr, De Aetnae carm. sermone
S. 8 ff., z. B. Horaz Sat. II 3, 157 furtis pereamque rapinis statt furtis rapi-
nisqiie peream. So auch hier: pelago iacteturque odiis.
Anders luid scliAV'ieriger steht es mit dem gleichfalls sicher be-
zeugten que bei Yergil, Aen. 6, 254, das zu gcAvaltsameren Eingriffen
den Anlaß gab:
tum Stj^gio regi nocturnas incohat aras
et solida imponit taurorum viscera flammis
pingue superque oleum fundens,
Avo Wagner superne statt superque, Ribbeck gar eine Lücke ansetzte.
Dagegen halte ich grade dieses que für besonders AvertA^oU. Es steht hier
einer der seltenen Belege vor uns für den Gebrauch des que, den AA^ir
aus hodieque kennen; que steht einfach für quoque. So schon meque für
me quoque bei Catull 102, 3; minder sicher das vosque Catull 31, 13; aber
auch, Avas Avir in der Maecenaselegie I 8 antreffen:
non oblita tarnen sed repetitque senes,
erklärt sich nur so. Auch hier ist que = quoque, Avie Middendorf erkannte, i)
') Julius Middendorf, Elegiae in 1 abundierendes qiie auch Skutsch, Glotta
Maecenatem, Marburg 1912, S.24f. Ueber I III S. 352.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 69
Viel zwingender scheint bei Yergil Aen. 12, 541:
nee misero clipei mora profuit aeris
die Änderung aerei für aens\ man vergleiche z. B. Aen. 7, 609. Aber es
mnß doch auffallen, daß Silius Italicus 5, 319 mit aerisque moras die voi^
liegende Yergilstelle nachahmt. Auch mißfiele in clipei aerei die gleiche
Tennination in beiden Worten. Wir dürfen also vielleicht aeris als Appo-
sition zu clipei fassen; vgl. Aen. 5, 359 clipenm Didymaonis artes. Denn
nes ist y,Schutzwaffe" ; vgl. das aes triplex des Horaz u. a. Und wieder
geben die Maecenaselegien eine treffende Analogie, die I 37 in den Worten
marmora Maeonii vincent monumenta libelli,
marmora statt marmorea als Apposition zu monumenta bieten; weitere
Analogien sind von Middendorf zusammengestellt, i)
8. Metrisch-Prosodisches; Rhythmik der Prosarede.
Wer Dichter interpretieren wdll, muß auch die Verstechnik, deren sie
sich bedienen, beurteilen können, und er ist auf das Studium der Metrik
zu verweisen. An dieser Stelle muß ich mich begnügen, ein paar Hin-
weise zu geben.
Wer sich mit den Resten der Epen des Livius Andronicus und des Dreisciiritt
Naevius befaßt, muß den alten Bauern vers der Römer, den ver'sus satumier
Saturnius, skandieren können, für den man als Mustervers:
Malüm dabunt Metelli | Naevio poetae
anzuführen pflegt. Der Vers hat sechs Hebungen, wie der Hexameter; ist
auch keine metrische Einheit, sondern zerfällt in zwei Kola. Es gilt dabei
von der Theorie, Avonach der Saturnier aus einem prähistorischen Acht-
lieber herv^orgegangen sein soll, gründlich abzusehen. Denn Avir wissen,
daß die römischen Ackerbrüder ihn im Dreischritt stampften, tripoda-
vernnt; die Dreihebigkeit jedes Kolons gehört also zum Wesen des Verses. '^)
Ebenso steht es nun aber auch mit den Galliamben, deren Schema Dreischritt
der Vers gibt: Gaiii^bus
Super alta vectus Attis i celeri rate maria.
Auch dies ist ein Stiches zu zwei Kola, welche Kola man als jonische
Dimeter betrachtet, da das vorliegende Schema des ersten der beiden
Kola 1. ^^--^-.^-^ auf die Grundform 2. ^^-^ — -^^--, die
dasselbe Quantum von Silben in anderer Gruppierung enthält, zurück-
geführt wird. Trotzdem steht fest, daß auch dies Kolon im Dreischritt
getanzt Avm-de ; denn der Attis des Catull 63, 26 redet ausdrücldich von den
tripudia, die er ausführt. Der Tänzer hat hier also nicht etwa einen zweimal ,
sechszeitigen Zweitakt oder jonischen Dimeter, d. h. zwei jonische Metra
lierausgehört, sondern die Form 1 war die herrschende Form und die
Form 2 nur eine gelegentliche anaklastische Umbildung, bei der sich
gleichwohl, wie wir das von unserem Walzer wissen, der Dreischritt bei-
behalten ließ. Es ist also, wie dies Catullzeugnis ergibt, verkehrt, d. h.
eine Umkehrung des Tatsächlichen, wenn man mit den Metrikern des
Altertums die Galliamben aus dem jonischen Fuß ^ ^ - - ableitet. Man
') a. a. O. S. 38. I nio, Marburg 1909, S. 55 f.
2) Vgl. H. Bergfeld, De versu Satur-
70 Kritik und Hermeneutik.
Jonicus tanze einmal zwei Joniker als Tripudimn und sehe, was dabei heraus-
sekundar j^^j^-^j^^^^ j^qj. qy^j^q Halbvers War in Praxi vielmehr ein katalektischer
jambischer Dimeter, dreihebig und mit obligatem Pyrrhichius im Auftakt,
Avelcher Dimeter nur gelegentlich in reizvoller Weise in den „jonischen"
Dimeter mnschlug. Zu Recht besteht also, wie Catull bezeugt, die Be-
zeiclinung gallischer Jamben, GaUiamhi, die die jambische Skansion durch-
aus voraussetzt und die schon Martial 2, 86, 5 kennt (vgl. Quintilian 9, 4, 6).
Ebenso ist dann aber auch der Sotadeus ein trochäischer Vers. Der
r jonische Fuß ist überall, wo er nicht in Systemen auftritt, das Sekun-
däre, nicht das Primäre. Er ist ein Popanz, der uns foppt; man hat diesen
Versfuß, und zAvar schon früh, auch dem Glykoneus, auch den Daktylo-
Epitriten zugrunde gelegt. Aber nirgends ist das Silbenschema -. - _ _
oder ^ ^ in obligater Wiederholung, d. h. so, daß es den Silbenfall
des Verses bestimmend beeinflußt, vorhanden. Auch der erste Urglykoneus
hat ihn so nicht gezeigt. Der Gh'koneus ist also von den Dichtern keines-
wegs aus dem Jonikus, sondern der Jonikus ist nachträglich von den Theo-
retikern aus dem Gl3'koneus und auch noch aus anderen Taktreihen ab-
geleitet worden: eine Theorie, die uns nicht ernstlicher beschäftigen sollte,
weil sie in Wirklichkeit nichts erklärt.
Satumier Der Satur nie r aber Avar bcsondcrs vielgestaltig, ein Poly Schematismus,
der ein einheitlich herrschendes Gesetz schwer erkennen läßt. Besonders
bemerkensAvert und lehn^eich ist, daß der Vers auch kurze Schlußsilben
in Hebung zuläßt, Avie z. B.:
honos famfi A'irtüsque glöria atque ingenium.
Hexameter, Wer sodauu einen Hexameter AA'ie:
Mfjvir aeiös 'dga IlijXtjiddsoj 'A/jÄtjog
liest, AAdrd sich darüber unterrichten, AAde der Hiat zwischen den ZAvei
letzten Wörtern sich erklärt, der oftmals durch den Verlust eines an-
lautenden HalbA'okals (Digamma) entstand, oft aber auch eben nichts
weiter als Licenz ist, A^ergleichbar der Langmessung kurzer Silben in
Hebung: das Hinzutreten einer leeren Mora. Grade vor Eigennamen i)
und nach der Hebung (aa^c hier vor ^A/jlrjog) AA^ar solcher Hiat beliebt.
Doch gibt uns Homer auch al de xe ey§a, i^ojov fjiev oe e'ksmov, d. h. Hiat
in der Senkung und A^or der Hebung. Verlorenes Digamma aber deckte
bei Homer nicht nur den offenen Zusammenstoß der Vokale, sondern
machte auch Position" daher nicht nur £ 106 rcbv ävögcov o'i äojv, wo
äoTv = FdoTv, sondern auch W 298 [jLeya ydg oi eöcoxev, aa'^o ol = Foi.'^)
Cäsuren Es gilt jcdocli im liomerisclien Vorsc auch auf die Cäsur zu achten,
durch die er, aa^c der Saturnius, in zwei Kola zerlegt AA'ird. Denn auch
der Hexameter ist kein Kolon, sondern ein orixog, d. h. eine zAA'eigiiedrige
Periode. Tatsächlich zerfällt er ganz vorAAdegend in ZAA^ei Kola, und die
Cäsur im dritten Fuß ist daher unerläßlich. Nur zur Beseitigung der
Monotonie AA'erden solche scheinbar dreigliedrige Verse wie:
ovx äyadov :i:olvxoioa virj, slg xoioavog sorco
1) Siehe Der Hiat beiPlautus S. 328 ff. : tel, Homerisclie Studien (Ber. der Wiener
2) Genaueres gibt u. a. C. J. A. Hoff- j Akad.Bd.76u.78). üebersichtlich Kühner-
mann, Quaestiones Homericae ; bes. Har- Blass, Ausfuhr!, Grammatik I S. 190 ff.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 71
eingestreut, in welchen im Stil der älteren Verskunst die beiden Kola
durch Synapliie, die ja auch bei andern Fußgeschlechtem zulässig war,
verbunden sind. Daneben steht eine Zerlegung des Hexameters in Tetra-
])odie und Dipodie mit Hilfe der sog. bukolischen Cäsur. Doch gibt in
diesem Falle die Tetrapodie den obligaten und also wesentlichen Ein-
schnitt im dritten Fuß nicht auf.
Während der lateinische Hexameter aus Gründen der Woi*tbetonungi)
die sog. männlichen Einschnitte, also die Penthemimeres im dritten Fuß
durchaus bevorzugt, wie nach Arma virumque cano, ist dagegen im Grie-
chischen vielmehr der Einschnitt „nach dem dritten Trochäus", der hinter
(h'dga jnoi ewene Movoa einschneidet, der eigentlich naturgemäße, und nur
aus dem Triebe nach Abwechselung wurde er oft um eine More ver-
schoben, Avie auch die erste Hälfte des versus Satumius bald mit der
Senkung, wie in consöl censör aidilis^ bald mit der Hebung, wie in hec
cepit C6rsicd{fn), endet. Daher also auch jenes Kolon jnfjviv äeide §ed neben
dem volleren eVi!^' äXkoi juev ndvxeg.
Auch auf die Gesetze der Wortstellung im epischen Yers gilt es acht Gram-
zu geben, die besonders das Substantiv mit seinem Epitheton anbetreffen. Reim
Ich denke an Fälle wie Odyssee a 207:
ei Si] i§ avxoTo zooog Jidig elg 'Odvofjog.
Hier sehen wir Substantiv und Epitheton, 'OSvofjog und avxoio, auf die
beiden Stellen, die die Kola abschließen, verteilt, wofür mir der Ausdruck
„grammatischer Reim" geeig-net scheint. Homer hat diesen grammatischen
Reim noch selten, häufiger wird er schon bei Callimachus und Theokrit,
ganz obligat für die römischen Dichter seit Catull, nach Art des Verses:
Cj'nthia prima suis miserum me cepit ocellis,
und herrscht seitdem bis zu Nonnos' Zeit als ein charakteristischer Schmuck
d-er epischen Zeile. 2) Aber nicht nur als ein Schmuck; es zeigt sich
darin zugleich, wie bewußt den Dichtern die Gliederung des Verses war,
dessen Organismus in zwei ungefähr gleiche Teile zerfiel. Es galt, die
Teile des Hexameters durch Klang und grammatische Struktur sinnfällig
und logisch zusammenzubinden.
Dies wird weiter durch die Analogie des Pentameters bestätigt, dessen
beide Hälften gleichfalls und in noch augenfälligerer Weise durch den
grammatischen Reim zusammengehalten zu werden pflegen.
Daß die Cäsur im Hexameter nicht selten einen Hiat zudeckt soAvie otfeno
Langmessung geschlossener kurzer Silben in Hebimg entschuldigt, ist be- in^Hebung
kannt genug und braucht nicht belegt zu werden. Selten dagegen ist
offene kurze Schlußsilbe imstande, eine Hebung zu füllen. Hierfür
kommen, wenn wir von der Kopula re und que in Hebung absehen, im
griechischen Epos die Dative auf i wie mokei in Betracht, deren gelängtes i
doch nie in Senkungen angetroffen wird; 3) dazu hymn. Homer. 1, 31 :
vtjoog X AXyiva vavatx?^m] z' Evßota.
Für das Latein gebe ich folgende Stellensammlung,*) und zwar aus dem
') Vgl. ad hexametr. lat. S. 7. | S. 229 ff.
2) a. a. O. S. 50 ff . *) Und zwar vollständiger als in meinem
2) W. Schulze, Quaestiones epicae [ Catalepton S. llOf. Auch Lac hmaxn, Lu-
72 Kritik und Hermeneutik.
Grunde, weil unsere Editoren auf diese Licenz immer noch zu wenig
acht geben und den Text, wo er völlig intakt ist, abändern; so neuer-
dings auch Vollmer in seiner Appendix Yergiliana.
Ennius Annal. 147: Et densis aquila pennis obnixa volabat.
Oarm. epigraph. 331, 3 ed. Bücheier (sortes): De incerto certa ne fiant si sapis caveas.
De vero falsa ne fiant iudice falso.
Plautusepigramm b. Gell. 1, 24: Scaena est deserta, dein risus ludus iocusque.
Catalepton 9, 60: Oynthius et Musa, Bacchus et Aglaie.
Vergil Aen. 3, 464: Dona dehinc auro gravia sectoque elephanto.
Vergil Aen. 12, 648: Sancta ad vos anima | atque istius inscia culpae.
Properz 2, 13, 25: Sat mea sit magna si tres sint pompa libelli.
Properz 2,29,39: Dixit et opposita propellens savia nostra.*)
Properz 4, 5, 64: Per tenues ossa sunt numerata cutes.
Tibull 1, 7, 61: Te canit agricola magna cum venerit urbe.
Ovid Amor. 3, 7, 55: Sed puto non blanda, non optima perdidit in me.
Ciris 189: Credere quam tanto scelere damnare puellam.*)
Maecenaselegie 1, 139: Nestoris annosa vicisses saecula si me.
Aetna 6: Seu tibi Dodona potior, tecumque faventes.
Martial Spect. 28, 10: Dive, id Caesarea praestitit unda tibi.
Juvenal 10, 54: Ergo supervacua (aut perniciosa petuntur).')
Maximian 1, 95: Nigra supercilia, frons libera, lumina clara.
(Properz 3, 11, 46: Iura dare statuas inter et arma Mari.)
Aus der Zeit Maximians und in der Anthologia latina finden sich übrigens
noch mehr Beispiele der gleichen Beschaffenheit.
Es betrifft diese Dehnung also vorzüglich den kurzen a- Vokal, und
dieselbe Licenz herrschte, wie wir S. 70 sahen, auch im Satumischen Verse
(z. B. auch Gnaivöd patr6 iirognaUis)\ ja, sie läßt sich ebenso auch bei
Plautus beobachten, der fac^ im Persa 398 vor dem Einschnitt als Jambus
setzt; vgl. auch Asin. 199; Cure. 602; Epid. 498; Men. 921; Pseud. 563.-*)
Um so sicherer ist an den mitgeteilten Schreibungen festzuhalten.
Meiische AVendcu wir uns hiernach zu den Chorgesängen der Tragödie und
zur meli sehen Dichtung überhaupt. In diesen Gesangsstücken gilt es
nicht nur die rhythmische Beschaffenheit der Kola selbst festzustellen,
ob wir synkopierte Trochäen, Dochmien oder fuxrd, Glykoneen oder
Enoplien u. s. f. vorfinden, sondern auch ein Verständnis dafür zu ge-
winnen, warmn innerhalb derselben Strophe sich grade Dochmien mit
Jamben und Cretici, warum sich Daktylen mit Epitriten vereinigen, und
ähnliches mehr. Bei der Betrachtung der Glykoneen, der Hendekasyllaben
oder gar der Daktylo-Epitriten erheben sich aber eine Fülle von Kontro-
versen, die die metrische Theorie angehen und hier natürlich keine irgend-
wie erschöpfende Erörterung finden können. Zur Umgestaltung und Be-
richtigung der metrischen Theorie haben neuerdings v. Wilamowitz, Leo
und 0. Schröder lebhafte Anregungen gegeben. Vieles von den Auf-
stellungen und Grundanschauungen 0. Schröders, wie er sie vornehmlich
in seinen „Vorarbeiten zur griechischen Versgeschichte" dargelegt hat,
Metren
krez S. 76 und E.BiCKEL in der „Einleitung i ^) Ciris 57 unsicher.
in die Altertumswissenschaft" I S. 242 ist | ^) Dieser Vers hat seine Analogie in
zu vergleichen. i der zitierten Vergilstelle 12, 648.
') Hier ist, wie man jetzt erkennt, ! *) Hierüber H. Jacobsohn, Quaestio-
nostra zu halten ; opposita geht auf Cynthia. | nes Plautinae, Göttingen 1904.
IL Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 73
läßt sich, wie ich überzeugt bin, nicht aufrecht erhalten. Meine prinzipiell
abweichende Auffassung kann ich indes nicht hier begründen und be-
gnüge mich, einige Tatsachen herauszugreifen und vorzuführen, die zu
beachten hat, wer Gedichte auslegt.
Im melischen Gedicht herrscht innerhalb einer sog. „Periode" strenge synapiüe
Synaphie, und die Glykoneen wachsen wie in
EvijTJToi', ^ive, zäade /m-
Qag i'xov za xodxiaza yäg ejiavka . . .
^afii^ovoa fiödior' drj-
6(bv xk<^Qcüg vjto ßäoaaig
gelegentlich ohne Worttrennung zusammen. Die äolische Lyrik ist darin
nicht so streng, insbesondere folgen die Hendekasyllabi in der sapphischen
und alcäischen Stroplie nicht diesem Gesetz, sondern lassen am Zeilen-
schluß Hiat und sj'llaba anceps zu. Dies erklärt sich z. T. daraus, daß sie
nicht Kolon, sondern Stichos sind, d. h. jeder alcäische Hendekasy Ilabus
besteht aus zwei Kola, die häufig sogar durch Cäsur v^oneinander getrennt
sind; doch ist dies letztere niclit notwendig. Es ist eine elementare Er- Alcäische
kenntnis, die aber mancher, wie ich bemerke, sich nicht l;)eAvußt hält, daß ^^^^ ^^
die alcäische Strophe sechsgiiedrig ist:
1. ov /QTj xdxocai
2. ^flOV SJllTQEJirjV
3. Jigoxorpofisv ydg
4. ovSkv dod/usvoi,
5. c5 Bvxxi, q:dQ,uaxov ö'äoioxov
6. olvov evsiHafxivoiQ fxedvodrjv.
Die kunstvolle und doch so klare Harmonie in der Gruppierung und Aus-
dehnung dieser sechs Kola Avahrzunehmen, ist ein Genuß. Kolon 1, 3
und 5 sind jambisch, Kolon 2, 4 und 6 sind juixrd, und zwar solche juixrd,
die gleicherweise mit dem Daktylus anheben. Kolon 5^— ^--^--^ --
ist nur die Erweiterung und Steigerung des ersten Kolons ^ - .^ - ^ ,
Kolon 6— v^--^--^--ist nur die Erweiterung und Steigerung
des zweiten -. w ^ _ v^ _ . Daher hebt Kolon 5 wie 1 mit Auftakt, Kolon 6
dagegen wie 2 mit der Hebung an. Endlich enthalten Kolon 1 und 3
zusammengenommen ungefähr so viel Zeiten, wie Kolon 5 für sich
allein, Kolon 2 und 4 zusammen ungefähr so Adel Zeiten Avie Kolon 6
allein ; mit anderen Worten : die beiden Sclilußzeilen sind die gesteigerte
Repetition der ersten beiden, das c5 Byx^i (pdgjuaxoy d'ägioTov olvov
iveixcijuevoig jue§voür]v rhythmisch die Dublierung des ov xQh ^<i^oioi
^vjuov emTQejzrjv, und diese Proportionen im Aufbau des Ganzen wirken
auf das Gefühl des Lesenden Avunderbar Avohltuend, ob man sie be-
wußt wahrnimmt oder nicht und ob man Alcäus selbst oder Horaz oder
Hölderlin liest.
Besonders uneingeschränkt gilt das Gesagte A^on Horaz und seiner
alcäischen Strophe. Wer auch bei Horaz den alcäischen Elfsilbner mit
der üblichen Silbenscliiebung aus dem jonischen Schema ableitet, lehrt
uns dadurch den Dichter und seine Versifikation goAA^ß nicht ver-
stehen. Horaz zeigt vielmehr durch seine strengen Cäsuren an, daß
er die Strophe tatsächlich nur in der oben angegebenen Einteilung
74
Kritik und Hermeneutik.
Catull
Daktylo-
Epitriton
rhythmisiei-t hat. Das ist so klar, wie wenn man eine Melodie von den
Noten abliest.
Ebenso steht es auch mit dem Asclepiadeus. Die strenge Durch-
führung der Mittelcäsur im Asclepiadeus zeigt unerbittlich an, daß Horaz
die Ableitung desselben aus dem Jonikus, wenn er sie überhaupt kannte,
schroff abgelehnt hat — denn bei solcher Ableitung war der Einschnitt
sinnlos — und daß er den Vers vielmehr als eine Variation des dakty-
lischen Pentameters aufgefaßt wissen wollte. Jeder Dichter bestimmt
das Wesen seines Verses durch die Cäsur.
Der Dekasyllabus, mit dem die alcäische Strophe abschließt, hat
übrigens auch noch sonst als Strophenabschluß gedient; so im triadischen
Strophenbau des Alkman:
TWV VJTOJieXQtdlCOV ÖVSIQCOV.
Auffällig ist das Verhalten Catulls. Daß Catull, wo er Glykoneen
und Pherekrateen verbindet, nämlich in den Gedichten 34 und 61, und
so auch in der Mittelstelle des Priapeus in c. 17 jeden Hiat und syllaba
anceps meidet, beruht auf alter Tradition. Aber er übertrug dies auch
auf die sapphische Strophe, c. 51 und 11, während Sappho selbst und
ebenso hernach Horaz in der sapphischen Strophe von der Synaphie ab-
sah. Ihn muß eine Theorie beeinflußt haben, die sonst, soviel ich weiß,
keine Spinaen hinterlassen hat.
An das Gesagte schließt sich die Beobachtung der Daktylo-Epi-
triten, deren epitritisches Glied vorzugsweise ein fünf silbiges Schema
zeigt: — - ^ , naturgemäß an. Als Beispiel diene der Sophoklesvers,
Ajax 175:
WQfiaos Tiavbd | fwvg im ßovg äyelaiag.
Die Pindarscholien zeigen uns, daß es im Altertum Grammatiker gab,
die solche Zeilen vom Joniker ableiten Avollten. Dagegen steht fest und
ist insbesondere von F. Leo^) überzeugend dargelegt, daß die Tragiker
von dieser Auffassung gar nichts gewußt haben können. Es ist aber
unmöglich, daß ein so großer Musiker wie Sophokles sich über die rhyth-
mische Behandlung und Auffassung seiner Versmaße im unklaren soUte
befunden haben. Also haben wir zu fragen, wie wir die zitierte Zeile
als Interpreten des Sophokles im Sinne des Sophokles beurteilen soUen.
Und da liegt es am nächsten, sie als eine Amplifikation des alcäischen
Hendekasyllabus aufzufassen; denn die fünf silbige Gruppe djg^uaos jiavdd-
kommt dem ersten Gliede jenes Hendekasyllabus gleich, und das ist das
Wichtigste; die Dakt^den -//ovc enl ßövg äyeXalag ersetzen dagegen das
zweite Glied. Man denke sich, daß die obige Zeile so verliefe:
ojQf^taos Jiavöd^uovg em ßovg rgexcov,
und die Verwandtschaft springt in die Augen. Die Zeile hebt also mit
einer jambischen Penthemimeres an, deren erste und diitte Senkung stets
als Länge behandelt werden; und diese durchgängige Beschwerung der
beiden Senkungen hat nichts Auffälliges ; denn dasselbe Verfahren Avurde
») Neue Jahrbb. IX (1902) S. 158 f.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 75
hernach ja auch auf den alcäischen Hendekasyllabus selbst, von dem wir
ausgingen, übertragen:
lustum et tenacem ] propositi virum,
und es war ohne Frage die Lehre griechischer Musiktheoretiker, die den
Horaz zu diesem Verfahren, das mit dem des Sophokles übereinstimmt,
zwang. AVeshalb aber Sophokles und die sonstigen älteren griecliischen
Meliker ihrerseits in ihren Daktylo-Epitriten das Schema der Penthemimeres
^ - - - -> in die Form _ _ ^ _ _ umwandelten, erklärt sich gleichfalls
leicht; denn wir wissen, daß den Daktylo-Epitriten der hesychastische
Charakter, d. h. die beruliigte Stimmung zukam, die in langsamerem Tempo
gemäclilich oder auch gravitätisch einhergeht. Dieser Charakter wurde
eben durch die beschwerten Senkungen zum Ausdruck gebracht; er wurde
durch sie erzwungen.
Wenden wir uns zum jambischen Trimeter. Er herrscht im Dialog Trimeter
der Tragödie. In diesem Dialog den Jambus ^ - in drei Kürzen ^ ^ w
aufzulösen oder gar durch den Anapäst ----- zu ersetzen, sind Freiheiten,
die die starrere Kunst des Aeschylus noch selten zuließ; Euripides ist
darin der Freieste, am freiesten in seinem Kyklops, weil dies Satyrspiel
der Komödie am nächsten steht.
Denn die Komödie war es, die es vornehmlich, liebte, die Sprache in der
im Gehege des Verses fast übermütig frei sich ergehen zu lassen und ^^^
das eintönige „kui'z lang, kurz lang" möglichst zu umgehen. Wir können
ganz Avohl damit die Variabilität unseres deutschen Knittelverses vergleichen,
der ^^ie ein Vagabund einherschlendert, gelegentlich sich aber auch zu
feierlichem Ausdruck raffen kann. Daher wurde der Dialog der Komödie
von den Alten selbst gradezu mit der Prosa, der oratio soluta, gleich-
gesetzt, i) Wer indes genauer zusieht, nimmt wahr, daß der lose Fall der
Silben im Trimeter des Aristophanes, wie der folgende:
dl' vÖQOQOoag ßogeav emxr}or]oag [iiyav
und aberhunderte andere ihn zeigen, keineswegs aus Flüchtigkeit der
Arbeit sich erlclärt; \'ielmehr waltet bei ihm die feinste Nüancierung; der
scheinbare Mangel an Kunst ist vielmehr der Gipfel der Kunst, und je
nach der Stimmung, die er ausdrückt, wechselt und schillert die Be-
schaffenheit dieses Verses. Die „komischen" Trimeter mit Anapäst und
Tribrachys sind bei Aristophanes nur just ebenso häufig Avie die „tragi-
schen" und wie die streng tragischen, die indissoluti, die überhaupt jeder
Auflösung einer Länge entbehren. Die letzteren benutzt Aristophanes
entweder zu malerischen Zwecken, wie der rein jambische Vers Acharn. 203:
eyoj de (psv^Of^ai ye xovg 'A/agveag
eine Szene abschüeßt, indem der Sprecher davonrennt, 2) oder da, wo er
feierlich redet oder doch den tragischen Sprechton parodiert. Man be-
trachte nur z. B. die Stelle Acharn. 885 ff., wo Dikäopolis glücklich den
böotischen Aal erhandelt hat:
885 CO (fiXxdzr) av xai tioJmi jio&oi'fisvr],
ij?Meg Tio&Eivi] fi€v zgvycpöixwg x^Q^^>
*) Vgl. Cicero Orator 67. j ') lieber diesen Vers oben S. 25.
76 Kritik und Hermeneutik.
(piXrj de Mogv^co' öfxweg, i^eveyxars
Ttjv ioxdgav [xoi öevqo xai rrjv gaiida.
axexpaoße Jiaideg xrjv aQiozTjv k'y/skvv,
890 rjxovoav exrcp f^iöXig erst Jio&ovfievtjv.
JiQOoeiTTax' avTTjv cb xexv , ävdgaxag 8' eyo)
vfMV Jiage^co rfjgös xrjg ^ivrjg xdQ'^^-
aU.' €aq?sg' avxtjv firjde yäg ßavcov jtoxs
aov jfWßfV el'fjv ivxexsvxhcofj£vr]g.
In diesen zehn Versen, die eine scherzhafte Feierlichkeit zur Schau tragen,
sind überhaupt nur zwei Auflösungen. Auf das sog. Porsonsche Gesetz
wird dabei aber nicht Rücksicht genommen (s. v. 889). Noch feierlicher
die Verse, die dem Ritus dienen, Ach. 258 f. :
CO Eav&la, ocptov ö' ioxiv ogd^og exxeog
6 (poJlog i^omo&s xfjg xavrjcpogov
u. a. m. Viele Beobachtungen der Art hat R. Klaueri) gesammelt. Und
dies setzte sich in der neueren Komödie und bei Menander fort, ja, auch
bei Plautus. Auch Plautus baut z. B. da, wo er drohen, wo er schwören
läßt, w^o er besonders Gewichtiges vorträgi, wo er eine Szene eröffnet
oder schließt, ungemein oft so reine Verse wie Mercator 272 f. :
Profecto ego illum hircum castrari volo
Ruri qui nobis exhibet negotium.
Die Mitteilung über einen Todesfall lautet Men. 36:
Paucis diebus post Tarenti emörtuost. ^
Die Asinaria fängt an, Vers 1:
Sicüt tuom vis ünicum gnatum tuae
und schließt (trochäisch) Vers 946 f. :
Nunc si voltis deprecari huic seni ne väpulet
Remur impeträri posse plausum si clarüm datis.
In p^leicher Weise schließt eine Szene in der Casina Vers 351 f. u.s.f. u.s.f.
Ungefähr ein Drittel aller Senare des Plautus sind frei von Auflösungen
und Anapästen. 2)
Meidung Docli icli lassc das Metrische jetzt hinter mir. Die Dichter haben
nicht nur ihre Verse sorgfältig gemessen, sie haben auch auf Euphonie
des Silbenklangs acht gegeben. Dem Wolilklang diente vor allem das
Homoeoteleuton innerhalb des Stiches oder der grammatische Reim, über
den ich S. 71 gesprochen. Vermieden Avurde dagegen der Reim, der
unsere moderne Poesie beherrscht, gleichlautende Abschlüsse zweier be-
nachbarter ^ilen. Wenn Catull c. 57 schreibt:
Pulchre convenit improbis cinaedis
Mamurrae pathicoque Caesarique.
Nee mirum: maeulae pares utrisque,
SO könnte man sich w^undem, weshalb er hier nicht iitrique schrieb. Er
tat es nicht, weil utrique auf Caesarique gereimt hätte.
Alliteration Zur Euphonio gchöit ferner das Parhomoeon, die Alliteration, die wir
bei den Griechen nicht selten, energischer aber bei den Römern die Wörter
im Verse aneinander binden sehen, und zwar von Plautus bis zu Claudian
^) De Aristophanis trimetrorum com- j riorum iambicorum compositione artificio-
positione artificiosiore, Marburg 1905. i siore, Marburg 1910.
2) Vgl. 0. Wengatz, De Plauti sena- |
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung.
77
und weiter. Es ist dies dieselbe Alliteration, die auch im Sprichwort
blühte wie fabriim caedere cum ferias fullonem, und in Redensarten wie
gerrae germanae, xaieiv xai xotiteiv, tempus terere.^) Für die Alliteration
im Yerse geben die alten Grammatiker den schrecklichen Mustervers:
Machina multa minax molitur maxima muris
(Diomedes p. 447, 3 K.). Herrlich dagegen Naevius:
Libera lingua loquemur ludis Liberalibus.
Das ist AVucht und Energie und frisches Leben. Besonders gern tritt
die AUiteration in der zweiten Hälfte des Hexameters auf, ist häufiger
bei den älteren römischen Dichtern (Ennius und Plautus) als bei den
späteren (wie Lucan) und auch schon im alten Saturnier anzutreffen.
Neben dem Parhomoion, das nur den Anfangsbuchstaben betrifft, steht Parechese
das vollere imd wirkungsvollere Parhomoion oder die Parechese, die durch
Wiederholung ganzer Anfangssilben die Begriffe bindet, Avie in dem super-
bus et superfluens des Catull 29, 6; impudice et improhande in Yergils
Catal. 13, 9, eine Parechese, die ins Lachhafte gezogen wird in dem Epi-
gi*amm, Anthol. Pal. 6, 217:
2(boog xai Scoaco ocoi/jQta torö' ävedtjxav,
2(x)oog fiev ocoßsig, 2!cooa) d' ori Hwoog eoMÜrj.
Homer hat das so rätselhafte Adverb djirjhyecog, zu dem es kein Adjektiv
gleicher Stammform gibt, nui* gebildet, um es mit äjioeijiev zu verbinden;
denn es kommt nur in dieser Verbindung vor. Auch dies hat der Trieb
zm- Parechese bewirkt.
Ganze Kommata oder Wortgruppen aber werden durch die Anapher
gebunden, und sie wird bei den Dichtern aus ihrer schhchteren Form
zur Klanganapher entwickelt. Die Klanganapher ist als Yersschmuck zu-
erst von den Alexandrinern, besonders in den Hirtengedichten des Theokrit
und seiner Nachfolger ausgebildet, 2) dann von Catull und seinen Freunden,
demnächst von Yergil bei den Römern zur Herrschaft gebracht worden.
Ich meine Formationen wie:
Bion 1, 77: gatve de fj,iv ^vqioioiv aXsiq?aoi, gaive /.wgoioiv.
Moschos 4, 1: rJQaro IJav 'Axöjg rag ysixovog, tJQaro ö'A^rd).
Philodem, Anthol. Pal. 5, 24: old' ort jiäo xgrj/nvov rs^uvco jiogov, oid' ozi qijitu).
Und so
Tibull 1,4, 17: Longa dies homini docuit parere leones.
Longa dies molli saxa peredit aqua.
Properz 1, 1, 29: Feite per extremas gentes et feite pei undas.
Maitial 3, 89: Uteie lactucis et mollibus uteie mal vis.
Piopeiz 2, 3, 44: Uiet et eoos, uiet et hespeiios,
eine Anapher mehrsilbiger und sinntragender Wörter, die den Yers in
Wohlklang wiegt. »)
Aber die Dichter lernten allmählich auch, daß es nicht schön ist, den Meidung
Vers mit lauter kleinen Wörtern anzufüllen. Man vergleiche Homer Wörter
mit Nonnos:
Klang-
anaphe
^) Reiche Sammlungen bei O. Keller,
Giammatische Aufsätze, Leipz. 1895; dazu
WöLFFLTX, Aichiv f. Lex. IX S. 567 f.,
XIII S. 584 und XIV S. 515 ff.
2) Auch in den neugefundenen Resten
des Callimachus tiitt sie heivoi.
^) Uebei die Entwicklung diesei Ep-
anaphoia und ihie veischiedenen Foimen
s.R.WÖBBEKiNG, De anaphoiae apud poetas
latinos usu, Maibuig 1910, bes. S. 48 ff.
78
Kritik und Hermeneutik.
Mono-
syllaba
Kako-
phonien
Sigmatis-
mus
Odvss. 19, 492 f. : rexvov sfiov ::ioi6v os k'jiog cfvysv SQXog odövrcor ...
£^o) 6' (hg öre xig oxeger] Xi&og rjh oiörjQog-
cilko 08 TOI EQEO), OV 6' EVI (pQEOt ßdkho oFjOCV.
Nonnos 25, 43 f. : ÜEQOEvg (bxvjiEddog ixov(pioE ovußoka vixrjg . . .
alfMxXEri Qo&dfuyyi xanxQQVta Xsixpava xoQorjg.
Solch homerischer Yers besteht aus 8 — 10, der des Nonnos nur aus
5 Wörtern; auch bemerke man, daß bei Nonnos im Vers 43 der Umfang
der einzelnen Wörter fast planvoll wechselt; denn dieser Yers ist in zwei
zweisilbige Wörter eingeschlossen, dazwischen steht ein fünf-, ein vier-
und ein dreisilbiges. Derartiges ist bei den Späten öfters wahrzunehmen.
Bei den Römern bildete noch Ennius solche Yerse wie:
Ann. 76: Ast hie quem nunc tu tarn torviter increpuisti.
Ann. 431 : Si luci, si nox, si mox, si iam data sit frux.
Ähnlich auch noch Lukrez:
2, 184: Nunc locus est ut opinor in liis illud quocjue rebus.
Wie anders schon Catull und dann Yergil! Sowohl die Arielen Ideinen
AVörter fallen in der entwickelteren Kunstdichtung Aveg als auch ein so
garstiger Yersschluß mit drei zweisilbigen Wörtern Avie ilhid quoque rebus
oder gar mit einem fünfsilbigen Wort wie increpuenmt.
Daher also die Flucht A^or einsilbigen Wörtern. Besonders Prä-
positionen AA^erden im Yerse unbeliebt; Formen A^on ose ausgelassen.
Yergil rückt freilich Monos^^llaba grade gern an die betonteste Stelle des
Hexameters, unmittelbar vor die Pentliemimeres, Avie:
Et pecudes secum et | monstrata pericviJa (hicat.
Es scheint, daß er, um AbAvechselung für das Ohr zu erzeugen, die Schärfe
der obligaten und immer Aviederkehrenden Cäsur in solchen Yersen hat
lindern Avollen. Aber seine Nachfolger haben dies mehr imd mehr ab-
geschafft, i)
Das Streben nach Wohlklang ist immer zugleich ein Yermeiden A'on
Kakophonien, die sich in der Gruppierung der Wörter nur zu leicht ein-
stellen. Yor allem vermied man jeden A^ersehentlichen Anldang an Un-
anständiges und Obszönes; daher Avird die Yerbindung cum nos und
cum nohis YQYp'6n.i, AA'Cil sie an cunnus anklang; 2) dies ist xaxejuq)aTov oder
aioxQoXoyia. Mit Recht tadelt SerAäus die Silbenfolge in Dorica castra bei
Yergil Aen. 2, 27 (u. 6, 88); daher gibt Aen. 2,462 der Codex F Achaia
castra. Überhaupt aber AAdrd gelehrt, ne ultima syllaba prioris verbi eadem
Sit quae prima posterioris (Rhetor. lat. min. ed. Halm p. 127).
Dazu kommt das Augenmerk, denselben Konsonanten an den Woi*t-
schlüssen nicht allzusehr zu häufen, das Yermeiden des Mytazismus und
des Polysigma.3) Das letztere nennen Avir auch Sigmatismus. Yergil
schrieb Aen. 9, 49:
Inprovisus adest, maculis quem Thracius albis,
wozu SerAdus anmerkt: huiusmodi versus pesslmi sunt. Dieser Yergih'ers
ist fast so schlimm Avie die in den Mäcenaselegien 1, 18 u. 27; 2, 33. In
1) Siehe O. Braum, De monosvllabis
ante caesuras hexametri latini collocatis,
Marburg 1906.
2) A^gl. Ehein. Mus. 51 S. 96 : F. Scholl,
Archiv f. Lex. II S. 124.
*) Vgl. Martianus ('apolla p. 474. -
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung.
79
der Tat sehen wir die Dichter dem gehäuften Schluß-s sonst möglichst
aus dem AVege gehen. i) So schrieb Sophokles im. Ajax 172:
rj gd OS Tat'oojiöXa Atog "Agistitg,
WO der Usus eigenthch Tavgojiokog verlangte; aber das Sigma störte.
s'fipulae pflegt bei den Dichtern sonst im Plural zu stehen. Man hat sich
deshalb gewundert,*) weshalb Lukrez 5, 606 segetes stipularnque videmus
imd Yergil Georg. 1, 85 :
Atque levem stipulam crepitantibus urere flammis
\orzog. Die Erklärung aber ist dui-ch das Gesagte gegeben. Ebendaher
( )vid Alet. 8, 538: imst cinerem cineres haudo^. Ebendaher Yergil Ecl. 3,1
rtfiion pecii.'i statt cuins peciis (s. Servius z. St.). Daher konnte auch Vergil
Aeu. 4,427 cinerem dem cineres vorziehen, w^ennschon er sonst den Singular
rfHcrcm nur vor Vokal braucht. Sicher erklärt sich so auch Aen. 3, 123:
Hoste vacare domum sedesque astare relictas,
^^•() Avir die Lesung domus ablehnen. Nicht anders 11, 464:
Duc, alt, et Rutulos: equitem Messapus in armis,-
so, equitem, nicht equitea. Endlich 10, 819:
Implevitque sinum sangiiis; tum vita per auras.
Auch liier haben wir keinen Anlaß, die Variante simis zu bevorzugen. »)
Es scheint, daß Horaz weniger empfindlich war, wenn er seine zweite
Ode mit lam satis ferris nivis atque dirae grandinis begann, vgl. auch
Od. 2, 18, 14, und an den Maiiris iaculis Od. 1, 22, 2 ist ganz gewiß nichts
zu ändern. Doch umging auch Horaz den Mißklang, avo er konnte, und Mytazis
schrieb Od. 1, 26, 1:
Musis amicus tristitiam et metus
Tradam protervis in mare Creticum
Portare ventis.
p]r mied hier den Mytazismus und schrieb nicht metum, wodurch über-
dies ein unliebsamer Reim entstanden wäre (vgl. oben S. 76).
Es ließe sich hier noch über manches andere reden, das uns den
Feinsinn der Dichter verrät, so z. B. darüber, daß im Hexameter zu
malerischem Zweck bald die Daktylen, bald die Spondeen gehäuft
wurden. Wenn der Dichter des Culex Vers 35 schrieb:
Mollia sed tenui pede currite carmina; versus,
so wollte er das tenui pede eurrere im Verse selbst malen. •^) Wie uns die
( )dyssee / 593 f. die Sisyi)husarbeit mit dem nämlichen KunstgTiff sinn-
fällig verdeutlicht, ist allgemein bekannt und schon von den Alten selbst
liervorgehoben worden. 0) Doch genug dieser Andeutungen. Es ist Zeit,
uns anderen Dingen zuzuwenden, und es folgt zunächst ein Wort über
Silbenmessung und Prosodie.
Wohl in keinem Punkt unterscheidet sich das Latein so auffällig vom veriinde-
Griecliischen wie in der Veränderung der Prosodie. Allerdings hat auch pr^go^ien
Male-
risches
^) Ueber Sigmatismus Lohkck, raiul.
diss. I i? 4.
2) P. Maas, Archiv f. Lex. 12 S. 518.
') Von M. Unterharnscheidt, De
veterum in Aeneide coniecturis, Münster
1911, 8. 38, nicht richtig beurteilt. lieber
l>iopeiz 2, 1), 44 oben S. 23.
4) Vgl. Do haliouticis S.48; Ad histo-
riam hexametri lat. S. 42.
^) Vgl. nochNoRDEX, Vergil, VI. Buch
S. 403; meine Olaudianansgabe S. CCXV.
8Q Kritik und Hermeneutik.
im Yulgärgriechisclieii (Koine) etwa seit dem Beginn der christlichen Ära
eine Verwirrung und Ausgleichung von Längen und Kürzen Boden ge-
wonnen, i) auf die Verskunst der Kunstdichter aber gewann dies keinen
Einfluß, und das (x> Homers blieb wandellos auch noch für Agathias eine
Länge. Wie anders das Latein! Nichts verrät die wuchtige Kraft des
Wortakzents im Latein, der sich vom Griechischen spezifisch unterschied,
so deutlich wie die Tatsache, daß Plautus noch cogor, cogär, cogät, cogeret,
venit (Perfect), fecens mißt, ebenso sustinet, iurät, ponebät, ebenso uxör,
stultiör u. s. f., und daß alle diese alten echten Längen in den Termina-
tionen im Lauf von hundert Jahren verloren gingen. Zunächst war es
das „Jambenkürzungsgesetz", das solche Entwertung der Endsilben Avie
in petö, volö, loqiiör brachte. Dies wirkte langsam dahin, daß die
augusteischen Dichter vereinzelt auch in nicht jambischen Wörtern wie
ergo, nemo, Naso, laudo, dixero, caedito das o kürzen, vor allem in nescio,
sobald es mit qiiis verwuchs. Dann folgen ambo, octö, bei Seneca sogar
auch die Gerundien laudandö vincendö.
Dies betraf aber nur die Endsilben. In anderen Silben wirkte um-
gekehrt die nachplautinische Zeit konservierend, und während Plautus
prokLitische Wörter wie ille, nempe, unde za Pjrrhichien kürzte, 2) stellte
liier die klassische Ära die echten Längen wieder her; auch in enimvero,
voluntatem, per annonam und ähnlichen Silbengruppen, die des Plautus
Zeit als lonici a minore behandelte, maß man später die unbetonte zweite
Silbe wieder sorglich als Länge. Der Hexameter erforderte (im Gegen-
satz zmn Bühnenverse) eine schärfere Meßkunst; er hat seit Ennius dieser
konservativen Tendenz zum Sieg verholfen.
Wie hernach im Spätlatein dennoch die Quantitäten entwertet wurden,
zeigt — mit Absehung von Commodian — vielleicht nichts so gut als
Cyprians Heptateuch.^) Es kommt darin die vulgäre Aussprache zum
Durchbruch, die für den Grammatiker wichtiger ist als alle Klassizität,
und wir brauchen daher für alle diese Spätlinge sorgliche Register ihrer
Verssünden. Besonders schlimm erging es auch den griechischen Lehn-
wörtern. Während in einigen Fällen der griechische Akzent dehnend
wirkte (so mißt schon Ovid Bi^Udtjg als Molossus ; in den Haheutica erhält
jtojLmlXog lange zweite Silbe, und Prudentius mißt gar chärisma, cyäneus),^)
so trägt umgekehrt der lateinische Akzent die Schuld, wenn uns seit dem
3. Jahrhundert heröes, Meander, enigmata, Lacedaemön, Daraus und ähn-
liche Kürzungen mehr begegnen. 0)
Zu dieser Entwicklung bietet nun aber auch das Griechische doch
eine gewisse Analogie in der Geschichte des griechischen Hexameters seit
der Ptolemäerzeit, für die einst G. Hermann in seinen Orphica die Grund-
lage schuf. Es regte sich doch auch liier der Einfluß des Gefülils, daß
gewisse unbetonte Längen nicht mehr imstande seien als volle Längen
') Thumb, Die griechische Sprache turmetris in Heptateuchum, Marburg 1892.
S. 143 u. 172. j ^) Vgl. auch A. Suxdermeyer, De re
2^ Dies habe ich gegen Skutsch er- metrica et rythm. Mart. Oapellae S. 80.
wiesen Ehein. Mus. 52 Ergänzungsheft j ^^ Siehe Khein. Mus. 40 S. 523; H.Eies,
S. 170 f. und 51 S. 240 ff. De Terentiani Mauri aetate S. 53 f. Sogar
3) Siehe H.Best, De Cj-priani quae f erun- | in Ps.Ovid. Halieut. 46 anthias als Daktylus.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. A. Formale Auslegung. 81
im A\^ert von zwei Moren zu gelten. Man kam dahin, keine kurze End-
silben mehr in Hebung, keine lange Endsilben mehr in Senkung zu
brauchen.!) Diese feinftililigere Kunst gipfelt in Nonnos, dem neuen
Homer, dem Verfasser der Dionysiaka im 5. Jahrh. n. Chr. Es wurden
also z. B. nun spondeische Wortschlüsse (oder AVörter) im zweiten Vers-
fuß (wie veio^L yait]g xeiro) und ebenso auch im vierten Fuß (wie dat-
<foo)y TgiToyereia) verpönt. Ja, Nonnos kann keine positionslange Kürzen
mehr in Hebung setzen (wie in äkXd orgecperai), weil sie zu schwach sind,
nicht einmal ein ai oder oi (wie in äXoed re xgfjval re). Muta cmn liquida
macht zwar bei ihm stets Position, aber nm- in den Hebungen wird dies
zugelassen; in jiaTQÖg ist die erste Silbe nur lang, wenn sie in Hebung
steht und also der Iktus des Verses mit zu Hilfe kommt. Endlich dulden
Nonnos und die Seinen auch kein Proparoxytonon mehr am Hexameter-
schluß, also kein jiroUe&gov enegoev. Die Kraft des AVortakzentes hatte
sich merkhch gesteigert; seine Gewalt würde hier die Em^hythmie des Vers-
schlusses zerstört haben. 2) Den nämlichen Grund hat es, daß schon die
Hipponakteischen Verse des Babrios nm- solche Wörter, die den Akzent
auf der vorletzten Silbe haben, am Versscliluß dulden. 3)
Nm- die Volkspoesie des späten Griechentums, nicht seine Kunstpoesie
zeigte einen ähnlichen Verfall der Silbenwerte, wie wir ihn am Spätlatein
beobachteten. Dafür zitiere ich noch einen von R. Wünsch behandelten
Zauberpapyrus mit folgenden choliambischen Versen:
äva^ fiäxao ä&dvaroi' TaQxdoov o?cfjjizoa
ov T 'Eqivvo)V fidotcyag ev^>6q)0vg QijOOEig
xa IJsgoscpovTjg lextga oäg (poevag leo.-rsi y.zL
Man sieht hier judxag als Jambus und in Ilegoecpovi] das Omikron im.ter
dem Wortakzent gelängt.^)
Endlich noch ein Wort zur Rhetorik. Der wichtigste Teil der Prosastii
Rlietorik, der jiegl )J^sa)g handelt, kann als Stilistik, als Lehre von der
künstlerischen Behandlung der Rede und des Satzbaus bezeichnet werden,
eine Theorie, die im Altertum, vornehmlich seit des Perildes Zeit, mit größter
Subtihtät und immensem Fleiß begründet, ausgebildet und schulmäßig
betrieben wurde, nachdem große Dichter und schon Homer selbst längst
genialisch alles Wichtigste in praxi vorweggenommen hatten. Auch dies
ist also eine Aufgabe des modernen Interpreten, überall auf das Ebenmaß
im Satzbau, Antithesen, Anapher, auf Metaphern, auf Litotes und wie die
Figuren und Tropen sonst noch heißen, acht zu geben, die Asianer, wie
Apuleius, am kurzgliederigen saloppen Satzbau, an den Antithesen mit
Silbengleichklang zu erkennen, überhaupt und insbesondere bei den Autoren
') Vgl. Is. HiLBERG, Prinzip der Silben-
wägiing.
0 Vgl. z. B. A. Ludwich, Beiträge zur
Kritik des Nonnos, 1873.
3) O. Crusius, Leipz. Studien II (1879).
An einen Einfluß des Latein ist hier auch
sonst schwer zu glauben; und dieselbe
Neigung zeigt übrigens schon Herondas,
bei dem nur 10 Verse unter je 100 mit
einem Wort schließen, das den Akzent
auf der ultima hat.
4) Siehe Berl. phil. W.schr. 1912 S. 5,
wo Wünsch am Schluß des 6. Verses x^Qll^
liest, während doch diese Choliamben am
Versschluß den Akzent auf der ultima
nicht dulden.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 6
82 Kritik und Hermeneutik.
der späteren Zeiten zu verfolgen, wieweit ihi-e Praxis der Schule, aus der
sie hervorgingen, entspricht. Beim Autor Ttegi vipovg hat sich zeigen
lassen, wie er die Vorschriften über die Ausdrucksmittel des Erhabenen,
die er gibt, in seinem eigenen Stil wirldich selbst glänzend befolgt, i)
Deutlicher noch und sehr ausführlich läßt sich dasselbe für Cicero fest-
stellen, dank seinen Lehrschriften. 2) Dasselbe Avüi-de sich ohne Zweifel
auch schon für Isokrates ergeben, wenn wir seine Texvrj oder Teyvai^ seine
echte Lehrschrift noch besäßen. 3) Als ein dringendes Bedürfnis mag hier
die Herstellung eines erschöpfenden Lexikons der zahlreichen Termini der
Rhetorik, deren sich Cicero und Dionys von Halikarnaß bedienen, be-
zeichnet Averden.*) AVer alsdann mit diesem Lexikon die Terminologie
der Schrift jieqI vt^fovg verghche, Avürde aus den Unterschieden die Theorie
des E/hetors Theodoros von Gadara erschheßen können.
Prosa- 2ur Stihsierung der Prosa gehört aber auch die E/hythmik, und auf
die Beobachtung der Prosarhythmen ist von unseren Gelehrten in letzter
Zeit viel Studium verwandt worden. Die Rhetoren selbst, z. B. Cicero
Or. 168 ff. geben uns darüber Auskimft. Und zwar wurden in der Prosa
die Versfüße des yevog ioov und ölttIclolov verpönt, bevorzugt der Paeon,
Jeder Satz wird hier also, wie im Chorlied oder in der Monodie, als
„Periode" behandelt und zerfällt in xwXa, jedes Kolon, so variabel es ist,,
wird durch seinen Rhythmus, vornehmlich durch seine Klausel kenntlich ge-
macht und abgehoben. Die beliebteste Form der clausula war — w _ _ - , die
jedoch ErweiteiTmgen erfahren kann wie — ^ _ _ ^ ^ oder _ w _ _ w _ -.. ,
Dazu kommen Auflösungen wie _ w ^ w. _ - (esse videatur) u. a. m. Die
Klauseln waren also eine Literpunktion für das Ohr. Die Durchführmig'
dieser Beobachtungen ist auf griechischem Gebiet 0) schwieriger als im
Latein, und Blaß' wiederholte Bemühungen für die PhA^thmik des De-
mosthenes und Isokrates eraiüden leider mehr, als daß sie Ergebnisse
sicherten. Eine wesentliche Förderung hat hier erst C.Zander gebracht. «)
Im Latein aber hat sich die Herrschaft der Klausel, gegen die sich noch
Ciceros und Vergils Zeitgenossen*^) sträuben, immer mehr ausgebreitet,
so daß im 4. Jahrh. n. Chr. selbst die Lehr- und Schulschriftsteller, selbst
ein Palladius, selbst die Scholiasten, sich bemühen, sie durchzuführen : «)
eine Zwangsjacke der freien Rede.
1) JoH. Freytag, De anonj^mi tieqI \ gyrikos^ Eatibor 1908.
r"i/;(w?sublimigenere dicendi, Marburg 1897. . _ . . .
2) Vgl. z. B. F. EoHDE, Cicero quae
de inventione praecepit quatenus secutus
sit in orat. generis iudicialis, Königsberg
1903.
') Siehe L. Spengel, Sway. xexvwv
S. 154 ff. ; F. BLASS, Att. Beredsamkeit II
S. 104 f.
4) Eine Vorarbeit gab kürzlich P.
Geigexmüller, Quaestiones Dionysianae
de vocabulis artis criticae, Leipz. 1908
6) Eurhythmia vel compositio rhyth-
mica prosae antiquae, I, Leipzig 1910.
^) Siehe Vergils Catalepton S. 59.
8) Klotz, Archiv f. Lex. XV S. 515 f.
schien es bemerkenswert, daß in den
Statiusscholien sich die Klauseln finden.
Ihm scheint entgangen zu sein, daß dies
in Serväus' Vergilkommentar, in den Bo-
bienser Ciceroscholien, auch in den Juvenal-
scholien oft ebenso steht. Ich zitiere aus
Servius zu Aen. 1, 73 : solent enim reges
) Siehe bes. F. Blass, Die Rhythmen dare nomen uxoris. — „nw" brevem posuit,
der attischen Kunstprosa: Isokr., De-
mosth. Plato, Leipz, 1901. Dazu K. Müx-
scher, Die Rhythmen in Isokrates' Pane-
Gum naturaJiter longa sit. — „nubo"- enim
Wide habet originem longa est. — sacerdos
dicatus est numini. Zu 1,77: licet mihi
n. Der niedere Teil der Henneneutik. B. Historische Interpretation.
88
J. C. Schmitt, der Herausgeber des Palladius (bei Teubner 1898), hat Paiiadius
nichts liiervon bemerkt. AVir brauchen eine Neuausgabe des Palladius,
die den Handschriften folgt, in denen sich die Klauseln erhalten haben.
Daraus ergeben sich dann weiter Folgerungen für den Sprachgebrauch;
denn um die Klausel zu gewinnen, schrieb Palladius z. B. p. 33, 18 Schm.
ad über herharum (f. ad ubertatem); p. 62, 23 florere consuerunt (f. con-
sueverunt); vor allem setzt er, wo er Vorschriften gibt, das Präsens und
das Futur willkürlich durcheinander: p. 79, 18 deponis hoc seruans {depones
liätte die Klausel zerstört); ebenso p. 186, 16 mellis admisces, p. 187, 17
st'xtarium misces, p. 78, 21 disponhnus, p. 173, 14 lupinus coUigitur, um-
gekehrt }). 179, 13 expandemus in sole. Diese Beispiele verteidigen sich
gegenseitig, und das folgende kann dienen sie zu erläutern; p. 86, 5 will
Palladius sagen, daß Weinreben, zu früh beschnitten, zu schwache Wur-
zeln haben „und plötzlich eingehen"; dafür schrieb der Autor aber „und
plötzlich eingegangen sind": si recidas, plerumque infirmas habent radices
et simul repente perierimt; ein pereunt hätte wiederum die Klausel nicht
ergeben; danim mußte das Perfekt aushelfen. i)
Kom-
mentar
B. Historische Interpretation und Sactierklärung.
Die natürliche Form der Sacherklärung ist der Kommentar; im Alter-
tum vjiofivYjjLia, commentum, com^nentarms {-um). Die Kommentare des Alter-
tums waren selbständige Bücher, die den zu erklärenden Text nicht mit
enthielten ; 2) doch wm-den sie in Privatabschrift schon damals nach Be-
lieben ausgezogen und als erklärende Notizen oder Schoben in abgekürzter
Form am Rand des betreffenden Textes eingetragen. Des Scaurus Kom-
mentar zu Horaz umfaßte zehn Bücher, jedes Buch beschäftigte sich mit
je einem der zehn Horazbücher ; 3) der des Macrobius zmn Somnium Sci-
pionis zerfällt in 2 Bücher (der Cicerotext selbst felilte); Proklos zu
Piatos Staat in 4 Bücher; Porphyrios zu Aristoteles Kategorien 7 Bücher;
Origenes zum Johannes gar 32 Bücher;-*) Hieronymus zu Isaias 18 Bücher,
von denen der Adressatin jedes einzeln überreicht wird, u. s. f.
Musterkommentare der neueren Philologie und Avahre Fundgruben Beispiel
für gelehrtes Wissen waren:
J. J. ScaHger zu Manilius' Astronomica (Paris 1579; Heidelberg 1590;
Leiden 1600);
D. Lambinus zu Horaz (Lugd. 1561 und öfter, zuletzt Coblenz 1829);
J. Casaubonus zu Athenaeus (1597), Theophrast, Charaktere 1592; Sueton
(1595);
J. Lipsius zu Tacitus (1574 und sonst);
Cl. Sahnasius zu Solin (1629);
Perizonius zu Aelian, var. histor., 1701 ;
inplere quae praecipis \ sed nefas est non
inplere qiiae iusseris u. s. f. lieber die
Bobienser Ciceroscholien K. Strauss,
Progr. Landau 1910.
^) Diese Beobachtungen helfen auch
sonst; vgl. L. Havet, Manuel de critique
verbale (1911) S. 11; 22; 38 u. weiter.
*) Siehe A. Schi mrick, Observationes
ad rem librariam pertinentes, Marburg 1909,
S. 67 ff.
3) Siehe Zangemeister, Rhein. Mus.
38 S. 199 u. 40 S. 480.
*) ed. E. Preuschen, Leipz. 1903.
6*
84 Kritik und Hermeneutik.
T. Hemsterhuis zu Aristopli. Plutos (1744) und J. M. Gesner zu Claudian
(1759);
eil. G. Heyne zu Vergil (zuerst 1775) und zu Apollodor (1782; iterum
1802).
Praktisch, wennschon an Original wert viel geringer, die lateinischen Dichter-
ausgaben cum notis variorum von P. Burmann und J. F. Gronovius (Stat.
Silvae). Die berühmten englischen Kommentatoren R. Bentley (Horaz),
P. Elmsle}^ und E.. Person (zu den griechischen Tragikern) sowie der Ovid
des N. Heinsius dienten dagegen der Sacherklärung wenig, sondern sprach-
lich-metrischen Observationen und textkritischen Erörterungen; und auf
gleichem Boden steht noch das Fundamental werk K. Lachmanns, sein
Lukrez.
In neuerer Zeit haben die Engländer in einigen musterhaften Kom-
mentaren der Sacherklärung gedient, wie J. E. B. Mayor zum Juvenal
(1886 — 88), H. A. J. Munro zu Lukrez (zuerst 1873). Auch in der jetzt
bei Teubner in Leipzig erscheinenden „Sammlung Avissenschaftlicher Kom-
mentare" finden sich Arbeiten, die das Verständnis erheblich förderten,
wie Kaibels Elektra, Nordens sechstes Buch der Aeneis. Dazu kommt
der Pausanias von H. Hitzig und H. Blümner. Unbefriedigt dagegen läßt
mich nur allzu oft der von vielen gelobte Horaz von A. Kießling, und
sein Neueditor war zu pietätvoll, um das AVerk in dem Grade um-
zugestalten, wie wir es brauchen.
Die älteren Arbeiten, die ich nannte, Avie die des Casaubonus, Avareri
noch oft ungleichmäßig und mit gelehrten Exkursen zu sehr belastet.
Heute besitzen wir Nachsclilagewerke wie die griechischen Altertümer
von C. F. Hermann, die römischen von Marquardt-Mommsen , und der
moderne Kommentator kann also durch Hinweis auf sie seine Arbeit
wesentlich entlasten. Gleichwohl hat es sich L. Friedländer in seinem
Martial und Juvenal mitunter gar zu leicht gemacht, der, avo Avir er-
klärendes Material beigebracht sehen möchten, kurzAveg auf seine „Sitten-
geschichte" A'erAveist. Er speist mit seinem Haupt Averk auch noch die
NebenAA^erke.
Aber auch die Einleitung des Kommentars ist zur Sacherklärung
heranzuziehen. In ihr erAvarten Avir Angaben über das Leben des Autors
und eine Darstellung der Zeitzustände zu finden, in denen das betreffende
AVerk entstanden ist.
1. Biographisches.
Dramatiker Natürlich muß man den Autor kennen, den man liest. Gleich aa'oIiI
ist diese Kenntnis nicht überall A'on gleicher Wichtigkeit. Ob Shakespeare
AA'irklich Shakespeare AA^ar oder ein anderer, ist eine interessante Frage;
aber AA^ie man sie auch beantAvortet, die gOAvaltigen Dramen selbst, die
seinen Namen tragen, ihr universaler Eindruck, ihr tragisches Verständnis,
die Wirkung ihrer Kulturbilder und Menschenbilder Avird dadurch doch
nicht AvesentHch A^erändert. Es ist allerdings nicht unAvichtig zu Avissen,
daß Aeschylus zeitweilig in Sizilien lebte; nur so Avird A^erständHch,
daß er Ahvalai dichtete, soaa^c auch die Anspielung auf den Aetnaausbruch
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation.
85
;m Prometheus 383 f., die einen Zeitbezug auf das Jahr 478 v. Chr. er-
gibt. Ebenso ist es allerdings nötig zu wissen, daß Euripides nach
Makedonien ging; daher sein makedonisches Königsdrama Archelaos, daher
seine Bacchae. Augenscheinlich liaben aber sowohl Aeschylus wie Euri-
pides auch am politischen Leben ihrer Heimatstadt lebhaftesten Anteil
genommen: man denke nur an die Perser und Eumeniden; des Euripides
Andromache schämnt von Spartanerhaß, wie gleich die Anfangszeit des
peloponnesischen Krieges ihn eingab, über. Doch überUefert uns von
dieser politischen Anteilnahme die Biographie dieser Dichter freilich nichts;
sie läßt uns gi-ade für das AVichtigste im Stich, i) Wir können nur Schlüsse
aus den Dichtwerken selber ziehen.
Noch mehr tritt das Persönliche aber in der neueren Komödie zurück.
Wer Menander oder Ter enz war, was er persönlich erlebt hat, ist zum
Verständnis der Andria eigentlich vollständig gleichgültig.^) Und dasselbe
gilt von den späten Dichtern des griechischen Romans, Jamblichos
(BaßvAcoviaxd), Xenophon Ephesius (Habrokomes und Antheia), Helio-
doros (Al&iomxd), mit denen sich E. Rohdes bekanntes Buch befaßt. Auch
in Senecas Tragödien sind die Stellen gering, am3 wir einen Zeitbezug
auf das Hofleben Neros zu erkennen glauben. AVer freilich auf die Tiraden
gegen den Jähzorn und vor allem gegen Tyrannei und den Mißbrauch
der Königsgewalt acht gibt, von denen diese Tragödien strotzen, wird
doch überall lebhaft an Kaiser Nero erinnert, an den Seneca auch seine
Schrift De dementia schrieb. Einmal scheint eine Beziehung auf Senecas
eigene Person vorzuliegen, im Oedipus v. 687 ff. ; diese Verse, die Kreons
Stellung im Staate Thebens schildern, sind zwar dem Sophokles Oed. Rex
590 ff. nachgedichtet; aber sie passen auf die Stellung, die Seneca, der
Staatsmann, seit dem Jahre 54 in Rom einnalim, in dem Grade, daß jeder
sie auf ihn deuten mußte. Es ist nicht Zufall, daß er sie treu aus
Sophokles übernahm.^)
Sehr Avichtig Avird aber das Personale sogleich bei Werken aktuellen Lyriker
Inhaltes, d. i. bei solchen, die sich dem Charakter des Gelegenheitsgedichtes
nähern. Da die ZAveifel, die E. SchAvartz gegen die Echtheit des Nach-
lasses des Tyrtaeus erhob, beseitigt sind,*) Avird um so klarer, daß man
sich zum Verständnis der Tyrtaeusgedichte die ganz besonderen Umstände,
in denen sich der kriegerische Dichter befand, vor allem seine eigentüm-
liche Stelhmg im spartanischen Heere deutlich machen muß. Ebenso
waren Solons politische Elegien nichts als ein Ausfluß seiner staats-
männischen Tätigkeit, also seines ßiog; auch die Verse des Alkaeus
strotzten A^on eigenem Erleben; und eine so singulare Erscheinung Avie
die Mädchenliebe, von der Sapphos Lieder erglühten, wird nur dem
begreiflich, dem es gehngt, oline alle falsche Idealisierung, aber auch unter
HinAA^egräumung alles schändlichen Klatsches, den schon die Alten über
Sappho brachten, sich die Stellung dieser Dichterin und Gesanglehrerin im
*) Was Satyros gab, sind nur Kom-
binationen.
*) Daß Terenz in der Andria auf seine
eigene Freilassung anspielt, ist ganz un-
wahrscheinlich; s. F. Scholl, Sitz.Ber. d.
Heidelberger ^Vkad. 1912 N. 7 S. 6.
') Genaueres in Neue Jahrb. 27 S. 349 ff.
■*) ScHWARTZ im Hermes 34 S. 427 ff. ;
dagegen Wilamowitz, Textgesch. d. grie-
chischen Lyriker (Abh. Gott. GW. S.97ff.).
u. a.
8ß Kritik und Hermeneutik.
Kultdienst der Aphrodite und im Kreise ihrer jungen Schülerinnen zu
vergegenwärtigen. Die feinen attischen Yasenbilder, die uns Sappho im
Kreis ihrer Schülerinnen zeigen, i) sind noch als Huldigungen gedacht;
erst etwa hundert Jahre später haben die Athener in ihren Komödien
Sappho zum Gegenstand ihrer Spässe und sündigen Erfindungen gemacht.
Proporz Wichtig siud die biographischen Fragen aber auch für einen Liebes-
dichter wie Properz. Wir wissen von ihm nichts, was er uns nicht selbst
sagt, und erführen gewiß gern mehr über ihn und seine Cvnthia. Damit,
daß (nach Apuleius) Cvnthia in Wirklichkeit Hostia hieß, ist nichts ge-
wonnen. Man hüte sich nun aber, alles, was Properz von ihr beiläufig
mitteilt (Alter, AVohnungsangabe u. ä. m.), wörtlich zu nehmen. Das wäre
geschmacklos. Poeten sind zum Glück keine Biographen ihrer Geliebten;
sie sind auch keine Arate, die im Krankenjournal nur Tatsachen buchen.
Wer wüßte etwas über Goethes Friederike, wenn er nur des jungen Dich-
ters Verse hätte? Ja, mit Cynthia ist vielleicht nicht einmal immer ein
und dieselbe Person gemeint. Ihr Idealbild kann aus mehreren Figuren
der Wirklichkeit zusammengeflossen sein. Jedenfalls kann jetzt als aus-
gemacht gelten, 2) daß des Properz Liebespoesien sich durch 16 Jahre (von
40 — 24) hinziehen. Handelt es sich da wirklich notwendigerweise immer
um dieselbe Dame? C^mthia wäre ja schließlich eine alte Person geworden
und die dauerhafte Schwärmerei des Dichters der Lächerlichkeit verfallen.
Uns muß genügen, daß Cynthia der Deckname für die Geliebte oder die
Geliebten des Properz ist. Um so falscher wäre es nun aber, anzunehmen,
daß seine zündenden Verse nur nach allerlei griechischen Mustern her-
gestellt, nur Behandlungen überlieferter Themen sind und ohne eigenstes
persönliches Erleben zustande kamen. Wer das glaubt, verdient nicht,
sie zu lesen. Die Madonna ist tausendmal gemalt worden; das Thema
ist auch da immer dasselbe, das innere Erlebnis des Künstlers immer neu.
Aber es ist auch heute noch in aller feineren Erotik das Natürliche, daß
sie nur andeutet, also ihre Erlebnisse verallgemeinert, resp. das Selbst-
erlebte in solche Motive zu Ideiden sucht, die füi- viele andere mitgelten
können. Daher ist es in allen solchen Fällen schwierig, das Biographische
aus dem Typischen auszusondern.
Viel unpersönlicher als Properz ist dagegen Tibull, der mitunter
gleichsam Abhandlungen dichtet; und auch zum Verständnis des Epi-
grammatikers Marti al genügt es im Grunde, über die bettelhafte Lebens-
stellung dieses Dichters unterrichtet zu sein, der als Klient mit seinen
hübschen Spässen auf den Beifall der Vornehmen Jagd macht, und wir
vermissen es nicht allzusehr, daß wir seine Biographie nicht besitzen.
Natürlich kommt es zum Verständnis einzelner Stellen bei ihm darauf an,
festzustellen, ob er wirklich arm oder ob er Gutsbesitzer war, wo seine
Wohnung lag u. ä.
Cicero Ganz anders wieder Cicero. Seine AVerke sind mit seinem Leben
und sein Leben ist weiter mit der poHtischen Zeitgeschichte des 1. Jahrh.
1) Siehe Die Buchrolle in der Kunst ! ^) Siehe H. Hollstein, De monobibli
S. 147; vgl. noch Abh. d. sächs. GW. III | Prop. sermone eqs., Marburg 1911, S. 70 f.
(1861) Tai. I. I
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation.
87
v. Chr. auf das engste verflochten. Seine vielbändigen Schriften selbst
sind seine Biographie.
Und ganz ebenso steht es mit Seneca. Es ist verfehlt, ja lächer-
lich, diesen Mann, der seine Zeit mehr beherrscht hat als Cicero die seine,
nm- einfach als stoischen Schulschriftsteller abzutun. So Avie Ciceros
Schrift De republica ein politisches Tagesereignis war, das lange nach-
Avirkte — denn darin war als ideale Staatsform die gemäßigte Monarchie
nachgewiesen, und sie hat erst Pompejus, dann Octavian angeregt, sie zu
verwirklichen und Roms Staatsleben danach zu reformieren ^) — , so Avaren
auch Senecas Schriften Handlungen, mit denen er seine Zeit beeinflußte:
erst De ira im Jahre 41 ; der Kaiser selbst hat auf diese Schrift mit einem
Edikt reagiert, und Seneca wird hernach in Anknüpfung daran Lehrer
des Knaben Nero ; aber erst, als Seneca die Regierung zu leiten beginnt,
seit dem Jahre 54, schreibt er seine Hauptwerke, die darum noch aktueller
wai*en, De dementia, um die Herrschsucht des Nero zu zügeln. De bene-
ficiis über soziale Hilfe, De vita beata zur Rechtfertigung seiner eigenen
Position, De matrimonio als Neumotivierung der Ehegesetzgebung des
Augustus, De superstitione zmn Zweck der Läuterung des gottesdienst-
lichen Rituals. 2) Besonders beim Lesen der Schrift De beneficiis muß
man sich klar halten, daß der mächtigste Mann im Reich und Stellvertreter
des Kaisers, auf dessen persönliches Auftreten alles sah, diese Mahnungen
und Ratschläge über Wohltun und werktätige Hilfe ins Publikum warf:
ein neues ethisches Programm, das daher auch mächtig eingewirkt zu
haben scheint, auf die Kaiser selbst, von Titus an, und auf die humane
Neugestaltung des römischen Rechts unter den großen Juristen.
Wir könnten fortfahren: in bescheidenen Grenzen gilt auch vom
jüngeren Plinius dasselbe Avie von Cicero; und der Dichter CatuU AAdrd
für uns dadurch hochinteressant, daß Avir z. T. den Sclileier seiner Pseudo-
nyme zu lüften vennögen. Seine hübschen und sprühenden kleinen Sachen
erhalten dadurch Greifbarkeit, leibhaftiges Leben.
So ist es, Aveiter, für das Verständnis des Herodot Avichtig, daß Avir
von den Reisen, die er machte, und von seinem Verhältnis zu Athen doch
einiges, AS'enn auch nur Andeutendes erfahren. Xenophons Geschicht-
schreibung, Avie sie vor allem in seinen Hellenika vorliegt, kann nicht
richtig beurteilt und als Quelle verAvertet Averden, AA'enn man nicht Aveiß,
daß Xenophon durch seinen Lebensgang zum la?ecoviCo)v, zum einseitigen
Spartanerfreund geworden Avar. a^ Arnim hat uns das Leben des Redners
oder Sophisten Dio A^on Prusa aufgehellt; AAde erhellt das zugleich die
Lektüre seiner Reden! Noch individueller als Dio ist aber der Rhetor
Aristides mit seinen legol Xoyoi. Nur Aver sich den ßiog, vor allem die
Krankheitsgeschichte dieses Epileptikers klar gemacht hat, kann die eigen-
artigen „heiligen" Schriften und den inbiünstigen Asklepioskultus dieses
Mannes verstehen.
Seneca
weitere
Beispiele
') Diese praktische Bedeutung der
Ciceroschrift ist von Ferrero gebührend
hervorgehoben worden.
2) Genaueres hierüber s. Preuß. Jahr-
bücher Bd. 144 S. 282 ff.; Neue Jahrb. 27
S. 347 f. und 596 f.
gg Kritik und Hermeneutik.
Homer Und HoHier? Wir müssen hervorheben, daß auch für Homer selbst
sich die Frage nach seiner Person, auf die sieben Geburtsstädte einst An-
spruch erhoben, als nützlich erwiesen hat. Denn eben diese scharfe
Fragestellung hat hervorragende Forscher zu dem Ergebnis geführt, dem
man sich schwer entziehen kann, daß die Person Homers nichts ist als
Konstruktion, eine Idealfigur, ein Sammelbegriff, hinter dem eine Sänger-
zunft, resp. eine gewisse Anzahl von zünftigen Dichtern sich verbirgt,
die den anfangs enger umgrenzten Erzählungsstoff der Ilias formten, ilm
erweiterten und durch Einlagen und Anhänge ausdehnten und sinnvoll
abrundeten und die femer einen bestimmten Stil der epischen Darstellungs-
weise ausgebildet hatten, den sie festzuhalten, zugleich aber mannigfach
zu bereichern und zu steigern verstanden. Man kann empfinden, daß in
verschiedenen Rhapsodien, wie in der Diomedesaristie oder in der Toten-
klage des Schlußbuches der Ilias, sich sogar verschiedene dichtende In-
dividualitäten deutlicher abheben, i) Vor allem spricht aus der Odyssee ein
anderes Menschenalter als aus dem Grundbestand der Ilias. Die Person
Homers, die diese Zeitalter in sich barg, ist selbst ein Gedicht.
Ich A^ermisse da, avo man diese Fragen erörtert, eine ausreichende
Behandlung des Namens „Homer", die doch unerläßlich, ja, wie ich meine,
für das Verständnis der Sache grundlegend ist. Denn alles andere mag
in der Homerbiographie erdichtet sein ; der Name ist alt ; er ist der älteste
Zeuge für den, der Ihas und Odyssee gedichtet haben soll. Was also
besagt er? was bedeutet er? öjn-rjgog (zu dgagioxco) kann nur passivische
Bedeutung haben und nur „der Zusammengefügte" oder „der Mitangefügte"
heißen. Denn das Aktivum würde oxytoniert 6jur]oög lauten müssen wie
vavjirjyög u. ähnl.*) Daher heißt öjurjQog im gemeinen Leben erstlich die
Geisel, weil sie vom Sieger mitgeschleppt wird; daher heißt öjH}]gog
zweitens der Blinde; denn der Bhnde läßt sich führen, naQaxoXov&n;^)
6 jLLTjQelv ist äxoXov^Eiv;^) der Bünde ist stets an seinen Führer „angefügt",
und zwar so, daß er zur Sicherheit einen halben Schritt hinter dem Knaben
schreitet, an dessen Arm oder Gewand er sich festhält. So kann man
ihn noch heute auf den Märkten im Süden sehen, so sah man ihn im
Mittelalter, so im Altertum. Das Bild ist typisch. Die Homerviten, die
imter Herodots und Plutarchs Namen stehen, bezeugen einstimmig und
ausdrücklich, daß in jonischer Sprache und speziell in Kyme öjutjgoi die
Blinden hießen; und zwar wird uns das Wort da so im Plural gegeben.
Die Blinden traten also als eine Gruppe von Menschen auf; und daß der
Verfasser der Ilias und Odyssee den Namen "Oiu7]gog deshalb erliielt, Aveil
er erblindete, darüber sind sich die Viten gleichfalls einig. 0) Somit hat
') Vgl. 0. Crusius, Sitz.Ber. d. bayer.
Akad. 1905 S. 331 f.
2) Vgl. G. CüRTiüS, De nomine Ho-
meri, Kiel 1855.
3) Wie der jTtwyög in Xenophons Sytci-
posion 8, 23.
4) Odyssee ji 468; Theopomp frg. 318
wissen, wie Homer, bevor er erblindete,
geheißen, und man erzählte, daß und
warum er MsXrjOLyevi^g hieß. Dieser Name
ist Dichtung; das verrät schon sein dak-
tylischer Silbenfall, der offenkundig für
einen Hexameter ersonnen ist, z. B.:
eilii MeXrjoiyhrjg Koid^töog viog ojutjgoc.
Müller. I Daß MsX^otysvrjg nun vom Flußnamen MeXr^g
5) Natürlich wollte man dann auch | gar nicht abgeleitet sein kann, ist klar.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation.
89
es bei den Joniem eine Gruppe oder Zunft der Blinden, i) ojlhjqoi^ ge-
geben, ganz so, wie im deutschen Mittelalter „die Blinden" eine Zunft
oder doch einen bestimmten Berufsstand bildeten, und zwar als Sänger
auf den Märkten. Im Titurel lieißt es: „so singent uns die blinden",
auch bei Hennan von Fritschelar erscheinen sie so; insbesondere wird
der blinde Friese Bernlef als Sänger epischer Lieder genannt. Dieselben
blinden Berufssänger aber treten uns auch bei den Serben entgegen; ''')
und das ist begreiflich ; denn solche Leute haben Zeit zu innerer Samm-
lung, zeichnen sich durch Gedächtnisschärfe aus und eignen sich zum
Erzähler vor allen anderen. Daher ist nun auch Demodokos im homerischen
Epos ein blinder Aöde und wird ebendoii: vom thrakischen Sänger Tha-
myris erzählt, daß er geblendet wurde. Kurzum: die "Blinden als Berufs-
sänger sind in der einen Figur des Homer zusammengefaßt; und Avenn
also der Verfasser des Apollohymnus v. 172 von sich selber aussagt, er
sei Tvcpkog ävi]o, so wdll er sich damit ausdrücklich als o/AjjQog bezeichnen,
tl. h. nicht als den „Homer", aber als einen der o/a]oo(.'^)
Man sieht aber die Konse(|uenzen. Demodokos bei Homer ist blind,
aber er trägt doch berufsmäßig seine Gesänge, die dem Publikum neu
sind, vor; also dichtete man noch ohne Schrift; diese Vorstellung herrscht
da unzweifelhaft. Und Homer selbst heißt der Blinde ; also hat er gleich-
falls noch ohne Buch gedichtet. Vor allem gilt dasselbe auch noch vom
A'erf asser des Apollohymnus: er w^ar Tvq)kdg dvTJg. Wer nicht sehen kann,
schreibt auch nicht. Zu der nämlichen Schlußfolgerung Averden Avir auch
durch Beobachtungen des BucliAvesens angeleitet.'^)
Das Altertum ist mit biographischen Mitteilungen sonst oft unendlich Antike
karg, und grade da, avo es reichlicher gibt, haben AA'ir oft Grund, miß- ^°«^^p^'*^
trauisch zu sein. Besonders günstig liegt die Sache bei einigen römisclien
Dichtern, Terenz, Horaz, Vergil, Persius, Lucan. Man findet dies und
anderes erfreuliche biographische Material bei Sueton ed. Reif f erscheid,
A'om Jahre 1860. Sehr viel mangelhafter sind die Nachrichten über die
römischen Prosaiker, AA'ie Tacitus. Von Curtius Rufus, A'on Justin AA'isseil
wir nichts, kaum die Zeit. Auch über den Grammatiker und Dichter
Terentianus Maurus läßt sich schlechterdings nichts sagen; seine Zeit Avird
neuerdings ganz irrig ins 2. Jahrhundert hinaufgerückt; Lachmann hatte
recht, der ihn dem 3. Jahrhundert zuaa^cs.^) Auch für die griechischen
aber den Alten genügte schon der An-
klang an diesen, während Jener Name in
Wirklichkeit nur von /.is/^tv kommen kann,
wozu er sich genau so verhcält wie Zoyoi-
yhTjg zu omCsiv- Auch MsXyoavdgog, Mekrjoa-
yöoag, MeXtjouijicx; liaben doch geAviß nichts
mit dem Pluß MsXrjg zu tun. Wollten
Avir in ihm mit E. Maass (Neue Jahrbb.
lUll) das Fest der MeXt)oia erkennen, so
würde man MeXrjoioyevrjg nach Analogie \'on
iixaioysvTjg erwarten und die Kürze des i,
'lie in der dritten Silbe doch A'-orzuliegen
scheint, wäre keinesfalls erklärt.
') Vgl. Chrtst-Schmid, Geschichte d.
griechischen Litteratur I S. 26.
') Vgl. WiLH. Grimm, Die deutsclie
Heldensage, 3. Aufl., 1889, S. 194 u. 426.
') Was ich hier A'ortrago, war einst
der Inhalt einer These meiner Doktor-
schrift A'om Jahre 1876, eine Aufstellung,
der damals Usener sein Interesse schenkte.
4) Die Buchrolle in der Kunst S. 211
u. 338. Ich Averde im ersten Abschnitt
des in diesem Bande von mir behandelten
„Buchwesens" auf diese eben auch für die
Geschichte der Schrift und des Buches
w'ichtige Frage zurückkommen.
^) Siehe jetzt H. Eies, De Terentiani
Mauri aetate, Marburg 1912.
90 Kritik und Hermeneutik.
Schriftsteller der Kaiserzeit haben Avir oft nur versprengte Notizen bei
Suidas. Wie gern wüßten wir z. B. Genaueres über das Leben eines
Lucian von Samosata!
Besonders eifrig plaudert das griechische Altertum über seine längst
gestorbenen Klassiker, Sophokles, Thukjdides, besonders Homer. A. Wester-
mann, BioyQOLcpoi (1845) hat über sie alles Wesentliche zusammen ab-
gedruckt. Der Bios des Thukydides steht unter des Markellinos Namen,
der umfangreichste Homers gar unter dem des Herodot. Dazu kommt
noch der reiche Agon des Homer und Hesiod, der zwar jung, aber einen
Kerninhalt von beträchtlichem Alter birgi. Im übrigen fließen alle Nach-
richten und Schilderungen, die wir da erhalten, aus auffallend späten
Quellen. Die Zeit vor Aristoteles war noch gleichsam stumm und inter-
essierte sich nicht für die litterarische Biographie. Ganz ausnahmsAveise
ist es geschehen, daß der Dichter Ion in seinem Eeisebuch einmal über
seinen Kollegen Sopliokles plauderte. Daß wir jene feine Szene, in der
da Sophokles bei einem Trinkgelage auftritt, für authentisch halten dürfen,
ist ein köstlicher Besitz.
Das Meiste, was sonst erzählt wird, ist von den Peripatetikern, die
sich, durch Aristoteles angeregt, mit Litteraturgeschichte zu beschäftigen
begannen und den Mangel an positiven Nachrichten zu ersetzen trach-
teten, anekdotenhaft ersonnen, i) Daß das achte Buch des Thukjdides
von Xenophon oder von des Thukj^dides Tochter unfertig herausgegeben,
daß Antiphon der Lehrmeister desselben Historikers gewesen, ist nichts
als Kombination, die wir ablehnen. Athenäus weiß, daß Euripides eine
große Bibliothek besaß; aber das hat man nur aus der Welt- und Weis-
heitskunde seiner Tragödien erschlossen; wie sehr man dessen Stücke
auf biographisch Verwendbares aushorchte, zeigt der neugefundene
Satvros.^) Aelian erzählt, daß Sokrates nur ins Theater ging, wenn
Stücke des Euripides gespielt wurden. Das ist so nett erfunden wie
die Fabeln von der Xantliippe und der Bigamie des Sokrates. Ganz
ebenso steht es dann aber auch mit der Figur des Aesop, und daß
Chrono- Sokratcs äsopisch gedichtet haben soll. 3) Aber auch die chronologischen
Ansätze, die uns die Alten, insbesondere Apollodor, für ihre Schrift-
steller geben, vornehmlich Ansätze synchronistischer Art, waren nicht
so, wie er sie darbietet, überliefert; sie beruhen auf Schlußfolgerungen,
die man nachträglich aus den Werken zog; es sind Schlußfolgerungen,
die oftmals das Richtige trafen, aber sie unterliegen unserer Kritik.
Nur die didaskalischen Notizen, d. h. Auf führ ungsnotizen , die be-
sonders das attische Drama anbetreffen und offiziellen Archiven ent-
stammen, geben wirklich chronologische Sicherheit.'*) Daher wissen wir,
daß Aeschylus' erster dramatischer Sieg Ol. 73, 4 ^ 484 v. Chr. fällt, der
des Euripides in das Jahr 441 u. ä. m. Derartiges ist auch in inschrift-
1) Einen gesunden Stoß im Sinne der : Byzant.Litteraturgesch.2S.897; vgl.HAUS-
Skepsis gab dereinst v. Wilamowitz im I rath bei Pauly-Wissowa, EE.^T S. ITllff.
Hermes XII S. 326 ff. i u. 1734. Betreffs Sokrates s. Diog. Laert.
2) Oxyrhynch. Pap. IX Nr. 1176. i II 42.
3) Es entstand schließlich ein voU- | *) Siehe E. Eeisch bei Pauly-Wissowa,
ständiger Aesoproman ; s. Krumbacher, EE. V S. 391.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation.
91
liehen Urkunden aufbewahrt ;i) Avertvolle Notizen sind in das Marmor
Parium übergegangen. 2)
Günstig steht es mit den wenigen Nachrichten, die wir über Plautus
und Naevius besitzen. Yarro war augenscheinHch in der Lage, für sein
Werk De poetis zuverlässige Berichte aufzutreiben, und die gegen sie
geäußerte Skepsis ist durchaus unberechtigt. 3) Ganz anders sind dagegen
die Mitteilungen über den Satiriker Juvenal beschaffen; sie tragen den Juvenai
Stempel ungeschickter, ja, kindischer Erfindung an der Stirn. In drei-
zehn Fassungen besitzen wir Juvenals Yita; die jüngste, in einer Hand-
schrift des 15. Jahrhunderts, weiß uns z. B. genau sein Geburtsjahr (55
n. Chr.) und die Namen seiner Eltern zu geben. 4) Schon in den Viten
ältester Fassung aber steht die bekannte Fabel von Juvenals Exil. Erst im
4. Jahrhundert begann ein intensives Studium dieses Dichters. Damals
versah man ihn mit den Schollen, die wir besitzen; man brauchte dazu
auch eine Yita, und man erfand, wo man nichts wußte. Woher, frug
man, Juvenals Grimm gegen Kaiser Domitian? Er muß unter dem Kaiser
gelitten haben. Also muß der Kaiser ihn verbannt haben. Man las ja
im Sueton und Tacitus, daß von Domitian so viele Philosophen und
Dichter in derselben Weise mißhandelt worden Avaren. Freilich erwähnt
Juvenal selbst davon nichts ; aber die über den Günstling Paris handelnde
Invektive in der siebten Satire v. 90 f. ließ sich für diese Erfindung be-
nutzen. Diese wenigen Zeilen über Paris, so fingierte man, gab Juvenal
anfangs und vor dem Jahr 83 separat heraus; und sie gaben dem Kaiser
Anlaß zum Zorn. Aber vor dem Jahr 83 dichtete Juvenal nachweislich
noch gar nicht; denn Martial kennt zu jener Zeit den Juvenal noch nicht
als Dichter. Überhaupt aber ist klar, daß die Stelle YII 90 f. nur für
den Zusammenhang, in dem sie steht, gedichtet ist. Dann sagen die
Yiten noch genauer, Juvenal sei in die ägyptische Hoasis oder zu den
Scotti verbannt worden; das erstere ist durch Satire XY, das letztere
durch lY fin. angeregt. 0)
Und nun endlich die Charaktere der großen Autoren. Daß Aeschj- Charakte-
lus eine herbe und trotzige Natur, daß Euripides ein Weiberhasser, der-
artige Charakteristiken sind wiederum nicht authentisch, sondern im
ersteren Fall einfach aus dem Typus der äschyleischen Tragödien selbst
abstrahiert, im zweiten Fall hämischer Klatsch, den die Feinde des Euri-
pides in Athen aufbrachten, Aristophanes voran. Denn Euripides Avar in
Wirklichkeit ein Yerherrlicher des AYeibes.^) Nur die Charakteristiken,
ristikon
1) Siehe Ad. Wilhelm, Urkunden dra-
matischer Aufführungen in Athen (Sonder-
schriften des österr. Instit. Bd. YI), Wien
1906.
2) So auch jene Angabe über des
Aeschylus und Euripides ersten Sieg; s.
F. Jacoby, Das Marmor Parium, Berlin
1904.
^) Sowie auch die gegen die Nach-
richt von der dramatischen „Satura" Alt-
Roms geäußerten Zweifel sich m. E. leicht
als hinfällig erweisen lassen.
•*) Siehe Dürr, Das Leben Juvenals,
Ulm 1888.
^) Die Yiten benutzten dabei sogar
den Wortlaut der Satiren; Yita I: Paris
poetam semenstribus militiolis emitavit;
Yita II: Paridem semestrihus tumentem,
beides nach Satire \^[I 89: ille et militiae
multis largitus (vulgo largitur) lionorem
se^nenstri vatum digitos circumligat atiro.
*) Siehe I. Bruxs, Yorträge und Auf-
sätze (1905) S. 155 ff.
92 Kritik und Hermeneutik.
die Aristoplianes nach des Euripides Tod in seinen Fröschen von den
genannten beiden großen Dichtern entwirft, sind für uns AvertvolL Denn
in dem unterweltlichen Gericht der Frösche wird, soweit es die starke
Subjektivität des Aristophanes zuläßt, Wahrheit angestrebt, eine Würdigung
versucht, und die platten Erfindungen sind zurückgedrängt.
Anonyma Der ungünstigstc Fall ist endlich, daß sogar der Name des Autors
unbekannt. Verschmerzen läßt sich das immerhin, wenn es sich z. B. um
Pseudo-Aristoteles Jicgl xoajiwv, um die Pseudo-Quintilianischen Dekla-
mationen oder gar um Gedichte der Anthologia latina handelt. Bedauerns-
Averter, daß für den Verfasser der Astronomica der Name Manilius so
schlecht bezeugt ist ; i) um so weniger läßt sich über seine Person aus-
machen. Besonders schlimm aber steht es mit der Schrift vom Staat
der Athener, die fälschlich unter Xenophons Namen steht: eine Tendenz-
schrift, mitten aus dem ersten Decennium des peloponnesischen Kriegs
geschrieben. Die Polemik, die da in vornehmer Weise ein athenischer
Oligarch gegen die bisher siegreiche Demokratie seiner Vaterstadt ausübt,
würde für uns erst ganz verständlich, wenn wir den Mann kennten, der
mit solchen Gedanken mitten unter den Bürgern steht. Auch die hoch-
bedeutende Schrift über das Erhabene, die aus der Zeit vor Nero,
vielleicht aus der Regierungszeit des Tiberius stammt, verdiente es, daß
wir ihren Verfasser mit Namen nennen könnten, und auch den Verfasser
des Gedichtes Aetna, einer Versifizierung der vulkanistischen Theorie
des Posidonius von durchaus ernsthaft wissenschaftlicher Haltung, aus der
Jugendzeit des Plinius, wüßten wir gern.
Ganz besonders steht es mit dem Homerus latinus, der neuerdings
mit Silius Italiens in Zusammenhang gebracht wurde. Es handelt sich
um eine verkürzte Ilias von etwa nur 1000 Hexametern aus Neros Zeit.
Man hat da ein Akrostichon entdeckt. Die Anfangs- und Schlußverse
des Werkchens beginnen mit folgenden Wörtern:
1 Iram 1063 Sed
Tristi.a Calliope
Atque . 1065 Quam
Latrantum lamque
5 Illorum Pieridum
Conficiebat Sanctaque
Ex quo pertulerant (oder Pertulerant ex quo) Ipsa
Sceptiger 1070 Tuque
Quis deus ,
10 Latonae
Infestam
Das Akrostichon ergab Italice sqli und scqipslt, was so nicht brauchbar;
setzt man in v. 7 u. 1065 Verschreibung an, so ließe sich zunächst Itali-
cus und scripsit herstellen. Man hat das Akrostichon aber auch dahin zu
korrigieren versucht, daß sich in v. 1 — 11 Italici Sili ergab; alsdann sind
eben v. 7 u. 9 zu ändern. Die richtige Evidenz fehlt jedoch, 2) und an
Akrosticha
') Siehe E. Ellis, Noctes Manilianae | besondere über v. 1065 (Sitz.Ber. d. bayer.
S. 217 ff. I Akad. 1909 Stück 9 S. 13), überzeugen nicht.
2) F. Vollmers Ausführungen, ins- : Das Verfahren ließe sich schon dadurch
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 93
Silius Italiens, den Diehter des Bellum Punicum, läßt sich hier keines-
falls denken.»)
Günstiger steht es mit einem anderen Akrostichon. Bei Müller,
Geograph, graeci min. I S. 238 findet man eine 'Avay^aq)i] ^EXlddog in jam-
bischen Memorialversen, deren Inhalt man früher auf Dikaearch zurück-
führen wollte. Lehrs (Ehein. Mus. 2 S. 354) entdeckte in ihnen ein Akro-
stichon, das den Namen eines Atovvoiog KaXh(pd)VTog gibt. Damit ist freilich
wieder nichts weiter als ein Name gewonnen. Besser machte es Dionysios,
der Perieg-et, der im Inneren seines Gedichtes die zwei Akrosticha Aio-
rroiov Txbv evTog 0dQov und em 'AÖQiavov bietet, 2) Avorin also wenigstens
auch noch eine Ortsanzeige, ja, auch eine Datierung gegeben ist.
2. Zeitumstände.
Mit der Kenntnis seines Verfassers ist ein Litteraturwerk für uns Zeit-
zugieich schon mehr oder weniger genau datiert. Es folgt nun die Aveitere '"^^^^'^"
Pflicht, sich die Zeitumstände, unter denen das Werk entstand, zu ver-
deutlichen. Dies kommt aber natürlich nicht für alle Werke gleich in
Frage. Für die Pflanzengeschichte des Dioskurides oder des Theophrast
scheint dies ziemlich gleichgültig; ebenso auch für Plinius' Naturgeschichte,
des Festus Lexikon, rhetorische Fachschriften Avie des Dionys oder
Menander. So kommt es, daß man für den Zeitansatz der mechanischen
Schriften des Heron noch immer um Jahrhunderte auseinandergeht ; 3) daß
man auf den Versuch A^erf allen konnte, die Architectura des Vitruv aus
des Augustus Zeit, der sie angehört, in das 3. bis 4. Jahrh. n. Chr. hinab-
zurücken. Es ist Gabe des Zufalls, wenn uns ein solches Werk aa^o das
genannte des Theophrast einmal genau datiert wird, dadurch, daß der Ver-
fasser bei den Feigen erwähnt, es sei vor kurzem unter dem Archon Niko-
doros — d. i. 314 y. Chr. -— ein gutes Feig-enjahr gewesen.
An Werke geographisch-topographischen Inhalts knüpft sich die Frage, Autopsie
ob die Verfasser selbst gereist sind und die Stätten, die sie schildern,
selbst gesehen haben; für Strabo ist der Sachverhalt klar, denn er ent-
schuldigt sich selbst, daß er so wenig Länder selbst gesehen; bei der Be-
schreibung Griechenlands, die Pausanias gibt, scheint die Sache dagegen
günstiger zu liegen. 4)
. Kommen Avir zu aktuelleren Sachen. Je aktueller ein SchriftAA^erk, Demo-
Gedicht, Rede oder Pamphlet, je dringender Avird die Frage nach seiner
Abfassungszeit. So gleich die Philippika und sonstigen Staatsreden des
Demos thenes; sie sind eine Hauptquelle für die Kenntnis der Zeit-
geschichte der dunklen Jahre 351 — 339 v. Chr., die mit ihi;er Hilfe einst
ironisieren, daß im Homerus latinus die I corum dictionem, Marburg 1890; dazu
Anfangsworte v. 468 — 471 : i Eskuche, Ehein. Mus. 45 S. 254.
Fertur j '^) Siehe Leue imPhilologus42S.175f.
Et I ^) E. Meier, De Heronis aetate, Leipz.
Caelestemque i 1905 und dazu A. A. Björxbo in Berl.
Icta phil. W.schr. 1907 S. 322 f.
das Akrostichon fcei ergeben. Hier waltet *) Siehe Strabo p. 117f. und B. Niese,
Zufall. ! Ehein. Mus. 32 S. 267 ff. und Hermes 13
') Siehe Altenburg, Observat. in i S. 42; zu Pausanias zuletzt EuG. Petersen,
Italici Iliadis latinae et Silii Italici Puni- ! Ehein. Mus. 64 S. 481 ff.
94 Kritik und Hermeneutik.
Arnold Schäfer „Demosthenes und seine Zeit" gegeben hat. Die Unter-
suchung wird aber dadui^ch erschwert, daß sich Zweifel regen, ob diese
Reden wirklich so, wie sie vorliegen, gehalten, ob sie nachträglich redi-
giert sind, und diese Fragen ruhen nicht, i)
Briefe Ebenso aktuell war die Briefhtteratur; denn jeder Brief wird immer
aus dem Moment heraus geschrieben; daher das Bestreben, für Ciceros
Briefe nicht nur das Jahr, sondern Monat und Tag zu bestimmen, was
wiederum nur durch genaue Vergegenwärtigung der Zeitumstände mög-
lich ist; darum hat sich neuerdings vornehmlich AV. Sternkopf verdient
gemacht; 2) um Plinius' Briefe Mommsen und Asbach.3)
Aristo- Und nun die politische Poesie, voran die alte aristophanische
Komödie: Augenblickspoesie größten Stils, phantastische Spiegelungen der
Yolksstimmung in Athen zur Zeit des großen Krieges. Die Acharner fallen
425 dicht vor die Zeit der Einnahme Sphakterias; daraus erklärt sich,
daß sie noch Frieden mit Sparta fordern; die „Ritter" sind nach diesem
Waffenerfolge aufgeführt, und sie reden deshalb nicht mehr vom Frieden.
Der „Frieden" selbst ist dann im März 421 präparativ für den wirklichen
Friedensschluß. In den „Vögeln" wird, im März 414, die Glücksreise in
das Wunderreich der Vögel gemacht; darin spiegelt sich in drolliger
Verzerrung die verliängnisvoll überspannte Unternehmungslust der Athener,
als eben die tollkühne Expedition nach Sizilien bevorstand. Natürlich
bieten nun dieselben Komödien uns überdies eine Fülle unbekannter
Personalien und Zeitanspielungen, die aufzuldären schon die antiken
Schoben sich bemühen; der Lampenhändler Hyperbolos ist z. B. fast nur
aus der Komödie bekannt. Wenn aber Aristophanes gar in seinen
Acharnern v. 514 ff. die Ursachen des peloponnesischen Krieges in einer
Weise darlegt, die einen Thukydides ad absurdum fülirt, so hätte man
das nicht ernst nehmen sollen.
Pindar Reicli au Personalbezügen ist auch Pin dar. Es handelt sich bei ihm
besonders darum, die Adressaten seiner Enkomien und ihre Zeit zu be-
stimmen; der Dichter deutet überall nur an; auch hierfür bieten die alten
Schollen Hilfe.^^)
Achthundert Jahre später als Aristophanes dichtet Claudian. Auch
Claudian ist ein politischer Gelegenheitsdichter, und er ist für die Zeit
Stilichos und die Geschichte der Jahre 395 — 404 die wichtigste Quelle,
denn er war das offiziöse publizistische Organ des Hofs. Claudians Inter-
pretation ist also überall ein unmittelbares Erleben der Zeitgeschichte,
und die Zeitgeschichte, Avie ich sie nach ihm gegeben habe,^) vertritt
demgemäß einen Kommentar zu diesem Dichter. Die Datierung der
Sclilachten bei PoUentia und Verona (a. 402 und 403), in denen Stilicho den
Claudian
^) Siehe z. B. C. Fritsch, Demosth. ; •*) Auch ein Papj^rus, der Zeitansätze
or. VIII. IX. X quomodo inter se conexae j für Olj^mpiasieger enthält ; s. Egbert,
sint, Bremen 1908. I Hermes 35 S. 181 ff. und Lipsius in Ber.
•') Quaest. chronolog., Marburg 1884; i sächs. GW. 52 S. 1 ff.
derselbe, Progr. von Dortmund, Hermes j ^) Claudianausgabe S. XXIV ff. und
Bd. 39 u. 40 und sonst. i XLVII ff.
) Hermes Bd. III; Rhein. Mus. 36 S. 38 ff.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 9ö
Alarich besiegte, läßt sich nur durch scharfe Interpretation der Gedichte
de hello Gothico und de VI consulatu Honorii geAvinnen. Zeitlos und
ohne chronologische Indizien ist dagegen Claudians Epos vom „Raub der
Proserpina". Doch ist es mir gelungen, auch dies AVerk zu datieren. Denn
sein Vorwort richtet sich an einen Florentinus, der uns aus Symmachus'
Briefen bekannt ist. Jenes Epos hatte zimi Ziel, den. Segen der Ceres,
den Kornbau, zu preisen; Florentinus aber hat in den Jahren 395 — 397
als Stadtpräfekt durch umsichtig geleitete Kornzufuhren von Rom die
Hungersnot abgewendet. Im Jahr 397 verlor der Mann sein Amt; vor
o97 muß ihm das Ceres werk gewidmet sein.
Der alten griechischen Komödie entspricht aber auf dem Gebiete der ^^^^^'^
römischen Litteratur in Wirklichkeit vielmehr die Satire, und das Vor-
getragene gilt also mutatis mutandis auch von ihr. Doch hat sich diese
Satire in ihren Hauptvertretern Horaz und Persius vom politischen Leben
abgewandt; Juvenal Avagt nur die Zeit des Domitian, die schon hinter
ihm liegt, rückblickend zu geißeln; und so sind es nur die Reste des
Lucilius, die Apotheosis Senecas und Claudians Satire in Entropium, die
den Einfluß des großen öffentlichen Lebens verraten und eine eingehende
historische Analyse erfordern. Nichts subtiler und nichts interessanter,
als aus den dürftigen Zeilenresten des Lucilius die politischen Zeitbilder,
die er darbot, zu rekonstruieren wie die Erzählung A^om Numantinischen
Krieg. 1) Besäßen AA^r diesen dreistesten der Satiriker noch, er AA'ürde für
rms als liistorische Quelle gcAA^ß so ergiebig sein können AAie Claudian.
Jedes Werk aus seiner Zeit heraus zu begreifen: dieser Grundsatz Kleinere
ist bei Werken geringen Umf angs allerdings mitunter schAA^er zu befolgen,
und die Exegese nähert sich oft erst allmählich der Lösung dieser Auf-
gabe. Daß die Horazode I 2 lam satis terris gegen Ende des Jahres 28
A\ Chr., unmittelbar A^or der definitiven Einrichtung des kaiserlichen Prin-
zipats, abgefaßt sei, ergibt sich sicher aus ihrem Schlußteil; Avie damit
die Schilderung der TiberüberscliAvemmung bei Cäsars Tod und die Schlacht
A^on Philippi für den Dichter zusammenhängt, hat, soviel ich sehe, noch
niemand genügend erklärt. Das Enkomion elg Ilrolejudiov des Theokrit
(N". 17) betrachtet die Arsinoe, die Gemahlin des Königs Ptolemäus Phila-
delphos, noch als lebend, die nach AusAv^eis der Mendes-Stele im Jahre
271 auf 270 y. Chr. gestorben ist; auf den erfolgreichen Krieg, den der
König mit Syrien führte und für den die Zeit um das Jahr 274 jetzt
ermittelt ist, AAdrd ferner von Theokrit so, als Aväre er eben zu Ende ge-
führt, zurückgeblickt und in v. 86 ff. seine Ergebnisse mitgeteilt. Daraus
ergibt sich endlich, nach langem Hin- und Herforschen, mit Sicherheit
eine Abfassung des Lobgedichtes zwischen den Jahren 273 auf 271.=^)
Und Vergils Äderte Ecloge? eins der eigenartigsten Probleme! das
Gedicht, das den Heiden den Welterlöser A^erkündet: suyget gens aiirea
>) Siehe Zwei politische Satiren des* 1 ^) Vgl. v. Prott, Rhein. Mus. 53 S. 464
alten Rom (1889) S. 89ff.; anderes bei C. j bis 475; Gerckb in Bursians Jahresber.
< 'iCHORius, Untersuchungen zu Lucilius, i Bd. 124 S. 482. Wegweisend war hierfür
Berlin 1908; vgl. auch Kappelmacher, I Büchelers Aufsatz Rhein. Mus. 30 S. 55 ff.:
Wiener Studien 31 (1909) S. 82 ff. | dazu Kopp ibid. 39 S. 210.
Dialoge
90 Kritik und Hermeneutik.
mundo; nova progenles caelo demitütiir; cara deiim suholes u. s. f. Wie soll
man das verstehen? wie war solche Verkündigang im voraugusteischen
Rom, im Jahr 40 v. Chr. möglich? Avie war die Idee möglich, daß, da
der Staat in Not, das Heil der Zukunft an die Geburt eines Knaben ge-
knüpft ist, der Himmelsrecht haben wird? Nur wer die religiösen Stim-
mungen jener Zeit, nur wer zugleich die Personen, an die sich die poli-
tischen Hoffnungen damals knüpften, genau kennt, kann diese Frage zu
beantworten und das Gedicht zu erklären versuchen. Diese Erkläruno-
ist schließlich sehr trivial. Man kann und darf nicht urteilen, ohne die
nächste Parallele heranzuziehen, die uns Martial VI 3 darbietet. Das Ge-
dicht lautet mit deutlichen Anklängen an Yergil:
Nascere Dardanio promissum nonien lulo.
Vera deum suboles, nascere magne puer:
Cui pater aeternas post saecula tradat habenas
Quique regas orbem cum seniore senex.
Ipsa tibi niveo trabet aurea pollice fila
Et totam Phrixi luha nebit ovem.
Dies Gedicht bezieht sich auf die Schwangerschaft der Kaiserin Domitia.
Domitian erwartete von ihr einen Sohn, und die Hoffnungen, die sich
an diesen Erwarteten knüpften, kommen hier zum Ausdruck. Aber es
ist in Wirklichkeit kein Sohn geboren worden, und die Wünsche des
Hofdichters Avaren vergeblich. Ganz ebenso muß aucli Octavian im Jahre
40 V. Chr. von seiner Gattin Scribonia einen Sohn und Erben erhofft
haben. Die Analogie des Martialgedichtes zwingt dazu, dies anzusetzen.
Yon dem erhofften Erben Octavians sollte, nach der enthusiastischen Weis-
sagung Yergils, d. h. gemäß der damaligen Yolksstimmung in Rom, das
Glück aller Zukunft abhängen. Es war ganz natürlich, daß der Dichter
solchen Stimmungen Ausdruck lieh. Aber auch diese Hoffnung täuschte.
Es wurde nur eine Tochter, Julia, geboren. Scribonia wurde von Octavian
verstoßen. Yergils Weissagung hat sich ebensoAvenig erfüllt wie die
Martials.i)
Komplizierter ist die Lösung der Aufgabe der Datierung, von der
Avir handeln, endlich in der Dialoglitteratur; denn für die Dialoge ist
allemal die Zeit ihrer Abfassung A^on der Zeit, in der die Szene des Dia-
logs spielt, sorglich zu unterscheiden. In Tacitus' Dialog De oratoribus
ist die Szene anscheinend in die Anfangszeit der Regierung des Yespasian
Axrlegt ; der Dialog selbst kann aber sehr aa^oIiI erheblich später abgefaßt
sein. Ciceros Bücher De finibus entstanden im Jahre 45; ihre Szene
spielt aber im Jahre 50, und AA'enn dort also der Philosoph Siron als in
Eom auAA'esend bezeichnet AA'ird, so betrifft dies das Jahr 50, und AA'ir
erkennen, daß Yergil, Sirons Schüler, ihn dort schon so früh hat kennen
lernen können. Yor allem nun Plato; auch er datiert seine sämtlichen
Gespräche pflichtgemäß zurück, nämlich in die Zeit, da Sokrates noch
lebte; sie AA^aren also nicht nur philosophische, sondern geAvissermaßen
*) Diese Erklärung pflege ich, seit ; um so sicherer; sie lag gleichsam in der
ich Martial interpretiere, A'orzutragen. Ich j Luft. Vgl. auch J. E. Ohurch in Uni-
freue mich, daß auf sie auch andere, wie | versit}^ of Ne\^ada studies Bd. I (1908)
Skutsch, verfallen sind, und halte sie für | Nr, 2.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 97
auch historische Studien; dabei aber laufen dem Plato Versehen mit unter,
imd wälirend sein Symposion etwa im Jahre 401 spielt, findet sich in
ihm p. 393 doch eine Hindeutung auf das Jahr 385; wir verzeihen ihm
diese Nachlässigkeit gern; denn damit ist uns ein terminus post quem für
die Zeit der Abfassung der herrlichen Schrift gegeben. Nicht so gllnstig
steht es mit Piatos Protagoras, dessen Handlung ins Jahr 432 verlegt ist,
während auf p. 327 eine Komödie des Pherekrates als neu erwähnt wird,
die erst im Jahre 420 erschien; etwas weiter hinab, vielleicht bis 410
oder 408 führt die Erwähnimg des Orthagoras, des Lehrers des Epami-
nondas, auf p. 318. Daß indes keine der Schriften Piatos vor 399 an-
gesetzt werden darf, steht mir fest.i) Wann also, d. h. wie bald nach
399 der Dialog Protagoras selbst entstand, veiTät er nicht selbst, und es
kann nur aus anderen Merkmalen, die der philosophischen und sprach-
lichen Analyse angehören, erschlossen werden.
3. Textauslegung.
Es folgt die eigentliche Textauslegung und Einzelerklärung litterari-
scher Werke von Zeile zu Zeile, die die Fonn des sog. Kommentars an-
nimmt; dieser Kommentar kann als Fußnoten unter dem Text, er kann
zusammenhängend hinter dem Text abgedruckt werden. Je reicher er
ist, desto mehr ist die letztere Anordnung zu empfehlen. Andernfalls
erleben wir es nur zu oft, daß oben auf der Seite nur eine einzige Text-
zeile wie ein melancholisches Fettauge auf der undurchsichtigen Suppe
der Anmerkungen schwimmt. Ich nenne keine Beispiele. Im übrigen
ist hier weniger zu monieren.
Denn daß es leichte und schwere Autoren gibt, versteht sich. Manche Die
wie Xenophon oder Lucian oder Ovids Amores lesen sich glatt und f ür g^^^^*^^^^"
Ver-
den Geübteren in langen Abschnitten ohne jede Nachhilfe, andere sind sdiiedene
undurchdringlich wie ein Dornendickicht und wollen es sein: ich denke rungen;
z. B. an die fürchterliche Alexandra des Lykophron, auch an Ovids Ibis, überblick
die den Leser durch die Fülle des nur angedeuteten Stoffs gradezu er-
drücken. Bei den Alten führte der Philosoph Heraklit den Beinamen
d oxoTEivog (Ps.Aristotel. de mundo 5; Cicero de divin. 2, 133 u. sonst);
es war schwer, ihn auszulegen.
Natürlich ist aber auch bei den schwereren Autoren nicht immer die
gleiche Gelehrsamkeit erforderlich. Die sog. Privataltertümer kommen für
den in Frage, der etwa Statins' Silv^ae, den Petron, den Herondas, die
Adoniazusen des Theokrit traktiert. In den Kreis der religiösen und gottes-
dienstlichen Dinge führt uns die Hymnenlitteratur (orphische Hymnen,
Hymnen des Kallimachos), Aeschylus' Eumeniden, Yergils Aeneis BuchVI,
die Fasti Ovids oder gar die Litteratur des Hermes trismegistos — man
lese Eeitzensteins Poimandres — und jener phantastische Papyrustext,
den Dieterich als Mithrasliturgie ausgelegt. Die Kenntnis der sog. Staats-
altertümer erfordern politische Redner wie Demosthenes und Aeschines,
>) Anders denkt Const. Ritter, Piaton I (1910) S. 269 f.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 'ö. 3. Aufi
98
Kritik und Hermeneutik.
Homer u.
die prä-
histori-
schen
Funde
Kenntnis der Jurisprudenz sowohl viele der Gerichtsreden Athens i) als
auch solche Eeden Ciceros Avie pro Quinctio und pro Caecina. Dazu
dienen dann die Schriften der römischen Juristen selbst ! Aber auch diese
bedürfen der Erklärung. Als Kaiser Justinian mit Hilfe des Tribonian
zwischen den Jahren 528 — 533 n. Chr. das Recht neu kodifizierte, verbot
er doch, daß zu den Digesten, Novellen etc. Kommentare geschrieben
würden (s. codex Justin. 1, 17), er gestattete nur erläuternde Paraphrasen
(egur]vsiai eig jiMtog), und erst im weiteren IVIittelalter begannen in Italien
die „Glossatoren" ihre Tätigkeit zu den Institutionen Justinians, w^ie zu
den Novellen (Julian), wodurch dann das sog. Corpus iuris für Westeuropa
erschlossen worden ist.
Wer den Arat oder des Manilius Astronomika richtig lesen will, tut
zur Einführung gut, sich einmal durch Bolls Sphaera hindurchzuarbeiten.''^)
Vergils schönstes Werk, die Georgica, legt uns der am besten aus, der
Norditalien kennt und vor allem selbst Landwirtschaft getrieben hat : ein
kösthcher Besitz ist da immer noch unseres alten J. H. Voß echte Land-
luft atmender Kommentar. Des Ausonius' MoseUa Hest man am besten
auf einer Moselreise. Nur ein Archäologe kann uns den Pausanias (vgL
bes. Jahn-Michaelis, Descriptio arcis Athenarum), nur ein Archäologe uns
die Kunstgeschichte in des Plinius letzten Büchern (vgl. H. Brunn, Gesch.
der gTiechischen Künstler) befriedigend erklären. Für Ovids Fasti ist es
u. a. nötig, über das römische Jahr und seine Einteilung sich zu unter-
richten.») Zur Einführung in desselben Plinius Naturgeschichtsbücher
kann auch heute noch Urhchs' Chrestomathia Pliniana dienen. Auf diesen
naturwissenschaftlichen Gebieten aber wäre noch unendlich viel zu tun.
Ein Muster gab Sudhaus, der der Erklärung des Gedichtes Aetna des
Posidonius Theorie vom Vulkanismus zugrunde legte. Zum Verständnis
der Pseudo-Ovidischen Halieutica galt es, sämtliche dort aufgezälilten Fisch-
sorten festzustellen.*) Für die Poliorketika kommen die modernen Studien
über römisches Geschützwesen zur Hilfe. Für Galen und die Medizin
lese man Ilbergs Aufsätze, u. s. f.
Andere Schriften des Altertums lassen sich als Memorialbücher zur
Litteraturgeschichte lesen und erfordern dementsprechende Vorstudien;
so Ciceros Brutus, das zweite Buch der Tristien Ovids, das Schriftchen
des Dionys von Halikarnaß, das man rcbv äoyaicov xoioig betitelt, und
Quintilians Buch X cap. 1. Wertvoll, wennschon kurz gefaßt, G. Bern-
hardys Kommentar zum Suidas, eine Fundgrube für Litteraturgeschichte.
Sehr interessant hat sich in der neuesten Zeit die Homererklärung
entwickelt. Von Homer und Hesiod kennen wir keine Zeitgenossen: sie
sind uns einzige Quelle für ihre Zeit; daher können sie auch nur aus
1) Siehe Meier und Schömanx, At-
tischer Prozeß, ed. Lipsius 1883 u. 1887;
danach J. H. Lipsius, „Das attische Eecht
und Rechtsverfahren", Leipz. 1905.
2) Auch Breiters Kommentar gibt
für Manilius Hilfe; für Arat sei auf E.
MAASS'großeSammlung^Commentariorum
in Aratum reliquiae" (Berlin 1898) ver-
wiesen.
3) VgL die Kaiendarien im Corpus
inscr. lat. Bd. I ; übrigens H. Peter, Aus-
gabe der Fasti Ovids; Idelers Chrono-
logie; MoMMSENS römische Chronologie.
4) De halieuticis p. 106 ; dazu G. Schmid,
Phüolog. Suppl. XI S. 253 ff.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 99
sich selbst erklärt werden, und das Herbeischaffen antiquarischen Materials
aus den späteren griechischen Autoren wäre vom Übel; diesen Grundsatz
setzte schon Aristarch durch. Das Ergebnis für Homer waren deshalb
"\dele äjiooiai, für die die Ivoig sich nicht finden AvoUte. Plötzliche Hilfe
brachten nach zwei Jahrtausenden Schliemanns Ausgrabungen und was
auf sie folgte, das Wiederauferstehen des prähomerischen Zeitalters und
der sog. ägäischen Kultur am Ende unseres 19. Jahrhunderts: die Grabungen
in Troja, Tiryns, Mykenae, Kreta. Jetzt erläutern Bildwerke das alte
Epos. Ein Taubenbecher, ähnlich dem des Nestor, hat sich gefunden
(allerdings nur zweihenkelig), der Helm aus Eberzähnen in der Dolonie;
Lampen dagegen nicht, und auch Homer kennt noch keine Lampen. Daß
die Bilder auf dem Schild des Achill nicht als Reliefs, sondern als ein-
gelegie Metallarbeit zu denken sind, das zeigt die mvkenische Dolchldinge.
Überhaupt aber kennen wir jetzt durch Anschauung den homerischen
Schild älteren Stils (den karischen), der so groß ist, daß man unter ihm
Avie in einer Hütte schläft, kennen ferner jetzt den homerischen Streit-
wagen und begreifen, daß dieser Wagen nur Transportmittel für die
Könige war, die in der Last der Waffen nicht marschieren konnten. Weil
Ajax keinen Streitwagen hat, daher ist er nur defensiv tätig. Dies und
mehr, eine Fülle des Anregenden, findet man bei Eeichel, Homerische
Waffen, 2. Aufl., Wien 1901. Aber auch die Einrichtung der Wohnräume
des A^orhomerischen Zeitalters A'om Zelt des Achill in Q bis zum Palast
des Odysseus sind jetzt aufgeklärt, eine Parataxe von Stuben und Hallen,
wie Tiryns sie zeigt; hierüber Ferd. Noack, Homerische Paläste, Leipzig
1903. Derselbe: Ovalhaus und Palast in Kreta, Leipzig 1910. i)
So steht es im Homer. Wie anders das Heldenepos Eoms, Yergils ^ergü
Aeneis! ein Spätling, der sich noch einmal nach Troja verirrt, Avie
AA^enn unser Jordan noch einmal die alten Nibelungen singt. Die Schil-
derung der heroischen Zeit hat Yergil natürlich nur durch Buchlektüre
gCAA^onnen, er, der mit Recht circa sacra doctissimus hieß, und auch nur
mit Hilfe der nämhchen Belesenheit kann zu ihm ein angemessener Kom-
mentar, zu dem schon das Altertum selbst den Grund legte, gCAVonnen
werden.
Aber auch, um die Zuverlässigkeit der antiken Geschichtschreiber Orts-
nachzuprüfen, hat sich ein neues Hilfsmittel gefunden. Was die erAvähnten scMaSlt-
Ausgrabungen für Homer, das leistet die Bereisung der antiken Schlacht- ^^^^^^
felder, aa^c kundige Gelehrte sie heute ausführen, für die Kontrolle der
Schlachtberichte eines Diodor, Caesar, LiAdus und Tacitus. Denn daß
gerade in den stilisierten Schlachtenschilderungen dieser Autoren Adelfach
eine feste Schablone herrscht, also der AA^rkliche Hergang der Ereignisse
A^erwischt und verdunkelt wird, empfindet man leicht. Es sei dafür be-
sonders auf die Arbeiten J. Kromayers A^erAviesen: Antike Schlachtfelder
in Griechenland, 3 Bände, Berlin 1902 — 12; dazu als Korrektiv H. Del-
brück, Gescliichte der Kriegskunst, Bd. I, Berlin 1900, und „Die Schlacht
bei Cannä", Histor. Zeitschr. 109 S. 481 ff. Aber auch unsere Ägyptologen
^) Auch sonst konzentriert sich die i Das Floß der Odyssee, sein Bau und sein
Untersuchung; ich zitiere noch E. Assmann, \ phönikischer Ursprung, Berlin 1904.
7*
100
Kritik und Hermeneutik.
Ägyptisch-
Assyri-
sches
Geschil-
derte Per-
sönlich-
keiten
bei den
Historikern
und Assyriologen helfen. Yon ihnen wird jetzt Herodot mit seinen Be-
schreibungen Ägyptens und des Orients sorgHch kontroUiert, und es ist
für ihn eine neue und ungemein lehrreiche Kommentierung entstanden, i)
Wir sind aber noch nicht am Ende. Denn die alten Autoren führen
uns nicht nur Sachen, nicht nur Zustände und Erlebnisse, sie führen uns
auch Personen vor, und der Leser hat somit auch auf die Schilderung
von Persönlichkeiten zu achten. Doch greift dies schon in das Gebiet
der höheren Hermeneutik hinüber. Es betrifft erstlich Figuren der Sage,
wie Homer sie meisterhaft liingestellt hat; sein Vorbild hat späterhin
stets gegolten; die Tragödie hat den Figurenschatz Homers insbesondere
durch Erfindung von großen Frauencharakteren herrlich bereichert. 2) Die
Untersuchung betrifft aber zweitens auch die Schilderung historischer
Personen, und für diese Fragen ist das Buch von Ivo Bruns, Das lit-
terarische Porträt der Griechen (1896), wegweisend geworden.
Pindar war noch unfähig, die Kämpfer und Sieger, die er lobt,
menschlich zu charakterisieren. Diese Kunst hebt mit der alten Komödie
an; neben ihr her geht alsbald auch die Geschichtschreibung, die das-
selbe versucht; es folgen sodann Plato und Xenophon, deren feine
Kunst sich wetteifernd an der Figur des Sokrates übt. Yon da über-
nimmt die cynische Satire diese Kunst, die wir in Lucians Peregrin
und Alexandres goAvaliren; und so geht sie zur Satire der Eömei
weiter: ich denke an Senecas Claudiussatire, Juvenals Nr. 4, an den
Eutropius des Claudian. Bei den Historikern aber besteht eine zwei-
fache Methode , indem sie entweder wie Herodot und Polyb die
Menschen direkt oder aber wie Thukydides und Tacitus sie indirekt
schildern; Thukydides beschreibt z. B. den Kleon nicht selbst, sondern
nur den Eindruck, den er auf andere macht. Dies Verfahren ist vor-
sichtiger ; das direkte Verfahren aber wurde von der Biographie adoptiert,
von Plutarch zum höchsten ausgebildet, bis zum Lächerlichen verflacht
in den späten Kaiserbiographien mit ihren ganz äußerlichen Signalements;
und diese nun traditionell gewordenen Steckbrief artigen Beschreibungen
der Personen setzten sich dann auch späterhin in den byzantinischen
Chroniken, setzten sich auch im Roman vom trojanischen Kriege fort.»)
Ich gebe eine Probe aus Daretis Phrygii De excidio Troiae liistoria cap. 12:
fuerunt aiitem (Castor et Pollux) alter alteri similis, capillo flavo oculis
magnis facie piira, hene figurati corpore deducto. Helenam similem Ulis,
formosam animi simplicis blandam, cruribiis optimis, notam inter diio supercilia
habentem, ore pusillo. Prlamum Troianorum regem vultu pulchro, ^nagniim,
voce suavi, aquiUno corpore; und so geht es weiter: Aeneam ruf um qua-
dratum, facundum affabilem, fortem cum consilio, pium vemistum, oculis
») Herodotos 1. 1 — III with notes, von
A. H. Sayce, 1883; Buch IV— VI von B.
W. Macan, 1895; Buch II von Wiede-
MANN, 1890.
2) Vgl. übrigens H. Steinmann, De
artis poeticae veteris parte quae est jieqI
rj&iöv, Göttingen 1907.
8) Vgl. J. Fürst, Die litterarische
Porträtmanier u. s. f., Leipz. 1903 (Philol. 61).
Kleine tiefliegende Augen bedeuteten
einen Bösewicht; so beschaffen war auch
der Mann, der dem Kaiser Hadrian nach
dem Leben stand : derartiges nahm Pole-
mon in seine Schrift über Physiognomik
auf: s. A. v. Premerstein in Klio, S.Bei-
heft, Leipz. 1908.
11. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 1()1
lidaribus et nigris, und ins Unendliche. Von Achill heißt es z. B. noch,
daß er capiUo myrteo; von Nestor: 7iaso obunco longo. Derartige Beschrei-
bungen waren gradezu Anweisungen für den Hersteller von Bilderbüchern,
der die Historien illustrierte, i)
Fraglich ist nun, um vom Sagenhaften zur eigentlichen Historie Giaub-
zurückzukehren, Avie ^^el historische Glaubwürdigkeit der Satire, die uns ^"^"def
oft Personenschilderungen gibt, zukommt. Mit der Satire eng ver- invektiven
schwistert ist aber auch die Prozeßrede und Demegorie der Alten, die
den Gegner um jeden Preis verunglimpft. In den Privatreden des
Demosthenes wird zu diesem Zweck offenbar oft auf das gröblichste ge-
logen. Wir werden solche Personalien demnach mit annähernd derselben
Vorsicht aufnehmen müssen wie das Bild, das uns Aristophanes in den
Wolken von Sokrates zeichnet. Es sind Fratzen, Zerrbilder; die Schrift-
gattung, der ipöyog selbst hat sie erzeugt. Das ist sicher. Aber sie fanden
trotzdem Glauben. Die Wolken des Aristophanes haben in Wirklichkeit
das Ansehen des Sokrates bei seinen Mitbürgern auf das schwerste ge-
schädigt. Ebenso steht es z. B. auch mit dem Caesar- und Mamurraskandal,
den uns Catull auftischt; wir werden ihn heute nicht wörtlich für ernst
nehmen; ebenso vorsichtig muß man dann aber auch beurteilen, was
Cicero voll Gift und Geifer in der zAveiten Philippica über M. Antonius
aussagt; Cicero hat diese Rede nie mündlich zu halten gewagt. Sie war
nichts als Satire (weshalb auch Juvenal ihr Bewunderer ist), steht also
mit den sonstigen Satiren auf gleichem Niveau und kann also auch nicht
mehr Glauben für sich beanspruchen als jedes andere Pamphlet gleichen
Kalibers. Das Andenken des Antonius ist litterarisch benachteiligt wie
das kaum eines anderen Römers.
Besondere Achtsamkeit ist endlich da geboten, wo sich die Vermutung Pseudo-
auf drängt, daß die eingeführten Personen eine allegorisch -symbolische ^^^^
Auslegung verlangen. Dafür ist der sonderbare Gottesmann und Schnell-
läufer Amphitheos, Aristoph. Acharn. 47 ff., ein hübsches Beispiel, unter
dem sich durchsichtig genug Hermogenes, des Kallias Bruder, verbirgt. 2)
Also ein Pseudonym. Eine weitgehende Allegorie dieser Art wird für
des Kratinos Dionysalexandros vermutet, s) Das schönste Beispiel aber
für diesen litterarischen Mummenschanz sind die Thalysia Theokrits (Id.VH),
wo unter den Namen von Hirten und Wanderern sich Hauptgrößen
der alexandrini sehen Dichtkunst zusammenfinden, begrüßen und Kompli-
mente sagen: ein wertvoller Einblick in das litterarische Treiben jener
für uns so arg verhüllten Zeit.
Daß auch an andere Theokrits tücke, daß auch an die Hirtengedichte
Vergils die gleichen Vennutungen herangetragen worden sind, ist bekannt.
Doch ist hier Zurückhaltung geboten. Nur in Ecl. 9 und 5 versteckt sich
unter Menalcas sicher Vergil ; dies hat der Dichter selbst deutlich gemacht.
Im übrigen wäre noch am glaublichsten, daß Vergil unter dem sterbenden
^) Vgl. Krumbacher, Gesch. d. byzan- \ phanes und die historische Kritik, 1873,
tinischen Litteratur* S. 220; Die Buchrolle S. 697 f.
in der Kunst S. 307 f. ^) G. Thieme, Quaest. comic. ad Peri-
2) Siehe H. Müller-StrCbtng, Aristo- | dem pertinent., Leipz. 1908.
102 Kritik und Hermeneutik.
und zum Gott erhobenen Daplinis in Ecl. 5 wirkKch, wie das Altertum
es behauptet, die Apotheose Caesars gegeben habe. Uns mag solches
Yersteckenspielen sehr unpoetisch, ja albern erscheinen; aber wir müssen
bedenlvcn, daß seit Homer der Monarch als „Hirte" der Völker galt und
daß es eben Hirten sind, die bei Yergil singen. Für sie Avar auch Caesar
Hirt, und Daphnis konnte wirklich das Sinnbild seiner Vergöttlichung sein.
Wenn Ser\äus oder seine Quellen dagegen in dem alten Tityrus Ecl. 1 den
jungen Vergil und gar daselbst 1, 29 unter der verlassenen Galatea die Stadt
Mantua, unter Amaryllis Rom, wenn er 2, 1 unter Corydon Vergil, unter
Alexis Octavian erkannte u. a. m., so staunen wir und zucken die Achseln,
inter- Zuiu Schluß soieu noch einige Ratschläge für den Interpreten hin-
^on^TO-" zugefügt, die ziemlich selbstverständlich erscheinen, doch aber, wo bei
verser (Jer Einzelauslcgung sich ScliAvierigkeiten ergeben, mitunter nur zu leicht
vernachlässigt werden. Das Vorbild eines geistvollen und feinfühligen
Interpreten war besonders Bücheler^in seinen Programmen und verstreuten
Aufsätzen (bes. im Rheinischen Museum); Muster der Sorgfalt gab Joh.
Valen in seinen Opuscula academica. Unser Hauptgrundsatz muß sein,
daß wir jede Stelle natürlich und schlicht erklären und dem Sprach-
gebrauch gemäß von der nächsten Woi-tbedeutung ausgehen. Wie viele
Horaz Od. Kontrovcrscn hat nicht der Horazvers Od. 4, 8, 17
' ' Non incendia Carthaginis inpiae
hervorgerufen! Denn dort ist anscheinend vom älteren Scipio die Rede,
der doch aber Karthago nicht verbrannt hat. Man hat sich also dahin
geflüchtet, incendia auf die Verbrennung der kaithagischen Flotte zu be-
ziehen. Allein dies ist Künstelei und ist ganz unmöglich; der Genetiv
navium Aväre nicht zu entbehren. Man muß also den Vers entweder als
unecht tilgen oder nach einer anderen Auskunft für ihn suchen.
Horaz Od. Horaz teilt in der Ode II, 1 mit, daß Asinius Pollio ein Geschichtswerk
über den zweiten Büi'gerkrieg auszuarbeiten im Begriff ist, und schreibt v. 21 :
Audire magnos iam videor duces.
Er glaubt die großen Feldherrn Caesar und Pompeius schon zu hören?
Nicht „zu hören", sondern „zu sehen" müßte es heißen; daher Bentley
und schon andere vor Bentlej' vldere statt audire forderten, was aber doch
schon metrisch anstößig wäre. Hanow AvoUte gar: anüre magnos iam video
duces • Aber diese Gelehrten bedachten nicht, daß alles Lesen und so auch
das Lesen von Geschichtsbüchern im Altertum durch den Lesediener und,
Avenn er felilte, doch auf alle FäUe laut geschah. Keine Stelle ist zur Ver-
anschaulichung dieser Tatsache so instruktiv wie eben die vorhegende, i)
Horaz Od. \^ cinor allbekannten Stelle der Oden, 1, 12, 45, heißt es ferner:
crescit occulto veliit arbor aevo
fama Marceni(s).
Hier grassierte eine Zeitlang die Konjektur arvo für aevo. Kießling ver-
stand occulto aevo als nähere Bestimmung zu arhor: also ein Baum, dessen
Zukunft noch verhüllt ist. In Wirklichkeit aber ist dies occulto aevo Zeit-
bestimmung zu crescit \ der Marcellerruhm Avächst (Avie der Baum) in einer
^) Ueber das Vorlesen s. „Die Buch- ' dvayiwonjg ibid. S. 171 f.
rolle in der Kunst" S. 146 ff., durch den |
2, 1, 21
1, 12, 45
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 103
Zeitdauer, die zugleich der Yergangenlieit und Zukunft angehört und die
deslialb unbestimmbar ist. Diese Interpretation ist die des Altertums; denn
der Kirchenschriftsteller Eufinus sagt in seiner Apologie (Bd. 21 S. 581 M.)
vom heranwachsenden Knaben: parviilus crescit et occulto aevo in petfectam
adolescit aetatem\ eine deutliche Reminiszenz; auch hier gehört das occulto
aevo zumYerbum.i) Und mit dem aevo Od, 2, 2, 5 steht es nicht anders.
In Tacitus Dialop- wird c. 17 auf die römischen Kaiser, die bisher Tadt.Diai.
regiert haben, zurückgebHckt und hinzugefügt: ac sextam tarn felicis huius
pr'inäpatus stationem qua Vespasianus rempuhlicam fovet. Man hat danach
die Zeit des Gespräches, das Tacitus schildert, genau ins sechste Jahr
der Regierung Vespasians (sextam stationem) datieren zu können geglaubt.
Aber man hat dabei nicht die Wortbedeutung von statio erwogen: statio
heißt nie „Jahr". Steiner hat 2) längst richtig gesehen, daß das Wort
nur die Regierung selbst bezeichnen kann; statio heißt in Wirklichkeit
imperkim; dies lehrt Lucan 1,45; Plin. panegyr. 7 u. 86; 3) und Vespasians
Regierung war in der Tat (wenn wir vom Interregnum des Dreikaiser-
jahrs absehen) die sechste. Das Jahr des Gesprächs selbst wird uns dem-
nach hier von Tacitus nicht genauer mitgeteilt.
Cicero schreibt an seinen Verleger Atticus XIII 12,2: Ligarianam cic. ad Att
praeclare vendidisti: posthac quid quid scripsero, tibi praeconium de f er am, ' "'
Avas jeder zunächst dahin verstehen wird, daß Atticus Ciceros Rede pro
Ligario außerordentlich gut verkauft, in vielen Exemplaren abgesetzt hat
und daß ihm nun Cicero deshalb den Verlag seiner künftigen Schriften
dauernd überträgt. Nach L. Hänny dagegen „Schriftsteller und Buch-
händler in Rom", 1884, S. 53, soll vendere hier bildlich gemeint sein und
„empfehlen" (venditare) bedeuten, wofür nur Horaz Epist. 2, 1, 75 an-
gezogen Avird, eine durchaus unstatthafte Annahme. Denn es fehlt erstlich
jedes Anzeichen dafür, daß Cicero an jener Stelle tropisch reden wiU; die
obigen Worte stehen in dem Brief als ganz einfache geschäftliche Mit-
teilung hingeworfen ohne jeden weiteren Zusatz oder auch vorbereitende
Worte, die eine bildhche Auslegung erleichtern würden. Dazu kommt
nun noch, daß vendere in diesem übertragenen Sinn im ganzen Cicero
sonst nirgends vorkommt. Es ist also ausgeschlossen, das Wort anders
als ,, verkaufen" zu übersetzen. Und dazu stimmt praeconium; denn da-
mit ist die Tätigkeit des Marktschreiers, praeco, bezeichnet, d. i. des Handels-
helfers, der berufsmäßig bei Auktionen und öffentlichen Verkäufen assi-
stierte; und das Adverb praeclare, das Cicero zu vendidisti hinzusetzt, ist
ebenfalls ein Ausdruck der Handelssprache; denn ganz so lesen wir Cic.
pro Rose. com. 34: praeclare negotium gessit Boscius: fundum fructuosissi-
mum abstulit. Die obige Stelle kommt also dauernd für denjenigen in
Betracht, der untersucht, ob die Autoren im Altertum am Verkauf ihrer
Schriften selbst mitinteressiert waren.*)
') Hieraul" ist von Weymann mit Eecht ! ^) Progr. von Kreuznach 1863 S. 17.
hingewiesen worden: Compte rendu du | ^) Auch Sx^artian, Helius 1, 1; irrig
quatrieme congres scientifique internatio- Gudeman, Borl. philolAV.schr. 1909 S. 1038;
nal des catholiques, Fribourg (Suisse) 1898 I Neue Jahrb. 15 S. 661.
S.o. I 4) Wenn wir ad Att. 12, 19, 2 lesen:
104 Kritik und Hermeneutik.
juvenai Staunen erweckt, Avas wir beim Juvenal 7, 130 über den Tongilius
lesen: magno cum rhinocerote lavari \ qui solet et vexat lutulenta halnea
turha. Der Mann geht, um Aufsehen zu erregen, mit einem gezähmten
Rhinozeros ins öffentliche Bad. Man hat das durchaus nicht glauben
wollen, und es herrscht hier, soviel ich sehe, die Auslegung: cum rhino-
cerote bedeute „mit einem Salbgefäß, das aus dem Rhinozeroshorn her-
gestellt sei" (vgi.Martial 14, 52f.). Dem widersprach aber schon Bücheier
dereinst in seinen Seminarübungen. Denn diese Erklärung ist nicht nur
künsthch, sie wird auch der Präposition cimi nicht gerecht, die keines-
wegs das Werkzeug einführen kann, sondern nur den Begleiter; lavor
cum servo kann z. B. nicht heißen: „ich bade mit Hilfe des Dieners",
sondern nur: „in seiner Gesellschaft". Außerdem aber steht lutulenta
turha im Text; dies auf die Dienerschaft, die den Tongilius umgibt, zu
deuten, hat wieder gar keine Wahrscheinlichkeit; denn wie kann die
Dienerschaft eines vornehm auftretenden Mannes von Schmutz bedeckt
sein {lutulenta)! Das Tier ist es, was den Kot macht, ob wir nun turha
mit „Aufruhr" oder mit „Schar" übersetzen; letzteres würde besagen,
daß der Mann noch mehr Bestien mit sich schleppt. Zur Veranschau-
lichung der abenteuerlichen Tierliebhaberei der römischen Kaiserzeit (man
denke auch an die Rhinozerosse und Hippopotami des Kaisers Elagabal,
Lampridius c. 28) kann also diese Juvenalstelle mit Recht benutzt werden, i)
Toren/, Y\xY die Freimdscliaft des Naevius und Plautus und für das altrömische
Enn. 25
Theaterwesen ist nichts so lehrreich wie der Vers des Terenz, Eun. prol. 25 :
Colacem esse Naevi et Plauti veterem fabulam.
Hieraus hat man allgemein entnommen, daß sowohl Naevius als Plautus
ein Lustspiel Colax gleichen Titels geschrieben haben, was schon an sich
höchst befremdlich ist imd überdies deshalb Anstoß gibt, weil Plautus
sonst griechische Titel für seine Dramen nicht zu wählen pflegte. Nein!
Das ist ungenau interpretiert. Terenz bezeugt uns hier, der Colax sei
ein altes Stück des Naevius und des Plautus, d. h. beide waren die gemein-
samen Verfasser des einen Stücks. Sonst müßten Avir eben lesen Colaces
veteres fabulas oder aber einfach et Naevi et Plauti. Das ist ßehr klar, und
ebenso klar ist das Folgende. Im Colax des Vorbildes Menander kamen ein
Parasit und ein Miles vor (ib. v. 30 f.); die nämlichen beiden Rollen enthielt
aber auch der Colax Naevi et Plauti (v. 26). Diese Tatsache führt auf dasselbe :
der Colax der beiden kann nur ein Stück gewesen sein. 2) Man wundre
sich über solches Zusammendichten im Stil der Moser und Schönthan
Ligarimuim, ut vUleo, praelare aiwtoritas tua ! ad Att. 12, 20, 2: est enim pervolgata : trotz-
commendamt, so heißt das, daß Atticus 1 dem hatte Atticus noch Exemplare genug
die Eede dadurch, daß er sie in seinen ' auf Vorrat, um eine nachträgliche Kor-
Verlag nahm, auch beim vornehmen Publi-
kum Eoms durch seine Autorität oder
durch das Ansehen, das er in diesen
rektur im Text vorzunehmen : ib. 12, 44, 8.
^) Kulturgeschichte Roms S. 86.
2) Der Gnatho in Terenz' Eunuch
Dingen genoß, empfahl. Bei commendavit sollte, beiläufig, nach Menanders Kolax
fehlt wohlgemerkt der Dativ: damit ist gedichtet sein; die Reste des Menander-
angezeigt, daß die Rede von Atticus nur 1 Stückes aber, Oxj^rhynch. Pap. III Nr. 17
ins Allgemeine und nicht etwa bestimmten \ bis 26, bestätigen*^das nicht; vgl. H. Siess,
Personen empfohlen wurde. Daß sie schon ! Wiener Stud. 29 (1907) S. 89.
in vielen Exemplaren verbreitet war, sagt |
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 105
nicht; dasselbe ist uns auch von attischen Komikern bekannt, und auch
an Terenz' Stücken sollten ja andre mitgeschrieben haben, i)
Streitpunkt ist, ob Terenz im Heautontimorumenos seine Vorlage Terenz
einfach übersetzt hat oder ob er mehrere Vorlagen zusammenarbeitete,
kontaminierte. Die Entscheidung hierüber hängt vom Verständnis der
Prolog^^erse 4 f. ab :
Ex Integra Graeca integram comoediam
5 hodie sum actunis Heauton timorumenon,
duplex quae ex argumento facta est simplici.'*)
Diejenigen, die auf Grund des v. 6 an eine Kontamination glauben, er-
klären integra im y. 4 als „noch von keinem andern benutzt, unberührt".
Das geht jedocli nicht an. Denn in Wirklichkeit ist integer grade der
speziellste Gegensatz zu contajnlnatus ; dies lehrt die wichtige Stelle Ciceros
Top. 18: ut ayiteponantur integra contaminatis. Was integrum ist, ist also
nicht contaminatum. Demnach handelt es sich bei Terenz um ein Stück,
(las durch keine fremden Zutaten beschmutzt ist; 3) ein solches will er jetzt
aufführen. Hieraus folgt dann weiter, daß wir den v. 6 ganz anders, als
die meisten es tun, deuten müssen. Es handelt sich um die Bedeutung
von duplex. In der Tat heißt duplex ja nie soviel wie mixtus, difieQii)g
oder hifariam compositus; es heißt nur das, was gradezu doppelt ist, eine
Bezeichnung, die auf solche kontaminierten Stücke wie die Andria des
Terenz doch keinesAvegs passen würde. Schon die Schollen im cod. Bem-
binus verstehen duplex richtig als graeca et latina; Terenz sagt: aus einem
Stück sind jetzt zwei geworden, nämlich die griechische Vorlage und die
lateinische Übertragung; das argumentum selber ist zwar simplex, ein
einziges, geblieben, aus ihm sind aber nun duae fahulae sive fahula duplex
geworden. Das Terenzstück ist ein Duplikat.*) Man Avertete im Altertum
auch eine vollendet gute Übersetzung als eine selbständige dichterische
Leistung. 5) Das Menanderstück existierte nun also zweimal.
Dringend zu Avünschen ist es auch, daß man sich über die Einleitungs- Apuiej.
Worte der Metamorphosen des Apuleius einigt, avo der Verfasser seine "^" ' '
„bunten Geschichten" als Spielart Milesischer NoA^ellen hinstellt, II: At
ego tibi sermone isto Milesio varias fahulas conseram. Was neuerdings
R. Reitzenstein „Das Märchen von Amor und PsA^che" S. 52 hierüber sagt,
befriedigt noch nicht, da er sich mit der Auskunft begnügt, sermone heiße
liier „Plauderton" und der „mündliche Stil" (?) der Milesia Averde damit
angedeutet. Apuleius redet hier, Avenn man mit römischem Ohr zuhört,
A'iel deutlicher. Zunächst ist die etymologische Figur sermone conserere
augenfällig, und wir treffen sie auch sonst häufig an: sermonem serere
sagt Plautus, sermone serere aliquid verbinden Vergil und LiA^ius. Speziell
aber hat Apuleius den Anklang an Vergils multa inter sese vario sermone
serebant, Aen. 6, 160 gesucht. Hier vertritt bei Vergil mit dichterischer
') Vgl. meine Römische Litteratur- •*) Die Einheitlichkeit der Handlung
geschichte, 2. Aufl., S. 38. ist dargelegt von O. Köhler, De Heau-
2) Die Variante duplici im cod. Bern- tontimorumeni Terentianae compositione,
hinus zerstört das Versmaß. j Leipz. 1908.
5) eontaminare ist „mischen" ; denn j ^) Vgl. Stemplinger, Das Plagiat etc.
alles Mischen galt als cornimpere, (fSsigeiv; ' S. 210 f.
vgl. (). Jahn, Persius S. 136. |
106 Kritik und Hermeneutik.
ümbiegung das vario ein varia, und der Sinn ist: multa et varia inter se
sermone serebant. Das Wort sermo aber heißt hier „Gespräch", und das
ist das Wichtigste. Denn ebenso steht es bei Apuleius; das erhärtet
schon das Präfix con in conseram. Denn wir haben Servius zu Aen. 4, 277
zu vergleichen, der uns lehrt: sermo est consertio et confabulatio duorum
vel plurium. Hier steht somit das Substantiv consertio, das dem conseram
des Apuleius entspricht; ebenso braucht auch Curtius Rufus 8, 12, 9 das
conserere sermonem. Also sagt Apuleius, genau genommen, folgendes:
„ich werde bunte Geschichten in Gesprächsform vortragen lassen {con-
seram) und ZAvar in Milesischer Gesprächsform {sermone Milesio, das ist:
confahulatione Milesiay^: wozu der Inhalt seines Abenteuerromans vor-
trefflich stimmt. Denn er ist Icherzählung, also Gespräch. Alle Ich-
erzählung ist sermo. Und dazu kommen die vielfacli eingeführten Per-
sonen, die auch ihrerseits Geschichten erzählen.
ovid. Trist. Dieselben Milesia des Aristides betrifft eine Ovidstelle, und auch sie
"' ' Avird, soviel ich sehe, allgemein falsch übersetzt, Trist. 2, 413 :
lunxit Aristides Milesia crimina secum,
Pulsus Aristides ncc tarnen urbe siiast.
Hier haben soAvohl Lucas wie Reitzenstein (a. a. 0. S. 63) das secum in dem
Sinne von „unter sich" verstanden. Aristides stellte also die crimina seiner
Stadt Milet zusammen! Das ist aber, wenn ich nicht irre, kein Latein; i)
man sagt absolut nie iangere legiones secum u. a. für inter se. secum kann
nur auf das Subjekt des Satzes, also auf Aristides selbst Bezug haben,
und der Sinn ist demnach zweifellos: Aristides vereinigte, verknüpfte die
Milesischen Schändlichkeiten mit seiner eigenen Person; er machte sie zu
Icherzählungen, secmn iunxit ist = sibi iimxit. Die Konstruktion ist keine
andere als bei Cicero divin. 2, 149 imd Plin. epist. 10, 11 {iungere cum).
Ovid sagt Metam. 8, 29 iuncta cum viribus ars; Cicero, de fato 36 causa
cum exitu iunctior, u. ä. m. Außerdem wolle man Lucan 2, 94 Lihycas
sibi coUigit iras vergleichen, wo das Commentum Bernense erklärt : Romanis
scilicet coUegit inimicos secum Äfros. Dies secum ist deutlich.
Ovid. Trist. Schwierip:er ist, was Ovid in den Tristien 2, 443 über Sisenna, den
Übersetzer desselben Aristides, aussagt:
Vertit Aristidem Sisenna nee obfuit illi
historiae turpis insemisse iocos.
Hier fragt es sich, was inserere bedeutet. H. Lucas verstand in seinem
Aristidesauf satz, 2) Sisenna habe in eine Rahmenerzählung {historiä) schhmme
Spaße eingeschaltet. Reitzenstein (S. 64) versteht dagegen unter historiä
richtiger das Werk des Sisenna über römische Geschichte, das mit jener
Aristidesübersetzung selbst nichts zu tun hatte. Das anzunehmen ist not-
Avendig; denn jenes Geschichtswerk war eben allen geläufig, und wo wir
von Sisennas historiä lesen, kann nur eben sein HauptAverk gemeint
sein. ZAvischen die Arbeit der Niederschrift des großen Historienwerkes
hat nun nach Reitzenstein Sisenna die Übersetzung der ioci des Aristides
„eingeschoben". Aber auch das geht nicht an; das ist desperat und mehr
') Bei Thielmann über Eeeiprocum, \ Ähnliches, auch nicht Sil. Ital. 14, 141.
Archiv f. Lex. VII S. 380 f. finde ich nichts | ■') Piniol. 66 S. 16 f.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation.
107
als künstlich interpretiert; denn nicht vom inserere der einen Arbeitszeit
in die andere steht etwas da, sondern nur von den loci selbst, die der
historiae inseruntiir. Sollen wir also an dem Sinn verzweifeln? Doch
nicht. Denn inserere kann auch „gleichstellen" heißen, und das muß liier
zutreffen. So sagt Horaz: qiiodsi me lyricis vatibus inseres und ganz ent-
sprechend Statins Silv. 5, 5, 72: (pueriim) inserui vitae, d.h. vivis. Mit ernst-
hafter Geschichtsschreibung, historiae, stellte also der Historiker Sisenna
die lasterhafte Aristidesübersetzimg gleich: iocos inseruit. Er muß auch
in dieser Übersetzung parodistisch den Ton des Historikers angeschlagen
haben. ^)
Wenden wir uns aber endlicli zu anderen, edleren Autoren. Man
muß sich wundern, daß in einem so abgesungenen Liede wie dem Sopho-
kleischen EvijiJiov ^ere Ta?(5€ x^Q^^ noch immer ein unverständliches Wort
ist, und zwar gleich in der ersten Strophe, wo wir hören, daß Gott
Dion3^sos im schattigen und wandlosen Haine wandelt, Oed. Col. 678 f. :
i'v 6 ßa^c^ico-
zag dsi Aiowoog sijßaxevei
■&saTg d/ii(piJTolaJv rt&tp'aig.
Der Gott ist nicht ohne Thiasos; seine Ammen, die Nymphen sind mn
ihn; sie sind die äiKpinoloL. Wie sollen wir dann aber das Partizip äj.i(piJiol(bv
übersetzen? Man sagt: „verkehrend mit seinen göttlichen Nährerinnen".
Aber das heißt es nicht. Das Verbum äjuq)iJiokelv wird (wie auch djuq?i7colevco)
stets nur von Dienenden gebraucht: „sich mit etAvas dienend oder helfend
zu tun machen", und das paßt in keinem Fall auf den Gott. Mir ging zuerst
ein Licht auf, als mir das lateinische crucians einfiel, w^as den Gekreuzigten
bedeutet (Fronte p. 220,6 N.): crucians = cruciatus, das Partizip des Präsens-
stammes passivisch. Auch ferens brauchen die Römer so: Mars ferens, der
aufgehende Marsplanet, ävaq)eQ6iuFvog, Macrob. 4, 5, 2; ebenso ara ferens
bei Manilius.2) Ganz ebenso ist nun hier zu postulieren, daß äjucpuiokcbv
])assi\'isch gemeint ist und war äjLi^mo?Mvjbievog rii^vaig verstehen sollen.
Und daß dies möglich, verrät Sophokles auch noch sonst; denn im Oed.
Rex 485 steht das sonderbare äjzocpdoxovra, was, wenn man genauer zu-
sieht, das bedeutet, was bestritten odei" verneint wird : also äjTocpaoxo/neva.
Und nun sehe ich, daß auch der Vers des Oed. Col. 1604, wo es von dem
Leichnam des Entschlafenen heißt:
e:jEi ÖS JiavTog siys Sgcbitog {ßoinp',
f)go)}'Toc; statt dgcüjuerov bietet und daß eben dies von Radermacher 3) richtig
festgestellt ist. Ebenso ist dann der y^jga orj^ualvcov, Oed. Col. 704, König
Archidamos, der yrjga orj/iairo/bLevog. Also gilt auch von Dionys in unserm
Chorlied, daß er immer noch von den göttlichen Nymphen „gew^artet ward".
Sophocl.
Oed. Col.
678 f.
') Dieselbe Schrift Reitzensteins ent-
hält auch sonst Fehlinterpretationen. So
versteht er S. 70 die Worte des Properz
3^ 20, 28 Caput historiae praehere als „ein
Kapitel für eine Geschichtssammlung lie-
fern" ; antike historiae zerfallen aber meines
Wissens nie in capita, und es ist klar, daß
Caput hier das Wesen, die Rechtsperson,
die bürgerliche Ehre eines Menschen be-
deutet und daß jene Wendung so gesagt
ist wie : caput offerre leto Lukrez 3, 1054 ;
certamen capitis et famae Oic. offic. 1, 38;
capita vovere Oic. de fin. 5, 64.
2) Siehe Hans Müller, Arch. f. Lex.
12 S. 463. Auch Nepos 4, 5 hat dies ferens.
3) Ausgabe des Oed. Col., 9. Auflage,
1909.
1Q8 Kritik und Hermeneutik.
Hiernach bespreche ich ein paar andere Stellen aus Sophokles, und
zwar solche, wo die Ausleger ihn tadeln zu müssen glauben. AVenn jemand
ein Dichter war, so war es Sophokles; trotzdem soll er da, wo er Herodot
nachahmt, ganz banausisch verfahren sein. Sophokles soll die Herodot-
stellen beidemal ungeschickt verwandt haben. Haben die Ausleger recht,
so hätte Sophokles nicht gedichtet, sondern blöde Flickarbeit geliefert.
Sophoci. Es handelt sich zunächst um die berühmten Verse der 'Antiphone 905 ff.
Antig.905ff. , , , V „ , . , r , v , v 11 J' 1 U 1
ov yag nor ovr av ei rexv o)v fii]T)]Q ecpvv xtL, die uns alleraings kalt be-
rühren und den Effekt ihrer großen Ahschiedsrede zu vernichten scheinen.
Antigone hat den Bruder Poh^nikes bestattet. Das ist ihr Verbrechen
und ihr Rulim. In ergreifender Weise hat sie sich gerechtfertigt, und
wir empfinden voll mit. Dann aber hören wir das eigenartige Räsonnement :
„Wäre es mein eigen Kind gCAvesen oder mein Gatte, so hätte ich das
Wagnis nicht auf mich genommen; aber mein Bruder war mir mehr, als
Gatte und Kind sein könnten. Denn Gatte und Kind ließen sich viel-
leicht im Lauf des Lebens noch einmal ersetzen; unersetzlich aber ist ein
Bruder da, avo beide Eltern tot sind." Dieselbe Argumentation lesen Avir
und las Sophokles selbst schon bei Herodot 3, 119, der sie in einer ähn-
lichen Situation verwendete ; im Munde der Heldin aber stört den modernen
Leser diese nüchterne Erwägung. Also Flickarbeit? Gewiß nicht. Nicht
weniger kalt und frostig berührt es uns doch auch z. B., wenn in des
Aeschylus' Emneniden die Fragen, ob Gattenmord schlimmer als Mutter-
mord, und gar, ob ein Kind durch den Hergang der Zeugung seiner
Mutter näher als dem Vater steht, Erörterung finden; und doch gipfelt
die Tragödie der Emneniden, d. h. die Behandlung der Schuldfrage, die
sie uns vorfülirt, in diesen sophistischen Klügeleien. Auch die Sophokles-
stelle lehrt uns dasselbe; sie lehrt uns, wie anders die Antike empfand
als wir. Der wahre Interpret hat die Pflicht, sich in das Empfindungs-
leben der fernen Vergangenheit und der südländischen Völker hinein-
zudenken; denn Sophokles dichtete nicht für Weimar oder Berlin, sondern
für seine Griechen. Es handelt sich um die Geschwisterliebe, die den
antiken Menschen allerdings ganz anders und viel naiver, mächtiger ans
Herz faßte als uns. Das lehrt erstlich schon die Übereinstinnnung zwischen
Herodot und Sophokles; denn man wird doch nicht glauben, daß der
Dichter die Worte des Herodot nur abschrieb, ohne selbst sie für ein
packendes Argument zu halten.^) Wer denkt nicht gleich, wo es sich
um Bruderliebe handelt, an den Teuker im Ajax, der für die Bestattung
des mißachteten Bruders mit aller Aufopferung kämpft? oder gar an die
jauchzende Freude, die Avundervoll losbricht, wo bei Euripides Orest und
Iphigenie sich wiederfinden? Ein inbrünstiges Frohlocken! Solche Töne
^) P. CoRSSEN, Die Antigone des So- \ gesetzt, dai3 Polynikes noch lebe. Ich
phokles, Berlin 1898, der die Unechtheit | kann von solcher Hoffnung in den be-
der Sophoklesverse behauptete, legt dabei sprochenen Versen durchaus nichts finden,
die Schlußfolgerung zugrunde, wenn Anti- Viel richtiger urteilte G. Kaibel, De So-
gone hier ausspreche, nur ein Bruder sei phoclis Antigona, Göttingen 1897. Ich
für eine Elternlose unersetzlich, so hoffe möchte glauben, daß für den, der den
sie also noch Polynikes wiederzubekom- obigen Betrachtungen Eaum gibt, sich
men; damit werde also von ihr voraus- | solche Spitzfindigkeiten in nichts verlieren.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 109
hat kein nordiscli deutsches Gemüt J) Auch an Sappho mid ihr Sorgen um
ihren Bruder sei erinnert; in ihren Gedichten legte Sappho diese Empfin-
dungen nieder. Das ist wieder ganz eigenartig. Dann denke man an
die Gracchen. Auch das waren Jünghnge griechischen Geistes. Tiberius
Gracchus ist umgekommen; die Mutter CorneHa ist Witwe; der jüngere
Bruder Gajus aber — so schildert es uns Plutarch — lebt ganz nur in
dem Verstorbenen; er sieht den Bruder im Traum, der ihm sagt: „unser
Leben und Sterben ist eins." Zehn Jahre vergehen; den Bruder zu
rächen bleibt der Inhalt seines Lebens, und wenn Gajus vor dem Volk von
seinem Tiberius spricht, stürzen ihm die Tränen und der Schmerz er-
schüttert ihn vollständig. Ganz ebenso auch Catull. Catulls Bruder starb
in Troja. Xie will der Dichter aufhören um ihn zu weinen, sein ganzes
Familienhaus ist mit diesem Bruder vernichtet; viermal und an ganz un-
erwarteter Stelle^) bricht in seinen Gedichten die wortreiche Klage los,
eindringlich, schmerzdurchdrungen, in einer naiven Kraft des Ausdrucks,
die im höchsten Grade rührend wirkt. Ich frage wieder: wo findet man
Ahnliches in moderner Dichtkunst? Daher aber auch der Ruhm des
Proculejus bei Horaz Od. II 2, 5 :
vivet extento Proculeius aevo
notus in fratres animi paterni
(also auch hier vaterlose Brüder) und jener Lamia in Horaz' Episteln 1 14, 6,
der so scliAver um seinen Bruder trauert {insolabüiter), daß Horaz in Rom
um seinetwillen zurückbleiben muß. Und um dieselbe Trauer handelt es
sich auch in Senecas Consolatio ad Polybium. Das ist auch da, wie alles
Voraufgehende zeigt, durchaus ernst zu nehmen. Der Bruder starb auch
hier, und Seneca sagt cap. 2, wenn das Unglück dem Polyb etAvas anhaben
wollte, so konnte es ihn nur in seinem Bruder treffen.
So also auch Antigone. Die Geschwisterliebe ist hier Leidenschaft.
Ihr heißes Gefühl für Polynikes allein war es, Avas sie zu ihrer kühnen
Handlung trieb. Ihr Verstand sucht für dies überwältigende Gefühl nach
einem Grund, und sie findet ihn und spricht ihn in den zitierten AVorten
so logisch scharf und so nüchtern aus, wde es griechische Art ist.
Ebenso unberechtigt scheint mir nun aber auch der Anstoß, den man Sophoci.
im Oedipus Coloneus an den Versen 337 — 345 nahm, wo der Titelheld ^337 ff^'"
nach Herodot II 35 ausführt, daß bei den Ägyptern die Söhne zu Haus
oder unterm Dach sitzen, während die Töchter im Freien arbeiten. Sophokles
soll diese Lesefrucht aus Herodot wieder in unpassender Weise in seinen
Dialog eingeflickt haben (so Bruhn, Antigone S. 36 f.), während ich statt
dessen darin ein anerkennenswertes Geschick des Dichters sehe; und hier
gibt schon eine genauere Betrachtung des Zusammenhangs die Aufklärung.
Denn es handelt sich in den angeführten Versen nur um die Alternative,
ob jemand sich dem Sonnenbrand aussetzt oder unterm Dach {xaru orsyag)
Schutz sucht und findet. Die Brüder Eteokles und Polynikes aber leben
in der Tat der Sonne nicht ausgesetzt in der Stadt oder in ihrem Zelt-
lager, xard oreyag. Oedipus dagegen irrt ohne solchen Schutz durch die
') Bei Goethe ist die Erkennungs- 1 *) Hierzu vgl. De Catulli ad Mallium
Szene viel schwächer und wirkungsloser. | epistula, Marburg 1890, S. XVIII.
110
Kritik und Hermeneutik.
Länder, und seine Töchter haben es nicht besser als er; denn Antigene
geleitet ihn, und auch Ismene sucht den Vater nachträglich auf und findet
ihn eben jetzt auf Kolonos. Die Mädchen sind also beide schutzlos, ohne
Dach, wie er. Entrüstet sagt daher Oedipus allerdings von seinen Söhnen,
daß sie müßig zu Haus sitzen (oixovgovoivjj insofern sie nämlich ihre
hilflose Schwester nicht begleiten; Ismene hat nur einen Sklaven auf ihrer
Wanderung mit (v. 334). „Deine Brüder hätten dich begleiten müssen",
sagt Oedipus unwillig zu ihr; „sie sind kräftig genug, die Mühe auf sich
zu nehmen. Wo sind sie?" (v. 335). Darauf gibt Ismene zunächst aus-
weichende AiitAvort: „Sie sind eben, wo sie sind. Aber mit ihnen steht
es sclilimm." Die letzteren Worte deivd räv xeivoig rd vvv überhört nun
Oedipus in seinem Zorn, er kann ihre Bedeutsamkeit nicht ahnen und
bricht darmn los: „0 die AVeichlichen, die zu Haus sitzen wie die Ägypter
und den ScliAvestern die Mühe überlassen." Daß Polynikes und Eteokles
eben jetzt den Bruderkrieg vorbereiten, Aveiß der Vater ja noch gar nicht;
der Tadel, den er gegen sie richtet, war also nach seiner Kenntnis der
Verhältnisse durchaus zutreffend, und jeder Anstoß fehlt. Denn auch
die rasche Zomesaufwallung des Oedipus selbst, die Ismene zunäclist
daran hindert, ihm den Sachverhalt mitzuteilen, ist psychologisch völlig
Avahr und schön.
Tibuii2,5,47 Ganz anders liegen anderswo die Schwierigkeiten. Nehmen wir Tibull
II 5,47. Da weissagt die Sibylle:
Ecce mihi kicent RutuUs incendia castris;
lam tibi praedico, barbare Turne, necem.
Was ist das für ein Brand des Rutulischen Lagers, Rutulis incendia castrisl
Vergil erzählt davon nichts ; auch andere nicht. Daher hat man hier an den
Brand von Ardea gedacht (Ovid Met. 14, 572 f.); aber Ardea ist kein „Lager".
Wir stehen daher zunächst ratlos, i) Aber Tibull setzte offenbar voraus,
daß Aeneas, nachdem er den Turnus erlegt und damit allen Widerstand der
eingeborenen Italer gebrochen, eben auch sofort noch des Turnus Lager
in Brand steckte. Vergils Aeneis brach vor dieser Verbrennung des Lagers
ab, deren Schilderung den kraftvollen Schluß des Epos nur abgeschwächt
haben würde; aber sie war für jeden, der den Kriegsbrauch kannte, etwas
ganz Selbstverständliches. Vielleicht verlohnt es, in diesem Zusammen-
hang auf das späte thematische Gedicht Turne in te suprema salus, AnthoL
lat. 244, hinzuweisen, avo Aeneas der reine Flammenheld geworden ist;
aus seinen Augen fährt blitzend das Feuerschwert, und weil auch Troja
verbrannte, kämpft er, um Troja zu rächen, nur noch mit der Fackel.
Sophoci. Solch ein Feuermann ist auch Kapaneus, einer der Sieben gegen
Antig.127 ff. rpj^g^gj^^ Über Kapaneus, der aber nicht mit Namen genannt wird, handeln
in Sophokles' Antigene die Anapäste v. 127 ff. :
Zsvg yäo fxsyaJ.tjg yXcooorjg y.ö^ovg
vjieosyßaiQei xai aq)ag ioidwv
7io).Xfp QsvuaTi jigooviooo/iisvovg
\) Die verschiedenen Meinungen venti-
liert neuerdings ein Aufsatz in den Uni-
versity of California publications Bd. II
N. 9 S. 210, wo die unmögliche Lesung
rutilis statt RiituUs empfohlen wird.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. Hl
130 yovaov xava/Jjg v.isgö.yrac;
.^a/a<J) oiJixel .ivol ßaÄßtöcov
eji' äxocov ^öt}
vixr}v Öq/icovt' d/aAa^a«.
Im V. 130 liat der Mediceus vjieoojzriagj eine alte Hand aber setzte imeQomag
darüber. Man hat imeQOJiXiaig konjiziert; das Avürde „kriegerischer Über-
iiiiit'' bedeuten. Aber davon könnte der Genitiv xaraxfjg nicht abhängen,
und die Konjektm* ist mindestens überflüssig. AVir lesen deshalb vjieQOJixag.
Zeus ist hier eingeführt ; er blitzt den Kapaneus nieder, als ein Verächter
der '/Qvoov xavayj). Dabei bedeutet xavayj] jedes erregiere Geräusch, liier
(las Feldgeschrei. Was aber ist xQvoovl Das ist die Frage, die ich nirgend
richtig beantwoi-tet gefunden habe. Oder sollen wir „das Gerassel des
(^oldes" verstehen, unter der Annahme, daß Kapaneus goldene Waffen
trug? So Bruhn. Aber das ist falsch; denn in v. 143 steht ausdrücklich,
daß die A\^aff en erzen, Jidyxakxa, waren. Die Lösung gibt hier Aeschylus, und
wir erkennen, daß Sophokles voraussetzte, daß seines großen Vorgängers
Werke in aller Gedächtnis lebten. Es handelt sich hier um die Wappen-
Ivunde, die Heraldik der Griechen.^) Auch der Adler und der Drache,
die bei Sophokles in Vers 112 f. derselben Antigene miteinander kämpfen,
sind als Wappentiere gedacht. Vom Kapaneus sagi nun aber Aeschylus
in den Septem 434, daß auf seinem Schilde mit goldenen Buchstaben
stand: Jigijoco nohv. Genauer war ein Mann auf dem Schild sl^ nvQcpoQog
dargestellt, ygvooig de (pcovel ygä/ifiaoiv jtoijooj irohy, wogegen dort Eteokles
im V. 443 auf Zeus vertraut: Zeus werde gegen ihn seinen Blitz schicken.
Also ist Zeus bei Sophokles des Goldes und des Goldgetöses, der ygvoov
y.avayj], Verächter in dem Sinne, daß ilin das auf dem Schild in goldenen
Lettern strahlende Feldgeschrei 7iqi)ocd jioXiv unerschüttert ließ. Die Lesung
vjieQOJijag aber wird noch durch die Entsprechung des viregejira in v. 113
empfohlen. Ebenso entspricht in diesem Chorgesang das xoivov v. 147
«lem xoivcp im v. 161 (am Schluß des Systems ß). Das sind musikalische
Stichworte, wie man sie auch bei Pindar findet.
Auffällig ist, was Livius 9,40 von den Oskern erzählt, daß sie näm- Livms9,40
lieh als Bewaffnung im Kriege spongia, „Schwämme", trugen, und zwar
statt des Panzers. Wie ist das möglich? liegt hier eine Fabelei oder gar
eine Verschreibung vor? Durch die Vergleichung von Aristoteles bist.
anim. 5, 16 aber wird die befremdliche Sache einigermaßen aufgeklärt, wo-
nach man, um den Druck zu lindern, wirklich Schwämme unter die Metall-
rüstungen legte. Man muß annehmen, daß die Bezeichnung „SchAvamm"
infolgedessen auf die Rüstung selbst übergegangen ist, 2) etwa so, wie wir
sagen „vom Leder ziehn", und mit Leder den Gegenstand meinen, der
aus ihm gefertigt ist.
Bisweilen helfen nun aber keine solchen Parallelstellen, nützt auch Aristoph.
kein noch so sorgliches Überlegen, und erst die xlrchäologen bringen uns gg ff^ '
Hilfe. Bei Aristophanes Ekkles. 89 f. reden die Frauen seltsame Worte:
') Vgl. P. ScHERZL, Die griechisch- i 2) Siehe F. Weege im Jahrbuch d.
römische Heraldik, in Xaoioxrjoia für Th. ! arch. Instit. 24 (1909) S. 148.
Korsch, Moskau 1896, S. 341.
112 Kritik und Hermeneutik.
ovHovv y.a).a. y' av .-rd&oifiev si ji/JjQrjg xvy^oi
6 öfji.iog MV, xojieid' vjxsQßalvovoä rig
avaßaXXofievr] dsi^sie ror ^ooftioiov.
Hier verstand man das vjieQßaiveiv bisher notgedrungen vom über die Bänke
klettern der Frauen. Aber der Zusammenhang bleibt unldar. Denn es
war vorher von Krempeln, ^aiveiv, die Rede. Also ist auch hier ein Wort
der Wollarbeit gemeint. Yasenbilder aber zeigen, daß die ^alvovoa bei
der Arbeit ihren Hock bis ans Knie zurückzuwerfen pflegte und dann mit
dem rechten Fuß hoch auftrat, um an der nackten Wade den Faden zu
reiben. Daher also jenes ävaßaXlofievr] vjieQßaivovoaA) In dieser hand-
werksmäßigen und höchst profanen Beschäftigung zeigen sich die zur
Ekklesie versammelten Weiber.
Eurip. In Euripides' Alkestis 365 will Admet seine sterbende Frau in einem
lu 607 Zedernsarg beisetzen, und hofft sogar in demselben einst mit ihr vereint
zu ruhen:
Ev xaiaiv avtaig yaQ fi ejiiaxrmxo xsdgotg
ool Tovode ^eXvai xxX.
Hier kann also an eine Verbrennung der Leichname nicht gedacht sein.
Damit scheint aber v. 607 unvereinbar:
VEXin' flh tjdf] . . .
q^igm^oiv ägdtjv sig xacpov re xai jivgdv.
Denn hier ist der Scheiterhaufen, zu dem man Alkestis trägt, ausdrück-
lich erwähnt. Dörpfeld aber setzt neuerdings an, daß bei den Griechen
in jenen Zeiten die Leichen nicht ganz verbrannt, sondern nur gebrannt
und dann doch „beerdigt", also eventuell auch in Sarkophagen beigesetzt
Avorden sind. Diese freilich nicht unbedenkliche oder nur partiell gül-
tige Hypothese würde an der Alkestisstelle eine wichtige Stütze finden,
und der störende Widerspruch wäre damit hinweggeräumt. 2) Ja, man
kann sagen, das von Dörpfeld angesetzte Yerfahren muß in gewissen
Grenzen jedenfalls vorgekommen sein, da Euripides es hier voraussetzt.
Thukyd. Auch das Verständnis der Thukydidesworte II 15, 3 f., die die jzökg
Athens, wie sie vor Theseus war, anbetreffen, ist durch Dörpfeld und
seine Grabungen modifiziert worden, und der Befund der letzteren scheint
mit ihnen nicht in ernstlichem Widerspruch zu stehsn. Es handelt sich
vor allem um die Worte: rö de jzgo tovtov (rov 0r]OEO)g) f] dKQOJiolig >/
vvv ovoa jzokig rjv xai rö vn avrrjv Jigog vörov /idhora xeroaiiaevov' rex-
jiu']Qiov de' rd yaQ legä er ainfj rrj äxgojiolei (xä ägyaioxara rfjg re Uohddogy
xai ällcov ßecov eori xai rd e^co Jigög touto t6 juegog xfjg jiöXecog fiäkXov
l'dgvxai xxL Der Autor sagt also: „Die jetzige Akropolis war ursprünglich
die alte (jedenfalls damals auch schon befestigte) 3) jzöXig gewesen, wobei
beiläufig der Abhang des Burghügels besonders nach Süden mit ein-
zurechnen ist." Dieser letztere Zusatz xai x6 vji avxrjv hinkt deutlich
1) Siehe A.Wilhelm in Oesterr. Jahres- ! durch 0. Eouge, „Bestattungssitten ", Neue
hefte 1909 S. 81 ff. ■ Jbb. 1910 I S. 785 ff. stark erschüttert:
'■^) Siehe L. Marxens, Alkestis- von i gegen Rouge wendet sich wieder Dörp-
Euripides, Duisburg 1909, S. 11, nach W. | feld in den Neuen Jbb. 1912.
Dörpfeld in Melanges Nicole 1905; die | ^) Vgl. A. Köster, Das Pelargikon,
Aufstellung Dörpfelds scheint freilich ; Straßburg 1909.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 113
nach, das zeigt seine Stellung, und ist nur zur Vervollständigung liin-
zugesetzt; die These, die er im folgenden beAveisen will, ist für Thukj-
dides nur die Gleichung: dxQOJiohg = Jiöhg. Daher ist es nun auch
durchaus nicht nötig, daß alle Bauten und rojioi, die Thukydides im Ver-
lauf als rexfi/jQiov für seine These aufzählt, im Süden, jigog vorov, des
Berges gelegen haben müssen. In den Worten Jigog tovto tö juegog rfjg
noXeojg aber ist mit juegog klärlich dieselbe Akropolis (nebst Abhang) ge-
meint, mit dem Genitiv rfjg jidkecog dagegen die Stadt, wie sie zu des
Thukydides Zeit war; wir sollen rrjg vvv nöleojg verstehen. Somit sind
Stalils wiederholt vorgetragene Bedenken i) doch vielleicht gegenstandslos,
und die Thukydidesstelle widerstrebt den Veränderungen in der Topo-
graphie Athens, insbesondere der Ansetzung der Enneakrunosquelle, nicht,
die sich aus den neueren Grabungen ergeben haben.
Im folgenden Fall ist die Sachlage schon schwieriger. Für die Lage Aristoph.
der Pnyx Athens ist besonders in den letzten Zeiten Chandlers Ansatz
zur Herrschaft gelangt. Als Pnyx gilt danach das hochgelegene, ursprüng-
lich auch hochummauerte große Halbrund mit Altar und Bema im Westen
der Stadt und in der Nähe des Areopags. Befremdend wirkt dabei erst-
lich, daß innerhalb dieser Ummauerung das Terrain stark fällt und daß
das Bema sich nicht unten, sondern oben in der Höhe befindet, was
akustisch für den Redner, der dort stand, das ungünstigste Avar; man
nimmt an, daß dies Fallen dereinst durch Aufschüttungen gelindert war.
Die lebendigste Einfühnmg in diesen Versammlungsraum geben nun des
Aristophanes Acharner, wo Avir sehen: das Volk Avird vom Markt her
mittels des oyoiviov /ne/LidrM^ueyov auf die Pnyx getrieben (v. 22), eine
Prozedur, die sich bei den doch immer großen Entfernungen zAvischen
dyood und Jivv^ schAA^er vorstellen läßt; und dies ist schon das zAA^eite
Bedenken. Dann Avird im selben Stück zur Eröffnung der Sitzung das
Eintreffen der etwa fünfzig Prytanen, die den Vorsitz führen, erAvaiiet,
und da heißt es \'. 24 f. :
sira d' Moriovvrai ttcD? öoy.sT^
s/.dövTsg oJjJjloioi jteqI jigcozov ^vlov
äßgoi y.axaQOEOvxsg.
Hier handelt es sich um das Wort xaraooeovreg. Denn dies tropische
„Herabfheßen" besagt zAveifellos, daß die Leute, die da kommen oder
gekommen sind, von oben nach unten strömen. Ihr Ausgangspunkt
liegt hoch, ihr Ziel niedrig. Dadurch Avird dann aber anscheinend die
Chandlersche Pnyx gradezu unmöglich gemacht; denn der athenische
Markt mit der Tholos lag ja viel tiefer als jene, und Avenn die Prytanen
von dort kamen, so mußten sie in die Höhe und ZAvar tüchtig hinan-
steigen. Also kein xataggelv. Hiergegen könnte man einAA^enden, daß
das Terrain, das als Pnyx gilt, ummauert Avar und daß der Eingang sich
in seinem oberen Abschluß befand. 2) Diese Wahrnehmimg Avürde aller-
dings eine Hilfe geben; die Männer traten in diesen oberen Eingang,
') Rhein. Mus. 50 S. 566; 51 S. 306;
A'gl. auch A. Malinin, ZavgI Streitfragen
der Topographie \'on Athen, Wien 1^1.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl
2) Siehe Judeich, Topogr. A^on Athen,
S. 350.
114 Kritik und Hermeneutik.
befanden sich also zunächst hoch und strömten nun innerhalb des Yei-
sammlungsraums um die Wette nach unten, wo ihre Bänke gestanden
haben müssen. Die Aufschüttungen in dem Halbrund könnten demnach
aber nicht hoch gewesen sein. Alles dies ist indes jetzt durch die nevien
Grabungen in Frage gestellt, die ergeben, daß das Mauerwerk der „Pnyx"
erst aus dem Ende des 4. Jahrhunderts, also aus einer Zeit stannnt, in
der die Volksversammlungen Athens ausschließlich nur im Theater statt-
fanden. 1)
dvaßaivsiv Es kommen aber auch- schwerere Unstimmigkeiten, ja, Fälle vor, wo
unsere Texte den Ergebnissen archäologischer oder baugeschichtlicher
Untersuchungen gradezu Aviderstreiten, und man täuscht sich selbst, wenn
man versucht, diese Differenzen durch laxe Interpretation beiseite zu
schaffen. Als Regel muß gelten: man erkläre zunächst jede Stelle best-
möglichst aus ihr selber. Das eben besprochene xaraggelv erinnert uns
an das xaraßaiveiv und ävaßalveiv im griechischen Theater. Die Gelehrten,,
die da ansetzen, daß die Schauspieler dereinst nur unten in der Orchestra
mit dem Chor zusammen aufgetreten seien, müssen jene Verben in dem
Sinne Avegdeuten, daß etwa wie in unserem „Auftreten" der Sinn des
Präfixes xaid und ävd verblaßt sei. Allein dies geht nicht an, und das
ävaßalveiv ist etwas ganz anderes als unser „Auftreten". Denn dm be-
deutet in solchen Kompositionen stets „in die Höhe", Avas bei dem „auf"
in „auftreten" nicht der Fall ist. ävaßalveiv heißt eben nicht „auf etAvas
treten", sondern immer nur „etwas ersteigen, zu etwas hinansteigen", und
jene Ausflucht erAveist sich darum als unmöglich. So lesen AAdr denn auch
ävaßalveiv im rov öxQlßavxa „auf den Bock steigen" bei Plato Symp. p. 194B.
Das Verbmn war technisches Speziahvort für das Sichaufstellen dessen,
der vor großem Publikum einen Kunstvortrag halten aaüI, und kann nicht
bald so, bald so übersetzt Averden. Eine der mißdeuteten Stellen sei vor-
Aristoph. geführt. In denVespen des Aristophanes ist Pliilokleon mit dem großen
^^^' " vorgebundenen Phallos aus Leder nach Art der Plilyaken ausstaffiert und
sagt im V. 1342 ausgelassen zur Flötenspielerin, die jedenfalls in der
Orchestra steht, ävdßaive öevgo. Nach Eeisch steht Philokieon nun neben
ihr auf gleichem Niveau, und der Sinn des ävdßaive soll obszön sein.
Aber derselbe Philoldeon sagt gleich darauf: rf] x^toi laßojuevrj rovöl rov
oxoivlov: sie soll also seinen Phallos aus Leder anfassen. Auch das ist
gCAviß obszön genug, schließt aber jene andere Handlung, die Eeisch an-
setzt, aus; denn Avie soll die Person im selben iVugenblick das „Besteigen"
des Mannes und das Anfassen des Phallos ausführen ? Nie aber ist überdies
die Komödie, nie selbst das Phlyakenspiel soAv^eit gegangen, den coitus A'on
Mann und Weib öffentlich im Theater vorzuführen, imd nun gar so, daß
dabei das Weib, nicht der Mann das ävaßalveiv oder emßalveiv ausführt.
Dazu kommt endlich noch das devgo, das im Drama unendlich häufig,
doch stets nur „hierher", nicht aber „auf mich" bedeutet. Die einzig
angänghche Interpretation bleibt also: „komm hierher herauf", und diesem
ävdßaive entspricht alsdann das xaraßateov y. 1514 desselben Stücks.
i) Siehe E. Drerup in Wochenschrift f. klass. Phil. Bd. 28 (1911) S. 50.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 115
Die Schwierigkeiten, die liieraus eventuell entstehen, müssen Avir hin-
nehmen, an dem Sinn läßt sich nicht rühren.
Älinhch steht es mit Em-ipides' Electra v. 489 ff. Da nähert sich der Eurip.
alte Pädagog dem hochgelegenen Haus Electras und sagt: „Welchen steilen 439 ff.'
Zugang zum Haus hat sie!"
(og TTQooßaoiv rcövd' og&iav oi'xcov sj^ei
490 gvoM yeQOvzt Kpde JiQOoßrjvai Jiodi.
ojLicog dk JTQog ye zovg (pilovg i^shtzsov
diJT/S]V äxav&av xai jia/.igoojiov yört',
WO jToooßaoig ÖQÜia wie ödog ÖQ&ia bei Xenophon Anab. I 2, 21 gesagt
ist. Auch hier scheint also kein Entkommen, wenn man nicht für diese
Handlung einen erhöhten Sprechraum annimmt ; aber Reisch meint doch : 1)
„Die Yerse sind sehr wohl verständlich, wenn sie sich nur auf den Weg
beziehen, den der Greis, als er durch die Parodos eintritt, schon zurück-
gelegt hat." Also auf den Weg, den der Greis, als er dem Publikum
noch unsichtbar war, zurückgelegt hatte, sollen die Yerse zurückblicken.
Auch das ist ohne Zweifel falsch interpretiert. Denn der Hergang gliedert
sich folgendermaßen:
1. Auftreten des Alten.
2. Er fragt: avo ist Electra zu finden? v. 487.
3. Er bemerkt: Avie steil ist der Aufstieg! v. 489.
4. Er bescliließt : dennoch {ö^cog) muß ich mein eingebogenes Rückgrat
und krummes Knie geschmeidig machen, also hinansteigen, v. 491.
5. Da gcAvalirt er Electra selbst: „0 Kind, ich sehe dich bei deinem
Hause"; ^r ist also oben angelangt, v. 493.
Dies Verzeichnis lehrt, daß Nr. 3 vor den Augen der Zuschauer Avährend
des Steigens selbst gesprochen Avird; denn erstlich AA^äre es sonst nicht
natlü'Uch, daß Nr. 3 in dieser Weise auf 2 folgt; zAveitens und A^or allem
ist Nr. 4 mit 3 auf das engste dm^ch das o/ico? a^ erknüpf t, in dem Sinne :
obgleich der Zugang so steil, aa^II ich mir doch Mülie geben, meinen
Körper zu A^erjüngen. Er gibt sich also im Vers 491 vor den Augen des
Publikums Mühe zu steigen, befindet sich da auch auf der im \. 489
erwähnten jzgooßaoig ögOia.
Solche Stellen beweisen, daß in Athen wenigstens bisweilen auf einem
doppelten NiA^eau gespielt Avorden ist; und zAvar haben sich nacliAveislich
sowolil die Schauspieler wie die Chorleute auf beiden Niveaus beAvegt.
Dies näher auszuführen oder gar die baulichen Befunde antiker Theater
damit zu A^ergleichen, ist nicht dieses Ortes.
Man darf nicht ermüden, die goAvonnene Auslegung solcher Stellen,
die eine größere TragAveite haben, immer wieder nachzuprüfen. So ist
es, und zAvar immer noch nicht ausreichend, vor allem mit dem eoriv ovv
xQaycodia xrL, der berühmten Definition der Tragödie in Aristoteles' Poetik
cap. 6 geschehen. Doch ich gehe hierauf nicht ein. 2) Denn es gilt noch an
anderes zu erinnern; so zunächst, daß es Stellen gibt, die gleichsam frei.
') DöRPFELD und Eeisch, Das griech.
Theater S. 188.
■■*) Gewiß ab/AÜehnen F. Knoke, Be-
griff der Tragödie nach Aristoteles, Berlin
1906.
8*
116 Kritik und Hermeneutik.
Ironie d. li. ihrem Wortlaut entgegengesetzt, interpretiert sein wollen. Ich meine
das Ironische.!) Daß lobende Epitheta wie egregiiis auch zum Hohn
gebraucht werden können, empfindet jeder, wenn er bei Cicero liest illa
praeclara et egregia mater oder virum Optimum Metellum (Catil. 1, 19). 2)
Und zwar sind solche Stellen meistens unzAveideutig. Wo sie dies nicht
sind, würde den Autor der Tadel treffen, entweder daß er sich ungeschickt
ausdrückt oder daß er seine Meinung absichthch verhüUt. Den Catull
aber kann dieser Tadel keinesfalls treffen, wenn er den Cicero c. 49 an-
redet: disertissime Romuli nepotum eqs.; denn er fügt dort über sich selbst
hinzu: „Ich bin in dem Grade der schlechteste Dichter, in dem du der
beste der E-edner bist." Wer kann danach die Ironie verkennen? Man
hat gesagt, Catull kenne sonst diesen Tropus nicht. Aber er schreibt
doch 78, 3 Gallus homo est hellus und c. 47, 2 nennt er den unsauberen
Piso Biso munduSf wo wir lesen:
Porci et Socration, duae sinistrae
Pisonis, Scabies famesque, mundi.
Hier hoißt Piso mundus in der Weise, wie Cicero mundi elegantes ver-
bindet, de fin. 2, 23; aber immundus sollen wir verstehen; denn den hier
erAvälinten Piso nennt derselbe Cicero den schmutzigsten aller Menschen :
coemim, lutum^ sordes^ sordidissime, maialis, ex hara pvoductus (in Pison.
19 — 20). 3) — Daß dagegen Theognis v. 1135 f., wo er die elmg preist:
'Ehcig ev dv9Q(bnoig fwvPrj &sdg ea&Xrj evsaxiv,
alXoi d' Ovlviuiovö' EXJiQoXiJioyneg eßav xxL
ironisch rede, wie Leopold Schmidt annahm,'*) dafür vermisse ich jede
Andeutung. #
Antipiiiasis Der Irouic, die ein Ausfluß kritischer Stimmung ist, steht übrigens
die Antiphrasis zur Seite, zu der der Redende da, wo es sich um Be-
gütigung eines gefährlichen Wesens handelt, seine Zuflucht nimmt,
sowie der ungastliche Pontos ev^eivog hieß und die drohenden Erinyen
„Eumeniden".
Wissens- Ein Weiteres Gesetz für den Interpreten muß sein, daß er seinem
Autoren Autor uiclit mehr Einsicht und Kenntnisse zutraue, als er gehabt
haben kann. Dabei ist freilich die Abgrenzung und richtige Schätzung
oft schwer. Man hat z. B. behauptet, daß der Farbensinn der Alten, vor
allem des Homer, noch unentwickelt war.^) Waren sie blaubhnd? Auf
alle Fälle sind die Farbenangaben, die wir erhalten, mitunter seltsam und
nicht leicht wiederzugeben. Das hebt vom juMag olvog und dem Avein-
farbenen Meer an und geht bis zum roten Mond, der luna ruhens des
Horaz.*5) Und was bedeutete die i](og Qododdxrvlog'l '^) Hierhergehörtauch
*) lieber Ironie z. B. Cicero de or. II
269 ff.
2) Ueber egregius als Beispiel der
ironia bei Yergil s. Servius zu Aen. 4, 93 ;
6, 520. Auch Cic. pro Ligar. 1 diente als I born 1888
Beispiel: s. Aquila Romanus 7: Mart. Ca-
pella 5, 523.
3) A^gl. Piniol. 63 S. 462 f.
^) Griech. Ethik II S. 70.
^) Vgl. z. B. H. Schulz in Neue Jahrbb.
1911 S. 11 ff.
6) Ueber letzteren s. Catalepton S. 28.
Uebrigens Veckexstedt, Farbenbezeich-
nungen der griechischen Epiker, Pader-
1888.
') Hierüber Feinsinniges bei E. Anding
in den Mitteilungen der Vereinigung von
Freunden der Astronomie und kosmischen
Physik XXI (1911) N. 7.
1
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 117
die vielbehandelte Frage nach den geographischen Kenntnissen Homers. Geographie
Alle Märchenplätze der Odyssee sind im Altertum früh im Westmeer
genau lokalisiert worden. Daher ist Strabos Geographie zum Teil auf
einem Kommentar zu Homer aufgebaut. Bei Plinius nat. hist. 13, 69 wird
erwogen, daß Homer zwar Ägypten erwähne, nicht aber das Delta, und
daraus gradezu gefolgert, das Delta habe noch nicht existiert. So ist
man auch neuerdings, seit Scliliemanns Troja, wiederum darauf erpicht,
alle Ortsbeschreibungen des alten Epos möglichst genau zu nehmen und
die dichterische Freiheit, die mit Zeit und Raum spielt, in ihm möglichst
wenig gelten zu lassen. Darauf fußt jetzt auch Dörpfelds Leukas-Ithaka-
Hypothese, die zu einer eindringenden Textauslegung der Odyssee an-
regen kann, aber doch gewiß irrig ist. Leukas ist durch einen Erdstrang
mit dem Festland verbunden; anders Ithaka. Daß das Ithaka Homers
eine wirkUche Insel war, beweist grade die Frage, die Telemach an den
Gastfreund richtet: „Du bist doch nicht etwa zu Fuß nach Ithaka ge-
kommen": ov aev yoLQ rl oe jzeCov diofiat sv&dö' ixeo&ai (1, 173; vgl. 11, 158).
Dörpfeld verstand diese Worte buchstäblich. Aber sie sind ironisch; sie
geben ein ädvvarov. Das beweist die Iliasstelle 15, 505, wo sie in ironischem
Sinn offenkundig stehen. Telemach, der jene Worte spricht, ahnt dunkel,
daß der Gastfreund ein überirdisches Wesen ist. Ithaka war also zu Fuß
nicht zu erreichen. 1)
Dabei gibt nun aber die Schilderung der Insel Ithaka selbst Anstoß,
die wir in der Odyssee lesen. Es sind die Verse i 23 u. 25, da die Worte
jiokXal und yßafiaXrj daselbst in unlösbarem Widerspruch zu der Schilderung
in den umstehenden Zeilen stehen. Ob hier Athetese geboten'^) oder
anders zu helfen ist, jedenfalls kann niemand, der nach der Lage des
homerischen Ithaka fragi, urteilen, bevor er nicht diese Textschwierigkeit
überwunden hat.
Endlich die Frage: konnte sich ein Autor auch irren? und inwieweit
sind offenkundige Irrtümer im Text stehen zu lassen und hinzunehmen?
Bei dieser Feststellung erinnei't sich jeder zunächst an den dormitans Gedanken-
Homerus, an die Widersprüche, die die Ilias bietet, an die mangelhafte ^^^^"'^^^^^^
Chi-onologie in den Irrfahrten des Aeneas bei Yergil. Im fünften Buch
der Ilias stirbt z. B. der paphlagonische König Pylaimenes v. 576 ff., im
dreizehnten Buch v. 658 lebt er Avieder. Derartige Nachlässigkeiten in
der Komposition führen sogleich zu Fragen der höheren Kritik weiter.
Indes ist der Fall gar nicht selten, daß auch modernen Dichtern solche
Versehen wider Willen unterlaufen, und Avir müssen lernen, tolerant zu sein.
Solche Irrtümer aus Modernen bringt z. B. Rümelin, Reden und Aufsätze
S.386; auch W.Schmid in Christs griechischer Litteraturgeschichte, 5. Aufl.,
I S. 46. Wenn ich hier auf meine eigenen poetischen Arbeiten exempli-
fizieren darf, an die zu denken mir in diesem Zusammenhang allerdings
nahehegt, so ist es mir nicht besser gegangen, als ich meinen „König
Agis" schrieb. Ich habe das Stück langsam und gewiß nicht planlos ge-
schneben; trotzdem findet sich im vierten Akt ein Irrtum in der Zeitfolge,
*) Vgl. Griechische Erinnerungen eines 1 *) Siehe C. Robert, Hermes 34 S. 630.
Reisenden S. 229 ff.
118 Kritik und Hermeneutik.
da die dort erwälinte Tierhetze erst heute, dann gestern geschehen sein
soll. Auch in meiner „Silvesternacht" steht es ähnlich mit dem angesagten
Duell. Die meisten Leser werden dies freilich kaum wahrnehmen. Man
wird aber begreifen, daß ich nicht viel darauf gebe, wenn in Plautus'
Pseudolus die Zeitangaben sich widersprechen und es bald cras (v. 60
u. 82) bald hodie heißt (373 ; 623). Daß dies Plautusstück etwa überarbeitet
oder gar aus zwei Vorlagen entstanden,!) kann ich daraus nicht schließen.
Ähnhchen Anstoß gab das hodie Terenz Eun. 234.
Irrtümer j^h rcdc liicr vielmehr von anderen Irrtümern. Daß Horaz in der
der
Autoren Odc 4,8 V. 17 dcu jüngeren Scipio mit dem älteren zusammenwirft, scheint
bei seinem Bildungsstand unmöglich (s. oben S. 102); ebenso unmöglich,
anzunehmen, daß Tacitus Dial. 17 fin. die Redner Messala und Asinius
Pollio in bezug auf ihr Todesjahr gradezu verwechselt habe, und man ist
geneigt, hier zu emendieren. Denn es gilt in solchen Fällen zu imter-
scheiden. Viel begreiflicher ist es, wenn einmal Thukydides III 4, 5 in
bezug auf die Lage des lesbischen Vorgebirges Malea irrt 2) oder Tacitus
im Agricola 14 die Inseln Man und Anglesey verwechselt. Auch die
historischen Schnitzer in der dritten Rede des Andokides jiegl Tfjg jigds
Äaxedaijuovlovg elQrjVYjg darf man als Eilfertigkeiten hinnehmen. 3) Claudian
macht den Prätor Laevinus zum Konsul (bell. Pollent. 395), offenbar des-
halb, weil in seiner Zeit die Prätur nichts mehr bedeutete; im bellum
Gildonium 91 verwechselt Claudian Syphax mit Hannibal. Ahnliche Ver-
sehen sammelte aus den Historikern U. Köhler, Qua ratione Livio usi sint
liistorici p. 21 — 40. Ein anderer Irrtum steht in Pseudo-Lucians ^'Egcoreg
c. 13 ; da heißt es, des Praxiteles Aphrodite auf Kjiidos sei aus parischem
Marmor. Sie war aber aus pentelischem Marmor gearbeitet. Daher hat
man die betreffenden Worte für unecht erklärt.-^) Wenn aber diese ''Eganeg
Avirklich erst im 3. oder 4. Jahrhundert geschrieben sind, so wird man
meines Erachtens den Irrtum ruhig hinnehmen können.
Auch folgende Nachlässigkeiten nehmen wir ruhig hin, aber es ver-
lohnt Avenigstens, sie zu bemerken. Die Grammatiker unterschieden die
Sprachfehler des barbarismus vom metaplasmus und soloecismus. Martial
aber nennt es 6, 17 fälschlich einen barbarismus, Avenn Cinna seinen
Namen in Cinnamus verändert. Dies wäre nur allenfalls ein metaplasmus.
Ahnlich steht es, wenn Ausonius Epigramm 73, 4 darin einen soUcismiis
erblickt, daß ein Mann sich AuxiUum im Neutrum benennt.
Nachsicht ist auch da geboten, wo späte Autoren einmal falsch
zitieren. Plutarch sagt von dem Sophokleischen Loblied auf Kolonos, es
sei die Parodos des Oedipus Col. : ein Gedächtnisfehler. Bei den Schohasten
laufen dann bei Zitaten Avirklich falsche Herkunftsangaben mit unter, s) so
wie auch Ausonius am Schluß seines Cento nuptiaHs XXVIII 4, 6 den Vers :
lasciva est nobis pagina, vita ptoba est
als Eigentum des Plinius zitiert; er gehört aber dem Martial I 4, 8.
1) Ygl. Berl. phil. W.schr. 1910 S. 870. ^) Siehe E. Bloch, De Pseudo-Luciani
2) Stahls Interpunktion leuchtet hier ! amoribus, Straßburg 1907, nach Blümner.
nicht ein. '") Vgl. Stemplinger, Das Plagiat in
^) Siehe F. Blass, Att. Beredsamkeit der griechischen Literatur S. 244.
I S. 329 f.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 119
Besonders nachsichtig Averden wir in Dingen der Naturgeschichte
sein. 0\äds astronomische Kenntnisse waren nicht groß, und bei der
Schilderung der Himmelfahrt des Phaethon zählt er die Sternbilder offenbar
recht flüchtig auf (Metam. II). i) Auch Ovids Fasti enthalten astronomische
Intümer und Flüchtigkeiten. 2) Horaz redet Epist. 1, 7, 29 vom Fuchs,
der in der Kornkiste zu sitzen und sich rund zu fressen pflege. Bentlev
wollte hier diesen kornfressenden Fuchs wegkorrigieren; aber grade in
antiken Tierfabeln finden sich öfter solche Fehler. 3) Auffallender, daß
in Horaz Oden I 2, 10 die zahmen Tauben auf einer Ulme sitzen, noch
mehr, daß bei Vergil Ecl. 2, 9 die Eidechsen in der Mittagshitze sich in
den Dornen verbergen. Yergil mußte in jedem Fall wissen, daß dies
falsch, daß diese Tiere grade alsdann sichtbar werden und sich im Halb-
schlaf auf den Mauern sonnen. Es bleibt nichts übrig, als anzunehmen,
daß Vergil eine Hyperbel geben mll: „es ist so heiß, daß sogar diese
Eidechsen wider ihre Gewohnheit sich nicht zeigen, während ich, Corydon,
doch umirre, weil die Liebe mich treibt." Daher wiederholt auch die
Oopa V. 28 mit dem Ausdruck des Erstaunens vere (d. h. „es ist wirklich
so") dieselbe Wendung.*) Nun aber Plinius; er teilt uns nat. bist. 12, 7
über die Platane mit: alias fuisse in Italia ac nommatim Hispania apud
auctores invenifur. Hier zeigt nominatim, daß Plinius einen Namen geben
Avill, und es ist ohne Zweifel spaniam statt Hispania zu lesen. Denn
Plinius folgt hier dem Theophrast bist. pl. 4, 5, 6 : onaviav de xai ev ''liaUq
jido}]. Theophrast sagt also, die Platane ist in Italien selten, ojravia,
Plinius macht daraus : der Baum heißt in Italien spania. Irren ist menschlich.
Vor allem beim Übersetzen. Beim Brand Roms unter Nero, sagt Cassius
Dio62, 17, 2, seien vfjooi abgebrannt; er hat insulae, Quartiere, falsch ver-
standerj.5) Noch scherzhafter der IiTtum in den lateinischen Glossaren, den
G.Löwe (Prodromusp.133) nachwies. Im Corp.gloss.II 569,24 steht erklärt:
babylonicum : sine aspiratione.
Diese fabelhafte Erklärung ist aus folgender YerAvechslung hervorgegangen:
hahißonicum ist ein asiatisches Kleidungsstück und war ursprünglich mit
i^nlr] erklärt; denn \pdr} {otoXyj) bedeutete eben ein babylonisch-persisches
Gewand. " Der Glossator dagegen, der dies %h17} ins Latein umzusetzen
hatte, nahm es als sine aspiratione, das ist Spiritus lenis.
Sollen wir aber auch solchen Unsinn hinnehmen, wie wenn Cicero
von AYassertieren, ranae marinae, die sich am Meeresgrund befinden, aus-
sagt: sie bewegen sich in der Nähe des Wassers, moveri prope aquam
(de nat. deor. 2, 125)? Hat auch er seine Quelle nur in lächerlicher Weise
mißverstanden? Hier scheint mir doch ein Eingriff immer noch nötig. «)
*) JüL. HüPKENS Interpretationsver-
such (Die Fahrt des Pliaethon, Emden 1899)
ist scharfsinnig, aber verfehlt: das gleiche
Venusinae S. 98 ff. Irrig F. Kühl, Rhein.
Mus. 67 S. 159.
^) Hiermit erledigt sich, was man hier-
muß von desselben Schrift „Die Ent- | über bei F. Kepplbr, Ueber Copa, Leipz.
stehung der Phaenomena des Eudoxos- | 1908, S.82 ausgeführt findet, spineta kön-
Aratos", Emden 1905, gelten; s. Boll, nen bei Vergil natürlich dornumwachsene
Berl. philol. W.schr. 1908 S. 1298. | Mauern bedeuten.
2) Härder, Astrolog. Bemerkungen zu | •^) Gercke, Neue Jahrbb. 22 S. 204.
den röm. Dichtern, Berlin 1893. i «) Siehe De Halieuticis p. 90.
3) Dies zeigte schon Jacobs, Lect. j
120 Kritik und Hermeneutik.
Und die hundert Füße der Nereiden? Auch sie Idingen bizarr, aber mit
ihnen steht es zum Glück anders. Sophokles singt Oed. Col. 719 vom Schiff:
dgwoxei rwv exazojujiödcov
Nfjg/jöcov dxoXovdog.
Auch an diesem exaroi^moöwv nahm man Anstoß, imd Gleditsch setzte dafür
exaxov xogäv. Denn bei Properz und O^dd werden zwar hundert Nereus-
töchter gezählt : centum Xereo genitore puellae, aber doch nicht hundert Füße,
Uns genügt dagegen, daß es bei Hesiod Theog. 264 just fünfzig Nereiden
sind. Man zähle nach: fünfzig Nereiden ergeben hundert Füße. Die
Rechnung stimmt. Der Dichter täuschte sich nicht. Der Text ist gesichert, i)
Eine andere Frage ist freilich, ob wir solche Rechnung auch poetisch
finden. Auf alle Fälle aber ist sie naiv, und solche Naivität entspricht gewiß
dem Tenor der altgriechischen Muse. Ebenso naiv verfulir ja auch Hesiod
selbst, der a. a. 0. erst die sämtlichen Namen der Meerfrauen katalogisiert
und sie dann addiert und sagt: dies sind fünfzig. Man sehe auch
das xQOLTog iooipvxov = diiiwxov in des Aeschylus Agamemnon 1469 darauf
an. 2) Noch naiver, oder sollen wir sagen ungeschickter, ist es, wenn es
bei Catull 63, 75 von der Rede eines Sterblichen heißt, daß sie zu „beiden
Ohren" nicht eines Gottes, sondern „der Götter" gelangt: geminas deoriim
ad auris. Zwei Ohren paßten doch nui' für einen Gott. Zählen wir zAvölf
Götter, so wäre hier im Stil des Sophokles von vieinindzwanzig Ohren zu
reden gewesen. AVir sollen natürhch „je zwei" verstehen. In diesen
Zusammenliang gehört aber auch die Catullstelle 51, 11. Es handelt sich
imi das berühmte, aus Sappho übersetzte Gedicht, wo wir mit den Hand-
schriften folgendermaßen lesen:
lingua sed torpet, tenuis sub artus
flamma demanat, sonitu suopte
tintinant aures, gemina teguntur
lumina nocte.
Die beiden Augen werden hier also mit „zweifacher" Nacht bedeckt; näm-
lich für jedes Auge ist eine da. Man sehe auf Sophokles, um das zu A'ei-
stehen, und alle Korrekturen sind überflüssig. 3)
Zahlen- Die Besprechung dieser Stellen führt mich schließlich noch auf das
Rätsel des Altertums und das absichtHche Verstecken eines Wortes.
Zunächst ein Spiel mit Zahlen. In der Johannesapokalypse wird Kaiser
Neros Name verschwiegen; wir sollen ihn erraten, Avenn es 13, 18 vom
zweihörnigen Tiere heißt: Söe fj oo(pia eoriv 6 e/cov vovv yjrjcpiodTOj rov
äQt§ij,6v xov &rjoiov ägi&judg ydg ävd^Q(I)7iov eori, xal 6 ägiß^judg avrov e^a-
xöoioi e^Yjxovxa e^. Die Summe 666 ergibt in hebräischen Zahlzeichen
den Namen Neros (Kmoag Negcoi'). Im Bamabasbrief werden die 318 Mann,
die Moses beschneidet, auf den Namenszug Christi gedeutet: I H und T
(= 300): das T sei das Kreuz. Auch im Pseudo-CaUisthenes 1 33 stehen Verse
des Sarapis, in denen der Gott seinen Namen mittels Zahlen umschreibt.
Sollte nicht auch etwas Ähnliches zugrunde liegen, w^enn Theokrit 17, 82 ff.
rätsei
*) Man setze übrigens als Xominativ
nicht Exazof^ijiovg, sondern epiaröfxjioöog an;
vgl. homerisches sy.aröyxeiQog ; daher stehen
auch in der Antigene 140 der Korrektur
öe^io/stQog keine Bedenken entgegen.
^) Nach Petersens Erklärung im
Ehein. Mus. 66 S. 35.
3) M. Haupt irrte hier, Opusc. I S. 106.
II. Der niedere Teil der Hermeneutik, B. Historische Interpretation. 121
uns sonderbarerweise sagt, daß Ptolemaeus über 33333 Städte herrscht? \)
Zum Dank für die Feier seines 70. Geburtstages gab Bücheier ein Muster-
beispiel feiner Interpretationskunst und Rätsellösung zum besten: s. Rhein.
Mus. 61 S. 307 f. Auf Nero, den Muttermörder, gingen die Worte um:
veoiprjcpov Negcov lÖiav firpega änexxeive (Suet. Ner. 39). Die Schriftzeichen
des Namens Nsgcov ergeben, als Zahlen gelesen, die Summe 1005, die
Buchstaben in den Worten idiav jurjrega äjiexreivE gleichfalls 1005. Der
Sinn ist also: hier ist ein neues io6tprjq?ov, denn Neros Name bezeichnet
arithmetisch den Muttermörder.
Im übriofen ist es nicht dieses Ortes, die antike Rätsellitteratur vor- Rätsei
zuführen, an der sich der Menschenwitz des Altertums übte und heute
noch wenigstens der Philologen witz üben kann. 2) Die Subtileren unter-
schieden zwei Arten, das aiviyjna und den yolcpog.^) Das erstere rechneten
die Rhetoren zur Allegorie, und seine Darstellungsart kam auf das hinaus,
was man Periphrasis nennt ; d. h. es wird, wie in der Turandot, eine Be-
schreibung oder Umschreibung des Gegenstandes gegeben, und wir sollen
erraten, was gemeint ist. Sogar die Tragödie brachte das. In des Pacuvius
Antiope Avill Amphion von seiner Schildkrötenleier reden und sagt statt
dessen geheimnisvoll, um sich als Dichter zu markieren:
quadrupes tardigrada agrestis humilis aspera
capite brevi, cervice anguina, aspectu truci
eviscerata, inanima cum aniEaali sono.
Die Bürger sagen darauf: non hiteUegimus; worauf Amphion mit einem
Wort die Lösung gibt: testudo, und Cicero,'') der uns das ausschreibt,
dazu ausruft: „Konntest du das nicht gleich sagen, o Saitenspieler?'*
Sonst verweise ich hier nur auf die yglcpoi bei Athenaeus X c. 69 — 89
und auf die Aenigmata des Symphosius, Anthol. lat. 286. Symphosius
gibt da in den Überschriften selbst die Rätsellösung (vgl. oben S. 13).
Bisweilen greifen aber auch Volldichter wie Properz und Yergil zum
(h-iphos, und rücken dem Philologen die Aufgabe näher, sich mit solchen
Spitzfindigkeiten und Yersteckenspielen zu beschäftigen. Mag man sagen,
solche Fälle zu Avürdigen, gehöre schon nicht mehr zu den Aufgaben
der „niederen Exegese" ; wir müßten sie für die „höhere" aufsparen. Das
Thema, das vom Rätsel handelt, verführt uns, sie gleich hier mit abzumachen.
Abstrus und schwierig bleibt das Yergilgedicht im Catalepton Nr. 12, veigii
welches in dreimal drei Versen lautet:
Süperbe Noctuine, putidum caput,
Datur tibi puella, quam petis, datur.
Datur, süperbe Noctuine, quam petis.
Sed o süperbe Noctuine, non vides
5 Duas habere filias Atilium,
Duas, et hanc et alteram, tibi dari?
') UioP^/iaTog ergibt, wenn man das Ä 2. xVufl., Berlin 1912. Ceber das Rätsel-
= 80 (XX) rechnet, die Zahl 30776, cpdd- \ buch der Kleobulina O. Crusius, Philol.
f^f/.ffoc, das/ als 30 gezählt, l::i50: ßaodsvg \ 55 S. 3. Uebrigens machte Klearchus im
i)FÖg 1122; zusammen 33248. Altertum eine Sammlung unter dem Titel
2) Siehe W. Schultz, Rätsel aus dem I jtsgl yoicpcov.
Catal. IL
hellenistischen Kulturkreis, gesammelt
und bearbeitet, Leipzig 1909; K. Ohlert,
Kätsel ujid Rätselspiele der alten Griechen,
3) Siehe R. Volkmann, Rhetorik der
Griechen und Römer^ S. 431 f.
4) De divin. 2, 133.
122 Kritik und Hermeneutik.
Adeste nunc, adeste: ducit ut decet
Superbus ecce Noctuinus hirneam.
Thalassio, thalassio, thalassio!
AVer mir eine bessere Aufklärung bringt, als ich sie gefunden, dem will
ich großen Dank wissen. Inzwischen verstehe ich so: Noctuin macht
Hochzeit und ist stolz auf seinen Erfolg (superbus). Der Dichter steht
mit dem Volk auf der Gasse, wo man fescenninische Spaße treibt, und
ruft: Noctuin erhält die Tochter des Atilius zur Ehe; er hat die eine
schon heimgeführt; aber Atilius hat zwei Töchter, und er bekommt sie
beide. „Jetzt gebt acht," v. 7: „jetzt führt er die ZAveite heim," also ein
zweiter Hochzeitszug, „und es ist das Trinkgefäß, die hirnea, die er in
sein Haus schleppt." Atilius muß Inhaber einer Töpferei gewesen sein,i)
und das Ganze ist ein Töpferwitz. Es war ganz gang und gäbe, daß der
Töpfer Vater des Gefäßes, daß das Gefäß Tochter des Töpfers hieß. 2)
Es steckt dann der Sinn dahinter, daß Noctuin trunksüchtig ist; vielleicht
liebte aber auch seine Braut, die wirkliche Atiliustochter, das Trinken.
Mir fällt dabei das Martialgedicht 6, 27 ein, wo es sich um Vater und
Tochter handelt. Martial ermahnt den Vater, seinen alten Falerner docli
ja selbst auszutrinken und nicht für seine Tochter aufzusparen; für die
Tochter genüge, daß sie frischen Most trinke, und mit dem Most soll sie
alt werden.
Catuu 55 Sehr viel durchsichtiger sind die zwei Cameriusgedichte des Catull,
nsß'^ c. 55 u. 58b, 3) die den Leser auf das harmloseste foppen. Unsere Er-
klärer sind freilich immer noch nicht dahintergekommen, und Catull würde
über sie staunen. In dem einen Stück heißt es ungefähr: „Bitte, Freund,
zeige mir an, wenn's beliebt, wo du steckst? Ich suchte in allen Gegenden
der Stadt, wo viel Weiber anzutreffen sind, nach dir. Schließlich packte
ich eine von ihnen: Gebt mir den Camerius heraus! Die Frauenzimmer
antworteten: Nimm dir den nackten doch! hier in unseren rosigen Brüsten
steckt er! Willst du ihn mit dir schleppen, so mußt du die Kräfte des
Hercules haben; so schAver ist er!" Was war nun dieser Camerius?
Die Herausgeber versichern kurzweg: ein Freund des Catull! Das ist
rührend. Ein ausgewachsener Freund, der nackt herumläuft? Der wäre
auch im alten Rom wie bei uns polizeilich verboten gewesen! und ein
Freund, der gar in den rosigen Brüsten steckt? Wie viel Raum ist denn
zwischen den Brüsten? Es wird gestattet sein, sich dies zu überlegen.
Größer als ein Fuß kann dieser Camerius bestenfalls nicht gewesen sein ;
sonst hatte er da keinen Platz. Aber die rosigen Brüste {roseae papillae)
könnten noch etwas ganz anderes sein; sie könnten auch Rosenknospen
bedeuten.*) Dann waren die Weiber, die da sprechen, Blumenverkäufe-
rinnen, und Camerius war noch viel winziger; er saß in den Knospen,
wie der kleine Amor in den Anacreonteen es tut. Catull könnte von
seinen Interpreten in der Tat etwas mehr muntere Phantasie und vor
') Siehe Ehein. Mus. 65 S. 347 f. wieder die Stillosigkeit, beide Gedichte
'^) Zu den andern Orts beigebrachten \ in eins zu verbinden.
Belegen füge ich Antiphanes II 31 K. und \ *) Diese Annahme wird dadurch nahe-
Anthol. lat. 481 hinzu. | gelegt, daß in papülis doch wohl schwer-
^) Friedrich begeht in seiner Ausgabe | lieh für inter papiUas stehen kann.
f>
II. Der niedere Teil der Hermeneutik. B. Historische Interpretation. 123
illein genauere Kenntnis des antiken Lebens verlangen. Man muß wissen,
daß man sich Spielkinder, pueri minuti, die nackt herumliefen, in den
Häusern hielt; sie hießen mit festem Terminus ol yv/ivoL^) Die Liebe zu
den Putten herrschte durchaus nicht nur in den BildAverken, sondern
auch im Leben. Nun lieben es die Dichter, die Kleinheit auch noch
abenteuerlich zu übertreiben, so wie es der Epigrammatiker Lukillos mit
seinem fieyas Ev/irjxiog tut, der unter einem Essignäpfchen eingeschlafen
ist (Anthol. Pal. XI 105, wo auch noch mehr Spaße dieser Art). Deshalb
sagt Catull im zweiten Cameriusgedicht 58b: „gib mir die Flügel der
Winde, daß ich dich finden kann; indem ich dich suchte (quapritando),
bin ich zu Tod ermüdet." Der Kleine hat sich also in irgendeinen Winkel
versteckt; der Dichter verfolgt nicht etwa den Fliehenden, sondern er
sucht den Versteckten ; andernfalls stünde nicht qiiaeritando, sondern per-
scqurndo.
Besonders anmutig hat aber Properz sich desselben rätselnden Scherzes Properz
bedient, wenn er uns c. II 29a folgende Szene schildert: „Als ich gestern
nacht trunken durch die Straßen schweifte, überfiel mich ein Schwärm
von kleinen Knaben {jyueri, furha minuta v. 3), die nackt waren {uudi
fiierant v. 7) und Pfeile und Fackeln trugen, und ein besonders dreister
(lascivior) sprach: „Dieser ist's! bindet ihn und schleppt ihn nach Haus,
zu seiner Geliebten, die zornig ist. Sie hat ihn uns überwiesen {locavit).'''
Was sind das für Knaben? Das sollen, meint man, Avirkliche Liebesgötter
gewesen sein. 0 Wunder! Jeder Römer würde über diese Erklärung ge-
lacht haben. Es sind dieselben yvfivoi, von denen ich sprach und die
jeder kannte. Besonders elegante Frauen hielten sich solche und staffierten
sie gern als Amoretten aus. Sie fliegen ja auch nicht, sie laufen nur auf
der Gasse einher und haben den Auftrag, den unhäuslichen Dichter heim-
zuholen. 2)
Rätselnde Gedichte ganz desselben Stils sind z. B. auch in der Pala-
tinischen Anthologie Yir 421 die Grabschrift über einen Beflügelten mit
Jagdspieß und ebenda VII 427: „Rate, wer hier begraben ist" u. s. f.
Arg aber ist es, und damit will ich schließen, daß die Fragen, mit Vergii EcI.
denen die Hirten bei Vergil Ecl. 3, 104 f. sich unterhalten, „in welchen
Ländern ist der Himmel nur drei Ellen breit?", „in welchen Ländern
wachsen Blumen, die Königsnamen eingeschrieben auf ihren Blättern
tragen?" immer noch nicht beantwortet sind. Was Servius dazu vor-
bringt, befriedigt durchaus nicht, und in Wirklichkeit kann auch kein
Mensch, auch kein Philologe, s) kann nur ein Gott die Antwort finden. So
dachte wenigstens Vergil selbst, wenn er sagt: et eris mihi magnus Apollo.'^)
^) Vgl, De amoriim in arte antiqua S. 1289 f.
simuJacris et de pueris minutis, Marburg- ^) Vgl. z. B. Wright in Class. Eeview
1892: dazu Deutsche Eundschau 1893 i 1901 S. 258.
S. 1^70 f. (Wer kauft Liebesgötter). Blüm- ! ■*) Ungelöst ist auch das jiegicpsQÖ^ievov
xp:R,Dieröm.Privataltertümer, weiß davon | von den fünf Männern auf zehn Schiffen
nichts! u. s. f., Athen, p. 457 B.
) Vgl. Berliner philol. W.schr. 1898
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes.
Der Text ist nach den besten Quellen festgestellt. Derselbe ist danach
auch interpretatorisch durchgearbeitet worden. Aber diese Interpretation
ist ab und an auf unlösbare SchAvierigkeiten gestoßen. Es gibt Stellen,
die wir nicht verstehen. Es sind die cruces interpretum. Der Anstoß
kann sachlich, kann auch nur rein logisch, er kann grammatisch, er kann
stilistisch sein. Sollen wir uns bei dem „non liquet" beruhigen? Wir
folgern vielmehr: die Stelle ist korrupt, und es ergibt sich eine weitere
Pflicht des Lesers, vor allem des Editors: die Feststellung der Text-
schäden vind der Versuch, sie zu beseitigen. Dieser Versuch ist Sache der
Divination.
Un- Freilich gibt es Fälle, wo der Editor sich zurückhalten muß. In-
^^Texte^^ Schriften, Papyrusurkunden wollen Avir im Originaltext mit all seinen
Fehlern abgedruckt haben. Dasselbe gilt von Texten, die im Verdacht
der Fälschung stehen, Avie z. B. den Versen der pseudo-emipideischen
Danae.i) Aber auch bei einem Text A^on solcher Wichtigkeit Avie Festus,
der überdies nur in einer Handschrift A^orliegt, billigen Avir dies Verfahren,
das einst 0. Müller innehielt. Nicht anders beim Corpus glossariorum
latinorum, in Avelchem Sammeldruck die Glossarien, Avie sie sind, neben-
einander stehen und sich mit ihren Fehlern gegenseitig kontrollieren.
Aber auch bei Plautus ist Zurückhaltung geboten, da es bei ihm, ins-
besondere in den Cantica, in unendlich vielen Fällen so scliAver ist, die
Hand des Autors Aviederherzustellen, und die kleine Plautusausgabe von
Götz und Scholl, die sich mit Konsequenz befleißigt, die Überlieferung
erkennbar A^orzulegen, war daher besonders AAdllkommen.
Konjektur jjj^ übrigen hat die Konjektur den Textschaden zu beseitigen. Das
Konjektm^enmachen ist ein Nachdichten, es ist Kunst und Avie jede Kunst
A^or allem Sache des Talents, sodann aber auch Sache der Übung und
eines erst allmählich reifenden Taktes. Voraussetzung ist dabei die
Kenntnis der Paläographie. Es gibt Genies der Konjektur Avie N. Heinsius,
Bentley, Bücheier; Ariele aber hat ihre Begabung A'erführt, und sie änderten
den Text aus elegantem Trieb und purem Wohlgefallen. Es ist ja hübsch
und vergnüglich, mit leichter Hand einen Autor zu A-erschönem oder um
eine Pointe zu bereichern. Aber in solchen Fällen korrigiert man eben
dem Autor selbst sein Konzept; als Motiv zum Ändern des Textes ge-
nügt der Umstand nicht, daß uns der Wortlaut nicht gefällt. Es ist viel-
mehr dreierlei zu leisten: 1. der zAvingende NacliAA'eis, daß das Über-
lieferte unrichtig und in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Hierin kann
^) Nauck, Fragm. trag. p. 714 f. ; Wünsch, Ehein. Mus. 51 S. 188 f.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 125
man sicli schließlich sehr wohl einigen. 2. Der NacliAveis, welcher Sinn
an Stelle des Verderbten erfordert wird; auch liierin ist meistens eine
Kinigung noch möglich. 3. Die Konjektur selbst; sie bleibt sehr oft nur
ein Versuch, für den postulierten Sinn das originale Wort zu finden.
Das geistreiche Konjizieren war von jeher und bis in meine Jugend-
zeit hinein das Lieblingskind der Philologie. Wenn uns Th. Bergk den
Sophokles interpretierte, tat er eigentlich nichts als das. Man sollte
glauben, daß, seitdem unsere Wissenschaft sich darauf besonnen hat, daß
sie A'or allem Kulturgeschichte ist, ein derartiger morbus ausgestorben
sei. Doch erlag noch Emil Bährens ganz diesem Triebe, und er hat uns
viele Texte verdorben (Catull, Properz, fragmenta poetarum lat. ; Tacitus'
Dialog), und van der Vliet machte es in seinem Apuleius nicht besser
als er. Heutzutage sind es Housman in England und Senger in Peters-
l)urg, die uns durch ihr rasches Verfahren die Texte gefährden. Das
Folgende mag als eine Anleitung in der Kunst des Emendierens insofern
aufgefaßt werden, als darin einer Pflicht und Aufgabe besonders nach-
gegangen werden soll. Dies ist die Pflicht, bei jeder Textänderung den
Irrtum, der vorliegt, zu erklären und auf eine Ursache zurückzuführen. Je
nach der Art der Korruptel ist die Heilung des Schadens leicht oder schwerer.
Nützlich Avaren hierfür z. B. C. G. Cobets Variae lectiones (Leiden 1854,
erweitert 1873) und Xovae lectiones (Leiden 1858), in denen griechische
Texte behandelt sind; füi' das Lateinische Carl Heraeus, Studia critica in
Mediceos Taciti Codices, Marburg 1846, und W. Heraeus, Quaestiones criticae
de codicibus Livianis, Berlin 1885; Karl Fuchs, Kritische Studien zum
Pandektentexte , Leipzig 1867; besonders L. Havet, Manuel de critique
verbale appliquee aux textes latins, Paris 1911, S. 119 ff.
Ich gebe also im Folgenden ein Verzeichnis von Korruptelen mit den
zugehörigen Emendationen, in Beispielen, die vom Leichteren zum Schwie-
rigeren ansteigen. Es sind dazu möglichst sichere Beispiele gewählt, und
eine eingehende Begründung wird in den seltensten Fällen nötig sein.
1. Wort- und Silbentrennung.
Den antiken Texten fehlt vielfach die Worttrennung, es war scriptura scriptur i
continua. Daher jene Scherze der Alten, über die oben S. 49 gehandelt wurde, ^°^*^""'*
wo man schwankte, ob mh'Ta Äeojv oder IlavTalecov, ob in culto loco oder
incuHo loco gelesen werden sollte. Dann aber irrten sich die alten Gram-
matiker selbst; so wollte Donat in Vergils Aeneis 2, 798 exüio in ex lUo
zerlegen, Servius aber hebt tadelnd hervor, daß dadurch ein metrischer
Schnitzer entstehe. So wird nun emendiert (ich stelle links die Korruptel,
reclits die ^Verbesserung) :
PJaut. Asin, 264 r atriensh anneae] atriensi Smcreae.
Titinius v. 81 : tibi ncgo] tihin ego (corr. Bücheier).
A'olleius 2, 84: 7iam deiUius exemplis uitae naxuta Dolahella (transät)] nam DdJius
cxempU sui temix nt a Dolehella (transiit), corr. Lipsius.
Niimenius bei Athen, p. 287 C: y ßaifj ?tagTöi] fjßair/ nagTÖt (correxi).
Athen, p. 558 B: wg xä tioDä y etoi xavrr]g\ ojot ajia)J.ayeToi zavtrjg, corr. Dobree.
Horaz üd. 2, 11, 23: ma füret incomptum Lacaemie more comam religata noclum] hier
ist einfach in comptum herzustellen; Bentlcy irrte.
126
Kritik und Hermeneutik.
Eigen-
namen
Gelegentlich muß die Korrektur eines Buchstabens nachhelfen; Ovid
Trist. 1, 11, 31: adether{e)a perme] adsueta rapinae, corr. M. Haupt; vielleicht
auch Catull 64, 309, von der Haartracht der Parzen: at roseo niveae resi-
debant vertice vittae] atro sed niveae residebant vertice vittcie; doch ist mir
diese Änderung unsicher geworden.^)
Im Griechischen ist durch Mißdeutung der Krasis viel versehen
worden. Im Lucian wird öfter rd juu statt Tajiid überliefert, rd xeivov statt
rdxeivov, woraus also auf den Gebrauch von xelvog im Lucian nicht ge-
schlossen Averden kann. Bei Plato findet sich xelvog nur oder fast nur
nach einem ij.^) xd mr/jdeta i. Tdmrrjdeia steht Athen, p. 614 C; das rd
wurde als bloßer Artikel abgesondert. Daher steht im Lexikon des Hesych
mrijuia unter 11 als Lemma, aus rd emrljuiaj bei demselben steht unter N
gar raxioviTov (sie), das als Küchengewürze, aQTVjuara, erklärt wird: es ist
rd ex Tov vixQov gemeint; corr. Pierson.
FälschHch steht Aristophanes Eccles. 405:
avTÖg ye yLevr ov (päoxsv i^udnov k'xslv.
Das Gegenteil wird vom Sinn erfordert; es ist juevroi ecpaoxer, mit Krasis
juevTov(paoxe zu lesen (corrector ignotus).^)
Hierher gehört denn auch das wichtige, aber sinnlose cdte delata in
Ennius' Annalen 366. Das soU „hocherhoben" heißen. Schon 0. Müller
erkannte darin alted elata: einer der seltenen Belege für das sog. Ablativ-rf
in der römischen Buchlitteratur.
2. Eigennamen.
Jeder Eingriff wird auch da vermieden, wenn wir ein Wort als Eigen-
namen auffassen oder eventuell die Auffassung als Eigennamen verwerfen.
Fälschlich hat Plinius, wde wir sahen (S. 119), das onaviav bei Theophrast
hist. plant. 4, 5, 6 für einen Namen dei' Platane gehalten. Fälschlich
druckte man bei Horaz Sat. 1, 5, 52:
Sarmenti scurrae pugnam Messique Cicirri
Musa velim memores;
es ist cicirri zu lesen; denn Messius trat als xixig^jog, in der E/olle des
oskischen Pulcinella oder des Hähnchens auf (s. Hesych s. v.), sowie
Sarmentus als scurra^) Horaz wagte es, Vesper statt Hesperus als Namen
des Abendsterns zu verwenden; nirgends aber ist das fürVergil nachweis-
bar, und überall ist bei ihm vesper mit kleiner Initiale zu drucken ; ebenso
bei Catull c. 62, I.0) Dagegen nun Seneca Apotheos. 11, vom Kaiser
Claudius: occidit socerum Crassum, frugi hominem, tarn similem eqs.] lies
Crassum Frugi, hominem tmn similem: s. Bücheier. Doryphoros hieß der
Minister a libelhs des Nero; es ist also, wie bei Dio Cass. 61,5, so auch
im Auszug des Xiphilinos doQV(p6Qq) als Name zu fassen, ß) Derartiges ist
1) Siehe Ehein. Mus. 59 S. 423. Durch
den Einfluß von Ciris 122 müßte hier die
Korruptel entstanden sein. Die über-
lieferte Lesung ließe sich aber auch mit
Luxorius 298, 1 ed. Eiese verteidigen, wo
es heißt: Rutilo decens capillo \ roseoque
crine ephebus \ spado regius mitellam \ capiti
suo locavit.
2) Siehe M. Schaxz, Plato II p. \L
3) Anderes gibt A. Brinkmann, Ehein.
Mus. 67 S. 611 ff.
*) Siehe Dieterich, Pulcinella S. 94
u. 244.
5) Siehe Ehein. Mus. 59 S. 409.
ß) In griechischen Hss. pflegt ein
Eigenname durch eine Linie über dem-
III. Die emendatip des als grundlegend erkannten Textes. 127
natürlich längst berichtigt. Bei Menander fr. 223 v. 1 korrigierte Gesner
K(jdT(üy aus xgaxdn'. Die Einwohner von Ai^wv)) in Attika waren als
Spötter bekannt; daher ist bei Xenophon Hellen. 2, 4, 26 statt e^o) veö)v
richtig Al^covecov hergestellt. So ist m. E. auch bei Krates in den Theria,
fVg. 15 K. diä Tov Tiauoviov in diä rov Uaicoviov zu verändern; Paionios war
Architekt; es handelt sich dort aber um die Konstruktion einer hohen,
auf Säulen über das Land geführten Wasserleitimg, die in der Tat einen
ersten Baumeister erfordert, i) Nikolaos von Damaskos erzählt bei Athen,
p. 153 F, daß die Römer Gladiatorenkämpfe gaben naQo. tvqolvvcdv naga-
Aaßöyreg xö eß'og, wo schon Musurus Tiagä TvQQtjvcbv verbesserte. Bei Theo-
krit singt der Hirt 8, 53 von wvoeta xäkavTa, und man stellt ohne Be-
lenken KgoLoeia rdkavra her.
Leicht ist auch
3. die Veränderung der Akzente.
Denn Akzentzeichen wurden in den antiken Texten entweder gar Akzent u.
nicht oder inkonsequent und nachlässig gesetzt. 2) In Menanders Epitre- ^^" "^
pontes 575 (Körte) kann das ETTITAMON als im ydjuov, es kann als emyajuov
gelesen Averclen; der Zusammenhang muß entscheiden. Xenoph. Memor.
2, 7, 8 steht das Präsens vjiojueveiVy es wird aber das Futur, also imo^uevElv
erfordert. Xen. Sympos. 2, 29 steht rama jidoxeiv ä xal äXXoL, der Sinn
erfordert xamd.'^) Schol. Iliad. B 111, über jueyag, das bei Homer zwei Be-
deutungen hat: TOTE de avrö] lies röre de av ro (Lehrs, Aristarch^ S. 17).
Menander fr. 62 Kock noiei der Codex] der Imperativ noiei ist nötig (corr.
Dalecampius). Aristoph. Pax 214 steht dmoet dixav, dort wird aber dorisch
uesprochen, also dcooei. Bei Athenaeus p. 75 D steht: Avögoricov . . . yeri]
ovxoyv rdöe dvayod(pei, es handelt sich aber nicht um Feigen, sondern um
Feigenbäume, daher ist ovxöjv zu schreiben (Schweighäuser).
Bei Elisionen wurde der Apostroph gesetzt; so auch im Menander;
gelegentlich dabei aber der Einfluß der Aspirierung vernaclilässigt, z. B.
Epitrep. 24 jiga^O^evT Iv rji 001, ein Verfahren, das sich wiederum von
selbst korrigiert.
4. Berichtigung der Interpunktion.
Die Interpunktion, ori^eiv, oTiyjmjy das Setzen des Punktes, auch der inter-
rraoaygacpri, des interductus, war schon in antiken Texten ausgebildet. Die
I^apyrusfunde haben uns darüber trefflich unterrichtet. Lehrreich ist auch
die sorgliche Punktierung in den alten Yergilhandschriften.*) Der Heraus-
geber eines jeden Textes hat sich um die überheferte Interpunktion zu
k'ümmern, ob der Text auch nur in jüngeren Handschriften vorliegt. Ich
liabe dies in meiner Claudianausgabe mitunter mit Nutzen getan ; danach
selben gekennzeichnet zu sein: Cobet, j A'aticana Proben genommen. Diese Inter-
Xov. ]ect. S. 530 f. punktion drückt die Gliederung der Eede
^) Vgl. Elpides S. 102 f. ; in „commata" aus, worüber Corpus glossar.
-) Vgl. z. B. A. Körte, Menandrea ; lat. V 9, 17, Isidor Orig. 1, 19, 3: praeclsiis
p. IX f. sensus comma dicitur ut apud VergiUnin
3) Vgl. Menander Epitrep. 477. arma vinimque cano eqs. Vgl. übrigens
*) Ich habe im Jahre 1900 auf der | Kauer, Wiener Stud. 22 S. 59 f.
punktion
128 Kritik und Hermeneutik.
ist z. B. Nupt. Honor. 136 der Satzschluß nach exploratores 'peJagi ge-
wonnen, i) Aber natürlich konnte darin schon das Altertum irren. So
will Servius bei Vergil Buc. 3, 7 interpungiert wissen:
Parcius. Ista viris tarnen obicienda memento:
Aen. 6, 199 interpungierten viele irrig hinter pascentes (s. Servius), und zu
Buc. 1, 28, wo es vom Bart des Tityrus heißt:
Candidior postquam tondenti barba cadebat
bemerkt Servius gar : mutanda dist'mcüo ; man wollte im Tityrus den Yergil
erblicken, Yergil Avar aber für eine harha candidior noch zu jung; also
soll candidior zu Uhertas, welches Wort im voraufgehenden Verse steht, ge-
hören. In der Ilias E 297 f. teilte man, toll genug, hinter änogovoe ab:
Aiveiag 6' ouiogovoe ' ovv aajiiÖi Sovgi re juaxgoj
ösi'oag //?/ Jicög oi igvoaiaro vexgov 'Axaioi
a.f.iqpi 6' äg' avtcb ßaive,
SO daß das öe im zweiten Satz die 14. Stelle einnahm. 2)
Daß die Interpunktion irgendwo auf die Originalhand des Autors
selbst zurückgehe, können war nicht sagen. Wir haben also freieste Hand,
liier selbst zu entscheiden. s) Vor allem können da, avo es sich um die
^''^t"i^^'-, Abtrennung der Kola im Satz handelt, Irrtümer entstehen. Aristoph.
Acliarn. 69 f., wo der Gesandte erzählt, teilt man sinnAvidrig:
xai fifJT hgv/öfiso&a jraga Kavoxgiov
:i£Öicn' *) oöoiJikavoTnteg eoxtjvrj^ievoi,
i(p' a.g(.iafia^(bv fialdaxcög xaraxsijusvoi,
ajio)J.vix€VOi.
d. h.: die Gesandten wurden geschunden, indem sie durch die Ebene
unter Zelten umirrten! Aber wer kann unter Zelten umirren, herum-
scliAveifen? odoinlavovvTeg toxrjvrjuevoi ist falsch verbunden. Man inter-
pungiere :
jiaga Kavozgiov
jTsdiov 6ÖoiJT?.avoi'VTsg, ioxrjvrj/iisvoi
£(p' dgiuajua^<m', jua)Maxcog xataxei/usvoi,
und es ist dabei zu erinnern, daß die persischen Reisewagen eben ein
Zeltdach hatten, was uns Aristophanes hier so anschaulich Avie möglich
macht, ö)
cir. nat. Bei Cicoro de nat. deor. 1, 20 korrigiert man überflüssigerweise so:
ckor. 1.20 ^^y^^^Q^^ ^^yQ g^ vestra est, Lucili, (^eademy, eadem requiro, quae paulo ante :
miuistros machinas eqs. Dies doppelte eadem ist aber garstig, und AA-ir
brauchen es nicht; sondern es ist einfach abzuteilen: pronoea vero si vestra
est, Lucili, eadem, requiro quae paulo ante; d.h. „ist, Lucilius, eure stoische
^) Vgl. auch meine Praefatio zum Cod. \ herausgab, haben wir eine Menge sinn-
Neapolitanus des Properz p. XXIX. loser Stellen stillscliweigend durch Be-
2) Siehe L. Friedläxder, Xicanoris \ richtigung der Interpunktion geheilt.
.1. 7L oriy/Lifjg S. 44. | '') Unsichere Lesung; man erwartet
3) So auch bei Originaldrucken der I jioxafxov.
Eenaissancezeit. Im Hermann Schotten, ! ^) Vgl. Aesch. Pers. 1001 : den Aus-
Ludus Martins (ein Drama über den | führungen HuGO Webers, Aristophanische
Bauernkrieg des Jahres 1525), den Schrö- j Studien, zu dieser Stelle kann ich nur z.T.
der im Marburger Universitätsprogramm beipflichten,
des Jahres 1902 unter meiner Mitwirkung |
1
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 129
Pronoia dieselbe wie die Piatos, so fordere ich, was ich vorhin beim Plato
forderte." Eine alte Streitfrage geht um Horaz Od. 1, 12, 20: Horaz od.
Proximos illi tarnen occupavit 1,11,1
Pallas honores
Proeliis aiidax. Neque te silebo,
Liber eqs.
Su schreiben die einen. Andere Avollen den Punkt vielmehr hinter honores
gesetzt sehen, so daß audax zu Liber gehört. Und das ist zweifellos
richtig; denn Pallas heißt nie midax; wohl aber ist Bacchus, der Besieger
der Inder und der Giganten, audax, „sobald er sich in der Schlacht be-
wegt"; wir haben „audax si in proeliis versatur" zu verstehen. Horaz
Od. 1, 11, 1 sind drei Interpunktionen möglich: Tu ne quaesieris scire
{nefas) quem mihi eqs. oder Tu ne quaesieris {scire nefas) quem mihi eqs.
oder Tu ne quaesieris! Scire nefas quem mihi, quem tibi finem di dederint;
und die letzte ist die einzig sprachgemäße. Denn es ist vollkommen un-
natürlich, scire durch Parenthese von seinem benachbarten Objekt zu
trennen; quaerere aber kann in lebhafter Rede durchaus ohne Objekt
stehen wie das quid quaeris? bei Cicero ad fam.7, 3, 2; ebenso quid quaeris?
Hör. Epist. 1, 10, 8 ; auch Terenz Andr. 90 sei verglichen. Ganz so auch hier.
Niemand scheint die Plautusstelle Capt. 846 verstanden zu haben, wo Plaut,
der Koch zmn Herrn sag-t: Capt.846
iüben an non iubes astitui anlas, patinas elui,
laridum atque epulas foveri foculis ferventibus?
Hier ist schon die Yerbindung laridum foveri, „Schinken wärmen", sonder-
bar, die Zusammenstellung laridum atque epulas aber sicher verkehrt; denn
Schinken ist nichts anderes als Eßgerichte, epulae, diese können also nicht
als Zusatz zum laridum hinzutreten. Plautus meinte es vielmehr so:
iuben an non inbes astitui anlas patinas, elui
laridum atque epulas foveri?
denn der Schinken muß, wie jede Hausfrau weiß, vorher gewässert werden
(elui), ehe man ihn aufs Feuer bringt.
Catull gibt uns im carm. 54 folgende Zeilen : Catuii 54
Othonis Caput oppido est pusillum,
Neri, Rustice, semilauta crura,
subtile et leve peditum Libonis.
si non omnia displicere vellem
tibi et Sufficio seni recocto.
Dies ist wiederum sinnlos, aber der Sinn sofort hergestellt, wenn man
im V. 4 interpungiert :
si non omnia: displicere vellem
tibi et Sufficio seni recocto,
wobei si non omnia elliptisch für si non omnia sunt oder essent steht:
„wenn das alles nicht wahr ist, will ich dir und dem Sufficius mißfallen."
Dies hat auch noch Friedrich nicht begriffen. 1) Lucrez TL 1017 si non
omnia sunt ist zu vergleichen.
^) Friedrich schreibt auch noch fälsch- ' Silbe hat; vgl. W. Schulze, Eigennamen,
\'\q\\ Fuficio statt Sufficio; er hätte wissen j S. 239 u. 518. Sufficio behalte ich bei, in-
können, d&QFuficius langes i in der zweiten | dem ich den Namen Cornifidus vergleiche.
Handbuch der klass. Altertiimswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 9
130
Kritik und Hermeneutik.
catuii 5 Bei demselben CatuU 5, 4 liest man den weisheitsvollen Satz : „Die
Sonne kann täglich untergehn und wiederkommen" :
soles occidere et redire possunt.
Das „kann" aber gibt m. E. ernstlichen Anstoß, und für possunt wäre
vielmehr solent zu erwarten. Denn es ist die Regel, daß die Sonne unter-
geht. Also hat Catull vielmehr so interpungiert :
soles occidere et redire possunt
nobis ;
d. h. für uns Sterbhche kann Sonnenuntergang und -aufgang sich wieder-
holen. Er kann es, wenn nämlich das Schicksal es uns gönnt; er kann
es auch nicht.
Personen-
6. Verteilung der Worte an die Personen des Dialogs.
Im Gespräch des Dramas den Wechsel der Personen durch die Anfangs-
im Dialog buchstabon ihrer Namen anzuzeigen, ist erst in der römischen Kaiserzeit
des Drama durchgedrungen.^) Vorher begnügte man sich, wie es der papyrene Menander
zeigt, meistens damit, den Wechsel mit einem bloßen Strich oder Doppel-
punkt anzudeuten.'^) Dabei waren aber natürlich unendliche Irrungen und
Auslassungen möglich, wir haben im Drama freie Hand, und man macht
mit Grund im Plautus und überall von dieser Freiheit, die Reden zu ver-
teilen, zuversichtlich Gebrauch. Man lese jedes Drama so, als ob die
Personenzeichen fehlten, und stelle nach dem Sinn sie sich selber her.
Das gilt vor allem von Plautus. In der Tragödie sind solche Schwan-
kungen seltener; doch sagt uns z. B. der Scholiast zu Euripides Medea 759,
daß man schwankte, ob hier der Chor oder ob Medea spreche. In der
Komödie hingegen sind solche Unsicherheiten häufig, weil in der Komödie
der Yers öfters gebrochen wii'd. Steht mitten in der Pede ein rl cprjg;
oder XL ovv;, so ist klar, daß hier ein anderer spricht (z. B. Sosipatros
frg. 1, 12; Lynkeus fr. 1). Ein Fragment Menanders beginnt (249 Kock):
Mövifiög reg r/r äv&gcojiog, w fPilcov, oocpog,
döo^ötegog /ningq) ö\ 6 xrjv iirjQav fyoiv,
jir'jQag fiav ovv rgeig.
Es ist aber wiederum klar, daß fiev ovv dem Antwortenden gehört; also
muß, wie Cobet nov. lect. S. 93 sah, eingeteilt werden:
A. Mövi/Liög Tig fjv äv&gcojiog, <o ^ilcov, ooq?6g,
ddo^öregog ^ixqcö d\ B. 6 t7]v Jtrjoav s/o)v;
A. JiTjQag ftsv ovv igsTg xik.
Bei Nikomachos (ibid. Bd. III S. 386 fr. 1) sagt der gemietete Koch zu
dem, der ihn in Dienst genommen hat: „Du bist zwar liebenswürdig, aber
du bist nachlässig gewesen":
vJioÖELXVVEig juev rj&og dorsTov Jidvv
xai JCQäov, oXiycoQOv de jTejioi?]xdg xi Jicog.
^) Im cod. Laurentianus des Aeschylus
und Sophokles sind diese Personenbezeich-
nungen keineswegs alle von erster Hand,
oft ist der Personenwechsel gar nicht be-
zeichnet, oft findet sich in ihm auch noch
die antike Paragraphos, die Eedeschluß
anzeigt; s. Soph. Elektra ed. Kaibel S. 1.
2) Vgl. W. Schubart, Das Buch bei
den G-riechen und Römern, S. 78.
ni. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 131
Dies Schlußwort nrng ist überflüssig; es ist ncbg als Zwischenfrage ab-
zutrennen: „wieso?", worauf dann die Antwort folgt:
Ev rfj rsxw xiveg kafxev ovx i^rjraxag.
Auch das schwere Kratinosf ragment 74 kann hierfür angeführt werden u. a. m.
In Senecas Tragödien sind Personenzeichen überlief ert ; i) wenn es
dort aber Phoen. 650 f. sinnlos heißt (locaste spricht):
iam numeres licet
fratrem inter illos (sc. reges).
Et. numero et est tanti mihi
cum regibus iacere et urbi (lies te turbae) exulum
ascribo,
so kann nur Polynices, nicht Eteocles das numero sprechen; das et aber
ist sinnlos, numeret herzustellen geht nicht an, weil Eteocles seinen
Bruder im Folgenden in zw^eiter Person anredet. Also ist herzustellen:
Pol. numero. Et. <me> est tanti mihi
cum regibus iacere; te turbae exulum
ascribo.
In jenem et verbirgt sich eben das Personenzeichen; me entspricht dem
folgenden te, das wiederum zu et entstellt wurde. 2) Auch weiterhin ist
daselbst die Rollenverteilung vollständig in Unordnung.
Derartige Emendationen sind weiter eventuell auch in solchen dia- Außerhalb
logischen Schriften wie den Platonischen, auch im Theokrit sind sie g^. ^^^* 1^^^™^^»
legentlich vorzunehmen. Im Idyll VIII des Theokrit gilt es, die Strophen
auf Daphnis und Menalkas richtig zu verteilen. In den Adoniazusen v. 13
schwankt die Überlieferung zwischen ov Xeyao äjKpvv und ov keyei äncpvv.
Je nachdem man liest, spricht Praxinoa oder Gorgo den v. 13. Auch in
der Satire, im Brief wird oft ein Zwischenredner ohne jedes cprjoi oder Satire
hiquit eingefülirt,^) und es ist wichtig, dies im Text deutlich zu machen,
wie bei Juvenal 7, 105 „sed genus ignavum'^ eqs., aber auch 7, 124 „Aemilio
dahitur qiiantiim licet, et melius nos egimus'^ , Worte, die der Winkeladvokat
selbst spricht, von dessen wirtschaftHcher Lage vorher bei Juvenal die
Rede war. Bei Catull c. 67 wird die janua aufgefordert, über die Interna
des Hauses zu berichten, und ihre Rede setzt v. 9 ohne jede Einführung
ein; ebenso die Rede der Indignatio in Horaz Epode 5, 11; ebenso das
Selbstgespräch des Aeneas bei Yergil Aen. II 577; und auch im Sperlings-
gedicht c. II des Catull steht es gewiß nicht anders. *) Ob auch in der
Copa? in der Archytasode? Man hat geglaubt, daß in der Copa nach Copa
den ersten einführenden Zeilen das Schenkmädchen, die copa, selbst rede.
Aber aus dem Gedichttitel folgt das nicht, der nur dem ersten Yerse des
Gedichts entnommen ist, und es scheint untunlich; denn das Mädchen
tanzt da einen wilden Kastagnettentanz, und dabei kann sie nicht sprechen.
Und wer ist es, der bei Horaz Ode I 28 den Archytas anredet? Nicht Horaz oa.
etwa Horaz selbst, der in diesem Gedicht gestorben zu sein fingierte, 0) ^'"^
sondern die umirrende Seele irgendeines Ertrunkenen, der da unbestattet
') Für das römische Drama vgl. bes. ! Stil der paulinischen Predigt, Göttingen
Havet, Manuel S. 398 ff. j 1910, S. 10.
•') Rhein. Mus. 34 S. 523. | ") Vgl. Philologus 63 S. 428.
^) Ueber den Ausfall des (prjoi in der ; ^) So Stowasser , Zeitschr. österr.
cynischen Diatribe vgl. R. Bultmann, Der | Gymnas. 1891 S. 193.
9*
132 Kritik und Hermeneutik.
geblieben, iind der anfangs an den Archytas, hernach, v. 23, an den
vor üb erfahrenden Schiffer sich wendet. Man vergleiche, um das zu ver-
stehen, Properz I 21. i) Das Gedicht ist eines der verzwicktesten des
Horaz und, sagen wir es nur ruhig, unter dem Zorn der Musen ent-
standen. Aber ein Zusammenhang ist da; der Begriff des pulvis exiguus
(v. 3) bildet ihn: „zur Bestattung eines Archytas hat pulvis exiguus ge-
nügt; ich verlange für mich jetzt auch nicht mehr" (v. 23 u. 36). Das
Ganze ist also, wie das zitierte Properzgedicht , die einheitliche Pede
einer umbra, der jede orientierende Einführungsformel fehlt.
Ich füge endhch noch zwei Beispiele hinzu, wo durch Einführung
Prop. 2, 4, 24 von Anführungszeichen geholfen werden kann. In dem Properzvers 2,4,24
Sic est incautum quicquid habetur „amor"
gibt das Neutrum incautum und quicquid Anstoß, da amor maskulin ist.
Also ist dies amor in Anführungszeichen zu setzen und bedeutet „ich
werde gehebt". Plinius teilt in der Naturgeschichte 17, 239 über den
Andro- ^^zt Audrokydos in Anlaß des raphanus folgendes mit: hinc sumpsit Andro-
cydes medicinam contra ebrietates raphanum f mandatur (Variante mandi)
praecipiens. Wie ist hier die Corruptel zu heilen? Mayhoff wollte raphanmn
manducari lesen ; 2) viel leichter aber scheint mir die Emendation: „raphanum
mandatis" praecipiens oder, noch besser und einfacher: „raphanus mandatur''-
praecipiens, d.h. „indem er vorschrieb : Ihr sollt raphanus kauen". Plinius
gibt die Äußerungen dieses Androkydes auch noch sonst in direkter Pede.^)
Dies Beispiel leitet uns nun zu den eigentlichen Yerschreibungen
hinüber. Unter ihnen steht voran die
7. Verkennung von Zahlzeichen.
Zahl- Im Codex Galeanus des Lexikons des Photios steht auf der ersten Seite
die sinnlose Notiz: exoijui]ß^i] 6 öovXog xov -^eov Nixi^rag äeSgog xal dvordQiog 6
kvxvog,^) es ist aber jigcoroeögog und jiQcorovordQiog gemeint (Cobet). Demosth»
Androt. p. 590 steht ovo f]jueQag, wo wir d' ^juegag fordern. Beim Livius
10,31,4 steht coctis statt trecentis, hervorgegangen aus CCCt^s-^b^ Uyeiv statt
A' ETEi bei Galen (Diels, Doxogr. S. 12). Josephus gibt die Zeilenzahl seiner
Archäologie am Schluß des Buchs XX auf el juvQidÖEg oxixcov an; es sind
aber nur 50000; also ist e statt e^ zu schreiben. ß) Anderes gibt Klotz,
Rhein. Mus. 66 S. 159. Bedauerlich ist es, wenn bei Datierungsfragen
häufigere Änderungen der Überheferung nötig werden, wie in der So-
phoklesvita: xal'ħ7]vatoi d' avröv ^ß'' (corr. ve) hcbv ovra orgarrjydv eIIovto
jiQO Tcbv IlEXoTiovvrjOiaxöjv eteolv r (corr. §') ev tm Jigog "Avaiovg TioXEincp.
8. Vertauschung ähnlicher Buchstaben^)
Hier öffnet sich für die Beispielgebung ein unendliches Feld. Doch
muß ich mich mit w^enigen Bemerkungen begnügen. Uralte Verschrei-
1) Vgl. H. Hollstein, De Properti ! *) Phot. ed. Naber S. 3 Anm.
monobiblo S.70; auch Berl. philol.W.schr. j °) Aehnliches mehr bei W. Herabus
1898 S. 1289.
2) Aehnlich Corssex, Ehein. Mus. 67
S. 244.
3) Siehe Corssen a. a. O.
a. a. O.
6) Buchwesen S. 203 f.
7) Vgl. bes. Havet, Manuel S. 158 ff.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 133
bungen im Homertext anzusetzen, Avird durch die Tatsache ausgeschlossen, Frühe Um-
daß Ilias und Odyssee ursprünglich nur mündlich tradiert waren. Denn ^^gnecii. "
der Wahn, daß Homer schrieb und in Büchern dichtete, wie es der Agon "^^^^^
Hom. et Hes. und die SibylHnen III 425 allerdings von ihm voraussetzen,
ist unlialtbar.i) Es ist fraglich, ob sich im Homer Corruptelen auf nach-
trägliche Übertragung aus einem primitiveren Alphabet zurücMühren
lassen.*) Wohl aber trifft dies für andere archaische Dichter zu. Die
einschneidende Neuerung des Euklidischen Alphabets vom Jahre 404 — 403
verlang-te damals eine Umschrift vieler Texte. Früher hatte O nicht
nur o, sondern auch ov und (o bedeutet. In solcher primitiven Funktion
aber sehen wir es noch jetzt bei Pindar Nem. 10, 62 Ävyxevg i'dev fiuevog,
wo ijuevog Objekt sein muß; es bedeutet also, wie schon der alte Didymos
erkannte, 7]fi€vovg. In den Texten der lesbischen Dichter war das alte
Digamma häufig, aber es wurde hernach verkannt und vornelimlich mit
Gamma vertauscht. Daher bei Alkman yedev für fe&ev. Hesych hat
yejitjLiara, das IjuaTia bedeutet; Ygl. vestes, und bei Sappho fr. 28 steht sogar
TFinfjv, während die Dichterin feijrrjv geschrieben hatte.
So blieb nun die Möglichkeit der Irrung auch im Gebrauch der spä- Majuskel
teren Alphabete bei unausbleiblicher Ähnlichkeit gewisser Buchstaben-
formen unendhch. In der lateinischen Majuskel sahen sich z. B. A und X
älmlich, und daher wird im Livius öfters ea statt ex, auch dua für dux
u. ä. m. überliefert. Wenn die beste Handschrift im Juvenal 7, 80 saleno
für den Namen Salejo gibt, so erklärt sich dies aus Majuskelschrift:
SALENO entstand aus SALEIIO, indem man die beiden i-Striche zu N
verband; denn es ist bekannt, daß im Latein der Konsonant j inter-
vokaHsch massenhaft mit Doppelung des i geschrieben wurde : maüor u. ä.
Plautus Persa 173 ist quis überliefert und ovis zu schreiben; corr. Bergk.
OVIS wurde zu QYIS verlesen. Bei Theognis 299 steht ovdelg di] (pilog
fhat, Avo Sauppe und Bergk mit Evidenz ovÖ8lg hj herstellten; es wurde
A mit A vertauscht. Im Lexikon des Photios steht Na^iav&og statt Na^ia
AuJog, der Wetzstein; es Avurde AI mit A^ verwechselt. Hesych schreibt
fvTjkoia, wo EV7id§Eia gemeint ist; er las EYIIAOIA statt EYIIAOIA. In
Aristoteles' Rhetorik lesen wir zweimal irrtümliches 'Hgodixog für ITqo-
diy,og,^) TiXelovg statt 'HXeiovg Polyb 4,36,6.
Je nach den A^erschiedenen Schriftgattimgen in Majuskel und Minuskel, Sonstiges
kursiv oder nicht kursiv, Avaren natürlich die Arten der Irrungen ver-
schieden, und aus ihrer Natur läßt sich daher oftmals, Avie AAdr schon
S. 18 sahen, mit Sicherheit die Schriftgattung und so approximativ auch
das Alter des verlorenen Archetyps der Handschriften bestimmen. Das
Nähere hierüber aber ist der Paläographie zu entnehmen. Doch sei, bevor
•) Siehe die Buchrolle in der Kunst ■ frühesten Exemplaren kann eIv für ev, fxsi-
S. 211; \^or allem B. Niese, Homerische ! lavi für fiekavi, doidt/oöeigog für doL^odsgog
Poesie S. 9. Vgl. oben S. 89. Die abweichen- j u.a. gestanden haben. Anders Kühner-
den Ausführungen bei Christ -Schmid, Blass, Griech. Grammatik I S. 169 f. Vgl.
Gesch. der griechischen Literatur I S. 69 i auch Wackerxagel in Bezzenbergers
überzeugen mich nicht. ' Beitr. IV S. 259; Thumb, Handbuch der
2) Siehe Niese S. 9 Note 1 ; W. Schulze, ! griech. Dialekte S. 320.
Quaest. epicae S. 153, 1. Schon in den ; ») p. 1361 A 5 und 1400 B 19.
134 Kritik und Hermeneutik.
ich mich zu anderem wende, noch hervorgehoben, daß natürhch nur zu
oft auch da leichte, aber sinnstörende Yerschreibungen stattfinden, wo
von einer täuschenden Ähnlichkeit der Buchstabenzeichen nicht einmal
eigentHch geredet werden kann. Das kann man schon aus dem Bakchylides-
papyrus ersehen, wo der Schreiber erster Hand 15, 56 ovvöixov statt ovvoixov
schrieb; weiter etwa aus Strabo, p. 389, wo rdv 'Avlav xakovjuevov jzora^udv
steht, aber rov^igvav gelesen werden muß.i) Grade hier ließen sich natür-
lich noch eine Fülle von Leseversehen anreihen: so, daß die Schreiber
oai^QÖv und oajiQÖv verwechselten. 2) Bei Theokrit 9, 10 korrigierte Mei-
neke änäoag evident in äjtcooag. Bei Theokrit 23, 14 steht (pevye Ö' äno
XQ(og vßgiv rä jiioQq^a TTegixeijuevog ', elegant konjizierte Ahrens 6 tiqIv für
vßQiv. Ich bringe noch zAvei Sophoklesstellen. Im Oedipus Coloneus 367
sagt Ismene zum Vater in betreff ihrer Brüder:
jiQiv fih> yoLQ avtdig ^v sgig Kgeovii re
d'QOVOvg iäo&ai /urjöe XQ^^'^^^^*^'' ^oXiv,
WO, wie alle zugestehen, eoig sinnlos ; es ist Avohl aus v. 372 eingedrungen ;
rJQeoev konjizierte Bergk für rjv egig, andere anderes. Ich ziehe fjv ^efxig
zu schreiben vor. Im Oedipus Rex fragt der König v. 1031 den greisen
Boten, der ihm erzählt, wie er ihn einst als ausgesetzten Knaben ge-
rettet hatte:
xi <5' äXyog toxorz' tv xaiQoTq (u la/xßdveig;
WO xaigoig schon metrisch falsch ist, die Variante xaxolg dem Sinn durch-
aus nicht genügt und m. E. zu lesen ist:
71 S' äkyog loyovt' dyxdXaig fis A.afißdveig ;
Ich setze an, daß nach verbreiteter Schreibweise in der Vorlage ävxdkaig stand.
9. Der Einfluß der Aussprache. 3)
Diktat Ebenso oft wie auf das Auge, sind die Versehen auch auf das Ohr
zurückzuführen. Man schrieb nach Diktat,-*) und wir haben den Aus-
spruch des Dositheus bei Keil, Grammat. lat. VII 376, 8 voranzustellen:
emendatio est corredio erronim qui per scripturam dicüonemve fiunt. Also
auch jjer dictionem. H. Hagen gab in seinem „Gradus ad criticen", Leipz.
1879, als Anleitung zur Kunst des Emendierens nichts weiter als Ver-
zeichnisse von Vers ehr eibungen aus Berner Handschriften, so z. B. : i mit a
verw'^echselt : apostita f. apostata usw. usw., womit nichts anzufangen ist.
Aussprache Er gab auf den Unterschied, den Avir hier machen, gar nicht acht, lareatus
f. laureatus soll Verschreibung sein; es wirkte hier aber die veränderte
Aussprache, denn man sprach asculto f. ausculto, Ägustus f. Augustus,
arum f. aurum u. ä. in vielen Fällen. Ebenso steht es mit acerbus f. acer-
uus ; denn daß man ferhuit f. f ervuit, Avella f. Abella sprach, ist eine alte
Sache; ähnlich auch mit dehellum f. duellum; man sprach devellum, wie
helleuato f. helluato Vergil Catal. 13, 11 u. s. f. Weil cautus nicht so, wie
wir es gewohnt sind, sondern cavtus ausgesprochen wurde, deshalb drang
im Volks-
latein
^) E. Hiller, Eratosthen. carm. rell. i aber manches Unsichere
p. 16.
2) Vgl. Neue Jahrbb.XIXS.707Anm.2.
3) Vgl. Havet, Manuel S. 252 ff., wo
■*) Darüber weiterhin im Abriß des
antiken Buchwesens.
n
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 135
eaptiis f. cautus ein, z. B. Seneca Thyest. 486; corr. Madvig. Der griechische
Buchstabe Mßda (byzantinisch Idfißöa) heißt im karolingischen Latein lauta,
d. i. lavta. ^) h klang vulgär stark guttural (oben S. 50) ; daher las Nonius cyrnea
f. hirnea im Plautus; Fronto selbst schrieb ohne Zweifel catahannae f . cata-
channae \). 155, imd so steht noch calchehi.<! für haliaeetus in der Ciris 204.
Musterhaft sind für diese Dinge großenteils die Ausführungen von Ihm ; 2)
grundlegend immer noch das Werk von H. Schuchardt: Der VocaHsmus
desYulgärlateins, Leipz. 1866—68.3) Helm, Apuleius Florida, 1910, S. XLIIIff.
irrt, wenn er den Labdacismus in celebrum f. cerebrum, und umgekehrtes
ingruviem f. ingluviem einfach mit solchen Yerschreibungen wie lacfa f.
laeta, alium f. altum gleichsetzt. Denn auch hier wirkte die Aussprache.
Wieder anders steht es mit confartae f. confertae; dies ist Rekomposition
(oben S. 45) und nicht Verschreibung.
Es gilt also, um diese Dinge richtig zu beurteilen, die Geschichte der
Rechtschreibung des Spätlateins und die Schwankungen in der Aussprache
der klassischen Sprachen zu kennen. Hier nur Aviederum ein paar Bei-
spiele, ae und e fielen zusammen, und der Dativ placidae war daher
vom Adverb placide nicht mehr zu unterscheiden. Daher aber auch Liv.
21, 63, 7 conscieni'ms praetorum mißverständlich für conscienfia spretorum;
bei Afranius v. 187 erkannte Bücheier exs aeno, wo die Handschriften ex
seno. Falsche Aspiration war ferner jahrhundertelang in aller Munde,
\ind man las conhibere f. conivere, hörnen f. omen; honus „die Bürde" fiel
mit honos „die Würde" zusammen, hahitus mit avitus, aveo mit habeo, und
für Cumis liest man dann weiter gar irrig cum Jus etc. etc.*) aut für haud
ist aber schon für die antike Zeit sicher belegbar und also unter Um-
ständen beizubehalten. So ist, um auf anderes zu kommen, auch der
Dativ qui f. cui zum mindesten schon für den Anfang des 4. Jahrhunderts
garantiert, also in den Digesten, wo er hundertfach steht, im Text zu
belassen; Tribonians Schreibbureau selbst hat so geschrieben; auch der
Dichter Optanianus Porfj^rius schrieb so quivis statt cuivis in seinem
Paneg3'ricus auf Constantin eigenhändig.-'')
Es ist ferner Volkslatein, wenn wir vocare i. vacare, vocivus L vacivus,^)
wenn Avir parabsis f. paropsis (Servierschüssel), Maesoleum f. Mausoleum,
offerre f. auferre and ohlatio f. ablatio als Übersetzung von äfpaige^aa
lesen.**) Von Verschreibung kann in allen solchen Fällen nicht geredet
werden, und es gilt nur festzustellen, ob auch der betreffende Autor
selbst schon so lautierte. Für Xerxes schrieben die Römer gern Xerses,
und wir müssen uns gewöhnen, das in den Text zu nehmen, so bei
Properz II 1, 22 und so überall.^) gufa Avurde schon früh Avie güla ge-
^) Siehe Crönert, Memoria graeca Aspiration 8. 145 ff.; 156 ff. ; 250 ff.
Hercul. S. 73 Anm., Nestle in Berl. phil. | ^) Siehe Catalepton S.50f.; aber schon
W.schr. 1912 S. 832. | auf einer Inschrift des 1. Jahrh. findet
2) Sueton Bd. I S. XXX ff. | sich der Dativ qui, Bücheler, Carm.
') Auch in meinen Arbeiten „Sprach s cpigr. 1060, 5.
man avrum", Rhein. Mus. 52, Ergänzungs- ^) Bücheler, Fleckeis. Jahrbb. 1863
heft, und „Der Hiat bei Plautus und die '• S. 78.
lat. Aspiration", Marburg 1901, sind viele | ') Sprach man avnim S. 66; 67; 168;
derartige Erscheinungen besprochen. ' 139; 158, 3.
■*) Der Hiat bei Plautus und die lat. ' ^) Siehe meine praefatio zu Properz'
136
Kritik und Hermeneutik.
Archai-
sches
sprochen, und die häufige Schreibung gyla bringt dies treffend zum Aus-
druck; das ist antik (oben S. 23) ; ebenso ist lympha^ Thyle, Sylla, libyrnis,
wo es überliefert steht, zu belassen.
Die augusteische Zeit begünstigte noch ein servos oder parvos im
Nominativ statt servus, parvus; es darf also bei Horaz z. B. Epod. 6, 2
ignavos gegen die Handschriften hergestellt werden; vgl. ebenda fulvos v. 5.
Noch unbedingter aber ist bei Catull aequom 62, 61 und Calvos 53, 3 aus
den Handschriften anzunehmen.
Was die Kontraktion von Vokalen betrifft, so ist ein derunt f.
deerunt, derat f. deerat, wo immer es steht, beizubehalten; denn man sprach
in der guten Zeit nur so (ebenso praesse = praeesse). Auch ein proelis
f. proeliis ist nichts Seltenes ; das Monumentum Ancjranum zeigt, daß man
auch in den sorgfältigsten Originaltextniederschriften wirklich so schrieb,
w^ennschon die Dichter nur ganz ausnahmsweise eine solche Messimg zu-
ließen. Daher darf nun aber beispielshalber auch, Avie ich meine, bei
Plautus Mil. 92 is dendicido est quaqiia incedit omnibus, wo der Nominativ
is Anstoß gibt, ohne Bedenken ein iis im Dativ verstanden werden. Frei-
lich hat die Orthographie einen Dativ is sonst nur selten zugelassen, und
H. Peter, stellte diese Schreibung in den Scriptores liistoriae Augustae mit
Unrecht durchgängig gegen die Handschriften, die da Ins bieten, her. Viel-
mehr wurden schon seit dem Beginn der Kaiserzeit gewisse Formen der
Pronomina kic und is, besonders der Abi. Dativ his und eis unter sich ver-
Avechselt, und man ediert also mit Recht z. B. bei Plinius nat. bist. I 9, 68 f. :
de his qnae tertiam natiiram habent, de his quae silicea testa cludimtur u. ä.,
Avo AAir eigentlich de eis quae fordern. >) Daher also auch Tacit. ann. 11,11:
is dedit ludos saecidares hisque intentius adfiii[t], avo Jiisque statt iisque.
Dies his ist auch in den Scriptores hist. Augustae Avieder herzustellen.
In bezug auf gyla „die Kehle" aber sei noch eine Aveitere Bemerkung-
eingeschaltet. Ich habe anderen Orts ^) nachgOAviesen, daß zu allen Zeiten,
vom osldschen diumpais (= lymphis) bis zum mittelalterische?! aventiure
die Neigung bestand, den ü-Laut grapliisch als ui oder iu AAdederzugeben,
und daß man vor allem auch oft guila für gyla schrieb. Ich habe aber
nicht gOAVußt, daß dies ui auch als Diphthong zweigipfelig, ja, sogar
zAveisilbig gesprochen Avorden ist. Dies letztere aber beAveist das Gedicht
des Luxorius auf einen trunksüchtigen Priester, Anthol. lat. 303, 1 :
Quo festinus abis guila inpellente, sacerdos?
Wer gegen die Handschriften gula di'uckt, bringt eine Kürze in Senkung.
Endlich sind aber auch archaische Schreibungen, avo sie auftauchen,
geA\dß möglichst zu konservieren, Avie gnatus f. natus bei Properz und im
Catalepton^) oder ein dedici statt didici (Plant. Poen. 554); denn die Ee-
duplikationssilbe hatte ursprünglich e wie in memini. prosa (oratio) ge-
hört zu prorsiis, provorsus; avo also prorsa noch Avirklich überliefert steht,
Codex Neapolitanus p. XXII und A^or
allem P. Kretschmer in Zeitschr. f. vergl.
Sprachforschung N. F. XVII S. 142 f.
1) Siehe H. Ziegel, De is et hie pro-
nominibus quatenus confusa sint, Marburg
1897, und H. Stengel, De lulii A^alerii
usu pronominum, Marburg 1909, S. 31 f.
2) „Sprach man aA^rum", Anhang
S. 175 ff.
3) Catalepton 9, 44; Properz 2, 7, 17.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 137
niiil5 man es in den Text setzen, i) So schont man auch das flictu statt
(ulflidu beiYergil Aen. 9, 667, das woeri Aen. 10, 144 und sollte auch das
//(9ro5 schonen, Aen. 12, 605; nicht aber das loedere i. ludere bei Catull
17, 1, weil es seinem Sprachtypus nicht entspricht.
Viel besser als für die lateinischen, sind wir für die griechischen veränderte
Textniederschriften des Altertums über den Einfluß der Aussprache auf aTs^Grie-^
lie Schrift unterrichtet. Und zwar durch die Papyri. Das hebt mit dem einsehen
). Jahrh. v. Chr. an. Man kann sich darüber bei Fr. Blaß, Über die Aus-
sprache des Griechischen (3. Aufl. 1888), vorzüglich bei W. Crönert, Memoria
L!,raeca Herculanensis, Leipz. 1903, oder im Notfall schon in irgendeiner
Ausgabe, die einen Papyrustext Aviedergibt, bequem Auskunft holen.
Sehr alt ist noeiv für Tioielv (Schwund des i, wenn im Wort kein o-Yokal
folgte), etwa gleich alt aucli die Auslassung des iota mutum (im Dativ Sgl.) ;
alt das Zusammenfallen von et und l. Daher herrscht also in den Hand-
schriften ''Axadrjjiua statt 'Axadrjjueia, cpdovixog wird durch die Analogie von
(fiAO)'Fiy.}]g zu (fdöreixog,^^) man druckt xaduQeiog für das xadagiog der Hand-
schriften, ävöosia, aber ävavÖQia,^) etc. So dringt dann aber auch umgekehrt
^'OoFwig i/'OoiQig, keuioorgdriov f. hjiooxQaxiov ein.-*) yivojuai f. yiyvo^iai schrieb
vielleicht schon Theophrast; daß aber CalHmachus dafür schon yelrofim ein-
treten ließ (fragm. adesp. 290), ist nicht glaublich. Falsch ist auch, wenn
man den Centaur XeIqcov und den Epikureer, Yergils Lehrer, Zeiocov
schreibt; die Orthographie Xigojv, 2iqcov ist garantiert. Der Itacismus
wirkte aber weiter, auch yj wurde zu l, und für den Dichter 0diTäg von
Kos drang die Schreibung ^drjTäg vor, so daß sie bis heute irrtümlich
heiTSchte.^) Sehr früh wurden auch Christus und die Christen Kgrioxog
Xoi]OTiavoi genannt; auch die Römer schrieben Chrestus {impulsore Chresto
Sueton), ja, diese weitverbreitete Schreibung scheint gradezu die ursprüng-
lichere gewesen zu sein.^) Im Lexikon des Photios steht ferner äeideg f.
fh]deg falsch eingereiht;^) in Hesychs Lexikon ßorgoidia f. ßorgvdia und
umgekehrt evdvdCei f. evdoidCsi, auch dies das Ergebnis derselben itacistischen
Aussprache. 8) Früh traten auch Kontraktionen ein, wie rajueiov, xajLuov
aus raiuelov, 'Yyia f. 'Yyieia — entsprechend Nemaeus f. Nemeaeus, Piraeus
f. Piraeeus bei den Römern — , und wenn bei Demosthenes p. 59, 15
hioixelv steht, so ist es kein Wagnis, dioixisiv dafür aus Nebenhandschriften
aufzunehmen. Etwas später fiel dann aber auch ai mit e zusammen, was
zunächst bei folgendem Yokal {IJeigaimcog f. Ileigaikog im Aristotelespapyrus)
begann; aber im zweiten Timotheosbrief des Paulus steht doch auch schon
f/ F^ovrjg f. qmivoXrjg (cf. Corp. gloss. lat.). Später wird derartiges allgemein,
^) WÖLFFLIN, Archiv f. Lex. XI S, 8. ! der Christen selbst durch Cliristiani ver-
2) Vgl. M. Schanz, Plato VI p. VII. j drängt worden sei. Die betreffenden
^) Schanz VII p. VIII. \ Stellen in der Apostelgeschichte müssen
^) Vgl. F. Blass, Grammatik des neu- | alsdann Anstoß geben.
testamentl. Griechisch^ S. 9. | ^) ed. Reitzenstein S. 36.
^) Siehe Crönert, Hermes 37 S. 220 f. | »^ Und dies drang auch ins Lateinische;
^) Nach AnsichtGERCKES, Neue Jahrbb. | daher wird Mysia und Moesio verwechselt;
22 8. 200 ff., war XgrjoTfk ursprünglich ; daher steht Phroenichus bei Priscian (Gr.
Spottname, mit dem die Nichtchristen : lat. III 173, 4 K.) ; sogar cytus für coetus
(Christus bezeichneten; danach auch Chrc- | lesen wir, s. Bährens, Poet. lat. min. III
fftkini, das erst später unter dem EinfluJ3 i p. 173 v. 22.
138 Kritik und Hermeneutik.
also xevög und xaivög, iregovg und exaiQovg ständig verwechselt. Daher auch
das ne car f. vai ydg bei Plautus Bacch. 1162. Theokrit 23, 16 ist evi xal über-
liefert und f]vei)ie zu lesen. Ebenso elegant wie überzeugend emendierte ferner
Dobree im Komikerfragment bei Athenaeus p. 431 C den Schluß der Zeile
mvsi x6 XoLJiöv, rovg Xoyiofwvg ös^aijui
folgendermaßen: robg Xoyiojuovg d' e^ejueL Wer trinkt, spuckt den Verstand
aus, ein Erbrechen des Verstandes. Aeschyl. Choeph. 449 steht absurdes
XaiQovoa yoov, was derselbe Dobree in x^ovoa yoov verbesserte, und wirk-
Hch scheint im Mediceus erst x^Qovoa (sie) dagestanden zu haben. Auf
solchem AVege entstehen die sinnwidrigsten Verschreibungen ! fih'ei statt
. /laivei bei Menander fr. 69 K. (corr. Heringa) u. s. f.
Eine Wirkung der Aussprache ist auch die
10. Elision vokalischer Endungen in der Schrift.
Elision im So sclion auf der saturnischen Inschrift, carm. epigr. 4, 1 asper afleicfa]
Latein £^ aspere afflicta. Daß diese ex^hxpig auf Aussprache beruht und man
den verschliffenen Vokal nicht hörte, zeigt Fronto, der p. 57, 4 N. octavidus
aus octavo idus macht, und bestätigt Servius zu Aen. I 3 miiltum ille]
multiUe conlisio est. Vgl.^Wmaete Corp.gloss.IV459; tanto cius i^idi.TV 1%1,
Weitere Beispiele:
Plautus Pseud. 242 placidis] Hes placide is (corr. Camerarius).')
Afranius v. 300: simid et] lies simida et (corr. Gulielmius).
ib. V. 357 : det et] lies de te et, corr. Scaliger.
Statius Silv. IV8, 26: sed iuveni] se et iuveni (corr. Lundström, Quaest. Papinianae,
Upsala 1893).
Vergil Catalept. 11« 3: sinistre tante] siiiistra et ante, corr. Hand.
Catull 116, 1: veiiante] veni ante, correxi.
Catull 80, 8: ületemulso] üia et ernidso.
Ovid am. 1, 10, 9: errant ut] errantem iit, correxi.')
Plautus Most. 629 in P: credit audio] credit um audio.
Aber die Verderbnis griff dann gelegentUch weiter, und es wui^de die ver-
schliffene Endung in den Handschriften durch Konjektur falsch ergänzt.
Dies ist m. E. bei Properz 2,10,11 Siirge anima ex humili mm carmine ge-
schehen; denn der Dichter kann seinen Geist nicht als anima anreden;
er muß anime geschrieben haben. 3) Ebenso steht es Ciris 397: Uli etiam]
lies illam etiam; corr. Heinsius.
Wird dagegen bei Plautus frustres f. frustra es u. ä. m. überliefert, so
liegt keine Elision vor, sondern der scheinbare Diphthong ae in frustraes
WTirde nach dem Herkommen zu e vereinfacht ; 4) so auch preco i.pro equOy
proequo bei Plautus Bacch. 72 ; denn auch der Diphthong oe wurde regel-
recht zu e. Plautinisches fädlest {= facilis est) aber ist gewiß nicht aus
facilis est, sondern aus facil est hervorgegangen, und auch hier kann also
von EUsion nicht geredet Averden ; die Handschriften aber setzen in diesen
Fällen verständnislos facile est ein, so wie sie prodest zu prode est
machen u. ä.^) und schon der Dichter Luxorius 32, 36 (Riese) so prode est
1) Nicht richtig Havet, Manuel S. 220. I *) Siehe O. Brinkmann, De copulae
2) Siehe De halieuticis S. 193. Mehr | est aphaeresi, Marburg 1906, S. 11.
Beispiele Catalepton S. 27 f. u. 183. I s) Siehe Brinkmann a. a. 0. ; med esse
*) Siehe praefatio zum Codex Neapoli- ! wird zu me deesse Plaut. Amph. 435; prode
tanus p. XL VII. | amhulare Ter. Ad. 766.
a
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 139
schrieb. Schön um das Jahr 400 n. Chr. herrschte jenes facile est in den
Plautusmanuskripten, und daher schrieb damals auch Martianus Capeila
j). 129, 25 omnis igifiir voluptas utile est und p. 129, 52 nochmals denselben
Satz; p. 125, 30 omnis homo risihile est; das ist natürlich bei ihm un-
beanstandet zu lassen. Er zeigt uns, daß hier nicht Zufall, sondern be-
wußter Mißbrauch waltet.
Im Griechischen hatte das Unterdrücken elidierter Endvokale in der '"^. ^7^*^"
. . cniscnen
Schrift eine viel größere Ausdehnung, und es trat die Apostrophierung
ein; was bei den Griechen die Regel, war bei den Römern die Ausnahme.
Auch im Griechischen aber konnte dies zu Irrungen Anlaß geben. Aeschyl.
Choeph. 489 steht äveg juoi jiolteq statt äveg juoi Jiaxeo' und in einem Frag- .
ment des Ephippos, Athen, p. 642 E, unmögliches Tgayriuata §rjy.e, avo
TQay}]iua&' i]xe zu lesen ist; corr. Porson.
11. Falsche Auflösung von Compendien.»)
Eine pfewisse o:eschlossene Zahl von Abkürzuneen ist alt, so ÄNOC, Com-
- ^ ^ ^ ^ . ^ ' ' pendien
äNOY für ävdgcojiog, äv&QMjrov. Auch sie aber konnten zu Irrtümern
Anlaß geben, so z. B. ANÖC zu AAAOC verlesen werden. Daher das
falsche äXlco yevei bei Plato Hipp, maior p. 289 A: lies ävO^Qcbjimv yevei
(corr. Bekker); ähnhch Ps.Lucian De astrol. c. 10, vom Orpheus, den die
Tiere umgaben: afjKpl de jaiv i^cpa juvgla eoTrjxev ev olg xal äv&Qcojzog] lies
äjToog statt äv&ga)jzog.^) Im Lateinischen kann FR praetor, es kann populi
Romani bedeuten. In den Digesten steht I 2, 1 jenes prius überliefert,
wofür nach Mommsens genialem Vorschlag populi Romani ius zu lesen.
Die falsche Benennung M. Accius Plautus ist aus Maccius Plautus, der
Laelius bei Cicero Gr. 230, dem CoeHus Antipater seine Historien gewidmet
haben soll, aus L. Aelius entstanden. 3) So muß sich auch erklären, daß
bei Horaz Od. 1, 7, 22
tarnen uda Lyaeo
Tempora populea fertur vinxisse Corona
in die dritte Handschriftenldasse ter für tarnen eindrang". Bei Yerpil,
Catalept. 9, 1 steht ignita für incognita; dies ist aus icgnita zu erklären.
Denn nichts ist zudem häufiger als Nichtschreibung des Nasals, der durch
den Strich über voraufgehendem Yokal ersetzt mrd ; daher Quintilian 8, 6, 35
Aegialeo paret at pater] Hes parentat pater; umgekehrt Li v. 44, 45, 9 semper
secuti] lies se persecuti (corr. Madvig). Afranius v. 200 incendit] lies incedit
(corr. Lipsius).
Speziell war es die Methode der Tachygraphen (notani), die Wörter
durch eine nota, d. h. besonders durch ihren Anfangsbuchstaben aus-
zudrücken.*) Dieselbe Methode herrscht in einer Reihe von typischen
1) Siehe F. J. Bast, Oommentatio pa-
laeographica, 1811; O.Lehmann, Die tachy-
^raphischen Abkürzungen der griech.Hss.,
Leipz. 1880; Schepps, ed. Priscillian im
( /orp. ecclesiast, lat.Vindobon. XVIII praef.
S. 13 f. ; L. Traube, Das Alter des Eomanus
des Vergil, in Strena Helbigiana 1900,
8. 311, und Noraina sacra, München 1907;
M. Prou, Manuel de paleogr., 3. Aufl.,
S. 113 ff.; Havet a. a. 0. S. 177 ff.
*) LaienurteU über büdende Kunst
S. 34.
») Siehe F. Marx, Studia Lucil. 1882
S. 96; dagegen Sieglin, Beii. phil.W.schr.
1883 S. 1450.
■*) Vgl. Isidor Orig. I 21; Sueton ed.
Reiff. S. 135 ; über die notae iuris Gram-
matici lat. ed. Keil IV S. 271.
140
Kritik und Hermeneutik.
Fällen auch auf den Inschriften, die mit dem Raum zu sparen suchten;
und Cicero zeigt uns De or. II 240 u. 280 in ein paar lustigen Beispielen,
wie sich die Römer schon in der Zeit der Republik in Wandanschriften
oder in ihren Geschäftsbüchern (tabulae) desselben Verfahrens bedienten,
das dann zu allerlei falschen Lesungen Anlaß gab. So hatte Rutilius die
Buchstaben Ä. F. P. H. in dem Sinne ante factum, post reJatum verwendet ;
sein Ankläger Aemilius Scaurus aber interpretiert es als actum fide Publi
Rutüi; dann machte gar ein Witzbold daraus: Aemilius fecit, plectitur
Rutilius. Sehr alt ist vor allem S.D. = salutem dicit, S.V.B.E. V. = si vales
benest, ego valeo.
12. Haplographie und Dittographie.
^"^^ Aus"" Zunächst Ausfälle, die durch Ähnhchkeit benachbarter Wörter, Silben
lassung oder Buchstaben veranlaßt wurden. Das Primitivste ist hier Schreibung
*^^Bii'^h*^^ einfacher Konsonanz für Doppelkonsonanz, l statt U u. ä.; im Catulltext
Stäben und im Text der Rhetorik ad Herennium ist dies gradezu Regel, d. h.
absichtliche Schreibmanier. Sporadisch begegnet dasselbe natürlich überall:
Martial 9, 41 pelice (von paelex) f. pellice (von pellicere) ; Tacit. ann. 3, 18
Victoria sacrari f. victorias sacrari. Plautus geminierte noch gar nicht;
daher drangen in seinen Text nun auch falsche Geminationen ein, Cure. 470 :
Qui periurum convenire volt hominem, *mitto in cömitium;
es ist ito für mitto herzustellen; corr. Gruter.
So nun auch Ausfall ähnlicher Silben: Pausanias 1, 35, 8 ov öevöqov
f. ovdh devögov, und umgekehrt Doppelung derselben Silben, Theokrit
21, 58 moTsvoaoa] lies morevoa (Reiske). Bei Turpilius v. 192 steht de me
meres; lies demeres. Bei Plinius n. bist. 32, 148 steht der Fischname lepris;
es ist lelepris herzustellen nach Hesych. Schließlich fällt so auch ein
ganzes Wort aus; Plaut. Cas. 600 gibt der Palimpsest:
tuam arcessituram esse üxorem uxorem meam;
in den Pf älzer Handschriften fehlt das eine uxorem.'^) Die Dittographie nähert
sich der Interpolation, wenn wir in der Aristotelesvita p. 401 Westerm. lesen:
.T£o< ßaodei'ag syga^'ev sv hi fiOvoßißXco,
wo EVi ZU tilgen ist. Im Tibull-Lygdamus quält uns der Vers III 6, 3
Aufer et ipse meum pariter medicando dolorem, wo besonders das medicando
unmöglich; die erste Silbe von dolorem ist hier eben doppelt geschrieben.
Ein uralter Lesefehler der Art betrifft Xenophon De rep. Lacedaem.
3, 5 aidf]juoveoT8oovg d' äv amovg fjyi]oaTO nal avröjv rcbv ev Tolg öcp&aljuolg
TiaQ&evmv: „du würdest sie für schamhafter halten als die Jungfrauen in
den Augen." jzaQ&evoi soll hier für xogm eingetreten sein, und xögai sind
das Augenweiß. Mit gerechter Entrüstung fällt der geschmackvolle Ver-
fasser der Lehrschrift Tlegl viffovg c. 4, 4 über diesen Tropus her, den
gleichwohl im 2. Jahrh. n. Chr. der Arzt Aretaeus De caus. morb. 1, 7
wiederholt hat. Xenophon selbst hatte dagegen, wie seine Handschriften
zeigen, rcbv iv loTg §aXdjuoig jiaQ^evmv geschrieben. Hier ist der Sinn
vortrefflich, und niemand wird für {^aMjuoig etwa wirklich d(pd^aXjuoig ein-
setzen wollen. TOIC SAAAMOIC war also dittographisch zu TOIC 0^6 AA
») Aehnliche Fälle bei 0. Jahn, Persius S. CLXXXIX.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 141
MOIC entstellt; die eingedrungenen Buchstaben 0<P repetierten das vorauf -
gehende OIC.
Noch immer unverbessert erscheint im Oedipus Rex des Sophokles,
wo es V. 1505 heißt: /jly} ocpe Tiagiöi]? nrcDxäg dvdvÖQovg, das jtaQidrjg mit
gelängter erster Silbe. Der geblendete Oedipus redet hier und empfiehlt
dem Ki'eon seine schutzlosen beiden Töchter. Hier schrieb nach meiner
Überzeugung Sophokles jzaQaXiTirjg, und die Buchstaben AÄ sind hinter
AP in der Grundhandschrift fortgefallen, worauf die Notkorrektur jiagldfjg
sich einstellte. Dies also kein Beispiel für Doppelsetzung, sondern für
Weglassung ähnlicher Buchstaben.
13. Verstellung von Buchstaben im Wort.
Leicht ist die Vertauschunp- von fidmina und flmnmcL certus und ß"<^^^"
Ti'i 11 1- -1 • OTT 11' Stäben um-
rretus, dergleichen zu belegen hier nicht nötig, bo steht denn auch bei gestellt
Seneca Herc.Oet. 1319 iam fracta, iam satiata, wo zu lesen ist: iam farcta,
iam satiata (nach Cic. Tusc. 2,24 farta et satiata; correxi). Ahnhcli Caecilius
225 R. siibfraginafam] lies suhfarcinatam ; corr. Mercier. Bei Properz heißt
es 4, 3, 51 im cod. N:
Nam milii quo Poenis te purpura fulgeat ostris
Cr^'stallusque meas ornet aquosa manus?
Für das sinnlose te empfehle ich den Editoren einfach et zu schreiben,
so daß et und que sich entsprechen, und alles ist gut. Ganz ebenso steht
(Vi für icl geschrieben bei Plautus Most. 305 (in CD).
14. Auslassung oder Zufügung eines Buchstabens.
Hier sind Fälle gemeint wie exemplo für extemplo u. ä. Bei dem Sonstige
Ivomiker Plato im Laios I 618 Kock steht o jueUayQog, wo Meineke 6 jukv ctun^en
Aeaygog korrigierte; Aeschyl. Choeph. 797 rig äv statt xrioov. Ähnlich bei um nur
</ic. ad fam. 3, 11, 4 perite statt per te; Tac. Ann. 6, 30 visitare statt vi ^'^»"tabe^n ^
stare; No\äus 61 R. perorem statt spero rem; Afranius 221 ambit: Hes
amahit; Jul. Valerius p. 11, 19 K. Uberasse für librasse u. ä. m. Bei Tlieo-
krit 18, 18 steht fj^ui&eoig ; Bücheier sah, daß der Sinn liier fji§eoig erfordert.
Bei Quintilian schwankt 8, 6, 10 die Überlieferung zwischen ferro non
fato und ferro an fato (sc. murus occidit); Bücheier erkannte, daß die
Frageform beizubehalten, aber ferron an fato zu lesen ist.
Bei Horaz liest man, Carm. I 16, 5 ff . :
5 Non Dindymene, non aclytis quatit
Mentem sacerdotum incola Pj-thius,
Non Liber aeque, non acuta
Sic geminant Corybantes aera, •
Tristes ut irae.
Hier ist das sie im v. 8 falsch ; es muß sl heißen. Bentley stellte si her,
und diese Verbesserung hat in den Handschriften nachträglich dürftige
Bestätigung gefunden.
CatuUs Carmen 111 lautet:
Aufilena, viro contentam vivere solo
nuptamm laus est laudibus eximiis;
Sed cuivis quamvis potius succumbere par est
quam matrem fratres ex patnio parere,
chimgen
142 Kritik und Hermeneutik.
WO die zweite Zeile offenbar korrupt, aber nur ein n ausgefallen ist.
E. Bährens hat hier das Richtige gefunden; wir müssen lesen:
nuptarum laus est laudibus ex nimiis.
Durchaus desperat klingt in den Mäcenaselegien die Zeile 2, 33, die den
Kaiser Augustus anredet:
Cum deus in terris divis insignis avitis.
Der Dichter Avill sagen: „wenn du in den Himmel und zu deinen gött-
lichen Ahnen erhöht bist." Sehr schön schrieb Vollmer:
Cum deus intereris divis insignis avitis.
15. Angleichung.
Anglei- Lciclit geschieht es, daß ein Schreiber, weil der Klang ihm noch im
Gedächtnis liegt, ein Wort, das er eben geschrieben hat, noch einmal
wieder bringt, oder auch nur, daß die Kasusendung des vorigen Wortes
von ihm unwillkürlich auf das folgende Wort übertragen wird. So las
schon Yarro im Plautus Miles 24 fälschlich insane hene für insanmn hene.
So steht bei Athenaeus p. 6 B r]öoval jioXXal jueiCovgy wo klärlich tzoIXcü
juei^ovg zu fordern ist (corr. Musuros); bei Tacitus Ann. 1,44 adver sos eos
für adversus eos und 3, 43 nohilissimarum Galliarum für nohilissimam Gal-
liarum. Bei Thukydides 1, 74 fin. im Vaticanus Jigooe^cjü^rjoe für jigoe^d)-
QrjOBy weil kurz vorher jiQooexciiQyjoav voraufging ; bei Aeschylus Choeph. 403
Tzaga tcov JigoTegcov cpi'^ijuevajv statt nQoxeQov q)di/ievMv. Bei Xenophon Mem.
1, 2, 48 XaiQEXQdxi]!; xal '^EQfAoxQa.TYjQ^ wo Xenophon ''Egjuo'yEvrjg geschrieben
hatte. Zu diesem Versehen steht im Gegensatz das andere bei Eubulos
II 206 Kock V. 2 : ^PdoxQanjg xal <^iXoxTr]Trjg, da hier umgekehrt der Dichter,
wie der Zusammenhang zeigt, zweimal denselben Namen nennen wollte
imd sonach 0doxQäTr]g xal ^doxQarrjg herzustellen ist (corr. Turnebus).
Bei Valerius Maximus steht VI 9, 14: iam C. Marius maximae fortunae
luctatione; man lese mit Stangi: imn C. Marius maximus fortunae luctaüoneA)
In Dichtertexten passierte es leicht, daß der Schreiber abirrte und
das Anfangs wort der nächstfolgenden Zeile vorwegnahm und falsch ein-
setzte. So steht es bei Properz 4, 10, 27
Et Veios veteres et vos tum regna fuistis
Et vestro posita est aurea sella foro,
Avo das erste Et sinnlos; es drang aus der folgenden Zeile ein. Ahnlich
Properz 2, 4, 2 f . :
Aerius ut moriar venerit alter amor.
Ac veluti primo taurus detractat aratrum,
w^o wieder das ac sinnlos und aus der voraufgehenden Zeile eingeschleppt
ist. In solchen Fällen bleibt die Emendation natürlich ganz unsicher.
Eine ähnliche Abirrung ist es, w^enn es bei dem Komiker Athenion fr. 1
(III S. 369 ed. Kock) v. 15 u. 16 heißt:
sfiJieiQiav XIV eXaßov dgxv^ ysvonsvrjg
im Tileiov [tiv] rjv^ov rrjv j-iaysiQixijv re/vrjv,
Avo das ZAveite riv' aus dem vorigen Vers repetiert ist (corr. Meineke).
1) Siehe Berl. phü. W.schr. Bd. 32 S. 1493.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 143
Aber auch ganze AVoi-tgruppen werden gelegentlich vom Schreiber
iiTig aus der benachbarten Zeile herübergenommen und verdrängen so
den echten Text, ^vie im Culex 26 f.:
Sancte pucr, tibi namque canit non pagina bellum
Triste lovis ponitque canit non pagina bellum.
Eine Korrektur ist in solchem Falle erst recht unmöglich. Ähnlich steht
es auch Plaut. Trin. 564 im cod. Vetus. Properz wiederholt sich einmal
in seltsamer Weise: 4, 10, 42 u. 66. Dieser Fall bedarf noch der Erörterung;
\'ieUeicht hat Properz wirklich selbst so geschrieben. Bei Plinius hist.
nat. 14, 58 steht, was der Arzt Androkydes Alexander dem Großen riet:
rinum poturus, rex^ memento hihere te sangumem terrae, cicuta hominis
enenum est, cicutae vinum. So irrtümlich die beste Handschrift. Das
erste cicuta ist hier unter dem Einfluß des nachfolgenden cicutae ent-
standen. Die übrigen Handschriften, die statt dessen sicut oder sicuti
bieten, haben das Richtige erhalten; der Arzt sagte: sicuti hominis venenum
est finita, et vinumA)
Anders liegt, die Sache wieder, wenn die Ähnlichkeit der Endung in
zwei benachbai-ten Worten an einer Stelle Ausfall bewirkt, wie bei Jul.
Valerius p. 153, 10 K. : tantumque quis nostrum honore dives est, quantum
(■icatricibus insignitior\ hier ist quisque statt quis zu lesen notwendig; corr.
H, Stengel. 2) Dies Beispiel aber ist so beschaffen, daß es uns zur Be-
sprechung der x\usfälle und Textlücken weiterführt. Zuvor aber ein Wort
über die
16. Cruces.
Desparate Lesungen, die man im Text mit dem Kreuzzeichen "j* kennt- Cruces
lieh macht und als cruces interpretum bezeichnet, finden sich besonders in
solchen Texten, deren Abschriften von gänzlich unAvissenden und meist
auch späten Schreibern hergestellt sind. Eine sichere Emendation scheint
l)ei ihnen ausgeschlossen. Ich erinnere an das /urj (pavlog bei Theokrit
12, 87, an das Fischergedicht 'ÄlieX';, Theokrit 'Nr. 21, um dessen Text es
besonders schhmm steht ; an das mysteriöse teuen bei Catull 64, 344, wo-
für man campi liest; an das hi dii uen, ib. 66,59; an das trostlose hunc
Gallie timet et Britannie bei Catull 29, 20, das einen jambischen Senar
mit reinen Senkungen bedeuten soll. AVas ist das nQooojioioia in chartam
als Überschrift zum 35. Epigramm des Ausonius? Es handelt sich in dem
Epigramm um eine Personifikation des Buchs, und vielleicht darf man
also jigogwTiojioua in chartam lesen. An solchen Kreuzen sind besonders
die Glossare reich. Was ist fleminum uestem in qua sanguis amhulando
in pedes fluit (Placidus, Corp. gloss.Y 21, 37)? Was ist dr]Toi vvxoqol und
das übrige Corp. gloss. H 22,40? was ist frustra dictionum ib. Y 278, 69?
Was ist für den wahnschaffenen 'Emxöyxvkog im Tzetzesscholion, das von
der Homerredaktion des Pisistratos erzählt, einzusetzen ?3) u.a.m. Weiteres
der Art anzufüliren ist unergiebig, und ich gehe weiter.
1) Nicht glücklich behandelt CoRSSEN, ! ^) De Jul. Valerii usu pronominum,
Rhein. Mus. 67 S. 246 diese Stelle. Der Marburg 1909, p. 68.
Genitiv hominis steht bei venenum wie =*) Siehe Kaibel, Comic, graec.fragm.il
tropisches venenum urhis bei Livius. p. 20 ff.
144
Kritik und Hermeneutik.
Plantus
17. Lücken im Text.
Ausfälle Ich rede hier von dem, Avas unsere Neulateiner mit dem schauder-
haften Wort lacunae bezeichnen, laciinae sind Lagunen, Lachen und
Pfützen, omissio, defectio, damnum wäre das Richtige. Entweder kann nun
der Ausfall, um den es sich hier handelt, ein einzelnes Wort oder eine
ganze Yerszeile oder endlich einen größeren Abschnitt anbetreffen. Immer
aber ist es für den, der ihn ansetzt, geboten, seine Entstehung auf einen
Anlaß zurüclizuführen, und diese Erklärung ist allemal aus der Ähnlich-
keit benachbarter Wörter, aus dem Abirren auf ein ähnliches Schriftbild
Tac. Diai. 8 j^gp^uleiten. Tacit. Dial. cap. 8: Eprium . . . et Crispum Vibium . . . non
minus (nominatosy esse in extremis partihus terrarum quam Capuae; ib.
cap. 15: neminem hoc tempore (^paremy oratorem esse contenderes antiquis;
so ist m. E. in diesen beiden Fällen zu ergänzen : nominatos sah dem jioti
minus, parem dem Wortscliluß von tempore gleich ; daher der Ausfall. Dies
also sind Fälle, die mit der unter 12 behandelten Haplographie überein-
kommen.
Yerfehlt dagegen das geschäftige Flickverfahren, das lange Zeit in
der Plautuskritik herrschte, wo man jeden Hiat rasch durch irgendein
eingeschobenes, meist ganz bedeutungsloses, wertloses Wort beseitigte.
C. F. W. Müller hielt an dieser verzweifelten Methode bis zuletzt fest.
Wir wissen jetzt, daß die Hiate im Plautus echt und grade die wertvollsten
Zeugen sind für die Natur des alten Yolkslatein. Im Persa 843 stehen
die Anapäste: Graphice \ hunc völo ludificari und müssen so bleiben. Wer
Nunc gräphice hunc völo ludificari schreibt, macht uns nicht plausibel, wie
das nunc grade vor gräphice hat fortfallen können
Sache in aberhundert Fällen.
Die AhnUchkeit der Silben hat aber auch den Ausfall ganzer Yerse
veranlaßt. In Handschriften des Homerus latinus fehlt z. B. der Yers 92 ;
denn er beginnt mit dem Wort Turpiter, der folgende Yers mit Iiippiter.
In Ps.Ovids Halieut. begannen die Yerse 45 u. 46 ursprünglich etwa so:
Amplius OS hämo vorat und Änthias his tergo; daß einer der Yerse fort-
fiel, ist bei dieser Älinlichkeit begreiflich. Danach läßt sich dann auch
der fehlende Catullvers 68 B 47 ergänzen; er muß, wie der folgende, mit
Notescat begonnen haben,') u. ä. m.
Das Ansetzen von Lücken dieser Art ist nun zwar wieder ein be-
quemes Mittel, um über Schwierigkeiten hinwegzukommen, und man hat
dabei außerdem noch das angenehme Gefühl, keinen überlieferten Buch-
staben abändern zu müssen. Wer aber diese Ansätze so häuft, wie von
YoUmer neuerdings im Ciristext geschehen, bringt sich um alle Plausi-
bihtät. Solch Yerfahren widerlegt sich selbst. Ähnlich ging dereinst
E. Bährens im Properz vor, ein Zerfetzen des Textes, gegen das mein Auf-
satz im Ehein. Mus. 38 S. 197 ff. sich richtete. 2) Es muß als Regel gelten,
daß niemandLücken ansetzen darf, der nicht genau zu präzisieren
weiß, was dagestanden haben muß, Aver nicht eine vollständige Er-
Ganze
Verse
Und so liegt die
1) Siehe Ehein. Mus. 59 S. 428.
^) Vgl. auch A. Ludwich, Homerischer
Hymnenbau, Leipz. 1908, S. 30 ff.
^
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes.
145
gänzung des angeblich Fehlenden in Vorschlag bringen kann. Diese pflegi
dann mitunter sehr unecht auszufallen. Der Charakter der Poesien leidet
durch solche Einschaltungen oft nur allzusehr; die schöne, oft gewaltige
Piägnanz der Sprache geht verloren. Viel lieber glaube ich da an irgend-
welche geringe Verschreibungen, durch deren Beseitigung sich der Zu-
sammenhang herstellen läßt, oder es läßt sich eventuell auch, wie im
Properz, durch Versumstellung helfen. Ciris 407 f. ruft die Heldin: eins 408 u.
Vos ego, vos adoo venti testabor et undae,
Vos o *numantina si qui de gente venitis,
Cernitis . . .
Hier genügt es ^^ollständig, für das als korrupt erkannte numantina ein
iifanti herzustellen; durch nichts ist dagegen angezeigt, daß ein Vers
it'iilt. Daß mutare reflexivisch „sich verändern, sich verwandeln" heißen
kann, ist bekannt; mit der gens mutans ist also das im v. 198 erwähnte
Geschlecht der Dauliades gemeint und unmißverständlich angezeigt. Einen
metrischen Schnitzer enthält der Cirisvers 477:
Aeginamque simul salutiferamque Seriphon.
Sollen wir aber deshalb zu der gewaltsamen Annahme greifen, nach shnid
seien zwei ganze Halbverse ausgefallen? i) Es ist vielmehr längst erkannt,
daß semenüferamque zu lesen; ja, diese Lesung taucht schon in den Hand-
schriften auf; denn die sonst dürre Insel Seriphos konnte nur von der
l^flanze osgicpog ihren Namen haben, und daher heißt sie sementifera; jeden-
falls ist Kratinos fr. 211 nolvßmTov novriav ZeQi(pov zu vergleichen. 2) Noch
ein Prosabeispiel. Das Verb um finitum fehlt in dem Satz bei Theophrast
Charakt. 4, 11: xal et x6 ägorgov (sc. ö äygoixog) e^Qrjoey fj x6q)ivov 7) öqe-
rravov iq &vXaxov, rama xfjg vvxTog * * xaTO, äygvjiviav ävajuijuvrjoxöjuevog.
Auch hier glaube ich jedoch wieder an keinen Ausfall und setze statt
dessen das (manelv des Casaubonus für das ganz überflüssige xavxa ein;
also: xal ei xö ägoxQov exQ7]0£v t] xocpivov i] ÖQenavov ff d^vXaxov, djiaixeiv^)
7//S vvxxög xaxd äygvjiviav dvajuijuvrjoxojuevog.
Es gibt Autoren wie Horaz und Persius, in denen uns keine einzige Feststei-
Zeile fehlt. Bei anderen sind es bisweilen schon äußerliche Umstände, ^Lü?kln^
die erweisen, daß etwas weggefallen. So dienen stichometrische Angaben
zur Kontrolle der Vollständigkeit, und sie ergeben z. B., daß der Anfang
\ on Cicero pro Milone verstümmelt ist (oben S. 40). Vergils Catalepton
Xr. X enthält 25 Verse; das Gedicht ist aber genaue Nachdichtung nach
dem Phaselus Catulls, Nr. IV, der 27 Verse hat, und wirldich bestätigt
die genaue Betrachtung des Inhalts die naheliegende Vermutung, daß bei
Vergil zwei Verse weggefallen sind. Die Responsion ist es, die im Hirten-
t 'dicht des Calpurnius Nr. IV anzeigt, daß im Wechselgesang hinter v. 96
tiinf Averse ausfielen, in denen Amyntas über Apollo sang. Daß des
Ausonius Bissula unvollständig, folgt aus der Bezeichnung über, die Auson
iiwendet.*) Bisweilen bezeugen die Handschriften selbst den Ausfall
^) Der Fall liegt genau ebenso wie
i'i Catull 64, 368, wo mit metrischem
"^(•hnitzer überliefert ist:
Vita Polyxcnia madescent caede sepulcra.
M an liest deshalb madefient oder mitescent.
2) Vgl. De halieuticis p. 46 und Rhein.
Mus. 63 S. 40.
') Aucli xoavyäoai, y.oä^ai, könnte hier
stehen.
*) Siehe Buchwesen S.304; M.Krämp^r,
Res libraria cadentis antiquitatis p. 21, 1.
Handbiicli der klass. Altertumswissenschaft. T, 3. 3. Aufl.
10
146
Kritik und Hermeneutik.
wie im Tacitusdialog cap. 34. In UeQl vt^jovg cap. 11 wird der Text unter-
brochen durch Ausfall eines Doppelblattes der Handschrift. Plinius be-
nutzt in seiner Naturgeschichte direkt oder indirekt die Tiergeschichte
des Aristoteles; wer beide Texte genau vergleicht, merkt bisweilen, daß
der griechische verkürzt vorliegt; u. a. m.
Eine sichere Handhabe gibt ferner die metrische Entsprechung der
Strophen und Antistrophen in der griechischen ChorWrik. Betrachten wir
Sophoci. einmal eine bekannte Sophoklesstelle. In der Antigene v. 100 ff. hören
Antig. 100 ff. . T A p
Avir den Anrui:
dxzlg aeUov xo xak-
kiarov EJnajivXfp qcavh
Gt'jßa tiJöv Tiootegcov qpdog,
sqpdvdrjg jrot' co ;fßt'ö£as'
dfiegag ßkiqpagov, AiQxai-
105 cov vjieg geedgcov f^ioXovoa
f Tov kevxaojtiv 'Aoyöüsr
(föjxa ßdvza Jiavoayia
ffvydöa Tigööoo/nov d^vri.po)
xnf]oaaa yaXivw.
Hier widerstreben dem v. 105 in der Gegenstrophe, v. 120, zunächst die
Silben: -vai xai oteqpdvMjua jivQywv, und man setzt also in diesem v. 120
re xai statt xal. Dem v. 106 entspricht sodann in der Gegenstrophe der
V. 121, der so lautet: Tievxdev^' "Hcpaiotov eXeXv. Also fehlt wieder eine
Silbe im v. 106. Diese Silbe ist herzustellen; überdies aber abundiert für
den Sinn das ßdvxa im v. 107 neben (pvydöa jiqoöqo^iov, und wir gelangen
zu der Annahme, daß Sophokles wirksamer Tidvxa schrieb; also:
TOV ?^vxaojTiv 'Agyoysvfj
(pwxa Jidvxa Jiavoayia xxX.^)
Darauf folgen die epirrhematischen Anapäste, v. 110 ff.:
110 ov iq)' riixsxega yä Ilolvveixrjq
dgdeig vsixecov i^ dfi(pd6ya>v
(tjyays' HsTvog d'y o^ea xka^cov
aisrog €ig yäv (hg vjiegsjrxa,
ksvxfjg x^dvog jixegvyi oxeyarog,
115 JToAAwv //£«?' ojiXcov
^vv ^' cjTJToxöfioig xogv&Eooiv.
Diesen Anapästen sollten offenbar die Anapäste genau entsprechen, mit
denen die Antistrophe v. 126 ff. fortgesetzt wird. Daraus folgt aber zu-
nächst, daß der v. 113 zu atexog cbg yäv imeQejiTa verkürzt werden muß;|
denn ihm entspricht mit nicht zufälligem Silbenanklang der v. 130 : ;f^iJao<
xavaxrjg vjisQOJitag.^) Dieselbe Vergieichung macht dann aber auch um-
gekehrt für V. 112 eine Ergänzung nötig, wie ich sie nach Nauck in dei
Text eingesetzt habe. Es ist ein halber Dimeter, der dort in den Hand-
schriften fehlt. Und auch der Sinn führt bestätigend • auf dasselbe; denn
Sophokles will hier, v. 112, sagen: Polyneikes wurde durch reixt] zum
wirklichen jioXvveixrjg und holte den Feind ins Land. Eigennamen werden
im Chorlied sonst gern vermieden; auch Kapaneus' Name fehlt im weiteren
1) Vgl. Theokrit 22, 142, wo jidneg
überliefert und ßdvxeg zu lesen; corr.
Boissonade.
«) Vgl. oben S. 111. lieber solche „Sticli-
worte" oder Anklänge in Strophe und
Gregenstrophe s. unten.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes.
147
Verlauf dieses Gesanges. Nur uiri des AV'oi-tspiels Avillen steht also Iloh-
reixfjg im v. 110. So leitet der Dichter auch des Aiax Namen von ald^sir
lier (Ajax 432). Zu diesem Nominativ IloXvvelxrjg aber fehlt nun ein
Pi'ädikat wie das eingesetzte ijyayF. Die Einschaltung kann also für an-
nähernd sicher gelten.
Wie viele Operationen dieser Art hat auszuführen, wer die Tragiker
liest! Es gilt entweder überschüssige Silben zu streichen oder fehlende
zu ergänzen. Neuerdings ist von S. Sudhaus in feinsinniger Weise auch
an die metrisch so schwer anzuordnenden Cantica des Plautus die Hypo-
these herangetragen w^orden, daß sie, in Responsion nach einem „Stollen-
gesetz" gebaut, in Teile gleichen Umfangs zerfallen, Teile, die zwar nicht
gleiches Versmaß, wohl aber eine abgezählt gleiche Anzahl von Hebungen
oder Takten enthalten. Die Durchführung dieser Aufstellung maclit indes
wieder manche Nachhilfe der angegebenen Art nötig; auch erwecken
manche Messungen und Taktzählungen Bedenken; vor allem vermissen
wir einen Nachweis darüber, w^elchen musikalischen Zweck die Ent-
sprechung von Stollen so gewaltigen Umfangs, ^vie Sudhaus sie ansetzt,
haben sollte, und ich bekenne, nicht überzeugt zu sein.i)
Die größte Vorsicht ist endlich denen gegenüber geboten, die in
y.ara mixov gedichteten Partien genaue Entsprechungen gleich langer Vers-
LCi'upf)en zu erkennen glaubten — so liebt Euripides in der Tat Q^joeig
gleichen Umfangs zu je zehn oder zwölf Zeilen 2) — und, w'O solche sich
nicht durchführen ließen, mit dem Ansatz von Textlücken nachhalfen.
Ich erinnere nur an F. Ritschis Analj^se der Reden in Aeschylus' Septem.
Sogar im Tibull und Properz haben diese Zahlenmystiker gewütet, s) Ich
Ivomme später hierauf zurücls:.
Plautus'
Cantica
18. Umstellungen.
\\'ir unterscheiden Umstellungen von Worten, von Zeilen, von größeren umstei-
'L'extabschnitten. Ein einzelnes Wort umzustellen, ist noch das Leichteste, *) innerhalb
und das wird zunächst mit Evidenz bei Dichtertexten ausgeführt, wo es f^er Zeiie
gilt, das verdorbene Versmaß zu heilen. Eurip. Orest 505 steht:
avTog xaxkov iytveto f^itjXEga xtarcor.
Ein Trimeter entsteht aber erst, wenn wir (mit Person) /^//re^' h/evETo
y.ravmv lesen. Bei Catull 1,8 erfordert der Vers: Quare habe tibi, wo die
Codices: Quare tibi habe geben. Auch innerhalb des Plautus ist dies Ver-
fahren erlaubt und i-echt plausibel, um unlesbare Verse einzurenken. Nur
ist von ihm zu oft und zu leichtherzig Gebrauch gemacht worden. Steht
Plaut. Merc. 709 vde miserae mi, so haben Avir nicht nötig väe mi miserae
lierzustellen, obschon sich dies glatter liest; denn miserae mi ist wie ein
Wort und wird durch einen Wortakzent beherrscht. Der berühmte
*) Gleich Aul. 126 ergänzt Sudhaus
(S. 8) unrichtig ein vel\ vgl. W. Kohl-
MANX, ])o vol imperativo; irrige Messungen,
weil der Hiat ausgeschlossen wird, z. B.
S. 130. Abk^hncnd auch F. Leo, Göttinger
i-el. Anz. 1911 S. 66 ff.
2) Vahlp:n, Opuscula academ. T S. 368.
^) Das Unglaublichste an Zahlenniystik
hat neuerdings A. Fick an den Urtext der
Odyssee herangetragen : Die Entstehungder
Odyssee, Göttingen 1910; vgl. oben S. 57.
*) Vgl. G. Hermann, De emendationi-
bus per transpositionem verborum, ( )pusc.
111 8. 98 f.
10*
148
Kritik und Hermeneutik.
I
Terenzvevs Ad. 470 persuasit nox nmor uiiiiim adnlesceiftia gab einst des-
lialb Anstoß, weil im dritten Fuß gegen die Gewohnheit ein jambisches
Wort steht. Wer fühlt aber nicht, wie sehr durch die Umschiebung
amor persuasit nox v'nium adidescimtia (0. l^rugmann) die Wucht dieses
Satzes leidet?
Auch im Hexameter sind Umstellungen nichts Seltenes; besonders
im vierten Fuß der römischen Epiker; die Stellung picnus cum languet
amator wurde vorgezogen; die Handschriften aber ordnen niclit selten
nach dem Schema cum plenus languet amator.^) Vergil schrieb Aen. 1,883:
Erramus vento Imc vastis et fliictibus acti,
er hätte freiUch ebensogut et vastis statt vastis et schreiben können; aber
er bevorzugte in solchen Fällen den Gegenakzent im Yerse imd erreichte
ihn eben durch die Inversion des et. So haben hier dann aber schon «
alte Vergilhandschriften das naheliegende et vastis hergestellt. Aber auch f
an anderen Stellen des Hexameters finden sich natürlich gelegentlicli
ScliAvankungen in der Wortstellung, sogar mit metrischem Schnitzer Avie
bei Theokrit 27, 47. Bei Juvenal 8, 148 trat dann Corruptel liinzu.
Seltener ist die Notwendigkeit A'on Wortum Stellungen natürlich in
der Prosa nachweisbar. Liest man Xenoph. Oekon. 7, 16 ä re ol }%oi
e(pvodv OF dvvcxoßai xm 6 voitog ovvfJTaiyEj, so steht das re am falschen
Ort, und wir erwarten: « oT re ßeol xtX. (so Cobet, vielleicht doch nicht
ganz zAvingend); bei Seneca Apotheos. 10: Cyllenius illum trahit ad inferos.
(I caelo. unde negaiit redire quemquam ist vielmehr a caelo ad inferos
luide eqs. zu fordern. Bei den gepflegteren griechischen Prosaikern seit
Isokrates, ja vielleicht schon A^or ihm, Avurde bekanntlich der Hiat ver-
mieden. Wo also bei solchen Autoren, Avie Aristides, Dio, Philostrat
trotzdem Hiat A^orliegt, kann eventuell durch Umstelhmg abgeholfen
Averden.2) Ein ähnliches Kriterium geben uns auch die Satzklauseln mit
ihrem obligaten Creticus. Im Palladius ist da der codex Erfurtensis E
der Sünder, der z. B. p. 64, 28 (ed. Schmitt) mense nouembri dispones,
p. 65, 7 trima transferri dehet bietet, Avährend die besser garantierte Lesung
nouembri mense dispones und dehet trima transferri den erforderlichen
Creticus AA'irküch gibt.
Verso und j)aß auch dem oft krausen Zusammenhang der Elegien des Properz
Text- dmx4i Umstellung A'on Distichen bisAA'eilen giüclvlich aufgeholfen Averden
abschnitte j^^n^ habe ich oben angedeutet. Aber auch durch Versetzunp- erößerer
umgestellt ' .... .
Abschnitte um eine oder etliche Seiten sind unsere Autoren ohne Zweifel
ab und zu entstellt, Versetzungen, die sich entAveder aus Blattversetzungen
in der Vorlage oder daraus erklären, daß der Schreiber beim Kopieren
just um eine oder mehrere Seiten abirrte. Dies letztere trifft z. B. für
ÜAdd zu; s. oben S. 19. Die Hypothese der Blattversetzung ist z. B.
von Mommsen einst für Ciceros Buch ad fam. Buch lY in überzeugender
Weise aufgestellt, s) Solche Hypothesen sind A^erführerisch, Avenn sie auf-
tauchen, und sie können gelegentlich auch arg in die Irre führen. Icli
') Siehe Ad hexametr. lat. S. 19; schon
( 'IjXTNGham, Anhnadvers.Horatianae p.34 ff.
2) Tni alJ^omoiiion hiorzvi BEXSET.f:R,
De hiatu in scriptoribu« graecis, Fribergae,
1841.
3) V,i>h Stern KOPF, Hermes 40 S.lff.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 149
(lenke an Tibnll I 8 sowie an Havets Phädrusausgabe. i) Auch mit des
Koraz Ars poetica, in der man den lucidus ordo vermißte, sind Hofman-
Peerlkamp, Ribbeck u. a. übel mngespningen ; Problem bleiben liier nm*
die Zeilen 136—152.2)
Die meisten der bisher besprochenen Textschäden sind solche, die
sich unwillkürlich eingestellt haben. Es folgt jetzt die Besprechung der
Interpolationen, d. h. derjenigen Schäden, die durch die absichtliche
Sucht des Schreibers, zu ändern und zu korrigieren, entstanden sind;
schon einige der unter 12, 13, 14, 15 u. 17 besprochenen Fälle nähern sich
(lieser Art der Textentstellung, der durch Emendation weit schwerer bei-
zukommen ist. Wir unterscheiden aber Avieder im Verlauf verschiedene
Arten derselben.
Dies Verwerfen des als unecht Erkannten nennt die antike Gram-
matik ädFreir, die „Athetese", wie sie schon Aristarch im Homer aus-
o-eiiht hat. 3)
19. Modernisierung der Sprache.
Es ist für den, der einen altmodischen Autor eigenhändig kopiert,
' rwas NatürHches, in den Text Wörter und Wortformen seiner eigenen
^prachgewohnheit hineinzutragen, und auch dies geschieht oft noch ganz
unwillkürhch, wennschon es nicht von Gewissenhaftigkeit zeugt. So
modernisieren wir bei der Benutzung der heiligen Schriften unAvillkürhch
• las Luthersche Bibeldeutsch. Es ist schon darauf hingewiesen, wie bei-
spielshalber das Aeolisch der Sappho bei den griechischen Rhetoren, die
sie zitieren, verunstaltet ist (S. 58); wie bei den Ti-agikern seltene und
^chwei- verständliche Wörter erhabenen Stils durch Glosseme verdrängt
wurden (S. 33); Avie das Jonisch des Herodot nach einer Schablone, die
erst in der Zeit des Gelehrtentums entstand, plauA^oll abgeändert ist.'*)
Unsere Textesrezension ist also in solchen Fällen ein stetes AbAA^ehren
postumer und modernisierender Einflüsse. Ebenso hat aber auch auf die
Texte der Klassiker der attischen Prosa das Griechisch der späten Koine Attisch
und der Byzantinerzeit vielfach entstellend eingeAvirkt. Cobet lehrte, daß Byzantiner
(in Futur mit «V nicht attisch; bei Thukyd. 5, 15 yyövrsg vvv jnäXlov ai> ^'^^t^teiit
ri'ÖF^ofierovg sei demnach die Aoristform herzustellen, ebenso Plato Apol.
|). 30 B: d)g e/iov ovx äv jion)oovTog.^) Dies hat sich jedoch als nicht durch-
führbar enviesen,«) wie auch der seltene Aorist eßUooa (vgl. hh% ßtoyoag)
sich aus den Attikern nicht ganz entfernen läßt. In der Tat aber brachten
die BA'zantiner, soAA'ie sie die Krasis falsch auflösten (oben S. 126), auch
unattische Fonnen in den Text wie (fdahaTog f. (pUrarog, setzten oida/uev
f. i'oiifv,'*) xehi\uuTa f. y.fhvojiiara, stellten das Verbum in den Plural, Avenn
las Subjekt neutr. plur., s. Xenoph. Laced. civit. 1, 5 egQoyjueveoTFQa de
]lyvFodai Fi n ftlaTnoiFv (so; lies ßXdaroi), schrieben fvqfs f. i]VQFg^) und
") V^l. llAVET, Manuel S. 196. e) Vgl. gleich Plat. Apol. p. 290: tj<h]
-) \'gl. A.Dip:terich, PulcinellaS.2921'. «r ... dtacf^aQ/jaoiiai. Uebrigens W. Schmid,
3) Vgl. A.Römer, Aristarchs Atlietescn, Der Atticismus I S. 245; 111 83: IV 76 u.DO.
Leipzig 1912. '') Auffällig das oldainev bei Antiphon.
•») Oben 8.58; vgl. W. Alv, Rhein. ») z. B. Plato Phaedr. p. 275 Aß: vgl.
Mus. 64 S. 591 ff. KChner-Blass I 2 S. 11.
•■') Novae lect. p. 694.
150 Kritik und Hermeneutik.
änderten die Optative auf -06; v in solche auf -oijui um; vgl. Plato Phaedr.
274 F, wo Stobaeus doxoh], die Handscliriften doxoi geben, und Xenoph.
Oecon. 20, 25: öjrmg exoi 6 ri Jtoiol (lies noioirj). Auch an die Stadtgöttin
Pallas sei erinnert; sie heißt bei den attischen Eednern f] &s6g, und, wo
man ^ {^sd liest, ist dies wiederum Änderung späterer Hand.
Modernisierungen ganz gleicher Art sind es auch, wenn Plautus an
Alt- Yerssclilüssen evenat schrieb und die Handschriften dafür eveniat geben.
Wort- Für Genitive Avie preti und Tati treten in den Handschriften pretii und
enSteut ^^^^^ (Prop. 4, 2, 52) auch gegen das Versmaß ein; ebenso gratis f. altlat.
gratils. Ein erepsti verstand man nicht und schrieb dafüi* einfach eripis
oder eripis te (Pompon. 70 R. ; corr. Bücheier) ; Plautus schrieb Amph. 554
tnatJm {^= tuo more); die Handschriften geben statt dessen in aufem:
ebenso ging es mit processe Turpil. 137, wofür fehlerhaft bei Nonius prod-
esse steht (corr. Gifanius); ebenso mit misti {— misisti) bei Catull 14, 14;
ebenso mit tuor und deposisse in Vergils Catalept. 2 a, 5 u. 10, 16, wofür die
Schreiber gegen das Metrum das geläufige tueor und deposuisse einsetzten.
dein f. deinde Avar im Spätlatein vielen fremd geworden; daher erscheint
bei Catull 5, 8 ff. dreimal deinde in den Handschriften, avo dein durch das
Versmaß geboten ist;i) daher bei ÖAdd Met. 14, 215 morique, avo der
Dichter moriri zu setzen gewagt hatte; daher bei Plautus Cure. 748 luce
clara, wo der Dichter selbst lud claro schrieb. Bei Caesar Bell. Gall. 7, 7
gibt eine Handschriftenklasse konsequent den acc. Xarhonam von Narbo,
Einfluß des ciuc VulgärbilduQg nach Anconam, und ebenso steht dann auch Mara-
uld^i^Ht- ^^^ö^*^^^^ bei Sulpicius Severus. Etwa seit dem 3. Jahrh. n. Chr. lebte man
lateins des Glaubens, die Pronominalform istaec sei aus ista liaec hervorgegangen,
und daher erscheint nun dies seltsame ista haec auch AA^rldich in solchen
Texten wie Mart. Capella, Script, bist. Augustae, Jul. Valerius u. a.^) Der
früheste mir bekannte Beleg steht bei Apuleius met. 1, 2. Zahlreich sind
hierfür auch bei Sidonius Apollinaris die Belege, 3) aber die Editoren haben
sie da blindlings sämtlich Avegkorrigiert. Dies selbe ista haec Avurde nun
aber auch in den Plautustext hineingetragen, und im Plautus sind solche
Schreibungen natürlich ebenso unecht, wie sie im Sidonius und Julius
Valerius echt sind. Es verrät sich darin die nämliche tiftelig etymologi-
sierende Schreibmanier der Spätzeit, die auch sonst überall grassiert und
ein conrigere f. corrigere, superlectiUs f. supellectilis (Eutrop. 3, 23, 2), ein
Conlatinus und Avas derartige Rekompositionen mehr sind, unbedenldich
in die Texte brachte. Daneben solche Albernlieiten AA'ie nihil hominus
f. nihilo minus ;^) prodesse wurde zu prode esse distrahiert (oben S. 138),
und so entstand ein Adj. prodes (siim tibi prodes).^) Bei Horaz Avar in
dem Verse Od. 1, 12, 31
et minax quod sie voluere ponto,
wie der Horazerklärer Porphyrie lehrt, schon im 3. Jahrhundert die
Lesung eingedrungen :
et minax quia sie A^oluere ponto,
1) Siehe Ehein. Mus. 51 S. 268. ^) epist. l,4fm.; 1,5,9: 1,8. 2,10,4u.s.f.
2) Der Hiat bei Plautus S. 133 f.; H. -i) DerHiat bei Plautus S. 248 f. u. 269.
Ste:ngel, De Julii Valerii usu pronomi- . &) G. Thiele, Der lat. Aesop des Ro-
num, Marburg 1909, S. 47 f. 1 mulus, Heidelberg 1910, S. 11.
Die
ariante
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 151
also scheinbar eine Verhunzung des sapphischen Verses ; dies erklärt sich
aber daraus, daß quia im Späthitein und grade im 3. Jahrhundert bei
'Terentianus Maurus als Monosyllabum und als eine einzige lange Silbe
l; erechnet Avurde . ' )
20. Doppellesungen im Text.
Hiermit beginnt das eigentliche Gebiet der falschen Korrekturen, die
nicht nur den echten originalen Sprachausdruck, sondern zumeist auch dringt
den Sinn störend verändern. Bei Gellius 4, 13 wird von Demokrit zitiert den Text
rrf^^gi Aoificbv fj XoyixaJv xavwv; dies fehlt jedoch in den Handschriften, steht
nur in den alten Drucken, ij Xoyix&v ist auf alle Fälle Doppellesung und
unbrauchbare Variante zu Aoijuwv. Bei Herodot 2, 94 heißt es von den
Ägyptern: ojteiqovoi t« oilhxvjigia ravTa, rä ev^EXlrjoi avrojuara äyQia q)vexai.
Niemand kann verkennen, daß hier äyQia Variante und als solche zu tilgen
ist (del. Valckenaer). Ähnlich Herodot 7, 220, wo es von Pythia heißt :
l'yovra ygu Aeyovra d)de, wo Schweighäuser das leyovra als Zusatz zu exovxa
tilgte. In der Poetik des Aristoteles 9, 11 steht: Tavra de yivexai xal /udkora
xa\ uäkkov, örav yepijrai Jiagd rrjv do^av di' äXXr]Xa. Die Doppelschreibung
Hegt hier auf der Hand; xal judXiora ist neben xal juäXXov unerträglich und
zu beseitigen. Bei Livius 45, 29, 1 ist das seltsame Macedonisum aus
um
Macedonis, d. h. aus der AusAvahl der Lesungen Macedonis und Macedonum
liervorgegangen.2) Bei Petron 47, 4 hat Trimalchio einen crepitus ventris
von sich gegeben und fordert seine Gäste zui- Nachahmung auf: itaque
>v quis vestrum voluerit siia re [causa] facere, non est quod illum pudeatur;
das causa sollte das sua re (=: seinerseits) erläutern. Derselbe Trimalchio
will sagen, daß er vierzehn Jahre seinem Herrn als Buhlknabe gedient,
ib. 75, 11 : tarnen ad delicias [femina] ipsimi [domini] annos quattuordecim
fui: der Schreiber wollte wieder verdeutlichen, daß ipsimus den dominus
und daß das ad delicias esse soviel wie ein feminam esse bedeutet. Hier-
lier gehört m. E. auch, was P in Plautus Miles 24 bietet:
nisi unum epytir [aut apud illa] estur i[e]nsane bene.
Denn das aut apud Uta ist nichts als Variante zu dem unverstandenen
/u/tir. Ursprünglich stand also in P:
Nisi unum epitj^nim estur insane bene,
und das ist dieselbe Lesung, die auch Varro hatte (oben S. 142). Ganz
t'l)enso führt aut die Variante ein bei Seneca, Apotheosis 9: ex his qui
uoovgij^ xagjzdv edovoiv [aut ex his quos alit i^eiöcoQog ägovQa]; und auch
rlieser Zusatz ist alt; er stammt aus einer Zeit, als man noch den Homer
im Gedächtnis trug. Sehr ähnlich beschaffen auch noch das lehrreiche
rx'is})]«'! in der Anthologia latina 286,27, wo der „Schlüssel" von sich sagt:
Virtutos niagnas de viribus affero parv'is;
der cod. Salmasianus aber gibt Virtutes magnas deuiribus diuitibus adoffero
paruis, wo jeder die Dittogi-aphie erkennt; außerdem ist dann noch in
loffero eine Doppellesimg in den Text gedrungen.
(if
^) Siehe H.Ries, De Terentiani Mauri { ^) Siehe W. Heraeus a. a. O.
>tate, Marburg 1912, S. 52. |
152 Kritik und Hermeneutik.
21. Emendationsversuche der Schreiber (jtaQaSioQd'cbaeLg),
Fehlkor- Hcroclot erzählt 8, 58 von Periander und seinem Sohn: to tqitov
der Uegiavögog xijgvxa jTejujiei ßovXöjusvog avrdg juh ig Kegxvgav fjxeiv, exelvoy
Sc]ireiJ)er ^^ ^g KoQivßov njzixöjUEvov öidöoxov yiveo&ai Tfjg Tvoavviöog. Hier ist in den
Handschriften zu exnvov de noch ein exehve hinzugesetzt, um die Kon-
struktion zu erleichtem (del. Cobet). Noch deutlicher ist dies Verfahren
ib. 8, 60: rare jLiev fjmwg [jigög] röv Kogiväiov ä^aeitparo, avo der Schreibei'
den bloßen Alvkusativ nicht deutlich genug fand (corr. Krüger), oder bei
Cicero nat. deor. 2, 126, wo dicunt interpoliert ist, um einen accusativus
cum inf. zu stützen. Auch Plautus Most. 878 paßt hierher, wo die Hand-
schriften cedo nt hiham „gib mir zu trinken". Das Versmaß aber ver-
rät, daß das }(f unecht; der Interpolator wollte den Konjunktiv mit nf
stützen.
Diese Paradiorthosen sind verwandt mit dem Eindringen von Glos-
semen, Avofür schon in anderem Zusammenhang S. 82 f. Beispiele gegeben
sind. Doch ist den dort vorgefühi-ten Glossemen eigen, daß sie die
richtige Lesung ganz verdrängten.
So sind denn auch solche Beispiele hierher zu rechnen, wo d» r
Schreiber eine Corruptel selbst bemerkte und sie inter scribendum zu
korrigieren versuchte, was dann aber zumeist mißlang. Plaut. Aul. 424
Avar aequom craf zu aequo merat entstellt; P machte dann Aveiter verball-
hornend aequo mcreat daraus. Derartiges findet sich äußerst häufig, i)
Und auch eine interessante Cicerostelle möchte ich dafür anführen, die
Cic. ad fam. Dieterich auf zuklären versucht hat. 2) Cicero schreibt an Paetus, adfam.9,l(),
' * über Gastereien, üppige und sparsame, und braucht da, wo er von der
Einladung zu einer frugalen Mahlzeit reden Avill, die unverständlichen
Worte: quod xi perseveras me ad matris tnae cenam revocarc, feram id
qHoqiir. Was soll da die Mutter des Paetus? Eine Aufklärung gibt vielleiclit
Athenaeus, der p. 44 D A^on dem Thebaner Matris erzählt, der ein Vege-
tarianer und Muster von frugalster Diät gewesen. Also schrieb Cicero
Avohl Aäelmehr: quod si perseveras me ad Matris tui cenam revocare;^) mit
tili ist gesagt, daß dieser Matris das Ideal des Paetus Avar; die Hand-
schriftenschreiber aber änderten tui in tuae, Aveil sie nicht begriffen, daß
)fiatris Eigenname sei, und dem Cicero den Fehler ersparen Avollten, maier
als Maskulin zu brauchen.
Sehr häufig ist die Sachlage aber auch einfach die, daß ein kühner
poetischer Ausdnick A^om Schreiber nicht A^erstanden wurde, der dann
km'zerhand und ohne Bedenken einen naheliegenden [)latteren dafür ein-
setzte. Die sogenannten interpolierten Handschriften aller Autoren geben
dafür Beispiele ungefähr auf jeder Seite. Hier sei eine Stelle des
Augustin Augustinus herausgegriffen, der Confess. IV 4, 7 von der amicitia sagt :
^YV^ri '^'^^^ tarnen dulcis erat nobis, cocta fervore parilium studiorum, avo das Wort
cocta durch fervore erklärt AA'ird: die Freundschaft Avurde warm gehalten
durch das Feuer gemeinsamer Interessen. Etliche Handschriften aber
haben dafür coacta eingesetzt.
') Plaut. Most. 303 operam nusquam ; 2^ [^ vStrona Helbigiana 8. 49.
(lic^s wiu-de in P zu opera inaiuis quam. ') Der «^en.Jffl^m hat seine Anal ooioii.
t
Ovid
Heroid.
!). 80 f.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 153
22. Ausfüllung von Lücken.
Weiter o-ehören auch die falsch aus"efülken Lücken hierher, Avofür t^nochte
... . Vorse
zunächst Catulls c. 65 als Beispiel diene. Dort fehlt der v. 9 in den guten
Handschriften, und der cod. Datanus gibt dafür einen Füllvers, der klär-
ch unecht; kein Verständiger kann ihn in den Text aufnehmen, und
e wirkliche Bülfe fehlt. Besonders kompliziert ist der Fall in Ovids
eroiden 9, 80 f., wo der beste Pariser Codex uns folgende drei Penta-
meter hintereinander bietet:
Praevalidae fusos comminuere maniis.
Ante pedes dominae pertimuisse minas,
Factaque narrabas dissimulanda tibi.
Der mittlere A^ers muß also ursprünglich einmal ein Hexameter gewesen
sein, imd in der Tat stehen die AVorte domhiac pert'nnui.^se minas sch(m
l)enso im voraufgehenden v. 74 und sind hier von dort irrtümlich ein-
gedmngen; woraus folgi:, daß der mittlere Vers bei Ovid ursprünglicli
etwa so gelautet hatte:
Ante pedes dominae potuisti serve iacere.
Die jüngeren Handschriften hielten nmi aber für nötig, da jene drei
Pentameter so nicht nebeneinander stehen bleiben konnten, zwischen sie
zwei Hexameter einzuschieben, und so geben sie uns den interj)olatorisch
erweiterten Text:
80 Praevalidae fnsos comminuere manus.
Crederis infelix scuticae tremefactns habenis
Ante pedes dominae pertimuisse minas;
Eximiis pompis inmania semina lau dum
Fataque narrabas dissimulanda tibi.
Jeder sieht, daß diese beiden Hexameter nicht von Ovid selbst herrühren
können. Ich freue mich, für diese Darlegung des Sachverhalts!) die
Zustiiimiung der Herausgeber gefunden zu haben.
23. Buchtitel gefälscht.
Ich rede hier nicht von der Fälschimg des Autornamens, sondern
des Sachtitels. 2) Solche Fälschungen geschahen aber im antiken Buch-
verkehr schon früh, wde denn der Titel „Musen" für Herodots neun Bücher
rrst eingeführt Avorden sein kann, als die unechte Buchteilung aufkam.
Übrigens betreffen solche Titelveränderungen zumeist das Drama. Ersthch Titoi-
wurden zum ZAveck der AViederauffühningen der Komödien die Titel ver- n^ngen ^ej
ändert, um das Publikum anzulocken, wie die Mostellaria des Plautus als Theater-
Phasma, die Bacchides als Chrysahis, die Cistellaria als Syrus erschienen
sind und zitiert werden. Sodann gilt als Regel, daß alle Dramentitel
immer nur aus je einem A^^ort bestanden; im Miles gloriosus ist das AVort
niilc^ sicher unecht ; nicht anders bei den Griechen, und in Oidmovg rrgayrog,
IjijioAvTog xalvjiTo/iEvog sind die Epitheta zum Eigennamen erst nachträglich
und nicht von den Dichtem selbst zur Unterscheidung von anderen gleich-
1) Vgl. Göttinger gel. Anz. 1882 8. 847. Scliaden gekommen; solche kopflose Rolle
'^) In den meisten neueren PapjTus- hieß djioojiaofia, und man fand solche auch
fluiden sind die ersten Blätter, die den in antiken Bibliotheken: s. Schol. Arist.
Titel trugen, abgerissen oder sonstwie zu Xubes 906.
154 Kritik und Hermeneutik.
namigen Stücken beliebt worden, i) Nicht besser scheint es mit des x\eschylus
Jiovvoov rQoq)ai zu stehen; vgl. den von Dikaearch gefälschten Titel AiavTo<;
ßdvarog. Endlich war in allen mit /J verbundenen Doppeltiteln jedesmal
nur einer von beiden ursprünglich, wie in Aeschylus' ^^ejiieXr] ?; vSqo(p6qoi.^)
Nicht anders verhält es sich mit den Doppeltiteln der Dialoge Piatos. 3)
Daher ist es von Wichtigkeit zu Avissen, wie die Doppeltitel der Satiren
und Logistorici Yarros in der Buchrolle angebracht waren: der eine Titel
stand vorn im Buch, der andere am Schluß der Rolle.'*)
in der Im übrigen folgen wir natürlich nach Möglichkeit dem Zeugnis der
Litt"Stnr Handschriften. Cato schrieb also de agri cultiira, nicht de re rusfica, Cicero
schrieb rhetorica oder rhetorici, nicht de inventione, derselbe auch de deormn
natura, welche Titelform uns die Handschriften geben, die überdies durch
die Analogie des Lukreztitels De reriim natura gesichert wird; Avenn
Cicero selbst innerlialb der betreffenden Schrift gelegentlich von de natura
deorum redet, so tut er das, weil die Repetition der Silbe de in de deorum
seinem Ohr mißfiel. Etwas anderes ist eben der Wortgebrauch in wohl-
gesetzter E/cde, etwas anderes der geschäftsmäßige Buchtitel. Auch die
Bucliauf Schrift monohihlos für das sog. erste Buch des Properz ist echt.^)
Und Lucans Epos? Man zaudert und schwankt, ob De hello civili oder
ob Pharmlia die besser verbürgte Benennung ist. Die Handschriften
geben die erstere; Lucan selbst redet dagegen von seiner Fharsalia, wo
er sein Werk meint. Die Sache wird hier folgendermaßen liegen. Lucan
selbst edierte nur die ersten drei Bücher seines Epos, und es ist wahr-
scheinlich, daß er sie Pharsalia betitelt hatte. Als aber nach seinem ge-
Avaltsamen Tode das immer noch unfertige Gesamtwerk in zehn Büchern
erschien, wählte der unbekannte Herausgeber den Titel, den die Hand-
schriften bezeugen. Bisweilen trennen sich die Handschriftenklassen wie
bei Claudian De hello Gothico oder De hello Pollentino. Ich möchte jetzt
die erstere Bezeichnung bevorzugen. Für die doch mit Unrecht so-
genannte „Apocolocyntosis" Senecas garantiert uns die beste Handschrift
die Aufschrift 'Ajio&ewotg per satiram, die interpolierten geben statt
dessen ludus de morte Claudii. Bei Ausonius hat die Handschrift un-
recht, die zu dem Epigramm Nr. 2 den Spezialtitel commendatio codicis
gibt.ö) Die übrigen Handschriften bezeugen, daß Ausonius hier einen
Titel für unnötig hielt. Auch bei Sidonius Apollinaris schwankt die Über-
lieferung zum Carmen III; der sinngemäße und charakteristische Titel
Editio ad lihrum ist hier aus den besten Handschriften in den Text zu
nehmen.') Auch bei Theokrit weichen die Handschriften oft voneinander
ab und erwecken Zweifel (oben S. 13); doch kann ich hierbei nicht ver-
Aveilen.
Titel frag- Yor allem bei fragmentiert erhaltenen Gedichtwerken haben sich die
mentiertor
Werke
1) W. HiPPEXSTiEL, De Graec. trag. S. 238.
fabularura nominibus, Marburg 1884: im *) Siehe ebenda S. 128, 1.
gleichen Sinn G. Jachmann, De Aristo- '">) Khein. Mus. 64 S. 393.
telis didascaliis, Göttingen 1909, S. 36. «) Siehe Max Krämer, Ees libraria
2) Hippenstiel a. a. O. S. 34. cadentis antiquitatis S. 22.
3) Vgl. Die Bnchrolle in der Kunst ') ibid. S. 49; oben S. 11.
3
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 155
lihrarii mehrfach erlaubt, die Buchaiifschrift eigenmächtig zu ändern und
auf den Inhalt des voi'liegenden Werkteils einzurichten. Das Vorwoil zu
einem Gedicht über die Seefische ist uns unter dem Titel Ponticon. im
Anhang des Solin erhalten ;i) ich halte den Titel für echt, denn die Avert-
\( »listen Fische kamen tatsächlich aus dem Pontes; 2) in einer Pariser Hand-
schrift abei" lautet die Überschrift: uersus peracti operis; diese gibt nur den
I nhalt des erhaltenen Vorworts wieder. Plinius zitiert unter des Ovid Namen
Ha/icufica; der Titel besagt, daß das Werk vom Fangen der Fische handeln
sollte; die Handschriften geben statt dessen de piscibus et feriSy da das
erlialtene Fragment nur Fische und sonstige Tiere aufzählt, aber den
ischfang selbst nicht behandelt. Ovid schrieb, wie er selbst bezeugt,
e medicamine fonnae-, das erhaltene Bruchstück setzt im Titel faciei für
onnae ein, und zwar aus ganz ähnlichem Grande. Für desselben heroides
ist eben dieser Titel heroides als echt garantiert. 3) Warum die Hand-
schriften ihn änderten, ist durchsichtig.*)
24. Falsche Initialen.
Die Initialen läßt die erste Hand oft ungeschrieben, und der Rubrikator initialen
ergänzt sie dann bisweilen falsch. Dies ist z. B. in der Haupthandschrift N
(k'S Properz geschehen, wo wir daher sinnlos I 15, 2 Fac für Hac und
11 28, 2 lam für Tmn lesen; massenhafter in einem Laurentianus der
Parallela sacra des Joh. Damascenus,^) wo Tgvyeg für ^Qvyeg, ^oXcov für
Zohov u. s. f. Ich glaube auch noch immer, daß den Halieutica Ps.Ovids
die Initiale felilt, imd daß sie mit Praecepif, nicht mit Äccepit anfingen.
Theokrits Uaidixä aloXiKa fangen mit xai an; es ist aber aldl zu lesen.
25. Einschaltung erklärender Notizen.
Der Trieb der Verdeutlichung beherrscht den Schreiber oder Leser. Erklärende
Das äußert sich im Kleinen Avie im Großen. Zunächst im Kleinen; damit poutionen
man den nachfolgenden Yokativ erkenne, schaltete er in dem Menander-
fraginent 109 ed. Kock v. 1 die Exklamation co ein, dui*ch die aber dei"
jambische Vers zerstört Avird. So nun auch erklärende Notizen, die einen
\'()llen Satz bilden; diese Notizen standen zunächst am Rand der be-
tieff enden Handschrift und sind dann bisAv^eilen in den Text gedrungen;
so in Piatos Hippias maior p. 283 A die Bemerkung jr^Qt 'Ava^ayogov Uyerai,
in Plinius' Briefen 7, 17, 11, avo von dem damals berülimten Tragiker Pom-
ponius die Rede ist: hlc scriptor tragoedianim und in Eutrops BreAdarium 6, 9
regnumTigranis [qui Armeniis imperabat]; dies letztere tilgte Duncker; demi
bei Eutrop ging schon eine ähnliche Mitteilung A^oraus. Auch bei Cicero
ist im Orator 108: ipsa enim illa [pro Roscio] iuvenHis redimdantia das pro
Iloscio anstößig und schwer verdächtig. Herodot erzählt I 181 A^on dem
riesigen jivQyog in Babylon und von den Ruheplätzen, die da für den
Hesteiger desselben in halber Höhe angebracht sind: jueoovvri de xov rrjg
') Siehe E. Bährexs, Poetae lat. nii- ^) A'gl. des Pliüoclioros ovvaywytj {jaou-
noresin S.172; Solin ed. Mommsen^ S. 234. öo)v tjxoi ITvüayogsi'cov yvvaiy.wv (Suidas).
2) Anders Büchki-kh, Ehein. Mus. 51 *) Siehe Buchwesen S. 379 f.
S. 325. 5) Mnemos. ältere Folge II S. 400 f.
156 Kritik und Hermeneutik.
dvaßdoiög eori xaTayojyy re xal ticdy.oi äfjinavoTrjQioi, dazu ist die Erklärung-
angehängt h toToi xariCovreg dji^Travorrai ol ävaßaivovT8<;, die Naber mit Recht
athetisiert hat. Aus demselben Grunde ist aucli die concKisio nach der
Scythenrede bei Herod. 4, 127 tovto eoti rj äno ^Lxv&eMv gfjoig verdächtig.
In Xenophons Memorabilien III 5, 4 Avird die Geschichte der Kämpfe
Athens mit den Böotern erzählt; lesen wir da: 'Ai'}r]vaioi de oi jiqoteqov
[öte BouoTol juovoi eyevovro] jioQdovvieg rrjv Boionlav (poßovvxai jui] Boicotoi
SrjMocooi Ti]v "AjxixrjVy so ist das Eingeklammerte ein mißglückter Versucli,
das voraufgehende jtöoteqov näher zu erklären (del. Cobet und Dindorf).
Aristoteles zählt in der Poetik 6, 8 f. sechs eI'öi] oder ueqyj des Dramas
auf: fwOog, fj^og^ öidvoia, M^ig, ^uEAog und öipig. Zu den fj&rj hat Aristoteles
aufzählend ein öevteqov^ zur öidvoia ein tqitov, zur U^ig ein rhagTov hinzu-
gesetzt und fährt 6, 18 fort: Td)v öe Xoijrxbv [ttevte] fj /lEkoTTotla ^ur/iOTov tv)v
flövojudrcov. Hier fällt das ttevte aus der Konstruktion; ein Leser vermißte
offenbar in der Aufzählung ein TTEjujtTor, setzte ein e an den Rand, und
diese Zahl drang als ttevte in den Text (del. Spengel).
26. Sachliche Einschaltungen zur weiteren Belehrung.
Sachliche ßci Horodot ist 8, 104 eine Erzählung über die Einwolmer von Pedasa
in Karlen eingeschaltet, die neben 1, 175 nicht haltbar ist. 2, 116 bringt
Herodot für die Geschichte von Paris und Helena ein Zeugnis aus der
Ilias; ein eifriger Leser fügte ebendort zwei Zeugnisse für dieselbe Saclie
aus der Odyssee liinzu, deren Unzugehörigkeit auf den ersten Blick
einleuchtet. Auch in Ciceros Schrift De inventione erhebt sich häufig
dieser Verdacht; s. I 12 vi. 13 ed. Friedrich und sonst. Die fra])pantesten
Cäsar Bell. Beispiele aber gibt vielleicht Cäsars Bellmn Gallicum. Gleich im Anfang
steht zwischen dem Schluß des Proöms und dem Anfang der Erzählung
die Einsclialtung über die Helvetier, I 1, 5 — 7, die nicht einmal stiKstisch
gut anschließt und im Sprachgebrauch von Cäsar abweicht (s^pectarc in
statt spertare ad u. a.). I 6, 1 ist der geographische Zusatz inter mo?item
luram et ffnmcn Rhodanum verkehrt. Derselbe Verdacht trifft das ganze
Kapitel IV 10 u. s. f.i)
Horazvita Qft freilich fehlt solchen Verdächtigungen die Evidenz; so zAveimal
in der Horazvita des Sueton. Bei Reifferscheid im Sueton p. 47, 12 f.
lesen wir überHoraz: ad, rrs venereas intemperantior tradifur; [nani specn/a
in cuhiculo scortans ita dicitur hahuisse disposita uf, quocmnque yespexisset.
sibi imago coitiis referretur]. Das Eingeklammerte tilgte einst Lessing
nach dem Vorgang des Dacier aus Anstandsgründen. Aber solcher Klatsch
ist ganz im Stil des Sueton, auch der Sprachausdruck, auch die Satz-
klauseln, und fraglich bleibt nur, ob wir solchen Klatsch für Wahrlieit
nehmen soUen. Ebenda S. 44, 3 heißt es von des Horaz Vater: patre uf
ipse fradit lihertino et auctionum coactore [nf nero creditum est salsainentario,
cum Uli quidam in alter catione exprohrasset : quotiens ego iiidi patrem tuum
brachio se emungentem!]. Das Eingeklammerte tilgte hier Jani; denn die
^) Ueber diese geographischen Inter- überzeugendA.KLOTZ, Cäsarstudien, r^cMp/.
polationen handelt der Hauptsache nach j 1910, S. 26 ff.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 157
(iescliiclite vom Schneuzen mit dem Ellenbogen sei nach Bion gemacht,
in dessen Biographie dasselbe steht (Diog. La. YV 46). Aber auch diese
Ei-findung übernahm geAviß schon Sueton selbst; solches Schneuzen galt
<h(Mi traditionell als Merkmal des Freigelassenen, i)
*,
27. Äußerungen des Beifalls oder Tadels.
Ob das äbjihi'Ws in Xenoph. Oecon. 10, 8 als Zustimmungsäußerung
es Lesers mit Recht einst von Schneider getilgt worden ist, mag zweifel-
ift scheinen. Drastisch ist die Euripidesstelle Orest. 547, wo der Dichter Eurip.
;igt „ohne Vater entsteht kein Kind": Oio8t547f.
<?)'«•?' öe Jiazgog rexror ovx dt] .tot' är.
hl den Handschriften folgt darauf der erboste Vers, der das Recht der
Mutter walirt:
ärer de fitjToog Ticög, xadag/ti' Evgijri'S)];
1111(1 noch einer:
aj'£?' ÖS /iit]Tgög ovde av}j.aßrj rexrov,
wo ni'Ä/jifh'j scherzhaft an „Silbe" anklingt, aber die Empfängnis bedeutet
(ZU ovXka^ißdvEiv). Lukrez redet in seinem ersten Proöm I 32 — 43 vomLukreziM
• Ott Mars, der das Menschenlos und die Kriege lenkt und der dann in ^^^ *^
* 1er Venus Schoß Erholung findet. Im zweiten Buch aber finden sich die
Verse 645 — 650, die vielmehr lehren, daß die Götter sich um Menschen-
linge durchaus nicht kümmern. Ein Kritiker hat die letzteren Verse nun
<iuch in das Buch I hinübergetragen, wo sie als v. 44 — 49 stehen. Es gab
in der Tat kein besseres Mittel, den schreienden Widerspruch, den sich
der Dichter gegen seine eigene Lehre gestattet, ad oculos zu demonstrieren.
Der moderne Editor aber tilgt sie natürlich im 1. Buch. Denn Cicero, der
erste Editor, selbst kann sie da nicht schon eingerückt haben. '^)
28. Antwort des Lesers auf eine Frage im Text.
Hierfür ein Beispiel aus Cicero De nat. deor. 1, 19, wo der Epikureer Cic nat.
den Weltschöpfungsbericht Piatos bekrittelt und fragt: quibus enim oculis ^ ^' '
\animf\ intuen pofuit vester Plato fabricam illam mundi? Der Philosoph
meint: Plato war bei der Weltschöpfung nicht zugegen, und seine weg-
werfende Frage ist: „mit was für Augen soll nun Plato den Schöpfungsakt
denn überhaupt haben sehen können?" Darauf ist die natürliche Antwort
'tiimiy die der materialistische Frager selbst nicht zu hören wünscht; der
Leser schrieb sie an den Rand oder zwischen die Zeilen, und wir haben
sie wieder zu beseitigen.
29. Resümees.
Schon das oben S. 156 aus Herodot angeführte tovto eoji >y äno
l^y.rßFO)v grjoig kann als Einscliub eines Resümees gelten. Das bekannteste
l>eispiel dafür sind die Proömien zu Xenophons Anabasis, die immer den Xenopi
Inhalt aller voraufgehenden Bücher neu zusammenfassen und an deren
Unechtheit kein Zweifel besteht. Das letzte ist z.B. so g-efaßt: ooa iikv
i.
Anabasis
fc)^
1) Vgl. Lucas, Philol. 58 S. 622. S. 574.
-) vSiehe Jac. Bernays, Rhein. Mus. 5 1
158 Kritik und Hermeneutik.
(Mj Ev rfj ävaßdofi rov Kvqov . . . xal öoa enel Kvgog heXevTrjoey, ev rf] noQda . . .
xal öoa EX Tov IJovxov ne^fj e^iövrsg xal exTrleovreg sjiolovr . . ., ev xo) JiQoodFv
löycp dEÖrjkcDTai. Dabei stören sie den Zusammenhang des Textes, denn
das EX Tovrov ds YII 1, 2 knüpft genau an die fj^Eoai Erna VI fin. an, das
äfia ÖE rf] f]fdQO. II 1, 2 genau an xi^v vvxxa I fin.
^ cic. nat. Aucli an Cicero De nat. deor. II 153 sei hier erinnert; man hat dem
, o. Q^^gj,^ ^j^ Anlaß dieser Stelle Planlosigkeit in der Anordnung der Dar-
legung des stoischen Gottesbeweises im zweiten Buch De natura deorum
vorgCAVorf en ; dieser Eindruck Avird aber nur durch die Worte erzeugt, die
daselbst einen Abscliluß zu geben scheinen, wo er nicht hingehört: ex
quo debet intellegi nee figuram situmque membrorum nee ingenü menüsqiie
vim effici potuisse fortuna. Tilgt man den Satz, der eine einfache Rand-
glosse ist, so ist alles in Ordnung. Gemäß der \derteiligen Disposition II 3
will Cicero nämlich erstlich darlegen esse deos\ dies geschieht § 4 — 44;
zweitens quales sint dei; dies geschieht § 45 — 72; drittens imnidum a diis
(idministrari) das wird so absolviert, daß zuerst die E/egierungsfähigkeit der
Götter § 75 — 80 bewiesen, dann die weise Einrichtung des Weltalls § 86 — 90
auf einen Urlieber zurückgeführt, endlich die Herrlichkeit der AVeit selbst
geschildert wird, mit dem deutlichen Abschluß, 132: sie undique omni
ratione conelnditur eqs. Hierauf folgt ganz korrekt das vierte Thema dei-
voraufgeschickten Disposition: constdere deos rebus humanh, aber in der
Weise, daß gefragt Avird: für wen ist die Herrlichkeit der Welt da? Daß
sie dem Menschen zu dienen bestimmt ist, wird erstlich aus der bevor-
zugten Natur des Menschen, 134 — 153, zweitens daraus gefolgert, daß die
Dinge tatsächlich geeignet sind, ilim zu dienen, 154 — 167; und diese
beiden eng miteinander verwachsenen Folgerungen unterbricht nun störend
der oben zitierte Satz des § 153, der ebenso unecht ist wie im § 154
jjrineipio ipse mundus deorum hominumque causa (actus est [quaeque in eo
sunt ea parata ad fruetum hominum et mventa sind] der von den Editoren
eingeklammerte Zusatz, i)
Hierzu kommt nun außerdem der unheimliche
30. Trieb zur Amplifikation,
Ampii- 2ur beredteren AusAveitung des vieltraktierten Mustertextes. Das betrifft
vuigat- natürlich nur vielgelesene Texte, Schultexte, die von Lehrern und Schü-
lern tausendfach durchgekaut wm^len, wie Demosthenes und Ciceros Cati-
linarien in den Rhetorenschulen, Plato in den Philosophenschulen. Die
uns vorliegenden interpolierten Handschriften dieser Autoren geben davon
Zeugnis; denn die interpolatorische Texterweiterung, die in ihnen durch-
geführt ist, geht auf das Altertum selbst zurück (oben S. 23 ff. ; 31). Auch
der Apolloniusroman gehört hierher, über dessen Textgeschichte wir ein
lehrreiches Buch von El. Klebs besitzen; endlich auch die Glossare, die sich
immerwährend in den Händen ihrer Benutzer verwandeln. Proben davon
vorzuführen ist unmöglich. Statt dessen sei erwähnt, daß man solche
Textschäden schon im Altertum besprach. In einem herkulanensischen
texte im
Altertum
^) Siolio Do halioiiticis p. 95.
m
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 159
Papyrus, wo davon die Rede ist, daß die Beseitigung jedes Schmerzes
// jiavxoc; rov äXyovvrog vTze^aloeoig nacli Epicur das Ziel der Ethik sei,
heißt es: to „Jiavrog^^ dielxetm xard xd ävTiyQacpa, Jigoori^ejuevou rov Jiavrog
yy TioLV, iv öe xioiv jut] jrgooxid'ejueyov ' xaxd ndvxa de xakcbg exovxa dvxiygacpa
yFygajTxai' fj xov dXyovyxog i^aloeoig. Also war in der Epicurformel sowohl
(las Tiavxög als auch das Präfix vji- interpoliert. i)
Audi in den Lustspielen des Plautus findet es sich nicht sehen, daß s«iuiu-
— — *t)ig1gi'-
die wortreichen Tiraden der Sprecher mit Einschiebseln, Yersdoubletten, inter-
( TW eitert sind, die den schon einmal formulierten Gedanken noch einmal P"^«tion
ders ausdrücken und aus verschiedenen alten Exemplaren so in den
s erhaltenen Textbestand zusammengeflossen sein müssen. Solche Verse
ind z. B. Eud. 594; Stich. 84, 157a; Trin. 582; Amph. B85; Miles 189 f.;
Most. 286 — 291. Es ist denkbar, daß sich die Schauspieler selbst solclie
X^arianten und Erweiterungen zurechtmachten. Denn auch bei den grie-
chischen Dramatikern tritt uns dieselbe Erscheinung entgegen, und hier
werden uns die vjToxgixal in den Scholien bisAveilen ausdrückhch als die
Urheber der unechten Verse genannt, vo&evexat ist dafür der Ausdruck;
s.Schol. AjsiX 34:1 {avxooq)ayfj Jimxoyxa): xavxa vo&eveo&ai q)aoiv vnoßlrj&evxa
ngög oacfrjveiav. Man nehme z. B. die Medeaverse 40 — 43, in denen die
Trophos die ganze hernach folgende tragische Entscheidung im voraus
mitteilt. Wer kann glauben, daß Euripides selbst sie dichtete? Zu
Med. 856 sagt uns der Scholiast, daß Didymus die vnoxQixai tadelte, die
liinter v. 356 noch die Zeile oiyfj öofiovg eioßäo' iv eoxQonai le^og brachten.
Nach demselben Scholiasten fehlten die Verse Eur. Orest. 957 — 959 in
einigen, der Vers Orest 1394 in vielen Handschriften. Das Zwiegespräch,
das im selben Orest v. 1022 — 1046 zwischen dem Titelhelden und Elektra
stattfindet, ist distichisch durchgeführt; jede von beiden Personen spricht
immer zwei Zeilen. Schon darum ist ib. v. 1022 ff., wo dem Orest drei
Verse zufallen:
Ol' oTy' dcfsToa zovg yvvacxsiovg yöong
oTEQ^eig TO. XQavdetT' ; olxroa juev zdö , dXX' o/lkoc
[(psgsiv dväyxrj rag jiageozcöoag TV)^ag],
der dritte Vers schwer verdächtig. Der Scholiast aber merkt zu dem
öjuiog im v. 1023 an, daß es elliptisch stehe: ksiTret xd Sei cpegeiv. Damit
ist bewiesen, daß er die verdächtige dritte Zeile mit dem (pegeir dvdyx)]
gar nicht las; sie fehlte noch in seinem Exemplar. Derselbe fügt noch
weiter hinzu: xiveg de ygdq^ovoiv oixxgd jiiev, dA/' öjucog q)ege. Auch dies
iuhi-t auf dasselbe.
So wie in dem letzten Beispiel der Interpolator die elliptische
Ausdrucks weise des voraufgehenden Verses ergänzen Avollte, so steht
es auch bei Lukrez IV 229. Lukrez lehrt dort, daß die Sinneswahr- Lukrez
nehmung durch Loslösung kleinster Teilchen der Avahrgenommenen
Gegenstände, die unausgesetzt durcli die Luft uns zufließen, zustande
komme :
Nee mora nee requies inter datur iilla fluendi,
Perpetuo quoniam sentimus et omnia semper.
») Siehe Tii. GoMPERZ, Ztschr. österr. Gymnas. 1866 S. 692.
en
4, 229
160 Kritik und Hermeneutik.
Ein Leser vermißte zu omnia ein regierendes Verbiiin nnd fügte die
schlechte Zeile hinzu:
Oernerc odorari licet et sentire sonare.
Soweit der Überblick über die verscliiedenen Arten der Interpolationen,
denen zumeist durch Ausscheidung, seltener durch Korrektur abzuhelfen
ist. Wo solche Interpolationen größeren Umfang annehmen, wie am
Schluß der Aulischen Iphigenie, greift ihre Beurteilung in das Gebiet der
höheren Kritik, von der wir an dieser Stelle nicht handeln, hinüber. Zum
Abschluß sei nur noch an einige berühmtere Beispiele unechter Toxt-
einlagen erinnert.
noXvoTixog Den Homertext haben die griechischen Grammatiker seit dem 8. Jahrh.
°"^ ^"^ n. Chr. sorglich gehütet. Doch wurde daneben mit den Epen Homers
in populären Buchabschriften sehr frei umgesprungen. Erwähnt wird uns
die jzolvanxog (exdooig), für welche Bezeichnung man lange Zeit keine
sichere Erklärung hatte, bis sich auf Papyri Reste von Homerexemplaren
fanden, in denen sich planvoll Zeilen in den feststehenden Yulgattext
des Homer eingesclioben finden, so daß auf etwa zehn überlieferte je
ein „ZuA\'achsvers" kommt, i) Eine solche exdooig konnte mit Grund „viel-
zellig" heißen. Es kann uns dies an das geschmacklose Verfahren jenes
Pigres erinnern, der gar, ohne doch den Inhalt irgendwie zu bereichern,
an beliebigen Stellen Pentameter in den Homertext einfügte,
inter- Bossor hüteten die Schulmänner die Aeneis Yergils, oder riclitiger,
^mVe"gii dies Epos hat das lesende Publikum nie in gleichem Grade wie Homer
zu phantastisch amplifizierender Beschäftigung angelockt. Nur die vergili-
schen Halbverse suchte man gelegentlich zu ei-gänzen.^) Donat und Servius
sagen, daß vor dem ersten fauche und voi' dem m-ma vintmque cano noch
die vier Yerse standen:
nie ego qui quondani gracili modulatus avona eqs.
Aber schon Varius, der erste Editor, habe sie einst entfernt. Wirklicli
stehen sie in keiner uns erhaltenen Vergilhandschrift von erster Hand.
Daß sie von Yergil herrühren und Varius sie fortließ, Avird heute niemand
glauben. Denn sie tragen denselben Stempel bewußter Fälschung wie
der Culex.
Auch hinter Aen. III 204 gibt der Kommentator drei unechte Verse;
aber auch sie fanden in keine Handschrift Aufnahme ; 3) und dazu kommt
noch die seltsame Helenaepisode von 22 Zeilen im zweiten Buch der
Aeneis v. 567 ff., die in unseren guten Handschriften Aviedenun sich gar
nicht vorfindet. Auch Servius kommentiert sie nicht, er zitiert sie nur
im Vorwort zu Buch I, erwähnt sie außerdem zu II 592; der plenior com-
mentarius gibt ihren Wortlaut in seiner Anmerkung zu II 566, mit der ein-
führenden Notiz, Varius und Tucca hätten sie vergessen (ohliti), Avährend
sie nach Servius a. a. 0. „entfernt, ausgeschieden Avorden sind" (suhlati).
') A. Ludwich, Die Homervulgata, i zeigt die P^lision in slhl obstat, die der
Leipz. 1898, S. 140. l Zeit Senecas sonst ziemlich fremd ist,
2) So Aen. 3, 661; 5,595; BCcheler, | eine grade dem Yergil eigentümliche Li-
Ehe in. Mus. 34 S. 623; wird bei Seneca 1 cenz, \gl. uhi ingcns, Aen. 199; Eskuchk
epist. 94, 28 der vergilische Hexameter | im Ehein. Mus. 45 S. 408 u. 386.
mit piger ipse sihi obstat ausgefüllt, so ' ^) Vgl. Eibbeck, Prolegomena S. 273.
III. Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes.
161
Dali Servius sie für unecht hielt, sagt er uns nicht, aber er tadelt
ihren Inhalt. Sicher ist, daß sie nie in einem antiken Yergilexemplar
<ni der Stelle standen, für die sie berechnet sind, kein römischer Leser
hat sie jemals da gelesen, wo wir sie lesen, und nur in Kommentaren
wurden sie weitergeschleppt. Ich bin geneigt, auch diese Verse für
iineclit zu halten, wennschon die Argumente, die sich geltend machen
lassen, nicht vollkommen zwingend sind.i) Daß Vergil an der betreffenden
Stelle eine Heilenaepisode zu geben beabsichtigte, beweisen die Verse 595,
()()1 f. Es wäre also anzunehmen, daß er sie entweder unausgeführt
ließ oder aber, daß er die vorläufig hergestellte unterdrückt hatte. Ein
1 uterpolator suchte nachzuhelfen, aber seine Verse gelangten nie in
dm Text.
Ahnlich Avie hier bei Vergil steht es mit den seltsamen und sicher
sehi' alten Versen Lucili, quam sls mendosiis teste Catone eqs. am Anfang
der Horazsatire I 10.
Ein Produkt historischen Studiums sind die Einschaltungen der
Olympiadenangaben in Xenophons Hellenika, die von Xenophon selbst
nicht herrühren können. Denn wdr wissen, daß dem Datierungsverfahren
der Historiographie zuerst von Timaeus die Olympiadenrechnung zugrunde
gelegt worden ist.=^) Schließlich sei dann noch an einen anderen Historiker,
H ora/
Satv. 1, 10
XtMioph.
Hellenika
^) Das erranti v. 570 widerspricht der
Ortsangabe in v. 458 und 632. Wären die
\'(n-se echt, so müBte Vergil, als er sie
-chrieb, den Standort des Aeneas sich
Inders gedacht haben, als wir ihn Jetzt
im V.458 vorfinden. Der Rettungsversuch
von GrERLOFF, Vindiciae Vergilianae, Jena
um, genügt mir nicht. Was den Text
selbst betrifft, so ist das sceleratas poenas
V. 576 unanstößig (s. die Anmerkung bei
Dei TICKE- Jahn) ; auch conitigium v. 579
lä[3t sich in dem Sinn von commercium
quod Helena cum marito habet verteidigen ;
('S steht also nicht für coniugem. Anstößig
bleibt dagegen das natos in v, 579 (Aeneas
müßte über Helenas Kinder schlecht unter-
richtet sein), noch mehr das beispiellose
iiefas V. 585, das sonst nirgends, auch nicht
( Vitull 68, 89 und Aen. 8, 688, von einer
l*ersongilt, und ebenso die merentes poe7iae
y. 585. Ferner wird im v. 577 bei der Ein-
führung des Selbstgesprächs ein ein-
führendes Verbum im Sinne von inquam
vormißt. In zwei Fällen aber gilt es erst
<lie Lesung festzustellen; denn sowohl im
V. 585 wie 587 wird willkürlich und falsch
geändert. wSchreibt man dort nee habet
vlctorla laudem, so fehlt ein Jiaec; denn
Aeneas spricht nicht vom Sieg im all-
gemeinen, sondern von „diesem" Sieg über
das Weib Helena. Das vermißte haec ist
aber wirklich überliefert, somit ist mit den
Handschriften zu lesen :
namque etsi nullum memorabile
nomen
feminea in poona est, habet haec vic-
toria laudem,
extinxisse nefas, tamen; et sumpsisso
merentis
laudabor poenas animumque explesso
iuvabit
ultricis famae et cineres satiasse
meorum.
Das tarnen ist also weit nachgestellt, und
wir haben habet tamen haec victoria laudem
zu verbinden. Ob Vergil selbst sich solche
Wortstellung gestattete, steht dahin; aber
dies ist ]a allem Anschein nach nicht
Vergil. Sodann befremdet zwar das ultridH
famae am Schluß dieser Zeilen, allein
auch dies ist richtig überliefert. Denn
wenn der Dichter hier explere mit dem
Genitiv konstruiert, so ist das zwar un-
vergilisch, aber es war dafür implere c.gen.
{Implentur Bacchi carnisque u. ä.) das Vor-
bild. Der Sinn aber ist, daß Aeneas seine
Seele mit dem Euhm (fama) genommener
Eache erfüllen und sättigen will, und das
sprachliche Novum besteht hier darin, daß
fama ultrix für fama, ultionis steht; aller-
dings ein Novum, aber nicht ohne hin-
reichende Analogie; denn ganz ebenso
schreibt Properz II 32, 21 fama pudica für
pudicitiae fama. Wo ist da der Unter-
schied'? Wir haben also nicht nötig, hier
für den v. 587 Konjekturen zu machen,
die sämtlich schlechter sind als das Ueber-
lieferte.
2) Siehe Gr. Unger, Die historischen
Glosseme in Xen. Hellenika, Sitz.ber. d.
Münchener Akad. 1882 S. 238.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. 1,3. 3. Aufl.
11
162 Kritik und Hermeneutik.
Josephus an Joseplms erinnert, in dessen Jüdischer Archäologie 18, 8 sich das
' Kapitel über Jesus Christus findet, der gekreuzigt und gestorben und am
dritten Tage auferstanden. Dies Kapitel war lange Zeit ein beliebtes
Zeugnis zur Bestätigung des Evangelienberichtes. Die Unechtheit ist aber
schon im 18. Jahrhundert erkannt worden (Richard Simon und Gibbon).
Die älteren Kirchenväter, denen die Stelle sehr willkommen gewesen wäre,
machen von ihr nie Gebrauch; Eusebius ist der erste, der sie an-
führt. Daß die Stelle da, wo wir sie finden, lose sitzt, ja, den Zu-
sammenhang stört und aucli gar nicht zur Art des Josephus paßt, liegt
auf der Hand.
„Hat Jesus gelebt?*^' Über diese „Frage", die in AVirklichkeit
keine Frage ist, sind in jüngster Zeit Debatten geführt worden, die ich
für höchst überflüssig halte. Dabei hat Arthur Drews die längst ab-
getane Behauptung Avieder erneut, das wichtigste Zeugnis aus der Profan -
Tacit litteratur, das Tacituskapitel Annal. 15, 44, das mit Nennung des Pontius
Pilatus von Christi Hinrichtung unter Kaiser Tiberius berichtet, sei eine
Fälschung. AVarum? Nur, weil es eben von Christus erzählt. Es ist
mir unbegreiflich, wie ein Mann, dem, wie dieser Sachverhalt ergibt,
eine eigentlicli philologische Erziehung fehlt, es unternehmen kann,
über den Textzustand der Tacitusschriften ein öffentliches Urteil ab-
zugeben. Daß das Kapitel echt, sieht wohl jeder Kenner; denn seine
Abfassung zeigte getreu jenen Taciteischen Stil, der nie hat imitiert
werden können imd den man im Altertum auch nie zu imitieren vei-
sucht hat.
Grundsätzo Derartige Interpolationen sind innerhalb des Tacitustextes überhaui)t
"set/irinV nirgends aufzufinden, und das ist begreiflich; denn Tacitus ist nachweis-
^^^^ lieh nie Gep'enstand eines solchen Studiums, das zu freien Einpriffen und
Textumgestaltungen schreitet, gewesen, i) Dies aber gibt uns schließlich
Anlaß, einige Regeln aufzustellen, die für die Ansetzung von Athetesen
ernstlich in Betracht kommen, Forderungen, denen vor allem auch die
fanatischen Interpolationsjäger des 19. Jalirhunderts einst niclit ent-
sprochen haben: ich denke an Hofman Peerlkamp und Lehrs, die
den Horaz, an Ribbeck, der den JuAcnal zerfleischte. Erstlich ist der
Nachweis nötig, daß der betreffende Autor in der Zeit, in der die
angeblich unechten Partien entstanden sein sollen, auch wirklich A^iel
gelesen worden ist; es gilt zu zeigen, ob er da viel zitiert, imitiert
wird, ob er Schulautor Avar. Das trifft schon sogleich für Horaz' Oden
nicht zu. Daher sind auch Properz, Tibull, Sallust^) so unerweitert auf
uns gekommen.
Zweitens aber genügt der Nachweis nicht, daß ein AVort oder ein
Satz oder ein Abschnitt in den Zusammenhang, in dem er sich befindet,
entbehrlich scheint. Die Entbehrlichkeit ist ein zu billiges Argument.
Es muß hinzukommen entweder der NachAveis eines Sinnfehlers oder
eines Sprachfehlers (so steht in Euripides' Medea 262 fjv ey/j^uaro statt
^) E. Cornelius, Quomodo Tacitus in j ^) Das falsche Zitat bei Charisius und
hominum memoria A^ersatus sit, Marburg I Diomedes aus Oatilin. 61, 8 weist nicht
1888 ; Schanz, Rom. Litte ratu rgescli . v:^ 489 a. auf Interpolat
lon.
IIL Die emendatio des als grundlegend erkannten Textes. 163
r/}]UF, SO stellt bei Liicrez I 454 der nom. hitadus für „das Niclit-
l>erühren'% Avelches Wort nur ablativiscli mögiicli) oder der eines metri-
hen Verstoßes (Eurip. Ion 1: vcoroig orgavor^ spondeisches Wort vor
kretischem; Iphigen. Aul. 1580 Anapäst im vierten Fuß des Trimeters),
oder aber endlich der Erweis, daß die Überlieferung selbst schwankt, so
daß die Kritik die Freiheit hat, sich für die kürzere Fassung zu ent-
scheiden und die breitere abzulehnen. Ich bin, beiläufig, gewiß, daß in
Horaz' Oden nicht eine einzige Zeile unecht, auch nicht einmal 4, 8, 17,
r rotz Bentley und allen, die auf Bentley schwuren. Die ganze Ode 4, 8
zerbröckelt ohne diesen inkriminierten Yers. Doch kann dies hier nicht
näher dargelegt werden.
Diese Erörterungen haben uns indes hie und da schon auf das Ge-
biet der höheren Kritik hinübergeführt, und ich werde sie später an ge-
eigneter Stelle wieder aufzunehmen haben.
11
IV. Die höhere Hermeneutik.
A. Persönlichkeit und Werkgattung.
Ich liabe im Yoraufgelienden Beispiele für die minutiöse Arbeit der
emendatio angeführt, die die Pflicht jedes Editors ist. Denn diese Pflicht
wird nie aufhören, und die Zeit ist nicht abzusehen, avo etwa einmal alle
Textschäden sicher geheilt uns vorlägen. Selbst im Persius bleiben zweifel-
hafte Lesungen. Von dieser kleinsten oder subtilsten Aufgabe führt uns
unser Gegenstand nunmehr zu dem Größesten und Umfassendsten weiter,
zu den Fragen der Auslegung der SchriftAverke im höheren Sinne des
Worts. Es sind A'ornehmlich die Fragen nach dem Plan der Werke
und der Dm'chführung des Plans, sodann nach den (Quellen der Werke
und ihi-en Vorbildern.
Bevor ich dieser Aufgabe indes nahetrete, gilt es, ein Wort über
den Einfluß der Person des Autors selbst auf die Natur seines Werkes
vorauszuschicken. Damit nehme ich hier ergänzend die Erörterungen
Avieder auf, die ich früher (S. 64 f.) über den Einfluß der schriftstellerischen
IndiAddualität auf die Sprache angestellt habe.
Früho Es ist notAA^endig und im Ganzen auch durchführbar, jedes Werk
kSrorder einer bestimmten Litteraturgattung zuzuAveisen. Das Altertum selbst ist
Litteratur- uns mit dicscr Klassifikation A'or angegangen, und ihm verdanken Avir
ga unsen ^^^^^ Unterscheidungen. 1) Denn bei der herrlichen Entfaltung der grie-
chischen Litteratur hat sich sehr bald die Theorie ihrer Erzeugnisse be-
mächtigt, sie geordnet, ihre Merkmale festgestellt. Ganz alt sind die
Grundunterscheidungen der ctt?/, des i'a^ußog, vjuvog, di§vQajußog, vofiog öqükk,
Paean u. a. Dabei Avaren manche Begriffe, aa^c rgaycodia, y.ojjucpöia, schon
zu des Aristoteles Zeit schAver zu deuten. Man scliAvankte über ihre Her-
kunft und eigentliche Wortbedeutung. Gleich nach Aristoteles bereicherte
sich dann die Terminologie zusehends; die „Elegie", die bisher zumeist
ejtrj hieß, erhielt definitiA' ihre besondere Bezeichnung, für die verschie-
densten Arten der Melik AA^urden je nach ihrem ZAveck Benennungen:
vjiOQyrjjLia, ejii&aläjuiog, empixot, eyxoji^ua, ''Adcovldia, dacpvrjcpoQiKa u. a. auf-
gebracht und die Ausgaben der betreffenden Dichter danach angeordnet.
In Wirklichkeit ist solche Schachtelung des Schriftbestandes nacli Gat-
tungen natürlich nicht scharf durchzuführen (gewisse Spielarten der Tra-
gödie gehen in die Komödie über, geAvisse Hymnen sind episch u. s. f.),
und das Scliablonisieren beeinträchtigt oft das Verständnis, statt es zu
erleichtern. Doch kam ihm im Altertum die Tatsache zur Hilfe, daß die
A^erschiedenen Künste viel mehr als heute schulmäßig oder genossenschaft-
lich betrieben wurden. Wenn jeder Meister seine Kunst in einem engeren
*) Nützlich sind solclie Arbeiten wie J. Kaa'Ser, De veterinii arte poetica, Leipz. 1906.
IV. Die höhere Hermeneutik. A. Persönlichkeit und Werkgattung. 165
Facli von seinem Vorgänger oder Kollegen wie Plautus von Naevius durch
persönlichen Umgang lernte, so begünstig-te dies die Konservierung des
Typus der Gattungen bedeutend.
Ül)er misere modernen Dichter besitzen wir die zuverlässigsten Bio- Persöniirh-
graphien, oft bis zum unleidlichsten Detail, und können ihre Werke darum
(hirchgängig als Ausfluß ihres persönlichsten Wesens verstehen oder doch
zu A'erstehen suchen. Weil Avir Lessings helle, kluge, scharfe, verstandes-
sichere persönliche Art auch sonst kennen, begreifen wir, wie seine Dramen
so ausfallen mußten, wie sie sind. So ändert sich Schillers Kunst mit
ilim selbst. Goethes Dichtungen sind sublimierte Produkte seiner inneren
Erlebnisse. I^licken wir auf die Antike, so sind wir eigentlich nur bei
< 'icero in der Lage, ähnliches festzustellen, weil unsere biographischen
\ achrichten sonst nicht ausreichen.
Ich rede hier nicht von der Autobiographie, i) auch nicht von den Briet un.i
Kpistolographen, die, wenn nicht im Zweck, so doch in der Wirkung das- i,iotn?phio
selbe Avie jene erreichen. Denn die Epistolographie eines Plinius kommt
der Selbstbiographie gleich. Augustins Confessionen, in denen der fromme
Mann drang^'oU das eigene Leben in überciceronischer Wortfülle noch
einmal dui'chlebt, kommen den Bekenntnissen Ciceros an Atticus sehr
nahe. Und eine solche Selbstdarstellung ist schließlich auch nur eine
Litteraturgattung unter vielen geworden. An dieser Stelle richtet sich
(k\s Interesse vielmehr darauf, inwieweit der Charakter und die tief innerste
Natur der Autoren die Art ihrer Schriftstellerei beeinflußt haben. Wirklich
|)ersönlicli genauer bekannt sind uns außer Cicero nur solche Männer wie
Marc Aui-el, Julian der Apostat und Julius Cäsar. Denn sie gehören
der großen Geschichte an, und ihre Schriften werden daher von uns ganz
besonders mit Hinblick auf den Autor selbst gelesen.
In Marc Au reis Monologen {ek tavrbv) besitzen Avir ein Unikum, Mmk Axuei
(las Lebensbrevier des arbeitsamsten und gütigsten Herrschers, das er sich
selbst geschrieben, und Aver es gern und zur eigenen Seelenstärkung liest,
der Avird sich dabei den Mann der Pflicht, der es geschrieben, immer ver-
gegenAvärtigen. Das Buch ist A\de ein Mensch. Julians erhaltene Schriften .luiiun
sind dagegen feinsinniges Mittelgut, und man wird sie scliAverlich je um
i lirer selbst Avillen studieren. Neben diesen Ich- Werken steht dann Julius .luiius
Cäsar s klassischer Kriegsbericht aus Gallien, diplomatisch zugestutzte ^'"'^'^i'
Relationen, die um jeden Preis objektiv scheinen Avollen und jede Ich-
Färbung ablehnen. Eben in diesem Unpersönlichen trägt das Bellum
Gallicum den Stempel der staatsmännischen Persönlichkeit seines großen
Verfassers. Der Werkcharakter erklärt sich ebensosehr aus dem politischen
Zweck des Werks wie aus dem Naturell dessen, der es geschrieben.
Günstigere Beispiele sind Horaz und Vergil, die wiv aus ihren Viten Vergü und
gleiclifalls bis zu. einem gcAvissen Grade persönlich kennen. Doch das "'"'^^
sind abgesungene Dinge. Vergil Avird uns als mimosenhaft scheu, brav
imd keusch, als dörfliche Natur, dem die großstädtische Reklame nur
Pein schafft, geschildert, und Avir begreifen, daß dieser A'erzärtelte Bauer
M V.ü:1. G. Misch, Gescliichto der Autobiographie, 1, Leipzig 1907.
I
Ißß Kritik und Hermeneutik.
in seinen Büchern vom Landbau sein Schönstes schuf. Die Georgica
haben eine ganz persönhche Note, und eben dadurch ist es möghch ge-
worden, daß in ihnen das vollendetste Lehrgedicht vor uns steht, das die
Menschheit besitzt. Eine eigentliche Kunstanalyse des Werkes fehlt noch
immer. Wer wird sie uns geben? Horaz, der derb zugreifend ver-
ständige, behagliche, joviale, umgängliche Mensch, ein Lebenskünstler aus
Epikurs Schule, der freimütig, gradeweg und unverfroren mit jenen Män-
nern der großen Welt, die Vergil floh, A^erkehrte: so wird er uns ge-
schildert, und so werden uns seine Satiren und Briefe verständlich. Die
Gattung des poetischen Briefes hat Horaz gradezu kreiert. Horaz ist
Dichter der Ansprache und des „Du", und seine meisten Sachen sind
ohne persönliche Adresse nicht denkbar.
Aus dem Naturell derselben Männer erklärt sich dagegen nicht das
Entstehen der Aeneis und der Oden, die sie wohl auch nie zu schreiben
unternommen hätten, wären nicht äußere Ansprüche an iln^e Kunst lieran-
getreten. Der Patriotismus, der litterarische Ehrgeiz schob sie zu diesen
Leistungen vorwärts, und so sind wir nun Aviederum imstande, die offen-
kundigen Schwächen dieser berülmitesten Werke aus der Person ihrer
Urheber selbst abzuleiten. Ich meine den oft so künstlichen, kühl be-
rechneten Schwung der Oden, ich meine die Schwächlichkeit des vergib -
sehen Heldentums, das nichts fertig bringt, als daß die Fata sich ei'füllen.
Vergil, der Landmann, läßt das Scliicksal in seinem Epos wie das Saat-
korn auf dem Feld alhnählich sich selbst ausreifen. Was soll da noch
der MenschenAville? Kaiser Augustus nannte den Horaz in jocoser Weise
pnrissimum penem (Sueton p. 46, 1 R.), und an diesem Wort darf man
nicht ändern. Denn Horaz hatte sich selbst in einer seiner beliebtesten 1
Oden integer vitae scelerisque purus, also purus genannt; dies persifliert «
Augustus mit jenem penis purissimus und gibt dem Dichter zu verstehen,
daß trotz aller puritas bei ihm eine gewisse männliche Lebensfreude stai'k
entwickelt war.i) Denn penis ist so zu verstehen wie Mentida bei Catull
{peni deditum esse Cic. ad fam. 9, 22, 2). Daran also muß denken, Aver
die ethische Haltung, den sittlichen Adel, der die Oden trotzdem aus-
zeichnet, würdigen Avill. Des Horaz Zeitgenossen selbst schien diese Hal-
tung auffälKg. Die Dichtungsgattung AA^rkte erziehend und reinigend auf
den Dichter.
Und Vergils Catalepton? Seitdem Avir Avissen, daß diese Gedichte
persönlichster Note echt, sind sie für die Auffassung des Menschen Yergil
die Avichtigste Quelle. Denn aus der Jugendzeit stammen sie (es sind da
Nummern aus den Jahren 48 — 45 a^ Chr., und der Dichter ist also 22
bis 25 Jahre alt); für die EntAvicklung jedes Menschen ist aber immer
grade die Jugendzeit das Wichtigste. Die Yergihdten Averden an Wert
dadurch herabgedrückt, daß sie die Cataleptonsachen ignorieren. Neben-
') Ich trage diese Erklärung allerdings i 6, 365 neu aufgetauchte Textabsclmitt gel-
nicht ohne Schwanken A'or; denn penin j tend machen, wo wir \. 28 lesen: purum
purus könnte ja auch heißen: „der nichts te contendo vlrmn, d.h. „du bist keine Thais,
ist als ein penis". Für diese Auffassung sondern niclits weiter als ein vir",
ließe sich besonders der im Juvenal hinter
Schließung
IV. Die höhere Henneneutik. A. Persönlichkeit und Werkgattung. 1()7
säclilicli ist, daß wir aus ilinen lernen, daß Yergils Eltei-n wolilliabend,
daß der Vater figulns, Töpfereibesitzer, i) und daß der Dichter selbst, iin
.bilire 49 dÖer 48 von Cäsar als Soldat angeworben, sich für den Waffen-
dienst als zu sclnvächlich erwies; 2) wichtig dagegen, wahrzunehmen, daß
auch dieser später so abgeklärte Menscli seine Flegeljahre hatte, daß er
im Train der frechen Jugend auch lustige und boshafte Spaße trieb (c. 6;
10; 12), ja, tief in den Schmutz griff, um andere damit zu bewerfen (c. 13),
bis in den drei anmutigen Priapeen, mit denen die Sammlung sich er-
Tiffnet, der ländlich idyllische Ton und der Gartenfreund in ihm obsiegt.
Die Genien, die Avir besonders verehren, sind die großen Archegeten,
die Schöpfer neuer Gattungen, die Eröffner neuer Bahnen: wie nachVoll-
<iidung des homerischen Epos Hesiod in den Werken und Tagen und
Arcliilochos in den Jamben endlich die große Tat wagten, von sich selbst
zu reden, die Ich-Poesie zu eröffnen; wie Aeschylus die Tragödie dadurch dorpersön
schuf, daß er die bocksmäßig ausgelassene Liturgie der Dionysien in Athen i'chen
in eine feierlich heilige Handlung umwandelte, das prunkvolle Ögäfm der
Eleusinien auf sie übertrug. 3) Die meisten Charakteristiken der Autoren
aber, die die heutige Litteraturgeschichte zu geben versucht — und auf
sie muß ich hier verweisen — bewegen sicli dabei im Kreise. Denn die
Dicliter sind uns tatsächlicli zu wenig bekannt. Plato gibt uns freilich
im „Gastmahl" von iVi'isto])lianes einmal eine flüchtige BlitzlichtaufnaJime
(sowie Ion von Sophokles): doch ist damit wenig gewonnen. Wir sind
im Grunde doch vielmehr auf die Werke des Aristophanes selbst an-
ge\\'iesen und erschließen, indem wir uns, wie gesagt, im Kreise boAvegen,
aus den Werken den Charakter des Autors, um aus dem so erschlossenen
( 'Iiarakter dann Avieder die Werke selbst abzuleiten. Das gilt von vielen
Autoren. Als lesensAverte Versuche dieser Art seien E. ScliAvartz' „Charakter-
lv<)pfe"*) genannt, das sind solche aus dem Nachlaß der Autoren selbst
(iscldossene Bilder: Thukydides, der illusionslose Mann der Tatsachen;
Pindar, der kunstreichste der Sportsänger und blaublütige Aristokrat u. s.f.
.fedenfalls ist das Wesen dieser Persönlichkeiten für uns in ihrem Werk
gänzlich aufgegangen, und es erschöpft sich darin, Avie die Dryade und
l^)aumseele im W^uchs des Baumes. So stand es einst auch mit den
anderen starklebigen Lyrikern außer Pindar: Alcaeus, Simonides; sie gaben
>ich lebliaft persönlicli selbst in ihren Versen; ja, Alkman, Alcaeus und
Sa|)pho nannten sicli darin sogar selbst mit Namen.
Es gibt für den Biographen freilich noch eine weitere Auslvunft, ein
sinnfälliges Hilfsmittel, das Avir für die Würdigung des Persönlichen be-
sitzen und das im Voraufgehenden unerAvähnt geblieben ist ; das sind die
Porträts oft höchster Meisterschaft, die uns die antike Plastik hinterlassen. 5)
Wie Adelsagend ausdrucksA^oll und fesselnd ist nicht der Euripideskopf in
^) Vergebens ist diose Nachricht neuer- ^) Bei Theokrit, wie Scliwartz ihn
<lings in Zweifel gezogen worden. Sie ; gibt, ist freilich von einem Charakterkopf
wird bestätigt durch das Gedicht XIT mit wenig zu erkennen,
seinem Töpferwitz; oben 8. 121 f. 6) Außer Berxo Ulli \^gl. jetzt A. He k-
2) Siehe Catalepton S. 144. ler, Die Bildniskunst der Griechen und
3) A. Dieterich, Archiv f. Religions- ; Römer, Stuttgart 1912.
Wissenschaft XI S. 181 ff.
Autoren
Ißg Kritik und Hermeneutik.
Neapel, wie klug und sprechend der Aesop in Villa Albani, wie innerlicli
wahr und fein die Deniosthenes, Menander und Posidipp im Vatikan!
Indes von der Anatyse dieser Köpfe auszugehen, um gleichsam aus dem
Ausdruck ihres Angesichts Herz und Nieren, Dichten und Trachten,
Sinnen und Sorgen der Männei- zu erschließen, ist aus mehr als einem
Grunde selbst für den gelernten Physiognomiker prekär; und icli kelire
zu meinem Gegenstande zurück.
Entwick- Es liegt in der menschlichen Natur, daß ein Autor sich nicht gieicli
""fnr^n blcibt, uud bei den Versuchen, von denen ich hier rede, ist es von be-
sonderem Wert, die Entwicklung aufzeigen zu können, die er in seinem
langen Leben durchgemacht. Nach der sprachlichen Seite hin ist das
^verhältnismäßig leicht ausgeführt, und eine Fülle A^on Arbeiten für Xeno-
phon, Plato, Deniosthenes, Livius u. a. legt dies klar.i) Interessant ist
es, Avie sich einmal Augustinus liierüber äußert. Er sagt im Prologus
seiner im hohen Lebensalter A^erfaßten Retractationes § 3 A^on seinen
Schriften: quicumque ida lecUiri sunty rion me imitentnr errantem, sed in
melius proficiscentem; inveniet fortasse quomodo scrihendo profecerim quisqiifs
opnscida mea ordhie quo scripta sunt leger/t. Auch Augustin ist sich also
rückschauend einer Entwicklung nicht nur als Christ, sondern auch als
Stilist bewußt, die jeder Leser seiner Schriften soll bemerken können;
dieselbe ist in allen umfangreicheren Autoren nachzuAveisen. Dies ist
daher die Stelle, avo Avir eine Forderung erneuern müssen: die Forderung
erschöpfender Speziallexika für sämtliche Autoren. Denn nur mit ihier
Hilfe ließe sich die Anschauung einer StilentAvicklung Avirklich gewinnen
und deutlich machen, die eine der Avichtigsten A\ifgaben wissenscliaft-
licher Interpretation ist. Wie Adel Mülie Avürde unseren Piatonikern er-
spart, Avären sie nicht noch immer auf Asts Platolexikon angcAviesen!
Für Plutarcli und die Frage nach der Echtheit seiner Schriften liat
sich die Beobachtung des Hiats, resp. der Vermeidung des Hiats als nütz-
lich erwiesen. Das ist nur eine Kleinigkeit, die ich hiermit zur Spraclie
bringe, aber sie ist geeignet, das Gesagte zu erläutern. Denn es steht
jetzt fest, daß Plutarcli anfangs in der Zulassung des Vokalzusammen-
stoßes sorgloser AA^ar und erst allmählich seine Kunst in dieser Hinsicht
A^erfeinerte. Am Hiat sind also seine Jugendschriften zu erkennen. Be-
sonders sorglich abgefaßt sind z. B. die späten Schriften „An seni sit
regenda res publica" und „De capienda ex inimicis utilitate" ; im Gegen-
satz dazu stehen Jugendarbeiten AAde „De foituna Romanorum", „De Adtioso
])udore", „De esu carnium".^) Ähnlich steht es mit der Beobachtung der
Satzklauseln bei Seneca; auch sie zeigen eine EntAvicklung des Autors. 3)
Wichtiger aber noch als die spracliHche ist die geistig persönliche
Entwicklung der Autoren. Daß des Pindar Dichterleben in drei Perioden
sich abspielt, hat einst schon Leop. Schmidt mit unzureichenden Mitteln
und in zaghafter AVeise darzulegen A'ersucht. Daß Thukydides seinem
*) Demosthenes' Jugendreden weichen communibus notitiis librum genuinum esse
von den späteren sprachlich ab. Siehe demonstratur, Marburg 1907.
BLASS, Att. Eedner ITT S. 245 f., u. s. f. ^) BouROiERY, Eevue de philol. 84
2) Xir]. O. KoLFHAiJS, Plutarchi de S. 167 f.
IV. Die höhere Henneneutik. A. Persönlichkeit und Werkgattung. Iß9
Stoff im zweiten Teil seines AX^erlvs ganz anders gegenüberstellt als im
ersten, ist augenfällig; er hatte inzwischen den Fall Athens erlebt. Xeno-
j)hon bleibt sich als Doktrinär erschrecldich gleich; aber ein Wichtiges,
seine Stellung zu Athen, ändert sich im späteren Verlauf seines Lebens ;
daher seine IIoqoi und seine Schriften über Reiterdienst, auch gewisse
Kapitel im dritten Buch der Memorabilien. Plato beginnt seine Schrift-
stellerei mit kleineren Dialogen, die in Aporien enden; es folgen die
•großen Untersuchungen, die zur Ideenlehre führen; als er alt Avird, schließt
er den Kompromiß der Forderungen der Ideenwelt und der Schein weit,
und der Forscher und Elenktiker wird zum Prediger und Offenbarer
(Timaeus). Auch der Platonische Dialog selbst aber entwickelt sich; denn
erst dient er der Verteidigung des Sokrates (Kriton, Laches), dann seiner
(xlorifizierung (Symposion) ; auch weiterhin bleibt Sokrates der Träger der
l^latonisclien Gedankenarbeit (Staat, Kratylos), bis endlich die Kunst des
Dialogs ermüdet und das Bild des Sokrates selbst gleichzeitig verblaßt
(Parmenides, Gesetze).
Juvenal beginnt erst als Fünfzig"] ähriger, Satiren zu dichten; um
so achtsamer sind seine Schlußbücher darauf anzusehen, daß da ein Siebzig-,
Achtzigjähriger zu uns redet. So halten wir auch gewisse Schwächen im
l\inathenaikos desisokrates dem inzwischen neunzigjährigen Ve;ii'asser zu-
gute.^) Minder ernst ist die Senilität bei Martianus Capella zu nehmen,
der im Schlußgedicht seiner Nuptiae Philologiae et Mercurii allerlei grobe
metrische Schnitzer begeht; das ist nach der raffinierten Weise dieses
Skribenten absichtlich gemacht, um anzudeuten, daß er nun alt gCAvorden
{('((Hpscif, wie er selbst sagt) und seine Kunst in die Brüche geht. 2)
Dagegen nun Avieder Properz; er Avird allmählich Cynthia-müde, mid
der Charakter seiner Elegie A^erändert sich schon im dritten Buch merk-
lich; aber seine Kunst steigert und bereichert sich bis zum Ende. Wie
endlich die großen Theaterdichter, A e s c h y 1 u s , E u r i p i d e s , im technisch
Dramaturgischen und z. T. auch in der Wahl der Gegenstände sich ent-
Avickeln, ist seit langem Gegenstand sorglicher Beobachtung. Ich erinnere
an ü. A^ WilamoAA'itz' Analecta Euripidea. Das gleiche müßte auch für
die zAAanzig Komödien des Plautus nachzuAA^eisen möglich sein; eine
nützliche Vorarbeit dazu ist H. Kellermann, De Plauto sui imitatore,
Leipz. 1903.
Für solche Untersuchungen ist es besonders günstig, wenn sich in
den Autoren zahlreichere SelbstAAdederholungen A^orfinden; denn alsdann
läßt sich bisweilen erraten, aa'O der Autor den Gedanken, um den es sich
da handelt, zuerst bringt und aa^o er ihn nur Aviederholt. Dies ist bei
Plautus leider nicht oft genug nachweisbar, öfter dagegen bei Xenophon,
und kein Schriftsteller scheint für solche Beobachtungen geeigneter als
dieser. Denn Xenophon legt seine kleinen Weisheiten auf das naivste
bald dem Sokrates in den Sokratesschriften, bald dem Kyros in der Kyro-
paedie in den Mund. Besonders A'erräterisch sind die militärischen Vor-
V) Ein milderes Urteil über den Pan- i ^) Vgl. A. Sundermeyer, De re metr.
athenaikos begründet ]^. Wendland in den ' et rlwthmica Mart. ( 'apellae, Marburg 1910,
Xachricliten der Crött. GW. 1910 S. 187 ff. S. 33.
liclion
1 70 Kritik und Hermeneutik.
träge, die Sokrates in Memorab. Buch III hält. Joh. Dahmeni) hat die
Stellen gesammelt, unter sich verglichen und den wahrscheinlichen Schluß
gezogen, daß Xenophon zuerst Memorab. I u. II schrieb, dann die Kyro-
])aedie abfaßte, erst danach das dritte und vierte Buch der Memorabilien
liinzufügte.
Zurück- So weit das Persönliche. Im übrigen bleibt der Satz bestehen, daß
Por"ön-^ die verschiedenen Litteraturgattungen, Epos, Tragödie u. s. f., ihre feste
Tradition haben; die Gattung stellt ihre Forderungen an den Schriftsteller,
und dieser sucht, indem er konzipiert und schafft, das Ideal der Gattung
irgendwie neu zu verwirklichen. Wie die Aufgabe der Ode den Horaz
über sich selbst hinaushob, haben wir vorhin gesehen. Viele aber lösen
die Aufgabe auf eine bequemere Art, indem sie sich begnügen, ihre Vor-
gänger unselbständig nachzuahmen, und an die Stelle des jtoieXv tritt das
Tiaganoiuv. Dahin gehören viele Namen von Komikern, Epikern, Histo-
rikern (man halte etwa Silius Italiens neben Vergil). Attische Redner
Avie Lysias versetzten sich ferner als loyoyQacpoi in die Person ihres
Klienten, und der Klient sprach die Rede, die sie auf Bestellung für ihn
ausgearbeitet hatten; dies war Aviederum eine starke Hemmung des
IndiA'iduellen. Und so bringt es die Litteraturgattung endlich dahin, daß
der Charakter des Werkes zu dem des Verfassers gradezu im Widersprucli
steht. Am Sallust bemerkte das schon das Altertum. Persius A\^ar als
Mensch mädchenhaft sanft; seine Satiren sind bissig und scheltend, als
hätte der Hund Diogenes sie geschrieben. Insbesondere aber ist dieser
Gesiclits[)unkt für die lasziA^e Poesie Avohl zu beachten. Eine i)riapiscli
freche Gedichtgattimg bestand; die anständigsten Leute Avie Plinius (Epist.
4, 4) gaben sich dazu her, gelegentlich einmal für sie einen Vers zu
liefern; sie trugen zeitweilig die Maske des Jambikers. So auch Apulejus
(Apolog. 11); so Ausonius im Cento nu[)tiahs. Nur so wird auch Vergils
Epode, Catal. XIII, begreiflich. Und Catull c. 16 gab dazu das Motto:
casUim esse decet poetam ijjsum. vers/cidos nihil necesse est. War doch
auch unser AVieland ein Biedermann im Leben, frivol in seinen Scliriften.
Ivom
menta
B. Zweck und Plan der Litteraturwerke.
Die höhere Hermeneutik Avendet sich zur Analyse des Inhalts der
Werke. Es gilt den ZAveck des Werkes zu erkennen, und mit dem
Zweck ist auch immer die Litteraturgattung, der es angehört, gegeben.
Aus demselben Zweck des Werkes leitet sich Aveiter der Plan oder die
Disposition des Werldnhalts ab. Diese Disposition ist also je nach dem
ZAveck, d. h. nach der Litteraturgattung A^erschieden. Wir steigen A^om
Einfachsten zum Komplizierten auf.
1. Kommentare.
Sie entbehren der Disposition, da sie nur den Inhalt des Textes ver-
folgen, den sie erklären. AVenn sie molirere Bücher füllen (oben S. 83),
^) Quaest. Xenophonteac et Antistlieneae, Marburg- 1897.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 171
so ist das keine l)isj)Osition, sondern eine Rolle genügte eben nicht, den
ohne Absatz fortlaufenden erklärenden Text aufzunehmen. Die Bucli-
teilung brachte hier keine stoffliche Gliederung zum Ausdruck. Zu unter-
sclieiden sind von diesen Kommentaren die Marginalscholien, die nur
Auszüge aus ihn^n sind und die Vereinigung des zu erklärenden Textes
mit der Texterklärung anstreben.
Der Kommentar kann aber auch die Form der Rede annehmen. Dahin
gehört das Hexaemeron des Basilius (nachgeahmt von Ambrosius), neun
Homilien oder Betrachtungen, in denen die Schöpfungstage der Bibel
naturwissenschaftlich erläutert Avei-den.i) Hier brachte der Zweck sogleich
auch eine Stoffeinteilung.
2. Lexika.
Das Ijexikon (ein übrigens unantiker l^erminus) gi'uppierte die Wörter T.oxika
zuuieist nicht sachlich, sondern in alphabetischer Folge {y.aTa orotyeiov)^
wobei vorwiegend nur der erste Anfangsbuchstabe der AVörter wie beim
Yerrius Flaccus (Festus), vereinzelt auch ihre sämtlichen Buchstaben
(Hesych) berücksichtigt wurden. Verteilte sich solches Lexikon auf mehrere
Büclier, so hatte das Aviederum nur den äußerlichen Grund, daß eine ein-
zelne Rolle eben das Ganze aufzunehmen nicht genügte. Das des Festus
zerfiel in zwanzig Bücher; seltener begann bei ihm mit dem Anfang eines
neuen Buchstabens, Avie 0 und Q, ein neues Buch, sondern die Buch-
anfänge fielen meist mitten in einen Buchstaben; Buch XIII begann mit
dem Wort midus u. s. f. 2) Eine Ausnahme zur Regel bietet die Com-
j)endiosa doctrina per litteras des Nonius Marcellus; denn hier ist der
Sprachstoff auf Sachkapitel wie De proprietate sermonum, de honeste set
iiove dicüs, de hidiscretis generihus u. s. f. verteilt, die Einzelkapitel da-
gegen sind mehrfach alphabetisch geordnet. Dies ist der Hauptsache nach
die Methode, die auch in Pollux' Onomastiken, Suetons Pratum und Ver-
Avandtem heiTSchte.
3. Varia.
GcAvisse Werke, besonders Sammehverke, haben kein Ordnungsprinzip iiawoband
als das der Unordnung oder der AbAvechselung ; es sind solche, Avie
Plutarchs Zi^ujrooiaxd oder des Gellius Noctes Atticae, bei Avelchem Gellius
\\'ir zusammenhangslos hintereinander lesen: „A\de groß Hercules gcAvesen";
„über den Avahren Stoiker, nach Epiktet"; „ob man im Interesse eines
Freundes eine Schlechtigkeit begehen darf" ; „über eine Stelle in Cicero
])ro Cn. Plancio" u. s.f. u. s.f. Die Kapitelteilung mit Kapitelüberschriften
ist in solchen AVerken ausgebildet. Hieran reihen sich Aelians Bunte Ge-
scliichten und überhaupt die Litteratur der nayrodaTid, die Aveite Aus-
dehnung hatte. Ich nenne noch des Antigonos Karystios Iotoqimv iraga-
()6to)i' avvaydiy}). Ferner gehören aber auch die „Vermischten Gedichte"
der Alten hierher: Statins' Sih^en und schon CatuUs nugae, das „A^arium
Carmen", das auch im Versmaß Avechselt.») Dabei herrscht ])ei Dichtern
1) A'gl. Paul Plass, De Basüii et 2) Vgl. ed. (). Müller p. XXXI f.
Ainbrosii excerptis ad historiam animaliuiii •'') Siolu^ Voigil Oataleptoii S. 124.
pertinentibus, Marburg 1905.
X72 Kritik und Hermeneutik.
Avie Catull und Horaz in dem scheinbaren Wirrwarr doch ein feineres
Anordnungs})rinzip, nach dem zu forschen von großem Interesse und
nicht ergebnislos ist.i)
4. Anthologien und Exzerpte.
Digesta Ein frülies berühmtes Beispiel für „Blütenlesen" war der oTeqaros
des Meleagros; er ordnete die Epigramme, die er aus verschiedenen
Autoren sammelte, wenn nicht durchgängig, doch streckenweise alpha-
betisch. 2) Die große Palatinische Anthologie, die uns vorliegt und erst
im späten Mittelalter zustande kam, gruppiert die Gedichte statt dessen
unter Sachrubriken, ^(jonixä, tjTnvfißia usw. \\'elches das urs[)rüngliche
Ordnungsprinzip der lateinischen Anthologie des codex Salmasianus '^) war,
ist nicht leicht zu ermitteln, und es liegt auch Avenig daran. Jener Pala-
tinischen Anthologie aber kommen prinzipiell die Pandekten Justinians,
kommt auch das Sammelwerk des Oribasios über LandAvirtschaft und des
Stobaeus großes Florilegium gleich, drei gewaltige Thesauren antikei-
AVeisheit, die erst unter der Herrschaft des CodexbucliAvesens entstanden
sind. Den drei Werken gemeinsain ist die Anordnung der Exzerpte in
Ka])iteln und unter Überschriften, die nach einem durchdachten SA'stem
angeordnet sind. So gibt das Florilegium des Stobaeus im Kap. I die
Überschrift mi f^eoQ dfjjuiovgyog und bringt uns dann ein P]uripidesfragment
über den Aether, der Zeus ist, dann des Arat Proöm, dann den Zeus-
hymnus des Kleanthes etc.; sein zweites Kapitel gibt Belegstellen unter
der Überschrift Tiegl iTQovoiag, das nächste lautet negl dixijg u. s. f. Ganz
ebenso sind in Justinians Digesten die Exzerpte aus den römisclien Juristen
nicht nur auf fünfzig Bücher, sondern auch in den Büchern kapitelweise
übersichtlich unter Überschriften A^erteilt, I 1 de iustitia et iure; I 2 rJe
origine iur'is\ \^ de legibus; 14 de consfitufionibus principum u.hA. Dies
Verfahren aber ist antik; denn nicht anders steht es schon mit Yalei'ius
Maximus und seiner Anekdotensammlung, deren Inhalt unter Über-
schriften A\de de religione, de prodigiis, de somniis, de fortitudine, de mode-
ratione sich auf eine Fülle A'on Kapiteln A^erteilt. Das geistige Verdienst
und die selbständige Arbeit besteht bei diesen Sammlern eigentlich nur
in der Einteilung, in der getroffenen AusAvahl und in der Formulierung
der Überschriften.
Es folgen
5. die Historiker.
Drei Hier pilt es drei Perioden zu unterscJieiden. Die ältesten Histoiiker,
^d(>r'" ^^'i^ Herodot, Thuk^^dides und Xenophon, disponieren noch nicht naeli
Hitorio- Büchern, da zu ihrer Zeit noch jede Buchteilung fehlte, sondern erzählen
giap ne ^^^ großen Zuge, AA'ie der Stoff sie treibt, Thukvdides jahrAveise, nacli
Sommern und Wintern. Beim ersten Aufkommen der obligaten Buch-
teilung regte sich sodann der Trieb, jedes Buch nun auch sachlich zu
verselbständigen. Von Ephoros lieißt es bei Diodor 5, 1: tojv yno ßißhov
1) Für Catull s. Philolog. 63 8. 647 bis | ^) Ant. Buchwesen S. 388 f.
471 und Ehein. Mus. 59 8. 448: für Horaz" ^) 8iehe xVnthol. lat. ed. Eiese Bd. I.
Oden M. 8chaxz, Eöm. Litt. i< 256.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 178
Fy.äoTt]v TTFnobjxe jiFoieyeiv xara yevoc; rag nQa^eig. Ebendeshalb wurde es
bei den Historikern damals, und zwar in Nachahmmig der Lehrschrift-
stellerei, auch zur herrschenden Sitte, jedes Buch mit einem Proöm zu
\ersehen, durch das es verselbständigt wurde; s. Poljb und Diodor.^)
Späterhin schreibt auch Apjnan noch so xaiä yevog. Übrigens sucht
Polvbius von BuchYII an immer je zwei Jahre in einem Buch abzumachen,
so daß wenigstens in gCAvisser Regelmäßigkeit Buchschluß mit Jahres-
schluß zusammenfällt. Etwa mit Livius beginnt eine dritte Periode; das
angegebene Verfahren wurde jetzt größtenteils Avieder aufgegeben, die
Proömien der einzelnen Bücher nach dem Vorbild des Epos abgeschafft,
zugleich aber jedes Buch nach demselben Vorbild des Epos wie eine
Phapsodie inhalthch möglichst abgerundet und kurz gerafft. Meister in
dieser neuen Kunst der Erzählung ist schließlich Tacitus, der wie ein
p4Üker, nein, wie ein Dramatiker jedes Buch gern mit einem eindrucks-
vollen Ereignis abschließt, Ann. XI mit Messalinas Tod, XII mit dem
H'od des Claudius, und so oft. 2)
Zur Geschichtschreibung gehört gewissermaßen auch der griechische Homan
Eoman, insofern er die Form der Geschichtserzählung nachahmt. Den Über-
gang vom Historienwerk zum Roman vermitteln die Heldenbiographien,
wie sie ims in der Kyropädie des Xenophon und des Pseudo-Kallisthenes
.\lexandergeschichte vorliegen. Während aber diese Werke die Erzählung
bis zum Tod ihres Helden führen, beschränkt sich der Liebesroman darauf,
sein Geschick so weit zu verfolgen, bis er mit der Geliebten vereinigt ist;
d.h. er ist in seiner Konzeption dramatisch, sentimental komödienhaft. Auch
an diesem Roman ist nun aber oftmals dieselbe Geschicklichkeit in der Ver-
teilung des Stoffs, die wir eben an Tacitus hervorhoben, wahrzunehmen.
P)esonders kimstvoll ist der Stoff in den „Ephesischen Geschichten" des
Xenoplion Ephesius durch eine Rahmenerzählung zusammengefaßt. 3)
Auch von dem Satirenw^erk des Petron und von des Apuleius Meta-
morphosen könnte man hier reden.-*) Doch unterscheiden sich beide
grade durch das, was ihnen gemeinsam ist, vom Roman öder von der
ei-fundenen Historie; nämlich dadurch, daß beide Ich-Erzählung sind. Dazu
kommt, daß das Werk Petrons sich selbst als „satura" charakterisiert und
Apuleius sich als Milesischen Erzähler ausgibt (vgl. oben S. 105 f.). Dies
führt uns also zur Novelle und zur Menippeischen Satire hinüber.
6. Die kleinere Erzählung und die historische Kleinarbeit.
Die kleinere Erzählung kann den verschiedensten Zwecken dienen und Rhapsodie,
tUilier auch vielgestaltig bald diesen, bald jenen Gesetzen gehorchen. Ich
erwähne in aller Kürze 1. die Rhapsodie, aus der das große Epos erst ent-
stand — die Batrachomyomachie ist ihre Parodie — ; 2. die Hymnenerzählung
nach Art des schönen homerisclien Demeterhymnus ; 8. die gesungene Ballade
1) Genaueres gibt E. Laqueur im j Rahmenerzälihing in den Ephesischen Ge-
Hermes 46 S. 161 ff. I schichten des Xenophon von Ephesus,
2) Vgl. Antikes Buchwesen S. 137 f. i Innsbruck 1909.
3) Allerlei künstliche Entsprechungen | *) Daß Petron eine schon vorliandene
der Teile dieser Erzählung suciit O. Sems- \ Romanlitteratur parodiert, also voraus-
SEL VON Fleschenberg nachzuweisen : Die setzt, zeigte R. Heinze, Hermes 34 S. 494 f.
174 Kritik und Hermeneutik.
(lesBakchylides; endlicJi 4. das alexandrinisclie Epyllion, für dasCallimacluis
in der Hekale ein Muster gab. Die Nereusode des Horaz, I 14, ist Bal-
lade und erklärt sich erst aus des Bakclwlides Vorbild. Balladen obszönen
Inhalts waren auch die „Oden" des Laevius. Wesentlich anders sind
dann aber wieder solche bildmäßigen und doch so dramatisch erzählten
Ausschnitte aus der Sage, wie des Moschos Europa, in epischer Zeile, und
wieder anders Reposians Concubitus Martis et Veneris, Anthol. lat. 25H:
eine glüliend pathetische Schilderung, als erlebten wir eine Theaterszene.
Tiorfahoi, ^\^f q\qj^ Gebiet der Prosalitteratur aber unterscheiden Avir 1. die
"Tierfabel Aesops, die erst in verhältnismäßig später Zeit sich in Verse
kleidete; 2. das Märchen, sublimiert in des Apuleius Amor und Psyche
(met. 4, 28 ff.); 8. die milesische Novelle, die sich als Anekdote mit
lasziver Pointe bezeichnen läßt; Beispiel die Matrone von Ephesus bei
Petron cap. 111; 4. die satirische, d. h. parodistische Erzählung, die ebenso-
oft mit feinen Avie mit groben Mitteln arbeitet; für sie ist Senecas Claudius-
satire das glänzendste Beispiel; der Verfasser tut so, als sei er Historiker
und wollte protokollarisch feststellen, was an dem und dem Tage in Rom
und im Himmel passiert sei (volo memor'mc f rädere): eine Manier der Er-
zählung, die auf Menippos zurückging und uns auch aus Lucian, aus
Varros Menippeen bekannt ist; auch Lucilius Avar schon Aon ihr beeinflußt.
Die lachhafte Schreib Aveise springt hier oft in den erhabenen Ton, die
Prosa in den A^ers über; ZAveck aber ist nicht die Parodie, sondern die
Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen; Ernst im Scherz: gjiovöo-
yfAoiov. Zorn und Entrüstung stehn überall im Hintergrund der Satirc,
auch Avo sie zum Sclnvank Avird.
Aiono- Alles bisher Aufgezählte war aber nur Dichtung oder plauA^oUe Ent-
stellung gegebener Tatsachen. Wichtiger ist der ernsthafte Tatsachen-
bericht, erstlich in der Gestalt der historischen Monographie, wie sie
in Sallusts Jugurtha und Catihnari scher VerscliAvörung A^or uns steht.
Dies sind gleichsam Einakter der großen Geschichtschreibung; ich habe
sie einmal als „historische Tragödien" bezeichnet, i) eine Auffassung, die
dann A^on Reitzenstein ausführlich begründet Avorden ist.^) Die Theorie
für solche Monographien gibt Cicero in seinem Brief ad fam. 5, 12.
Bioo:rai.iiic Es folgt dic Biograpliic, oft gedrängtester Form, aa^c bei Cornelius
Xepos, die dann aber bei ihren lierA^orragendsten Vertretern zum Umfang
eines halben, ja, eines ganzen Buches sich ausAvächst. Eine Litteratur-
geschichte, AA^ie Avir sie haben, fehlt im Altertum; nur Ansätze dazu gibt
Cicero im Brutus, OA'id im Buch II der Tristien, und Serien A'on ßioi Avie
in Varros Werk De poetis traten an die Stelle. Die Biographie hat
sich aber in zAvei Typen entAA'ickelt,^) dem Plutarchi sehen und dem Sue-
tcmischen; der erstere Typus AAahrt im Lebenslauf die natürliche Zeitfolge,
(Xer zAveite schachtelt Ereignisse und Eigenschaften in bestimmte Rubriken.
Das reiche Belegmaterial für die litterarische Form der Biographie hat
Leo geordnet und gesichtet.^) Spielarten sind Xenophons Agesilaos und
1) Eöm. Littoratur^-oschichtc, 2. Aufl., ^) Ich sehe hier \^on der (halo(i;i8ch(Mi
S. 70. ; Form des Sat^-ros ab.
-) Helk^nistische WinKh'rerzäliluiii^en ^) Die griechisch-römische Biographie
S. 87 f. j nach ihrer Jitterarisclien Form, Leipzii;-
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 175
der Agiicola des Tacitus. Auch die Biographie aber kann satirischen
Ton annehmen, oder: die Satire kann sich auch der Form der Biographie
bemächtigen; dafür geben Ciceros zweite Philippica, Lucians Peregrinus
und Claudians Eutrop brillante Belege.
Von der Biographie sondert sich dann, vornehmlicli im Verlauf der Märtyrcr-
Kaiserzeit, die IMärtyrerlitteratnr ab, die Erzählungen von den exitus or-
risontm. Man kann sagen, daß diese Märtyrerlitteratur schon mit Piatos
Phaedon, der uns das Sterben des Sokrates schildert, anhob. Dann aber
nniß sicli dafür eine feste Erzählungsform, mit krasser Ausmalung des
Schreckliclien und stark betontem Unwillen gegen die Staatsgewalt, aus-
gebildet haben. Eine vSammlimg solcher Geschichten in drei Büchern,
('./■ff US occlsorum mit relegatornm a Nerone gab es z.B. von C. Fannius;i)
und daraus haben sich auf natürlichstem AYege die christlichen Märtyrer-
akten entwickelt. 2) Man darf dabei aber niclit vergessen, daß schon die
l^>iograp]iie selbst auf die Schilderung der Sterbeszene besondere Sorg-
falt zu verwenden pflegte; und das Interesse für die „ultima verba" der
dargestellten Persönlichkeit gehört nicht nur den Evangelien an.
Aber noch andere Gestalten kann die Erzählung annehmen, weil sie Aictaionic
noch anderen Zwecken dient. Dem Trieb zur abenteuerlichen Phantastik,
dann aber speziell der Religion und dem wundersüchtigen Gläubigen
dient die „ Wundergescliichte", die Aretalogie. Die dQerakoyia sucht eine
Person zum Gott oder zum Propheten Gottes zu erheben; sie geht dabei
nicht streng biographisch vor, setzt an irgendeinem Punkt ein und erzählt
nur ihre Avunderbaren Leistungen bis zum plötzlichen Ende und zur Ver-
klärung (vgl. schon Terenz Ad. 535). Feinsinnig hat E,. Reitzenstein diesen
Begriff bestimmt, die Gattung der hierher gehörigen Litteratur umgrenzt
imd dargestellt. 3) Der Ton dieser Aretalogien galt als geschwätzig;*)
denn sie waren für die Masse der Ungebildeten bestimmt. Hierher ge-
liört das Buch Jonas, die Erzählungen vom Apollonius von Tyana, Lucians
\4h]d})g ioTooia, weiter die große litteratur der christlichen Heiligenleben;
dann zieht die Aretalogie aber auch das Kleid der Dichtkunst an und
steht vor uns in den Dionysiaka des Nonnos : dem Epos von den Wunder-
taten des Bacchus und seiner Gottwerdung.
7. Lehrschriften.
Sehen wir von ])roblematischen Fällen, den voralexandrinischen Giiedemn.
Autoren, insbesondere Aristoteles ab, so war es in mehrbücherigen Lehr- ^„^1„.hv,V
Schriften obligat, daß jedes ]^uch in ihnen sein besonderes Proöm erhalte;
d.h. die Lehrschrift zerlegt ihren Inhalt stets in Sachgruppen, jede Gruppe
zu einem Buch, und die Proömien, die dabei oft plauderlustig den Cha-
rakter des Exkurses annehmen, liaben den Zweck zu orientieren, aber
1901. Als nützlich darf auch die vorauf- : forscliung I S. 29 f.
liogende Arbeit von W. L. Schmidt, De 1 *) Vgl. liierüber bes. E. Reitzexsteix
homanornm imprimis Suetonii arte bio- in Nachrichten der Göttinger CAX. 1904,
grapliica, Marburg 1891, in Erinnerung Heft 4, S. 325 f.
gebracht werden. ^) Hellenistische Wundererzählungen,
1) Plinius Epist. 5, 5. Vgl. noch die ' Leipzig 190().
• hei von Bauer besprochenen, nicht-christ- ; *) garnüc, l'orphyrio zu Horaz Sat.
Hellen Maitvrien im Archiv f. Papyrus- \ 1, 1, 120.
]^76 Kritik und Hermeneutik.
auch der Ermüdung zu wehren, die ein trockener Lehrgegenstand leicht
mit sich bringt. So steht es — ganz abgesehen von den dialogischen
Lehrschriften, über die hernach — mit Cicero de inventione, so mit Vitruv,
Lukrez, Yarro de lingua latina, Yergils Georgica, Manilius, Columella u. s. f. :
immer jedes Buch ein mit Vorwort versehener, dui'chaus abgesonderter
Lernstoff. Wie dabei z. B. die Lukrezproömien sich in feiner Weise gegen-
seitig ergänzen, ist von Sonnenburg dargelegt; i) doch trifft dasselbe auch
bei anderen zu. 2) Weil Ovids Fasti ganz ebenso angelegt sind, daher
gehören sie zur didaktischen Poesie iind nicht zur Epik. Weil umgekehrt
der Ars poetica des Horaz ein solches Proöm fehlt, daher ist sie kein
Lehrgedicht, und die Briefform, die Horaz wählte, ist ernst zu nehmen.
Durchsichtig ist weiterhin das Fachwerk der 'Disposition auch noch in
des PUnius encyklopädisch umfassend aufgebauter Naturgeschichte, auch
noch bei Pausanias, dessen Topographie je eine Landschaft in je einem
Buche zu absolvieren sucht. Dabei muß man bewundern, wie es den
Verfassern gelingt, jeden Sachteil dem E/aumzwange der Buchrolle an-
zupassen; denn man hielt stets auf gleiche Länge der Einzelbücher. Nur
den Cornificius ad Herennium trifft der Vorwurf der Unsymmetrie, wemi
wir nicht anzunehmen haben, daß sein ungefüges sogenanntes viertes
Buch noch weiter in Bücher zerfiel, Avas die Buchinskriptionen in den
Handschriften selbst nahelegen.
8. Redekunst.
Rhetorik Li der Hcdekunst ging von fi'üli an laut und deutlich die „Rhetorik",
die theoretische Lehre, neben der Praxis her. Die Analyse einer Rede
des Demosthenes oder Cicero ist also an der Hand der erhaltenen theo-
retischen Vorschriften leicht zu geben. ») Auskunft gibt für die ältere Zeit
Aristoteles' Rhetorik und die Rhetorik ad Alexandinim, später Cicero
selbst, Dionys, Quintilian und die Masse der sonstigen Rhetores graeci
und Rhetores latini minores, die wir in Sammeldrucken lesen. Auch noch
Claudian baut seine Panegyrici in Versen genau nach den Vorschiiften,
wie sie uns bei Menander für die Lobrede vorliegen.*)
Dis- Nach ältester Auffassung war die Prozeßrede dreiteilig: jiqooijuiov,
äyMpeg, imloyog, dann vierteilig: jiqooijuiov, jigodeoig (Darlegung des Gegen-
standes), moTig (Beweisführung), emXoyog. Später sondert man fünf Teile:
1. Proöm, 2. dit]yt]oig {narratio), 3. morig {prohatiö), 4. Xvoig (refutatio),
5. Epilog (peroratio). Dabei kann der narratio noch eine jrgoexß^eoig vorauf-
gehen ; ferner kann der Redner auch seine Disposition, divisio, selbst formu-
lieren und eine Mitteilung darüber einschalten. Doch tut dies Cicero nicht
oft. Das Proöm aber war in der gesprochenen Rede besonders unentbehr-
lich und ist von hier aus in die Didaxis und in die Geschichtschreibung
gelangt. Man arbeitete sie auf Vorrat. So haben wir eine Sammlung
von 56 jiQooifjLia des Demosthenes, die echt sind.
1) Rhein. Mus. 62 S. 33 ff. Griechen und Eömer, 2. Aufl. : über das
2) Siehe G. Engel, De antiquorum epi- 1 Stilistische bes. E. Norden, Die antike
corura didacticorum historicorum prooe- Kunstprosa, 2. Aufl.
miis, Marburg 1910, S. 41. "*) 0. Kehdtng, De panegyricis latinis.
3) Ygl.R.VoLKMANx, DieEhetorikder Marburg 1899.
Positionen
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 177
Die Keden reichten meistens eine Buchrolle anzufüllen nicht aus, Roden aui
und mehrere standen in einem Buch beisammen, wie die drei Caesarianae ^^^^^^
Ciceros.i) Ciceros Rede pro Caecina füllte freilich just ein Buch; 2) sie ist
t'-ben grade so lang wie die drei Caesarianae zusammen. Wenn es von
Oalvus 21 libri gab,») so bedeutet das also nicht 21 Reden ;*) es können
viel mehr gewesen sein. Ein Monstrum sind dagegen Ciceros fünf Bücher
Yerrinen, die zusammen ein Redeganzes ausmachen. Sie sind bekannt-
lich nie gesprochen worden.
9. Kleinere Gedichte und Briefe.
Reizvoll ist es, aber mitunter mit Schwierigkeit verbunden, Plan,
Aufbau und Gedankengang von Gedichten geringeren Umfangs klar-
zulegen. Ich denke dabei weniger an die Hirtengedichte, die sich oft
schon durch ihre dialogische Form von selbst gliedern, auch nicht an
Statins' Silvae, deren Verfasser die beste rhetorische Schulung verrät.
Ich denke zunächst an die Elegie.
Auf dem Gebiet der Elegie herrscht leider noch immer das stimipf- Elegien
sinnige Verfahren, die Gedichte, sie seien auch noch so lang, oline jeden
Absatz abzudrucken, so daß jede Einsicht in ihren Aufbau unmöglich
wird. Solch moUuskenhaft gliederlose Gedichtkcirper sind ein furchtbarer
Anblick. Einige Analysen Prop erzischer Elegien sind im Rhein. Mus. 38 Proper»
8. 197 ff. und 51 S. 492 ff. gegeben. Ihr Aufbau ist gelegentlich gradezu
dramatisch, wie in II 10, wo im ersten Teil (v. 1 — 12) der Dichter die
Absicht äußert, den Augustus besingen zu wollen, im zweiten (v. 13 — 18)
sogleich ein kurzer Panegyricus auf den Augustus wirklich folgt, im
dritten aber (v. 19 — 26 inclusive v. 7 u. 8) der Dichter plötzlich abbricht,
sein Unvermögen bekennt und zur Erotik zumckkehrt. Ganz so bcAvegt
sich auch des Phaedrus Fabel 4, 7 in drei Stationen, ganz so auch Horaz'
Ode I 2. Nur auf diesem Wege der Betrachtung ist endlich auch die
F]inheitlichkeit des scheinbar chaotischen Properzgedichtes IV 1 zu retten.
Bisweilen sind, wie eben Properz IV 1 zeigt, sogar die Gedichtgrenzen
kontrovers, und es handelt sich darum, sie zunächst festzustellen; man
muß wissen, wo das Gedicht anfängt und avo es aufhört. Daher die Frage
nach der Zerlegung des homeiischen Apollohymnus, nach Catulls acht-
undsechzigstem Gedicht, Properz carm. II 29, nach des Horaz Plancus-
ode I 7. Bisweilen ergibt sich dann bei näherer Betrachtung die Er-
kenntnis, daß zwei Gedichte einander fortsetzen, wie Properz I 8a und 8b:
das eine die Klage darüber, daß Cynthia treulos Rom verläßt, das zweite
(dn Ausbruch des Jubels, daß sie den Dichter erhört hat und bleibt. Der
Zusammenhang ist da so eng, daß im Gedicht 8b v. 37 quamvis magna
daret das Subjekt zu darrf fehlt, das aus dem vorigen Gedicht zu ergänzen
ist. 5) So zerfällt auch die sapphische Horazode IV 6 in zwei selbständige
Bestandteile, die doch sachlich zusammenhängen : im ersten Teil, v. 1 — 28,
betet Horaz als Chordirigent zum Apoll um Hilfe, im zweiten redet ei-
1) Buchwesen 8. HOT f. ! ^) Siehe Wochenschrift f. klass. Philo! .
2) Quintilian 5, 10, 98. i 1896 S. 1284.
3) Tacit. Dial. 21. , ^) VKl-Berl.philol.W.schr. 1898 S. 1261.
Handbuch der klass. Altortumswissenschaft. 1, 3. 3. Aufl. 12
178 Kritik und Hermeneutik.
ermunternd seinen Chor an, der nun singen soll; denn es handelt sicli
um die bevorstehende Aufführung seines SäkularHedes.
Tibuii "Wo bei ruhiger Betrachtung der Plan nicht von selbst herausspringt,
ist das Gedicht schlecht. Besonders Tibull macht bisweilen unleidliche
Schwierigkeiten. Er hat die erotische Elegie zum umfangreicheren Ge-
dicht erweitert, besonders durch Steigerung des betrachtenden Elements.
Aber einige dieser Gedichte rinnen daher wie süßer Schleim (man ver-
zeihe den Vergleich), und wer am Ende ist, hat den Anfang vergessen.
Tibull ist ein lieblicher und feinfühliger Verskünstler, aber in solchen
Fällen ist er kein Dichter; denn Dichten heißt Komponieren; und die
viele Tinte und Mühe, die man neuerdings zur Klarlegung seiner Inten-
tionen verbraucht, zeugt unerbittlich gegen ihn.
Chorlyrik jj^ ^qj. griecliischcn Chorlyrik war durch das Triadengesetz oder aucli
schon durch Strophe und Antistrophe eine natürhche Verteilung des
Stoffes und der Gedankengruppen gegeben. Freilich greift der gram-
matische Satzbau bei Pindar oft noch von der Strophe zur Gegenstrophe
oder zur Epode hinüber. Jedenfalls aber ist selbstverständlich, daß
zwischen den stollenartigen Versgruppen eine musikalische Entsprechung
bestand; im Gesang der Strophe und Gegenstrophe repetierte dieselbe
Melodie, und hier haben nun die Dichter solche E-epetition bisweilen in
äußerlich sinnfälliger Weise durch Stich werte im Text markiert, die an der-
selben Stelle der Melodie wiederkehren und auf die acht zu geben nötig
ist. Sie können uns gelegentUch zur richtigen Auffassung der Vers-
gruppen anleiten, so wie in Sophokles' Antigene die anapästischen Gruppen
V. 141 — 147 und 155 — 161 sich entsprechen. Daß dies der Fall, beweist
das Stichwort xoivov, resp. tcoivm in den Schlußzeilen 147 u. 161. i) Im
Oedipus E/Cx fiel v. 495 das Wort Oidijzoda just auf dieselben Singnoten
wie das Wort fjöviioXig v. 510. Daher ihr Gleichklang. 2)
Satire ZuT Eigenart der Satire gehört die gesuchte Planlosigkeit des Ge-
plauders, die gern in medias res sich stürzt und es dadurch oft sehr
schwer macht, den Grundgedanken, der doch aUes zusammenhalten soll,
herauszufinden. So steht es z. B. mit des Persius drittem Stück, das
gleich so beginnt: Nempe haec assidue? „Macht er es immer so? Er
kann seinen E-ausch nicht ausschlafen. Schon ist es Mittag — da end-
lich greift er zum Buche . . .": hingeworfene Szenen aus dem Leben eines
einsichtigen, aber entsclilußunfähigen Menschen und eines anderen, der
nicht einmal Gut und Schlecht im Leben zu unterscheiden weiß. Man
sehe 0. Jahns Analyse des Gedichtes. Ganz ähnlich steht es mit des
Horaz Ars poetica: ihr Grundplan versteckt sich absichtlich, aber er ist
vorhanden. 3)
Die Satire des Persius — und zum Teil auch schon die des Horaz —
») Vgl. oben S. 111.
2) lieber solche Stichworte vgl. G.
Jacob, De aequali stropharum et anti-
stropharum in canticis conformatione,
Berlin 1866 ; Masqueray, Formes lyriques,
1895, S. 105.
nella S. 279 f. Nordens einsclüägiger Auf-
satz, Hermes 40 S. 481 f., befriedigt mich
nicht, da er die Hauptschwierigkeit nicht
erklärt, weshalb nämlich bei Horaz die
Behandlung des Satyrspiels v. 220—250 so
breiten Raum einnimmt und an eine offen-
3) Hierüber bei A. Dieterich, Pulci- \ bar besonders betonte Stelle gestellt ist.
Cynische
Diatribe
Pin dar
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litter atur werke. 179
ist eben stark dui'chsetzt von den Eigenarten der cynischen Diatribe oder
der Kapuzinerpredigt, für die Bion von Borysthenes ein Muster war und
die besonders rein in Teles, dann auch in Seneca, Musonius und Epiktet
in verschiedener Abwandhing vor uns steht, i) Charakteristisch ist für
diese Predigt nicht nur das häufige kurze Zwischensprechen eines Mit-
iinterredners, der sich meistens sehr naiv und kurzsichtig äußert; sondern
überhaupt der lebhafte Sprechton, der mit kurzen Sätzen, mit Frage und
Antwort, mit drastischen Beispielen aus dem gemeinen Leben das erregte
Gespräch realistisch kopiert; vor allem aber die scheinbare Planlosigkeit
in der Anordnung. Demi nur ein paar Schlagworte deuten an, was dem
Verfasser diesmal die Hauptsache ist; die Abschweifung, der Exkurs ist
Regel und gibt oft das Beste. Gern wird dabei von irgendeinem be-
kannten Diktum ausgegangen, das scheinbar der Zufall hereinwirft, ganz
so, wie auch unsere Predigten von einem Texteswort ausgehn.2)
Welcher Gegensatz, wenn wir uns hiemach noch einmal zu den
Siegesliedern Pindars wenden! Diese Enkomien haben, so überraschender
Wendungen sie sich auch bedienen, doch einen ganz typischen und leicht
erkennbaren Aufbau: Einleitung, eingelegter Mythus, Schluß, Avobei sich
Einleitung und Schluß auf den agonistischen Anlaß des Lobhedes be-
ziehen. Komplizierter war dagegen die Anlage des Nomos des Terpander,
und ~R. Westphals Hypothese, 3) daß die Disposition dieses Nomos auf
Pindar eingewirkt, scheint unnötig und ist aufgegeben.-*) Noch unglaub-
licher ist m. E. die wiederholt aufgestellte Hypothese, CatuUs Gedicht 68 B
sei nach diesem entlegenen Vorbilde gebaut. Sogar für den Panegyricus
Messallae hat man auf Terpander verwiesen, s) während der in Hexametei'
gebrachte Panegyricus, Avie schon seine Titelaufschrift anzeigt, vielmehr
aus dem Prosapanegyricus abzuleiten ist.^)
Ein besonderes Wort verlangt vielleicht auch noch die beschreibende
Dichtkunst. Das köstlichste Werk der Art, ist die Moseila des Ausonius. "iichtung!
Wir wüßten gern, nach Avelchen Gesetzen Ausonius seine Mosella schrieb? Moseiia
ob ohne alles Vorbild? Aber wie kam es dann, daß dieser sonst so zwergige,
philologische und unursprüngliche Dichter grade in der Moseila ein Meister-
werk schuf? Denn wir lesen sie heute noch mit besonderer Freude. Hosius'
hübsche Mosellaausgabe beantwortet uns leider unsere Frage nicht. Jedenfalls
ist zum Verständnis der Sache hier wieder vom eyxMjuiov auszugehen. Die
griechischen Stilisten lehren, daß es nicht nur eyxMjuia auf Personen, son-
dern auch auf Orte, x^9^ ^^^^ Tiohg, gibt;') dafür ist des Sophokles' Lob-
lied auf Kolonos vielleicht das erste Musterbeispiel gewesen (s. dort das
Scholion). Dazu nehme man das Lob Athens bei Isokrates Paneg. 21 — 132.
Auch das Laudabunt alii claram Rhodon eqs. des Horaz weist auf ähn-
Nomos
Geo-
') Auch Phönix von Kolophon sei
verglichen; s. Ad. Gerhard, Phoenix von
Kolophon, Leipz. 1907.
2) Vgl. E. BuLTMANX, Der Stil der
paulinischen Predigt, Göttingen 1910, S. 10
bis 64.
3) Prolegg. zu Aeschylos' Tragödien,
1869, S. 69 f.
<) Siehe z. B. ed. Ohrist p. XOIX.
6) O. Crusius, Verhandl. der 39. PhUol.-
Vers. 1887 S. 258 f. ; F. Wilhelm in Fleck.
Jbb. 1896 S. 489 f.
6) Vgl. Kehding a. a. O.
7) Genethlius p. 344 und schon Quin-
tüian 3, 7, 26.
12
180 . Kritik und Hermeneutik.
liehe Länder oder Städte verherrlichende Dichtungen. Dann wissen wir,
daß Octavian eine Sicilia schrieb, daß Lucilius, der Freund Senecas, den
Aetna schildern wollte oder sollte. Bald genug kam dann aber die
Sophistik der Kaiserzeit, und sie hat sich in solchen Schilderungen, die
Avir noch besitzen, geübt, Avie des Aristides Reden auf Rom, auf Athen,
auf Eleusis.
SKtpgaou übrigens gehört auch die ex(pQaoi<; im spezielleren Sinne, ich meine
die Schilderung und Auslegung von Kunstwerken, zur beschreibenden
Dichtung. Auch sie trat zeitweilig gern im Verse auf, wie der Hercules
epitrapezios des Statins ; aber es siegte auch hier die sophistische Prosa, in
Philostrats Gemälden oder in den enkomiastischen Statuenbeschreibungen
des Kallistratos. Die Kunstbegeisterung äußert sich bei Kallistratos in
einer hymnenliaften Prosa, i)
Ausonius hat nun die Länder beschreibenden Enkomien, von denen
ich spracli, wenn ich nicht irre, dadurch übertroffen, daß seine Mosella
zugleich ein Reisegedicht ist. Die Bilder schieben sich; alles ist in Be-
wegung; mit dem Fortschritt des Gedichtes schreiten wir von Ort zu Ort.
Im Zusammenhang hiermit kann auch noch ein Wort über den Brief
gesagt werden.
Gelegen- Wir unterscheiden den Gelegenheitsbrief vom Kunstbrief. Vom Ge-
^/ ^ legenheitsbrief sind zahlreiche Belege in den ägyptischen Papyri auf-
getaucht; 2) klassische Belege für ihn gibt uns Cicero. Cicero gibt uns den
intimen Brief als Selbstbekenntnis, den Brief als Erkundigung, den diplo-
matischen Brief, den Geschäftsbrief, den Trostbrief, den Empfehlungs-
brief u. s. f. ; nur nicht den Liebesbrief. Diese von Meisterhand geschrie-
benen Sachen sind wegen ihrer Unmittelbarkeit und ihres freien Wurfes
oft so köstlich wie Catullische Gedichte.
Kunstbrief Vom Gelegenheitsbrief ging nun die Gattung des Kunstbriefes aus.
Horaz hat ihn wunderhübsch in Verse gebracht und dabei noch vielfach
den Charakter der Lnpro\äsation gewahrt: an Bullatius, an Albius, an
Tiberius, an Florus, an Vinius: woraus sich auch erklären mag, daß von
Horaz das erste Buch seiner Briefe so viel schneller fertiggestellt worden
ist als irgendeins seiner anderen Bücher. Noch flüssiger in der Fassung,
aber viel eintöniger Ovids elegische Briefe ex Ponto. Dann aber bevor-
zugt der Kunstbrief doch die prosaische Form, und hierfür ist Plinius
der Klassiker, Symmachus und ApolHnaris Sidonius seine geschraubten
Nachahmer. Die Briefe des PHnius lesen sich wie Gelegenheitsgedichte.
Zunächst haben sie wirklich dem Briefverkehr gedient, waren doch aber
zugleich von vorneherein für die Veröffentlichung bei Lebzeiten bestimmt,
sind daher auf das feinste durchgearbeitet und stehen in jedem Buche
so angeordnet, daß man die Absicht erkennt, den Leser zu unterhalten
und dm'ch Mannigfaltigkeit und Wechsel der Themen so zu ergötzen,
Avie es damals etwa ein Martialbuch oder ein Buch der Silvae des Statins
tat. Die Dichtkunst flüchtet sich in den Prosabrief, und zwar mit Glück.
^) Genaueres gibt Jetzt P. Fried- *) Vgl. St.Witkowski, Epistulae pri-
LÄNDER, Johannes von Gaza, Leipz. 1912, vatae graecae, Leipz. 1906.
Einleitung. j
rV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 181
Wie füi" alles andere, hat die Stillehre der E;hetorik natürlich auch
für die Abfassung von Briefen ihre Vorschriften gegeben, i) Insbesondere
fordert sie, daß der Brief sich im /ot^apir?)^ ioxvog und xaQieig bewege. 2)
Auch die große Sammlung der Epistolographi graeci zeigt überall den
Einfluß dieser Theorie. So endlich auch der Liebesbrief, der selten wie
bei Properz lY 3 im Verse auftritt 3) und für den uns der späte Aristainetos
die Hauptbeispiele liefert.*)
Für den Interpreten ist nun aber der Unterschied groß. Der Kunst-
brief interpretiert sich gewöhnlich leicht; denn er ist, wie ein Gedicht,
ein in sich geschlossenes Ganze und bringt zumeist alles das selbst her-
bei, was zu seinem Verständnis nötig. Ganz anders Ciceros Moment-
briefe, die vieles nur andeuten und voraussetzen, Avas damals sein Adressat
Avußte, wir aber nicht wissen. Sie bieten deshalb zahllose Schwierigkeiten
im Großen und Kleinen. 0)
Schließlich noch ein Wort von der „Symmetrie" der Teile in kürzeren Symmetrie
Kompositionen, von der auch die Prosaiker bisAveilen reden. <^) Claudian
liebt es, daß geAvisse Abschnitte in seinen Gedichten dekadisch just 100, auch
just 10, just 30 oder 40 Verse umfassen, und so enthält auch das Proöm der
Ciris genau 100 Zeilen; 7) ebenso hundertzeilig das Proöm im dritten Buch
der Ars amatoria Ovids. Dabei stellt sich dann Aveiter mehrfach auch eine
Entsprechung der Teile ein, die nicht immer auf Zufall beruhen kann.*)
Nur darf man solcli Zahlenschema nicht zur Forderung erheben und da
suchen, aa^o es sich nicht findet (oben S. 147). Für Theokrits achtes
Idyll stellt sich z. B. folgendes Schema heraus: Einleitung 32 Verse;
erster AVettgesang der Hirten 28 Verse, dazu 4 A^erlorene Verse, gibt
wieder 32; endlich zAveiter Wettgesang 20 Verse; nimmt man dazu den
Schluß des Gedichtes mit 12 Versen, so gibt das abermals 32. Es ver-
lohnt immerhin, derartiges Avahrzunehmen. Neuerdings hat Arthur Lud-
wich auch für den Bau der homerischen Hymnen einen Zahlenschema- Home-
tismus A^ermutet, auf den ihre Komposition sich wesentlich gründen soll. Hymnea
Der Hermeshymnus enthält 580 Hexameter, die durch 10 und auch durch 4
teilbar sind; dies sollen für Gott Hermes selbst bedeutsame Zalilen sein,
da A^or der Geburt die Mutter ihn zehn Monate unter dem Herzen trug
imd er dann am vierten Tage des Monats geboren Avurde; der Apollo-
hymnus aber ist, unzerlegt, durch 7 teilbar, und Apoll AA^ar AAdederum am
siebten Monatstage geboren. 9) Es mag sein, daß die frommen Dichter
mit solchen „sakralen Zahlen '^ Avirklich ihr geheimes Spiel trieben. Hier
aber Avirklich Strophen zu je zehn oder je sieben Versen herzustellen.
^) Vgl.HERCHER, Epistolographi graeci
S. 1—16.
2) Demetrius Tieoi so/u. 223.
3) Mythographisch in Ovids Heroides.
■*) Für diesen Gegenstand ist H. Peter,
dor 1, 41; Plutarch Consol. ad Apollon.
S. 114 C.
') Siehe ed. Olaudiani p. CCXVIII f.
8) Auch im Catullgedicht 64 ; s. Ehein.
Mus. 50 S. 51 Anm.: auch in Horaz' Ars
Der Brief in der römischen Litteratur, zu i poetica; s. A. Dieterich, Pulcinella S. 285
vergleichen: Abhandl.d.sächs.GW. Bd. 47,
1903, Nr. III.
5) Vgl. Tyrrell and Purser, Cor-
respondence etc. in 5 Bänden.
*) agf/ovia oder or/if^tstgia xov koyav Dio-
U.290; auch in der Ciris; die Bede v. 224 ff.
und die Antwort \^ 257 ff. geben dortselbst
je 26 Verse (Bücheier).
*) A. LuDAViCH, Homerischer Hymnen-
bau, Leipzig 1908.
182
Kritik und Hermeneutik.
Horaz
Odo 1 18
wäre vergeblich, da ja Strophenscliluß und Satzende vielfach gar nicht zu-
sammenfallen würde; in xaTo. oxiyov abgefaßten Gedichten kann aber nur
der Satzschluß den Strophenschluß anzeigen. Es kommt hinzu, daß eine
Strophe von einer Länge von zehn Hexametern musikalisch schwer vor-
stellbar, ja, gradezu ein Unding scheint, i)
Argumenta Evidcut ist dagegen wieder ein anderes Zahlenspiel, das Klotz an
den argumenta zu den römischen Dichtern wahrnahm; die argumenta zu
den Büchern des Lucan haben stets zehn Zeilen, deshalb, weil von Lucan
zehn Bücher existieren, die zu Statins' Thebais haben je zwölf Zeilen,
weil die Thebais zwölf Bücher hat.«)
Dies führt auf die „caimina figurata", jene Künsteleien, die da im
Schriftbild ihrer Verse die Figur einer Syrinx oder eines Flügels nach-
ahmten. 3) Sollen und dürfen wir weitergehen? Die Horazode I 18 Niillam
Vare sacra vite prius eqs. besteht aus 16 Zeilen, die Zeile aber just aus
16 Silben. Das Gedicht gibt somit gradezu ein Quadrat, da es gleichsam
16 Silben Höhe und 16 Silben Breite hat. Denn man maß die Schrift-
zeilen nach Silben, nicht nach Buchstaben. Sehr ähnlich steht es auch
mit Claudians drittem Fescenninum, das eine zwölf silbige Zeile just zwölf-
mal bringt. Hier betreten Avir den schlüpfrigsten Boden, und die Kom-
bination droht zur öden Spielerei zu werden.
10. Drama.
Beim Drama tritt an den Interpreten, der seiner Pflicht voll genügen
will, eine Fülle von Anforderungen heran. An einschlägigen tiefdringenden
Vorstudien und Detailarbeiten fehlt es nicht, doch brauchen und vermissen
wir immer noch bis heute eine moderne Dramaturgie des antiken griechisch-
römischen Kunstdramas, die das Ganze umfaßt, und nur ein Mann, dei"
zugleich Philologe und Künstler ist, würde sie uns angemessen geben
können. Die aufzuwerfenden Fragen betreffen Ausstattung, Vortrags-
weise, Führung der Handlung, Effekt des Ganzen. Genauer genommen
ist über Folgendes zu handeln, wobei ich besonders auf das attische Drama
des 5. Jahrhunderts acht gebe. Es versteht sich, daß ich hier, wie immer,
nui" die Auf gäbest eilungen vorführen kann, in der Beispielgebung mich
noch mehr als sonst werde beschränken müssen.
Anforde- a) Schou dic Spielgelegenheiten, an den Lenaeen und großen
"*"spSi- ^^ Dionjsien, hatten auf den Inhalt der vStücke einen gcAvissen Einfluß.
Gelegenheit j)gj^j^ nur ZU den großen Dionysien im Früliling strömte das Pubhkum
aus ganz Griechenland herbei, und die Komiker hatten daher die groben
Scherze, die sie im Winter an den Lenaeen gegen Athen und die Athener
richten durften,*) an den Dionysien zu vermeiden. Der Umstand aber,
daß A^on den Tragödien an jedem Spieltag eine Trilogie nebst Satyrspiel
zur Darstellung kam, bedingte die verhältnismäßige Kürze der ein-
zelnen Stücke. Dabei stellte sich die Prometheustrilogie Avie ein ein-
ziges Drama in drei gewaltigen Akten dar. Sonst pflegte dagegen jedes
*) In den „Aeschylea" 1909 und
„Aeschylea et Aristophanea" 1912 hat
Lud WICH die Betrachtung dieses heiligen
Zahlenspuks auch auf v^eschylus (Eume-
niden) und Aristophanes ausgedehnt.
2) Arch. f. Lex. 1908, S. 270 f.
3) Hierüber „Buchrolle" S. 286.
*) Siehe Acharn. 504.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 183
Stück der Trilogie in sich abgesclilossen zu sein und mit seiner „Fabel" für
sich zu stehn. Man muß sich also gegenwärtig halten, daß der scheinbar
unauslöschhche Eindruck der Medea des Euripides durch ein unmittelbar
ilarauf folgendes Stück von ganz abweichendem Sujet stark gedrückt wurde.
Darum scheint es auch, daß für das dritte Stück die stärksten, sinnfälligen
P]ffekte gesucht wurden; dies zeigt uns der Chor der Eumeniden.
b) Die Handlung zerfällt in Akte, Epeisodien. Die Chorlieder, ur- Akte
s[)rüngUcli das Wesentlichste, sanken bald zur Zwischenaktsausfüllung mit
Tanzreigen und Intermezzo meist ohne Handlung herab. Jedes Drama
zerfällt also in Prolog (dieser fehlt noch in den ältesten Sachen), Einzugs-
lied (Parodos); danach die Epeisodien oder Sprechszenen der Histrionen,
verschieden an Zahl und durch Lieder des in der Orchestra verharrenden
Chors, Stasima, unterbrochen; endlich die Exodos. Wo der Chor in der
Tragödie felilt, wie in Senecas Phoenissen, muß er im Text ausgefallen
sein; oder das Drama liegt uns in unfertigem Zustand vor. Die Zahl
der Epeisodien scliAvankt zwischen drei (x4.jax) und acht (Frösche). Seit-
dem die alte Komödie iln^en reich ausgestatteten Chor verloren, trat bei
ihr eine gleichgültige Zwischenaktsmusik ohne Tanz ein, die von ein paar
Sängern zur Flöte geliefert wurde. Ein xM/iog unterbricht die Handlung;
Plautus zeigt das einmal selbst an, Bacch. 107. i) Im Menandertext steht
an den betreffenden Stellen xoqov vermerkt. 2) Diese Vermerke fehlen
leider im Plautus- und Terenztext, und daher macht seine Akteinteilung
ScliAvierigkeiten bis heute. Schon Varros verlorene Schrift „De actibus"
beschäftigte sich augenscheinlich damit. Daß Varro fünf Akte forderte,
ist unerwiesen. Seneca hat an eine solche Einteilung seiner Tragödien
sicher noch nicht gedacht. Erst die späten Terenzerklärer Donat und
Euanthius geben uns Winke, zeigen aber zugleich ihre Unsicherheit in
dieser Frage. 3) Auf Grund hiervon ist erst im 16. Jahrhundert die Ein-
teilimg in fünf Akte im Terenz eingeführt worden, die wdr heute vor-
finden, die aber gar keine Gewähr hat. Viel glaublicher scheint eine
solche in drei, die sogar für den Heautontimorumenos sicher steht (Ein-
schnitte nach V. 409 und 873), für die Andria höchst wahrscheinlich ist
(Einschnitte nach v. 300 und 819).*)
c) Einrichtung der Bühne. Wo standen Schauspieler und Chor? Szeuisches
Leider hatten die antiken Texte keine Szenarien und Bühnenanweisungen,
€S sei denn ein ävavevei, emvevsiy Aristoph. Acharn. 113 f.,^) und wir sind
für diese Fragen auf mühsame Kombinationen angewiesen. Was uns
Euripides' Orest und Sophokles' Ajax zeigen, daß Chor und Schauspieler
miteinander in nächste Berührung kommen konnten, das hat auch noch
sonst vielfach gegolten. Gleichwohl stand der Schauspieler oft hoch (oben
1) Die Worte sind: simul huic nescio *) Vgl. die nützliche Darlegung von
(■Kl tiü'hae quae huc ü, decedamus; vgl. Leo, H. Keym, De fabulis Terenti in actus
Hermes 46 S. 292 f. dividendis, Gießen 1911.
2) Dies yoQov auch in einem Papyrus- ^) Solche jiaQsmyQuq^ai erwähnt das
lest aus dem 2. Jahrh. v. Chr. : s. Bulletin 1 Heliodoreische Scholion zu Aristoph. Ach.
de corresp. hellen. 1906 S. 103 f. Uebrigens ; Einleitung, wo erhellt, daß dieselben
E. Bethe, Ber. der säclis. GW. Bd. LX ! bei der Stichenzählung nicht mitgezählt
(1908): Der Chor bei Menander. I werden.
3) Siehe z.B.Donatp.38ed.WESSXER. '
1^4 Kritik und Hermeneutik.
S. 114 — 116). Aus dieser Nähe, in der sich die Personen des Stückes zum
Chore befanden, muß sich ferner erldären, daß die späterhin bei Plautus
so häufigen, ob unbelauschten, ob belauschten Seitengespräche in den
Dramen des 5. Jahrhunderts noch fehlen. Wie aber war sodann der Fels
aufgebaut, an den Aeschylus den Prometheus schmiedet? wie stand es
mit der Wanderkulisse am Anfang der Frösche? Gab es schon einen
Vorhang, der die szenischen Vorbereitungen dem Publikum verdeckte?
Warum stirbt im attischen Drama außer Alkestis und Hippolytos kein
Held auf der Bühne ?i) warum tötet Herakles seine Kinder im Haus? und
warum verfährt Seneca in solchen Fällen anders? Dies muß mit sehr
äußerlichen Dingen zusammenhängen und führt scliließlich auf Kostüm-
fragen und Verwandtes.*)
Zahia.T.n- ^\ j^^q\^ ^uf die Zahl der Schauspieler und der Chorsänpfer ist
lung des ' ^ . ^ o
Personals acht ZU geben. 3) Kommt Aeschylus in den Septem noch mit seinen zwei
Schauspielern aus? Wie verteilen sich z. B. im Oedipus Rex die acht Rollen
auf die drei Histrionen? Warum bevorzugt Euripides in der Alkestis
Männer als Choreuten, während sonst Frauen zumeist bei ihm den Chor
bilden? Bestand der Chor in des Aeschylus Hiketiden (d. i. Danaiden)
wirklich aus fünfzig (oder gar hundert) Personen, wie die Fabel es an die
Hand gibt? Der Chor der Komödie teilte sich nachweislich in Chor und
Gegenchor (drrot>^/)); stand es in den Tragödien überall oder auch nur bis-
weilen ebenso, und wie läßt sich in ihnen diese Teilung des Chorpersonals
alsdann auf den Text anwenden? Der Versuch, dies festzustellen, muß in
den meisten Fällen scheitern. Denn selten ist die vSachlage so deutlich,
wie in der Alkestis. Daß oftmals die einzelnen Choreuten sich einander
anreden oder ansingen, steht fest. Dagegen dient die Annahme, daß in
der Tragödie Halbchöre, also auf beiden Seiten je sechs oder sieben
Stimmen zusammen, sangen, nirgends zum Verständnis des Textes der
Chorgesänge.
Gesang u. ^ Dics führt auf die Art des Vortrags überhaupt. Der Schau-
spieler spricht nicht nur, sondern er singt auch; er war auch Virtuose im
Gesang, und zwar singt er entweder im Z wiegesang des Kommos mit dem
Chore oder monodisch, Monodien, die sich in den jüngeren Tragödien
aus stropliischer Anordnung mehr und mehr zum änokElv fievov entwickeln.
Vor allem aber verändert sich die Funktion des Chorliedes im Drama im
Verlauf der Zeit wesentlich, so auch seine Versmaße. Mit der Betrach-
tung der Versmaße hängt femer die Frage nach der Musik, nach den
Tonarten, nach den Tanzfiguren zusammen. Von der evjueXeia, dem feier-
lich ruhigen Chortanz der Tragödie, unterscheiden sich xögda^ und oixtvviQy
der y.öoda^ der Komödie, die oixivvig im Satyrspiel. Die attische Tragödie
gleicht dem Oratorium, aber einem solchen mit beweglichen Solisten und
Chorpersonal.*)
1) Wie ein Motto hierzu klingt das Neue Jahrbb. Bd. 27 S. 339 f.
^ yoLQ oyug ov jidga im Oedipus Eex 1238. j '■^) Kelley Rees, The so-calJed ruie
*) Aristoteles' Poetik cap. 11, 6 spricht | of three actors in the classical Greek
nur vom Sterben, nicht von Tötungen auf
offener Bühne. Wir können solche nir-
gends nachweisen außer bei Seneca; s.
drama (Dissertat.), Chicago 1908, gelangt
zu falschen Schlußfolgerungen.
*) Vgl. neuerdings 0. Conradt, Die
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteratur werke, 185
Auf diese technischen Erörterungen folgen solche der dichterischen
Konzeption. Es handelt sich
f) um die Wahl des Stoffes, die, wie jeder sieht und auch Aiisto- stoffwahi.
teles sah, das Wichtigste ist. Aktuell historische Stoffe (wie die Perser) "^^^^
wurden in der Tragödie deshalb nicht beliebt, weil zu ihrem Wesen die
Wehklage, der xo^ijudg oder &Qi]vog, gehört (in Sikyon wurden schon früh
die jidd)] des Adrast dargestellt, Herodot 5, 67), und man solch Wehklagen
über Angelegenheiten des Vaterlandes und Erlebnisse der nächsten Gegen-
wart nicht ertrug. Die wirksamsten heroischen Stoffe entnahm man nicht
dem echten Homer, sondern dem sogenannten epischen Zyklus in Er-
gänzung Homers. Der Stoff wird alsdann aber frei umgestaltet und an
Figuren bereichert. Das Streben geht natürlich ferner zumeist dahin,
Neues zu bringen und das Repertoir zu bereichern, doch greifen die
tragischen Dichter öfters auch in Konkurrenz zu demselben Stoff. Hier-
für sind die drei erhaltenen Elektren ein lehrreiches Beispiel; wer sie
unter sich vergleicht, lernt die ArbeitsAveise der Tragiker auf das beste
unterscheiden. So halte man die Medea, den Oedipus, den Hercules
furens des Seneca neben seine griechischen Vorbilder. Wenn nach dem
Tode des Sophokles und Euripides die tragische Dichtimg Athens, wie
auch Aristoteles Poetik c. 14 uns bezeugt, i) sich immer mehr auf die Be-
handlung weniger Stoffe beschränkte, so ist darin ein Erlahmen der
schöpferischen Phantasie, ein Rückgang der Dichtkunst zu erblicken. Es
siegt der Trieb zu virtuosenhafter Ausmalung bekannter Situationen.
Wichtiger noch als auf dem besprochenen Gebiet ist der Wechsel in Komödie
der AVahl der Stoffe auf dem Gebiet der Komödie. Denn die Geschichte
und Umwandlung der Komödie aus der aQxaia in die fieorj und vea be-
ruht gradezu auf diesem Wechsel. Die Komödie muß stets Neues bringen,
die Tragödie nicht.*) Ein Menander konnte keine „Ritter" mehr schreiben,
aber auch die Parodien und sonstigen Spezialitäten der fueor} lagen hinter
ihm. Darin aber blieb das Lustspiel sich gleich, daß es seine Fabel, ihr
Gerüst, sei es noch so lose, stets frei erfindet, während die tragische Kunst
ihren Gegenstand prinzipiell aus der Hüstorie, d. h. aus der Mjthographie
entlehnt. Immerhin nähern sich dabei einige Tragödien, wie Helena und
Ion, der freien Erfindung der Komödie.
e:) Ein erstes Erfordernis für die Gestaltunp: des Stoffes ist die Ein- i^^inheit-
. . . . liclikeit der
heitlichkeit der Handlung. Nur ein Aristophanes weiß davon noch Handlung
wenig; denn die alte Komödie ist Posse und di-amaturgisch nahezu gesetz-
los, besonders im Schlußteil, nach dem Agon.») Auch der Agon ist nicht
ständig, also für die Komödie nicht einmal Avesentlich. Stücke wie die
Vespen, Wolken und Frösche zerfallen in zwei nur sehr lose verknüpfte
Teile, und auch mit den Dramen eines Antiphanes und Alexis stand es
wohl oft nicht viel besser.
Grundlagen dor griechischen Orchestik I gegenseitig korrigieren, von Th.Zielixski,
und Rhj^thmik, 1909; dazu Berliner phil. ' Die Gliederung der altattischen Komödie,
W.schr. 31 S. 1291. j Petersburg 1885; J. Poppelreuter, De
*) Vgl. Stemplinger a. a. O. S. 141. j comoediae Att. primordiis, Berlin 1893;
2) Vgl. Stemplinger S. 138. I W. Süss. Rhein. Mus. 63 S. 12 ff.
') Lehrreich die Arbeiten, die sich
18ß Kritik und Hermeneutik.
Wohl aber hat die vea jene dramatm-gische Forderung von der Tra-
gödie geerbt und treu übernommen. Denn der Tragödie erstes Erfordernis
ist eben die Einheitlichkeit ihrer Handlung. Es ist nun also Ungeschick
des Dichters, Avenn sein AVerk so in zwei Handlungen auseinanderfällt
wie Euripides' Herakles; auch desselben Hekabe und Andromache sind
daraufhin anzusehn. Aber auch Plautus verfehlt es gelegentlich darin:
ich nenne seinen Miles und Stichus. Im Miles kann man diesen Mangel
auf ungeschickte Kontamination zweier Vorlagen zurückführen, im Stichus
gewiß nicht.
Episodo Ijj^ solchen Fällen haben wir zwei Handlungen statt einer. Ein anderer
Fehler, der störend zu wirken scliien, war die Episode, die nur dem Epos
zusteht. So wurde die Teichoskopie in des Euripides vielbewunderten
Phoenissen als störende Episode empfunden. Aristoteles tadelt sogar die
Aegeusszene in der Medea, obgleich sie für das Drama nicht entbehrhch
ist, dessen Schlui^wendung, Medeas Übersiedelung nach Athen, durch sie
motiviert wird.i)
jtaQEKßaaiq Vou dicscr Episodc ist dann wieder die Gesprächsabschweifung,
iraQey.ßaoig, zu unterscheiden, die bei Plautus als Dialog, mehr noch als
Monolog und als Canticum die Handlung überall staut und aufhält. Diese
Einlagen hat offenbar Naevius ebenso gehabt, der sie zu seinen polemischen
Ausfällen benutzt haben muß. Ein frühestes krasses Beispiel dafür sind
die aristippischen Betrachtungen über Lebenskunst im Miles v. 629 ff. 2)
Wie lax ist noch diese dramaturgische Technik! Man wird darin eine
Nachwirkung der jueot] zu erblicken haben. Terenz beseitigt sie radikal;
er gibt uns den echten Stil Menanders.
Exposition 1^^ j)[q Exposition der Vorgeschichte gibt im Drama der Prolog
(wo er fehlt, die Parodos). Dieser Prolog wird oft wirkungsvoll als Dialog-
szene gestaltet (z. B. Prometheus, Ajax, Alkestis);^) Euiipides aber wan-
delte ilin zumeist in einen ans Publikum, gerichteten Vorbericht um,
wodm'ch es ihm gelang, die Jiddi] der erlebenden Personen hernach um
so gesammelter und kondensierter vorführen zu können. Diese Art der
Exposition, die auf alle Illusion verzichtet, übernahm' alsdann die neuere
Komödie, und erst Terenz befreite sich von ihr.*) Ihre Erklärung aber
findet sie in dem Umstand, daß Theaterzettel zm- Orientierung des Pubh-
kimis fehlten. Ebendeshalb hält der Dichter 0) auch darauf, daß, wenn
Auftreten Personcu ncu auftreten, sie von einem der Mitspieler sofort deutlich mit
rersonen Namou angcrcdct werden, damit die Zuschauer gleich erfahren, Aver es ist,
der da erscheint. Dabei ist dies Auftreten der Personen selbst oft recht
naiv veranstaltet und mangelhaft motiviert. Wir sehen es oft nicht ein,
weshalb die Leut« eben jetzt gewandelt kommen oder ihr Haus verlassen.
Denn das müssen sie auf aUe Fälle, kein Drama spielt im Hausinnern.«)
^) Ueber den Zweck der Aegeusszene *) Terenz hat die ihm eigentümliche
WiLAMOWiTZ, Hermes 15 S. 481 f.: H. D. 1 Prologform freilich nicht selbst erfunden:
Naylor, Olassical Eeview Bd. 23 S. 189 f. | s. Reitzenstein, Hermes Bd. 35 S. 625 f.
^) Freilich nicht die neuere Komödie.
^) Auch nicht die Kindbettszene im
Truculentus, die Toilettenszene in der
Komödie s. W. Süss, Rhein. Mus. 63 S. 13. Mostellaria u. ähnl. Plautus ließ derartiges
'^) Ygl. F. Ranke, Periplecomenus
Marburg 1900, S. 65 ff.
^) Ueber den Prolog in der alten
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 187
i) Nach dem Urteil des Aristoteles sind nächst der Fabel das Zweit- charakter-
wichtigste im Drama die Charaktere, rd ij&i]. Ihre Darstellung ist aber '^"*^*"""^
speziell die ProAanz der Komödie ; denn nur die Komödie bringt detaillierte
Charakterdurchführimgen, Charakterstudien, indem sie den Typus des
Renommisten, des Geizigen etc. auf das sorgfältigste schildert. Oft tritt
dabei auch eine ethische Entwickelmig, eine Bessei-ung oder Belehrung
des verkehrt gerichteten Menschen, wie in der Aulularia, im Trinummus, in
den Adolphen, oder die Reue der Jünglinge ein, wie in den Epitrepontes.
Im Gegensatz hierzu gibt die Tragödie 7id§rj, nicht ri§ri (Phaedra erliegt
ihrem jid&og u. s. f.), imd sie kennt von Charakteren nur wenige Nuancen,
wie den Mutigen und Zaghaften (Antigene, Ismene), den Redlichen und
Durchtriebenen (Neoptolemos und Odysseus), den Keuschen (Hippolytos),
Trotzigen (Kreon), bösartig Frechen (IGytämestra), den Rachsüchtigen
(Medea). Erst Euripides zeichnet die Figuren ab und zu mehr komödien-
haft, ja, genrehaft, wie den Ion und die Iphigenie in Aulis. So unter-
nimmt Euripides es aber ferner auch schon, die Charaktere unter dem
Einfluß ihrer Erlebnisse sich entAvickeln zu lassen, aber dies geschieht
noch tastend und ungeschickt, wie gleich dieselbe Iphigenie uns zeigt..
Der Umschlag darf nicht so unA^ermittelt und sprunghaft kommen, Avie
es hier geschieht, wo die Titelheldin anfangs als schüchterne Jungfrau,
dann plötzlich als großherzige Heroine erscheint.
Ein wichtiges Hilfsmittel für die Charakterzeichnung ist der Monolog. Monolog
Eine Geschichte des Monologs hat F.Leo gegeben;!) ich kann hier nicht ver-
suchen, sie zu vertiefen. Wir haben dabei das Ins-Publikimn-sprechen des
Schauspielers vom eigentUchen Selbstgespräch sorglich zu unterscheiden.
vSolch lautes Selbstgespräch, in dem die Person ihr eigenes Gemüt anredet,
ja, sich gelegentlich selbst TÄt Namen anruft, hält bei uns Nordländern Adel-
leicht nur der Trunkene ; die südlichen Völker sind lebhafter, und man kann
es da zu seinem Staunen auch von durchaus nüchternen Leuten in aus-
gedehntem Maße hören. Daß das auch in jenen alten Zeiten so war, be-
zeugt z. B. Lucian im Anfang des Ikaromenippos, wo Menippos zu sich
selbst spricht: „Dreitausend Stadien Avaren es also von der Erde bis zum
Mond, imgefähr hundertfünf zigtausend bis zm- Sonne" u. s. f. und ein
Bekannter auf der Straße ihn interpelliert: „Was treibst du da für Astro-
nomie? Ich gehe schon lange hinter dir her." Darauf A^ersetzt Menipp:
„Wundere dich nicht; ich überschlage bei mir selbst das Avichtigste Er-
gebnis meiner letzten Reise": TZQog e/uaindv XoyiCojum. Ganz so Medea.
Die Amme in der Medea des Euripides sagi v. 31 ausdilicklich, daß ihre
Herrin, avo sie allein ist, avri] Jigög avrrjv sich in lauten Klagen zu ergehen
pfleg-t. Damit ist die Formel gegeben. Medea selbst ist die Adresse
ihrer Worte. So beginnt das Selbstgespräch denn auch schon im home-
rischen Epos und blieb im Epos, ja, auch in der Geschichtschreibung und
in lustiger Naivität vor dem Haus ab-
spielen (s. Zur Kulturgeschichte Eoms"
S. 41). Die Annahme, der Bühnenhinter-
grund habe bei Plautus Einblick ins Haus-
innere gewährt, hilft zu nichts : denn Ein-
blick in das zurückliegende Schlafgemach
der Frauen konnte er keinesfalls ge-
währen.
1) Abhandl. der Göttinger GW. Bd. 10
Nr. 5. Eine Vertiefung ist möglich und not-
wendig. Vor allem fehlt bei Leo ganz Sokra-
tes und alles, was mit ihm zusammenhängt.
2^38 Kritik und Hermeneutik.
im E-oman ein beliebtes E-equisit der Dichter und Referenten. Daher
aber auch die Monodie des Kyklops bei Tlieokrit, daher die Selbstanreden
Catulls. Auch manche Elegien, auch Gedichte der äolischen Lyrik {^niserarum
est neqiie amori, ejus deiXav ejtie icaoäv) sind hieraus entwickelt und stellen
sich als Monologe dessen dar, der sich einsam glaubt, i) Der Theater-
monolog stammt somit aus dem Leben.
Sprach- ^A j)^^ Dritte an Wichtip:keit ist im Drama nach der verständnis-
vollen Anordnung des Aristoteles die Diktion. Auch hierüber nur ganz
Weniges. Die Diktion ist natürlich eine andere im Dialog als im Ge-
sangsstück, aber auch in den Gesangsstücken je nach der Stimmung ver-
schieden (man achte nur darauf, wie das Epitheton ornans bald gehäuft,
bald gemieden wird). Daß sie im Dialog auch nach der Natur des
Sprechers nuanciert werde, läßt sich im ernsten Drama selten beobachten,
wie etwa bei dem Wächter im Agamemnon. Leichter hatte es hier wieder-
die Komödie; denn sie konnte beliebige Figuren sogar im Dialekt sprechen
lassen (Acharner, Lysistrate) oder gar ]>unisch (Poenulus). Sonst war es
vor allein dem Satyrspiel vorbehalten, durch einen drolligen Kontrast in
der Diktion zu wirken, indem die Helden im Stück erhaben, die Satyrn
dagegen gemein und plebejisch sprachen. 2) Etwas anderes ist es wiedei-,
wenn das Lustspiel heitere AVirkungen damit erzielt, daß seine Alltags-
figuren auf einmal im tragischen Stil zu reden anfangen: so die Yäter,
wenn sie von der Reise kommen und die Heimat begrüßen. Diese paro-
distischen Scherze sind nicht nur im Aristophanes, sondern auch noch im
Plautus an zahlreichen Stellen zu beobachten.
^ny^h\ö Zum Kapitel von der Diktion gehört auch noch die Betrachtimg dei-
Stichomythie. Es ist von Interesse zu verfolgen, wie die Gesprächs-
form in Satz und Gegensatz zu je einem Verse sich allmählich und ins-
besondere bei Sophokles vom steifen Schematismus befreit, wie dagegen
Euripides im Dienst sophistischer Disputation sie schließlich in größerer
Ausdehnung wieder einführt. 3)
*^'hok"deT" ^) Erfindung und Plan der Stücke ist Aveiter daraufhin zu prüfen, ob
Fabel ihre Fabel einfach oder verwickelt ist. Eine einfache Fabel haben
die meisten Aeschylussachen, des Sophokles Philoktet ist dagegen z. B.
eine jiejrleyjuevi], da zu der Intrigue, die sich gegen den Titelhelden
richtet, der Gegensatz hinzukommt, der sich zwischen den beiden Unter-
nehmern Odysseus und Neoptolemos selbst herausstellt. Das ist schon
durchaus komödienhaft. Und die Kompliziertheit der Handlung steigert
sich dann im Lustspiel zusehends (Epidicus, Bacchides, Trinummus etc.),
worin die Römer w^eiter nachhalfen, indem sie beim Übersetzen dazu
griffen, aus zwei griechischen Stücken eines herzustellen (daher z. B. der
zweite Liebhaber in der Andria). Überall aber pflegt doch in diesen
Stücken immer nur eine Intrigue zum Austrag zu kommen. Dies ist der
*) Siehe Philolog. 63 S.436 ff., wo ge- sein „Genius" sein. Es entspricht dem
zeigt ist, daß Catuil dabei sein Icli gradezu | öaifwviov des Sokrates.
wiederholt in zwei Personen zerspaltet. ^) Vgl. A. Dieterich, Pulcinella S. 300.
Dies sein zweites, erleuchteteres Ich, das 1 ^} Siehe Ad. G-ross, Die Stichomythie
Catnll da von seiner Person unterscheidet, ■ in der griech. Tragödie und Komödie,
kann nach römischer Art zu denken nur Berlin 1905.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 189
(jrund, weshalb die Asinaria und die Casina ein besonderes und hohes
dramaturgisches Interesse erwecken müssen, weil sich nämlich in ihnen
auf das spannendste Intrigue gegen Intrigue richtet : Doppelintrigue. Aber
auch für dies Verfahren gab schon Euripides das Muster in der viel-
bewegien zAveiten Iphigenie und in der Helena.
m) Die Glückswende im Drama heißt Peripetie. Sie fehlt nur in i*<^"potio
wenigen primitiven Stücken. In der Prometheustrilogie kam sie erst im
zweiten (resp. dritten) Stück. Phrjaiichus kannte sie, wie es scheint, noch
gar nicht. Denn Aeschylus ist es gewesen, der in die Tragödie, die vor-
her nui' Komm OS mit umgebendem satyrhaften yeXoXov war, in Nachahmung
der heiligen Handlung von Eleusis ein eigentliches d^äjua, ein ÖQMjuevovy
einführte, dessen Ereignisse dann oft naturgemäß auch zu einer Peripetie
führten; und auch die heilige Mysterienhandlung von Eleusis — der Raub
Persephones, das Suchen der Mutter, das Wiederfinden — verlief selbst
nicht ohne eine solche. Ihre Erscheinungsarten sind mannigfaltig. Entweder
der Ausbruch der Leidenschaft selbst führt die Peripetie herbei (Hippo-
lytos) oder eine äußerliche Erkennung, die der Zufall mit sich bringt, die
ävayvwQioig des Ion, aber auch der Epitrepontes, des Rudens und anderer
Komödien. Auch der Oedipus Rex läßt sich hier anreihen; der Atreus
Senecas. Oder endlich eine Intrigue, ein Racheplan ist es, der gehngt
\md die Entscheidung gibt (Elektra, Helena, auch Trachinierinnen ; vor
allem viele Lustspiele). Die edlere Tragödie aber zieht es vor, die Intrig-ue
menschlicher Arglist vielmehr mißlingen zu lassen, und ein deus ex macliina
muß zum Schlui3 eingreifen und alles zum Guten wenden (Philoktet;
Iphig. Taurica).
n) Hiernach erhebt sich die Interpretation zu der letzten, höchsten idee der
und (man könnte sagen) verwegensten Frage nach dem Zw^eck der Er- *°* ""^
findung oder nach der Idee der Handlung. Ein interessanter Stoff
lockt den Dichter; er baut ihn auf. Dabei löst sich leicht irgendein Ge-
meinplatz, eine Grundwahrheit aus, für die das vorliegende Ereignis nm*
ein Beispiel ist. Ist dies aber überall notwendig der Fall? und ist sich
der Dichter dessen bewußt gewesen? Mit dem Begriff „Schicksalstragödie"
kommen wdr nicht weit. Die Schicksalsidee waltet allerdings, wo es sich
um Labdakiden handelt, bis zum Eteokles hinab; ebenso der Schuld- und
Sühnegedanke in der Orestie, und in diesen Fällen spricht der Dichter
das selbst deutlich genug aus. Denn vor allem in den Chorpartien finden
wir des Dichters eigene Meditationen, einen Kommentar zur Handlung.
xVuch in denDana'iden des Aeschylus fanden sich ebenso Schuld und Sühne.
Innerlicher und moderner und sehr glückhch ist diese tragische Idee in
der Phaedragestalt ausgetragen: hier ist es einmal gelungen, ohne jeden
Eingriff göttlicher Instanzen zu zeigen, Avie eine Leidenschaft, die alle
Grenzen durchbricht, den Menschen zerstört und sich durch sich selber
rächt. Aber schon für die Medea trifft das gleiche nicht zu; denn diese
Kindsmörderin überwindet ihren Mutterschmerz durch das siegreiche Ge-
fühl gesättigter Rache und fährt stolz davon: ein barbarischer Übermensch.
Vielbehandelt ist die Antigene, und man kann sich über die Grundidee Anti-one
des Stückes nicht einen. Staatsgesetz und Naturgesetz im Konflikt: darum
190 Kritik und Hermeneutik.
handelt es sich allerdings; dies Problem griff Sophokles auf. Aber darin
erschöpft sich nicht der Inhalt des Gegebenen. Der Chor, der so oft die
Stinune des Dichters ist, verhält sich gegen Antigone kritisch bis zmn
Ende {vxprjXbv eg Aixag ßd&gov jtQooejieoeg v. 854; oe d' amoyvwrog ojXeo'
dgyd v. 875). Kreon ist der überlebende, und Kreons Trotz wird zum
Schluß zermalmt. An ihm erfüllt sich das Schicksal. Das Stück ist eine
Tyrannentragödie.
Hier sei es mir gestattet, einmal still zu stehn, die aphoristische Auf-
reihung, die gleichsam alles nur aus der Vogelschau sieht — denn auch
über die Antigone mußte ich so flüchtig hinAveggehn — , zu unterbrechen
lind bei einem anderen Beispiel eingehender zu verweilen. Ich denke
Oedipus an den König Oedipus; denn jeder wird das Yerlangen fühlen, die Grund-
meinung aufzudecken, die Sophokles mit dieser merkwürdigen, hinreißend
grausigen Dichtung verbunden hat. Wirkt doch dieser Oedipus noch
heute als das Musterbeispiel griechischer tragischer Kunst. Dabei knüpfe
ich an die Oedipusausgabe von Ewald Bruhn an, die in viele Hände in
Lehrer- und Studentenkreisen kommt und auch zu kommen verdient. Die
Idee des Dramas, deren Verständnis wesentlich von der Auslegung des
zweiten Stasimons v. 862 ff. abhängt, ist, wie mir scheint, von Bruhn nicht
richtig erfaßt w^orden. Nach ihm stünden nämlich die Gedanken, die der
Chor dort v. 862 ff. vorträgt, ganz außer Zusammenhang der Tragödie
selbst; sie wären ein tadelnder Exkurs, der sich nicht gegen Oedipus,
sondern gegen die unfromme Politik des athenischen Staates richte, denn
die Stadt Athen habe sich unlängst gegen Delphi vergangen: woraus dann
wieder eine Datierung des Stückes gewonnen ward, die der herkömm-
lichen und m. E. berechtigteren Auffassung widerstreitet.
Wie unangebracht, muß man sagen, ja, wie wenig würdig der sopho-
kleischen Kunst wäre doch solch ein Zwischenaktsgesang, der die Acht-
samkeit des Publikums von der ergreifenden Handlung ablenkt, statt ihren
Eindruck zu vertiefen. Denn grade an der angegebenen Stelle, v. 860 f.,
droht sich das Schicksal selbst zu enthüllen.
Indes ist der Zusammenhang des Liedes mit der voraufgehenden
Szene auch schon äußerlich garantiert. Denn im v. 823 und 830 hat
Oedipus die Begriffe „heilig", „unheilig", „fromm", ävayvog und äyvov osßag^
wie Stich Worte eingeführt, und unmittelbar darauf, v. 852 ff., schlagen
uns die frevelhaft frechen Äußerungen lokastes ins Ohr, in denen die
dramatische Erregung gipfelt, Worte, die um so schreckhafter, da Oedipus
ihnen zustimmt. Da greift der Chor im v. 864 mit den Worten rdv
oevETiTov äyveiav Aoycov jene Stichworte des Oedipus deutlich auf. Solche
w^örtliche Anknüpfungen lieben die lyrischen Gesänge auch sonst, so wie
in der Antigone v. 802 — 805 der Chor die Worte oqwv und Jiayxolrag
braucht und Antigone sogleich in ihrer Klage v. 806 — 810 diese beiden
Worte wiederaufnimmt. Damit wird der Zusammenhang der Gedanken-
gruppen gesichert und äußerlich angezeigt.
Oedipus hat allerdings, als er Laios erschlug und lokaste zur Frau
nahm, unwissend gefrevelt. Trotzdem aber ist er ein Mann der vßgtg.
Setzen wir vorläufig nur hypothetisch an, was sich hernach als zutreffend
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 191
erweisen wird, daß es sein Unglaube, der Mangel an Gottergebenheit ist,
den ihm Sopholdes als Schuld anrechnet, so stellt sich zwischen Lied und
Szene der vermißte Zusammenhang von selbst her. Es handelt sich um
das bekannte Orakel. Pflicht des frommen Menschen ist es, einem Apollo-
orakel unbedingt zu glauben. Und das Orakel war in diesem Falle be-
sonders -bedeutsam, weil Zeus selbst als Urheber hinter seinem Ausspruch
stand. Denn schon Laios hatte einst Schuld auf sich geladen, als er den
Sohn des Pelops raubte ; er war darum von Pelops verflucht worden, und
Zeus hatte diesen Fluch erhört und verfügt, daß zur Strafe Laios durch
seinen eigenen Sohn umkommen solle. Ein sittliches Motiv lag somit
dem Zeuswillen zugrunde. Diese Vorgeschichte war allen bekannt, und
daher erwähnt Sophokles den Zeus selbst ausdrücklich als eigentlichen
Urheber des jiejiQcojuevovy v. 904 und 496. Dem Sohne Oedipus wird nun
durch das Orakel seine schreckliche Mission, Laios zu töten, verkündet;
aber er will sich ihr entziehen und wandert aus Korinth aus, um das
Gotteswort nichtig zu machen. -Das war menschhch, aber es war trotzdem
seine erste vßgig, es war äoejirov im Sinne der herben Frömmigkeit der
Orthodoxie jener Zeiten. Ein grauser Gott, ein (hjudg daijucov ist Apoll
dem Oedipus, v. 828; diese Aiißerung stammt aus demselben Geiste. An
solche Gedanken knüpft nun das ChorHed an, das lautet:
ei juoi ^vvsirj q)eQOVxi fioTga zav
svoBJiTov äyveiav Xoycov
865 sgycov xe Jidvrcov mv vofxoi jigöxsivtat
vyjtjioöeg, ovgaviav di'
aid^ega reHvcoßevrsg wv "Oh'fuiog
jiarrjg fiovog, ovde viv
^varä (pvaig dvegcov
870 s'nxrev, ovös firjjiote Xa-
■&a xaraxotfidof]-
/iisyag sv zovroig deog ovde yijgda>c€i.
vßgig (pvrsuet ivgmn'ov vßgig et
7to)1mv vjisgjikf]o{}fj fidrav,
875 ä fiif emxaiga firjöh ovfzqpsgovca,
dxgoraxov Eioavaßäa (a-
xgcovy^) Sbratfiov wgovaev slg dvdyxav,
evd'^ ov Jioöi XQV^^f^V
Xgfjtai. ro xaXwg ö' syov
880 TioXsi jrd?MtofJ,a [j,rjjioxs Xv-
oac ß^sov aixovfxai.
■d'sov ov Xr'j^o) Jioxs jtgooxdxav loxcov.
ei de xig vjiegojiXa ;|fe^ö(V
r/ Xoycp Jiogevexai,
885 Aixag dqydßtjxog ovSe
öaifxovwv eSrj oeßcov,
xaxd viv e'Xoixo /noiga
övojioxfiov x^Q'^^ X^'^^dg,
ei fii] x6 xegdog xegdavsT dixmcog
890 xai xwv doejixMv eg^exai
fj xwv d^ixxfov e'^exai fiaxq^u>v.
*) So habe ich ergänzt, freüich unsicher; äxgcov dxgöxaxov ist danach zu verbinden.
192
Kritik und Hermeneutik.
xig eti Jiox' iv tötod' dvfjQ idvjud) ßshj
ev^Exai tpvxäg djui'veiv;
895 si ydg ai roiaide Jigd^sig xi/mai,
n dsT fie yoQSveiv;
ovxexi xov aßixxov eifu
yäg eji ojUffaXov oeßo)v
900 ovo' ig xov 'Aßäioi vaov
ovSk xdv 'OXvfxJiiav,
sl /iitj xdds yeiQÖdeixxa
jiäaiv agfiöosi ßgoxoTg.
cUA' c5 xgaxvvMV, sI'jtsq 0|0J^' dxoi>ftg,
905 2^v, Jidn' dvdoawv, ^i/ Xd&oi
oh xdv xs odv d^dvaxov aVsv dgydv.
(pdivovxa ydg ->_/-- Ao^iov
id^soqpax' i^aigovaiv tjöt]
xovdafwv xijiiaTg 'Aji6X?.cov eiKpavrjg.
910 ?QO£i de xd deta.
Also die thebamsclien Männer sagen, v. 897 — 910: „Zeus muß sich
und die Weissagungen bewahrheiten; sonst gehe ich nicht mehr zum
Omphalos, nicht mehr nach Olympia, und alles Göttliche fäUt zu Boden,
EQQEi xä ^ela. Ich möchte immer fromm sein, v. 863, d. h. anders sein, als
lokaste und Oedipus sich eben gezeigt haben. Denn Frömmigkeit gehört
zu den äyQaq?oi vöjuoi, die besonders heilig sind, v. 865 ff. (vgl. dazu R. Hirzel,
''AYQa(pog vöjuog S. 24; die Götter zu ehren, ist vojuog äyQacpog, ebenda S. 33).
Ja, wer diese Tugend nicht besitzt, wird zur vßqig weitergetrieben, v. 872,
und vßgtg macht den Tyrannen, dei- schließhch ins Unglück abstürzt
(v. 875—879).
Trifft auch das letzte auf Oedipus zu? Gewiß. Tyrann ist, wer
sich um das Volkswohl nicht bekümmert und nm- für seine eigene Hen*-
schaft und Machtstellung sorgt. So macht es aber jetzt Oedipus in Wirk-
lichkeit. Er hat die Pest, die Theben heimsucht, ganz vergessen und
denkt nur noch daran, in der Stadt seine Stellung als König zu behaupten.
Daher nun die weiteren Ausführungen des Chors: Nur den guten
Herrscher soll Gott schützen und seine Verdienste um den Staat nicht
auflösen (v. 880). Wer dagegen die Göttersitze nicht ehrt und am gött-
lichen Recht, der Aix^], sich versündigt, dessen Übermut soll gestraft
werden (v. 883 ff.), insofern er den Gewinn nicht in gerechter Weise
erwerben wird (v. 889); auch diese letzten Worte zielen wieder auf
Oedipus: Oedipus hat in der Tat se'in Königtum in Theben in ungerechter
Weise erAvorben, da er in Auflehnung gegen Apolls Orakel Korinth ver-
ließ und eben dadurch das xegdog, nämlich die Machtstellung in Theben,
gewann. 1) Endlich geht auch ai roiaide jzgd^eig — das zeigt schon das
Demonstrativum — deutlich auf den König, v. 895: „wenn solcher Un-
glaube, wie ihn jetzt Oedipus und lokaste durchweg zeigen, Ehre und
königliches Ansehen verdient, Avas soll ich dann noch weiter Reigen zu
Ehren der Götter auffüliren? Alle Gottesverehrung ist dann zAvecklos."^)
*) Zu sQ^sxm V. 890 ist wieder et fxrj zu
ergänzen: „er wird sich des I'nfrommen
nicht enthalten."
') Dunkel ist v. 893: xlg hi jiox' sv
xdiode dvr]o xxX. Ist dv^wv statt ^vfx(p zu
lesen? Der Sinn scheint zu sein: wer.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 193
Dies die Auffassimg des Chors von Oedipus und seinem Tun. Stimmt
sie' nun etwa nicht zu irgendwelchen Tatsachen, die das Drama selbst
uns bietet? Die Übereinstimmung ist vielmehr vollständig. Als König
hat Oedipus für Theben und für sein Volk zu sorgen. Kaum aber richtet
Tiresias gegen ihn den Verdacht, daß er selbst es war, der den Laios
erschlug, als er die entsetzliche Pest, die das Land heimsucht, vollständig
vergißt und jähzornig nur noch seine eigene Position zu retten sucht.
Daher gilt nicht nur im Chorlied v. 873 das gehässige Wort jvQavvog von
ihm, sondern schon v. 408 das xvQaweXg^ und der Grammatiker, der zum
Titel der Tragödie den Zusatz xvQavvog machte, traf damit die Meinung
des Dichters durchaus. vßQiQ war schon gleich anfangs seine oQyri gegen
Tiresias, besonders die Verleumdung, Tiresias selbst sei Mitschuldiger an
des Laios Ermordung gewesen; darauf geht auch schon das ägyvgcp v. 124.
Auch die Art, wie Oedipus gegen den Seher mit der Lösung des Sphinx-
rätsels prahlt, V. 391 ff., soll als üßgig w^irken. "Weiter wdrd im v. 377
klar ausgesprochen: nicht um des Tiresias willen wird Oedipus ins Un-
glück kommen, sondern um Apolls willen, d. h. weil Apoll selbst ihm
zürnt und von ihm verletzt ist.
Noch deutlicher wdrd das im v. 406 f., wo der Chor urteilt: jetzt, da
Oedipus sich selbst verdächtigt sieht, müßte die Pflicht ihm gebieten, daß
er im Interesse des unter der Seuche leidenden Volkes den Hinweis des
Apolloorakels ohne Rücksicht auf seinen eigenen Nachteil aufzuklären
sucht, nämlich den Hinweis auf den wirklichen Täter; statt dessen gerät
er nur in Zorn.
Es folgt der KonfHkt mit Kreon. Den Kreon verdächtigt Oedipus
imd wirft ihm vor, daß er ihm die Herrschaft entreißen wolle. Kreon
reinigt sich dagegen durch Eid. Da heißt es, v. 647: dem Oedipus fehlt
es an aldoK vor dem Eid. Denn Oedipus glaubt dem Kreon auch jetzt
noch nicht, als er geschworen hat. Er soll aideoßm xovde ogxov &Ecbv.
Dieselbe Forderung steht v. 653: xaraideoai rov fv ögxco jueyav (Kgeovra).
Also ist er unfromm, auch jetzt.
Im V. 673 f. aber wird gradezu sein Charakter geschildert.; Oedipus
gehört zu den (pvoeig, die anfangs hassen und hernach schwer bereuen,
wenn der Zorn verflogen ist. So spricht Kreon, und Oedipus weiß darauf
nichts zu erwidern. Die Charakterbestimmung behält also Gültigkeit.
Aber erst v. 859 freveln die Lippen des Königs selbst offenkundig,
lokaste ist es, die ihn dazu anregt, indem sie v. 852 f. ihren Unglauben
unverhohlen bekennt; sie sagt gradezu: „Das Orakel log. Denn wenn
du auch wirklich den Laios erschlugst, so bist du, Oedipus, doch nicht
mein Sohn, w^ährend Apoll verkündete, mein Sohn solle den Laios er-
schlagen." In V. 857 steigert und verallgemeinert sie diese Mißachtung
des Orakelgottes noch, und Oedipus identifiziert sich mit ihr, indem er
sagt: xakcbg vojuiCeig, v. 859. An diesem xalcbg hängt aUes. Das xaXwq
vo/u^eig ist es, w^orauf sich das zw^eite Stasimon, von dem ich handelte,
selbst deutlich bezieht. Dagegen erhebt sich die Volksmeinung.
der so unfromm ist, kann den Geschossen | d^wvsn^. Zu ir roTaöe vgl. das roToös v. 251 .
des Zorns zu entgehen hoffen (sv^rrai
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. L, 3. 3. Aufl. 13
194 Kritik und Hermeneutik.
Aber auch noch in v. 946 zuckt der trotzige Zweifel an den //«r-
Tev/Liara in lokaste wieder auf, und v. 964 stimmt ihr Oedipus wiederum
zu. Die Sache ist mithin so betont, daß man sie nicht verkennen kann.
Ja, V. 972 sagt er: die ^eomojuara sind ä^t' ovdevog. lokaste steigert das
noch weiter, v. 977 f., und wieder sagt Oedipus xaXcbg, v. 984. Nur die
Furcht, nicht die Frömmigkeit hält ihn ab, ebenso dreist wie lokaste den
Unglauben mit ausführlichen Worten zu bekennen; s. v. 985 und 974.
Also hat Aristoteles recht, der in seiner Poetik cap. 13 im Verhalten
des König Oedipus eine Schuld, äjuagua, fand und grade den Oedipus
allein für die Wirkung der Schuld in der attischen Tragödie als Muster-
beispiel bringt. Grade da sollte Aristoteles irren? Er hat das zweite
Stasimon just so verstanden wie ich.
Die Götter sind allwissend. Diesen Glauben will Sophokles predigen.
Auch dadurch, daß der kluge Rätsellöser Oedipus in bezug auf sein eigenes
Geschick immer falsche Yermutungen vorbringt und das Schicksalsrätsel
nicht lösen kann (das beginnt gleich anfangs, als er Tiresias für einen
Betrüger erklärt und glaubt, Laios sei von jemandem, der sich mit ägyvQiov
bestechen ließ, erschlagen worden; es wiederholt sich v. 1080, wo er von
sich vermutet, daß er der Sohn der Tvx^] sei), auch hierdurch wird vom
Dichter der Kontrast des blinden Menschenwitzes und der Unfehlbarkeit
der apollinischen Orakel auf das planvollste hervorgehoben. Daher muß
sich Oedipus am Schluß blenden; seine geistige Blindheit wird zur körper-
lichen. Und der Chor macht es nicht besser; denn er leistet sich im
dritten Stasimon v. 1086 eine Vermutung mit den einführenden Worten:
emeQ iya> judvrig eljuL Auch dies judvrig ist betont. Der Chor macht sich
hier als Seher mit seiner Annahme, Oedipus sei vielleicht der Sohn irgend-
einer Bergnymphe, nur lächerlich.
Also ist der Oedipus Rex ein Stück der Eusebeia. Wir erinnern ims
daran, daß Sophokles selbst Priester war. Er lehrt: die Orakel des Apoll
und des Zeus sind' unfehlbar; wer gegen sie ankämpft, ist äoeßrjg und
verfällt der vßgig. Das „fabula docet" ist hier so deutlich gemacht, wie
wir es selten finden. —
Es gibt aber auch Dramen, in denen wir nichts anderes wahrzunehmen
glauben als eine mehr oder weniger spannende Handlung, und Theophrasts
Definition der Tragödie muß für sie genügen: rgayMÖia iorlv fjQoyixfjg xvp^g
TieQioraoigA) Gegebenenfalls verknüpft der Dichter mit dieser spannenden
Handlung noch irgendeinen äußerlichen ätiologischen Zweck wie in der
Taurischen Iphigenie. Aber man wird doch nicht sagen, daß die Mitteilung
von der Einführung des Artemiskultes in Attika der Zweck der ganzen
wundervollen Erfindung dieser Ipliigenie sei. Immerhin steht es wirklich
so im Oedipus Coloneus; dieser Oedipus ist ganz ätiologisch gedacht.
Tendenz- ^ anderen FäUen tritt endlich an die SteUe der Idee vielmehr die
Stücke
Tendenz. Was will die Andromache? was wollen die Herakliden? Es
springt bei beiden Stücken nur die Tendenz heraus, dort das Predigen
des Spartanerhasses, hier die Verherrlichiuig attischer Gastfreundschaft
Aetio-
logisches
») Diomed. T K. 487, 12.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 195
lind Menschlichkeit . Das ist minderwertig ; denn , die Tendenz stört immer
die Illusion und die innere Wahrheit der Zeichnung.
Aber auch Senecas Tragödien sind Tendenzstücke, und wer das nicht
beachtet, v^ersteht sie nicht. Hier waltet aber eine ganz andere Art von
Tendenz, die w^ie ein Gifthauch wirkt und alle Poesie vernichtet; es ist
der Predig-teifer des Stoikers, der alle heftige Leidenschaft und den Zorn
ver^virft und für verderblich erklärt; und die Dramen wollen nichts weiter
sein als abschreckende Beispiele im Sinne dieser Lehre. Die Leiden-
schaft, die von ihrem Verächter dargestellt wird, kann uns nicht ergreifen.
Das seltsamste Problem aber sind die Bakchen des Euripides, diese Bakchen u.
schimmerndste Perle attischer Poesie. Theologische Dichtung! Ist dies oetaeu?
Stück wirklich eine Glorifizierung des unerhört grausam erlösenden jungen
Gottes Dionys? oder eine verkappte bittere Ironisierung, die uns der
Freidenker Euripides gibt? Wir möchten heut gern das letztere glauben;
die Alten selbst dagegen haben das Stück nur dogmatisch und nur ernst ge-
nommen. Ein theologisches Drama ist auch der Hercules Oetaeus des Seneca;
denn auch in ihm handelt es sich — wie dort — um die Anerkennung der
Göttlichkeit eines Gottessohnes. Aber hier fehlt alles Grauen, und nur
der Gottessohn selbst leidet, um verklärt zu werden. Frappierend der
Bakchentragödie ähnlich ist dagegen in der Tendenz der Konzeption das
Attisgedicht Catulls, carm. 63. Denn auch da handelt es sich mn orgiasti-
schen Kult, nicht des Dionys, aber der Cybele. Der junge Attis hat
sich in orgiastischer Raserei entmannt; er verfällt in Schlaf, erwacht und
erkennt voll Jammer und Reue, w^as er getan. Er will sich der Göttin
entziehen. Da hört Cybele seine Klagen und hetzt mitleidlos und in
grausamem Eifer ihren Löwen auf ihn. So wird Attis zum Cybelediener.
Wie faßte das Publikum solche Handlung auf? Auch das zeigt uns
Catull; denn er scliließt das besprochene Gedicht mit den Worten ab:
„Große Göttin Cybele, verschone mich; ergreife andere, nicht mich mit
deinem Rasen." Dieser Wunsch ist aller Weisheit Ende. Gegen die
Gottheit in all ihrer entsetzlich fanatisierenden Gewalt erhebt sich also
kein ZAveifel und kein Tadel. Man hofft nur, sich ihr zu entziehen. In
dieser Weise wird auch Euripides seinem Stoff gegenübergestanden haben.
So kann man auch sagen: die Bakchen sind eine Überbietung des
Oedipus Rex; der Sinn: wer an den Gott nicht glaubt, der muß untergehen.
o) Nach allem, was ich ausgeführt, bleibt nur noch die letzte Frage Wirkung
übrig nach dem Effekt, den der Theaterdichter mit seiner Leistung beim Publikum
Publikum erzielen will. „Nützen" wiU er und „erfreuen", das war die
populäre Auffassung. Nützen, d. h. durch seine Heldenfiguren erziehend
wirken, will Aeschylus; erfreut sein, tjöeoßaiy das will das Publikum (Arist.
Frösche 1413). Es gilt dabei die Dichtungsgattungen zu unterscheiden.
Das Satyrspiel ist reines yeXoTov und bewirkt und bezweckt nur Lachen;
die Tragödie ist nui* onovdaia und erzieht das Volk, indem sie es erbaut
und erschüttert; das Lustspiel endlich ergötzt und erzieht zugleich; es
ist ojiovöoye^oiov. Dies war gewiß im großen und ganzen die volkstüm-
liche Auffassung. Ob viele Dichter über sie hinausgingen, läßt sich
seh AVer entscheiden. Aristoteles sagt bekanntlich, nicht das Wesen, aber
13*
196 Kritik und Hermeneutik.
Katharsis (Jer Effekt der Tragödie sei, daß sie durch Furcht und Mitleid (so wenig-
stens nelimen alle die Aristotelesstelle) eine Reinigung, d. h. Entladung
{xd^aQoig) erzeugt. Sehen wir uns um, so erfüllen uns aber auch die
Captivi des Plautus ohne Frage mit Furcht und Mitleid, ja, bis zu einem
gewissen Grade haben auch sonstige ernsthaftere Lustspiele jungen Stils
wie der Trinummus, die Adelphen, der Rudens eben diese Wirloing, und
wir müssen sagen: hätte Aristoteles diese jüngere Komödie schon gekannt,
so hätte er jenen Zusatz zu seiner Definition nicht auf die Tragödie be-
schränkt. Schließlich trifft sie ja auch auf viele dramatischen Teile der
Aeneis Yergils zu. Die Theorie von der Katharsis oder Entladung galt
aber schon lange vor Aristoteles bei den Rednern, die ihre Hörer in
gleicher Weise affizieren wollen, i)
Inwieweit nun endlich und unter welchen Modifikationen die attischen
Tragiker, an die Aristoteles denkt, wirklich Furcht und Mitleid zu erzeugen
anstreben, ist nützlich im einzelnen zu beobachten; doch kann ich hier
dabei nicht verweilen.
An das Drama reiht sich endlich die letzte Litteraturgattung, die wir
noch zu besprechen haben :
11. der Dialog.
Über ihn besitzen wir das umfassende Werk von R. Hirzel, „Der
Dialog". 2) Ergänzendes gab Ivo Briins, Das litterarische Porträt, S. 245 ff .
Ich begnüge mich, folgendes hervorzuheben.
Diaiop: u. Vom eigentlichen „Dialog" muß das bloß mimetische Gespräch, wie es
in Sophrons Mimen, in Theokrits Adoniazusen vorkam, scharf unterschieden
werden; denn ein solches Gespräch nennt das Altertum nicht eigentlich
Dialog. Auch die Epeisodien oder Gesprächspartien im Drama hießen
nicht so. Nur dem erörternden, dem untersuchenden Gespräche kommt der
Name didXoyog zu, der sachlich und begrifflich mit der dialektischen Kunst,
der logischen Untersuchung zusammenhängt, s) Deshalb genügte dafür
auch der Ausdruck Xoyog, und die Sokratischen Gespräche heißen Xoyoi
ZcoxQaTixoL Während also das bloß mimetische Gespräch wie überhaupt
der antike „Mimus" zur Theaterlitteratur gehörte oder doch von ihr ab-
hing — so auch Herondas und die ähnlichen*) — , gehört der eigentliche
„Dialog" zur wissenschaftlichen und zur Erbauungslitteratur.
Entwick- Es ist wahr, daß ihn auch das Lustspiel gelegenthch in parodistischem
D^fio^r Übermut für seine Zwecke nutzbar machte (das tat schon Epicharm ; dann
vor allem Aristophanes in seinen „Wolken"). Im Ernst aber suchen wir
ihn anderswo. Herodot gibt uns die ersten Beispiele in den Einlagen
1, 30 f. und 3, 80 f., und da reden historische Personen wde König Crösus
über tiefgehende Fragen des Menschenlebens. Sehr ähnlich damit waren
dann ohne Frage auch die mythologisch eingekleideten Szenen des Pro-
dikos vom Herkules am Scheidewege und des Hippias, der in seinen
vjio^fjxai Nestor dem Neoptolemos gegenüberstellte. Viel unpersönhcher
1) Vgl. Gorgias Helena 14: W. Süss, : «) Leipzig 1895.
„Ethos", Leipzig 1910, S. 84 f. Daß die i ») Vgl. Xenophon Mem. 4, 5, 12.
Erregung von Furcht und Mitleid Sache ■*) Das umständliche Buch von Eeisch,
der Rhetorik, sagt Aristoteles selbst, Poet. „Der Mimus", befriedigt nicht in jeder
19, 2. Hinsicht.
IV. Die höhere Hermeneutik. B. Zweck und Plan der Litteraturwerke. 197
und doch \del dramatisch wirksamer, ja, erregender das sophistisch scharf
zugespitzte Wortgefecht der Melier und Athener bei Thukydides 5, 86 f.,
wo es für die Melier um Leben und Tod geht. Dann aber haben vor-
nehmlich die vier Sokratesschüler Aeschines, Plato, Antisthenes, Xeno-
phon der Gattung des Dialogs ihr eigentHches Gepräge gegeben. Durch
Cicero wurde er weiterhin in gewandtester Weise latinisiert und steht
noch in späterer Zeit in ein paar herrlichen Beispielen vor unseren Augen ;
ich meine des Tacitus Dialogus de oratoribus und den Octavius des
Minucius Felix, welche beiden AVerke ganz auf dem Muster Ciceros fußen.
Nun kann dieser Dialog, der übrigens allerlei Darstellungsmittel dem ^^»ten des
Mimus und der Komödie abborgte, nach der Art seiner Einkleidung ver-
schiedene Formen annehmen; wir finden:
1. Direkte Dialoge mit Rollenverteilung wie im Drama: so großen-
teils das Meliergespräch bei Thukydides ; Piatos Phaedrus, Gorgias, Theätet.
Hier erübrigte sich das lästige eq?}] und r} d' ög.
2. Indirekte Dialoge; das sind zeitlich zurückliegende Gespräche,
die jemand aus der Erinnerung wiedererzählt. Dabei ist
a) Sokrates der Referent, indem er entweder das Gespräch einer be-
stimmten Person, die er anredet, erzählt, wie im Protagoras und Euthydem,
oder auch ohne alle Anrede die Erzählung gleichsam monologisch gibt,
wie in den kurzen Stücken Lysis und Charmides und im gewaltigen Werk
des „Staates".
Bisweilen aber
b) sind bei Plato andere Personen die Referenten, und zwar da, wo die
Person des Sokrates selbst der wichtigste Gegenstand der Schilderung sein
soll, wie im Symposion und Phaedon; aus anderen Gründen im Parmenides.
Dazu kommt noch
3. die einfachste Form, die Xenophon durchführt, daß nämlich der
Verfasser selbst der Berichterstatter ist und mehr oder, weniger kurz-
gefaßte Zwiegespräche aufreiht, die deutlich aus der primitiven Form der
Chrie „als der x. ihn fragte . . ., da sagte er . . ." (vgl. Xenoph. Mem. 3, 13)
entwickelt sind; mit solchen Zwiegesprächen hat sich Xenophon in seinen
Memorabilien begnügt; in seinem Hieron, Symposion und Oekonomikos
ging er weiter, und es zeigt sich darin ein späteres Stadium; denn der
simple Dialog der Memorabilien ist hier nach Art des Platonischen aus-
geweitet. Wie Xenophon ist dann auch Cicero selbst allemal der Referent
über das Gespräch, das er vorzuführen beabsichtigt.
Zwischen den Dialogen des Plato ujid des Cicero ist nun aber noch
ein wesentHcher Unterschied wahrzunehmen. Worin besteht er? und wie
erklärt er sich?
Zweimal war es dem Plato widerfahren, daß ihm sein Gegenstand
ins UngeheuerHche anschwoll und die Form zu sprengen drohte: in den
zehn Büchern seines Staats, in den zwölf Büchern seiner Gesetze; solche
Gespräche ohne Pause zu führen, war in Wirklichkeit unmöglich, und die
Einkleidung paßte hier also gar nicht mehr zur Aufgabe, die es zu lösen
galt. Daher veränderte Piatos großer Nachfolger Aristoteles in seinen Aristoteles
Dialogen die Form wesentlich. Erstlich ist fortan Sokrates nicht mehr "^-^^^^"^^
198 Kritik und Hermeneutik.
Gespräclisführer; zweitens und vor allem wird ein Gespräch größeren
Umfangs fortan in mehrere Unterredungen, die an verschiedenen Tagen
oder Tageszeiten stattfinden und zu denen man auf Verabredung aufs
neue sich einfindet, zerlegt. Jede solche Teilunterredung steht dann in
einer besonderen Buchrolle, deren Proöm jedesmal eine neue Exposition
gab, und so wurde durch diese Neuerung auch die gräßliche Dicke der
Schriftrollen vermieden, die der Staat Piatos noch voraussetzt. Dies Vor-
gehen des Aristoteles w^ar also eine Parallelerscheinung zu der Neuerung,
die damals Ephoros auf dem Gebiet der großen Geschichtschreibung ein-
führte : Zerlegung des großen Gegenstandes in abgerundete Sachteile, so daß
jeder Sachteil in je einer Rolle Platz findet (oben S. 172). Für Cicero liegt
nun auf der Hand, daß er dem Vorbilde des Aristoteles, nicht des Plato
gefolgt ist, und danach ist das An-angement in den Werken De oratore,
De divinatione zu verstehen. Die Tusculanen sind fünf Unterredungen
an fünf Tagen in fünf Büchern, u. s. f.i) Der Umstand, daß die Bücher
De legibus der Proömien entbehren, ist ein Hauptbeweisgrund für unsere
Überzeugung, daß Cicero dies Werk imfertig hinterließ.
Peripetie J)qy erörternde Dialog wird auf diese Weise zum mehraktigen Drama,
und auch sonst zeigt er in seinen wertvollsten Darstellungen mit der
Tragödie und dem feineren Lustspiel eine unverkennbare Verwandtschaft.
Sie beruht vornehmlich auf der Peripetie. Denn auch der gute Dialog
hat eine solche, die bisweilen plötzlich und überraschend eintritt. Aber
in ihm beruht die Peripetie nicht auf einem Umschwung des Glücks,
sondern, wie im Gorgias und Phaedon, auf der siegreichen Kraft der
Argumente, mit denen der in die Enge getriebene Sokrates schließlich
doch alle bedrohlichen Einwände überwältigend niederschlägt.
Satyros Daß endlich auch die Biographie sich der Form des aristotelischen
Dialogs bediente — so bei Satyros u. a.*) — , müssen wir als eine lit-
terarische Verirrung betrachten.
C. Quellen und Vorbilder.
Das lito- Über Quellen und Vorbilder kann icli mich kürzer fassen. Wer
EiJeVtuiu Plutarch, Diodor, Justin, Cornelius Nepos für die Geschichtsdarstellung
^^' benutzen will, muß sich zuvor nach Möglichkeit vergewissem, aus Avelchen
älteren Autoren diese Historiker ihre Erzählung entnommen haben. Quellen-
untersuchungen gehören daher seit langem zum obligaten Arbeitspensum
des Historikers und Philologen. In allen den Fällen aber, wo diese
Quellen — Ephoros, Theopomp, Timaeus — verloren sind, nützt das Er-
gebnis solcher Untersuchungen der Interpretation und litterarischen Wert-
schätzung des Autors, den wir in Händen haben, wenig. Im voraus ist
dabei noch zu erinnern, daß es eine Sicherung des litterarischen Eigen-
tums im Altertum nicht gab und daß kein Autor sicher war, nicht von
einem anderen wörtlich ausgeschrieben zu Averden. Nur wenn bei Dichter-
agonen einer der Konkurrenten fremdes geistiges Eigentum gestohlen hatte,
1) Für das Nähere s. Antikes Buch- ') Vgl. Leo, Nachr. Gott. GW. 1912
wesen S. 473 ff. S. 273 f.
1
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder.
199
(Quellen-
angaben
erhob sich sogleich Geschrei, wui'de der Diebstahl sogar bestraft (Vitruv
VII praef. 4 f.). Sonst haben im Altertum obtrectatores, die auf Plagiate
Jagd machen, sehr wenig Gehör gefunden. i)
Das wörtliche oder minder wörtliche Übernehmen größerer oder ge-
lingerer Textabschnitte war bei den Historikern und bei anderen Autoren
ziemlich selbstverständlich. Der vorliegende Geschichtsstoff galt für die
Historiker, der überkommene Gedanken- und Sentenzenschatz galt für
Morahsten und Redner als Gemeingut wie die Jagdbeute und der Fisch-
fang füi' Fischer imd Jäger. 2) Ephoros schrieb seine Quellen, z. B. den
Herodot, Avörtlich aus,^) gelegentlich im Umfang von dreitausend Zeilen.-*)
Das nämHche gilt von den Rednern; man lernte die herkömmlichen
Proömien in den Schulen wörtlich auswendig, und jeder Redner ver-
Avandte sie nach Bedürfnis.
Daher halten es hochachtbare Männer wie Plutarch auch durch-
aus nicht für nötig, ihre Quellen zu nennen; Plutarch sagt uns z. B. in
seinem Coriolan nicht, daß er da den Dionys von Halicarnaß benutzt,
und Cassius Dio macht überhaupt keinen Gewährsmann namhaft. Nur
die mehr grammatisch-philologisch gerichteten Geister halten es anders ;ö)
aber dann kann es vorkommen, daß solche Männer uns schwindelhafte
Notizen geben, Avie Gellius, der erstlich die meisten der zahllosen Werke,
die er mit Eifer zitiert, gar nicht selbst gesehen hat, sodann aber ge-
legentlich (9, 4) als von ihm selbst erlebt erzälilt, was er aus Plinius'
Naturgeschichte 7, 9 ff . abschreibt.
Auszugehen ist von den günstigen Fällen, wo uns die Quellen noch
vorliegen. Denn da läßt sich die Arbeitsweise der Alten genau fest-
stellen. So haben wir Polybius neben Livius. Livius arbeitete, roh aus-
gedrückt, wie unsere heutigen Zeitungsschreiber, gleichsam mit der Schere
und setzte, indem er seine Quelle bald nennt, bald verschweigt, Absclinitte
aus Polyb, den er entweder direkt oder nur indirekt benutzte, unvermittelt
neben andere, die aus römischen Annalisten, z. B. auch aus den Annales
maxumi stammen. Da, wo er dem Griechen folgt, erwähnt er mehr grie-
chische als römische Männer mit ihrem Eigennamen, bezeichnet das Geld
nach Talenten, ist auch topographisch genauer. Leider hat sich Livius indes
mit diesem äußerhchen Verfahren doch nicht begnügi, sondern als gewandter
Erzähler, der auf dramatische Wirkung abzielt, hat er die schlichten Mit-
teilungen des Polybius vielfach zu hübschen Geschichten ausgeweitet und
zurechtgestutzt, 6) nach dem Prinzip, das Cicero so ausdrückte: concessum
esf rhetoribus ementiri in historiis ut aliquid dicere possint argutiusJ)
Gegen ein wörtliches Ausschreiben aber bestanden, wie gesagt, durch- Evangelien
aus keine Bedenken. Das betrifft auch das Neue Testament. Auf Avelchem
Livius
^) Siehe meine Ausführungen in Päd-
agogisches Archiv 50. Jahrg., 1908, S. 169 f. ;
dazu Stemplixger, Das Plagiat in der
griech.Litteratur, der meinen eben zitierten
kleinen Aufsatz nicht kennt. Ich muß
vsagon, daß der Titel des Stemplingerschen
Buches noch mehr verspricht, als es wirk-
licli darbietet.
2) A'^gl. z. B. Isokratea Panegyr. 8 ; Seneca
epist. 79, 5 ; Horaz ars poet. 128 f.
') Siehe von Mess, Rhein. Mus. 61
S. 382—392.
^) Stemplinger S. 47.
5) a. a. 0. S. 177—180.
ß) Siehe K. Witte, Ehein. Mus. 65
S. 270 ff.
7) Oic. Brut. 42.
200 Kritik und Hermeneutik.
Wege der oft wörtliche Einklang der Evangelien zustande gekommen,
ist Gegenstand eingehendster Untersuchungen. Der Evangelist Lukas
übernimmt öfters die Berichte aus den beiden anderen Synoptikern in der
Weise, daß er nur den vulgären Wortausdruck, den sie darboten, abändert
und nach seinem Geschmack veredelt. Aber auch die Johannesapokalypse
zeigt mit den Evangelien ab und an so auffällige Übereinstimmungen,
daß man es als feststehend betrachten kann : die Verfasser der drei ersten
Evangelien haben die Apokalypse im Gedächtnis getragen. Man vergleiche
z. B. Marcus 13, 17 oval öe rdig ev yaotgl exovoaig mit Apokal. 12, 2 ; Marc.
13, 10 ro evayyekov eig jidvra rd e&vr] mit Apokal. 14, 6; Marc. 13, 24 äoregec:
microvreg u. s. f. mit Apokal. 6, 12; Marc. 10, 37 mit Apokal. 3, 21; aber
auch Matthäus 24, 40 mit Apokal. 3, 3 und 16, 15, u. ä. m.i) Die Apo-
kalypse war also ein anregendes Vorbild für Sprache, Anschauung und
Gleiclinisse der sich entwickelnden christlichen Gemeindeschriftstellerei.
narrator u. Die Alten Unterschieden in der Geschichtschreibung ausdrücklich und
exornator jjg^^^ zwisclicn dem eigentlichen narrator und dem exornator rerum.^}
Der erstere bedient sich des bloßen vjiojuvrjjua, der letztere fängt das
Publikum durch willkürliche Ausschmückung und Belebung des Stoffes,
den er vorfand. Livius war exornator, Polybius wollte nur narrator sein. 3)
Nach unserem Urteil, d. h. nach dem Urteil des Quellenbenutzers, der
nur die Tatsachen will, ist es ein Lob für den Historiker, wenn er sorg-
lich, ja, sklavisch ausschreibt. Denn um so treuer gibt er die Tatsachen
weiter, und jede eingreifendere redaktionelle Änderung, ja, jede stilistische
Nuance ändert sogleich schon den überlieferten Sachverhalt. Daher eben
schreibt auch Xenophon sich selber aus und benutzt in seinen Hellenika
einfach wörtlich seinen Agesilaos. Mit Änderung der Worte hätte er
auch die Sache verändert.*) Daher hat es auch gar nichts Auffälliges,,
daß Herodot den Hekatäus wörtlich ausschrieb. 0) Daher ferner die wört-
lichen Übereinstimmungen in den synoptischen EvangeUen, von denen
ich sprach; sie garantieren die Treue der Tradition. Und so oder ähn-
lich würde sich auch Diodor vor seinen Anklägern rechtfertigen, ß)
Tacitus Was Tacitus uns gibt, sind im Grunde nichts als intelligent her-
gestellte Exzerpte aus Cluvius Hufus, Plinius u. a. Autoren, die die näm-
lichen Ereignisse in großer Ausführlichkeit dargeboten hatten. Für wich-
tige Teile gehen Tacitus' Annalen auch auf die Akten des Senats selbst
zurück, die aber allerdings auch schon bei jenem Cluvius Rufus heran-
gezogen worden sein können. Das stark Subjektive am Tacitus ist die
Auswahl, die er beim Exzerpieren trifft.
Diog- Laer- Daher wächst endlich auch bei solchen späten Autoren, wie Diogentjs
Laertius und Sextus Empiricus, sofort ihr Wert, wenn wir nachweisen
tnis u. a.
') Vgl. Jacobsen, Protestantische linger S. 191.
Kirchenzeitung ed. Websky 1886 Nr. 27 °) Vgl. Herodot 2, 7 und Hekatäus
S. 606 und Nr. 28 S. 630. 1 fragm. 209; Diels, Hermes 22 S. 427.
•■'). Cicero de or. 2, 54. j «) Hätte er seine Quellen nur niciit
3) Vgl. Polyb. 2, 40, 4. so .nachlässig exzerpiert und so grobe Irr-
-*) So wiederholt übrigens auch Diodor i tümer begangen. Hierüber vgl. A.v.Mess,
sich gelegentlich wörtlich, z. B. über Ära- 1 Ehein. Mus. 61 S. 244 ff.
bien II 48, 6 f. und XIX 98; vgl. Stemp- |
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder. 201
können, daß sie ältere Autoren wirklich treu kopieren, der eine den Diokles
und Antigonos Karystios, der andere den Aenesidem. Denn diesen späten
Zeugen standen Quellen, die ihnen um vier oder fünf Jahrhunderte vorauf-
lagen, zur Verfügung. Dadurch werden sie uns kostbar. Auch die Zitate
in Plutarchs Schrift ad versus Colotem weisen auf eine Quelle aus sehr
vdel älterer Zeit.
Je wertloser also Diogenes Laertius für uns als Schriftsteller, „scriptor'*,
je wertvoller ist er als „auctor", d. h. als Zeuge, und dasselbe kann nun
ungefähr auch von Cicero s philosophischen Schriften gelten. Denn Cicero Cicero,
bezeugt uns selbst, daß er, was er da gibt, alles aus den griechischen Philo- Schriften
sophen übersetzt und zusammenrafft : apographa sunt (Cic. adAtt. 12, 52, 3).
Gelegentlich können wir einmal Kontrolle üben, de nat. deor. I 25 ff., wo
sein Text mit einem Philodempapyrus in dem Grade übereinstimmt, daß
wir auf eine treubenutzte gemeinsame Quelle schließen, i) ,Je unselbstän-
diger also Cicero hier vorging, um so günstiger ist es, da wir seine kost-
baren Quellen, die Stoa und die jüngere Akademie, ja nicht mehr besitzen. 2)
Für Plinius bieten seine Quellen Aristoteles und Theophrast gute
Kontrolle, 3) ebenso für Florus Livius u. s. f. Am befremdUchsten ist in
Ciceros Jugendschrift De inventione die Sachlage. Diese Schrift stimmt de
mit der Rhetorik ad Herennium, die wir dem Cornificius zuschreiben und ^^^'^"*^**"®
die ungefähr in denselben Jahren geschrieben ist, in umfangreichen Teilen
wörtlich überein. Wer ist nun hier der Kopist? wer der Kopierte? oder
ist gar an eine identische gemeinsame Vorlage zu denken?*) Genaue
Vergleichung wird, wie ich glaube, immer wieder zu der Annahme hin-
führen, daß Cicero das Werk des anderen skrupellos benutzt, zugleich
aber, wo es nötig schien, ergänzt hat.
Wenden wir uns zu den Dichtern, so stehen zunächst die Centone
Parodien für sich, deren Pflicht es ist, den Wortlaut der Vorlage mög-
lichst genau beizubehalten. Dafür bleibt das eleganteste Beispiel Vergils
Sabinusgedicht, Catalept. 10, das mit Catull c. 4 sein Spiel treibt. Für
sich stehen ferner auch die Centone, die sich ausschließlich aus Homer-,
aus Vergil Versen oder -versteilen zusammensetzen, wie die Medea des
Hosidius Geta: ein umfangreicher Vergilcento. Dies war eine gleichsam
musivische Kunst für sich.0) Aber auch die eigentliche Dichtung der
Alten arbeitete nie ohne Vorbilder; von Vorbildern wurde sie allemal
mehr oder weniger bestii^imt angeregt; und daher rechnen wir auch die
Übersetzer des Altertums, Terenz, Matius, Aemilius Macer, unbedenklich Übersetzer
zu den Dichtern. Das taten die Alten selbst, ß) Denn auch die Über-
setzung, der es wirklich gelingt, aus einem echt griechischen Gedicht ein
echt römisches zu machen, bleibt Dichtung.
*) DiELS, Doxographi S. 531 ff. erinnern, der p. 673 D seinem Zeitgenossen
2) Siehe z. B. Schmekel, Philosophie | Hephaestion vorwirft, ihn, den Athenaeus,
der mittleren Stoa. | ausgeschrieben zu haben, während in Wirk-
^) J. G. Sprenge^l, De ratione quae ' lichkeit vielleicht beide nur dieselbe Quelle
in historia plantarum inter Plin. et Theo- | — eine Schrift des Menodotos über Ana-
phrastum intercedit, Marburg 1890; ders. i kreon — auszogen; s. Stemplinger S. 18 f.
im Rhein. Mus. 46 S. 54 ff.; dazu meine I ^) Vgl. oben S. 38.
Schrift De halieuticis S. 135 ff. e) Oben S. 105.
*) Man könnte dabei an Athenaeus
202 Kritik und Hermeneutik.
Also auch der Dichter ist nicht oluie seine Quellen zu verstehen; der
erzählende übernimmt den epischen Stoff; ein elegischer übernimmt aus
bedeutenden Vorgängern seine Motive und Stimmungslagen, u. s. f.
Gelingt es uns nun aber, diese Quelle festzustellen, so ist damit noch
nicht viel gewonnen, sondern es gilt auch hier vielmehr, zu zeigen, wie
der Poet mit seinem Vorbild umgeht.
piaiitu8u.a. Terenz und Plautus übersetzen; Avie sorglich dabei Terenz vorgeht,
beobachtete schon Donat, und Meineke hat es eingehend dai'gelegt. i) Wie
keck hingegen ein Caecilius verfuhr, dafür gibt uns Gelhus ein eklatantes
Beispiel (II 23): keine Verfeinerung, vielmehr eine Vergröberung, ja
Verrohung; und wie Caecihus, so machte es ohne Frage auch Plautus.
Es wird sich immer mehr herausstellen, daß Plautus, wo er wollte, auch
selbständig vorging, und man kann nicht alle scheinbaren Zusammen-
hangslosigkeiten bei ihm aus Kontamination zweier Vorlagen, die er treu
übersetzte, erklären. Die Abhängigkeit der Römer von den Griechen hat
dann natürlich nie aufgehört, aber eigentliche Übersetzungen, wie die
Aratea oder Catull c. 68 B und die Varronischen Argonautica sind selten,
und der Trieb zur zweckmäßigen Umformung und Weiterdichtung wächst.
Lukrez Lukrcz Unternimmt es, Epicurs in schlechter Prosa abgefaßten Lehrabriß
in ein Empedokleisches Epos umzuwandeln; der Inhalt, auch die Dis-
position, 2) gehört dem Epicur; originell ist die Vortragsform. Am schönsten
Vergii ig^Q^ gjß]^ Vergils Kompositionsweise erkennen, und sie erw^eckt unser Er-
staunen, aber auch unsere Bewunderung. Gleich zu seinen Hirtengedichten
besitzen wir die theokriteische Vorlage, aber auch sonst stehen eine Fülle
von Imitationen fest, die schon das Altertum zu sammeln begonnen hat. 3)
Und wir sehen, Vergil ist eine Gärtnernatur, der nicht etwa Blüten aus
fremden Gärten pflückt und in seine Schalen sammelt, sondern die Kräuter
vielmehr mit den Wurzeln aushebt und in sein Erdreich pflanzt, so daß
sie bei ihm neu treiben und ein zweites echtes Leben führen. Dies sein
Verfahren hat Macrobius Sat. 6, 1, 2 und 5, 3, 16 dereinst richtiger ge-
würdigt als manche Neuere. Im Grunde war das Verfahren des A])ollonius
Rhodius kein anderes.*)
Erstaunlich, daß dabei nun auch ein Werk wirklich großen Zuges
wie die Aeneis entstehen konnte!
Epiker Kein Epiker erfindet: äjuaQTVQov ovÖev äeida), sagt Callimachus. Er
übernimmt vielmehr seinen Stoff nach innerem Triebe und ist darin vom
Tragiker (s. oben S. 185) durch nichts verschieden. Aber Avie dieser variiert
er den Stoff auch, vertieft ihn, fügt Motive und Personen hinzu; und so
wie das Epos selbst großen Stil hat, so sind auch die Entlehnimgen,
durch die es zustande kommt, im großen Stil gehalten. Dabei lehnen
die Dichter sich wörtlich an ihre Quellen an. Bei den christlichen Dich-
*) Menandri et Philem. reliquiae S. 1 | Philol. 1904 S. 66 ff.; ders., Aus Vergüs
bis 140; vgl. auch z.B. G. Yallat, Quo- Dichterwerkstätte, Berlin 1905, u. sonst,
modo Menandrum . . . Terentius trans- ; der mir Jedoch die Imitation als Bestand-
tulerit, Paris 1887. ' teil der dichterischen Tätigkeit Vergils
2) I. Bruns, Lukrez-Studien, Freiburg j nicht innerlich genug aufzufassen scheint.
1884. 4) SieheMERKEi.,Proleg.S.XXXVIIff.
) Vgl. jetzt die Arbeiten von P.Jahn, u. XC ff.
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder.
203
tern ist das in dem Grade der Fall, daß sich z. B. bei Cjprians Versifi-
zierung der Bücher Mose noch erkennen läßt, daß der Verfasser nicht
der Yulgata, sondern derjenigen Gruppe lateinischer Bibelübersetzungen
folgte, die man die Itala nennt. So heißt es bei ihm im Exodus 946
cessate deis maledicere, wo die Vulgata deo."^ non detrahes bietet, die Itala
aber: deos non maledices. Ja, es läßt sich erkennen, daß der Dichter für
die Genesis eine andere Italavorlage hatte als in den nachfolgenden
Büchern. 1) Sehen wir uns Aveiter um, so ist von Ovids Metamorphosen
nicht erst zu reden; sie sind ein Reservoir, in das die zahllosen art-
verwandten M^^then von allen Seiten zusammenströmten. 2) Und Vergil:
abgesehen von alledem, Avas er in die Aeneis umgestaltend und ver-
feinernd aus Homer herübernimmt, so stammt seine Dido und Anna aus
Naevius, die Schilderung der Verzweiflung der verschmähten Dido aus
Apollonius Rhodius, der an der Liebe und Verzweiflung der Medea ebenso
seine dichterische Kunst entfaltet hatte, es stammen weiter wichtigste Be-
standteile der Nekyia aus Posidonius und den Orphikern, die wundervolle
Iliupersis im zweiten Buch aus einer noch nicht sicher ermittelten Vorlage.
Es ist nicht zu verkennen, daß in diesem zweiten Buch Vergils "^^^rgU u.
manches mit den Posthomerica des späten Quintus Smyrnaeus überein-
stimmt. Wie erldärt sich dies? Hat dieser Quintus etAva den Vergil
selbst gelesen und als Vorlage herangezogen? und allgemeiner: haben
auch Griechen Römer nachgeahmt? Dem müßte einmal in zusammen-
hängender Untersuchung nachgegangen AA-erden. Jene den Quintus be-
treffende Frage pflegt man heute zu verneinen und vielmehr eine gemein-
same mjthographische Vorlage des Vergil und des Quintus anzusetzen, soAvie
auchValeriusFlaccus zum Teil nach Mythographen dichtete. Glaublicher ist
trotzdem, daß Quintus die Aeneis selbst benutzte. Jedenfalls sei bei dieser
Gelegenheit erinnert, daß gelegentlich auch Grieclien die Schätze der römi- Griechen
sehen Litteratur Avirklich zu benutzen wußten ; dies zeigt der Dichter Claudian, ahmer der
den die griechischen Autoren des Ostreichs als Geschichtsquelle eingesehen
haben, 3) zeigen die Aviederholten griechischen Übersetzungen, die Eutrop er-
fahren hat (Paianios ; Capito), zeigt Sallust, den Zenobios zur Zeit Hadrians
ins Griechische A^ertierte, zeigt Livius, der A^on Cassius Dio in den Büchern
86 — 51 direkt benutzt AA^urde, zeigt Lucian, der den Trimalchio des Petron
kannte und auf ihn anspielt,*) zeigt endlich auch jener ^ÄQQLavog bei Suidas
mit seiner poetischen Metaphrase der Georgica Vergils (emxcog). Ja, schon
Polybius, der Freigelassene des Kaisers Claudius, hat den Vergil in griechische
Pi-osa übersetzt, ö) Wenn man die Georgica metaphrasierte, kann man die
Aeneis nicht ignoriert haben, ß) Sehen Avir doch auch, daß griechische
Römer
*) Vgl.HERM. Best, De C'\^riani metris
in Heptateuchum, Marburg "^1892, S. 37 ff.
2) Siehe Kienzle, Ovidius qua ratione
compendium mythologicum . . . adnibuerit,
Basel 1903; O. Lafaa'e, Les metaniorphoses
dOv^de et leurs modeles grecs, Paris 1904.
3) Siehe Jul. Koch, Ehein. Mus. 44
S. 599. Eine eingehendere Ausführung ist
uns Kocli leider schuldig geblieben.
*) Siehe (). Hirschp^eld, Ehein. Mus.
51 S.470. Daß dagegen Plutarch, Lukuli 39,
den sechsten Brief des Horaz, den er zitiert.
selbst las, bleibt unsicher.
ö) Seneca Oonsol. Polyb. 8, 2; 11, 5,
ß) Siehe KEHMPTZOA\%*^De Quinti Sm.
fontibus eqs., Kiel 1891; vgl. ähnlich über
Trj^phiodor und Vergil Noack z. B. Ehein.
Mus. 48 S. 420 ff. Abweichend urteilt E.
Hetnze, Virgils epische Technik S. 63 ff.
u. a. Gelehrte.
204 Kritik und Hermeneutik.
Dichter gegen Vergils Didoauffassung, indem sie den Maro ausdrücklich
nennen, polemisieren (Anthol. Pal. 16, 151). Christodor fand das Bildnis
des Vergil im Gymnasium des Zeuxippos zu Konstantinopel aufgestellt
und beschreibt es seinem griechischen Publikum mit den Worten, Ek-
phrasis v. 414 f. :
Kai <piXog Avaoviotoi hyvdoooq e'jiQSJis xvxvog
Tiveicov Evemt]? BsQyihog ov jiozs 'Pcofii^g
ßvßgiäg äXXov "OfirjQov dvhgeqos jidzQtog rjx^-
Und auch der ägyptische Grieche Claudian hätte nicht der große Dichter
und Vergilnachahmer werden können, wenn er den Yergil nicht schon
früh und als er noch am Nil als Grieche lebte, gekannt hätte. ^) So be-
nutzte dem Anschein nach auch der Historiker Appian das lateinische
Epos des Lucan; A^gl. Lucan 7, 326 ff. und Appian bell. civ. 2, 74.^)
Proper/. Andors liegt die Sache bei Properz. Nicht selten ergibt sich, wie
. bei Geschichtschreibern, so auch bei den Dichtern der Schluß, daß, wo
sie in Schilderungen übereinstimmen, die Ähnlichkeit auf gemeinsame
Quelle zurückgehen wird. Der Schluß ist auch für Dichter zulässig, so
frei aach ihre Phantasie sonst walten mag. Die Elegien des Properz
zeigen mitunter die nämlichen Motive und Situationen, die wir in den
Liebesgedichten des Spätlings Paulus Silentiarius (in der Anthologia Pala-
tina) wieder antreffen. Da es aber ganz unAvahrscheinlich ist, daß dieser
Paulus den Properz selbst las, so suchen wir für beide Dichter ein gemein-
sames Vorbild bei den alexandrinischen Elegikern und Epigrammatikern
des 3. und 2. Jahrh. v.Chr., die freilich ihre erotischen Motive und Phraseo-
logie ihrerseits wieder aus der attischen Komödie entlehnt hatten. Denn
die Komödie Athens war vornehmlich eine Schöpferin der Sprache der
Liebe.
Catuii c. 64 Es gibt aber auch litterarische Werke ganz singulärer Natur, und für
ihr Verständnis wäre es besonders nützlich, die litterarischen Anregungen,
aus denen sie hervorgingen, genauer zu kennen. Ich nenne Catulls
Nr. 64, die sog. Nuptiae Pelei et Thetidis, sowie die Germania des Tacitus.
Die Nuptiae sind uns, wie die Ciris, ein Beispiel des alexandrinischen
Epyllion; daß sie aber aus Übersetzung hervorgingen, ist ganz unwahr-
scheinlich; denn auch die Ciris ist keine Übersetzung (auch die Smyrna
des Cinna war gewiß keine); wohl aber müssen wir annehmen, daß hier
in gleichsam schulmäßiger Weise von Catull Vorschriften der alexandrini-
schen Poetik befolgt und durchgeführt sind; daher der erotische Monolog;
daher insbesondere auch die eigentümlich geschachtelte Anordnung des
Tacitus Inhaltes.3) Des Tacitus sog. Germania aber ist damit nicht erklärt, daß
man auf die litterarischen oder mündlich übermittelten Quellen hinweist,
aus denen Tacitus den Inhalt entnahm oder entnehmen konnte. Das
Wichtigste ist es, vielmehr die Form selbst, die der Autor wählte, zu er-
klären, ich meine die monographische Behandlung eines ethnographischen
Gegenstandes. Dafür aber ist an Senecas verlorene Schriften De sHm
1) Siehe ed. Claudian praef. p.VLII; i phil. 9 S. 325!
cf. ib. p. XLIV u. LXXII. | «) G. May, De stilo epylliomm Eoma-
2) Siehe Perrin, American joum. of nomm, Kiel 1910, umgeht "das Wichtigste.
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder. 205
Indiae und De situ et sacris Aegyptionim, es ist an Arrians Monographie
'Ivdixij u. ähnl. zu erinnern, und so müssen wir das Urteil in dem Sinne
formulieren, daß, was Livius dereinst in seinem 104. Buch als Exkurs ge-
geben hatte: situm Germaniae moresque (so die -Periocha), von Tacitus
nach Senecas Vorbild unter Heranziehung von weiterem Material zur
Monographie gestaltet worden ist. Aus derselben Analogie des Seneca und
des Arrian ergibt sich dann aber auch, daß Tacitus mit seiner Germania
schwerlich auch noch politisch aktuelle Zwecke verband, sondern nur, wie
jene, eine ethnograpliische Studie hat vorlegen wollen, sowie ferner, daß
es gänzlich überflüssig ist, anzusetzen, ursprünglich sei die Germania ein
Teil der Historien des Tacitus gewesen, i)
Ein Unikum in seiner Art. isl für uns auch das Kunstmärchen von Apuiej.
Amor und Psyche, das wir bei Apulejus lesen (vgl. oben S. 174). Wie p^yche
und durch Anregung welcher Vorbilder oder durch welche Wandlungen
in Stoff und Grundgedanken dies inhaltreiche und hochpoetische Märchen
zustande kam, ist eine besonders interessante und viel ventilierte Frage,
für die R. Reitzenstein 2) neue Gesichtspunkte aufgestellt hat. Doch
halte ich Reitzensteins Grundgedanken für verfehlt, und ich will dies
nicht ohne kurze Begründung aussprechen. Alles dreht sich hier um das
Orakel, das der Vater der Psyche erhält. Die schöne Psyche ist ohne
Freier geblieben; auf Anfrage verkündet das Orakel Apolls Folgendes,
Apulej. 4, 33:
Montis in excelsi scopulo tu siste puelJam
Ornatam mundo funerei thalami
Nee speres generum mortah stirpe creatum
Sed saevum atque ferum vipereumque malum,
5 Qui pinnis volitans super aethera cuncta fatigat
Flammaque et ferro singula debilitat,
Quo') tremit ipse lovis, quo numina terrificantur
Fluminaque horrescunt et Stygiae tenebrae.
Der Umstand, daß hier Amor im v. 4 als Schlange bezeichnet wird, soU
nun angeblich darauf zurückweisen, daß Amor in einer ursprünglicheren
Fassung der Fabel nicht nur als der herkömmliche Liebesgott, sondern
als kosmische Gottheit in Schlangengestalt vorgestellt worden sei, und es
ist E-eitzenstein wirklich gelungen, aus späten und entlegenen Dokumenten
der orientahsch-ägyptisch beeinflußten Mischrehgionen solchen kosmischen
Schlangen-Eros in einer vereinzelten dürftigen Spur nachzuAveisen. Der
Nachweis ist aber ganz unbrauchbar. Denn ein Orakel muß doppeldeutig
sein. Wurde in obigen Versen wirklich, wieReitzenstein ansetzt, ursprünglich
die Kenntnis davon vorausgesetzt, daß Amor ein schlangengestaltiger Welt-
gott sei, so enthielt der Spruch keine Dunkelheit mehr; alle Gläubigen mußten
gleich auf ihn raten, und alle Angst und Trauer, die sich anschloß, war
unnütz. In Wii-klichkeit spielt das Orakel unseres Märchens vielmehr nur
in herkömmlicher Weise mit einer tropischen Wendung und täuscht durch
*) So Brunot, Un fragment des , ') Das Märchen von Amor und Psyche
histoires de Tacite, Paris 1883. Im all- | bei Apuleius, Leipz. 1912.
gemeinen s. Lückenbach, De Germaniae ') Quo lese ich statt Qiiod. Das quü
(jiiae vocatur Tac. fontibus, Marburg 1891. v. 5, weist auf gener saevus zurück.
206 Kritik und Hermeneutik.
sie den naiven Laienverstand, Avie die Orakel es stets tun (oben S. 52).
Denn sie sind nur eine Erscheinungsform des yQicpog (oben S. 121 f.) nach
Art jenes Musters, das uns für den yglcpog gegeben wird:
"Exxooa Tov Ugidfiov Aio[^ir}örjg exTavev an)Q,
wo der Kurzsichtige einwendet: „Diomedes tötete doch den Hektor nicht"
und wir dann belehrt werden öti diojurjdrjg fjv dvrjQ 6 'Axdhvg.^) Man ver-
gleiche nur gleich, was Pythia dem Krösus bei Herodot 1, 55 orakelt:
oAA' 6'ra»' i^/xiovog ßaodevg Mrjdoiot ysfrjiai,
xai TOTE Avöi Jiodaßge jiokvrp^qpida Jiag' "Egfiov
(fEvyeiv jiiTjds juh'siv /ni]ö' atdeXo&ai xaxog eivai.
Der Kniff ist hier bei Herodot das tropisch gesetzte fjjulovog; gemeint ist
König Kyros, der Mischling. Davon, daß Krösus das eine Wort Maultier
oder Halbesel nicht versteht, hängt sein ganzes zukünftiges Schicksal ab.
Die Parallele ist vollkommen; denn ganz ebenso ist im Orakel, das Psyche
betrifft, vipereum mahim die Pointe; auch dies nur ein Tropus; auch hier
handelt es sich scheinbar um ein Tier. Psyches Eltern verstehen das
Wort von einem wirklichen Drachen, wie Krösus das fjjuiovog von einem
wirklichen Maultier, und eben darauf gründet sich auch 5, 17 der Ver-
dacht der neidischen Schwestern Psyches, ihr stets unsichtbarer Gatte sei
nichts anders als ein wirklicher serpens\ denn das Orakel habe gesagt te
trucis hestiae nuptiis destinatam.
Zum Verständnis dieses Tropus aber wolle man sich erinnern, daß
die Liebe zum Weibe oder aber auch die Hetäre selbst, deren Netzen
niemand entrinnen kann, eine ÖQaxaiva hieß. Dafür ist der locus classicus
das Fragment des Anaxilas bei Athenaeus p. 558 A, avo die Vergleiche
sich häufen: „wer eine Hetäre liebt, hat es zu tun mit einer ÖQaxaiva,
Skylla, Sphinx, Hydra, extöva.^ Das genügt. Aber ebenso wird dann auch
Amor selbst bei Plautus, Persa 3, mit der excetra verglichen. Das ist noch
deutlicher. AVer diesen Tropus, der der Sprache der Erotik angehörte, die
Gleichsetzung Amors mit der vipera, nicht versteht, mißversteht die Ab-
sicht des Orakels und damit zugleich auch die ganze Dichtung.
Kosmische Spekulationen sind dieser Liebesnovelle möglichst fem zu
halten. Denn man wird bemerken, daß sich ihr Verfasser (sei es Apu-
lejus oder seine Vorlage), was die Götterwelt betrifft, ganz ebenso Avie
Lucian, wo er uns in den Olymp einführt, sorglich im Kreise der in der
Poesie rezipierten, homerischen Göttergestalten hält. Einflüsse der Misch-
religionen jener Zeiten vermeidet er in diesem Stück planvoll. Es ist wahr,
daß es in kosmischen Spekulationen damals auch eine Gottheit Psyche gab.
Aber daß Apulejus seine Psyche durchaus nicht in solchem Sinn verstand
oder verstanden vorfand, leidet für mich keinen Zweifel. Das Märchen
ist vielmehr, wie es vorliegt, so sinnig klar und einheitlich durchgeführt,
daß ich mich zu der Ansicht bekenne: es kann nie eine wesentlich
andere Gestalt gehabt haben als die vorliegende. Daß der Erfinder, den
Apulejus mutmaßlich übersetzt, bei seiner Dichtung köstliche Motive des
ungeschriebenen Volksmärchens, wie von den neidischen Schwestern und
i) Schol. Aristid. p. 508.
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder. 207
von den Strafarbeiten des verkannten und verfolgten schönen Weibes,
benutzt und aufgelesen hat, widerspricht dem Gesagten durchaus nicht.
Denn auf diesem Wege entstehen alle guten Kunstmärchen. Jedenfalls
steht die Amor- und Psj^chegeschichte so vor uns, als käme sie aus erster
Hand, und zeigt nirgend einen Eiß, der als Spur erheblicher redaktioneller
Umformungen sich verwenden ließe. Und dabei wurde nun endlich ein
anmutiger allegorischer Gedanke zugrunde gelegt, und auch dieser gehört,
wie wir dringend betonen müssen, der Sprache der gewöhnlichen Erotik
des Altertums an: Psyche wird unsterblich.
Daß das schöne Mädchen in unserer Geschichte grade Psyche heißt,
war nichts Auffälliges ; denn Psyche w^ar bei den Griechen ein ganz ver-
breiteter Frauenname. Aber der Name tritt liier zugleich in den Dienst
einer Allegorie, die sich erst am Schluß der Dichtung ganz vollendet. Die
Liebe peinigt den Menschen mit tausendfacher Qual, aber sie macht ihn im
Moment ihrer Sättigung den Unsterblichen gleich : das ist der Sinn, der das
Ganze durchdringt. So wird denn die Psyche am Schluß, nach überwundener
Pein, in der Tat in den Olymp selbst eingeführt, aber nicht etwa als
Gottheit, nicht als Göttin, die etwa der Yenus oder dem Mercur irgendwie
artgleich wäre und dauernde göttliche Funktionen erhielte. Das ist nicht
der Fall. Apulejus vermeidet es sorgfältig, die am Schluß erhöhte Psyche
„Göttin" zu nennen. Ausdrücklich nur als „Unsterbliche" wird sie im
Himmel aufgenommen, d. h. als eine, die nicht zu sterben braucht, wie
Tithonus unsterbHch w^urde, nur w^eil Eos ihn liebte. Was ist damit ge-
sagt? Nur dies, daß der glücklich Liebende sich wie im Himmel fülilt,
sich ewig dünkt. immortaUs ero sagt Properz 2, 14, 10 und nochmals: si
dabit haec multas (noctes), fiam immortaUs in Ulis 2,15,39. Das ist deut-
lich und unmißverständlich das schwärmerische Evangelium der Erotik:
solange der Liebesgenuß währt, solange w^ährt des Sterblichen Unsterb-
lichkeit: die Psyche des so Liebenden ist immortaUs. Das ist auch hier
gemeint. Denn Juppiter sagt zur Psyche nur dies, 6, 23 : immortaUs esto
nee umquam digredietur a tiio nexu Ciipido. Nur in diesem Sinne wird
Psyche in den Himmel erhoben.
Doch kehren wir zu ergiebigeren Problemen, die das Verhältnis der w^erke po-
Autoren zu ihren Quellen betreffen, zurück. Eine besondere Gruppe ^^xltu^^'
bilden die Werke polemischer Natur, die überhaupt nicht zu ver-
stehen sind, wenn man den Gegner, gegen den sie sich richten, nicht
kennt oder rekonstruiert. So gibt Thuk^^dides im ersten Buch c. 89 — 118
ein Korrektiv zu seinen Vorgängern, insbesondere zu Hellanikos ; i) 1,20,3
polemisiert er stillschweigend gegen Herodot (s. dort das SchoHon). Xeno-
phon eröffnet seine Memorabilien I c. 1 und 2 mit einer Widerlegung der
Sokratesanklage des Polykrates, und die Disposition der letzteren, für uns
verlorenen Schrift läßt sich noch Punkt für Punkt aus ihm entnehmen. 2)
Ganz ähnhch steht es mit Kaiser Julians verlorener Streitschrift xard
KgioTtavöjv in drei Büchern, die aus der wortreichen Widerlegungsschrift
des Cyrill von Neumann 3) teilweise hat rekonstruiert werden können.
') Kirchhoff, Hermes XI S. 371 f. 3) C.J.NEUMANN,Iulianilibronim con-
2) Siehe unten. tra christianos quae supersunt, Leipz. 1880.
208 Kritik imd Hermeneutik.
Aus Pseudo-Longin Tregl vxpovg läßt sich noch ziemHch gut die Arbeit des
Rhetors CaeciHus, gegen die jener sich wendet, erkennen; vor allem ist
es wahrscheinlich, daß viele der Belegstellen für und gegen den erhabenen
Stil, die wir in der Schrift vom Erhabenen lesen, schon von dem fleißigen
piato Caecilius beigebracht Avorden waren. Läge die Sache bei Plato nur
ebenso klar! Denn die große Schriftstell erei Piatos ist eine ständige Aus-
einandersetzung mit Gegnern, die wir nicht mehr haben, und keine Ana-
lyse eines Platodialogs kann geschehen, ohne daß wir nach ihnen uns
umsehen; eine Fülle geistvollster Kombinationen ist auf diese Probleme
verwandt worden: auf Demokrit diviniert man im Philebus, auf Anti-
sthenes im Theaetet und Kratylos, u. s. f., Hypothesen, die von Zeit zu
Zeit allerdings dringend Revision verlangen.») So auch die Hypothese
von der Polemik Piatos gegen Isokrates, im Euthydem und sonst, die
seit Leonhard Spengel lebhaft erörtert wird 2) und sich auf mancherlei
Isokratesanklänge bei Plato stützt. In vielen Fällen läßt sich aber natür-
lich gar nicht ausmachen, welcher von diesen beiden Autoren da jedes-
mal auf den anderen anspielt und ob da nicht auch noch Bezüge zu
anderen Autoren mit eingreifen. Zur Vorsicht in solchen Dingen mahnt
Symposien vieles, niclits aber so sehr, wie das Beispiel der beiden Symposien,
Xenophons und Piatos. Denn eine imitierende und zugleich polemische
Beziehung zwischen beiden Meisterwerken ist da sicher vorhanden. Aber
die Kenner schwanken durchaus, welcher von beiden Xoyoi egcoTixoi der
frühere sei. Jene Polemik betrifft Nebendinge wie, ob aus kleinen oder
aus großen Bechern getrunken Avird, dann auch die Wahl der Sprecher,
unter denen sich bei Xenophon der von Plato verachtete Antisthenes be-
findet, endlich gewisse Einzelheiten in der Auffassung der veredelten
Päderastie, um die es sich in den Gesprächen vornehmlich handelt. Dafür,
daß Piatos Werk früher fällt, spricht schließlich doch eben diese Liebes-
theorie selbst,^) spricht auch der Umstand, daß im dramaturgischen Auf-
bau Xenophons Werk unbedingt das vollkommenere ist. Allein wie viele
lassen sich durch diese Gründe überzeugen?
Ergänzung Die höchsto Lcistung der Hermeneuse aber bleibt uns noch übrig.
""^^ige/^ Dies ist die Rekonstruktion des Inhaltes verlorener und die Er-
Werke gänzuug dos Inhaltes unvollständiger Werke.
seneca_ Das letzte zuerst. Seneca hat seine Tragödie Phoenissen, die ohne
Chor in zum Teil zusam m enhangslosen Szenen vorliegt, nie fertig gemacht.
Wer, was vorliegt, recht verstehen will, Avird sich bemühen, hypothetisch
den Grundriß der Fabel zu erschließen, für den diese Szenen bestimmt
waren.'*)
Aeschyius Ungleich belangreicher und brennender die Frage nach den Trilogien
^th°e™8 ^^^ Aeschyius. Der erhaltene Prometheus ist nur ein Akt im großen
Götterdrama. Es ist der gefesselte. Es ist schon viel, daß wir wissen,
1) DüMMLERS Antisthenica und Aka- ! Piatone, Jena 1906.
demica gaben hierfür viel Anregendes. ; ') Siehe I. Bruns, Vorträge und Auf-
') Siehe H. Gomperz in Wiener Stu- \ sätze S. 118 ff.
dien Bd. 27 u. 28. Ablehnend B. v. Hagex, \ *) Neue Jahrbb. 27 S. 361 f.
Num simultas intercesserit Tsocrati cum i
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder. 209
daß auf ihn der XvojjLsvog folgte, in dem die Titanen den Chor, bildeten
und Herakles die Lösung brachte. Aber das dritte Stück, der nvQcpoQogl
Avar es wirklich das Schlußstück? oder begann mit ihm das Ganze, und
Avar darin der Raub des Feuers dargestellt? Man muß sagen, daß das
erhaltene Stück zur Exposition der Handlung vollständig genügt; auch
scheint es, daß nvQcpooog nicht den, der das Feuer raubt, sondern nur den
bedeuten kann, der das Feuer zu tragen pflegt.
Für die Handlung der Danaidentrilogie gaben die uns erhaltenen Danaiden
Schutzflehenden sicher die Eröffnung. Fünfzig Mädchen, die ihre Männer
töten in der Hochzeitsnacht; nur Hypermestra rettet den Lynkeus: so
ging die Handlung weiter; das Ganze gipfelte im Auftreten der Aphro-
dite, die feierlich zugunsten Hypermestras und ihrer Liebe die göttliche
Entscheidung gab. Welche Stücke folgten nun aber auf das erste? Wir
haben statt zwei drei Stücke zur Verfügung: Aavatdeg, Oalajuojzoioi und
AlyvjiTioi. Ich glaube immer noch, daß GakajuojToiot das ZAveite, Älyvjtrioi
das Schlußdrama gOAvesen und daß der Titel Aavatdeg auszuscheiden ist.
Denn nur der Gesamttitel der Trilogie konnte so lauten, und es scheint
absurd, A\'enn neben dem ersten Drama "Ixhideg eins der folgenden Aavatdeg
hieß: als ob die 'Ixerideg nicht auch Aavatdeg AA'ären; ebenso absurd, Avie
AA'enn unser Schiller von den drei Dramen „Wallensteins Lager", „Piccolo-
mini" und „Wallensteins Tod" das letzte oder mittelste einfach „Wallen-
stein" überschrieben hätte. Doch verkenne ich nicht die entgegenstehenden
ScliAAderigkeiten. i)
Claudian hat seinen Raptus Proserpinae nie vollendet. Wir haben ciaudian
nur drei Bücher, die mit der Wehklage der umirrenden Ceres enden; es ^^^^"^
ist die Wehldage um die geraubte Tochter. Aber Claudian hat zum Glück
in seinem Proöm dafür gesorgt, daß man AAdsse, wie das Werk w^eiter-
gehen und sich abrunden sollte : nicht nur das Wiederauffinden der Tochter
sollte folgen, sondern auch die Einsetzung des Ackerbaus. 2) Ungünstiger
steht es mit Lucans Epos De hello civili, von dem uns nur zehn Bücher Lucan
unterlassen sind. Sie behandeln den Kampf Cäsars gegen Pompejus;
aber nicht nur ihn. Pompejus ist schon im achten Buch gestorben;
Cäsars Erfolge gehen Aveiter, und im Buch X sehen wir ihn siegreich in
Ägypten, mit gelehrten Unterhaltungen beschäftigt; Pompejus scheint
A^ergessen. Das sollte gewiß nicht der Abschluß sein. Denn die Hand-
lung fällt allzu planlos auseinander. Man hat es ZAvecldos genannt, sich
darüber Gedanken zu machen, wie Lucan sein Werk eventuell fortzusetzen
gedacht hat. Wer ihn aber im Sinne der höheren Exegese als Dichter,
d. h. als Ordner und Anordner seines Stoffes würdigen aa^II, Avird im
Gegenteil darauf dringen, dies klarzustellen; iind das Richtige ist längst
ausgesprochen. Lucan verherrlicht Pompejus, grollt dem Cäsar. Also
sollte und mußte Cäsars Ermordung den Abschluß geben. In der Tat
wird der Tod Cäsars vom Dichter am Anfang des neunten Buchs ver-
kündigt, wo des Pompejus Seele sich zu den Sternen erhebt, dann aber
) Siehe Ehein. Mus. 32 S. 419 ff. ; Un-
haltbares gibt A. Nathansky, Wiener Stud.
32 S. 7 ff
h
) Vgl. auch Rapt. III 52 do7iec laetata
repertae Indicio tribiiat friiges; ed. Claudian
p. XVII.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 14
210 Kritik und Hermeneutik.
lierabscliwebt zu Brutus und Cassius, um in deren Seele zu atmen; und
schon VII 451 lesen wir: Cassius hoc feriet caput. Die Sühne wird voraus-
gesagt; sie mußte also auch folgen. Cäsars Frevel der Anfang, sein Unter-
gang der Abschluß: das gab ein abgerundetes Ganze, vielleicht in zwölf
Büchern. Die Buchzalil war durch Yergils Vorbild empfohlen, i)
Petron Pctron War des Lucan interessanterer Zeitgenosse, und viel begieriger
wären wir allerdings, den Inhalt der verlorenen Partien seines frechen
Reis eroman Werkes zu erraten. Aber die Sache ist hier aussichtslos. Etwa
zwanzig Bücher hatte Petron hinterlassen, und wir haben nur etwa aus
Buch 15 und 16 Exzerpte: die Geschichte von Encolpius mit seinem Giton,
dem liederlichen Globtrotter, der vagabundierend nach Massilia, Neapel,
Croton kommt. Der Zorn Priaps verfolgte ihn überall bei seinen Aben-
teuern so wie den Odysseus der Zorn Poseidons; das läßt sich immerhin
erkennen. 2) Aber was kann in den ersten vierzehn Büchern nicht sonst
noch alles passiert sein? Vielleicht waren sie minder unanständig als die
letzten, und der Exzerptor hat sich nicht für sie erwärmt.
Wenden wir uns hiernach endHch zu solchen Werken, deren Text,
weil man aufhörte, Abschriften von ihnen herzustellen, ganz verschollen
ist und von denen auch keine Exzerpte vorliegen. Auch ihre Rekonstruk-
tion ist Sache des Nachschaffens und der Divination und Konjektur, mit
Zugrundelegung der erhaltenen Fragmente, die dabei die sorglichste
Auslegung erfordern, sowie derjenigen Autoren, die das betreffende Werk
in freierer Weise benutzt haben.
Caiii- Besonders günstig ist die Sachlage alsdann, wenn zwei Autoren uns
denselben Erzählungsstoff in annähernd identischer Weise überliefern.
Man sammelt alsdann alle Übereinstimmungen und hat die gemeinsame
Vorlage damit zurückgewonnen. So wissen wir, daß Callimachus die
hübsche Novelle von Akontios und Kydippe behandelt hat; sowohl die
pseudo-Ovidischen Herolden 20 und 21 als auch des Aristaenetus Brief 1 10
überliefern uns eben diesen Stoff. Aus beiden ist ein deutliches Bild der
Callimachus elegie zurückgewonnen. 3) Ganz ähnUch stimmen die gleich-
falls pseudo-Ovidischen Herolden 18 und 19 über Hero und Leander mit
des Musaeus anmutigem Epylhon gleichen Inhalts überein, und auch
hieraus wird auf das bequemste eine Originalerzählung der schönen Sage,
die der alexandrinischen Zeit angehörte, ermittelt; wir wissen in diesem
Fall nur nicht, ob sie dem CaUimachus gehörte. 4) Man hat immer Lust,
wo sich eine ätiologische Novelle herausstellt, sie auf des Callimachus
Ahia zurückzuführen ; ö) und diese Neigung ist begreiflich. Man sollte
sich dabei aber immer gegenwärtig halten, daß diese Airia nur vier Bücher,
also schwerlich mehr als viertausend Verse enthielten, was, wenn jede Er-
zälilung hundert Verse umfaßte, nur vierzig Erzählungen zuließ.
machus
Alna u
) Vgl. M. Schanz, Gesch. d. römischen I Hero et Leandro fönte, Leipz. 1889. Mit
Litteratur § 391
2) Siehe E.Klebs, Philolog.47 S.623f.
^) O.D1LTHF.Y, De Callimachi Oydippa,
Heroid, 16 und 17 ist des KoUuthos AoJiayij
EUytfg (ed. Abel 1880) zu vergleichen.
^) Ueber das erste Buch der Aina s.
Leipz. 1863. Weiteres brachte der Calli- \ E. Dietrich, Fleckeis. Jahrbb. Suppl. 23
machuspapyrus .
^) J. Klemm, De fabulae quae est de
S. 167 ff.
i
IV. Die höhere Hermeneutik. C. Quellen und Vorbilder. 211
Ein verwandtes, aber mühsameres Unternehmen ist der lateinische Lat.Aesop
Aesop des Romulus von G. Thiele (Heidelberg 1910), in welchem Buche
die unscheinbaren mittelalterlichen Sammlungen lateinischer Tierfabeln in
gewissen Grenzen auf ein antikes lateinisches Fabelbuch, das vom Phädrus
unabhängig bestand, zurückgeführt ist.
Aber auch auf dem Gebiet der gelehrten Litteratur des Altertums ist Theophrast
Ähnliches gelungen. Ich denke vor allem an Diels' Doxographen, eine ''^?=aT*'
g;länzende Wiederherstellung des wichtigen Theophrastwerkes, in welchem
die Ansichten sämtlicher griechischen Philosophen über Natur und Welt
von "Theophrast vorgeführt waren. Diels hat die einschlägigen placita
pliilosophorum aus der weitverzweigten späteren Litteratur mit Scharfsinn
und Umsicht gesammelt und in quellenmäßigen Zusammenhang gebracht,
und wir haben damit ein Fundamentalquellenwerk für die Geschichte der
antiken Naturphilosophie erhalten.
Die sogenannten Fragmente sind direkte Zitate; Fundgruben für Fragment-
solche Zitate sind auf griechischem Gebiet besonders Athenaeus und i^^g^^^nd
Stobaeus, auf römischem Nonius Marcellus. Ansätze zu Fragmentsamm- Rekon-
lungen sind früh gemacht w^orden. Fördernd wirkte vor allem R. Bentley,
der für Callimachus die Bahn wies. Für wirldiche inhaltliche E/okonstruktion
war lange Zeit ein führendes Werk das F. G. Welckers, Die griechischen
Tragödien mit Rücksicht auf den epischen Zj^klus geordnet, 3 Bände,
1839 — 41, nebst desselben Die äschyleische Trilogie Prometheus, 1824.
Dann regten sich die helfenden Kräfte auf aUen Gebieten. Beispiele
herausgreifend nenne ich für die Historiker noch Maurenbrechers Ausgabe
der Historien des Sallust, Theopomps Hellenika in Ed. Meyers Rekonstruk-
tion, für das Gebiet der Satire den Timon von Phlius ed.Wachsmuth (1857)
und die mannigfachen Bemühungen um Lucilius, für den uns natürlich
der Nachahmer Horaz eine erwünschte Hilfe ist,') für die Philosophen
H. Diels' Parmenides und Herakleitos von Ephesos, sowie Useners Epicurea.
Äußerst spärlich sind die Fragmente der lo des Calvus.2) Zu ihnen Caivus lo
sei hier noch eine Bemerkung gestattet. Diese lo war ohne Zweifel ein so-
genanntes Epyllion alexandrinischen Geistes und eine nahe Verwandte der
hochgelehrten Zmyrna des Hel\T.us Cinna. Das eine Fragment aber lautet:
a virgo infelix, herbis pasceris amaris.
Also eine Weissagung im tempus futurum. Wenn man nun bedenkt, daß
Lykophrons „Alexandra" als Seherin ihren mythographischen Inhalt ganz
im tempus futurum heruntererzählt, ja, daß es mit dem „Apollo" des
Alexander Aetolus ebenso stand (denn das erhaltene Bruchstück dieses
„Apollo" bei Parthenius c. 14 zeigt dies selbe Tempus, der Inhalt aber war
wieder mythographisch), so läge die Yermutung nicht fern, daß Caivus
es in seiner lo ebenso machte. Dazu konnte ihn der Prometheus des
Aeschylus, der der lo die Wege weist, anregen. Vielleicht aber hatte des
*) Um Lucilius hat sich besonders 1 möchte, weil nicht nur Marx, sondern
F. Marx (ed. 1904) auf das sorglichste be- | auch C. Oichorius, Untersuchungen zu
müht. Einige Beiträge zu ihm gab auch j Lucilius, Berlin 1908, sie beiseite lassen.
ich (Zwei polit. Satiren des alten Rom, ! 2^ Vgl. F. Plessis, Caivus, Paris 1896.
Marburg 1888), die ich deshalb anführen |
14*
212 Kritik und Hermeneutik.
Calvus Gedicht zugleich auch die Form des Zwiegesprächs. Denn auch
lo führte, ihre Zukunft vorausahnend, das Wort, wie das Fragment zeigt :
Mens mea dira sibi praedicens omnia vecors.
Oder es war endlich vielmehr die mens der lo selbst, die „omnia sibi
praedicens" auch jenen Vers a virgo in fei ix, herbis pasceris amaris sprach
und alles Weitere im futurischen Tempus vortrug. Diese Annahme scheint
mir die glaublichste, und somit gehört die lo des Calvus in die Ge-
schichte des Selbstgesprächs (oben S. 187 f.). In der Exposition aber stand
die erzälilende Zeile:
<Io iam> partus gravido portabat in alvo,
mit welcher mutmaßHch das Gedicht begann, i)
Hilfe der Eüemach sei noch kurz der Archäologie gedacht. Denn auch die
logiT Archäologie hat bei der Rekonstruktion verlorener Dichtungen vortrefflich
weitergeholfen und kann immer weiter helfen.
Auch die Erfindung der mythologischen Szenen auf Bildwerken,.
Gefäßmalereien, Wandfriesen, Sarkophagreliefs beruht ja in den meisten
Fällen auf Dichterlektüre und setzt dieselben Stoffe voraus, die in der
Litteratur lebendig waren. Für den Nutzen, den ihre Yergleichung schafft,
gibt C. Roberts Schrift „Bild und Lied" mancherlei Beispiele.
Nehmen wir nur die Trajanssäule in Rom. Wer ihre Reliefs genau
beschreibt, dem ergibt sich daraus eine Erzälilung von Trajans Daker-
kriegen, wie sie in durchaus entsprechender Weise der Inhalt des General-
stabsAverkes De hello Dacico, das der Kaiser anfertigen ließ und das uns
Priscian zitiert, gewesen sein muß. Aber auch an Statins, auch an die
Ilias latina sei erinnert. Der Dichter Statius schildert uns in seiner Achilleis
Szenen aus Achills Jugendleben, für die wir Entsprechendes zum Teil
nur auf Bildwerken antreffen. 2) Die Ilias latina aber ist ein Auszug aus
dem homerischen Epos im Umfang nur eines einzigen Buches, der in Neros
Zeit angefertigt wurde; die Auswahl, die dabei der Verfasser des Auszugs
traf, ist durch die Yergleichung der Bilderfolge begreiflich geworden, die
sich auf den tabulae IHacae findet. 3)
1) Vgl. Wochenschrift f. kl. Phil. 1896 1 Dazu Stählin in Rom. Mitteilungen 21
S. 1282. ! (1907) S. 379 über die Achilldarstellungen
*) Siehe H. Kürschner, P. Papinius der thensa Capitolina.
Statins quibus in Achilleide componenda j ^) Vgl. Brüning im Archäol. Jahrb.
usus esse videatur fontibus, Marburg 1907. | Bd. IX S. 136 ff. nach Büchelers Hinweis.
V. Die höhere Kritik.
Die Tätigkeit des Hermeneuten ist zu Ende. Sie hat ihn in vielen
Fällen befriedigt, manche Werke des Altertums aber hat er zweifelnd
beiseite gelegt, und seine Kunst ist an ihnen gescheitert. Er hat ein
Werk nach Zweck und Anlage auseinandergelegt; er hat es vergHchen
mit dem Zeitalter, in dem es entstanden sein soll, und mit der Natur
des Autors selbst, soweit sie bekannt ist: in allen diesen Punkten oder
in einem von ihnen fühlt er sich unbefriedigt; das Werk stimmt nicht
zum Charakter des Verfassers oder nicht zu der Zeit, in der er lebte,
oder nicht zur Litteraturgattung, der es angehört, und der Hermeneut
wird wieder zum Kritiker und stellt die Frage: kann das Werk echt sein?
oder ist es doch redaktionell verändert?
Nehmen wir zunächst den günstigen Fall, daß nur redaktionelle Yer-
änderungen vorliegen. Solche redaktionelle Veränderungen spielen sich
auf dem Gebiet der hypomnematischen und giossographischen Litteratur
eigentlich immerwährend ab. Kommentare und Lexika wurden erw^eiteit
und Avurden verkürzt und waren in jenen Zeiten gleichsam unausgesetzt
im Fluß; ich erinnere an die griechischen Scholienmassen, so viele ihrer
sind, an den erweiterten Servius, an das Glossar des Placidus, an die
Geschichte der Etvmologica. Doch muß ich von Arbeiten dieser Art hier
grundsätzlich absehen und mich auf die eigentlich litterarischen Werke
beschränken.
1. Veränderungen in der Buchteilung.
Dies ist das leichteste. Für Homer, Xenophon und alle älteren ist,
wie schon S. 172 gesagt, die Buchteilung ganz hinwegzudenken. Die
ersten, die ihren Stoff auf mehrere Bücher verteilten, waren Aristoteles,
aber nur in seinen Dialogen, und der Historiker Ephoros. In des ersteren
mehrbücherigen Dialogen war jedes Buch eine besondere Szene; und auch
Ephoros verteilte seinen Stoff auf die Buchrollen y.aiä yevog, d. h. in jeder
erschöpfte sich ein Sachteil (oben S. 173 u. 198). Jede Rolle war hier also
noch fast wie ein Werk für sich. Wo dagegen in umfangreicheren Werken
der späteren Zeiten die Buchteilung fehlt, ist im Gegenteil anzusetzen, B^^ch-
daß sie verloren gegangen ist. Denn eine Prosabuchrolle pflegte selten stört:
mehr als 3000, ein Poesiebuch nicht mehr als 1000 Zeilen zu halten. J^^*^^'
. . Tlieokrit
Also sind die 2400 Verse des Catull vom Dichter keinesfalls so, wie sie u.a.
uns heute vorliegen, zusammen herausgegeben worden, sondern erst im ^
Kodexbuchwesen hat man sie in dieser Weise unorganisch zusammen-
gerückt. Ebenso liegt die Theokritsammlung in aufgelöstem Zustand vor;
Theokiits ßovxohxd waren nachweislich ein „Buch" für sich, und daß
214 Kritik und Hermeneutik.
diese alexandrinischen Dichter so kleine Gedichte wie den AiTrjg für sich
allein vervielfältigt ins Publikum gaben, glaube ich nicht. So ist es
ferner Pflicht desjenigen Editors, der den echten und ursprünglichen Ovid
herausgeben will, die ungegliederte Masse seiner Heroidenbriefe, von
denen fünfzehn echt Avaren, wieder, wie es sich gehört, nach dem Vor-^
bild der Ars und der Amores auf Bücher zu verteilen, und zwar auf drei
zu je fünf Briefen. Daß die einzelnen Buchaufschriften dieser drei
Heroidenbücher im Kodexbuchwesen leicht verloren gingen, ist nur zu
begreiflich und bei Briefsammlungen auch sonst nachweisbar. Ebensa
steht es mutatis mutandis bei Justin u. s. f.^)
Theokrits Nachlaß ist also großenteils arg zertrümmert. Einzelne Ge-
dichte hob man aus seinen verschiedenen Büchern nach Art der Blütenlese
aus und ordnete sie hinter seine gewiß vollständigen Bukolika: das ist es,
was wir von ihm haben. Geringer war in Senecas Naturales Quaestiones
der Schaden, von deren ursprünglich acht Büchern zwei Bücher verkürzt
wurden und dann als Buch lY zusammenwuchsen. Man trennt sie heute
als rVa und IVb; die Handschriften geben also nur sieben. So wuchsen
auch Tacitus' Ann.VündVI, nachdem sie verstümmelt worden, in eins zu-
sammen, so auch Buch I und II des Properz, wobei dann jedesmal die
Buchzählung verändert wurde. 2)
2. Breviarien.
Jene Werk Verkürzungen führen uns zu den Breviarien des Alter-
tums, den Exzerpten, weiter, den exkoyat, wie sie im 10. Jahrhundert
Konstantinos Porp hyrogenne tos aus der Prosalitteratur planvoll ausheben
ließ. Über Exzerpte s. oben S. 34 f. Nicht selten war der Effekt, daß
das Originalwerk durch das Exzerpt ganz verdrängt Avurde. So ist es-
leider mit Phaedrus' Fabeln geschehen, deren fünf Bücher kläglich ab-
gemagert und zusammengefallen sind, so mit des Eratosthenes KajaoTeQiofioiy
so auch dem Anschein nach mit des Xenophon Ephesius Roman 'Eq)eoiaxdJ}
Die 123 Fabeln im Cod. Athous des Babrios, die auf zwei Bücher ver-
teilt sind, können gleichfalls nur als Exzerpt gelten.*) In diesen Fällen
erschließt also die Kritik, daß die Werke nicht vollständig. Dazu gesellt
sich auch der zweite Epikurbrief an Pythokles, ein Exzerpt, das der Philo-
soph jedenfalls nicht selbst hergestellt hat.^)
3. Anstöße in der Komposition.
Arrians „Periplus" ist nicht einheitlich, und nur sein erster Bestand-
teil, der Brief an Trajan, zeigt die Originalhand Arrians. Das verrät
sich auch schon in der überlieferten Überschrift: ^A^^iavov ejiioroli] Jigog
TQaCavov ev fj xal jieQmXovg Ev^eivov Jiovtov.^) So haben sich auch gegen
die Einheitlichkeit einiger anderer größerer Werke ernstliche Zweifel
erhoben; es sind indes solche, bei denen die Anstöße sich ganz wohl auf
1) Hierzu vgl. Ant. Buchwesen S. 378 f. : ^ •») Suidas spricht von zehn Büchern.
382 f.; zu CatuU ib. S. 401; zu Theokrit i &) Usenp:r, Epicurea S. XXXVII f.
S. 389 f. und Elpides (Marburg 1881) S. 36 f. I ^) Vgl. C. G. Brandts, Ehein. Mus. 51
2) Siehe Ehein. Mus. 64 S. 399. | S. 109 ff.
3) K. Bürger, Hermes XXVII S. 36 ff. j
V. Die höhere Elritik. 1 . Buchteilung. 2. Breviarien. 3. Anstöße i. d. Komposition. 215
schön Isoer. Pan-
athenaicus
Piatos
Staat
den Alltor selbst zurückführen lassen. Ich denke an X e n o p h o n s sogenannte Xenoph.
Hellenika, ein Werk in sieben Büchern, an denen auffällt, daß ihr erster
Teil, der den Thukydides fortsetzt und bis zum Ende des peloponnesischen
Krieges reicht, viel knapper, notizenhafter abgefaßt ist als alles Folgende.
Man hat also aus diesem immerhin auffälligen Umstand geschlossen, dieser
erste Teil der Hellenika liege uns nur im Exzerpt vor. Doch herrscht
in ihm tatsächlich nicht der Stil, der den Exzerpten des Altertums eigen
ist; daß die Originalfassung vorliegt, wird heute kaum noch jemand be-
zweifeln, und die Anah^se ergibt, daß Xenophon zuerst die ersten zwei
Bücher (sicher bis II 3, 10) zur Ergänzung des Thukydides in knappster
Form abfaßte, dann III 1 — V 1, 36 bis zum Frieden des Antalkidas in leb-
hafterer und minder schematischer Erzählung hinzufügte, endlich später
das Ganze zu Ende führte. Ganz so schrieb ja auch Thukydides selbst
seinen Krieg anfangs nur bis zum Frieden des Nikias: eine Arbeitsweise
in Stationen, die uns der Panathenaicus des Isokrates besonders
veranschaulichen kann. Denn da teilt der Autor selbst von sich mit:
Isokrates ist 94 Jahre alt, als er die Schrift beginnt (§ 3); im § 267 läßt
er sie Avegen Krankheit liegen, und erst drei Jahre danach nimmt er sie
wieder auf (§ 270). Vorher schon (§ 230) erzählt er, daß er die Schrift,
soweit sie fertig, einem befreundeten Lakonen vorhest, der sie mißbilhgt,
so daß er zaudert, sie herauszugeben, i)
Wenn wir ganz die nämliche Abfassung in Stationen ansetzen, erklärt
sich weiter auch der eigentümliche Zustand der Solvratesschriften Xeno-
phons und des Platonischen Staates in genügender Weise. Plato rang
Avie ein Gigant mit seinem Stoff; denn es Avar AA^ohl das erste Mal, daß ein
Grieche eine Lehrschrift so gewaltigen Umfangs baute ; und der Stoff war
mächtiger als er. In der Tat sah er während der langwierigen Abfassung
seiner Politeia sich genötigt, seinen Plan zu A^erändern; aber daraus folgt
nicht, daß der Anfangsteil (sagen Avir Buch I und II), den Plato selbst
TiQooijuiov nennt, auch separat A'-on ihm ins Publikum gegeben Aväre; Gellius
14, 3 mag sagen, Avas er Avill. Plato schrieb Aielmehr von II cap. 9 an
nach einer Pause seinen Text ruhig weiter, ohne den großartigen Anfangs-
bau, der zum AVeiteren außer Verhältnis steht, abzureißen, 2) und zeigt
uns damit, was sich übrigens A'on selbst versteht, daß in den Anfangs-
zeiten der Litteratur die ausgeglichene Abfassung umfangreicher Prosa-
Averke eben etAvas sehr Schweres ist, zumal Avenn solche Werke nicht
erzählen, sondern als Lehrschriften einen leitenden Gedanken durchführen
oder entAAdckeln AA'ollen. In Xenophons sokratischen „DenkAvürdig-
keiten" aber ist die Schichtung der fortschreitenden Arbeit am klarsten,
und die Fugen liegen offen, ohne daß sie störend wirken. Xenophon
begann zunächst nur mit einer kurzen Apologie seines Helden, die im
ersten Buch der Memorabilien nur cap. 1 und 2 füllt, eine Apologie, die den
Polykrates widerlegte (oben S. 207), s) aber noch die Dialogform vermied.
^) Grenaueres zum Panathenaikos gibt ^ philos. Entwicklung, 1905, S. 181 ff. ; 0.
P. Wendlaxd in Nachrichten der Gott. | Eitter, Piatons Staat, Stuttgart 1909.
Xenopli.
Memora-
bilien
GW. 1910 S. 138 f.
2) Siehe I. Bruns, Litterar. Porträt
vS. 319 ff.; übrigens H. Eäder, Piatons
*) Zur Eekonstruktion des Polykrates,
auch mit Hilfe des Libanios, vgl. J. Mesk,
Wiener Stud. 32 S. 56 ff.
216 Kritik und Hermeneutik.
Sie hat eine in sich geschlossene Disposition. Danach entschloß sich
Xenophon, eine genauere Ausführung derselben Gedanken in dialogischer
Form hinzuzufügen, und so wuchs an jene Apologie die Textmasse I cap. 3
bis II fin. an, in Avelchen Abschnitten ganz dieselbe Disposition noch ein-
mal durchgeführt ist, wie in jenem apologetischen Teil, woraus hervor-
geht, daß das Werk damals auch nicht weiter als II fin. reichte. Dazu
gibt endlich Buch III ziemlich ungeordnete Nachträge, die jünger sind
(oben S. 170). Später folgten dann noch drei Aveitere Unternehmungen,
die aber jedesmal textlich an das früher Geschriebene eng anknüpften,
das sogenannte Buch IV der Memorabilien, in Wirklichkeit ein in sich
geschlossener Traktat jzsqI jiaideiag, der mit den Worten anhebt: ovrco de
ZcoKQdrrig fjv ... (hcpeXiiÄog, dann das Symposion, das mit äXX' sjuol doxei,
und der Oeconomicus, der mit rjxovoa de jTore avrov y.al anknüpft, i)
In allen diesen Fällen ist es die EinheitHchkeit der Komposition,
gegen die Zweifel laut werden, und die Analyse der Werke führt jedes-
mal zu einer wirkHchen „Auflösung" derselben, zu einem Auseinander-
fallen ihrer Bestandteile.
Zerlegung Inwieweit wir in den Dramen des Altertums Einheit der Handlung
Gedichten vcrmisson, ist in anderem Zusammenhang S. 185 erörtert. Aus diesem
Anlaß hat die Kritik sich nicht gescheut, die problematischen Phoenissen
des Seneca gradezu in zwei Gediclite zu zerlegen; wie ich glaube, mit
Unrecht. Aber auch kleineren Gedichtwerken gegenüber regen ^ sich
Zweifel dieser Art. Für Theokrits Idyllien sei auf Ph. E. Legrand, Etüde
sur Theocrite, Paris 1898, S. 406f. verwiesen; für die umfangreichste der
Properzelegien IV 1 auf das oben S. 177 Bemerkte. Niemals bei Tibull,
wohl aber gelangt man bisAveilen beim Properz zu der Schlußentscheidung,
daß, was man da als eine Elegie liest, in Wirklichkeit zwei selbständige
Gedichte sind. Dies ist nicht nur für I 8 evident, sondern auch für II 29.
Ebenso verhält es sich mit dem vielbehandelten Catullgedicht Nr. 68, das
in einen schlichten Brief an den „Gastfreund" Mallius und eine kunstreich
komponierte Elegie an den Freund AUius zerfäUt. Auch bei Claudian
habe ich ein Epigramm carm. min. 7 De quadriga marmorea in zwei zer-
legt, ebenso das Epigramm in der Anthologia latina 209 De Abcare servo.^)
Doch das sind Kleinigkeiten. Unlieb wäre es, wenn wir die vierte Juvenal-
satire in zwei ganz ungleiche Stücke zerspalten müßten. Doch läßt sich
hier ein loses Band wahrnehmen, das beide tatsächlich zusammenhält. 3)
4. Postume Werke und Verwandtes.
Gefährdet waren diejenigen Werke, deren Herausgabe erst nach dem
Tod ihrer Verfasser geschah. Tucca und Varius haben allerdings die Edition
Aeneis der Aoncis im ganzen vortrefflich ausgeführt. Weniges von dem, was
^) Siehe De Xenophontis Commen- i in Eom. Crispin, der selbst einst Fisch-
tariorum Socrat. compositione, Marburg ' händler war (v. 33), kauft sich jetzt einen
1893, und Ehein. Mus. 51 S. 153 f. ! mullus für sechstausend Sesterz, um ihn
2) Siehe De Amorum in arte antiqua | selbst zu verspeisen. Dem Kaiser wird
simulacris, Marburg 1892, S. XIY; Eiese i ein riesiger rhomhus gratis gebracht ; aber
hat in seiner zweiten Ausgabe der Antho- es muß für ihn extra ein Topf gebaut
logie davon nichts wahrgenommen. werden.
3) Beide handeln über den Fischluxus ;
V. Die höhere Kritik. 3. Anstöße in der Komposition. 4. Postume Werke. 217
in der Aeneis Bedenken erregt, wird sich auf die Tätigkeit jener Männer
zurückführen lassen: eine beachtenswerte Leistung, da w^ir allen Grund
haben, vorauszusetzen, daß Yergils hinterlassene Konzepte einer Avirk-
lichen Redaktion letzter Hand noch nicht gleichkamen. Um so w^eniger
hat es Cicero vermocht, dem Lukrezwerk De rerum natura, dessen Lukrez
Herausgabe er übernahm, die abgerundete Form, die Lukrez beabsichtigte,
zu geben; manche Abschnitte und Versgruppen stehen da an verkehrter
Stelle oder stehen doppelt, und eine definitive Erledigung der übrig-
gebliebenen Schwierigkeiten ist heute kaum möglich. Offenbar legte Cicero
persönlich wenig Wert auf den Lehrinhalt des Werks (er benutzt es, wo
er selbst über Epikurs Lehre handelt, nie) und hat nur die Brouillons,
■die er vorfand, notdürftig zusammengestellt. Daher sind die Bücher auch
stärker, als das Herkommen es zuließ.
Dies aber erinnert uns weiter an Pia tos „Gesetze". Denn auch Piatos
für Piatos Gesetze meldet uns Suidas, daß Philippos von Opus sie aus
dem AYachs in Reine schrieb^ d. h. edierte, derselbe, der zu den Noijloi
die ^Emvojiug hinzugefügt haben soll. Im Inhalt finden sich nun auch
hier Inkonvenienzen ; über die jue^r] wird anders in Buch II als in Buch I
gehandelt; Buch XII und VI scheinen sich zu Avidersp rechen , da der
„nächtliche Rat" mit den vojuiocpvXaxeg nicht in Einklang steht, u. ä. m. ;
Bruns glaubte sogar gewisse Abschnitte der Hand jenes Philippos selbst
zuweisen zu können, der zwei abw^eichende Entwürfe Piatos vorfand und
zu verbinden suchte: diese letztere Vermutung bestätigt sich nicht; im
übrigen aber lassen sich mancherlei Widersprüche nicht wegdeuten, und
das Problem ist von anderen mit Glück retraktiert w^orden.i) Seneca Seneca
führte seine Naturales quaestiones, deren Bücher er einzeln an den Lucilius " quaest!^
sandte, zwar zu Ende, und textliche Divergenzen bieten sie nicht; aber
6S scheint, daß er für die Bücher ursprünglich eine andere Reihenfolge
und Zählung, als die Handschriften sie geben, beabsichtigt hat, und die
chaotischen Wirren in der Buchfolge dieser Naturales quaestiones, die
wir in den Handschriften antreffen, müssen in letzter Linie auf diesen
Umstand zurückgehen.
Auch dieses Werk zählt Avieder, wie die vorhin besprochenen, zu
denen, die erst unmittelbar vor dem Ableben ihres Verfassers aufgesetzt
sind. Zu ihnen zählt aller Wahrscheinlichkeit nach auch des Horaz Ars
poetica, und das hat den Anlaß gegeben, nun auch an dieses Lehrgedicht
feinster Komposition d.ie verwegensten Umstellungshypothesen heran-
zutragen. Dies haben war schon S. 149 (u. 178) abgelehnt. Dagegen gehört,
wiederum des Euripides Aulische Iphigenie wirklich hierher; der Dichter,
hinterließ das Stück unfertig; daher die Einschaltungen, die es erfuhr. 2)
Und endlich Aristoteles. Von den Schulschriften des Aristoteles Aristoteles
machte wohl zuerst Hermippos um 200 v. Chr. eine unvollständige Aus-
') I. Bruns, Piatos Gesetze etc., Wei- j tendes bringt Carl Ritter, De legum
mar 1880; dazu F. Döring, De legum Pia- | Platonicarum libris I, II, III, Greifswald
tonicarum compositione, Leipzig 1907. Ab- i 1912.
lehnend Const. Ritter, Commentar zu ^) Siehe z. B. H. Hennig, De Iphig.
Piatos Leges S. 54 ff .; besonders Einleuch- Aul. forma, Berlin 1870.
jr. Tv;ir???
218 Kritik und Hermeneutik.
gäbe ; i) auch durch Schulabschriften fanden dieselben zum Teil frühzeitig
eine gewisse Verbreitung. Die Ethik erschien früh in drei abweichenden
Gestalten. Besonders wichtig aber wurde die umfassende Textausgabe,
die erst zu Ciceros Zeit gut 250 Jahre nach des Aristoteles Tode durch
Tyrannio oder Andronikos aus den alten Originalmanuskripten des Ari-
stoteles neu hergestellt wurde. 2) Daß diese Manuskripte sich damals in
arger Zerrüttung befanden, kann uns nicht wundernehmen, und daher
stammt zum Teil die verzAveifelte Unordnung, die in manchen der wich-
tigsten Schriften, wie in den Metaphysika, herrscht. Aber auch Unechtes
drängte sich früh ein, wie das neunte Buch der Tiergeschichte, die so-
genannten Postpraedicamenta, als Anhang der Kategorien. Wer nach Kom-
position und Disposition, nach Durchführung leitender Grundgedanken
fragt, gerät in diesen stoffreichen Aristoteleswerken oft auf unentwirrbare
Schwierigkeiten,
pintarch Ähnliches kam auch sonst vor. Mit dem Aristotelesnachlaß lassen
sich einige Plutarch Schriften, Avie die jieoUrvxrjg, vergleichen, deren Zu-
stand verrät, daß sie unfertig hinterlassen und Vorstudien zu anderen
Arbeiten des Autors w^aren.»)
Die erwähnte große Aristotelesausgabe des Andronikos aber ist nun
auch ihrerseits nicht überall intakt erhalten, sondern die wertvollen
Schriften haben auch noch nachträglich allerlei Unbill der Überlieferung*
erfahren. Ich erwähne nur die Poetik, die ursprüngUch zwei Bücher um-
faßt hat. Sie liegt uns in erheblicher Verkürzung vor.*)
Hieran schließen sich andere artverwandte Probleme. Sie betreffen
den Einfluß, den
5. doppelte Redaktion und Umdichtung
Dramen ^j^^ wiederholte ISTeuausgabe, d. h. diaoxev)], auf den Zustand des Textes
haben. ö) So in der Komödie, ^vorüber auch schon S. 159 (vgl. 153) geredet
ist. Aristophanes dichtete den „Frieden" zweimal,^) und es scheint, daß
aus dem früheren Stück in den erhaltenen „Frieden" gewisse Stellen ein-
gefügt sind.'') Daß uns die Wolken des nämlichen Dichters in einer
zweiten Bearbeitung, die gar nicht zur Aufführung gelangte, vorliegen,
bezeugt das Altertum, und die Untersuchung richtet sich darauf, in diesem
Stück die jüngeren Zutaten festzustellen. 8) Auch an Euripides' Medea ist
diese Hypothese herangetragen.^) Schlimmer noch stünde es mit Aeschy-
lus' „Sieben", w^enn wirklich ihr Schluß unecht wäre; denn dann hätte
hier nicht der Dichter selbst in naiver Weise Dinge, die über die Hand-
lung des Dramas selbst hinausweisen, vorgeführt, sondern der Eingriff
einer fremden Hand hätte den originalen Schluß zerstört ; ' o) schlimmer
^) Etwa gleichzeitig entstand die Epi- ] ^) Vgl. Stemplinger a. a. O. S. 215 f.
tome des Aristophanes von Byzanz aus i ^) Siehe das dritte Argumentum.
Aristoteles* Tiergeschichte. " \ ^) Zielinski a. a. O. S. 63 ff.
2) Siehe z. B. Usener, Sitzungsher. d. i ^) Zielinski S. 34 ff . ; G. Schwandke,
bayer. Akad. 1892 S. 582 ff.: Littig, Andro- i De Arist. Nubihus, Halle 1898.
nikos von Rhodos, München 1894. i ») L.Bloch, Neue Jahrbb.YII S. 20 ff.:
) Vgl. Gr. Siefert, De aliquot Plut- dagegen Stemplinger S, 20 f.
archi scriptorum compositione, Leipz. 1896. *") Siehe dagegen M. Wundt, Philol.
*) Vgl. St. Haupt, Philol. 69 S. 254 ff. i 65 S. 357 ff.
V. Die höhere Kritik. 4. Postume Werke. 5. Doppelte Redaktion. 219
noch mit dem Prometheus, wäre er wirklich, wie man neuerdings für
erwiesen hält,i) etwa dreißig Jahre nach des Aeschylus Tod von einem
Unberufenen umgedichtet worden, so daß die echten Chorlieder und noch
Sonstiges fortfielen. Ein derartiges Umdichten und Eindichten anzunehmen,
ist immer etwas prekär, da ähnliche Vorgänge sonst nicht leicht nach-
zuweisen sein dürften (Quintilian 10, 1, 66 redet nicht von einem Um-
dichten, sondern nur von einem corrigere, das die Aeschyluswerke bei
AViederauffülirungen erfuhren), und vielleicht werden die meisten der dafür
geltend gemachten Argumente sich hinwegräumen lassen. 2)
Auch Apollonius Rhodius machte von seinen Argonautika zwei Apoiion.
Ausgaben. Die Abweichungen der nQoexöooig, die uns die Schollen ein
paarmal notieren, sind aber ziemlich geringfügig, und weitergehende
Schlußfolgerungen lassen sich aus diesem Tatbestande schwerlich ziehen.
Daß die letzte Ausgabe die erste verdrängte, ist natürlich. Auch von
der vielgelesenen und mehrfach verändert herausgegebenen KTrchen-
geschichte des Eusebius liegt uns der Text der letzten Ausgabe vor; ß^sebins
doch sind Spuren der vorletzten in ihr nachgewiesen. 3)
Hieran reiht sich nun auch das große Homerproblem, vor allem das
der Ilias. Denn wie im Prometheus, so findet man auch in der Ilias i^^a»
innere Widersprüche, die gegen die Einheit der Dichtung Zweifel er-
wecken, und man hat sie zum Teil schon im Altertum selbst aufgedeckt.
Die Sache liegt hier jedoch wesentlich anders, verwickelter, aber auch
interessanter und erfreulicher als in den vorhin besprochenen Beispielen.
Denn, wie mir besonders einleuchtend B. Niese ausgeführt zu haben
scheint, liegt uns nicht eine fertige Dichtung, die nachträglich nur Über-
arbeitung erfuhr, in diesem Heldenepos vor, sondern eine begrenzte An-
zahl gleichartig zünftiger Sänger (vgl. oben S. 88 f.) hat an demselben Werk
sukzessive schöpferisch gearbeitet, indem das Verlangen nach Bereicherung
sie zur Einfügung Aveiterer Kämpfe und Abenteuer führte, die im Grund-
plan zunächst noch nicht vorgesehen waren ; dieser Grundplan aber betraf
nur die „Monis" Achills, welche Eigenschaft der Monis sich zwiefach äußert,
erst im Hader mit Agamemnon, dann in der Rache für des Patroklos Tod.
Ganz junge Partien lassen sich als solche leicht erkennen und nähern sich
dem Charakter der Interpolation (Schiffskatalog ; Dolonie ; ebenso Odyssee
Buch 24 u. a.); die älteren Eindichtungen dagegen, die die Handlung-
wirksam retardieren, sind in den Text fest eingewebt, und der ewige
Dichterrulim Homers beruht vielfach grade auf ihnen.
Das Verfahren der sogenannten „Eindichtung" selbst aber ist meines
Er achtens vollauf verständlich. Wer einmal einen Roman entworfen hat,
weiß das. Dem Triebe, Episoden zu bringen und sie nachträglich ein-
zuschalten, erliegt wohl jeder Erzähler. Man denke auch an Vossens
Luise; auch an moderne und antike Lustspiele, an denen mehrere Hände
tätig waren. Erfreulich aber ist, daß von neueren Gelehrten wie M. Breal
') Siehe bes. E. Bethe, Prolegomena ; sein Verstummen sagt,
zur Geschichte des Theaters, S. 159 ff. i ') E. Schwartz bei Pauly-Wissowa
'') Auffallend und Bedenken erregend \ EE. \1 S. 1405.
ist, was Prometheus in v. 437 u. 438 über j
220 Kritik und Hermeneutik.
und (mit besonderer Heftigkeit) von D. Mülderi) wieder mehr die plan-
volle Einheit der Ilias, die Z^veckmäßigkeit ihrer Teile und das künst-
lerische Geschick wahrgenommen wird, das die Einfügungen geleitet hat.
Dasselbe gilt auch von der Odyssee.
Odyssee In der Odyssee sondern sich leicht vier Hauptteile voneinander: die
Heimfahrt des Odysseus selbst, die Unternehmungen des jungen Telemach,
die uns von Ithaka bis nach Sparta führen, die Icherzählung des Odysseus
bei den Phäaken, endlich der Freiermord. Jeder dieser Hauptteile ist
umfangreich und dabei planvoll einheitlich konzipiert. Auch hier rät die
analysierende Kritik auf verschiedene Dichter; doch ist dies minder über-
zeugend. Vor allem aber hat sich die Hj^pothese A. Kirchhoffs überlebt,
wonach die vier Bücher der Apologoi des Odysseus bei den Phäaken
ursprünglich zur Nostoserzählung selbst gehörten, also ursprünglich wie
alles Übrige die Abenteuer des Titelhelden in dritter Person erzälilten,
so daß alles erst nachträglich in die Icherzählung umgedichtet worden
wäre. Daß sich Icherzählungen, Avie wir sie besonders aus Piatos Dia-
logen und im Munde des Sokrates kennen, schon in uralten Zeiten der
Beliebtheit erfreuten und daß ihr Stil schon so früh ausgebildet w^ar, zeigt
nicht nur der plauderlustige Nestor in der Ilias, sondern auch das Buch
Tobias und die alten Siegesinschriften der orientalischen Könige, die bab}^-
lonische Geschichte vom König Sargon; im Gilgamesch-Epos die Sintflut-
erzählung des Xisuthros.2) Die Apologoi des Odysseus sind gewiß ebenso
unverdächtig, echt und ursprünglich wie diese.
Nach Homer wäre noch Hesiod, wäre auch noch Theognis zu nennen.
Habent sua fata libelli: das Unlieil ging mit den verschiedenen National-
werken des alten Griechentums verschieden um. Der yvcoimokoyia oder
Theognis Spruchsammluug des Theognis erging es wie anderen Spruchsammlungen
auch; sie wurde mehr als einmal überarbeitet, erfuhr unechte Einschal-
tungen, neue Anordnung ihrei- Bestandteile. Die Cyniker übten ihre
Kritik an der Moral des Theognis, imd so finden sich u. a. auch cynische
Einschaltungen in ilinen, v. 1143—1150, 847—852, 1077—1080.3) Dies
wahrzunehmen ist füi' uns leicht, das Ursprüngliche aus dem, was erhalten
ist, herzustellen unmöglich.'*) Man vergleiche damit besonders die Schick-
sale der Sprüche des Publilius Syrus.^)
Hesiod j)^Q beiden echten Werke des Hesiod sind uns dagegen in dem
Zustand, in dem sie zuerst in Buchform auftreten, im Avesentlichen treu
erhalten. 6) Das Zusammenhangslose des Inhalts, das uns gleichwohl vor
allem in den „Werken und Tagen" störend entgegentritt, geht zwar nicht
auf den Dichter selbst, geht aber auf die erste Niederschrift, die in Buch-
') MüLDER jetzt auch in Bursian- ' Straßb. 1892. Besonders abenteuerlich W.
Kroll, Jahresber. Bd. 157 (1912) S. 194 ff . i M.Winter, Die unter dem Xamen des
Vgl. übrigens M. Br^al, Pour mieux con- ; Theognis überlieferte Gedichtsammlung,
naitre Homere, Paris 1906. 1 Leipzig 1906.
2) Vgl. Ed. Meyer, Papyrusfund von ! «) Auch mit Tyrtaeus ging es ähnlich ;
Elephantine S. 116 u. 128. ' ! s. Wilamowitz, Die Textgesch. der griech.
ä) Vgl. O.Wachsmuth, Corpus poesis Lj^riker S. 107 f.; 115.
epicae ludibundae II p. 71. e) Siehe E. Lisco, Quaestiones Hesio-
^) Siehe F. Nietzsche, Rhein. Mus. 22 deae, Göttingen 1903.
S. 181 ff.; E. V. Geyso, Studia Theogn., I
V. Die höhere Kritik. 5. Doppelte Redaktion. 6. Athetese einzelner Abschnitte. 221
form gemaclit wurde, zurück. Im 7. Jahrhundert gab es allem Anschein nach
in Böotien noch keine Bücher, keine ßvßXoiA) Der Dichter selbst kann die
über achthundert Verse der Werke und Tage nicht als Einheit, sondern nur
auf mehrere einzelne Bleiplatten oder Holztafeln verteilt aufgeschrieben
und so in einem Heiligtum aufgestellt haben ; denn keine Tafel oder Platte
konnte sie sämtlich aufnehmen. Erst im 6. Jahrhundert, als die ßvßXoi in
Gebrauch kamen, wurden diese Einzelstücke alsdann nach bestem Ermessen
in eine einzige Buchrolle zusammengestellt, vor allem das Scheltgedicht
auf Perses v. 11 — 316 und das Lehrgedicht über die Arbeit an denselben
Perses v. 383 — 694, dazwischen die Pandora v. 49 — 104 und die fünf Welt-
alter V. 109 — 201; dann die rein gnomischen Partien; endlich der Ab-
schnitt der „Tage". Ein gewisser innerer Bezug bestand zwar zwischen
diesen verschiedenen Stücken; aber es ist nicht denkbar, daß Hesiod be-
absichtigte, sie so zusammenhängend vor dem Volk als Einheit vortragen
zu lassen, wie sie denn auch ursprünglich keine Bucheinheit waren. Alle
Dichtungen entstanden in jenem Zeitalter noch zum Zweck der Rezitation;
aber weder Hesiod selbst noch sonst ein Rhapsode kann das Ganze, so
wie es vorliegt, rezitiert haben. Jeder Teil, besonders die beiden an
Perses, hatten ursprünglich ihren bescheidenen Zweck für sich. Im v. 383
fehlt sogar das anknüpfende de; hier begann sicher eine neue Schreibtafel.
Im selben 6. Jahrhundert, von dem ich sprach, entstand dann weiter
auch die "Aomg, begann überhaupt die Weiterdichtung in hesiodeischer
Manier; sie ist damals eben durch den vordringenden Gebrauch der
Papyrusrolle, der auch der Theogonie und den "£"^7« ihre definitive Buch-
gestalt gab, begünstigt worden.
Mit Nennung der'Aomg, des neunten Baches der Aristotelischen Tier-
geschichte u. a. sind wir der letzten, bedeutsamsten Frage nach „echt"
und „unecht", nach Fälschung und Unterschiebung schon nahe getreten.
Es ist im Grunde nur Fortsetzung des schon Gesagten, Avenn ich zunächst
noch auf einige Yerdächtigungen hinw^eise, die, großenteils kontrovers, sich
nicht gegen ganze Schriftwerke, sondern gegen einzelne Abschnitte in
ihnen richten.
6. Athetese einzelner Abschnitte.
Über interpolatorische Texterweiterungen geringeren Umfangs ist auch
schon S. 160 ff. gehandelt worden. Man nannte dies jcaQeyyQdq^eiv (Plutarch ^apey-
Anton. 15). Selten ergibt sich ein so sicherer Schluß wie fürVergils Cata-
lepton, w^o in lauter echte Gedichte das Lobgedicht auf Messala Nr. 9, das
ganz unvergilischen Charakter trägt, eingestellt w^orden ist. Daß man ein-
zelne unechte Gedichte in Sammlungen berühmter Dichter einschob, erwähnt
übrigens Martial I 53 ; X 100. Wenn dagegen Neuere in der Sammlung der
Caraiina minora Claudians an der Nr. 32 De salvatore Anstoß nahmen, so
fehlte hierfür eine zureichende Begründung; Sprache und Verskunst der
Nr. 32 sind die des Claudian, und das Gedicht beweist vielmehr, daß
Claudian im Dienste des durchaus christlichen Hofes gelegentlich auch
christliche Verse schrieb. Sonst wäre er eben nicht hoffähig
yQUfpElV
') Siehe Die Buchrolle in der Kunst S. 211 f.
222
Kritik und Hermeneutik.
Im Nachlaß des Xenophon befremdet der Schluß seiner Kyropädie VIII 8,
auch der Schluß der AaxEÖai/jLovLcov jtohrela cap. 14 u. 15 J) So stört in des
Aristoteles Poetik das wertvolle cap. 12 von den juegt] rgaycodiag vollständig
den Zusammmenhang. Diese Einschaltung in die Poetik muß von einem
Schüler des Peripatos früh gemacht sein, oder Aristoteles selbst hatte sie
als Nachtrag an den Eand geschrieben. In den ersten beiden Fällen
aber, die den Xenophon anbetreffen, kehrt man aus berechtigtem Triebe
immer Avieder zu dem Versuch, die xenophontische Autorschaft zu retten,
zurück; denn sie läßt sich retten. So zweifelt heut auch wohl niemand
mehr an der Echtheit der von Niebuhr u. a. beanstandeten Römerepisode
in der Alexandra Lykophrons: einer Verkündung der wachsenden Be-
deutung E/Oms, auch für Griechenland und den Orient. 2)
Sehr auffällig nimmt sich aber ferner auch das Kapitel I 4 in Xeno-
phons Memorabilien aus, und unter allen Verdächtigungen, die einst Krohn
gegen diese Xenophonschrift richtete, schien die Verdächtigung grade
dieses Kapitels am meisten Überzeugungskraft za haben. Denn es handelt
sich da um jenen naiven und umständlichen teleologischen Gottesbeweis,
den mit dem gleichen Detail und mit auffälligen Anklängen Cicero im
zAveiten Buch De deorum natura den Stoikern vindiziert. Also ist I 4
stoisch: eine stoische Interpolation im Xenophontext? Die Sache liegt
anders. Wir wissen jetzt hinlänglich, wie abhängig Xenophon in pliilo-
sophischen Dingen von Antisthenes, dem Cyniker, war. Auf dem Cynis-
mus und dem reichen Schriftennachlaß des Antisthenes hat sich anderer-
seits aber auch die Stoa aufgebaut. Wir haben also im Kapitel I 4 ein
sorgfältiges Exzerpt aus Antisthenep, das Xenophon anfertigte und an
dem wir die Abhängigkeit des Zenon und Chrysipp von dem cynischen
Lehrhaupt ausgezeichnet kontrollieren können.
Zweifellos von fremder Hand eingeschoben ist dagegen in Cäsars
Bellum civile II 23 — 44 der Feldzug Curios in Africa.^)
7. Pseudepigrapha.
Wer den Gordischen Knoten nicht lösen kann, muß ihn zerhauen.
Wo alle Erklärungsversuche, auch das Ausscheiden einzelner besonders
bedenklicher Abschnitte, nicht ausreicht, müssen wir die Schrift selbst
kassieren, d. h. wir kassieren vielmehr die Namensaufschrift in ihrem
Titel und werfen sie zu dem untergeschobenen Gut.*) Solche falsche
Aufschriften entstanden entweder durch absichtliche Fälschung oder auch
nur darch irrtümliche Zuweisung, die in gutem Glauben geschah.
Fäi- Verweilen wir zunächst bei den Fälschungen. Die Alten selbst reden
sciiungen q£^ ^.^^ ihnen, und sie unterscheiden dabei solche Falsifikate, die be-
rühmten Namen untergeschoben wurden, von solchen Diebstählen, wo ein
^) Weiteres bei F. Eosenstiel, Ueber
einige fremdartige Zusätze in Xenophons
Schriften, Sondershausen 1908, überzeugt
nicht.
'^) Neuere rücken die Alexandra in
das Jahr 190 hinab, so daß sie nicht Eigen-
tum des Lykophron wäre: s. Sudhaus,
Rhein. Mus.'^63 S. 485. Doch haben die
beigebrachten Grründe für mich nichts
Zwingendes.
^) Vgl. P. Menge, Portenser Programme
von 1910 und 1911.
4) Siehe A. Gudeman, Literary frauds,
in Transactions of the Americ. philol. assoc.
1894 S. 140 f.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 223
armseliger Kumpan sich gradezu das Buch eines anderen aneignet. Die
Fälscher der ersteren Art hielten sich meist verborgen, und es kommt
selten vor, daß uns Namen genannt werden wie der des Heraklides
Ponticus, der selbstgemachte Tragödien unterschob (Diog. Laert. 5, 92), oder
der des großen Betrügers Aristobulos.i) Bescheidener war das Verfahren Aristobui
Lobons.2) Über die zweite Gattung aber redet Vitruv, der sich über
die Fälscher entrüstet, die von den Buchrollen den Zettel, der den Titel
trug, abrissen und ihren eigenen Namen an die Stelle setzten (scripta
furantes pro suis praedicant VII praef. 10; alienos indices mutant; suum
nomen interjwnimt, ebenda). Bei Martial 1, 52, 9 heißt solcher Eigentums-
räuber einmal plagiarius, d. i. „der Menschenräuber" ; denn man verghch
das herausgegebene Buch mit einem menschlichen Wesen, mit dem Sklaven,
der freigelassen worden und dessen sich nun ein anderer bemächtigt (das
Wort plagiator ist dagegen in diesem Sinne nicht antik). Auch sonst
spielt Martial (X 1, 11) hierauf an; meistens geschah nach seiner Dar-
stellung der Raub sogar auf das dreisteste durch öffentliche Rezitation,
nicht (oder nicht nur) durch Buchausgabe: I 29; 38; 72; H 20; XII 63.
Besonders war der Verkehr der Gelehrten schulen gefährlich ; da eignete
.sich der Schüler durch Nachschreiben leicht das geistige Gut des Lehrers
an, wofür uns der Vers loyoioiv 'EQjuödcogog ejujioQeverai gleichsam das
Motto gibt. Galen redet öfter davon; und so war die Behauptung mög-
lich, daß Menippos, einer der beliebtesten Autoren des Hellenismus, seine
Satiren gar nicht selbst verfaßt habe, sondern daß er nur der Verkäufer
dieser Schriften, die Dionysios und Zopyros scherzeshalber geschrieben
hatten, gewesen sei (Diog. Laert. 6, 8, 4).
Treten wir nun solchen Echtheitsfragen näher, so sind Vorsicht, Zurück- Unberech-
haltung im Urteil, wiederholte Überlegung hier, wo es sich gleichsam um ^^dächt^
Sein und Nichtsein litterarischen Eigentums handelt, gewiß besonders am g^Dgen
Platze. Der erste Eindruck der Enttäuschung beim Lesen, ein gewisses
Befremden genügt nicht, um solches Verdikt zu rechtfertigen. Der Sturm,
den Richard Bentley einst gegen die Epistolographen lief, 3) hat auch
Piatos Briefe mit umgerissen. Fr. Aug. Wolf regte in halb spielender
Weise den Verdacht gegen einige Reden und Brief bücher Ciceros an.
Aber greifbare Beweise fehlen hier. Die Reste der Ethika des Demo-
krit haben lange Zeit durch Inhalt und Form befremdet; doch auch sie
sind unantastbar. 4) Es ist ja schade, daß uns Plato, der göttliche, in
seinen Briefen so gar nicht als siegreicher Heros, sondern als Mann des
Mißerfolges, des unpraktischen Optimismus und als enttäuschter IdeaHst
erscheint. Aber wir haben diese Tatsachen eben hinzunehmen, wie schon
Plutarch u. a. sie hinnahmen. 0) So ist auch der Versuch, die wenig er-
') Siehe Valckenaer, Diatribe de Ar.
ludaeo, ed. Luzac, Leiden 1806 ; Genaueres
bei Stemplinger, Das Plagiat in der grie-
chischen Litteratur, S. 32 ff.
2) Hiller, Rhein. Mus. 33 S. 518 ff.
') Dissertation on the Epistles of
*) P. Natorp, Die Ethika des Demo-
kritos, Marburg 1893.
5) Ueber Cicero ist nicht ernstlich zu
reden, obschon die Reden Post reditum
auch noch neuerdings verdächtigt werden:
s. H. M. Leopold, De orat. quattuor post
Phalarisu.s.f., 1697 — 1699; deutsch, Leipzig j reditum, Leiden 1900. Für Piatos Briefe
1857. I scheint mir vieles von dem, was H. Räder,
Zeugnisse
224 Kritik und Hermeneutik.
freuliche Tragödie Hercules Oetaeus dem Seneca zu entziehen, miß-
glückt ; 1) und nicht nur die Viten des Terenz und des Horaz sind als
Eigentum des Sueton gesichert, sondern auch die des Persius und der
Hauptsache nach auch die des Lucan, Avie die Beobachtung ihrer Sprache
ergibt."'^) Alle vier sind aus dem Buch des Sueton De poetis ausgehoben.
Wert der Bcfcstigt sicli dcunoch der Verdacht der Unechtheit und sucht man
für ihn den Beweis zu erbringen, so gilt es vorher, die Zahl und das
Alter der Zeugen, die uns für die Echtheit bürgen, zu prüfen. Der Dialog
^Akxvd)v steht unter Piatos Namen, aber schon bei Athenaeus p. 506 C wird
für ihn ein anderer Autorname aufgebracht, und wir finden den Dialog
auch unter Lucians Schriften. Hier führen somit äußere und innere
Gründe auf dasselbe. Die Zeugnisse für die Echtheit des Culex Vergils
reichen dagegen bis zu Lucans Lebzeiten, der a. 55 n. Chr. ins Jünglings-
alter trat — das sind 74 Jahre nach Yergils Tode — , für die der ebenso
verdächtigen Halieutica Ovids nur bis zu der Abfassungszeit der letzten
Pliniusbücher liinauf (denn im Buch IX kennt Plinius diese Halieutica
noch nicht). Das sind verhältnismäßig immer recht gute Zeugnisse. Aber
es wäre nun doch schlimm, wenn vor ihnen die Vernunft von vorneherein
kapitulieren sollte. Denn wir wissen, wie urteilslos großenteils in litte-
rarischen Dingen die Römer waren und wie oft sie durch falsche Titel
getäuscht Avorden sind. Wir erinnern uns aber auch, daß Piatos Minos
schon Aristophanes von Byzanz um das Jahr 200 v. Chr. in seine Plato-
trilogien als echt einreihte. Der Zeitabstand ist hier nicht viel größer
als dort, und wie viel urteilsfähiger Avaren in solchen Dingen sonst die
Griechen ! Aristophanes von Byzanz neben Lucan, welch ein Unterschied an
kritischer Fähigkeit! Eine gewisse Borniertheit Lucans empfindet man auch
sonst; sie zeigt sich am meisten in seiner Schätzung des Culex. Übrigens
bieten auch noch die unechten Hippokrates Schriften eine Analogie; sie
werden schon im Menonpapyrus zitiert und scheinen schon früher und in
der Zeit Piatos als Avirkliche Werke des Hippokrates gegolten zu haben. 3)
Eiskant ist es dagegen allerdings, anzusetzen, daß auch schon Aristoteles
unechte Platosachen vorfand und für echt nahm. Gleichwohl ist auch
diese Möglichkeit gelegentlich in ErAvägung zu ziehen.*) Jedenfalls verliert,
wo innere Gründe laut sprechen, das äußere Zeagnis sein Schwergewicht,
da zu jenen Zeiten Irrungen und Täuschungen in Buchtiteln unendlich viel
leichter vorfallen konnten als heute. Denn dies müssen Avir uns allerdings
gegenAvärtig halten, daß das Titelblatt im Buch damals A^erhältnismäßig
schlecht gesichert Avar, Avas auch Vitruv a. a. 0. deutlich ausspricht: man
konnte es abreißen und ein Ersatzblatt anderen Inhaltes dafür ankleben.
Diese Tatsache kommt zwar nicht für die Erklärung A^on Fälschungen,
wohl aber von falschen Eigentumsübertragungen in Betracht.
Ehein. Mus. 61 S. 427 ff. \-ortrug, durch-
sclilagend. E. Adam, Ueber die Echtheit
der platonischen Briefe, Berlin 1906, läßt
nur den Brief YII gelten.
1) Siehe E. Ackermann, Philol. Suppl.
Bd. XS. 327 ff.; unbefriedigend 0. Edert,
Ueber Senecas Heracles und den Heracles
auf dem Oeta, Kiel 1909. Gegen ihn Acker-
mann, Ehein. Mus. 67 S. 425 ff.
2) Siehe F. Glaeser, Quaestiones
Suetonianae, Breslau 1911.
3) SieheWELLMANN in Bursians Jahres-
bericht Bd. 124 S. 147.
4) I. Bruns, Das litterar. Porträt S. 350 ff.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 225
AVer uns nun aber von der Unechtheit irgendeines Werkes über- <^e-
zeugen \\411, komme uns nur nicht mit bloßen Geschmacksurteilen. Horaz' urteile
Oden sind heil geblieben, und das Geschrei ist verstummt, das Hoffman
Peerlkamp und Carl Lehrs einst über sie erhoben. Wir haben durch
diese geistvollen Gelehrten auf allerlei Auffälliges in den Horazoden acht
zu geben gelernt, aber ihre Schlußfolgerungen waren leichtfertig. An
modernem Maß können wir das Antike nicht messen. Sonst wüßte ich
manches, was mir mißfiele. Auch die Papyrusfunde haben enttäuscht.
Wie unbeholfen unkünstlerisch ist oft Bakchyhdes ! Herondas zu lesen
ein geteiltes Vergnügen; ') Timotheus' Perser bietet dem Modernen nichts,
und daß diese Autoren zur Zeit Goethes, in der Zeit der großen
Renaissance unserer Geschmacksbildung, noch unbekannt waren, Avar kein
Mangel. Auch Menander wurde damals, wie Avir jetzt erkennen, durch
Terenz hinlänglich ersetzt.
Aber was sollen solche Urteile? Für den Philologen und seine histo-
rischen Zwecke sind sie ganz ohne Wert. Nur das wirklich Stillose kann
seinem Tadel verfallen. ])a aber die Werke des Altertums zumeist den
Stil ihrer Gattung wahren, reicht kein modernes Gefallen oder Mißfallen
an sie heran.
Nur da steht es mitunter anders, wo im Altertum eine neue Litteratur- Mängel u.
gattung entsteht. Denn da sehen wir, daß ihre ersten Vertreter noch keit einiger
tasten und in der Auswahl der Mittel, durch die sie wirken soll, unsicher Autoren
und ungleich sind. So tastend ist oft noch Aeschylus, er, der größte von
allen, und die Sprache, in der er sich reckt, die grandiosen Wortmonstra,
die er um sich wirft, machen oft nur perplex, statt uns zu erbauen.
Virtuos erscheint Catull besonders in seinen nicht daktvHschen Gedichten,
in seinen Elegien c. 66 und 68 B ringt er dagegen mit dem Ausdruck,
fast dilettantisch; die römische Elegie ist da noch in Entstehung begriffen
und sucht noch nach der ihr angemessenen Form. Meisterhaft Horaz in
seinen Briefen: auch dies eine Neuschöpfung, aber vorbereitet durch die
Schreibart der Satire. Tastend Horaz in seinen Oden. Es galt da, kurz
gesagt, die Inhalte des alexandrinischen Epigramms oder der Elegie in
die Form der lesbischen Ode zu bringen. Das war ein Experiment, und
ein Vorgänger dafür fehlte. Auch guckt der Realist Horaz überall durch,
und das gibt schrille und grobe Töne. 2) Daher hat der letzte der großen
augusteischen Dichter, Ovid, an Properz, nicht an Horaz angeknüpft und
Elegien, nicht Oden geschrieben.
In der Spätzeit häuft sich das Stillose. Apuleius wird gTade durch
seine Sprachlaster zu einer ergötzlichen Lektüre. Aber das Märchen von
^) Ivo Brans, der sonst durchaus 1 das Ablegen der Augen {deponere v. 18;
nicht prüde, war Herondas widerwärtig. deponere oculos ist in Umkehrung des tollere
Das liegt auch an der Vortragsform ; denn
der Hipponacteus ist kein geeigneter
Dialogvers.
2) Man denke nur an die Wassersucht
der Geldgier II 3, 13 und das interiore nota
II 3,8; an das gr<äßliche Gedicht I 36, wo
die Damalis mit ihrer amystis (v. 13) und
oder attoUere oculos gesagt, worüber s.
Rhein. Mus. 59 S. 410 f.); dazu das breve
lilium (v. 16 ; vgl. II 4, 13). Vor allem ist die
Jacke der Ode zu eng für einen Dichter,
der für nötig h.ält nach der Observanz der
Elegie ungefähr an jedes Substantiv ein
Epitheton zu hängen.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 15
226 Kritik und Hermeneutik.
Amor und Psyche leidet doch allzu schwer unter seinem bizarren Latein,
und wer dies Märchen Avirklich genießen will, müßte es sich ins Griechische
zurückübersetzen, wenn er sich nicht mit einer schlichten deutschen Über-
setzung begnügt.
Auch den Vergil trifft vielfach der Tadel des Philologen. Es ist be-
sonders, wde schon S. 202 erwähnt wurde, der Vorwurf ungeschickter,
weil zu äußerlicher Imitation seiner Vorbilder: ein Vorwurf, dem übrigens,
wie wir sahen, auch Sophokles nicht entgangen ist (oben S. 108) ; ich kann
da zumeist nicht mitgehn und bekenne mich gern als einen Bewunderer
Vergils. Das Wichtigste in diesem Zusammenhange ist, daß Vergil, trotz
aller ungezählten Entlehnungen, sich seinen eigenen, sofort kenntlichen
Sprachstil, den Vergilischen Stil, gebildet hat, der von der ersten Eclogen-
zeile bis zum Tode des Turnus reicht. Nicht anders steht es mit dem
großen Plünderer Ovid. Dies Vorhandensein eines persönlichen Stils, der
dem Werk seinen Stempel gibt, ist für manches, was jetzt folgt, im Ge-
dächtnis festzuhalten.
Merkmale Es siud sechs odcr sieben Merkmale von verschiedener Natur, doch
Unechtheit ungefähr gleicher Beweiskraft, die den Schluß auf Unechtheit ergeben:
Chrono- a) Chronologisclio Indizien. Die Mäcenaselegien stehen unter
logisches Ygj.gjig Namen; aber des Mäcenas Tod wird in ihnen vorausgesetzt, den
Vergil nicht mehr erlebt hat. Xenophons „Staat der Athener" ist, wie
der Inhalt ergibt, ca. 425 v. Chr. abgefaßt; damals aber war Xenophon
etwa fünf Jahre alt. Die Sache ist in solchen Fällen rasch erledigt. Beim
philostratischen Gymnasticus schwankt man nm*, welcher der zwei oder
drei Philostrate ihn verfaßt haben kann. In der Schrift wird aber ein
Athlet Helix erwähnt. Dadurch wird der älteste Philostrat ausgeschlossen.
Zeit- b) Sonstige Zeitumstände. Demetrius von Phaleron, der etwa
ums an e ^^^ ,^^rj — 2go blülitc, soll die rhetorischc Schrift Jiegi eojiitjveiag geschrieben
haben ; aber er selbst wird in ihr mit Namen zitiert, auch die Peripatetiker
als feste Gruppe von Litteraten darin erwähnt. Also fällt die Schrift
später. Die Tragödie Octavia steht unter Senecas Namen. Aber Seneca
selbst tritt darin auf. Er kann sich nicht selbst so als Theaterfigur dar-
gestellt haben. Erst nach ihrem Tode konnte man Seneca und Nero auf
die Bühne bringen. Die Batrachomachie galt als homerisch; aber der
Verfasser sagt, er schreibt sein Gedicht in einem Buch (v. 3); also lebte
er wesentlich später. Der Eryxias zählt zu den Platodialogen, von
welchen das vo7%vovrai gilt;i) in der Tat wird Plato, aber auch Xenophon
darin nachgeahmt; ferner ist daselbst p. 399 A ein yvjuvaoiagxoQ erwähnt,
der den Sophisten Prodikos aus dem Gymnasium ausweist; dies Amt des
Gymnasiarchen war aber noch im 4. Jahrhundert sogenannte keiTovgyla,
erst im 3. Jahrhundert wurde es staathches Amt; also paßt der Eryxias
schwerlich in das 4. Jahrhundert. 2)
Lehr- c) Lolirmeinung und Tendenz. Senecas Briefwechsel mit Paulus
u. Tendenz Zeigt Soncca als Adepten des Christentums, eine bewußte Fälschung. In
1) Diog. Laert. 3, 62. 1 tingen 1901.
2) Siehe 0. Schrohl, De Erjrxia, Göt- |
I
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 227
Demosthenes' Rede 25 (gegen Aristogiton) äußert sich eine orpliische
Glaubensriclitung, die dem Demosthenes fremd war.i) Piatos zweiter
Alkibiades und sein kleines Gespräch Tzegi dixaiov haben xeno phontischen
Anstrich; dies wird für den Alkibiades schon bei Athenaeus p. 506 C be-
merkt. Piatos Klitophon widerstreitet in Ansichten der Staatslehre dem
Plato. Aristoteles' tieq! xoojuov enthält Lehrmeinungen des Stoikers Posi-
donius. An Echtheit glaubt in allen diesen Fällen niemand. Unter den
Alten war es Galen; der vor allem nach diesem Kriterium über Echtheit
imd Unechtheit der Hipp okrat es Schriften, die sich in Massen angesam-
melt hatten, entschied; so fand er in negi (pvoiog äv&Qwnov eine unhippo-
kratische Fieberlehre (Galen XV S. 168 K.). Von 60—80 Schriften jenes
Altmeisters der Medizin nahm Galen nur höchstens 13 für echt. 2) Auch
Quintilian sei zitiert, der III 5, 14 eine rhetorische Schrift des Herma-
goras, deren Inhalt nicht zum Autor passe, mit dem Zusatz erwähnt: sive
falsus est titulus sive alius hie Hermagoras fiiit. Besonders bemerkenswert
endlich noch die Sammlung der Phokylidea, die Spruchsammlung eines
jüdisch angefärbten Moralisten hellenistischen Charakters, die unter dem
Namen des alten gnomischen Dichters Phokylides geht, welcher Phoky-
lides dem 6. Jahrhundert v. Chr. angehörte, also etliche Jahrhunderte früher
gelebt hatte.3) / ■ ..
d) Die Sprache; bei Dichtei-n Sprache und Versbau. Tacitus' Sprachen.
... . . Versbau
Dialog unterscheidet sich in der Schreibweise ganz auffällig von den
sonstigen Tacitusschrif ten ; nichts ist leichter, als das w^ahrzunehmen, aber
nichts unberechtigter, als destruktive Schlüsse aus dieser Differenz zu
ziehen, die sich eben aus dem abweichenden Zweck des Dialogs selbst
erklärt (oben S. 64). Ebenso rechtfertigt sich der eigenartige Stil des
Epitaphios des Lysias, und auch Val. Rose irrte, wenn er in seinem Ari-
stoteles pseudepigraphus *) einst sämtliche sogenannte exoterische Schriften
des Aristoteles, die uns nur in Fragmenten vorliegen, für gefälscht an-
sah, weil ihr aureum flumen oraüonis (Cic. Acad.2, 119) zu den erhaltenen .
Pragmatien des Philosophen in Gegensatz steht. Rose erwog wiederum
nicht den abweichenden popularisierenden Zweck jener Exoterica. Unter
den Lucianschriften zeigt der AovKiog ij övog eine von Lucian abweichende
Gräcität, die sich aber vielleicht gleichfalls auf den abw^eichenden Werk-
charakter dieser rein erzählenden Schrift zurückführen läßt.s)
Wo indes solche Zweckdifferenz nicht vorliegt, sind auch die sprach-
lich formalen Unterschiede bindend und zwangen zur Sonderung des
Eigentums. Plutarch ß) schreibt dem alten Simonides den berühmten Aus-
spruch zu, daß die Poesie eine ^0}yQa(pia XaXovoa, die Malerei eine Tzoitjoig
OKOJiöjoa sei. Dieser Ausspruch muß unecht sein; denn nolrjoig und noieXv
für „Dichtimg, dichten" ist ein verhältnismäßig junges Wort, das die Zeit
1) A. Dieterich, Nekyia S. 137 ff.
2) Siehe Bröcker, Ehein. Mus. 1885
S. 168.
') Siehe Jac. Berxays, Ges. Abhandl.
I S. 192 ff.; dazu A. Ludwich, Quaest. ; bet, Yar. lect. S. 260
pseudophocylideae, Königsberg 1904. | ^) Plut. Mor. p. 346 E
*) Leipz. 1863; vgl. Akademieausgabe
des Aristot. Bd. V.
5) Siehe E. Eohde, lieber Lucians
Schrift AovHiog tj övog S. 37; übrigens Co-
15
228 Kritik und Hermeneutik.
des Simonides und Pindar jedenfalls noch nicht kannte, i) Auch Theognis 770,
wo jToieiv steht, ist darum nicht alt. 2) Lachmann sah, daß im dritten
TibuUbuch autem, etenim, ergo verwendet w^rd, Partikeln, die dem echten
Tibull fremd sind; der Schluß, der daraus folgt, Avird dann auch durch
Beobachtung der Metrik und durch den Namen Lygdamiis bestätigt, mit
dem sich der Dichter im selben Buche (3, 2, 29) nennt und der schwer-
lich ein Pseudonym für Albius sein kann. Aus metrisch sprachlichen
Gründen kann dasMoretum nicht von Yergil sein, auch nicht der Aetna,^)
aus den gleichen die laus Pisonis nicht von Lucan. Die Schreibweise ist
es, die ergibt, daß Cicero zwar De inventione, nicht aber die Rhetorik
ad Herennium schrieb, die gleichfalls unter seinem Namen steht. Sa
hat der schon erwähnte zweite Alkibiades Piatos eine unplatonische
Sprache ; *) so kontrastiert Pseudolongin jieqI vipovg schroff mit dem echten
Longin; und mit den Pseudepigrapha Lucians wie den MaxQoßioi steht
es ebenso ; auch die "'Egioreg können nicht wohl von Lucian sein (Meidung
des Hiats);ö) u. a. m. Auch an die meisten der Demosthenesreden, die
die Familiensachen des ApoUodoros anbetreffen (Eede 45; 46; 49; 50; 52;
53; 59), 6) sei noch erinnert. Überall bestimmt hier Avesentlich die Be-
obachtung des Sprachgebrauchs das philologische Urteil. Nach solchen
Indizien haben auch schon im Altertum Dionys von Halicarnaß und
Caecilius von Kaie Akte vielfach das Unechte aus dem Nachlaß der
attischen Redner ausgeschieden ; z. B. besaßen sie unter des Lysias Namen
425 Reden und erklärten nur 233 für echt.
Es ist nun klar, wie notwendig zur Führung solcher Untersuchungen
eine erschöpfende Darlegung des S})rachgebrauches ist. Wer eine Lucian-
schrift als unecht nachweisen will, braucht zu einem bündigen Beweise
die vollständige Kenntnis des Wortschatzes seines Autors. Speziallexika
zu den antiken Schriftstellern sind daher auch aus diesem Grunde das
dringendste Bedürfnis (vgl. oben S. 44).
e) KompositionsAveise. Der Rhesos ist eine feine und spannende
Tragödie voll wohllautender Chorlieder; aber seine dramaturgische Struktur^
die Verteilung der Sprech verse u. ä. ist nicht euripideisch, und wir kennen
hier also wieder einmal nur ein treffliches Gedicht, aber nicht den treff-
lichen Dichter. Man vergleiche dazu die Octavia, Avelches Drama in
der Struktur von den echten Dramen des Seneca zum Teil abweicht. Sa
ist das stiunpf boldig breitspurige Proöm in der Ciris von der Art vergili-
scher Proömien himmelw^eit verschieden, undVergil hat mit dieser Ciris
ebensowenig zu tun wie Plato mit der Schrift ^Iximv : zwei Wasservögel,,
die beide herrenlos und vogelfrei. Wie die Dialoge Hi^^pias maior, Mene-
*) Siehe Laienurteil über bildende \ in Hallenser Dissert. XIX, 1911, S. 301 f.
Kunst bei den Alten, 1902, S. 11. ^) Siehe Stallbaums Ausg. Bd. V 1
2) Vgl. G. Kuhlmann, De poetae et i Proleg.
poematis Graecorum appellationibus. Mar- \ ^) Siehe L. Bloch, De Pseudo-Luciani
bürg 1906, S. 30. ; Amoribus, Straßburg 1907, der aber vor
3) E.Herr, De Aetnae c. sermone setzt \ allem Sachliches beibringt, was zu Lucians.
das Werk nach meinem Vorgang in die Zeit nicht stimmt.
Zeit der Jugend des Plinius; diesen An- ^) Siehe I. SiGG, Fleckeis. Suppl. Bd.VI
satz bestätigt 0. Gross, De metonj^miis, S. 397 ff.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 229
xenos, die Anterasten u. a. von den sicher echten platonischen in der
Kompositionsweise abweichen, hat Bruns ausgeführt (S. 339 ff.), ohne
jedoch gegen die Echtheit gleich bindende Schlüsse zu ergeben. Jener
„Hippias" ist z. B. in der Weise angelegt, daß nicht Sokrates, sondern
Hippias selbst im Eedegefecht den Sieg behält und daß die Einleitungs-
szene ferner nicht, wie sonst bei Plato, einfach nur dazu dient, das
folgende Gespräch vorzubereiten, sondern von ihrem Titelhelden ein aus-
führliches Porträt entwirft, das augenscheinlich Selbstzweck und um seiner
selbst willen da ist und also gleichsam aus dem Eahmen der gültigen
Eorm tritt.
f) Ethische Merkmale dürften die Entscheidung ziemlich selten Ethisches
geben. Doch erweckt des Theokrit 27. Idvll „Das Gekose", öagiorbg
Adcfviöog xai xöof]g, den Eindruck einer so weitgehenden Frivolität, Avie wir
sie dem Theokrit selbst nicht zutrauen. Mit dem Cento nuptialis des
Ausonius steht es augenscheinlich anders, anders auch mit den Obscöni-
täten Catulls u.a. (oben S. 170). Doch sei noch auf die Copa hingewiesen,
die zur Vergilappendix gehört. Köstlich ist dieses kleine Gedicht in der
Tat, aber fast zu nervig lebensvoll für Yergil; vor allem ist das Locken
des Weibes darin mit einer Sinnenfreude vorgeführt, die seinem „jung-
fräulichen" Ethos augenscheinlich fremd war.') So hat man nun auch
die Consolatio ad Pol^^bium wegen der ki-assen Schmeicheleien, die sie
enthält, dem Seneca als des Verfassers unwürdig absprechen wollen.
Allein die Schrift bezeichnet vielmehr eine bedeutsame Etappe in der Bio-
graphie und staatsmännischen Entwicklung dieses seltsamen und seltenen
Mannes. 2) Besonders schwierig ist die Entscheidung betreffs der Apo-
logie des Xenophon, die wie ein Pleonasmus neben den Memorabilien
desselben Autors nebenherläuft. Der Sprache nach ist sie echt xeno-
phontisch, dem Ethos nach nicht; denn nirgends sonst zeigt ims Xeno-
phon den Sokrates so w^iderwärtig anmaßend selbstgerecht wie hier. Wer
gibt die Entscheidung?
g) Hierzu kommt nun noch in letzter oder vielmehr in erster Instanz Geistige
die geistige Inferiorität eines Litteraturwerkes. Man muß sich
Avundern, daß der selbstverständlichste Satz: ein Litterat von Bedeutung
kami nichts Stupides schreiben, in den Argumentationen, um die es sich
hier handelt, so oft unbenutzt bleibt, während er vielmehr alle weiteren
Argumente überflüssig macht. Freilich hat nicht jeder Kritiker das Augen-
maß für litterarische Größe und Inferiorität; übrigens gilt es auch hier
wieder zu sondern. Ich denke zunächst an die gewaltigen Athetesen
0. Ribbecks im Juvenal; sie Avaren allerdings A^orschnell und vergeblich;
denn daß die letzten Satiren Juvenals scliAvächlicher, schabloniger, stumpfer
als seine ersten sind, erklärt sich sehr einfach aus zunehmender Senilität
und zeigt nur, Avas selbstverständlich ist, daß ein Achtzigjähriger nicht
mehr so frisch Avie ein Fünfzigjähriger schreibt (A^gi. oben S. 169). Wer
dagegen z. B. den litterarischen Schund, der unter den carmina spuria
^) Siehe ed. Oatalepton S. 9 f. uiidecimo, Marburg 1906 ; dazu meine Aus-
*) Siehe R. Waltz, Vie de Senequo führungen in Neue Jahrbb. 27 S. 596 ff.
S. 112 ff.; W. ISLEiB, De Senecae dialogo
Cynegeti
cus
230 Kritik und Hermeneutik.
des Claudiaü sich befindet, deshalb für echt nehmen wollte, weil der
Name Claudians darüber steht, Avürde sich lächerlich machen. Um ihrer
Inferiorität willen wirft man so manche Pseudoplatonica Avie den Demo-
dokos, Sisyphos, Minos etc. beiseite; und so ging schon Galen vor, der
z.B. im IJQOQQrjTixög des Hippokrates die ddiavorjxa tadelt und voll Ent-
rüstung das indignum ruft: ovx ä^iov rfjg 'InnoxQdrovi; dvvduecog. Das Un-
würdige muß auch das Unechte sein.
Natürlich liegt nun die Sache meistens so, daß von den verschiedenen,
im Ganzen sieben Gesichtspunkten, die ich unterschieden habe, zugleich
mehrere auf ein und dasselbe Werk Anwendimg finden. Besonders oft
trifft Punkt 4 mit Punkt 7 zusammen, wie im Culex, den Halieutica,
dem pseudoxenophontischen Cynegeticus; d. h. wo das geistige
Niveau abweicht, da pflegt auch der Sprachcharakter abzuweichen.
Xenoph. Bei dicscu di-ei genannten Opera sei hier beispielshalber einmal etwas
ausführlicher verweilt. Daß der Autor des genannten Cynegeticus in
seiner Natur, Ansichten und Gebaren sich seltsam von dem Weltmann
Xenophon abhebt, haben viele empfunden. Den Beweis seines nicht-
xenophontischen Ursprungs hat in zwingender und mustergültiger Weise
L. Radermacher erbracht, i) eine Beweisführung, die zwingend ist, wenn-
gleich Arrian und schon Plutarch Moral, p. 1096 A die Schrift für echt
nahmen. Xenophon selbst schrieb über Reitkunst, jiegi ijimxfjg; wir kennen
somit den Stil, den er in Lehrschriften anwendet, und können die Sprache
der Schrift über die Jagd daran messen. Diese Schrift disponiert mangel-
haft, indem sie meist nur mit einem Stichwort das zu behandelnde Thema
anzeigt. Ihr Wortschatz trägt den deutlichen Stempel der Keine und
hat zugleich poetische und vulgäre Färbung; dahingehörige Worte sind
z. B. dvrddjujieiv 5, 18, ejU7i?.r]xrog 5, 9, ke^giog 4, 3, gel&ga 5, 19; aber
auch solche wie eregoxhvijg 2, 7, ovjU7iaQa(peQeoäai 3, 10, enixaiaßdlXeLv 4, 3,
vnoyaQOJiog 5, 23, ioojueye&r]g 5, 29, hav^dveiv 12, 9, evejiijg 13, 16. Alle
diese und andere sind dem Xenophon fremd; dazu eWg im Singular 5, 18,
TJTzeiQoi im Plural 5, 24, eyeiv Tf]v fjovxiav, so mit dem Artikel, 7, 1, fjxovrog
de TovTov statt yevofievov de tovtov 8, 7. Dazu Stilistisches: die Parataxe
mit Ol juev — ol de wird ganz auffällig und auf das eintönigste bevorzugt;
Partizipialkonstruktionen müssen die relativischen und sonstigen Nebensätze
ersetzen; Adjektive werden bei Beschreibungen katalogartig asyndetisch
aufgereiht (z. B. 2, 5), ebenso Partizipia. Das ist Streben nach lehrbuch-
artiger Kürze; dasselbe Bestreben zeigt sich auch in der notizenhaften
Auslassung des elvai. Der Vorrat an Partikeln, mit denen die Sätze ver-
knüpft werden, ist der spärlichste; das de herrscht, daneben findet sich
ydg, ovv, xai, ZAveimal jaevroi ; das ist fast alles und duldet mit dem Paiiikel-
reichtum Xenophons keinen Vergleich. So fehlen denn auch alle redne-
rischen Tropen, Vergleiche und Bilder, mit denen sonst Xenophon selbst
in der Schrift über die Reitkunst nicht spart. Das bezeichnendste aber
ist der ständige Gebrauch des Infinitivs statt des Imperativs, der dem
Xenophon selbst ganz ungeläufig ist. Der Umstand, daß im cap. 13 die
') Ehein. Mus. 51 S. 597 ff.; 52 S. 13 ff.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 231
Begriffe (pd6oo(pog und oocpiojrjg in einer Weise, die wiederum Xenophon
nicht kennt, schroff kontrastiert Averden, führt endlich zu dem Ansatz,
daß der Cynegeticus unter Einfluß der platonischen Fassung dieser Ter-
mini steht. Die Schrift mag noch dem 4. Jahrhundert v. Chr. angehören ;
vielleicht kannte sie schon Theophrast.i) Das Proöm des Cynegeticus aber
ist wiederum nicht zugehörig und scheint erst etwa im 3. Jahrhundert
hinzugefügt Avorden zu sein.
Die pseudoovidischen Halieutica sind zwar durchaus nicht albern zu 9^^*^.
nennen, aber von einer kümmerlichen Dürftigkeit und schulmäßigen Trocken-
heit, die Ovid nirgends kennt, die dagegen den philiströsen griechischen
Didaktikern A^on der Art Nikanders und so auch dem Aemilius Macer
eigen Avar. Wann hätte OA'id so von seiner Art gelassen? Er ist sonst
stets bis ans Ende sich selber gleich. Jene Trockenheit deutet nicht
etAva auf einen geistigen Rückgang des gealterten Verfassers, sondern auf •
eine abAA'eichende und hausbackene Methode des LehrA^ortrags, die Aveit
A^erbreitet AA^ar und es auf das Memorieren eines Lernstoffs in Katalog-
form absieht. Wer nun diese Halieutica durchliest, findet in den AA^enigen
Yersen, es sind nur 134, obendrein eine Menge unovidisches Sprachgut
und eine unoAadische Metrik, und so bestätigt auch hier das Argument 4
das Argument 7.
Es ist unbeliebt, ein spondeisches W^ort in den ersten Fuß des Hexa-
meters zu setzen (PPS); hier geschieht es in jedem 17. Verse, im letzten
Buch des ÜA^id ex Ponto in jedem 40. OA^d liebt es, den Alerten Fuß
daktylisch zu bilden in der Weise, daß der Fuß mit Wortende schließt;
in dem erAvähnten Buch ex Ponto findet sich dies siebenundAderzigmal,
d. h. einmal in jedem 9. — 10. Verse, in den Halieutica geschieht dies nur
A^ermal, d. h. einmal in jedem 33. — 34. Vers. Die Hexameterform IV, die
neben der Hephthemimeres nur den Einschnitt /.lerä tqltov xQoxaXov hat, aa^o
Decidit adsutamque | dolo | tandem pavet escam,
braucht Ovid selbst nirgends, in den Halieutica aber steht sie ZAveimal,
A'. 11 u. 104. Schon das genügt. Zudem aber schließt der soeben zitierte
V. 11 auf das ungeschickteste mit vier zweisilbigen Wörtern. Auch das
ist im OAdd ganz unerhört.
Dazu kommen die sprachlichen Anstöße, die alle aufzuzählen hier
unmöglich; da lesen AAdr z.B.: v. 3 nondum imn für „noch nicht": un
OAddisch ; iam FlickAvort. v. 5 und 6 : Nachstellung des sie in der Anapher
uno\ddisch. v. 77 f. : nunc . . . et nune statt nune . . . niine für „bald bald"
unoAddisch. v. 68 f.: seu ... -ve eum statt sive . . . sive: unoAddisch. v. 55
quo magis bei fehlendem eo magis: unoAddisch. v. 57: propemre aktivisch
mit dem acc. verbunden : unovidisch. v. 90 : viridare transitiv : unoAddisch
V. 51 : non sana für insana bei A^orauf gehender langer geschlossener Silbe
unoAddisch.2) a\130: noeuus: unovidisch und neu. a\119: epnsfas (escas)
unovidisch. v. 103 — 126: tum in der Aufzählung: unovidisch. 3) Ovid
1) Siehe Rhein. Mus. 52 S. 26. j non et haud eqs., Marburg 1908, S. 19 f.
2) Siehe nicht nur De haheut. p. 25, | ^) De hal. S. 43.
sondern auch W. Pfeiffer, Quibus legibus |
232 Kritik und Hermeneutik.
braucht ferner kein increpitare (Hai. 80), dissolvere (37), obniti (12), vendi-
tare (70), denunüare (60) u. s. f.
Man hat einige dieser zahlreichen Unechtheitsindizien durch Emen-
dation zu beseitigen versucht; i) aber damit kommt man nicht weit. Vor
allem steht im v. 34 der Dativ ei, und zwar jambisch gemessen. Weder
Ovid noch sonst ein Augusteischer Dichter gestattet sich aber den Dativ
ei jemals. Erst Germanicus in den Phaenomena hat ihn zu schreiben ge-
wagt, und hiermit ist uns nun schon ein erstes Anzeichen für die Abfassungs-
zeit der Halieutica an die Hand gegeben. Aber es kommen Aveitere hinzu.
Im V. 95 steht gar milui zweisilbig gemessen (denn die Lesung müui läßt
sich nicht ernstlich bezweifeln); miluus ist aber im klassischen Latein
stets dreisilbig daktylisch, so noch bei Persius 4, 26, und die zweisilbige
Messung taucht zuerst bei Martial 9, 55 auf (vgl. Juvenal 9, 55). Also
- ist die Fälschung erst nach Persius entstanden. 2) Wir können aber noch
genauer sagen: sie entstand zwischen dem 9. und 32. Buch der Natur-
geschichte des Plinius ; denn das neunte ist das Fischbuch ; da kennt Plinius
aber das Gedichtstück noch nicht; später erst hat er es kennen gelernt
und exzerpiert es nun 32, 152 f. voll Eifer anhangsweise und als Supple-
ment zu Buch IX an einem ganz ungehörigen Ort. Dies höchst auffälHge
Verhalten des Plinius muß auf besonderen umständen beruhen. 3) Denn
bei der Belesenheit und Litteraturkenntnis des Mannes ist es undenkbar,
daß er im neunten Buch die Halieutica nicht benutzt hätte, wenn sie vor-
gelegen hätten. Nun ist das 9. Buch des Plinius sicher vor dem Jahre 77
n. Clir., die Zusätze im 32. Buch aber sind aller Wahrscheinlichkeit nach
erst nach 77 von PHnius abgefaßt worden.'*) Also lernte er die Halieutica
erst um das Jahr 77 kennen; d. h. sie stehen der Zeit Martials nahe.
Vcigii Ganz ebenso steht es nun auch mit Culex und Ciris. Nehmen wir
nur den ersteren. Man wird es freiUch bedauern, an derartige litterarische
Produkte viel Zeit zu verlieren ; doch bieten sie ein hervorragendes methodo-
logisches Interesse.
Zunächst die Erfindung im Culex. Eine Wassermücke, die, von
einem Hirten getötet, als Geist umgeht und ein Begräbnis fordert und
schließlich das Begräbnis auch erhält: das ist der Gegenstand. Der
Dichter selbst sagt, was er gibt, soll ein locus sein (v. 6), und wir können
vermuten, daß die Fiktion wirklich volkstümhch war. Es handelt sich
um die Vorstellung, daß auch die Tiere nach dem Tod Aveiterleben und,
wenn sie nicht eine Bestattung finden, rulielos umgehn. Diese Idee liegt
gewiß noch nicht in der Odyssee vor, wo 11, 573 im Hades auf Avilde
') Ich bedaure mich öfter mit F.Yoll- ' was Yolhner zum v. 1 vorschlägt, kann ich
mer im Widerspruch zu finden. Sein her- ; nicht annehmen : keinesfalls aber ent-
vorragendes Talent im Konjizieren war | spricht seine Interpretation des Verses dem
ihm nicht treu, wenn dieser Gelehrte, ; Stil Ovids. Für v. 75 setzt Vollmer bei-
Ciilex
Ehein. Mus. 55 S. 528, glaubt, im v. 2 lasse
sich manca mhmtur herstellen; das soll
heißen: „er droht mangelhaft" : wäre aber
wirklich so zu lesen, so wäre damit gegen
Ovid ein neues Argument geschaffen; denn
ein manca minatur läßt sich durch keine
ovidische Analogie rechtfertigen. Auch
läufig einen Fragesatz an: quid laus prima
canum? Auch das scheint mir nicht mög-
lich.
2) De halieut. S. 56.
3) De halieut. S. 132 und 158 f.
*) Vgl. Teuffels Gesch. der röm. Lit-
teratur, 6. Aufl., § 313, 1.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 233
Tiere Jagd gemacht wird, und auch die Rosse in der Unterwelt, die
Yergil 6, 653 erwähnt, gehören nicht hierher. Wichtiger ist, daß die
Schlangen, die das Knäblein Herakles erwürgt, bei Theokrit 25, 271 in
den Hades fahren, also auch dort weiterleben werden: was uns an die
Fabel vom Melampus, der die Schlangen begräbt, erinnert.^) Daher zieht
nun aber auch der gestorbene Sperling Catulls in die Unterwelt, ja, er
zieht durch die Unterwelt, carm. 3, 12: it per iter tenebricosiim illud,'^) iinde
negant vedire qiiemqiiam. Man begreift, daß aus dieser Anschauung die
Sitte hervorging, Tiere wirklich wie .Menschen zu begraben, wie Kaiser
Hadrian seine Pferde beisetzte, 3) und so erst erklären sich auch die Grab-
schriften auf gestorbene Tiere in der Palatinischen Anthologie 7, 189 — 216
und die lateinische auf das Hündchen Myia, CIL. XIII 488. Sogar eine
Heuschrecke erhält ihren tumulus Anthol. Pal. 7, 198. Und nun endlich das
Umirren der Tierseele nach dem Tode. Bei Lucian im Mvlag ey^^Mjuiov
lesen Avir § 7, daß die Seele der Fliege unsterblich ist, und zwar ejiav-
eoyejai jidXiv . . . xal ejiavioT}]oi ro ocb^ua. Das führt jedoch auf anderes.
Vortrefflich paßt dagegen die Geschichte vom Aal, die ich schon früher
einmal beibrachte,^) hierher: der Aal ist von einem gewissen Kissamis
getötet worden, erscheint ihm im Traum und fordert begraben zu werden.
Das ist zum Culex immer noch die nächste Parallele. Ovid aber sagt
uns nun noch, Amor. II 6, daß in der Unterwelt auch ein besonderes Ge-
filde für die Tiere besteht. Er denkt dabei allerdings nur an die Vögel;
denn es handelt sich dort um den Papagei seiner Corinna, der rite, mit
Grabinschrift auf dem tumulus, beigesetzt wird. Im Elysium, heißt es,
befindet sich ein dunkler Eichenhain: das ist der Ort für die volucres
piae; Schwäne, Tauben, der Pfau, sogar der Phönixvogel sind dort zu
finden.
Die Erfindung des Culex ist hiermit erklärt. Sein Hauptinhalt aber
ist in alexandrinischem Geiste exkursiv. Denn die Mücke benutzt die
Gelegenheit, um dem Hirten die ganze Unterwelt, zu der sie eingehen
soll, zu beschreiben; aber nicht etwa ein Jenseits der Tiere tut sich uns
da auf, mit dem Schatten der Heuschrecke, des Aals, der Taube, des
Fuchses, Wolfs und Esels u. s. f.: solche Erfindung wäre zu kühn, oder
sie wäre zu vulgär gewesen. Der „locus" besteht vielmehr nur in dem
Kontrast zwischen trivialer Fabel und erhabener Ausführung : &) die Fabel
möglichst naiv und ammenhaft, die Ausführung übertrieben gelehrt und
mit kostbarem mythographischem Apparat überladen, schon gleich im
Proöm; dann bei der Schilderung der Bäume, unter denen der Viehhüter
schläft u. s. f. ; ebenso gesucht die Sprache : das Exerzitium eines kümmer-
lich überfütterten Geistes, unübertrefflich fade von vorn bis hinten. Und
das sollte der feine Verfasser des Catalepton geschrieben haben? Vielmehr
Avird das Ganze erst als Werk eines ungeschickten Fälschers, der den jungen
M Preller, Griech. Mythol.II S.472. : der Wortschatz {voces) soll dem Scherz zu-
2) So zu lesen; s. Philol. 63 S. 429. j liebe {per ludum) erhaberr sein oder mit
3) Vita Hadriani 21, 2. | den Helden, die er vor allem unterweit-
'*) De halieuticis S. 52. ' lieh vorführen wird, übereinstimmen {con-
^) Dies sagt der Verfasser selbst v. 5, sonent notitiae ducum).
234 Kritik und Hermeneutik.
Vergil als Anfänger in der Poesie vorführen wollte, verständlich; daher
das wichtigtuerische tennem fonnavimus orsmn im Proöm v. 2, d. h. „ich
lege hier einen bescheidenen Anfang vor", was natürlich für den "Wissenden
gesagt ist; es ist durchsichtig, daß wir verstehen sollen: „Dies schreibt
der Mann, der einst so Gewaltiges wie die Aeneis leisten wird" ; also ganz
in dem prahlerischen Sinn der unechten Vergil verse, die die Aeneis ein-
leiten (oben S. 160):
nie ego, qui quondam gracih modulatus avena
Carmen, et egressus silvis vicina coegi
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricohs, at nunc horrentia Martis.
Aber der Fälscher verrät sich im Culex wiederum durch Sprache und
Versbau, und zwar als deutlich nachvergilisch.i) Nicht nur der Gebrauch
der Doppelzäsur weicht ab ; 2) der Culex verschleift nie ein Monosjdlabum,
Vergil oft, und die Verschleifung langer Endsilben hat bei Vergil über-
haupt sehr weite Ausdehnung; der Culex läßt sie kaum noch zu oder gar
nicht zu : 3) eine Finesse, die aber überhaupt allen Dichtern der Jahre
55 — 40 V. Chr., um Avelche Jahre es sich hier, wäre der Culex echt, han-
deln Avürde, gänzlich unbekannt war. Bezeichnender ist noch, daß Vergil
selbst zu allen Zeiten mit Vorliebe einsilbige Wörter vor die Zäsuren stellt
wieAen. 1, 17 Hic curnis fuit hoc; der Culex vermeidet dagegen auch das
sorgfältig.'*) Daher nun also der ganz abweichende Charakter! Der Culex
träg-t den untrüglichen Stempel einer jüngeren Technik.
Dasselbe bestätigt der Wortschatz, 0) aus dem ich nur einiges beson-
ders Charakteristische herausgreife. Unvergilisch sind das Substantiv orsus
V. 2 (sonst nur Cic. poet.); der Plural neces 310 (Vergil schrieb mirmortes^
im Plural); letare für leto dare v. 323 (ovidisch; wie viel Gelegenheit bot
die Aeneis, dies letare zu brauchen!); posterius für postea v. 8, 114, 131;
prohandus „lobenswert" 80; ntiUtas 66; parilis 227,356 (ovidisch). Adverbien
Avie avide 53, foede 196 mied Vergil sorglich. 0) Auch poliere 45 kennt
der ganze Vergir nicht, wolil aber Ovid. Weiter comparare iür parare 205 y
compos 191, refovere 213 etc. etc. Dazu das magis heatior 79 (s. Leos Anm.).
Unerhört die apricae ciirae 98, das solidum Carmen 100 {soUcla eloquentia
braucht erst Quintilian) ; fragendes ubi 225 nachgestellt an die vierte Stelle ;
inqiiit 210 der direkten Rede vorangestellt."^)
Dies Verzeichnis würde sich stark vermehren lassen. Von der ver-
zwickten Syntax und mancherlei anderen Anstößen sehe ich hier ganz ab.
Sprache wie Verskunst weist also auf späto^ddische oder nachovidische
Zeit. Dazu stimmt, daß allem Anschein nach der Sammler des vergilischen
Catalepton den Culex noch nicht kannte. 8)
1) Vgl. F. Leo, Culex S. 16. ; Holtschmidt wird demnächst Genaueres
2) Ad histor. hexametri latini S. 41. | bringen.
3) Siehe de halieut. S. 48 f. ; zu v. 216 i ^) H. Priess, Usum adverbii quatenus
s..Leos Anm. j fugerint poetae . . ., Marburg 1909, S. 11
*) Vgl. O. Braum. De monosjdlabis ' und 14. maiure, Culex 186, schlechte Kon-
ante caesuras hex. collocatis, Marburg 1906,
S. 25.
^) Ungenügend F. Baur, Fleckeis.
Jbb. 1866 S. 367 ff. Eine Arbeit von W.
iektur von Eothe.
') Siehe Philol. 63 S. 448.
») Siehe ed. Catalepton S. 8 f.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha. 235
Diese drei Fälle stehen nun nicht etwa allein da. Vielmehr müßte,
wer die Beweiskraft der vorgetragenen Argumente für Cynegeticus, Culex
und Halieutica nicht gelten lassen wollte, auch z. B. den kummervollen imd
gleichsam hartmäuligen Panegyricus Messallae für echtes Eigentum
des Tibull nehmen sowie auch manche schwer verdächtige Idyllien der
T he okrit Sammlung für echt theokriteisch. In dem Idyll XX der Theokrit- Tiieocritea
Sammlung stehen z. B. Wörter wie doveco, öcovaxi, nXayiavXcp und Formen
wie ej^ielo, ovrex^Q, äcpag, noXXov, die Theokrit selbst nie braucht; auch ist
das Stück erheblich daktylenreicher als die echten Sachen. Ähnlich A^er-
hält es sich mit Id. XXIII, XXYII, auch XXI. i) Diese Art zu argu-
mentieren ist wohlbegründet und vernünftig, und die besten Gelehrten
sind für sie eingetreten. Die Methode muß aber überall die gleiche sein,
und was füi- griechische Texte gilt, gilt auch für lateinische.
Auch von Seneca besitzen wir Hexameter genug, um beurteilen zu Seneca
können, ob die bedenklichen sogenannten Senecaepigramme 2) von ihm
herstammen oder nicht. 3) In der Tat weicht ihre Technik in einem
wesentlichen Detail ab. In Senecas Claudiussatire stehen 49 Hexameter;
sie alle vermeiden die Elision vollständig; in Senecas Medea und Oedipus
stehen 32 Hexameter; auch sie zeigen keine einzige Elision. Das kann
nicht Zufall sein ; da die Epigramme hingegen Yerschleif ungen zeigen,
hat Seneca sie nicht verfaßt. Soweit wir kontrollieren können, hat dieser
Philosoph, Dichter und Staatsmann außer den beiden Consolationen auf
Corsica überhaupt nichts verfaßt, auch nichts in Prosa geschrieben.
Jene metrische Beobachtung aber Avird noch gewichtiger, wenn wir sie
ausdehnen. AVir haben von Senecas Schüler Nero etwa zavöK Hexameter ;
in ihnen fehlt gleichfalls jede Elision; wir haben von Senecas Freund
Lucilius deren zwei; es steht da ebenso; A^or allem besitzen Avir noch
Yerse des Metrikers und lyrischen Dichters Caesius Bassus, des Zeit-
genossen Senecas, unter dessen Einfluß er — A\de Nero — in seiner
Technik, Avie überhaupt in der Komposition seiner Chorlieder jedenfalls
stand; auch in des Bassus Resten, die sich großenteils in lyrischen Vers-
maßen bcAvegen, steht es ganz ebenso.*) Das Fehlen der Verschleifungen
bei Seneca selbst beruht also auf Absicht und Theorie, s) GleichAvohl Averden
die erwähnten Epigramme in den Senecabiographien immer noch gut-
gläubig weiterA'erarbeitet.
Das Gesagte muß zu Recht bestehen, AA'ennschon natürlicherAveise die
BcAA'eiskraft sprachlich-metrischer Beobachtungen in A^erschiedenen Fällen
A'erschieden ist, und dies muß ich noch hervorheben. Ihre Evidenz ist am
größten bei Autoren von dem Umfang eines ÜAäd oder Vergil ; denn bei
den 15000 oder gar 40000 Versen dieser Dichter läßt sich ihre consuetudo
besonders sicher feststellen. Geringer ist die Evidenz dagegen bei einem
^) Siehe Carl Brinker, De Theocriti '') Die Reste des Lucüius, Nero und
vita carminibus . . ., Eostock 1884: Theo- Caesius Bassus bei Bährbxs, Fragmenta
krit, ed. Cholmeley, Lond. 1901, S. 53 f. | poet. lat. S. 362 ff. Die einzige Elision bei
2) Anthol. lat.''236 f.; auch 396 ff. j Caesius 2, 6 hat Bährens durch schlechte
') Siehe Ad historiam hexametri latini ; Konjektur hineingetragen.
S. 65 Anm. 2; dazu E. Bickel, Rhein. Mus. i ^) Vgl. meinen Seneca- Aufsatz Prcußi-
61 S. 392 ff. ! sehe Jahrbb. Bd. 144 S. 296 Anm.
236 * Kritik und Hermeneutik.
Theokrit,!) da wir von ihm nur etwa 2000 sicher echte Zeilen besitzen.
Hätten wir 40000 von ihm, er würde uns in Sprache und Versbau ganz
Theokrit gewiß vicl mehr Nuancen zeigen als jetzt. Ich denke an Idyll YIII. Es
ist wahr: unter den neun oder zehn Hirtengedichten Theokrits steht dies
Idyll VIII besonders da und zeigt einiges Eigenartige. Warum aber
sollte der Dichter in diesen kleinen Kompositionen nicht etwas variieren?
Der Schluß auf Unechtheit wüi^de hier unbedingt zu weit gehen. ^) Und
ähnlich wird man betreffs der Kallimachosepigramme zurückhaltender
urteilen, weil das Beobachtungsmaterial zu gering; w4r haben 52 Epi-
gramme. =*) Bei einer solchen Sachlage läßt sich demnach mit Sicher-
heit auf Unechtheit nur dann erkennen, wenn die Merkmale, wie in
Senecas Epigrammen, Avirklich wesentliche Dinge anbetreffen.
v^orke Aber es bleibt noch eine letzte Möpüchkeit, die nämlich, daß wir sogar
solclier , .... ^
Autoren, einem Autor, von dem sonst gar nichts erhalten ist, sein vorliegendes Werk
son^tnicMs ^bsprechen müssen. Für diese Art der Beweisführung gab einst R. Bentle}^
erhalten clas glänzende Beispiel in seinen Phalarisbriefen.'') Behtley zeigte eben,
daß Inhalt und vSprache der vorliegenden Phalarisb riefe zum 6. Jahrliundert,
dem Zeitalter des Tyrannen Phalaris, gar nicht paßt, daß hier also die
Welt mit einem der plumpsten Falsifikate betrogen wurde. Und so ist
auf dem Felde der Brieflitteratur überhaupt am meisten gefälscht worden,
eine Lieblingsbeschäftigung der Sophisten und Rhetoren. Dahin gehören
auch die siebzig Briefe des M. Junius Brutus (mit zugehörigen Antworten) :
MuJQiödxov Tcov Bqovtov ijiioToXojv ovvayioyrj ; dahin die Briefe des Sokrates
und mancher Sokratiker u. ä. m. Ein Beispiel anderer Art betrifft den
großen Eratosthenes; sein Epigramm De cubi duplicatione kann nicht
echt sein; das ergibt wiederum die Sprachbetrachtung, obschon sonst nur so
geringe Gedichtreste von Eratosthenes erhalten sind. 5) Ein merkwürdiges
Problem ist die unter des Her ödes Atticus Namen überlieferte kurze Rede
jtzQL jTohreiag, die sich beiläufig in das Jahr 405 — 404 v. Chr. zurückversetzt ;
die Versuche, diese Rede dem Herodes abzuerkennen und sie gar wirklich
ins 5. Jahrhundert v. Chr. zurückzudatieren, scheinen indes mißlungen, ß)
Es muß gesagt werden, daß man sich bei einer Sachlage, wie der
hier gegebenen, jedenfalls ganz besonders vor allzu schnellen Athetesen
zu hüten hat. Von Antisthenes besitzen Avir sonst nichts; trotzdem wagt
man, die Echtheit seines Ajax und Odysseus zu bestreiten. Aber Avie an-
gemessen der Inhalt dieser Redestücke für den Cyniker Antisthenes ist,
hat Joh. Dahmen hinlänglich erAviesen.') Sie sind ebenso sicher antisthe-
nisch, AA^e die Helena mid der Palamedes dem Gorgias gehört.
Wir haben die Indizien, durch die eine Fälschung als solche erA\desen
oder Avahrscheinlich gemacht Averden kann, hiermit durchbesprochen. Doch
fehlt für den zu gebenden NacliAveis endlich noch eins; AA^r haben die
) Daher solche Urteile, AvieA.GrERCKE, < relliqu. S. 122 ff
Rhein. Mus. 42 S. 614 ff. sie gegeben
2) Siehe Bücheler, Fleckeis. Jbb. 1860.
3) Vgl. z. B. Berl. philol.AV.schr. 1912
S. 622.
4) Siehe oben S. 223. i stheneae, Marburg 1897, S. 56 ff
^) Siehe E. Hiller, Eratosth. carm
6) Siehe W. Schmid in Berl. philol.
W.schr. 1909 S. 389 ff. gegen E. Drerup,
["Hocödov] jisgi jro/.deiag, Paderborn 1908.
^) Quaestiones Xenophonteae et Anti-
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha.
237
Tendenz-
fälschung
Pflicht, SO gut es geht, auch den Anlaß zur Fälschung aufzudecken. Anlässe zur
Dabei muß dann \delfach auch die andere Möghchkeit offen gehalten ^^^«^^""^"
werden, daß das betreffende SchriftAverk keine wirkliche Fälschung war,
sondern nur durch Irrtum unter falschen Namen geriet.
BisAveilen trieb den Fälscher die Begierde, das eigene Elaborat durch Unterschie-
einen großen Namen in Aufnahme zu bringen. So steht es mit den ^"°^^^
pseudo-Phokylidea (oben S. 227), so auch vielleicht mit den Anakreontea;
ebenso mit den Sibyllinen, mit dem Alexanderroman des Pseudo-Kalli-
sthenes, der jonisch geschriebenen Homervita unter Herodots Namen.
Der Verfasser der Schrift UeQi xoojuov wollte durchaus als Aristoteles
erscheinen; gewidmet ist die Schrift daher dem Alexander (fjyejLiövcov
ägioTog); es wird so getan, als herrsche der Perserkönig noch, und jede
Nennung eines nacharistotelischen Autors ist sorglich vermieden, i) Die
Schrift Uegl xoojtwv ist also eine planvolle Unterschiebung, der Name
des wirklichen Verfassers aber läßt sich nicht erraten. Dagegen kennen
wir den Namen des SchAvindlers Bölos Mendesius, der ein „Sj^mpathie-
buch" yeiQÖxju7]Ta unter der Aufschrift des großen Demokritos fälschte. 2)
Bedenklicher noch sind die Tendenzfälschungen nach Art der be-
rüchtigten konstantinischen Schenkung „donatio Constantini", einer in
das Corpus iuris canonici aufgenommenen Urkunde, deren Unechtheit
schon im 15. Jahrhundert Laurentius Valla nachw^ies.-"*) Doch gehört ihre
Entstehung erst dem Mittelalter an. Aber auch Cicero hat einmal eine
solche Urkundenfälschung begangen. Denn gegen Clodius erschien ein
Edikt des Volkstribunen Bacillus, als hätte dieser Racilius es verfaßt; in
Wirklichkeit aber hatte Cicero selbst es geschrieben.*) So fälschte M. Anton
Geschäftsaufzeichnungen Caesars (commentarii commenticii), wenn wir dem
Cicero Glauben schenken (Philipp. 5, 12). Beschränken ^YVc uns indes auf
das eigentlich litterarische Gebiet, so gehört zu den Tendenzfälschungen
z. B. der Aristeasbrief, der die Entstehung der Septuagintaübersetzung
erzählt, sowie die ganze Tätigkeit des schon oben S. 223 erwähnten Aristo-
bulos, weiter aber alle sogenannten Apokryphen, wie die Petrus- und die
Paulusapokalypse, weiter auch Senecas Briefwechsel mit Paulus u. a. m. ;
dazu allerlei Märtyrerakten. 0) E/ufinus hatte ein Werk unter des ver-
storbenen Pamphilos Namen tendenziös gefälscht; Hieronymus deckt dies
auf und gibt jenem Rufin den ironischen Eatschlag: in platea ah ignoto
homine te emisse clicito.^) Schon im alten Rom der republikanischen Zeit
gab es sogenannte Bücher des Numa, die im Jahre 181 v. Chr. aufgedeckt
wurden; man fand sie in einer circa vergraben. Dem Prätor aber im-
ponierte Numas Name nicht, und er ließ sie verbrennen.'') Dann hören
wir, daß unter dem Namen des C. Antonius und des Catilina um das
Jahr 63 unechte Reden umgingen, die gegen Cicero hetzten;*) u. s. f.
1) Siehe E. Zeller. Sitz.ber. d. Berl.
Akad. 1885, vom 30. April, S. 399. Anders
J. Berxays, Ges. Abhandlungen II, 1885.
») Siehe Oder, Ehein. Mus. 45 S. 72,
wo auch S. 74 über M'eitere Schwindeleien.
3) Siehe Loexing in Sybels Histor.
Zeitschrift Bd. 65 (1890).
4) Siehe Schol. Bob. S. 145 ed.HiLDEBR.
5) Siehe K. Krumbacher, Gesch. der
byzant. Litteratur2 S. 177 f.
6) Hieron. IV S. 419 und 447 ed. Mar-
TIANAY.
') Siehe Buchrolle in der Kunst S. 255.
s) Asconius S. 94 ed. Clark.
238
Kritik und Hermeneutik.
horror
vacTii
AVieder ein anderer Anlaß zur Fälschung war der horror vacui. Man
besaß von Thespis keine Tragödien; Heraclides Ponticus dichtete sie und
schob sie ihm unter (oben S. 223). Nun hatte man sie. So sind auch
die fragmentarischen Reste des alten Terpander, des Susarion entstanden.
Solche Zitate und dazu Buchtitel frei zu erfinden, wurde geradezu ein
Sport. Ich nenne dafür außer Lobon auch Ptolemaeus Chennos.i) Mit
derselben Dreistigkeit, mit der man die uns vorliegenden Orphica unter
des alten Orpheus Namen ausgab, 2) wurden auch die Dar es und Dictys
aufgetischt mit ihren angeblichen Originalberichten über den trojanischen
Krieg. Für den Dictys soll sich sogar Kaiser Nero selbst persönhch inter-
essiert haben (s. Dictys praef .). Von Vergil vermißte man ein Jugend-
gedicht, das der Batrachomachie des Homer entspräche; so entstand der
Culex, und Vergils Verehrer griffen gläubig nach ihm. Seneca war nach
Corsica verbannt; man versetzte sich in seine Situation und fertigte Epi-
gramme, in denen er über seine Verbannung klagt (oben S. 235). Ganz
ähnhch ging es auch mit Cicero, dem man die Rede „Pridie quam in
exilium iret" unterschob : ^) auch dies eine planvolle Fälschung, un d die
eine erklärt die andere. Die gleiche geschäftige Phantasie ist es, die auch
all die unechten Briefwechsel des Sokrates etc. etc., von denen wir sprachen,
erzeugt hat. Und so w^erden denn auch jene HaUeutica, die v^on vorne-
herein als Fragment erschienen, hierher gehören. Ovids Verehrer er-
schufen absichtlich ein Fragment, damit man aus der Hand des sterbenden
Meisters noch einige letzte Zeilen, ein Werk, über das er hin wegstarb,
besäße; der Pontus aber, an dem Ovid hauste, Avar besonders fischreich;
er war der eigentliche Fischversorger Roms. Darum die Wahl des Fisch-
themas der HaHeutica. Endlich meldet Sueton,*) daß man von Horaz
eine unechte Elegie und einen unechten Prosabrief überlieferte; offenbar
waren auch diese augenscheinlich sehr ungeschickten Unterschiebungen
im Interesse der Belebung der Biographie des Horaz gemacht. Alles das
steht auf gleichem Boden.
Besonders hat das Gebiet der Spruchdichtung zu freier Erfindung
eingeladen. Über die Pseudophokylidea war schon S. 227 die Rede. Vor
allem die sieben Weisen wurden mit Sprüchen, ja, mit Versen bedacht. 0)
lu der Kaiserzeit entstanden die Disticha Catonis u. s. f. Ich nenne noch
die in je zwei Trimetern abgefassten Spruchreden des Menander und
Philistion aus dem 4. — 6. Jahrhundert n. Chr.*^)
Imitationen Großo Autorcu finden immer eine Schar von Nachahmern. So mußte
Namen des ©s dcuu auch Icicht geschehon, daß die Werke der Nachahmer, deren
Vorbildes Namen klanplos verhallten, mit unter den Nachlaß des oroßen Vorbildes
gestellt . 9. . 1 • 1 T 1 111 • • 1 • • n
gerieten. Wie weit das absichtlich geschah, können wir nicht m jedem
Fall entscheiden. Ich erinnere zunächst wieder an die verschiedenen
Pseudepigrapha des Plato, des Plutarch, des Lucian — Lucians Philo-
Spruch-
litteratur
^) Siehe Hercher, Plutarchi lib. de
fluviis S.17ff.: M. Wellmann, Hermes 27
S. 650.
2) ed. a. Hermann 1805; ed. Abel 1885.
3) Siehe Cic. ed. Müller IV 3 S. 425 f.
4) p. 47 f. E.
°) Siehe Hiller ,
Rhein. Mus. 33
S. 518 f.
ß) Vgl. W. Meyer, Abhandl. d. bayer.
Akad. Bd. 19 (1892) S. 225.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha.
239
patris ist gar erst im 10. Jahrh. n. Chr. entstanden i) — , an Demosthenes ; 2)
auch an Hesiod, an Homer. In Rom tat sich bald nach Ovids Tod gradezu
eine Schar von imitatores und poetae Vergiliani und Ovidiani auf, und p^?*.^® 7^^-
wir können ihrem geschäftigen Treiben zusehen. Erst damals entstand Ovidiani'
nachAveislich das feine Moretum, das um seines idyllischen Inhalts willen
leicht unter Yergils Namen geraten mußte; erst damals, Avie ich meine,
auch die virtuos geschriebenen unechten Herolden. Ein gewisser
Sabinus hatte nämlich früh zu Ovids fünfzehn echten Heroidenbriefen
zugehörige Antworten der Adressaten Ulixes, lason, Aeneas, Paris ge-
dichtet; 3) später erst können die unechten Stücke 16 — 21 der uns erhal-
tenen Sammlung abgefaßt sein, wo anders, als Ovid selbst es machte,
immer gleich Brief und Antwort zusammensteht und ferner nicht der
Held, sondern die Heldin der antwortende Teil ist. Daß dies erst in des
Persius Zeit geschah, hat meines Erachtens große Wahrscheinlichkeit.*)
Als Fälschung aber braucht auch dies nicht bezeichnet zu werden. In
die Zeit Neros gehört auch der Aetna,^) den man wider die Absicht des
Verfassers zum Yergilnachlaß schlug. Ein erhebliches Raffinement zeigen
dagegen die Halieutica, die erst in Vespasians Zeit gefälscht w^orden sind
(oben S. 232), sowie die beiden Mäcenaselegien und die Consolatio
ad Liviam, da si<?h diese sogar mit detaillierten Zeitanspielungen und
Nennungen von Personen künstlich in die augusteische Zeit zurück-
versetzen. Der Verfasser der Consolatio tut so, als wäre er der große
Ovid selbst, aber auch er schrieb erst unter Nero — das folg! aus
manchem, z.B. schon aus dem substantivierten Partizip functus für mortuus
im V. 393 6) — , und mit dieser Consolatio hängen die Mäcenaselegien, '
obschon sie nicht von demselben Dichter herrühren, auf das engste zu-
sammen. Für diese letzteren aber steht vollkommen fest, daß sie erst
unter Nero und zwar in den Jahren, als Senecas Leben zu Ende ging,
entstanden sind; 7) unter Yergils Namen können sie erst im 4. — 5. Jahr-
hundert geraten sein, als man die Einzelstücke Culex, Ciris etc. im Codex
sammelte und jene als Zugabe darin mit aufnahm. Die besprochenen
Pseudovergiliana und Pseudoovidiana sind also zwischen den Jahren 18 — 80
in die "Welt gesetzt w^orden.
Anders liegt die Sache in Anbetreff der Elegie Nux. Wilamowitz«)
hielt dies anmutige Werk für unecht, u. a. weil in ihm das „klägliche"
Wort forsitan vorkomme. Aber dies forsitan steht mehr als achtzigmal
bei Ovid. 9) Ganzenmüller hat neuerdings den ovidischen Ursprung der
Nux im hohen Grade wahrscheinlich gemacht.
Yiele dieser Fragen bedürfen der Retraktation, so auch die Ciris -
Nux
Ciris
^) Krumbacher, Byzantin. Litteratur-
gesch. § 91.
-) Für Demosthenes vgl. F. Blass,
Att. Redner III S. 64.
3) Siehe Ovid Am. 2, 18, 27.
4) Rhein. Mus. 32 S. 396.
») Philol. 57 S. 607 ff.; oben S. 228.
^) Siehe B. Winand, Vocabulorum lat.,
quae ad mortem specant historia, Marburg
1906, S.22f.; J. Middexdorf, Elegiae in
Maecenatem, Marburg 1912, S. 10. Vgl.
auch H. Oldecop, De consol. ad Liviam,
Göttingen- 1911.
7) Middendorf a. a. 0.
8) Liber Mommsenianus S. 400.
A Vgl. Teuffel-Schwabe, Gesch. d.
röm. Litteratur S. 574.
240 Kritik und Hermeneutik.
frage, über die in den letzten Jahren zwar viel, aber leider ergebnislos
gehandelt worden ist. Es ist für die Ciris an erster Stelle immer noch
auf die Arbeit Ganzenmüllers, i) dessen höchst eingehende Feststellungen
sich nicht ignorieren lassen, zurückzugehen. Auf Grund dieses reichen
Beobachtungsmaterials gilt es zu entscheiden, ob Vergil selbst der Ver-
fasser oder ob die Ciris nachvergilisch ; denn eine dritte Möglichkeit gibt
es nicht. Da der Cirisdichter aber sagt, daß er erst als etwa vierzig-
jähriger Mann, d. h. nach dem Abschluß seiner iuventus,^) mit seiner
poetischen Studie fertig wurde, so würde das für Vergil ins Jahr 30 v. Chr.
führen. Dieser Lebenszeit des Vergil widerstreitet aber Kompositions-
w^eise, Sprache und Versbau auf das schroffste. Ich glaube darum wie
Ganzenmüller, daß die Ciris unecht und daß sie unter o\ddischem Ein-
fluß steht: 3) eine centoartige Nachdichtung, die jedenfalls irgendwie mit
der Fälschung des Culex zusammenhängt. Dies letztere hat Nemethy
erwiesen.*) Vor allem steht die Ciris tief unter dem Niveau Vergils und
ist, was Intelligenz und Geist anlangt, dem Culex ungefähr ebenbürtig.
Man lasse sich durch den altmodischen Anstrich der Ciris, vor allem die
häufige Verwendung der Parenthese, nicht täuschen. Der Verfasser hat
sich künstlich auf den Standpunkt des CatuU und Cinna zurückgeschroben
und dabei alles übertrieben, sowie die Argumenta zu den Komödien des
Plautus gleichsam plautinischer sind als er selber.
Weitere j)[q Fälsclicr erweckcu unseren UnAvillen. Mehr Nachsicht haben
Irrungen
wir für die Besitzübertragungen, die klärlich nur auf Irrtum beruhen.
Dafür, daß auch schon die alexandrinischen Gelehrten schwankten, wem
dies oder jenes Werk gehöre, finden sich nicht Avenige Belege; ich erinnere
nur noch an des Stesichoros \4.&Xa im IleUq, die man auch dem Ibykos
zuschrieb. So hat denn auch sonst der Irrtum gewaltet, beispielshalber
in der Überlieferung der 'A&rjvaicov jiokxeia, die man schon sehr früh und
augenscheinlich schon in voralexandrinischer Zeit an Xenophons Äaxe-
daijiwvuov jioXireia anhängte und gar mit einem de verknüpfte (der Anfang
lautet: Ilegl ök xfjg A&rjvaimv jioXireiag). Auch die Rhetorik ad Alexan-
drum w^ar herrenlos geworden; man tat sie zur Masse der Aristoteles werke
und fügte ihr zur Beglaubigung ein Proöm hinzu, in dem Alexander der
Große angeredet wurde. Ebenso geriet Nemesian hinter Calpurnius und
Lygdamus hinter Tibull, die Octavia hinter die Tragödien Senecas. So
wurde die Rhetorik ad Herennium (und zwar erst nach Quintilians Zeit)
auf Cicero, die Schrift Jisgl vy.fovg auf Longin übertragen. In allen diesen
Fällen Avar eben der Name des Originalautors verloren gegangen. Daher
auch die Spuria im Nachlaß des Ausonius, des Lactanz, des Claudian.
Im Jahre 54 v. Chr. Avurde von einem Unbekannten eine Invektive
gegen Cicero gerichtet, die uns A^orliegt, aber fälschlich unter Sallusts
^) In Fleckeis. Jahrbb. Suppl. Bd. XX der Oiris v. 71 A^orkommt; s. auch v. 190;
S. 553 ff.; P. Jahn, Rhein. Mus. 63 S.79ff. | 334; 437; 513; Vergil selbst dagegen hat
sammelt Anklänge; dies führt natürlich 1 sie nur einmal, Ecl. 2, 68. Das illa ego
zu keinem Ergebnis. I smn, Oiris 411 und 414, ist spezifisch OA^i-
■^) V. 45 : iuvenes exeglmus annos. | disch, u. s. f. Es ist nicht Eaum, alles
3) Nichts ist charakteristischer für OA'id ; aufzuzählen,
als die Frage mit quid enim?, die auch in j *) Rhein. Mus. 62 S. 482.
V. Die höhere Kritik. 7. Pseudepigrapha.
241
Xamen überliefert wird. Auf gut Glück hat man das herrenlose Pamphlet
unter diesen Namen gestellt, und das geschah wiederum schon früh; denn
schon Quintilian 4, 1, 68 zitiert es als sallustisch. i) Isolierte kurze Schriften
oder Monobibla gerieten eben am leichtesten an einen falschen Eigen-
tümer. Wenn aber diesem Pseudosallustianum ein Rhetor und Lehr-
meister des Stils wie Quintilian so urteilslos gegenüberstand, so wundert
man sich über Lucan nicht mehr, der den Culex für echt nahm.
So tritt eine Fülle von Aufgaben an den Kritiker und Exegeten der Fäi-
antiken Litteratur heran. Aber wir sind mit unserem Überblick auch jer nlfma-
jetzt noch nicht zu Ende. Denn es bleiben noch die Fälschungen der nisten
modernen Zeit übrig und der Humanistenzeit. Jene Humanisten, die da
imstande waren, ganze Szenen und Akte, die im Plau.tus fehlten, ganze
l:)ücher im Curtius Rufus zu ergänzen, konnten gegebenenfalls auch weiter-
gehen. Und so sind damals wirklich die poetischen Episteln des Sabinus
untergeschoben worden, die zu Ovids Heroiden die Antworten geben.
Damals entstand auch das Danaestück des Euripides (oben S. 124); der
Pseudo-Apuleius de Orthographia. ^) Im Jahr 1583 erschien in Köln
„M. Tullii Ciceronis Consolatio, liber nunc primum repertus": auch dies
ein flotter Versuch, die verlorene Consolatio Ciceros zu ersetzen. 3)
Übrigens war auch schon das Mittelalter in solchen Nachdichtungen
nach Ovid u. a. fruchtbar gCAvesen; doch lohnt es nicht, hierbei zu ver-
weilen.*)
Oftmals fällt die Entscheidung schwer. Wie fremdartig mutet uns
nicht der Spurinna^) an! Doch fehlt liier vorläufig eine wirkliche de-
monstratio. Eine ernste Warnung war, daß einer unserer besten Arbeiter,
Moritz Haupt, in Bezug auf die Consolatio ad Liviam (Epicedion Drusi)
so fehlgreifen konnte; Haupt bewies mit großem Aufwand von Gelehr-
samkeit und Scharfsinn sich und anderen, daß diese Elegie erst in der
Humanistenzeit gefälscht sei; aber er irrte sich. Auch gegen die Ge-
dichte, die Caspar Barth aus Handschriften, die er besaß und die nicht
mehr vorhanden sind, im Abdruck mitteilte, hat eine nicht unberechtigte
Skepsis geherrscht; zu ihnen gehört auch jener Spurinna. Es schien,
Barth habe sie gradezu selbst gedichtet. Nun ist aber von Rud. Bunte
erwiesen, 6) daß das Hauptstück Patricii epithalamium Auspicii et Aellae,
das Barth uns gibt, Anthol.lat. 941, antik und sicher echt ist, und diese
Frage ist damit auf einen neuen Boden gestellt. AI. Riese, der Heraus-
geber der Anthologia latina, hat davon freilich nichts wahrgenommen. So
ist auch die nur in sehr jungen Handschriften vorliegende Declamatio in
L. Sergium Catilinam antik ;^) und mit Ciceros Rede pro Murena steht
') Vgl. hierüber Reitzexstein und
ScHWARTZ im Heraies 33 S. 87 ff.
^) Ueber De orthographia s. mein Buch :
Der Hiat bei Plautus S. 165 Anm. 4.
3) Siehe B, A. Schulz, De Oic. con-
soJatione, Greifswald 1860.
*) Ich denke an die Gedichte De philo-
mela, De pediculo u. a., zusamrnengestellt
von Goldast, Oatalecta Ovidii,' Frankfurt
Handbuch der klas». Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl
1610. Dazu Anthol. lat. 682 u. a.
5) Anthol. lat. n. 918—921.
*) Patrici epithalamium Auspici et
Aellae denuo editum praefatione instruc-
tum, Marburg 1891.
7) Siehe H. Zlmmerer, Declam. in L.
Sergium Catalinam, eine Schuldeklamation
der Kaiser?;eit, München 1888.
16
Moderne
Fäl
242 Kritik und Hermeneutik.
es, obsclion sie erst im Jahr 1413 in Poggios Händen auftaucht, denn
doch auch nicht anders. Stephan Haupt hat, als hätte ihn des aus-
gezeichneten Moritz Haupt Fehlgriff nicht schlafen lassen, jene Cicerorede
neuerdings für eine Fälschung der Renaissancezeit erklärt. *) Indes, von
allem anderen abgesehen, ist sie allein sclion durch antike Zitate voll-
kommen gesichert. 2)
Aber auch vor unserer Gegenwart sind wir nicht ganz sicher, und
ßciiungen noch die moderne Zeit hat aus Gewinnsucht, aus Freude an der Täuschung
uns solche Überraschungen gebracht wie die 95 unechten Babriosfabeln
des Minoides Minas, desselben Minas, der auch mit dem Gymnasticus des
Philostrat sein Unwesen trieb. 3) Der Greif swalder Professor C. W. Ahl-
A\ardt benutzte in seiner Pindaraus gäbe angebliche Auszüge aus Nea[)ler
Pindarhandschriften: „lectionum Italicarum ovkXoyij a docto quodam amico
mecum communicata" (praef. p. YIII); aber alle die Lesungen, die den
Pindartext zu glätten helfen sollten, sind, wie alsbald (1835) nachgewiesen
Avurde, erdichtet, und das Ganze erlogen. 4) 1853 erschienen in Lemberg
unter Bielowskis Namen „Pompeji Trogi fragmenta" aus polnischen Quellen,
und Gutschmid deckte das Falsifikat auf, Jahns Jahrbb. Suppl. Bd. II S.202f.
Wir haben nicht nur gegen gefälschte Tiaren imd Schleuderbleie auf der
Hut zu sein.
1) Progr. von Znaim 1911. I Lips.1897, S.Xnif.; Pliilostrat gcLKayser
2) Vgl. KoRxrrzER in Wochenschr. f. ' II2 (1871) S.XVf.
klass. Piniol. 1912 S. 1291. 1 '*) Siehe A. Böckh, Kleine Schriften
3) Siehe Babrii fab. ed. O. Crusius, ' VII S. 514.
ABRISS
DES ANTIKEN BUCHWESENS
16=
Einleitung.
Das Buch- und Sclireiberwesen des Altertums läßt sich nach zwei A"fK»'><'
Gesichtspunkten behandeln. Es waltet entweder, indem wir nach
Lesebuch, Tafel und Schreibheft bei den Alten fragen, ein bloß
anti(|uarisches Interesse, und aus dem Feststellen der Tatsachen ergeben
sich keine Konsequenzen, die über sie selbst hinausführen. Oder aber
das Interesse konzentriert sich auf die Frage, in welcher AVeise das
Bücherwesen in den langen Zeiten, als noch kein Buchdruck und keine
mechanische Vervielfältigung bestand, der Litteratur und ihrer Erhaltung
und Verbreitung diente. Beide Aufgaben sollen in Nachstehendem in
Kürze ihre Behandlimg finden, doch liegt der Schwerpunkt auf der
zAveiten ; denn sie ist für den Philologen die wichtigere. Die Betrachtung
der Beschaffenheit des antiken Litteraturbuchs und des Buchvertriebes
führt nicht selten zu kritischen Problemen, oder sie eröffnet auch nur das
Verständnis für die Beschaffenheit der litterarischen Werke selbst, wie
denn z. B. die Buchteilung größerer "Werke sich aus den Anforderungen
erklärt, die die Kürze der Buchrollen an den antiken Autor stellte. Über-
liaupt aber ist es von grundlegender Bedeutung, genau zu Avissen, wie
die Texte im Altertum durch Abschrift und Aufbewahrung in Bibliotheken
gesichert Avurden und was es damals hieß: ein Buch edieren.
Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich, daß hier von den Schreib-
materialien, Tinte, Calamus, Lineal u. s. f., da sie nicht Bestandteile des
l^>uclis sind, auch nicht gehandelt Averden soll. Ihre Besprechung fällt
der Paläographie zu.
])ie Untersuchungen über das BucliAvesen haben sich aus den Studien Litterj.tm
übei- Paläographie entAA'ickelt und losgelöst. Ich A^erAveise deshalb für
htterarische Nachweise zunächst auf die Werke über Paläographie; Ma-
billon, Maffei, Montfaucon sind hier aus älterer Zeit Hauptnamen.
Von Neueren zitiere ich:
W. Wattenbach, Das SchriftAvesen im Mittelalter, 3. Aufl., Leipz. 1896.
C. Paoli, Grundriß zu Vorlesungen über lat. Paläographie und Urkunden-
lehre, übersetzt A^on K. Lohmeyer, Bd. II, Innsbruck 1895.
V. Gardthausen, Griechische Paläographie, Leipz. 1879; dasselbe Werk,
2. Aufl., Bd. I: Das antike Buchwesen, Leipz. 1912; vgl. meine Be-
sprechung Historische Vierteljahrsschrift 1912 S. 397 ff.
W. A. Becker, Gallus ed. Göll Bd. IL
Th. Birt, Das antike BucliAvesen in seinem Verhältnis zur Litteratur,
Berhn 1882.
246 l^as antike Buchwesen.
Marquardt-Mau, Privatleben der Römer, Leipz. 1886, S. 799 ff.
F. Kenyon, Palaeograpliy of Greek papyri, 1899.
A. V. Premerstein in Pauly -Wissowas Realencyklopädie, Bd. lY:
Artikel „ Commentarii " .
Karl Dziatzko in Pauly -Wissowas Realencyklopädie, Bd. III: Artikel
„Buch", „Bibliothek",\,Buclihandel" und\,b3^blos" (S. 1100 f.).
Derselbe, Untersuchungen über ausgewählte Kapitel des antiken Buch-
wesens, Leipz. 1900; dazu meine Besprechung im Zentralblatt für
Bibliothekswesen XYII (1900) S. 545 ff.
W. J. Clark, The care of book, Cambridge 1901; 2. Aufl. 1902.
Ludwig Blau, Zum althebräischen Buchwesen, Budapest 1902.
Gerhard und Gradenwitz in Neue Heidelberger Jahrbb. XII (1903)
8. 148 ff.
Th. Birt, Die Buchrolle in der Kunst, Leipz. 1907.
W. Schubart, Das Buch bei den Griechen und Römern (in Hand-
büchern der Kgl. Museen Bd. XII), Berl. 1907.
Max Krämer, Res libraria cadentis antiquitatis Ausonii et Apollinaris
Sidonii exemplis illustratur, Marbm-g 1909.
L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen Bd.I, München 1909, S. 84ff.
L. Blau, La letteratura moderna sul libro considerata dal j)unto di
vista del libro ebraico, Estratto dalla Rivista Israelitica, anni V — VII,
Firenze 1910.
Chr. Johnen, Geschichte der Stenographie, Bd. I, Berl. 1912.
L. Mitteis und U. AVilcken, Grundzüge und Chrestomathie der Papyrus-
kunde, Leipz. 1912, Bd. I.
Hiernach ist noch
H. Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste
bei Griechen und Römern, 2. Aufl. Bd. I, Leipz. 1912, S. 313 ff.
zu erwähnen. Doch ist leider manches, was Blümner gibt, anticjuiert, da
er weder mein Buch „Die Buchrolle in der Kunst" noch meinen Aufsatz
im Zentralblatt für Bibliothekswesen vom Jahre 1900, noch die weitere
daran sich anschließende Litteratur berücksichtigt hat.^) Vgl. auc^li
H. Blümner, Die römischen Privataltei-tümer, München 1911 (in diesem
Handbuch der Altertumswissenschaft Bd. IV Abt. 2) S. 467 ff. und 643 ff.^)
*) Vgl. meine Besprechung in Deutsche j ^) Vgl. meine Besprechung Histor. Zeit-
Litteraturzeitung 1913 Nr. 15 S. 936. schrift 1912 S. 349 ff.
1%
1. Beschreibstoffe.
Homers Epen sind nocli ohne Buch und ohne Schrift entstanden. Homer
Diese schon in anderem Zusammenhang erörterte Tatsache i) ist für die Btidior
Kenntnis des Buchwesens besonders Avichtig und muß deshalb hier noch-
mals hervorgehoben werden. Man hat das Gegenteil wohl behauptet,
aber durch nichts boAviesen. Wer der Meinung ist, daß so umfangreiche
und kunstvolle Gedichte Avie die Ilias sich ohne Schrift nicht komponieren
lassen, der A^ersäumt es, sich Mar zu machen, AAde viel entA\dckelter als
jetzt die Gedächtniskraft intelligenter Menschen in schriftlosen Zeiten ist. 2)
Das Formelhafte in der homerischen Sprache ist nichts anderes als Ge-
dächtnishilfe. Dies gilt mir als erAviesen, und ohne solche Annahme ver-
stehe ich den typischen Stil dieser Epen nicht, dessen Wesensbedingung
eben darin beruht. Als ZAvingende Bestätigung kommt hinzu, daß Homer
ein Lesebuch tatsächlich noch nicht kennt; denn er erAvähnt seinen Ge-
brauch nirgends. Nur die Brief tafel envähnt Homer einmal; aber das
ist ein Avesentlicher Unterschied. Man erAA'äge doch: in der Zeit, als die
kostbare Erfindung des Lesebuchs gemacht Avar, schien dies Buch für den
Rhapsoden und Sänger beim Vortrag selbst unentbehrlich. Nicht nui' in
Xenophons Zeit benutzen die Rhapsoden Buchexemplare, 3) sondern schon
die Vasenbilder des 6. und 5. Jahrhunderts lehren uns, daß ein Stesi-
choi'os, Avenn er A^orträgt, die Rolle im Schoß hat (Buchrolle Abb. 80),
ebenso die Muse (ib. Abb. 79 und 92), ebenso Sappho (Abb. 83 und S. 90, 2);
andere BildAverke der älteren Zeit zeigen uns ebenso Heraklit (ib. S. 51),
Korinna (S. 160 f.) und Pindar (S. 155). Vor aUem trägt auch Homer
selbst da, avo er auf Reliefbildern A^ortragend erscheint, aus dem offenen
Buche lesend vor (ib. S. 149), und daher macht es auch Pigres mit seiner
Rhapsodie, die vom Frosch-Mäusekrieg handelt, nicht anders und erAvähnt
im Proöm seiner epischen Erzählung das Buch ausdrückHch, in das er
den Gesang niedergelegt hat und das ihm nun ganz so auf den Knien
liegt, Avie es mehrere der soeben aufgeführten BildAverke uns zeigen
(a. a. 0. S. 155). In der Zeit also, avo das Buch existiert, wird es auch
zum Vortrag benutzt. In der Ilias und Odyssee dagegen singt nicht nur
Achill in seinem Zelt, es singen auch die berufsmäßig A^ortragenden Aöden
durch Aveg ohne diese Hilfe. Also hat sie ihnen noch gefehlt, und die
Ausflucht, sie hätten das Buch vielleicht nur zu Haus als Substrat für
1) Siehe Kritik und Hermeneutik S. 89. gleichkommt, mit dem man Gegenstände
^) l^nter schriftlosen Zeiten verstehe schmückte,
ich auch solche, wo die Schrift noch nicht | ') Xenoph. Memor. 4, 2, 10.
dem Buche dient und dem Ornament
248 Das antike Buchwesen.
das Memorieren benutzt, i) ist zu dürftig, um von demjenigen ernst ge-
nommen zu Averden, der Pigres und das auf den Bildwerken geschilderte
Verfahren vergleicht. Der Grieche hat sich durchaus nicht gescheut, dem
Publikum das Buch als Gedächtnishilfe wirklich zu zeigen, wofern er es
nm- besaß. Tatsache ist ferner, daß der Name "OjurjQog den Blinden be-
deutete 2) und daß dementsprechend auch der Aöde Demodokos bei Homer
blind ist. Ein Blinder kann aber nicht schreiben. Demodokos trägt
Odyss. 8, 77 f. ein Lied vor, das seinem Publikum etAvas Neues bringen
soll: es ist die oi'firj über den Wettstreit des Odysseus uud Acliill. Ent-
^ , weder hat Demodokos diese ol'jLt^] selbst gedichtet — dann dichtete er als
JMinder ohne Schrift — , oder er hat von anderen Aöden den Stoff über-
nommen ; alsdann hat er ihn nur mündlich und nicht in Buchform kennen
gelernt, da ein Blinder nicht lesen kann, und die Stoffe wurden somit
auf alle Fälle mündlich tradiert. Dies bestätigt vollends der homerische
Hymnus auf Apoll, dessen Verfasser sich ausdrücklich als TV(pX6g äri/o
bezeichnet. Auch noch dieser Apollohymnus ist von einem Blinden, also
nicht schriftlicli, gedichtet worden.
MiU«,n und j^^ß schou die Periode der alten präliistorisch ägäischen Kultur sinn-
tragende Scliriftzeichen besessen hat, wie die Funde auf Kreta lehren,
kommt liier nicht in Betracht. Die aus dem phönikischen Alphabet ab-
geleitete griecliische Schrift beginnt für uns nicht viel vor dem 8. Jahr-
liundert, und erst seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. liegen uns griechische
Inschriften umfangreicheren Textes vor. Das Wort ygacpeiv^ scribere, hieß
ursprünglich „gi'aben" und weist darauf hin, daß man die Schrift zunächst
nm* auf Stein, Holz oder Metall ritzte oder eingrub. s) Doch mul5 die Be-
deutung des Wortes ygäcpeiv sich früli zu der des Malens, also auch des
Schreibens mit aufgetragenem Farbstoff, eriv eitert haben ; denn für Malen
besitzt der Grieche kein anderes Wort als yQacpetv. Das bloß gemalte Bild
ging aus dem farbigen Relief herv^or. Die Älinlichkeit zwischen Malen
und Schreiben betont Plato im Phaedrus p. 275 D, wenn er Sokrates sagen
läßt: öeivov ydq jtoi^, (L ^aXöge, tovt l'^et yQaq)rj xal (hg älr]&a)g ofioiov
Cfoygacpia' xal yäo rd ixeivTjg exyova eorrjxe jukv (bg l^cbvxa, edv d' äveQij ri,
oejiivwg Tidvv oiyq. Den Übei^gang aber zeigen uns solche Bilder, beson-
ders auf Grabstelen, wo wir die Umrisse der Figur eingeritzt und auf
die so umrissenen Flächen Farben aufgelegt sehen.
^^^8? 'ffo^* Über Beschreibstoffe handeln im Altertum vornehmlich Plinius nat.
bist. 13, 65 — 68 ; Ul])ian in den Digesten 32, 52 ; Martianus Capella 2, 136 ;
Symmachus epist. 4, 31. Die nachfolgende Aufzählung derselben strebt
keine Vollständigkeit an*) und will nur das Bemerkenswerteste her\'or-
heben. Ergänzendes haben Paoli S. 1 ff. und besonders Gardthausen S. 45 ff.
gesammelt. Doch glaube ich, daß die Gruppierung und einiges Detail,
das ich zu geben gedenke, nicht überflüssig sein wird.
^) Siehe K. L. Kayser, Homerische Wort weise speziell auf Wachstal'eln hin.
Abhandl. 8. 24; Ohrist-Schmid, Gesch. d. | *) Insbesondere habe ich von den
griech. Litt. I S. 69. | Stempeln auf Tongefäßen, Ziegeln ii. ä.
2) Siehe Kritik und Hermeneutik S. 88 f. | hier abgesehen. Ueber Töpferinschrifteii
') Irrig sagt Gardthausen S. 41, das j Paoli S. 5.
mm
I. Beschreibstoffe. 1. Naturwüchsiges. 2. Türen und Ähnliches. 249
1. Naturwüchsiges.
Wie bei uiis Narrenhände Tisch und Wände beschmieren, Touristen an Naturtois,
alle Felsen der Wildnis ihren Namen kreiden, so kam für das Schreiben stänuue u.a.
in primitiven Zuständen der rohe Naturfels selbst in Betracht, wofür die
Insel Thera mit ihren alten Felseninschriften zum Teil erotischen Inhaltes
ein merkwürdiges Beispiel gibt: der Felsenhang selbst ein Kollektivbuch. i)
Denselben Dienst aber leisteten die Baumstämme im Hain oder am Weg;
darauf schreiben die Hii-ten Yergils, aber auch die Liebenden. ») In den
Städten aber, avo es keine Felsenwände oder Baumstämme gibt, sind es
die Häuserwände, die die Passanten, ob Bub, ob erwachsen, mit An-
schriften bedecken: daher stammen vor allem die tausendfältigen Graffiti
und Depinti Pompejis 3) und anderer antiker Städte.*)
Ein naturwüchsiges Verfahren ist es aber auch, wenn der Liebende '^i>m.
Liebesworte in die Schale des i^pfels ritzt (man denke an Acontius und * ^**^ "" "'
Cydippe), und daran reiht sich das Distichon, das auf einem Sesamkorn
steht, bei Aelian, Yar. hist. 1, 17, sowie der Pilz des Trajan: im Daker-
krieg wurde diesem Kaiser eine Nachricht überschickt, die man mit
lateinischer Schrift auf einen großen Pilz geschrieben hatte. &) Und end-
lich die Zaubersprüche des Landmanns: beim Pfropfen des Feigenbaums
schrieb man glückbringende Schriftzeichen auf das Pfropfreis, ß) Man
beschrieb die Mandeln, bevor man sie einpflanzte, um dadurch bunt-
gezeichnete Mandeln zu erzielen.')
2. Türen und Ähnliches.
Organisieiter war schon das Verfahren, Avenn Seeleute Schrift auf ii"<ier
das Schiffsruder setzten, um Botschaft über See zu bringen. Dies wird
für den Helden Palamedes bei Aristophanes Thesm. 770 und 778, vielleicht
direkt nach des Euripides Palamedes, angesetzt.*») In Hinblick hierauf
erklärt sich die Wahl des Wortes jiXdra in dem merkA\airdigen Epigramm
Anthol. Pal. 13, 21, 8 noch leichter, worüber ich anderen Orts gehandelt.»)
Vor allem aber hat man sich nicht nur in den Zeiten urwüchsiger Türen
Sitte, sondern auch noch später der Türe als regelrechter Beschreibfläche,
auf der man sich Mitteilungen machte, bedient. Wir alle kennen die
bemalte und die reliefgeschmückte Tür, und die Kunstgeschichte ist es,
die sich mit ihr beschäftigt. Ganze Heiligenleben stellt das Mittelalter
1) Siehe IG. XII 3,536—601 und 141Ö i zu Eur. Palamedes.
bis 1493; Bethe, Rhein. Mus. 62 S. 449 f. ») Zentralblatt f. BW. 8. 550. Es han-
Melir bei Larfeld, Griech. Epigraphik^ ! delt sich um das Grabmal des „Plataiden"
S. 433. I Mnasalkas: Mvaodkxeog ro oäfxa tw TlXaratöa,
2) Hirten: Vergil Ecl. 5, 13; Liebende: I und von ihm wird ausgesagt: a Mcooa ö'
IVoperz 1, 18, 22. avzio rag 2!ifi(oviöa Ji/Mzag t)g ojioojidQayfia.
3) Siehe CIL. Bd. IV; übrigens Boss, | Hier stellt sich jikdra nur deshalb ein,
Inselreise I S. 63; Wieseler, Theater- j weü ein Anklang an nkaratöa gesucht
gebäude Taf. XIII u. a. wird. Daß damit aber an dieser Stelle
'») Gardthausen S. 32 f. j kein Holz gemeint ist, zeigt djioojidgayfia,
i) C'ass. Dio 68, 8. ! was unzweifelhaft auf einen reißbaren Be-
♦>) Geopon. 2, 42, 2, 1 schreibstoff liin weist; aber die Erinnerung
') J^alladius 2, 15,13: vgl. hierzu Riess %n da« bescliriebene Ruder des Palamedes
bei Pauly-Wissowa, RE. I S. 90. 1 hat zugleich mit eingewirkt und die Wahl
») Siehe Fritzsche zur Stelle ;A.NAr CK ; des Wortes ermöglicht.
250 ^*^ antike Buchwesen.
auf den Kirchentüren dar; das beginnt aber schon im antiken Christen-
tum, in S. Sabina auf dem Aventin, in S. Ambroggio in Mailand, und
Vorbild dafür waren die Tempeltüren des Idassischen Altertums gewesen;
Cicero, Yerrin. IV 94 und 124 ff., auch Vergil, Ovid beschreiben sie uns
Georg. 2, 463; Aen. 6, 20 ff.; Metam. 2, 4 ff.; auch Lucan 10, 117. Ganze
M^^then oder Legenden waren da im Bild zu sehen; d. h. die Tempeltüren
selbst erzählten die Legenden dem Volke ; so auch die Niobiden und Galher
an der Tür des palatinischen ApoUotempels.i) Die Türen waren die Kon-
kurrenten des Buchs. So wie sich das antike Bilderbuch zum einfachen
Lesebuch, so verhielt sich die felderweise mit Bildschmuck versehene Tür
zu der mit Schrift beschriebenen Tür.
Der letzteren müßte noch einmal etwas sorgfältiger nachgespürt
werden. Man kann sicli zunächst an Modernes erinnern. In der deutschen
Volkserzählung schreibt ein Arzt das Rezept dem Bauer an seine Tür;
der dmnme Bauer hebt die ganze Tür aus und läuft damit zum Apotheker.
An die Stubentür des Studenten schrieb im 17. Jahrhundei*t der Pedell
die Vorladung des Eektors: Dominus P. cifafur ad Rcftovem. Gewiß in
viel weiterer Ausdehnung gilt dies Verfahren vom Altertum. Nicht nur
im fünften Buch Moses 6,9 und 11,20 erscheinen die beschriebenen Tiu-en,
sondern Fronte sagt uns p. 67 Nah., daß auch in Rom sich das flamen,
sume sannentum als Anschrift an der Tempeltür befand. Bekannt ist
auch die Anschrift: „Hier Avohnt Herakles; kein Übel komme herein." 2j
Bei Afranius v. 415 R. heißt es: inscribaf al'iqim in ostio 'arse verse' (d. li.
averte ignem), und damit sind die sonstigen Zaubersprüche an den Türen,
die das Übel abwehren sollen (Geopon. 13,8, 4; 13, 15, 8), zu vergleichen. 3)
Auch sonst wurden Sprüche auf die nvlwveg geschrieben nach Lucian
Alexandres 36; ebenso Liebesgedichte nach Ovid Am. 3, 1, 53: cptofiens
foribus duris incisa pependi non verifa a populo practereunte legi. Ähnlich
schon Aristophanes Vesp. 97 f. : f]v l'dt] ye Jiov yeygafifievov vlbv IIvoUdjiijTovs
er &uga Arjfwv xaXov, Icov JiaQeygay^e jzhjoiov ^X7]jii6g xalog . So auch Plautus
Merc. 74: impleantur meac fores elogiorum carhonibns. Auch Properz I 16, 10
hat hierauf Bezug. In anderen Fällen wurden die Worte nur an der
Tür befestigt: Vergil befestigt in der bekannten Anekdote das sie vos nou
vobis \dermal an die Türflügel;*) ebenso steht es mit dem Distichon bei
Sidonius Apollinaris epist. V 8 : disticJw tali clam Palatinis foribus appensis.
Bei Cicero sehen wir, wie Clodius in euriae posfe einen Anschlag macht, s)
Im übrigen sei auf „Buchrolle" S. 210, 1 und Rhein. Mus. 63 S. 41 ver-
wiesen.
So kann denn die ianua endlich auch sprechen, Avie sie es bei Catull
im Gedicht LXVII tut. Doch lasse ich es hier auf sich beruhen, inwieweit
in der Volksphantasie die redende Tür^) mit der beschriebenen Tür zu-
sammenhing. Statt dessen sei noch auf Plato hingewiesen. Denn viel-
1) Properz II 31; Sauer bei Eosclier, | journ.of phil. 32 (1911) S. 250 ff. eingesehen.
Myth. Lex. III 1 S. 421. \ ^) Sueton p. 66 f. ed. Betff.
2) a.WissowA, Religion und Kult, der I &) Oic. ad Att. III 15, 10.
Römer S. 229. | e) Hierüber s. Philol. 63 S. 456 und bc-
3) Hierzu sei M. B. Ogle im American I sonders Fries, Rhein. Mus. 59 S. 213 f.
I. Beschreibstoffe. 2. Türen. 3. Steinflächen. 4. Bronzeplatten. 5. Vaseninschriften. 2r)l
leicht liegt auch den jToujTiy.ai ävQai bei Plato, Phaedr. p. 245 A, die Yor-
stelhmg der beschriebenen Tür zugrunde.») Jedenfalls hängt aber hiermit
auch noch der Umstand zusammen, daß man die Wachstafeln selbst Türen,
ßrgideg, nannte, nach Hesych.«) Dazu das Adjektiv dldvgog. Ja, aucli
die Kolumnen in der Pergament- oder Papyrusrolle wurden „Türen" ge-
nannt. 3) Und auch an die oavidsg dürfen wir uns hierbei erinnern, die
amtlich als Album zur Publikation dienten (unten Nr. 10). Denn auch
aayideg bedeuten Aviederum bei Homer und sonst die Türen. Woher aber
(lieser Tropus? Weil die Tür im Orient ursprünglich transportabel war
wie jedes andere Brett. Sie war nicht mit dem Haus verwachsen. Darauf
machte schon Dziatzko auf merksam. 4)
3. Geglättete Steinflächen.
Großartiger entwickelte sich das Schrift Avesen auf geglättetem Stein,
in den man die Inschriften ritzte oder meißelte, und der ZAveck ist dabei
zumeist monumental. Vielfach Avurden sogar die Tempel wände selbst,
.VußenAvände Avie InnenAvände, dazu benutzt, und der Tempelbau selbst
Avurde so zu einem steinernen Archiv. Über das Nähere hat die Epi-
graphik Auskunft zu geben. Hier gilt es nur, auf die Art der Fassung
des inschriftlichen Textes zu achten, wie sie vornehmlich von den Römern
ausgebildet Avorden ist. Denn der Grieche bedeckt der Regel nach den
ganzen Stein rahmenlos und bis zum Rand mit gleichmäßig gestellten
Buchstaben, der Römer dagegen fülirt gern als Rahmen eine Leiste um
die Schriftmasse herum, so daß sie zum gerahmten Bilde wird, das gleich-
sam am Stein als seinem Träger hängt; beliebt Avaren auch an Altären
und Sarkophagen die in Schildform angebrachten Inschriften. Doch AA'ar
dies Verfahren, das die Aufschrift zum Ornament gestaltet, in Ansätzen
auch schon in der griechischen Steinschriftpraxis vorgebildet. &)
Stein-
nscliriften
4. Bronzeplatten.
Auch die Bronzei)latten gehören der Epigraphik an, und das soeben
Gesagte gilt zum großen Teil auch von ihnen. Besonders erAvähnt seien
an dieser Stelle nur diejenigen Bronzetafeln, die in der römischen Kaiser-
zeit als Militärdiplome dienten, den Wachstafeln ähnUche Doppeltafeln,
durch die den Veteranen das Bürgerrecht verbrieft und beurkundet AA^urde.^)
tironze
5. Vaseninschriften.
Bei dem Malen von Gemälden Avar es Sitte, zu den dargestellten »»-fäße und
Figuren auch den Namen zur Verdeutlichung hinzuzusetzen. Dies ver- ^"^^*
anscliaulichen ims in kleinerem Maßstabe auch die aus Ton gefertigten
^) Anders Seneca De tranquül. an. 15.
2) Vgl. E.Fabricils, Commentationes
epigraphicae de architectura, 1881, S. 78.
3j Buchrolle a. a. O. ; A'gl. dazu L. Blau,
hi\'ista Israel. S. 77.
^) Untersuchungen 8. 11. Ich weise
uuch auf Oxj-rliA'nchos Pap. ed. Grenfbll
u. Hunt, part VI (1908) Nr. 912 hin, einen
Mietsvertrag, der bestimmt, daß der Mieter,
wenn er auszieht, die Türen und Sclilüssel
des Hauses zurückgeben soll.
M Siehe P. tlACOBSTHAL, in Aao/rfc für
F. Leo, 1911, S. 453 ff.
6) Siehe Wattenbach S. 43 f.; Darkm-
berg-Saglio, Dict.II S. 266 f.; R. Wünsch,
„Diploma" bei Pauly-Wissowa RE.
252 I^as antike Buchwesen.
Vasen des Altertums. Aber auch diese Vaseninscliriften, die A^or dem
letzten Brennen des Gefäßes mit dem Pinsel aufgemalt wurden, i) kommen
für unsere Z^vecke nicht in Betracht. Doch verlohnt es, daran zu erinnern,
daß sie nicht nur Namenbeischriften, sondern auch oft Gefühlsäußerungen
des Künstlers enthielten; und das betrifft nicht nur die klassische Zeit
der attischen Vasenmalerei. Auf mit Schrift bedeckte Trinkgefäße spielt
auch einmal Kaiser Augustus an, 2) und die römischen Töpfereien haben
derartige in der Tat nicht selten geliefert, mit einem Sprüchlein oder
Mahnwort darauf, auch in Gallien und Germanien, s) „Antike Töpfereien
lassen sich einigermaßen auch als Schreibstuben betrachten, wo in den
nassen Ton oder auf die fertige Ware allerlei eingegraben, aufgemalt.
Nutzes und Unnützes aufgeschrieben ward."*) So hat denn auch das
ganze Schrift- und Buchwesen der alten Bab^donier und Assyrer auf der
Tontafel beruht; in die weiche Tontafel wurde die Keilschrift mit dem
Griffel eingeritzt; erst danach wurde sie hart gebrannt.
Wir nähern uns hiernach dem Buch selber. Zum leichtbewegiichen
Matei'ial oehören die
}->'
6. Palmblätter.
Palm- Noch heute sind in Ostindien die Palmblätter ein allgemein vei--
breiteter Beschreibstoff. Aber auch zu den Griechen drang die Palme,
Einige meinten, die SibAdlen hätten auf solchen Blättern geschrieben; so
Varro bei Servius Aen. 8, 444; vgl. auch Plinius nat. liist. 13, 68. War
doch der Gott Apollo, der die Sibylle zur Weissagung begeistert, untei-
der Palme von Dolos geboren. Auf die Palmblätter der Sibylle geht auch
wohl das foliiim bei Juvenal 8, 126, welche Stelle nach Vergil Aen. 8, 444
auszulegen ist. Jedenfalls ist foliiim in der abgeblaßten Bedeutung der
„Buchseite" dem ganzen antiken Rollenbuchwesen unbekannt (s. unten).
Die Palmblätter haben also im Schriftwesen ihren sicheren Platz ; daß
die Alten dagegen, wie man aus Cinnas aridulus lihellus malvae entnimmt,
auch auf Mah^enblättern schrieben, ist nicht zu glauben ;ö) darüber im
nächstfolgenden Abschnitt.
7. Baumbast.
Bast Der Heimatboden der Römer und Griechen lieferte keine Palmblätter,
aber den Baumbast, arborum Ubri, insbesondere Lindenbast, tiliaf q)ilvQa.
Und hier tritt uns also das Wort Über im Schriftwesen zum erstenmal
und in eigentlichster Wortbedeutimg entgegen. Das ist für das Verständnis
des Ganzen hochbedeutsam. Buch und Bast war für den Römer zu allen
Zeiten dasselbe; denn liher hat für ihn jene naturwüchsige Grundbedeutung
t
1) Siehe P. Kretschmer, Die grieclii- ^) Was man gelegenthch über das
sehen Vasen, ihrer Sprache nach unter- . Schreiben auf Olivenblättern, Zwiebeln n.ä.
sucht, Gütersloh 1894; CrAR*DTHAUSEN S.30. i hört (s. z.B. Blau, Eivista Israelit. S. 33),
2) Buchrolle S. 39. ; kann nicht ernstlich zum Vergleich heran-
3) Vgl. auch Büchelp:r, Rhein. Mus. | gezogen werden: es ist vielmehr mit dem
(52 S. 155. : Schreiben auf Pilzen, Mandelkernen u. a.
4) Bücheler, Bonner Jalubb. 116 S. 300. (oben S. 249) gleichzustellen.
I. Beschreibstoffe. 6. Palmblätter. 7. Baumbast. 25-S
des Bastes zu keiner Zeit verloren, wie der Sprachgebrauch auch des
Spätlateins bezeugt. *)
Der wirkliche Baumbast selbst begegnet uns im Dienste des Buch-
w esens allerdings nur selten, z. B. bei Dio Cass. 67, 15, Martianus Capella
2, 136 ; aus diesen Erwähnungen geht hervor, daß der Gebrauch nur ver-
einzelt vorkam. Es ist aber ein großer Irrtum, die Tatsächlichkeit des-
selben für die historischen Zeiten zu bestreiten. 2) Kaiser Commodus
schreibt tatsächlich auf Bast. 3) Auch Galen bezeugt seine Verwendung;-*)
auch Ulpian.5) Ja, das ganze Bellum Troianum des Dictys stand auf
Eollen von tilia', dies sagt der Prologus zum Dictys: de toto hello sex
volnmina in tilias digessit P/ioeniceis Utteris. Symmachus a. a. 0. bezeugt
für die filin Tafelform, und wir dürfen dafür auch CIL. II 4125 deeretum
e.i' tilia recitavit heranziehen, wennschon es auch möglich wäre, daß hier
an eine Wachstafel gedacht ist.
Außerdem aber gehört, wie ich glaube, auch das Schreiben auf Malven Maiven
hierher. PKnius berichtet darüber nichts, weil er diesen Stoff unter den
Baumbast mit einbegriff. Aus Sueton stammt die Nachricht, daß der
römische Dichter Helvius Cinna seiner Aratbearbeitung Widmungsverse
beigegeben hatte, in denen er von arididiis libellus lenis malvae redet;
solchen aridulus libellus hatte Oinna für das Widmungsexemplar seines
Gedichtes benutzt. 6) An dieser Stelle kann nun libellus schwerlich „Buch"
bedeuten; der Zusatz arididus „trocken" weist vielmehr auf stoffliche Be-
deutung, also auf die Grundbedeutung von Über. Die Dichter Catull,
Galvus und Cinna liebten auch sonst in hohem Grade die Deminutiva.
libellus muß hier füi' den Bast selbst stehen. Auf trockenem Malvenbast
war das Gedicht geschrieben.'')
Sehr früh Avurde aber auch die aus Ägypten importierte, aus Papyrus nber füi
liergestellte charfa von den Eömern „Bast", liber, benannt, u^nd das ist
schon hier hervorzuheben: eine für die Terminologie des Buchwesei;is
unendlich wichtige Bedeutungsübertragung, die durch die bastähnliche
äußere Beschaffenheit dieser charta hervorgerufen worden ist.^) Jeder
naive Mensch im Altertum und auch noch in späteren Zeiten hat das
Kunstpräparat der Charta für naturwüchsigen Baumbast gehalten, und
schon in Photios' Lexikon kommt dies zum Ausdruck, wo es heißt: (pdvga
cfUTov k'xov (ploiov ßvßXcü jiajivQcp (sie) ojuoiov. Ähnlich äußern sich Martial
14, 209 und Plinius über die charta (§ 76 propior cortici). Daher meint
auch Hieronymus epist. 8: scriptores a libris arborum librarios vocavcre.
So erklärt sich also, daß der Römer die Papyrusrolle, weil sie seinem
naiven Sinn Bast zu sein schien, bis an das Ende des antiken Buchwesens
konsequent kurzweg als „Bast", Über, bezeichnet hat. Er sagte „liber",
d. h. „Bastrolle", statt Chartarolle (s. unten).
Um noch einmal auf den Baumbast selbst zurückzukommen, so setzte
p
1) vSiehe z. B. Isidor, Orig. 6, 13.
2) Dies tut Schubart S. 2 f.
') Buchrolle S. 335 nach Herodian 1, 17
•») ebenda S. 21; die Galenstelle ist j „Bast" nicht anmerken.
weiter unten besprochen. 1 ^) Genaueres Buchrolle S. 23, 1
■^) Buchwesen S. 98. |
6) Sueton p. 133 R.
') Unsere Lexica sind unvollständig,
wenn sie zu Ubellus die Grundbedeutung
254 I^as antike Buchwesen.
auch sein Gebrauch und der Gebraucli der philyr'ma ohne Frage eine gewisse
künsthche Zubereitung des Materials A^oraus. Primitiver und darum in den
unteren Volksschichten weit verbreitet war dagegen das Schreiben auf
8. Ostraka.
Ostraka Es handelt sich hier um die Topfscherben, die man gewann, A\enn
im Hausstand das Geschirr zerbrach. Auf sie wurde die Schrift aufgemalt.
Massenhaft und regelmäßig sind sie so vor allem in Ägypten zu Geschäfts-
zwecken, und nicht nur von den ärmeren Leuten, sondern auch von Staats-
beamten, verwendet worden, i) Unzählige Geschäftsquittungen haben sich
da so auf Scherben gefunden. Von dieser GeAvohnheit hat auch das
„Scherbengericht" Athens, bei dem man den Namen des zu Ostrakierenden
auf das Ostrakon schrieb, seine Benennung. Ein denkwürdiges Kuriosum
ist da das auf athenischem Boden aufgefundene Ostrakon des Themisto-
kles.*) Auf Ostraka schrieb auch der stoische Philosoph Kleanthes, Aveil
ihm Papyrus zu teuer Avar (Diog. Laert. 7, 173), ja, auch der Gott Zeus
selbst in einer äsopischen Fabel, Babrios 127, die darum nicht etwa in
Ägypten erfunden zu sein braucht. ») Dieselbe Fabel zeigt, daß man die
Scherben sammelte und in einer y.ißonoq aufbewahrte. Aus dem Um-
stand, daß auch Schulknaben sich oft auf Ostraka im Schreiben übten,
mag sich erklären, daß auf ihnen auch litterarische Textabschnitte, unter
anderem auch das Vaterunser,*) angetroffen worden sind.^)
9. Tierhäute.
biifjdiQat Sehr alt war jedenfalls außerhalb Griechenlands auch die Verwendung
der Tierhäute, diq)Moai. Auf solchen öicp&eQai beruhte das Schriftwesen
des liochkultivierten persischen Königreichs ; die ßaodixal ÖLcpdeoai der
Perser erwähnt Ktesias bei Diodor 2, 32. Ebenso herrschten sie aus-
schließlich bei den Juden der vorptolemäischen Zeiten, ß) und Herodot
sagt uns 5, 58, daß sie zeitweilig auch bei den Griechen in Gebrauch
gewesen, dann aber durch die Chartarolle verdrängt Avorden seien.
Sonstige Erwähnungen, die die ältere Zeit der griechischen Geschichte
anbetreffen, sind zweifelhafter Natur.') Das Wort dKpß-eQa^oiqpog = yga/i-
juaToSiddoxakog war nur k^^prisch (Hesych); darin zeigt sich, daß die
KA^prier Avie die Juden unter persischem Einfluß standen. Nur der
Kuriosität halber erAA^ähne ich das öegjtia des Epimenides, das man nach
seinem Tode ygdjujuaoi xardorixiov fand, AA^oher das SpricliAA-ort stammte:
t6 ^Emjtieviöov deg/ia, ejiI twv äjToOerMv (Suidas). Das erinnert uns an das
TättOAvieren der NaturA^ölker : ein TättOAAderen mit Schriftzeichen. Er-
AvähnensAverter ist das Sprich Avort, das A'om Richter Zeus sagte: Zevg
y.axdÖF ygoviog elg rag ÖKpd^egag. Aus diesem Sprichwort läßt sich indes
nicht folgern, daß die dicp&egm bei den Griechen für besonders alt galten,
und das Dictum selbst braucht auch durchaus nicht sehr alt zu sein. Es
') U. WiLCKEN, Griechische Ostraka j ^^ Gardthausbn S. 30. Ucber Kräge
s. W. Spiegelberg, Demotische Texte auf
Krügen, Leipzig 1912.
ß) Siehe Blau a. a. O.
') Vgl. Buchrolle S. 212, 2.
aus Aegypten und Nubien 1899, 2 Bde.
2) Siehe CIA. l\ 1, 8 Xr. 569 f.
3) Buchrolle S. 335 u. 337: Neue Jahrbb.
19 (1907) S. 705 f.
*) Athen. Mitteilungen 25 S. 313 f.
I. Beschreibstoffe. 8. Ostraka. 9. Tierhäute. 255
konnte auch in der Zeit, als die Charta schon längst herrschte, entstehen ;
denn die Charta Avar zerreißbar und konservierte sich schlecht; das Buch
in Gottes Hand muß dagegen ewig dauern, muß möghchst unzerstörbar
sein; nur darum A\-ird dem Gott hier das Fell und nicht die Charta in
die Hand gegeben, i) So gelten denn in den Scholien zu Plutarchs Solon^)
die dicp&sQm durchaus nicht für besonders alt, wo es von den ä^oveg heißt:
ä^oveg de ii'Xa rerodycovcx ijoav elg odg oi vojuoi eveyodfprjoav nob rijg rchv
f>iq^^i}8gcdv ijroi Öeggecov (sie) avgeoecog. Folgen wir dieser Mitteilung, so
kamen die Häute erst nach Solons Zeit in Athen in Gebrauch; bei den
loniern Kleinasiens mag das wie auf C\^pern unter persischem Einfluß
schon früher geschehen sein. Es wundert uns nicht, daß hernach dann
auch Emipides fr. 629 N. öicp&eoai jueXeyyQacpeig (oder jueXayygacpeig) im
Tempelarchiv kennt, die voll sind von Aussprüchen des Apoll. Übrigens
fertigten die Spartaner aus Häuten ihren Geheimbrief, den sie mn den
Stock Avickelten, die oxvrdh];^) und auch die Ägypter haben sie in alter
Zeit neben ihrer Charta als schlechteren Beschreibstoff dereinst verwendet.*)
Hier erhebt sich die Frage, ob auch auf Schlangenhaut geschrieben OKurä;.j/un<i
wurde, und damit kommen Avir zur delphischen Schlangensäule und ihrer ^ siuü?^"
Erklärung. Daß die Juden gelegentlich auf Hühnerhaut, auch auf Fisch-
haut schrieben, steht fest ; &) für solche Benutzung der Schlangenhaut habe
ich dagegen keine Belege, sondern kann nur nachAA'eisen, daß Landleute
sie zu apotropäischem ZAveck mn einen Stock Avickelten.^) In Konstantinopel
Aerbrannte im 5. Jahrhundert n. Chr. die große Bibliothek und mit ihr
das Renommierstück der Sammlung, eine Homerrolle A'on 120 Fuß Länge,
die nach der Angabe des Malchos bei Zonaras aus dgdxovjog evregov be-
stand. Hier ist evregov unsinnig; wie das Mißverständnis zu erklären imd
ob hier etAva Schlangenhaut gemeint ist, läßt sich nicht ausmachen. Dazu
kommt endlich die erAvähnte Schlangensäule, ein Monument, das in seiner
Erfindung ohne seinesgleichen ist. Ein Säulenstab ist mit Schlangen bis
oben eng uniAvunden; die Schlangenleiber aber sind ganz flach gedrückt
und dienen als Schriftträger; sie tragen die Gedächtnisinschrift der Schlacht
bei Platää. Doch erledigt sich dies Problem, Avenn ich nicht iire, etAvas
anders, als ich es im Rhein. Mus. 63 S. 52 f. vorgetragen. Als ausgemacht
betrachte ich es, daß in diesem Monument die oxindXf] der Spartaner
nachgeahmt Avorden ist. Diese oxvrdkr) Avar bekanntlich ein Stab, um den
ein Riemen, {udg, A^on oben bis unten eng geA\äckelt Avurde, und auf diesem
Ijudg stand die Botschaft geschrieben. Dabei AA^ar das Charakteristische,
daß die Ränder des in Spiralen ansteigenden Riemens hart und ohne jeden
Abstand aneinanderliegen mußten, und eben dies trifft auch für die um
die Säule geAAdckelten Schlangenleiber in auffälliger Weise zu. Die Frage
ist nun, Avarmn sind an Stelle des Riemens Schlangen gcAvählt Avorden?
Ks leidet keinen ZAveifel, daß diese Erfindung auf abergläubisch ai)otro-
M Vgl. Neue Jahrbb. Bd. 19 (1907) : Mus. 63 S. 51.
s. 706 f. ■*) E. PiKTSCHMANN, Leder und Holz,
2) Siehe A. Schöne, Kieler Festschrift I in Dziatzkos Sammlung bibliothekwissen-
1898 S. 15. ! schaftl. Abhandlungen 1898 S. 51 f.
3) Siehe J. H. Leopold, Mnemosjme '' ^) L. Blau, Althebr. Bucliwesen S. 32.
28 S.365f.; dazu Buchrolle S.273f.; Rhein. : «) Rhein. Mus. 63 S. 54.
Zuborei-
256 I^8,s antike Buchwesen.
päischen Vorstellungen beruht; zugleich aber A^erlohnt es, an Denietrius
jisQi EQjiiijveiag zu erinnern, der § 159 über das, was Gefallen erweckt, über
XfiQtg handelt und als Beispiel für die ;ta^«c cpoßov äXXaaaofievov anführt:
brav diaxevi]g tig cpoßr]{}f] olov tov Ijudvra cbg ö(piv. Also der Ijudg wurde
leicht mit der Sclüange verwechselt. Für Demetrius ist das gradezu ein
Motiv, das Gefallen erweckt. Hiernach scheint es um so begreiflicher,
daß an dem Denkmal, das die Schlacht bei Platää betraf und unter dem
bestimmenden Einfluß der Lacedämonier gesetzt worden ist, die Schlange
erscheint, wo wir den Eiemen erwarten; und die Annahme, daß man auch
auf Schlangenhaut schrieb, ist damit überflüssig gemacht und erledigt.
Kehren wir noch einmal zu den ÖKf^egai zurück. Wir werden für
öKpßsQat die vorherodotische Zeit im allgemeinen anzusetzen haben, daß diese
Häute bei den Griechen nocli nicht fein zu Pergament präpariert waren,
sondern in ziemlich rohem Zustand Verwendung fanden und daher auch
nur einseitig beschrieben wurden. Sicher ist dies auch für die alten
Italiker vorauszusetzen, die den Wortlaut von Verträgen auf eine Kuhhaut
oder auf die Haut des Tieres, das eben geopfert wurde, schrieben. \)
Anders wird es sich aber mit den Öiq^degai ßaodixai\ aus denen die Archive
der Perserkönige und der persischen Reichsverwaltung bestanden, ver-
halten haben; denn einem liölier entwickelten ScliriftAvesen, wie es für
sie vorauszusetzen ist, kann das rolie Fell selbst nicht genügt haben. Fin-
sie werden wir also schon die Herstellung jenes „Pergaments" selbst voraus-
setzen müssen, das später auch bei den Griechen Boden geAvann. Der
Terminus öifpf^eQai blieb auch S[)äter immer der gleiche und läßt die Unter-
schiede, von denen ich rede, durcliaus nicht erkennen.
10. Holzplatten, Alba.
Alba Wie auf der Tür, so konnte man auch auf Brettern oder Holzplatten,
die man weißte, schreiben. Dies ist das XevxoiiJLa, das alhum, das offiziell
zu Veröffentlichungen benutzt w^urde; vgl. z. B. CIG. 2360; Dittenberger,
Sylloge^ 510; 511; 522 u. sonst; für Alt-Eom vgl. Dionys von Halikarnaß
3, 36. Es handelte sich zumeist um Staatsurkunden, Gerichtsbestimmungen
u. ä. Nach Ulpian werden die Bestimmungen des prätorischen Edikts
in alho vel in Charta vel in alia materia publiziert. 2) Die Holzfläche war
mit Gips überzogen, der auf anderem Beschreibstoff schon vorliegende
Text wird auf sie in Abschrift übertragen; daher ExyQdq)8iv eig to hvxo)jiia.^)
Oft tritt dafür der Ausdruck oaviöeg ein.'*) Solche Alba waren trans-
portabel; s. Livius 1,32,2: in alhiim elata proponere in publico. Dasselbe
proponere steht auch sonst, z. B. Digest. 2, 1, 7. Aber es waren dabei
natürlich die verschiedensten Formate möglicli: klein und handlich, so
kannten schon die Ägypter das kevxcojua. Fügten sie zwei zusammen, so
entstand die Doppeltafel, das ägyptische Diptychon.*^) Für offizielle Zwecke
waren dagegen sehr große Flächen im Gebrauch. Aber auch unbeweg-
1) Dionys. Hai. 4, 58 : Festus p. 56 M. *) Siehe Inscr. Att. I 324. Lobeck,
~) Digest. 2, 1^, 7. : Aglaoph. S.242; Aristoph. A^esp. 848; Bek-
KER, Anekd. p. 303, 23.
5) Siehe Buchrolle S. 5.
') Siehe PI Fabricius, Commentat
epigraphicae de architect. , Berlin 1881,
S. 31.
n
I. Beschreibstoflfe. 10. Holzplatten, Alba. 11. Bleiplatten.
257
dgovsg,
Kvgßeig
liehe geweißte Flächen an Häiiserwänden, also geweißte Steinflächen, hießen
Alba, die dazu dienten, um auf ihnen durch Aufschrift, wie bei uns durch
Anschlag, publicanda zu veröffentlichen: so das Album am Gebäude der
p]umachia in Pompeji, auf dem noch allerlei Inschriften gefunden sind;i) so
auch doi-tselbst im Hof der kleinen Thermen. 2) Zur richtigen Auffassung
dient uns, was Suidas s. v. sagt: Xevxcojua roixog äh]kijUjuevog yvxpco jioog
yoa(p}]v Ttohrixcoy JTQayjudrcov enirrjöeiog. Vgl. auch Plato Leg. p. 785 A.
An dieser Stelle seien dann auch noch die ä^oveg und xvgßeig des
alten Athen erwähnt. Die ä^oveg Avaren hölzerne Stäbe, an denen einige
der Gesetzestafeln Solons drehbar aufgehängt waren, 3) die xvgßeig dagegen
hölzerne, weiß angestrichene Pfeiler, die dreiseitig, dabei oben zugespitzt
und gleichfalls drehbar, als Träger der solonischen Gesetze dienten.*)
Natürlich hat man auch direkt auf Holz, das nur geglättet, aber nicht Ungewoiß-
geweißt war, geschrieben. Aber die Schrift trat alsdann zu wenig deut-
lich hervor. Dahin gehören nicht nur die ägyptischen Totenmarken ; 5)
auch Schreibübungen von Schülern, die auf Holz stehen, haben sich in
Äg\^ten gefunden, und gelegentlich liest man da aus Dichtern ausgehobene
Texte, ß) Dagegen wurden nach altrömischem Brauch die sortes in Holz
eingeschnitten: in rohore insculptae litteraeJ) Vielleicht gehört aber auch
das oavidiov (pdvqivov di&vgov bei Dio Cass. 67, 15 hierher; vielleicht war
auch der jtiva^ mvxrog in der Ilias 6, 168 solche Holztafel.«) Dasselbe
Verfahren zeigt auch Demarat, der bei Herodot 6, 239 auf dem Holz
unter dem Wachs der Wachstafel schreibt; vgl. Gellius 17,9,17.
11. Bleiplatten.
Daß gelegentlich auch auf Edelmetall, auf Goldplättchen u. ä.
auf Zinn geschrieben wurde, ist für uns von geringem Belang und sei
nur beiläufig erAvähnt.^) Mit guten Wünschen beschriebene Silberplättchen
wehrten das Übel ab und dienten als Amulette. 10)
Nicht so einfach liegt die Sache indes mit den „goldenen Büchern",
die hin und Avieder da in AnAvendung kamen, wo es sich um fromme
Weihungen in den Tempeln handelte. Es sei dafür das ßißUov xqvoovv
der Aristomache (Plutarch Symposiak. 5, 2, 10) und die xQvoer] ßvßlog des
Themistagoras (Athen, p. 681 A ; Etymol. Magn. p. 160, 29) angeführt. 1 1) Waren
das wirklich ganz in GoldmetaU nachgeahmte Papyrusrollen? oder nur
A'ergoldete? Aller Wahrscheinlichkeit nach sind dies vielmehr aus gOAA^öhn-
licher Charta hergestellte Rollen mit irgendAvelchem Goldschmuck gOAvesen ;
auch Edelmetall,
Zinn
Goldne
Bücher
*) Siehe Overbeck-Mau, Pompeii
S. 135.
2) Ebenda S. 202.
3) Siehe z. B. Pollux Onom. 8, 128;
v^l. oben S. 255.
■*) Plutarch Solon 25.
5) GrARDTHAuSEN S. 36; N. Reich Über
Miimientäfelchen (Wessely, Studien zur
Paläographie und Papyruskunde Bd. VIT,
1908).
^) GrARDTHAUSEX S. 37 ; E. ZiEBARTH,
Aus der antiken Schule, Berlin 1910 (Kleine
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft.
Texte ed. Lietzmann Nr. 65).
7) Cic. de diA^in. 2,85; Liv. 21, 62, 5 u.a.
8) Das Rätselepigraram Anthol. Pal.
14, 60 betrifft dagegen eine Wachstafel, Avie
die Erwähnung des Metallstilus daselbst
beweist.
') Gerolltes Zinn («aöö/re^o?') beiPausan.
4, 26, 8 ; übrigens GtArdthausen S. 25 f. ;
Larfbld S. 435.
1°) Siehe Siebourg in Bonner Jahrbb.
Heft 103 S. 135 ff.
11) Buchrolle S. 222.
B. 3. Auf]. 17
258 ^^^ antike Buchwesen.
auf diese Annahme führt schon die Überlegung, daß circa drei Meter
lange Goldrollen schwer herzustellen und mit Schrift zu bedecken waren.
Dieselbe Annahme Avird erzwungen durch die Analogie des goldenen Hand-
tuchs, y^eiQÖjnaxTQov xQ^'o^ov, des Königs Rhampsinit bei Herodot 2, 122;
denn dies letztere konnte doch unmöglich ganz aus Metall bestehen. Es^
ist nützUch, sich dabei auch noch der antiken Goldwebereien zu erinnern.
Das Altertum spricht dabei einfach von „Goldfäden'S anri suhtemina (Verg.
Aen. 3, 483 u. sonst), von aurum intexere (Cvprian). Diese Goldfäden waren
aber Streifchen aus vegetabilischer Substanz, die nur auf der einen Seite
vergoldet wurden, i) Danacli ist also das goldene Handtuch des Rham-
psinit, danach sind auch die „goldenen Papyrusbücher'' zu beurteilen.
Daß auch Goldschrift auf der Charta gar nichts Seltenes Avar, Averden Avir
später sehen.
Bieiroiion Bcsondcrs sind hier aber noch die biegsamen Bleiplatten, ^u6Xvßd(K,
plumhea volumina (Plinius) zu notieren. Sie dienten anfangs auch zu
öffentlichen Zwecken (Plinius), späterhin zu Briefen, 2) zu Anfragen an
das Orakel, 3) vorzüglich aber zu Zauberspilichen, die, auf Blei geschrieben
imd eingerollt oder zusammengefaltet, in Gräber, Totenkammem oder an
sonstige unterirdische Plätze gelegt Avuixlen. Sie enthalten regelmäßig die
Verfluchung eines A-erhaßten Widersachers und überantAvorten ihn den
Mächten der Hölle; A^gi. Dio Cass. 57, 18. Das Bild des Verfluchten ist
oft roh mit aufgezeichnet. Grade solche magischen Bleiplatten sind zahl-
reich ausgegraben Avorden, auf Knidos und Cjpern, in Italien, Karthago,
Trier imd sonst."*) Begreiflich, daß sie auch einmal in den Dienst der
Litteratur getreten sind; imd zAA^ar fand Pausanias (9,31,4) ein Exemplar
der Erga des Hesiod in der Gegend des Helikon auf (gerolltem) Blei. 5)
Wenn Ausonius neckisch die Gedichte seines Freundes Theon plumhea
carmina nennt (p. 254 P.), so meint er damit, daß sie schlecht sind (oder
„ledern", wie Avir sagen Avürden); aber die Erinnerung daran, daß man
auch in phtmbea volumina schrieb, hat ihn wohl zur Wahl dieses Aus-
drucks veranlaßt.
12. Bücher aus Leinen.
Leinen und Dazu kouimcn cndlicli noch die Bücher aus Leinen, aus Unum oder
carhasus: die lihri lintei Q^lmiu^), yo/M??^ma crtr^^a^ma (Mart. Capella). Auch
ihre VerAvendung hat nichts Auffälliges. Denn auf ausgespanntem Leinen
zu malen, ist uns heute etwas Geläufiges und Avar auch den Alten nicht
unbekannt. Ich erinnere an die bemalte Mmnienleinwand der Ägypter,
aber auch an die Periakten des antiken Theaters, die Avir uns als Holz-
rahmen mit Bildern auf bemalter LeinAvand denken dürfen;^) vor allem
an die Schaustellung A^on Kriegsbildern bei den römischen Triumph-
zügen,'^) die, Avie es scheint, in ähnlicher Weise hergestellt Avaren. Aber
1) Siehe Blümner, Terminologie und bellae, Paris 1904: F. Bücheler, Bonner
Technologie P S. 169. Jahrbb. Heft 116 S. 291 ff.: Wünsch ebenda
2) Siehe A. Wilhelm, Oesterr. Jahres- Heft 119 S. 1 ff.
liefte VIT S. 94; XII S. 118. ! ^) Uebrigens s. Wattenbach S. 47 f.
3) SIG. 428 f. I 6) O.PucHSTEiN, Die griechische Bühne,
") Siehe R. Wünsch, Inscr. graec. III i 1901, S. 24.
Append.; AuG. Audollent, Defixorum ta- j "') Vgl. z. B. Semper, Der Stil, I S. 295.
-; ■^-
I. Beschreibstoffe. 12. Bücher aus Leinen. 13. Die Wachstafel. 259
auch die Theatennasken wurden aus ö&ov)], oi^oviov, liergestellt und mit
Farben angestrichen: Untea simulacraA) Auch Baugrundrisse und Flur-
karten Avurden auf Leimvand, mappa, getuscht oder gezeichnet.*) So hat
man dann endlich auch auf Wolle oder Leinwand ireschrieben. Attische
Vasenbilder zeigen uns z. B. wollene Tänien, auf denen Schrift steht, 3)
und diese Tänien sind es, mit denen wir nun die erwähnten, mit Schrift
angefüllten Leinenrollen, die Uhri Unfei, vergleichen können. Doch werden
die Ubri Untei selten und nm^ für Italien und vornehmlich auch nur für
die alte Zeit Roms und im Dienst heiliger Dinge erwälint: für das Jahr
444 V. Chr. bei Li\dus 4, 7, 12;*) für die Samniten im Jahre 293 bei
Livius 10, 38, 6. Hat der späte Kaiser Aurelian seine Tagebücher als
lihri l'mtei geführt, 0) so war das offenbar ein Archaismus, der ganz im
Geiste der Zeit Aurelians lag.
Der späte Symmachus (a. a. 0.) kennt dann, Avie die Chinesen, sogar Sei<ie
auch seidene K ollen, serica Volumina, als Bücher; das ist etAvas, Avovon
beiläufig schon Properz II 1, 6 geträumt hat.
Blicken Avir zunächst zurück, so Avaren etliche der Materialien, die Rtickbiick
ich besprochen, nicht nur zu kurzen Aufschriften und Kritzeleien, sondern
auch zur Aufnahme umfangreicherer Texte aa'oIiI geeignet; besonders Xr. 1,
3, 4, 7, 9, 10, 12. Zugleich aber ergeben sich ihre nachteiligen Eigen-
schaften A'on selbst. Entweder war die Schreibfläche zu klein, Avie bei
den Ostraka, oder sie Avar flu* die Sclmellschrift ungeeignet, Avie Bronze,
Stein und LeinAvand. Besonders sei herA'orgehoben, daß die Form des
Heftens, die Zusammenfügung A^on Blattlagen durch Heftung überall un-
bekannt ist. Das Rollen ist also die einzige Form der Zusammenlegung
der Schreibfläche; wir lesen von plumbea volumma, carhasina voliimina,
mid auch für die ÖKp&eQai läßt sich zunächst nichts anderes nachAveisen.
Eline Avesentliche Verbesserung des Schrift- und BuchAvesens trat nun
aber durch Einführung der AVachstafel, der Chartarolle und des Perga-
mentes ein. Durch die AVachstafel wurde die Holztafel (Nr. 10), durch
das I^ergament das Fell (Nr. 9), durch die Papyrusrolle endlich soAvohl
der Bast als auch das Buch aus Leinen (Nr. 7 und 12) ersetzt und abgelöst.
Aber es blieb hier zunächst noch bei dem Rollen, und A^on Heftung hören
wir nichts.
13. Die Wachstafel.
Die A\'achstafel Avar den Ägyptern unbekannt und scheint eine Er- Wachstafei
findung der Griechen, ß) Daß sie früh auch in Rom Eingang fand, zeigt
die alte Fonnel bei Gaius Inst. II 104. Auch auf den Monumenten der
Etrusker ist sie häufig anzutreffen. ') Die Bezeichnungen für sie schAA-anken
^) Isidor, Orig. 10, 119. 1,74,3 erwähnt, nicht identisch sein; wohl
2) Gromatici Bd.l S. 154, 19; II S. 405; I aber die hgal deXxoi ebenda 1, 73, 1. Zur
Sache vgl. E. Kornemanx, Der Priester-
codex in der Kegia, Tübingen 1912, S. 13 ff.
^) Script, bist. Aug., Aurelian c. 1, H f.
*) Isidor Orig. 6, 9.
') Vgl. z. B. Buchrolle Abb. 60.
17===
pREMERSTEix a. a. O. S. 744.
') P. Jacobsthal a. a. ü. S. 405 Anm.
*) Diese Uhri Untei können natürlich
mit dem alten mva^, dem Holzcodex der
Pontifices, den Dionys \'on Halicamaß
260 Das antike Buchwesen.
Termino- uiid sind niclit immer deutlich. Das Wort mva^ {mvuxiov) ist ebenso un-
^"^^ bezeichnend wie oaviq und kann, wie dieses, auch das nicht mit Wachs
bezogene Schreibbrett (s. Nr. 10) bedeuten. Doch wird darunter vielfach
speziell die Wachstafel verstanden. Ebenso steht es mit jiv^iov, der Holz-
tafel aus Bux, ebenso mit lat. caudex, codex (codicillus), was eigentlich
auch nur den Holzblock bezeichnete, dann aber im engeren Sinn für den
in Brettchen zersägien Holzblock steht, welche Brettchen mit Wachs über-
zogen wurden und zum Schreiben dienten, zusammengelegt aber doch
immer dem Holzblock glichen. 1) Wir können nicht scharf genug betonen,
daß das Wort codex mit Pergament gar nichts zu tun hatte. Von erwünsch-
tester Deutlichkeit aber sind die Ausdrücke x)]Qog, cera, tiihula cerafa.
^^^^i!Sr^" Es handelt sich dabei um eine rechteckige Holzplatte mit vorstehendem
Eand oder Rahmen, ähnlich imseren Schiefertafeln, doch das Ganze aus
einem Stück ; eine Platte, deren Innenfläche mit schwarzem 2) Wachs aus-
gefüllt war. Bis zur Höhe des Rahmens war das Wachs gegossen.
Die in Pomj)eii gefundenen Tafeln des lucundus sind nur 14 Zenti-
meter hoch, 12 Zentimeter breit. Der Römer nennt sie deshalb, weil sie
sich mit einer Faust umsi)annen lassen, auch pugillares. Am geläufigsten
aber ist tabulae, tahellae, welches Wort, wie wir sehen werden, nur die
Fläche bedeutet und weder mit Holz noch mit Wachs an und für sich
etwas zu tun hatte.
Man ritzte in das Wachs die Buchstaben mit Hilfe des sülus, eines
spitzen Metallstiftes, und die geritzte Schrift, die den Holzgrund freilegte,
schimmerte weiß in dem dunklen Wachs. Mit dem anderen, breiteren
Ende des stilus glättete man — stilum vertens — die Schrift wieder fort,
wenn sie ausgedient hatte.
der^Schrift Beim Schreiben galt nicht immer, wie Avir vielleicht erwarten, der
schmalere Rand der Tafel als oben und unten, sondern zumeist vielmehr
ihre Langseite, so daß die Zeilen also vom Schreibenden parallel dieser
Langseite gerichtet wurden ; dies wird durch viele der erhaltenen Wachs-
tafeln, z. B. die aus Pompeji, bcAviesen und durch Bildwerke bestätigt,
wie ich sie Buchrolle S. 200 ff. besprochen; vgl. besonders A. Brinkmann,
Rhein. Mus. 66 S. 152 f.
Eifonbein- Aucli Elfenbeintafeln werden erwähnt; in ihnen wurde die Schrift
tafeln
direkt auf das Elf^bein aufgemalt; so bei Martial 14, 5.3) GelegentHch
wurden sie aber auch mit Wachs überzogen.*) Die eleganten Leute
schrieben ihre Briefe darauf. Späterhin hören Avir auch von einem Senats-
dekret auf Elfenbein, das der Kaiser Tacitus eigenhändig unterschrieben
hatte, und zwar heißt dies, Script, hist. Aug. Tacitus cap. 8, liber elephau-
tiniiSy mit dem amplifizierenden Zusatz: nam diu Jiaec senatus consulta
quae ad 'pnncipes pertinebant, in lihris eleplianünis scribehantur. Dieser
Zusatz klingt schwindelhaft, im Stil der Schlußred aktion des Historien-
Averkes der Scriptores historiae Augustae; der Ausdruck Über — der bis
1) Vgl. De Petra in Atti dei Lincei, ^^ygi. auch Augustinus epist. 15 (Opera
Serie II Bd. II S. 151. ed.Maur.II 19); Paoli S.7; Gardthausen
2) Doch gab es auch andere Farben: 1 S. 39.
Ps.Asconius p. 193, 23 ed. Stangl. ' *) Siehe Wattenbach S. 81.
I. Beschreibstoffe. 13. Die Wachstafel.
261
zum 4. Jahrhundert nur Bastrolle bedeutet — kann für ein nicht lollbares
Schriftstück erst im 5. Jahrhundert aufgekommen sein.
Über die Wachstafeln des Bankiers L. Caecilius lucundus in Pompeji ^^^*^^®"^
vgl. Th. Mommsen, Schriften III S. 221 ff.; F. Bernabei in Atti dei Lincei, tafein
Serie II Bd. III 3; CIL. lY suppl. p. 297; A. Mau, Pompeji^ S. 516 f. Die
in Siebenbürgen gefundenen Wachstafeln sind CIL. III p. 921 abgedruckt.
Die Assendelfter Wachstafeln in Leiden, die uns Schulschreibübungen mit
Babriostext geben, s. bei 0. Crusius, Babrii fabulae, ed. maior, Taf . II u. III.
Wachstafeln in Berlin: s. Schubart S. 17f.; in Paris: s. S. Eeinach, Traite
d'epigraphie grecque, 1885, S. 298. Konsularische Elfenbeindiptycha: s.
Marquardt-Mau , Privatleben S. 545 f. und W. Mever, Abhandl. d. bayer.
Akad. XV, 1881.
Indem man zwei Tafeln zusammenfügte, entstand das sogenannte Dip- Diptychon
tychon; durch Zusammenfügung mehrerer das Triptychon, Polyptychon.
Das Diptychon Avar dann das Vorbild für jene Militärdiplome, die aus je
zwei Bronzetäfelchen zusammengesetzt wurden (oben S. 251). Die Ver-
bindung der Wachstafeln wurde durch Schnüre oder durch Ringe an der
einen Langseite hergestellt. Die Seite des Diptychons, an der die Schnüre
oder Ringe sich befanden, entsprach also dem modernen Buchrücken, und
darum konnte späterhin aus der Nachahmung eines solchen Polyptychon
das geheftete Pergamentbuch entstehen, i) Die Triptycha Pompejis sind
kleine Bücher von sechs Seiten. Seite 1 und 6, die außen liegen, bleiben
unbeschrieben. Die großfigurigen Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts
in den Kirchen und Kapellen Ravennas und Roms geben uns ^'on man-
chem Detail solcher Codexbücher die sorgfältigsten Abbildungen. Wir
ersehen daraus, daß die Deckel oft mit Edelsteinen geschmückt, das
Tafelbuch selbst vorn mit einem Riegel geschlossen, übrigens auch mit
in Schleifen gebmidenen farbigen Bändern versehen ist.
Zum Verschhiß der Wachstafeln wichtigeren Inhaltes diente Schnürung ^^^,^^ß"
mit aufgesetztem Siegel. Um die Schnur anzubringen, wurden die Wachs-
tafeln in ihrer Mitte durchbohrt und durch dies Loch die Schnur hindurch-
gezogen, die dann um das Ganze mehreremal herumlief, worauf das
festigende Siegel kam. 2) Nur bei solchem Verschluß hatten Tafeln ge-
schäftlichen Inhaltes Rechtsgültigkeit; s. Paulus Sent. 5, 25, 6. Das Öffnen
des Verschlusses war mühsam ; man tat es nur, wenn das Geschäft es eben
erforderte, und der Schriftinhalt der Tafeln wurde deshalb in abgekürzter
Fassung zur raschen Orientierung auf den Außenflächen derselben noch
einmal mitgeteilt.
Es aab aber noch eine andere Methode, mehrere Wachstafeln, be- ^Qf^^doi,
^ . . 1 • T • 1 ketten-
sonders wenn sie zahlreich waren, mitemander zu verbmden, indem man weise ver-
sie nämlich nicht alle nach Art unserer Bücher durch Ringe oder Schnüre ^^afein^
an der einen Seite zusammen befestigte, sondern sie mappenartig oder
wie die Seiten in der Papyrusrolle alle nebeneinander legte und die erste
1) Diese Erklärung reicht aus, und (he ist unnötig.
Hypothese über die Erfindung des geh ef- \ ») Vgl. Lucian Pseudomantis 21; Er-
teten Buches, die A. W. Unger, Wie ein man in Melanges Nicole, Genf 1905,
Buch (mtsteht, 2. Aufl. 1909 S. 4, aufstellt, i S. 11« f.
262 Das antike Buchwesen.
Tafel nur mit der zweiten, die zweite nur mit dei* dritten u. s. f. verband,
so daß, AVer das Ganze auseinanderklappte, einen aus Wachstafeln kom-
ponierten langen Streifen vor sich Hegen sah. Das heißt: die Tafeln bil-
deten Ketten, ogjua&oL Abbildungen solcher verketteten Polyptycha, die
aufgeklappt daliegen, hat uns die Notitia dignitatum erhalten, i) wo man
sechs Tafeln Avie sechs Seiten aufgeschlagen nebeneinander liegen sieht.
Diese Tafeln sind die xfjQCüjuara, die man nmneriei-te und nach Zahlen
zitierte, und ihre Komposition ist, wie gesagt, der Papyrusrolle analog.
Der irrt gewiß, wer glaubt, daß dies selten vorkam; auf alle Fälle lege
ich Wert darauf, nachweisen zu können, daß auch dies Verfahren alt wai* ;
denn sclion bei Theophrast, Charakt. 6, 8 tritt jemand auf, der ÖQjuador:;
\ yQajUjuaTEiölwv trägt. Aber niemand scheint diese Notiz verstanden zu
haben. In der Leipziger Ausgabe der Charaktere S. 55 wird der Ausdruck
sehr verkehrt als „Bündel", fasces, Öeojuai. mißdeutet. og/Ltai^og heißt „Kette".
AuOiäiitfon j^ ^QY Geschäftspraxis der älteren Zeit Avar es üblich, solches aus
; wachsüberzogenen Brettchen zusammengesetztes Buch aufzuhängen, ent-
w^eder an einer Schnur, die in dem dm-clilöcherten Eande steckte,^) oder
durch zwei Henkel oder Öhren, die bald seitlich, bald auch am Kopfende
der Tafeln angebracht waren. Das gilt schon von der Praxis der Athener;
s. IG. IX 1, 705 und IX 682, ja, es ist schon für die archaische Zeit der
Griechen nachgeAviesen.») Bei den Römern heißt dies codex ansatus. Auch
auf den Bildern der Notitia dignitatum, Orient, c. 16, Occident. c. 17, kann
man die ansäe an solchem Codex wahrnehmen.
zäiiiunfj J){q Codices ansati aber nahmen oftmals erheblichen Umfanp- an. Darüber
der Tafeln . . . . "
und Kapitel gibt uus die Bronzctafcl aus Sardinien, CIL. X 7852 A^om Jahre 68 n. Chi*.
Auskunft, die dereinst Mommsen, Hermes II S. 103, interpretierte. Es
liandelt sich um die Worte: descriptum et recognitum ex codice ansato L.
Helvi Ägrippae procons quem protuUt Cn. Egnatiiis Fuscus scriha quaestorius
in quo scriptum fuit it quod infra scriptum est eqs. Der hier voraus-
gesetzte, aus etlichen AVachstafeln (tabulae) zusammengesetzte Codex ent-
sprach also einem übersichtlich geordneten Aktenband: jede Tafel ein
Aktenstück: so Avie Hygin p. 200 einen aus drei Tafeln zusammengefügten
Codex erAA'ähnt. Die Tafeln müssen aber in diesem Fall ziemlich groß
oder ihre Schrift sehr eng gOAvesen sein; denn eine einzebie Tafel hat
nach Aussage der Inschrift acht oder zehn Abschnitte (capita oder viel-
leicht richtiger ceromata). Zum Vergleich hat man die Inschrift A^on Gropos
IGS. I 413 mit Nutzen herangezogen,*) avo es sich um Protokolle von
Rechtssachen A^or dem Konsulargericht handelt und sich eine Zitierung
mit der Ortsangabe deArco jzqcoti] x^jQcojuari reooaoeoxaLÖeTidxw findet. Wahr-
scheinlich sind die Wachstafeln in diesen Fällen in der Weise, Avie Theo-
phrast es bezeugt, kettenweise miteinander verbunden gcAvesen als lange
Serie, deren xfjgwjuaTa sich AAie die Kolumnen der Papyrusrolle aus-
nahmen. Dabei gilt es nun noch zu beachten, daß solche konsularische
imojuvijiLiara, Avie aus Plutarch, Anton. 15, zu ersehen, nicht nur als Wachs-
'I
) Siehe z. B. Gardthausen S. 129. *) Vgl. Mommsen, Hermes 20 S. 280
Gardthausen S. 41 f. und Premerstetn a. a. O. S. 734.
Jacobsthal a. a. O. S. 465 Anm. '
Ab-
bildungen
I. Beschreibstoffe. 13. Die Wachstafel. 14. Die Papyrusrolle. 263
tafeln, sondern auch als ßtßUa, d. li. als wirkliche Chartarollen gefühlt:
wurden. Es a\ ar also Mode geworden, den Wachstafelcodex auch in solche
Rollen zu übertragen, und das öekTM der oropischen Inschrift entspricht
dem ßlßlcp, das x7]Q(6juart entspricht dem xoXh'jjuaTi des Rollenbuchwesens.
Die numerierten „Kapitel'' aber, in die da jede dehog oder jede tabula
zerfiel, waren ohne Zweifel ganz kurzgefaßte und unter Rubriken ge-
stellte Notizen nach Art der lihri annafes oder Jahrbücher. Denn der
liher annalis wird uns anschaulich als amionim capifularib- definiert (Corp.
gloss. lat. lY 17, 10), Avoraus Avir erkennen, daß in einem solchen „Jahr-
buch" die kurzen Notizen, die das eine Jahr betrafen, unter Rubriken, per
rapifa, disponiei-t standen. Denn für capita hat das oben von mir in dei-
Kritik und Hermeneutik S. 12 Anm. 2 Gesagte zu gelten.
Endlich sei hier noch auf ein paar Abbildungen hingewiesen. Als
eine gewaltig große mas^sa erscheinen die tabulae ceusu^ dargestellt auf
einem Altarrelief im LouA^re (bei A. \. DomaszcAvski, Abliandl. zur röm.
Religion S. 228) ;i) ebenso mächtig das Geschäftsbuch des Kaufmanns und
Ladeninhabers auf dem Relief der Uffizien, Dütschke, Antike BildAA'. in
Oberitalien III Nr. 507 (dazu Nr. 533). Diese Bilder dienen uns als treffliche
Illustration zu dem grandis codex, in den der Bankier bei Juvenal 7, 110
die Schuldposten oder nomina einträgt. Solche Holzcodices AA^aren gradezu
Lasten, und es AA^ar ein Glück, daß die Litteratur sich ihrer nicht zu be-
dienen brauchte.
14. Die Papyrusrolle.
Etwa gleichzeitig mit der Wachstafel mag bei den Griechen die
ägyptische Papyrusrolle in Gebrauch gekommen sein. Sie Avar und blieb
Import und Unterägypten die einzige Produktionsstelle. Um der Wichtig-
keit des Gegenstandes \\'illen muß hierbei ausführlicher verAA^eilt Averden.
TtdjivQog hieß nie das Buch, 2) sondern immer nur das Schilf, aus dem i'apyrus-
jenes hergestellt AA^urde. Die Staude gedieh im Nildelta, in sumpfigen z^mgen
Seitenarmen des Nilstroms. Aus ihr wurde nicht nur Schreibpapier, son-
dern auch Nachen, Teppiche, Schuhe, Lichtdochte u. a. hergestellt, sie
diente auch als Speise zur Volksernährung, und daher genügte ihr Wild-
Avuchs durchaus nicht; vielmehr wMirde sie künstlich gezüchtet und auf
das sorglichste angepflanzt {äoxelrai fj ßvftXog, sagt Strabo p. 800), und zAA^ar
reihen Aveise in Abständen, so daß immer ein Mann hindurchgehen konnte : 3)
ein Betrieb, der dort etwa seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. bestanden hat.
Ein PachtA^ertrag ist erhalten,*) der eine Papyrusanpflanzung betiifft und
dem Pächter ein Pachtgeld von in Summa fünftausend Drachmen per Jahr
und außerdem noch Naturalheferungen auferlegt. Zeitweilig hat die Regie-
rung auch Steuer A^om Ertrag erhoben (Script, histor. Aug. AureHan cap.45).
Ein kaiserliches Papyrusmonopol hat dagegen scliAA'erlich bestanden. 0) Im
1) Ueber diese tabulae censoriae s. *) Siehe Schubart, BGU. 4, 1121 S. 211 :
1*remer8tp:in S. 733. i Gtardthausen S. 53.
2) Ausnahmen zu diesem Satz bei i ^) So Fr. Zucker, Philol. 70 S. 79 1".
K. Uxger im Cirisprogramm, Halle 1885, 1 Dagegen Mittbis-Wilcken a. a. O. S. 255
S. 20. ' und IX. Man nimmt an, daß die Papyrus-
3) Genaueres Buchrolle S. 6. fabrikation Kronregal der römischen Kaiser
264 I>as antike Buchwesen.
Mittelalter ging im 10. — 11. Jahrhundert mit der Kultur Ägyptens aucli i
diese Staude und damit auch die Produlition der charta ein. «
ßvßXog, j)[q Pflanze hieß auch ßvßlog, insbesondere nennt Theophrast so das
Mark ihrer Stengel, i) und ßvßXog, ßvßXiov wurden dann Bezeichnungen
für das Papjrusbuch selbst. Überdies aber tritt uns als spezifische Be-
zeiclinung für das aus dem Mark des Schilfes mühsam hergestellte Schreib-
material das Wort charta, 6 /dgTrjg, entgegen. 2) ydgrfjg bezeichnet dann
vorwiegend das Buch als Beschreibstoff, ßvßXog vorwiegend das Buch als
Schriftwerk; 3) x^Q'^^^ ßvßUcov verband Theopomp.*)
Wo immer das Wort ydQT}]g vorkommt, haben wir an den aus Papyrus
gefertigten Beschreibstoff zu denken. 0) Frühestens erst seit dem 5. Jahr-
hundert n. Chr., ja, meines Wissens erst für die eigenthch byzantinische
Zeit ist eine Übertragung des Wortes charta, ydQn^g auf andere Beschreib-
stoffe, wie z. B. auf das Pergament, nachweisbar. Wird einmal plumhea
Charta verbunden (Sueton Nero 20; ebenso einmal Josephus), so ist charta
nicht Blei; anderenfalls brauchte plumhea ja nicht dabei zu stehen; son-
dern der vSinn ist, daß in diesem Falle das Chartaröllchen in Blei nach-
geahmt war. In diesem Zusammenhang sei auch die Inschrift CIA. III 48
besprochen, deren Worte rag Tragaot^jueiMoeig rag . . . äjio/Äejuevrjxviag h
ßißUoig eire diq)d^eQaig T] xal ydoimg f] ev olg dijjior ovv y^aju/xareloig nicht
richtig aufgefaßt zu werden pflegen. Hier herrscht kein Pleonasmus,
sondern es werden, wie auf der Hand liegt, mit di(pdegai und xdgrai nur
zwei Sorten von ßißUa unterschieden, und wir haben also Parenthese an-
zusetzen: ev ßißXioig {ehe Sicpi^egaig y xal ycigraig) i] ev olg drjTioT ovv yoati-
juaTeloig. Das Wort ßißUov steht hier also nicht in stofflicher Anwendung,
sondern heißt nur „RoUe" ohne Rücksicht auf das Material, aus dem sie
besteht. Diese unstoffliche Bedeutung hat nur das Deminutivum ßißllov
gelegentlich, nie aber das Wort ßißXog selbst annehmen können (s. unten).
Stets aber heißt ßißXiov „Rolle".
Fabri- Einen Fabrikationsbericht gibt uns nur Plinius nat. bist. 13, 74 ff .
Der Bericht lautet folgendermaßen:
und daß die Einkünfte der Kaiser daraus ; sich Firmus von allen anderen Kaisern
beträchtlich waren; so auch Blümner, ujiterscheidet und augenscheinlich auch
Technologie S, 328. Es scheint, daß man unterscheiden will : schon mit seinen Ein-
dies vornehmlich aus der Nachricht über i künften aus Papier und Kleister könne
den Kaiser Firmus folgert, Script, hist. j er ein Heer ernähren.
A\ig.YiTm..S,2: perhihetur et taiitumJmbuisse j ^) Buchwesen S. 13, 2.
de ehartis, ut publice saepe diceret exer- | ^) Leber cÄ^zr^as.E.WüNSCH bei Pauh-
citiim se alere posse papyro et glutine. Aber i Wissowa EE. III S. 2185 f.; über die lat.
das Gegenteil folgt aus dieser Stelle. I Orthographie carta E. Bährens in Fleckeis.
Hätten auch alle anderen Kaiser dieselben i Jahrbb. 1872 S. 785; Georges im Archiv
Revenuen wie Firmus aus den chartae be- i f. Lexikogr. I S. 272 f.
zogen, so war es nichts Besonderes, daß ! ^) Vgl. Mitteis-Wilcken a. a. O. I 1
auch Firmus sie hatte, und er hätte keinen | S. XXXI und I 2 S. 163 Anm. zu ßiß/.og
Anlaß gehabt, das so hervorzuheben. Fir- | leQanxtj, Nr. 137
mus hatte, bevor er Kaiser wurde, in
Aegypten schon als betriebsamer Ge-
schäftsmann gelebt und hatte als solcher
dort die meisten Papyrusfabriken an sich
gebracht. Dies ist das wahrscheinlichste.
Erst wenn man dies ansetzt, hatte die
„häufige" Renommage Sinn, durch die
*) Siehe ÜEgi vtpovg 43, 2 (Buchwesen
S. 33, 2), woran trotz Athenaeus S. 67 E
nicht zu ändern sein wird.
5) Ganz irrig hierüber Gardthausen
S. 49. JioJivQog . . . d(p' Yjg 6 yaQzrjg JxaQa-
oxevdCexai Dioskorid. 1, 115; papyrum ad
Chartas paratum Digest. 32, 52, 6.
I. Beschreibstoffe. 14. Die Papyrusrolle. 265
(74) Praepanitur ex eo (sc. papyro) chwta clivisa acu in prae- Piinius
teniies sed quam latissimas "^philyrasA) Principafus medio atque inde ^^''^^ ^'
scissurae ordine.
^Primay hieratica appellatitr, antiqultns religiosis tcmtum volu-
ö mm'ibus dicatcij quae adulaüone Augusti nomen accepit sie ut secunda
Liviae a coniuge eins. Ita descendit hieratica in tertiiim nomen.
(75) Proxhnum amphifheatricae datum fuerat a confecturae loco: ex-
cepit haue Romae Fanni sagax officina tenuatamque curiosa inter-
polaüone principalem fecit e plebeia et nomen ei dedit; quae non esset
10 ita recuratay in suo mansif amphitheatrica. (76) Post hnnc Saitica ab
oppido uhi maxima fertilitas, ex viliorihus ramentis propiorque etiam-
num cortlci Taeneotica a vicino loco, pondere iam haec, non honitate
veualis. Nam emporitica inutilis scribendo involucris chartarum seges-
triumque mercibus usum praebet, ideo a mercatoribus cognominata. Post
15 haue papyrum est extremumque eins scirpo simile ac ne funibus quidem
nisl in umore utile.
(77) Texitur omnis madente tabula. Nili aqua turbidum liquorum
glutinis praebet.^) In rectum primo supina tabulae schida adlinitur,
longitudine papyri quae potuit esse resegminihus utrimque amputatis:
20 traversa postea crates peragit. Premitur cleinde prelis; (82) postea
malleo tenuatur et glutino percurritur iterumque concrispata ^) erugatur
atque extenditur malleo. {11) Et siccantur sole plagulae cdque inter
se iunguntur, proximanim semper bonitatis deminutione ad deterrimas.
Xumquam plures i^capo quam vicenae.
25 (78) Magna in latitudine earum differentia: XIII digitorum
optimis, duo detrakuntur kieraticae, Fanniana denos habet et uno
minus amphitheatrica; pauciores Saitica nee malleo^) sufficit: nam
empor iticae brevitas sex digitos non excedit.
Praeterea spectatur in chartis tenuitas, densitas, candor, levor.
80 (79) Primatum mutavit Claudius Caesar. Nimia quippc Äugustae
tenuitas tolerandis non siifficiebat calamis: ad hoc tramittens litteras
Uturae metum afferebat, ex aversis, et alias indecoro visu per tralucida.
Igitur e secundo corio stamina^) facta sunt, e primo subtemina. Auxit
et latitudinem pedali mensura. (80) Erat et cuhitalis macrocollis, sed
;{5 ratio deprehendit vitium unius schidae revulsione plures infestante
paginas: ob hoc praelata omnibus Claudia. Äugustae in epistuUs auc-
toritas relicta. Liviana suam tenuit, cui nihil e prima erat, sed omnia
e secunda.
(81) Scabritia levigatur dente conchave, sed caducae litterae fiunt:
40 minus sorbet politura charta, magis splendet. Rebellcd saepe umor
incuriose datus primo, malleoque deprehenditur auf etiam odore, cum
' ) phüyras cod. M, aber anscheinend die Aenderung constricta, die man meistens
P aus F korrigiert: phylitras B., philuras a. | bevorzugt, im gleichen Sinne möglich ist.
2) So M; turbidiis liquorum glutinis \ *) mallio die B.ss: dsis nee malleo suffieit
praehet E. Vulgatlesung : turbidus liquor
vim glutinis praehet.
3) So concrispata nach Konjektur ; con-
scripta die Hss. ; ich gestehe zu, daß auch
ist von mir im Centralblatt f. Bibliotheks-
wesen S. 560 erklärt.
^)statumina die Handschriften ; s. Buch-
wesen S. 233.
266 Das antike Buchwesen.
fuit indUigentior. Deprehenditur et lentigo ocidis, sed inserfa 7nediis
glutinamentis taenea fungo "^'papyri^) hihula vix nisi littera fundente
se. Tantum inest fraudis. Alius igitur iterum texendis labor.
45 (82) Glutinum vulgare e poUinis flore temperatnr fervente aqua^
minimo aceti aspersu: nam fabrile cummisque fragÜia sunt. Biligentior
cura moUia panis fermentati colata aqua fervente: miiiimum hoc inter-
gerivi atque etiam Nili lenitas superatur.
Ita fiunt^) longinqua monimenta. Tiheri Oaique Gracchovum manus
50 apud Pomponium Secundum vatem eivemque cJarissimum vidi annos
fere post ducentos: iam vero Clceronis ac divi AugustiVergi/ique saepc-
jiumero videtmis.
Es schien mir zweckmäßig, den ganzen Pliniustext hier vorzuführen.
Eine eingehende Interpretation dieses Textes habe ich dereinst in meinem
„Buchwesen" S. 243 ff., eine Revision derselben im Hinblick auf Dziatzkos
Untersuchungen S. 37 ff. im Centralblatt f. Bibliothekswesen 1900 S. 553 ff.
gegeben. 3) An dieser Stelle sei nur einiges Wichtigere hervorgehoben.
Wpton'^ Die Charta wurde in Fabriken, confecturae, zu Alexandria, Sais und
an anderen Plätzen des Nillandes selbst liergestellt ; nur zeitweilig bestand
eine solche Fabrik, die des Fannius, auch in Rom.*) In der späteren
Kaiserzeit war nur Alexandria Produktionsort. 5) charta conficitur sagt
auch Kaiser Hadrian in seinem Brief, der die ägyptischen Verhältnisse
anbetrifft. 6) Die Fabrik heißt chartaria officina, die Beschäftigten heißen
chartarii (Diomedes p. 326 K.). Die stadtrömischen Inschriften CIL. VI 9255 f.
zeigen, daß es chartarii auch in Rom gab. Daraus folgt aber nicht etwa
die Existenz von Fabriken in Rom. Es gab an den in Rom aufges[)eicheii;en
fertigen chartae immer genug zu flicken und nachzubessern. Auch der
Umstand, daß die Juristen Digest. 32, 52 von den chartae noch papyrurn
ad Chartas parat um oder Chartas nondum perfectas unterscheiden, beweist
durchaus nicht, daß es nach Fannius noch irgendwelche Chartafabriken
außerhalb Ägyptens gegeben hätte. '^) Die Bestimmungen des römischen
Rechts betreffen ja nicht nur Stadtrömer. Jene Worte der Digesten be-
ziehen sich auf solche römischen Bürger, die Papjrusfabriken in Ägypten
besaßen, s)
Blatt Das Mark des Schilfes wurde in möglichst lange und dünne Streifen
zerlegt, die scissurae, auch inae heißen. Die innersten Teile des Marks
lieferten das beste Material. Bei Plinius ist Zeile 2 für in praetenues
philyras mutmaßlich in praetenues fissuras zu lesen. 9) Geschah das Zer-
legen mit einer Nadel, acUy so muß diese Nadel sehr stark und groß ge-
*) Es dürfte pariter statt papyri zu identisch, der nitro capsas |et imagines
lesen sein; s. Buchwesen S. 246. j defert, d. h. ausbietet; s. Buchrolle S. 297
2) ita sini die Handschriften. \ Anm. 3.
) ^ gl- j^^zt auch H. Blümner in Ter- | ^) Riese, Geograph! lat. minores S. IIH.
minologie und Technologie der Künste | ^^ Script.hist. Aug^Saturninus cap.8,6
und Grewerhe, 2. Aufl. ; Mitteis- WiLC KEN - ^^ ^
a. a. O. S. XXVIII f.
*) Buchwesen S. 228. Der Fabrikant
Fannius, den Plinius nennt, war vermut-
lich.mit dem Fannius bei Horaz Sat.1,4,21
) H. Blümner, Die röm. Privatalter-
tümer S.470, äußert sich über diesen Punkt
unsicher.
8) Vgl. Buchwesen S. 228.
9) Siehe Buchrolle S. 6, 4.
m^
I. Beschreibstoffe. 14. Die Papyrusrolle. 2(M
wesen sein. Auf einem unter Wasser gehaltenen I^rett — madeide tabula,
nicht mensa — wurden diese Streifen dann sowohl neheneinander als aucli
([uer übereinander gelegt und zu einem Blatt in der Form einer regel-
rechten Buchseite in der Weise verbunden, daß der Eindruck eines Ge-
webes (tcxfiira) und Netzes [crates, plagnla) entstand. Daher bezeichnet
Plinius die eine Fasernschicht auch gieichnis weise als stamen, die andere als
suhfemcn; t-^vq^aofihr]v jidiTVQov eIq ftißlovQ steht bei Eusebius praep. ev. 3, 7.
Auch von der bildenden Kunst, die sich ungefähr an allem, was darstell-
bar, versucht hat, Avird uns das einmal in Marmornachbildung vorgefühi-t :
«'S sind die Eollen auf dem großen 8arko[)hag im athenischen Museum
Xr. 1497, die die gCAvebeartige Kreuzung der Papyrusfasern deutlich nach-
gebildet zeigen. 1)
Die Verbindung der Schichten aber geschah mit Hilfe von Kleister Kh-ister
und Pressung. In Zeile 17 ist die Lesung der besten Handschrift, von
der Avir nicht abgehen dürfen: Nili aqua turbidum liquorum glutinis praebet,
d. h. „das Nihvasser liefert dem Kleister das Trübe seiner Flüssigkeit". 2)
Die übliche TextA^erbalhornung furbidus Uqiior vim gJutinis praebet oder
vicem glutmis praebet ist A^öUig unlateinisch, kann also nicht ernst genommen
werden. Denn kein Mensch sagt vim praebere oder vicem praebere für
„ersetzen". Auf so schlechte konjekturale Lesungen kann man keine
1 )eweisführung gründen. Plinius bezeugt in Zeile 21, daß das Blatt auch
unmittelbar nach seiner Fertigstellung noch einmal mit Kleister über-
gangen Avird. Gardthausen glaubt (S. 56), daß hiermit der Charta nur
Glanz oder eine Art Firnis verliehen werden sollte. Aber die ägyptische
C'harta hat solchen Firnis gar nicht, der auch das Schreiben nm- behindert
liaben würde. Dies nachträgliche Überhinfahren mit Kleister hatte offenbar
Aielmehr den ZAveck, einzelne Fasern im Blatt, die sich noch sperrten
und nicht fest genug gebunden schienen, zu festigen und glatt zu legen.
Denn derartiges mußte immer eintreten. Um so sicherer ist, daß auch
bei der ersten Zusammenfügung der Fasern Kleister A^erwendet Avurde.
Natürlich hat der Kleister, der an jedem Tag frisch hergestellt Averden
umßte und dessen Feinheit und Weichheit gerühmt Avird — er bestand
z. P>. aus Weizenmehl, Wasser und Essig 3) — , in der Papyrusfabrik dann
au eil noch zu anderen ZAvecken und hauptsächlich noch zur Herstellung
der Rolle 'selbst gedient, die durch das Aneinanderkleben der fertigen
l>lätter zustande kam. So wird denn der Kleister auch sonst noch im
Zusammenhang mit dem Chartabuch erAvähnt, zuerst von Aristoteles,*)
späterhin im Leben des Firmus,^) soAvie bei Lucian Alex. 21, der A^on der
y.oUa redet, // xoXlwoi rd ßißUa, mit dem Hinzufügen: tue man in diesen
Kleister geriebenen Kalk oder Gips, so Averde die Masse fester als Eisen.
») Vgl, Buchrolle S. 227. I glutinis praebet ist aber auch schon des-
2) Siehe OentralblattS. 556. Die falsche 1 halb falsch und unhaltbar, weil fflutinia
Lesung an der zitierten Stelle führt zu hier nicht Genitiv sein kann; denn I^linius
<ler Annahme, daß die Klebungen nur mit | braucht in seinem Fabrikationsbericht, wie
Nil Wasser und olme Kleister liergestolit j Zeile 45 lehrt, nicht die Form glulen, son-
wurden, daß also das Mark des Schilfes i dem glutmum.
selbst genugKlebstoff enthielt; soDziATZKO | ») Plin. Zeile 45.
und nach ihm Gardthausen S. 56. Die *) Buchwesen S. 432.
konjekturale Lesung vim oder gar vicem -') Script, bist. Aug. caj). 3.
268 1^8-s antike Buchwesen.
Vielleicht ist dies das nämliche Kleisterrezept, das auf Philtatius zurüclv-
ging und von dem Photius Bibl. cod. 80 p. 61 (Bekker) berichtet. i)
Im § 82 ist der Pliniustext in Unordnung; ich stelle die Worte, die
man dort liest, in den § 77 um (s. Zeile 20 f.), möchte hier aber die früher
dafür gegebene Begründung, 2) die mir zwingend scheint, nicht wiederholen.
Es ist allgemein anerkannt und durch sichere Beispiele zu belegen, 3) daß
Plinius nach Herstellung seines Naturgeschichtswerkes an manchen Stellen
noch Notizen nachtrug und an den Rand seines Exemplars schrieb, die dann
bei der Kopie an falsche Stelle eindrangen. Ebendasselbe ist auch hier an-
zunehmen, und daher ist auch in den Worten des § 77 et siccantur so/c
plagulae, an dem et (Zeile 22), das ich frülier in dein abänderte, gewiß niclit
zu rühren. Dies et gehört dem ursprünglichen Texte an. Der nachträgliche
Zusatz von postea inalleo bis extenditio' mnl/eo ist von Plinius syntaktiscli
niclit eingegliedert worden.
Zweite Be- Nacli dcr ersten Klebung und Pressung der Fasern wurde nun also
des Blattes das immer noch unfertige Blatt, wie die Worte Zeile 20 ff. besagen, auch
noch gehämmert, dann noch einmal mit Kleister übergangen (perciuiitur),
da einzelne Fasern noch nicht fest genug haften mochten, und, wenn das
Blatt auch jetzt noch Rauheiten oder Falten zeigte, noch einmal mit dem
glättenden Hammer behandelt. Dies Hämmern und Glätten betraf aber
regelmäßig nur die Vorderseite. Dann konnte es endlich an der Sonne
getrocknet werden. Eine wunderbar ebene Schreibfläche war entstanden,
scapiie: jy^Q SO hergestellten und getrockneten Blätter wurden nun noch in
Verso der Fabrik weiter an ihren Längsseiten aneinander geklebt, im Maximum
je zwanzig Blätter, Avodurch jene langen Papierstreifen entstanden, die
man zusammenrollte und die Plinius 6Y'ry>H5 nennt (Zeile 24); vgl. Corp. gl.
lat. in 827,48 rofwg x^W^^' scafus; V482, 52 scasus (sie) tumuliis chartarum.
Die Zahl 20 hat sich wirklich auf Papyri als Fabriknummer gefunden.*)
Jedes Blatt bestand dabei, wie schon gesagt ist, aus zwei Schichten von
Fasern (es haben sich auch Papyri mit drei Faserschichten gefunden, 5)
doch sei von diesen Ausnahmefällen hier abgesehen); die einen Fasern
waren horizontal, die anderen vertikal gerichtet. Man hielt nun darauf,
daß die Horizontalfasern regelmäßig die Vorderseite, das Recto, des Blattes
bildeten; das war aber die schrifttragende Seite. Denn die Rückseiten
wurden nur ausnahmsweise beschrieben. Die Schrift steht also bei den
griechischen Papyri der E-egel nach auf den Horizontalfasern. Die Eolle
aber wurde ferner stets so zusammengerollt, daß die Schriftseite, d. i. das
Recto, mit seinen Horizontalfasem nach innen lag; anderenfalls AAären die
Fasern gerissen ; ß) und so fügte es sich gut, daß auch die Schrift, die des
Schutzes bedurfte, stets nach innen zu liegen kam.'^)
1) Gardthausen a. a. 0. Uebrigens 1 ^) Siehe Wilcken, Hermes 23 8. 400.
Blümxer, Technologie S. 822 u. 324. I 6) t^iehe H.Ibscher, Archiv f.Papvrus-
2) Siehe Buchwesen S. 237; Central- ' forschung Y (1909) S. 141 f.
blatt S. 558. ^) Das Gesagte gilt von den griechi-
3) A^gl. Teuffel, Gesch. d. röm. Lit- sehen und lateinisch beschriebenen Papyri;
teratur § 313, 1. anders war die Stellung der Schrift zum
4) Siehe Borchardt in Aegyptische Teil bei den Aegyptern: Gardthausen
Zeitsclir. 27 S. 120. S. 59. Aber auch die ravennatischen Papyri
¥
uyoa(pa
I. Beschreibstoffe. 14. Die Papyrusrolle. 269
Die Ausführung der Klebungen erweist sich als äußerst fein, so claü
sie für das Auge oft kaum wahrnehmbar sind und die Feder des Schrei-
benden sich durch sie ohne Frage nicht im geringsten behindert sah.
Das Kleben war ein besonderes HandAverk, das Werk der glutinatovMs.
Die einzelne Seite in der Papyrusrolle heißt paginn, oeXig, auch yiol- p^j^''"»^
/>///«, vom Kleben. oeXig ist mit acA/za „Gebälk, Getäfel'^ verwandt, i)
pagina gehört zu pangere,'^) doch aber wohl nicht in dem Sinne des Zu-
sammenfügens, sondern als Ableitung von pagus,^) also „die abgemessene
Fläche '^ Die aus den Seiten oder Blättern zusammengesetzten scapi aber
wurden nun von den Fabriken Avie unsere Tapetenrollen, und ZAvar un-
beschrieben, wie sie waren, in den Handel und Versand gegeben, und
mit ihnen füllten sich die Papierspeicher, horrea chartaria, in Rom und
anderen Hauptplätzen der Welt. Nicht selten werden uns Avirklich ßißlia ß^P^^
aY'oa^^a erwähnt; charfa pura steht Digest. 32, 52, 4; ydQxrjg äyQacpog charta
[mm Corp. gl. lat. HI 327,45; ich füge zu sonstigen Belegen*) hier noch
Pliilostrat, Apollon. Tyan. 4, 44 hinzu, avo Tigellinus ein äoj^uov ßißUor,
d. li. ein leeres Buch, aufrollt, äveUxTEL
Vielleicht Avaren diese leeren Rollen also mit den soeben besprochenen
"icapi identisch. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß solches ßißklov äyQaq)ov
wieder aus mehreren scapi durch Zusammenkleben hergestellt zu werden
l)f legte. Denn der scapiis hatte im Maximum zAvanzig Blätter, das normale
ßißliov oft viel mehr. Auch ist solches Zusammenkleben sicher öfter vor- Voriänge-
gekommen. Ich zitiere die Äußerung des Grammatikers Terentius; Scaurus, ^Bu^dfg®*
VII K. 33, 11 : hrevitatem kuiiis libeUi, si tibi videtiir, adglutinahis ei, quem ^ durch
(Je litteris yiovis habes a me acceptmn, quod ipse feci, quia huius pitsillitaH
sub ipso (d. h. ihm angehängt) decentiiis prodire quam per se censeri poterat.
Hier AAdrd aus zaa'cI schon vollgeschriebenen kleinen Rollen oder scapi
eine gTößere hergestellt. Vor allem denke man an die Johannesapokalypse
18, 5, wo es von der großen Babylon heißt: exolXif}§r}oav avrijg ai äjuagrlai
äygi xov ovgavov xal ejuvrjjuövevoev o ^edg ra ädixijjuaTa avrfjg. Das Buch
läßt sich also durch Ankleben ins Endlose verlängern, und ich glaube, daß
auch schon Plato hieran gedacht hat, wenn er vom Dichter oder Schrift-
steller sagt, Phaedr.p. 278 E: eyQay)ev ävw xdrco OTQe(pmv h xqovco, Jigog äUrjka
y.oAÄÖJv re xal ätpaigcbv, avo OTQe(peiv „umstellen" bedeutet (A^gl. oiQecpeiv xä
yodfijuara in Kratyl. p.414C), xoUäv aber das AnfHcken von Text durch das
Ankleben von Charta verdeutlicht. Eben hierauf geht auch bei Martianus
Capella II 219 f. das künstlich ausgedrückte adhuc iugata pagina; der Ver-
fasser Avill sagen: eine „noch hinzugefügte", also angeklebte pagina würde
mir erlauben, mein Schreiben noch fortzusetzen. Die Glossare bieten dafüi-
noooxoUcT} adgintino, aber auch adpUcare: 111153,7; 118,47. Das Geschäfts-
journal eines ägyptischen Beamten wurde so geführt, daß er täglich ein
Papyrusblatt oder Stück Charta mit den betreffenden Notizen füllte, imd
Allkleben
bieten Ausnahmen; s. Buchrolle S. 317
Anm.; ebenso auch Tebtunispapj'^ri I S. 143.
') Rhein. Mus. 63 S. 43 f.
2) a. a. O. S. 41 f. Verfehlt Stowasser
in Wiener Stud. 31 S. 145 f.
») Dieselbe Art der Ableitunji^ lie^t
z. B. in micinum zu sucus vor.
*) Buchwesen S. 33, 2 und 241 : Bueii-
rolle S. 6: ( ^entralblatt S. 559.
270 I^as antike Buchwesen.
im Archiv wurden diese Stücke alsdann zu Eollen verbunden;!) Vilni
UbeUontm sind solche durch Zusammenklebung hergestellte Aktenrollen. '^)
Eine so entstandene Holle heißt dann ovyxo/d}]oifiog TOjuog.^)
sciireiben ^^^f alle Fälle fanden die Schriftsteller unbeschriebene Papierrollen
im löGron • ■ • .
Bncii A'or, die sie gCAviß schon fertig beim yaoTond)Ar]q kaufen konnten,'*) und
für sie komponierten sie ihre Werke, jedes Buch eine Papierrolle. Aus-
drückliche Erwähnungen dieser Tatsache habe ich schon „BucliAvesen"
S. 241f., „Buchrolle" S. 6; 28; 205 zusammengestellt. Besonders anschau-
lich ist auch Clement; Alexandrinus Strom. 6, 131, wo in ein xaivov ßiß)dov
der Jesaiastext abschriftlich eingetragen werden soll. Aber auch solche
Stellen, wie Buch Esther 9, 20: ygdcpeiv robg koyovg eig ßißliov und Lucian,
Piscator 26: eg jrayv ßißXiov iyyoäqjeiv zeigen uns die leere Buchrolle, die
man vollschrieb. Die übliche Maximallänge der Rolle war dabei zwanzig
bis dreißig Fuß. 6)
hiätt^r Weit verbreitet war, wenn man Zettel oder Einzelblätter brauclite,
in Ägypten die Methode, zu diesem Zweck einen noch unbeschriebenen
Scapus zu zerschneiden. 6) Doch müssen auch Einzelblätter in den Handel
gekommen sein; anders kann ich die libn perscripü nondum cong/ntinafl
bei Ulpian nicht verstehn: man beschrieb die Einzelblätter und klebte sie
alsdann zusammen. Icli denke dabei aber auch an die Charta amphi-
fheatricn, die, wie Plinius Zeile 7 f. lehrt, zunächst in Alexandria hergestellt,
deren Blattbreite aber in der stadtrömisclien Fabrik des Fannius nacli-
träglich gesteigert wurde; denn nach Plinius' ausdrückhchem Zeugnis
war es möglich, fertige Chartablätter wieder in ihre Bestandteile auf-
zidösen;'^) es müssen docli also die Einzelblätter nach Pom transportiert
worden sein. 8)
32^2^*5 Die Ulpianstelle Digest. 82, 52, 5 aber lehrt uns noch mehr, und ihr
Inhalt muß daher genauer mitgeteilt Averden.^) Es heißt dort zunächst:
qnaeritur si libri legati siiif, au, contineantnr nondum perscripti, ot non pufo
eontinen. Dies erweist uns zunächst die Existenz unbeschriebener fertiger
Buchrollen, nicht scapi, sondern libri nondum perscripü. Weiter heißt es:
sed perscripü Jibri nondum malleaü vel ornaü conünebimtur: proinde et
nondum conglutinati vel emendaü continebuntur. Es Averden hier also A^ier
Zustände der schon beschriebenen Buchrolle unterschieden, die sie als
unfertig erscheinen ließen und A^on denen je zwei enger zusammenhängen.
Ein über perscriptus kann erstlich nondum conghitincdus sein. Dies
ist schon A^orhin erläutert; man füllte zunächst Einzelblätter oder auch
ein paar scapi mit Schrift an ; war das obligate Zusammenkleben derselben
^) Siehe U.Wilcken, Piniol. 58 S. 971". i stellte übrigens Einzelblätter in der Hand
'^) Premerstein S. 738 u. 752. ; des Menschen gelegentlich dar: Buchrolle
3) Wtlcken, Hermes 44 S. 151. Xgi. \ S. 221. Die Papierschere heißt in den
noch BoRCHARDT, Aegyptische Zeitschr. 27 i Glossaren ofxlXa /agroröjuog.
S. 120; auch Crönert, Hermes 38 S. 398 ff. ] '') Dies liegt in den Worten Plinius
^) Der Papierhändler wird vom Buch- | Zeile 44: oUus igitnr itenoii texendis lahor.
händler unterschieden und heißt yaoxo- ' 8)j}uch\vesen 8.248. Vgl. übrigens noch
.-rgdtijg und yaorojrcoArjg, s. Corp. ^loss. lat. Buchrolle S. 221 Anm.;WATTENBACHS. 386.
]f475; schol. Jiivenal. 4, 24. Ueber Verwendung von Einzelblättern s.
5) Schubart S. 46—48. auch Ctardthaisex S. 133.
«) Siehe Ibscher a.a.O. Auch die Kunst ») Siehe Ontralblatt S. 559 f.
I
I. Beschreibstoffe. 14. Die Papyrusrolle. 271
unterblieben, so soll die Gesamtheit der losen Scliriftmasse, Avie Ulpian
entscheidet, dennoch als Über, als Bucheinheit gelten, nnd zwar auch,
wenn der Text noch nicht durchkorrigiert ist {emendatus).
Zweitens aber können vollgeschriebene Rollen nondum malleafi vel oniafi Beklopfen
sein. Ein Beklopfen mit dem Schlägel, ma/leus, wurde nämlich dreimal aus-
gefülirt: zuerst bei der Blattbereitung (Plin. Zeile 20 f . malleo tenuatur),
dami unmittelbar vor dem Schreiben, um die übrig gebliebene Feuchtigkeit
in den Blättern zu konstatieren (Plin. Zeile 41), endlich aber auch, nach-
dem die Rolle schon mit Schiift gefüllt war. Dies lehrt das jieqixotiteiv
der fertigen Schriftwerke bei Lucian adv. indoctum 16. Man stelle sich
vor, daß man auf einem Rouleau von etwa zwanzig oder ^derzig Seiten
zu schreiben hat. Durch das Anfassen und Schieben wird die gewaltige
Papiermasse zerknittert, kraus und uneben und läßt sich nicht ordentlich
glatt einrollen. Eine Presse, die man für das Einzelblatt verAvandte (Plin.
Zeile 20), reichte nicht aus, u^m solche Flächen zu ebnen ; also hämmerte man
sie mit dem Schlägel glatt, und so Avurden die lihri perscripti zu malleati
libri, wie ülpian sie nennt, und es fehlte nur noch, daß sie endlich auch
ornatiy d. h. mit dem üblichen Buchschmuck ausgestattet Avurden, A-on dem
späterhin zu reden sein AV'ird.
Ich kehre indes noch einmal zum Plinius zurück. Denn es handelt J^v^'"
sich noch um die Herstellung des Scapus selbst. Nach Plinius entsteht desscapus
er durch Kleben in der Weise, daß inter se iunguntur (plagulae) proxi-
marum semper honitatis deminutione ad deterrimas (Zeile 23). Man hat dies
dahin A^erstanden, als seien Blätter A^on verschiedener Größe oder Blatt-
breite zum Rollenstreifen zusammengefügt Avorden.i) Allein die Sache
A^erhält sich anders.
Es gab nämlich in der Tat A^erschiedene Sorten der Charta, die Plinius Sorten der
großenteils aufzählt lyid charakterisiert. Zu den besten gehörte die z. B.
v^on Catull erwähnte Charta regia und die hieratica. Hauptmerkmal war dabei
die Dünnheit, Glätte und Farblosigkeit, vor allem die Breite der Blätter.
Für die Charta Augiista gibt uns Plinius (Zeile 25 f.) 13 digiti = 24 Zenti-
meter, für die hieratica 11 digiti = 20 Zentimeter Breite, füi- die amphi"
theatrica 9 digiti =^ 16 1/2 Zentimeter. 2) Ein Hauptfabrikort Avar Sais, und
ich habe dereinst (Ant. BuchAvesen S. 249) dargelegt, daß in Sais nicht
nur die geringe sogenannte charta SaJitica, sondern auch die Augusta und
hieratica und andere Qualitäten angefertigt Avorden sein müssen. s) Es ist
aber eine Torheit, daraus zu folgern, daß nun in Sais der Scapus so her-
gestellt Avurde, daß man Blätter verschiedener Blattbreite zu einem Scapus
verbunden habe. Denn nach den Blattbreiten unterschieden sich ja eben
die Papiersorten; man hätte dort also nach jener Annahme Blätter der
Augusta, hieratica und Saitica hintereinandergeklebt. Das Aväre denn doch
aber der größte Betrug, eine Täuschung des Publikums, das nur die Augusta
oder nur die hieratica kaufen wollte' es wäre die plumpste Fälschung der
Ware geAvesen. In dem oben zitierten Satz des Plinius ersetzt der Ablativ
') Gardthausex 8. 58 nach Dziatzko, ' S. 188.
*) Genaueres s. Ant. Buchwesens. 248; ') Mit Unrecht habe ich dies später,
\V r NSCH, „( 'liarta" S. 2190 : Gardthausex im Centralblatt f. Bibl.W. S. 557, bestritten.
Zurollen
272 Das antike Buchwesen.
deminutione nach der Kurzspraclie dieses Autors einen Nebensatz, und
wir haben zu verstehen: inter se iunguntnr pfngulae ita nt 2>f'0ximarum
semper bonitas deminuafur ad deterrimas, wobei mit honitas die Güte der
Ware bezeichnet ist. Es genügt aber vollständig, dies dahin zu verstehen,
daß die zwanzig Blätter für den Scapus so ausgewählt Avurden, daß die
festesten und haltfähigsten Blätter zuerst kamen, dann Blätter, die nur
geringe Mängel zeigten, an letzter Stelle die mindest gut geratenen. Die
Blattbreiten aber wechselten nicht; denn der Scapus bestand eben ent-
weder aus hieratica oder Augiista oder Sa'itica u. s. f.
Alle jene Angaben über die Blattbreite entspreclien nun auch den
Maßen der neuerdings in Ägypten aufgefundenen Pap^a-i. Die Höhe der
Seite aber — das ist also zugleich auch die Höhe der Buchrolle — hat
im Durchschnitt 35 Zentimeter, geht bisweilen zu 40 in die Höhe, sinkt
aber auch bis 20, ja, zu gewissen Zeiten bis zu 15 liinab.i)
Auf- und Wir wenden uns nunmehr zur Rollung, der die Chartabücher ebenso
wie die libri lintei verfielen. Dies Rollen heißt eliooeiv^ sllslv,-) volvere,
das Offnen dveXiooeiv, evolvere, revolvere,^) aucli iKindere,^) das Schließen
convolvere; convolvere partem libri heißt überschlagen: Seneca Controvers.
X prooem. 8; ad extrcmum volvere zu Ende lesen: Plin. epist. 5, 5, 5.
Aber auch plicare heißt „rollen" (Seneca epist. 95, 2; Martial 4, 82),
dasselbe auch replicare (Ausonius ep.VH 2,48 replicare campum papyrium)',^)
explicare librum aber bedeutet nicht etwa „ein Buch zu Ende rollen", wie
man fälschlich an der Martialstelle XI 107 übersetzt, sondern „auseinander-
expiicare, rollen" ; denn explicare muß nach der Analogie von evolvere, dem es genau
entspricht, interpretiert werden. Dies erhärtet Cicero und bestätigt es
vollauf, pro Rose. Am. 101: veniat modo, explicet sunm volumen illud. Davon
leitet sich dann allerdings die Buchunterschrift Über explicitus oder Über
explicit her, in der die Präposition ex schließlich dep. Sinn des „zu Ende"
erhält; so finden wir das Wort schon im Testamentum porcelli, wo die
Schlußworte lauten: Explicit testamentum porcelli sub die XVI Jcal. lucer-
ninas Clibanato et Piperato consulibus feliciter.^) Genau übersetzt aber
heißt liber explicitus nur die ganz entfaltete Rolle. Daher nennt Martial
9, 47 die Philosophen Plato und Zeno, die man nicht liest, inexpliciti,
d. h. „nicht aufgerollt".
In dem nämlichen Sinn steht auch jttuooeiv, ävamvooeiv,'^) und man
ist keineswegs überall, wo dies Yerbum vorkommt, gezwungen, an ein
Diptychon zu denken. Ich verAveise auf Lucas 4, 20, wo jixv^ag xo ßißXiov
in der Yulgata mit cum plicuisset librum übersetzt wird, was auch wieder
für plicare lehrreich ist.^) Daher auch die jzrvyai ßlßkcov bei Aeschylus
explicit
1) Buchrolle S. 17 ; Buchwesen S. 264; 1 *) Für^a^^ere vgl. Max Krämer S. 11.
Schubart S. 48. Ungefähr dasselbe Höhen- ! &) Vgl. Krämer a. a. O.
maß haben die Torarollen der Juden: ^) Im Mittelalter bildete man dazu
Blau, Eivista Israelit. S. 67.
2) ejisdi^ag beim Lesen schon Demosthe-
nes23,161 (vgl. ed. BLASSlIIp.LXXXVin).
2) revolvere heißt bald aufwickeln (s.
Buchrolle S. 135 u.233), bald wieder zurück-
wickeln, so Horaz Epist. 2, 1, 223.
das Präteritum expUcuit liber, explicuerunt
capita: s. Nouveau traite de diplom. Bd.III
(1757) S. 388.
7) Siehe Rhein. Mus. 63 S. 41.
8) Mehr Belege s. Neue Jahrbb. 19
S. 705.
I. Beschreibstoflfe. 14. Die Papyrusrolle. 273
Hiket. 947, der ältesten Stelle, wo uns die Griechen Papyrusrollen, ßißXoi,
erwähnen. 1) jiTvyal ßißlon' sind also Falten der Rollen.
Auch Jisrdvvvjui, „ausbreiten", konnte auf die entfaltete Schriftfläche Theokrit
der Buchrolle Anwendung finden, und so benutze ich die Gelegenheit,
hier noch eine Stelle des Theokrit zu interpretieren, die nicht richtig auf-
gefaßt zu werden pflegt. Theokrit schreibt in seinen Xagireg, Idyll 16,
über seine Huldigungsgedichte, die er ydgiTeg nennt und die er in die
Häuser der Vornehmen zu schicken pflegt, v. 5 ff. :
5 ri'g yoLQ x&v ojtoooi yXavxav vaiovoiv vji' do)
tjjnsx€()ag ;|fdßfra? jrsrdoag vjioöd^erai oXxm
dojraoiojg, ovo' avdig ddoygTJxovg OLJiojisfiytsc ;
al ÖS oxvCdfiST'ac yi'ftvöig jioaiv oixad' l'aoi
SToVA ft€ xco^d^oioai ox dlißiav odov tjv&ov,
10 oxt'rjQai ds Jidkiv xsveäg sv jiv^fiEvi yr}Xov
if'vygoTg h' ywdxsooi xdor} /nifivovxi ßaköioai,
h'&' alsi atpiaiv e'öga, imjv OjTQtjxxoi l'xcot'xai.
Die yaQixeg sind hier als Buchröllchen und zugleich in allerliebster Weise
persönlich wie ein menschliches Wesen gedacht; deshalb haben sie rüße(v. 8)
und murren, in sich eingefaltet, gleichsam das Haupt auf den KJnien (v. 11);
ihr Aufenthalt aber, zu dem sie heimkehren, ist der Bücherkasten, yi^Xog
(v. 10), in dem sie immer sitzen, wenn niemand sie benutzt (v. 12), und hier-
durch wird angezeigt, daß wir auch das Jierdoag^ das sich im v. 6 auf den
Empfänger bezieht, in dem nächstliegenden Sinn vom Aufrollen des Buchs
zu verstehen haben. Daß der Empfänger das übersendete Buch aufrollt,
geht voran, da er sich erst vom Inhalt der Sendung überzeugen muß; erst
danach entscheidet er, ob er es äojiaoicog vjiode^erai oder ddcogrjrov djTOjrejuy^si.
Dies Chartabuch heißt nun ferner ßvßXog, über. Überall, wo diese ßiß>-os, uber
Wörter ßvßXog und liher sich finden, sind wir gezwungen, an Rollenform chartaroUe
zu denken. Denn Bücher in Tafelform heißen nie so. Diese meine These
hat sich mir mehr und mehr bewälii-t, je lunfassender ich meine Lektüi-e
ausdehnte; sie ist definitiv gesichert durch E. Sprockhoff, De libri volu-
minis ßißlov sive ßißliov vocabulorum usurpatione, Marburg 1908. Daß Über
einzelnes Convolut, unius voluminiSy sagt uns noch Isidor Gr. 6, 13. Daher
steht liber zu memhranae gradezu in Gegensatz, z. B. bei Optatus 2) VII 1 :
damnentur etiam Uli qiii neglectas membranas aut lihros ita posuerunt, ut
eos domesticae bestiolae, hoc est mures, ita corroserint ut legi non possint.
Hier sind memhranae aut libri „Pergamentcodices oder Chartarollen". ^)
Appian, Mithridat. 111 erzählt, daß man, als Pharnakes zum König aus-
gerufen ^^'urde, aus einem Heiligtum eine ßvßlog hei-vorholte und ilim statt
der Krönung, dvrl diadtjjuarog, damit die Stirn umwand. Hier bezAveifelt
Gardthausen S. 50, daß mit ßvßXog eine Papyrusrolle gemeint sein könne.
Wir erinnern uns aber vielmehr der mimusartigen Szene in Alexandria, die
uns Philo (gegen Flaccus c. 5 f.) beschreibt, wo der armselige Karabas
als König gekrönt wird, indem man gleichfalls einen offenen xdgr^jg auf
seinem Kopf als Diadem zusammenlegt.*) ßvßkog ist überall die Chartarolle.
^) Diese Stelle ist von Schubart S.29 | ») Corp. script. eccles. lat. Bd. 26.
durchaus mißverstanden, der jixvyai mit | ') Mehr bei Krämer S. 61.
.Klappen" übersetzt. ' | *) Vgl. Preuß. Jahrbb. Bd. 137 S. 97;
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 18
274
Das antike Buchwesen.
ebenso
ßißXiov
volnmen
Tö/tog
Was A^on ßvßlog und Über, dasselbe gilt der Hauptsache nach auch von
ßißUov^) und lihellus (über lihellus s.auch unten S.292). Weil man zum Zweck
des Zusammenfassens der Seitenmassen nur das Verfahren des Rollens kannte,
deshalb hat der .Grieche niemals das Bedürfnis empfunden, zur Veranschau-
lichung oder Unterscheidung der Buchformen noch besonders von ellrjxaQiov
oder iveiXrjjua zu reden, Wörter, die erst spät und selten in Gebrauch kamen,*)
während der Römer allerdings überall da volnmen sagte, wo er an die äußere
Form des rollbaren Buchs dachte. 3) Es ist also zu betonen, daß auch ßißXiov
überall nur die Buchrolle ist (oben S. 264). Es gibt meines Wissens keine
Stelle, wo wir gezwungen wären, ßißUov mit Wachstafel zu übersetzen.
Anschaulich dagegen sind viele Äußerungen, Avie der ovgavdg als auf-
gerolltes ßißUov in der Johannesapokalypse 6, 14; in der anderen und
apokryphen Johannesapokalypse wird visionär ein ßißUov von E/iesengröße
geschaut: es hat das miyog von sieben Bergen, sein jurjxog aber (im auf-
gerollten Zustand) ist unabsehbar, Avogegen in den „Fragen des Bartholo-
mäus" der Erdkörper, den man sich als Zylinder dachte, mit dem ßiß?dov ver-
glichen wird (vgl. „Buchrolle" S.213). Besonders sei noch Pausanias zitiert,
der 4, 26, 8 von einem Text redet, der sich auf gerolltem Zinn (xaooheQog)
befand, und hinzufügt: „er war eingerollt, wie die ßißUa es sind": etiel-
hxTo ojoTieg rd ßtßXia. Hier ist nicht nur klar, daß ßißXiov Rolle ist, son-
dern sie ist speziell eine solche, die aus einem anderen Material als Zinn
besteht, also die Rolle aus ßvßXog, aus Papyrus. Die x4.usnahmen zu dem
Gesagten, die ich weiterhin anzuführen haben werde, betreffen nur den
Fall, daß ßiß)da gelegentlich, aber ganz selten als Teile eines Buchs er-
scheinen. Das ist dann in der Weise aufzufassen, Avie auch die Ägypter
die Einzelteile oder Kapitel einer Buchrolle „Rollen" nannten.'^)
Um die Rolle als Rolle zu bezeichnen, brauchte der Grieche demnach
vorzugSAveise die Wörter ßvßXog, ßvßXiov (oder ßlßXog, ßißXiov), yaQxrjg, yaQ-
Tiov. Weitere Termini aber sind röfiog und revyog. Und ZAAar bezeichnet
TÖjuog, „der Schnitt", niemals ein Schriftwerk, sondern stets nur die Rolle
als solche, und zwar die Rolle, insofern sie durch Abschneiden aus einem
gTößeren Papierkonvolut hergestellt ist. Als die Araber Ägypten ein-
genommen hatten, Av^urde dem xdgrrjg eine Länge von 30 arab. Ellen =
141/2 Meter gegeben; schnitt man zAA^ei Drittel davon ab, so hieß das
To/nog.^) Der tomiis konnte also immer noch sehr umfangreich sein, wie
auch die zehn tojlloi des Antisthenes bcAA^eisen, deren jeder etliche Schriften
des genannten Philosophen enthielt. 6) Der inschriftlich überlieferte Ter-
minus tumi maiores'^) aber bcAv-eist, daß es auch kürzere Rollen, ^om^
minores, zur Auswahl gegeben haben muß. Besonders bei mehrbücherigen
Werken war die Bezeichnung rojuoi für die einzelnen Bücher derselben
Histor. Viertel] ahrschrift ed. Seeliger,
1912, S. 400.
*) Zu ßißkiov vgl. E. Nestle in Ztschr.
f. wissenschaftl. Theologie L Heft 1 S. 91,
wo auch über hibliotheca = „Bibel".
2) Buchwesen S. 25.
3) Genaueres über vohimen bei Sprock-
HOFF a. a. O.
*) Siehe Buchrolle S. 19.
^) Karabacek, Das arabische Papier
17.
449.
Diog. Laert. 6, 15 f.; Buchwesen
^) Siehe Jon. Schmidt, Ehein. Mus.
47 S. 325 f., der freilich den Ausdruck un-
richtig gedeutet hat. Vgl. unten S. 280.
I. Beschreibstoflfe. 14. Die PapymsroUe. 275
im Gebrauch; 1) ich zitiere Mark Aurel bei Fronto ad M. Caes. 2, 10: feci . . .
excerpta ex libris sexaginta in quinque tomis. Interessanter die Stelle in
den Itinera Hierosolymitana ed. Geyer (Wiener Corpus Bd. 38) S. 161, wo
tomus als Einzelbuch und zugleich deutlich als Rolle erscheint: ibi (in
Nazaret) etiam sedit (v. 1. pendii) in sinagoga tomus, in quo abcd hahuit
Dominus impositumy d. h. woraus Jesus das Alphabet lernte. 2)
Hier sei eine Anmerkung über scapus und tomi scripti eingeschaltet, s^apus
Wenn nämlich in den Glossaren scapus certus numerus tomorum cartae scriptae
scriptae definiert Avird,^) so kann Scapus, wie ich meine, in diesem Fall
nicht die vorhin S. 268 festgestellte Bedeutung haben, sondern muß viel-
mehr ein Bündel, ein fasciculus sein.*) Denn der von Plinius erAvähnte
Scapus enthält jedenfalls nur unbeschriebene Charta. Mit Schrift gefüllte
Toi^ioi konnten nimmermehr zu einem zwanzigblätterigen Scapus im Sinne
des Plinius verbunden werden. Wir müssen uns erinnern, daß uns die
Glossare den Sprachgebrauch des 5. oder 6. Jahrhunderts n. Chr., also einer
Zeit vorfüliren, die vierhundert Jahre von Plinius entfernt ist.
Wenden Avir uns zum rev/og. Das Wort rev^og bezeichnet erst im reoxog
byzantinischen Mittelalter den gehefteten Codex; im BuchAvesen des Alter-
tums hat es zAvei AVerte, die für uns in Betracht kommen: entAA^eder das
Gefäß, in dem man eine Anzahl A'on Rollen aufbewahrte (so bei Xeno-
phon Anab. 7, 5, 14 und Anthol. Pal. 9, 239) oder aber die Buchrolle
selbst, die rev/og hieß, insofern sie die Schrift Avie ein Gefäß in sich
aufnimmt. ö) Dies habe ich „Buchrolle" S. 21 f. erA\desen; es ist bald her-
nach auch durch ein inschriftliches Zeugnis bestätigt AA^orden.^») Durch die
Erkenntnis dieser geringfügigen Tatsache sind erhebliche ScliAvierigkeiten
endlich hinAveggeräumt.
Schließlich tritt auch nicht selten Aoyog für ßvßXog im Sinne des ein- ^^y^s
heitlichen Buchtextes ein. Ein mehrbücheriges Werk pflegt deshalb loyoi,
nicht Aoyog zu heißen; so die Bücher des Xenophon Ephesius, die sibyl-
linischen Bücher u. a.'') Besonders deutlich erscheint Xoyog als Buch bei
Philostrat Apoll. Tyan. 3, 27: eyygdipai avrd ig rov avtov löyov. Lesen Avir
bei Plato, Phaedr. p. 270 A, A'om Anaxagoras, daß er über den vovg und
seine Natur xbv noXvv Xoyov iTzoieirOy so ist das auch doit schon ein Aus-
druck des BuchAvesens und bedeutet, daß die berühmte Schrift des Anaxa-
goras eine Rplle starken Umfangs Avar. Piatos Schriften AA^urden A^on den
Grammatikern in „Trilogien" oder „Tetralogien" gruppiert; jede Avar also,
auch Staat und Gesetze, nur je ein ?i6yog, und das setzt voraus, daß für
diese die uns A^orliegende und unechte Buchteilung nicht berücksichtigt
1) Vgl. Buchwesen S. 25 f. Ueber den | 3) Corp. gl. 1. V 610, 60 u. sonst ähn-
ln Alexandria gehmdenen steinernen | lieh; Buchwesen S. 141.
Kasten mit derAufschriftAlOZKOYPIA HC ! *) Die Erklärung, die Jon. Schmidt
r TOMOI s. A. J. Eeinach, Extrait du | a. a. 0. zu geben versuchte, ^o?m«s sei hier
Bulletin de laSocietearcheol.d'Alexandrie j so viel wie plagula, ist unhaltbar.
Nr. 11 (1909). 5) Auch der penis hieß vasculum; die
2) Tofiog unsicher bei Hyperides (Le geschlossene Buchrolle aber wurde mit
nouveau papyrus d'Hyperide, s. E. Revil- jenem verglichen: Buchwesen S. 17.
LOüT in Revue des etudes gr. 1889 fasc. 1 ^) Siehe U.Wilcken, Hermes 44 S. 150.
S. 1 ff., daselbst col.III); nach Chr. Jensen ^) Buchwesen S. 28 f.; 447; 448; 466;
ist die Lesung hinfällig. | 477, 2.
18 ^
276 I^a-s antike Buchwesen.
worden ist. Seitdem dagegen die Dialoge von den Verfassern auf Bücher
disponiert und in jedem der Bücher womöglich eine besondere Sprech-
szene vorgeführt wurde, wie bei Aristoteles, Satjros und Cicero (oben
S. 198), zerfiel der Dialog in mehrere Xoyoi oder didXoyoi, und daher heißt
bei Asconius p. 19, 26 ed. Stangl Ciceros Werk De oratore pluralisch dia-
logi; denn das Werk besteht aus drei Büchern.
^^^^^t^T ^^^ diesen Feststellungen ergibt sich nun weiter die kategorische
meiirere Schlußfolgerung, daß mit ßvßXog, ßißXiov, liber, volumen im Singular nie-
Bücher j^g^][g q\^ mehrbüchcriges Werk bezeichnet sein kann; wo immer es sich
um ein solches handelt, steht der Plural ßißXla, lihri. Scheinbare Aus-
nahmen zu dieser Regel erklären sich daraus, daß Über nicht nur „das
Buch", sondern auch „ein Buch" heißen kann. Wer wollte, wenn wir
z.B. bei Plinius epist. 6, 20, 5 lesen: posco libriim Titi Livij behau|)ten,
das ganze Liviuswerk werde da als Über bezeichnet? Wir haben „ein
Buch des T. Livius" zu übersetzen. Älmlich Plin. epist. 9, 13, 18 u. sonst, i)
Sämtliche Zitate und Büchererwähnungen bei Cicero, Gellius und Athe-
naeus hat Sprockhoff zusammengestellt und die gegebene Regel vollauf
bestätigt gefunden. Wo Gellius sie wirklich einmal zu verletzen scheint,
da ergibt sich, was auch sonst feststeht, daß er die Werke gar nicht
selbst kannte, die er zitiert; wo Athenaeus sie verletzt, da liegt Text-
verkürzung vor, und die betreffenden Buchzahlen sind weggelassen; denn
der Text des Athenaeus verfiel z. T. dem Exzerptor. Aber diese Fälle
sind außerordentlich selten und verschwinden ganz in der Masse.
Und wir folgern nun also z. B., wenn Athenaeus p. 680 D ''Animv er
TM jiEQi Ttjg "Pcojuaixrjg dialexxov zitiert, daß dies Werk Apions, wie der
Singular h reo anzeigt, einbücherig und nicht umfangreicher war als etwa
Ciceros Orator. Nennt Vellejus sein Geschichtswerk volumen, so erschien
dasselbe ursprünglich unzerlegt in einer einzigen Buchrolle. Heißt die
Odyssee des Livius Andronicus bei Gellius über, so fehlte auch ihr ur-
sprünglich die Buchteilung. 2)
ßiß).og, über Ebenso kann nun aber auch Über, Aveil „BuchroUe", niemals Teil
nie Teil . . 7 77 ?
eines Buchs eines Buches sein (anders steht es ab und zu und unter besonderen. Um-
ständen mit Ubellus, s. S. 292), und es ist ausgeschlossen, daß z. B. die
pseudovergiUschen „libri" Culex, Ciris etc. jemals zusammen in einer
Rolle überliefert Avorden seien. Denn jedes dieser Gedichte galt eben
nach ausdrücklichem Zeugnis als ein „liber".^) Friedländer folgerte aus
Martial III 1, 3, daß Martials Bücher I and II zusammen als ein volumen
erschienen seien, was Aveder sachlich möglich, noch durch den Wortlaut
jener Stelle selbst irgendwie begründet ist. Die Worte sind:
Hunc legis et laudas librum fortasse priorem.
lila vel haec: mea sunt, quae meliora putas.
So ist meines Erachtens zunächst im v. 4 zu interpungieren; der Sinn:
sive haec sive illa meliora putas, mea sunt. Im v. 3 aber steht der
Singular liher prior, Avährend hier doch, wie man meint, auf beide Bücher
I und II zurückgeblickt werden mußte. Aber es genügt durchaus, an-
1) Buchrolle S. 23 Anm. ^) Siehe Catalepton S. 8. Auch die
2) Buchrolle S. 34; Sprockhoff S. 27 f. | Copa heißt liher bei Oharisius p. 63, 11 K.
I. Beschreibstoffe. 14. Die Papyrusrolle. 277
zunehmen, daß Martial hier nur auf Buch II zurückblickt; überdies aber
steht fest, daß Über prior auch allgemein „eines der voraufgehenden
Bücher" heißen kann; denn liber heißt, wie soeben S. 276 gezeigt, nicht
nur „das Buch", sondern auch „ein Buch". Also: „du liest dies Buch
und dein Lob gilt vielleicht nur einem früheren Buche". AVarum aber
hat Martial hier nicht libros priores im Plural geschrieben'? Der Vers hätte
alsdann mit viermaligem Schluß-s gelautet:
Hunc legis et laudas libros fortasse priores.
Der Dichter wollte den verhaßten Sigmatismus vermeiden (vgl. Kritik und
Hermeneutik, oben S. 78 f.). Damit ist alles erklärt.
Erst im 7. Jahrhundert v. Chr. erschloß König Psammetich Ägypten
dem griechischen Handel. Erst damals kann die Chartarolle den Griechen
zugänglich geworden sein, und sie verdrängte durch ihre Vorzüge all-
mählich und ziemlich rasch alle anderen Beschreibstoffe, welche Vor-
herrschaft des Papyrus dann bei Griechen und Römern bis in das
5. Jahrhundert n. Chr. hinein gedauert hat. Von Dichtern des 8. und
7. Jahrhunderts v. Chr., wie Hesiod und Archilochos, auch von Alkman,
sind wir anzunehmen genötigt, daß sie ihre, verhältnismäßig nicht um-
fangreichen Einzehverke noch auf Holz oder Blei niederschrieben und die
Texte alsdann in Tempel aufstellten und sicherten. Die Tempelarchive
waren die ersten Hüter der Litteratur. i) Daß dagegen im 6. Jahrhundert
die Prosalitt eratur bei den Griechen beginnt, muß mit dem Aufkommen
des Papyrusbuchs, das allein bequem lesbar war und auch umfangreichere
Texte aufnahm, zusammenhängen. Ebendeshalb kann erst damals Homer
gebucht Avorden sein, man mag von der Pisistratuslegende halten, was
man will; erst damals erw^eiterte Stesichoros die melische Kunst zu um-
fangreichen Gesängen, die wiederum ohne solches Buch nicht denkbar;
jedes der 26 Bücher, die man von Stesichoros hatte, war mutmaßlich ein
selbständiges, in sich abgeschlossenes Opus. Erst durch dies Buch ist
endHch auch die Tragödie des Aeschylus möglich gew^orden.2) Das
6. Jahrhundert hat also eigentlich erst eine Litteratur in Buch-
form gebracht, und hierauf stützt sich, was ich oben S. 221 ausgeführt;
es ist dasselbe Jahrhundert, in dem beiläufig auch bei den Juden und
Israeliten mit dem Propheten Hesekiel eine Litteratur in Buchform, eine
wirkliche Sei iriftst ellerei begann. 3)
Man hat gezweifelt, ob die Papyrusrolle wirklich so früh bei den
Giiechen in Aufnahme gekommen sei, weil man in der älteren gTiechischen
Litteratur ihre ausdrückliche ErAvähnung vermißte. Aber ein Zeugnis
reicht aus. Die ßißAoc bei Aeschylus Hiket. 947 sind Beweises genug.
Aeschylus nahm hier deshalb Anlaß, die ßlßXoi, die aus Ägypten stam-
menden Buchrollen, zu erwähnen, wöil an dieser Stelle die Rede des
Sprechers grade an Ägypter gerichtet ist.*) Vor allem aber hat die Be-
\) Buchrolle S. 211 f. und 222 f.; ein 1 *) Buchrolle S. 212.
Exemplar des Alcaeus in einem dreieckigen | ') Siehe K. Budde, Gesch. der alt-
Behälter befand sich im Schatz des deli- i hebräischen Litteratur S. 151 : Neue Jahrbb.
sehen Apoll : s. Homolle in Monuments i XIX (1907) S. 702.
grecs Vrn (1878) S. 49. | ') Centralblatt 17 S. 551.
Kostbar
keit der
278 ^^^ antike Buchwesen.
trachtung der Bildwerke Aufklärung und Sicherheit gebracht. Denn auf
zalilreichen Vasenbildern und Werken der Plastik und Koroplastik des
6. und 5. Jahrhunderts v. Chr., die ich „Die Buchrolle in der Kunst" S. 46,
80, 81, 92, 110, 119, 138, 139, 142 ff., 147, 148, 156, 157, 158 besprochen
und zum Teil in Abbildung vorgeführt habe (das älteste Monument der
Art ist vielleicht die Terrakotta ib. Abb. 91), erscheint die Papyrusrolle
tatsächhch im Gebrauch der Griechen und ihres Kulturlebens, und zwar
als einzige Buchform. Ein anderes Lesebuch gab es auch schon in
jenen Zeiten nicht.
Wenn also Herodot, wo er über Ägypten handelt, von den ßißXia,
die man von dort bezog, nicht erst besonders redet, so erklärt sich dies
einfach genug daraus, daß der Gebrauch dieser ßißUa zu bekannt, daß er
allen Griechen geläufig war. Denn Herodot will von den ägyptischen
Sitten und Gebrauchsgegenständen nur das beschreiben, was dem Griechen
nicht geläufig war. Die Papyrus rolle war damals schon das einzige
„Buch", das man hatte. i)
Daß die Chartaproduktion des kleinen Nildelta ausreichte, die ganze
Charta Kulturwclt jahrhundertelang mit Papier zu versorgen, muß wundernehmen.
Das Papyrusschilf wuchs auch in Syrien, auch in Italien; aber nur an
den Mündungen des Nil Avurde es als Kultmpflanze planvoll gezüchtet,
nur dort gab es Fabriken mit uralter Tradition; die Chartafabrik des
Fannius in Rom war nur eine ephemere Erscheinung, die mutmaßlich der
Zeit des Kaisers Augustus angehört-e. In der Tat Avar die Charta denn
auch für den Ägypter schon in den älteren Zeiten, als sie noch nicht
exportiert wurde, ein wertvoller Gegenstand, mit dem man auf das spar-
samste umging (Buchrolle S. 7 f.); sie war zu allen Zeiten imgebührlich
teuer. Und der Grieche geizt womöglich noch mehr als der Ägypter.
Einen Thukydideskommentar stellt er, um zu sparen, auf die Rückseite
von Urkunden, die er zu diesem Zweck erst zusammengeklebt hat: Oxyr.
Pap. Bd. VI 986. Ebenda VI 927 Avird eine Hochzeitseinladung auf der
Rückseite eines Streifens geschrieben, der aus zwei Urkunden aus-
gesclinitten und zusammengeklebt ist. Die erhaltenen Homerpapyri sind
vielfach so beschaffen, daß auf dem Recto der Charta Rechnungen und
anderes Geschäftliche steht, der Homer mit dem Verso vorlieb nehmen
muß. Das bekannte Fragmentum eroticum steht auf der Rückseite eines
Geschäftskontraktes u. s. f . u. s. f . (mehr der Art Buchrolle S. 30).
Über den Chartamangel jener Zeiten und das Hochtreiben des Ein-
kaufspreises redet betreffs der charta hieratica einmal ausdrücklich Strabo
S. 800; es sind dienveg xcbv rag jzoooodovg ejisyaslveiv ßovkojLtevcov, von denen
er sagi: ov yaQ ecboi Jtokkaxov (pvso&ai (rijv ßvßXov), xfj de ojidvei tlijli]v etti-
i^evreg ri^v tzqoooÖov ovrcog av^ovoi, rrjv de xoivrjv XQetav öiaXv fxaivovxai. Sehen
wir uns nach genaueren Ansätzen um, so kostete im Jahre 407 v. Chr.
ein yaQTi^g, d. i. eine leere Chartarolle, in Athen 1 Drachme 2 Obolen,-*)
und dieser Preis war ziemlich ständig; denn aus Dolos erhalten wir
für den yaQxi^g ungefähr die nämlichen Ansätze: 1 Drachme 4 oder
*) Genaueres hierüber ebenda S. 552. j ^) Buchwesen S. 433; Buchrolle S. 27 f.
I. Beschreibstoflfe. 14. Die Papyrusrolle.
279
5 Obolen.i) Das würde in modernem Geldwert etwa 4 Mark bedeuten,
\\'ährend wir heute gewiß für 40 Pfennige das gleiche Quantum Papier
haben können. Weitere antike Preisansätze findet man „Buchrolle'* S. 28,
Gardthausen S. 68. Anschaulicher als sie aber ist die Vergleichung des
Wertes anderer Bedürfnisai-tikel ; die „Herstellung" eines einzigen x^Q^V^
war, wie a. a. 0. gezeigt ist, ebensoviel wert wie fünf Laib Brot, fast
ebensoviel wie ein Hemd {yiTcoviov). Das sind ganz ungeheuerliche Wei*t-
verhältnisse. Und wir begreifen hiernach, daß Kaiser Firmus allein mit
den Einnahmen, die er als Privatmann aus seinen Papyrusfabriken in
Ägypten bezog, ein ganzes Kriegsheer unterhalten konnte.*)
Wer in einer Landstadt wohnte, konnte sich, wie wir beim jüngeren ^a^io char-
Piinius sehen, überhaupt keine charta anschaffen, 3) weil der Handel sie nur *iung IqT
in die großen Emporien trug. Wiederholt traten ferner in Ägypten Miß- Vertriebs
ernten ein, und ein allgemeiner Papiermangel war dann die Folge (s. Buch-
rolle S. 34). Weil von der Ernte und dem rechtzeitigen Eintreffen der
ägyptischen Handelsflotten alles abhing, so mußte für Rom die Charta-
einfuhr ebenso reguliert und beaufsichtigt werden wie die Kornzufuhr,
und der res frumentaria oder cura annonae entsprach die res chartaria,
von der wir hier handeln. Erstlich wurden besondere Papierspeicher,
liorrea chartaria, in Rom angelegi,*) damit stets Vorrat und bei Notlage
Reserven zur Verfügung stünden; ferner griff, wenn der Mangel wirk-
lich empfindlich wurde, der Senat selbst ein und beaufsichtigte die Ver-
teilung dieser Reserven ;5) vor allem hielten die Kaiser selbst ihre Hand
darüber; ein besonderes Verwaltungsressort des kaiserlichen Hauses war
die ratio charfaria, die den Verkauf dauernd und gleichmäßig reguliert
haben muß; im Dienst dieses Ressorts standen kaiserhche Freigelassene
als officiales rationis chartariae, GTL. VI 8567.6)
\) Siehe Homolle in BibUoth. des
ecoles franc. 1887 S. 12 und Bull, de corr.
hell. 1890 S. 398; Gardthausen S. 68, 4.
2) Oben S. 263 Anm. 5.
') Vgl. auch Hieron. epist. 11, 1: cartae
exiguitas indickim solitudinis est.
*) Siehe Jordan-Hülsen, Rom. Topo-
graph. III S. 329.
^) Plin. nat. hist. 13, 89: ut e senatu
dnrentur arhitri dispensandae.
6) O. HiRSCHFELD,Yerwaltungsbeamte,
1905, S. 29 ff. ; Gardthausen S. 70. Daß
die Kaiser selbst als Nachfolger der Ptole-
mäer in Aegypten regelmäßige Revenuen
aus der dortigen Papierindustrie bezogen,
ist nicht glaublich: s. oben S. 263, 5. Wohl
hat der Statthalter des Augustus, Cor-
nelius Gallus, sich dort zeitweilig um die
Fabrikation selbst bekümmert; aber die
Charta Corneliana hielt sich nicht (Buch-
wesen S. 250). Die Papierbezeichnungen
Charta Augusta, charta Livia aber sind nur
ehrende Bezeiclinungen; dies sagt Isidor
(Sueton) 6, 10 ausdrücklich: Augustea regia
in honorem Octaviani Augusti appellata,
ebenso Plinius oben S. 265 Zeile 5, und
sie beweisen also für kaiserliche Fabriken
gar nichts. Auch unsere Kaiser haben kein
Monopol auf Tinte, obschon es bei uns
„ Kaisertinte " gibt. Es war eine Absonder-
lichkeit, daß Kaiser Claudius die Herstel-
lung der Charta Claudia, die alsbald alle
anderen Sorten übertraf, selbst wirklich ver-
anlaßte ; in dieser Tatsache verraten sich je-
doch lediglich die intensiv grammatisch-lit-
terarischen Interessen dieses Kaisers, der ja
auch drei neue Buchstaben in das Alphabet
eingefülirt hat; Weiteres läßt sich aus ihr
nicht folgern. — Zu dieser Anmerkung
muß ich eine weitere Anmerkung hinzu-
fügen. In den zitierten Worten des Isidor
wird Kaiser Augustus Octauianus Augustus
und nicht divus genannt. Daraus folgerte
Wünsch (a. a. O. S. 2191), die Quelle, aus
der Isidor, d. i. Sueton, geschöpft habe,
müsse der Lebenszeit dieses Kaisers selbst
angehört haben, da eben sonst divus zu
fordern wäre. Das trifft nicht zu; die
Spätzeit nennt den Kaiser auch sonst ein-
fach Octauianus Augustus ; das tut z. B. der
Theodosiusbrief bei Ausonius p. 3 ed.
Peiper. Diesem Sprachgebrauch hat sich
Isidor angeschlossen. Auch das Adjektiv
Augustea, das wir bei ihm lesen, verrät deut-
280 ^^^ antike Bachwesen.
Für welches andere Schreibmaterial ist sonst je Ahnliches geschelien?
und wie groß mochte die Schwierigkeit der regelmäßigen Beschaffung
von Charta erst in Antiochia, Smyrna, Pergamum, Corduba und anderen
Plätzen der weiten Welt sein, die solcher Fürsorge entbehrten? Man hat
den Eindruck, daß die Fabrikanten am Nil gradezu einen Trust bildeten;
sie beeinträchtigen selbst den Gebrauch der Charta {rrjv' ygeiav dialvjuai-
vovrai), sagt Strabo, oben S. 278. Darin liegt eine Einhelligkeit des Ver-
fahrens dieser Leute. Wie ängstlich man in den Provinzen den Verbrauch
der Charta bemaß, veranschaulicht uns einmal das Edikt des Ulpius Maris-
cianus über die Sportein, i) avo für die drei Arten der Prozeßverhandlungen,
postulatio, contradictio und causa in urguenti finienda, Z. 41 f., Folgendes
vorgeschrieben wird: carta in postulatione singuli tumi (= tomi) sufficimit
maiores;^) in contradictionibiis quaternos maiores, in definito ncgoüo numquam
ampliiis quam sex a litigatore exigi oportebit. Besonders in dem numqiiam
ampliiis veiTät sich die große Sorge, daß ja nicht zu viel Charta ver-
braucht werde.
Infolge dieser Schwierigkeiten und Teuerungen entstand daher außer-
halb Ägyptens schon früh das Verlangen, ein Konkurrenzmaterial zu
schaffen, und es kam etwa im 3. Jahrhundert v. Chr. oder vielleicht auch
schon früher ein Verfahren auf, die Tierhaut (oben Nr. 9) für Buchzwecke
kunstvoller zu präparieren und brauchbarer zu machen. Dies führt uns
an letzter Stelle zur Besprechung des Pergaments.
15. Das Pergament.
mem- Der lateinische Ausdruck für Pergament ist fast ausschließlich nur
pergamena ^ßw^^<«^«e ; bei den Griechen bleibt ÖKf^egai auch jetzt allein das Übliche;
nur daß man bisweilen auch juejußgävai von den Römern entlehnte (so
schon Paulus 2. Tim. 4, 13). Die Bezeichnung pergamena, jTeQyaju}]v6vy
findet sich vielleicht zum erstenmal im Jahr 301 n. Chr., im Edikt Dio-
cletians De pretiis rerum venalium.^) Der Verfertiger des Pergaments
hieß nur di(p&egdoiog, memhranarius, Avie dasselbe Edikt (7, 33) zeigt.
nicht in Wann der Gebrauch des Pergaments aufkam, bleibt unsicher. Denn
erfl^en wcuu Varro bei Plinius 13, 68 zweierlei lehrt, im 3. Jahrhundert v. Chr.
sei in Alexandria unter den Ptolemäern die Charta „erfunden'* (reperta)
und bald hernach im 2. Jahrhundert seien dann bei der Konkurrenz der
pergamenischen Bibliothek mit der Bibliothek Alexandrias in Pergamum
auch die membranae „erfunden" {repertae) — Varro denkt dabei an König
Eumenes II (197 — 159 v. Chr.) — , so ist die erste Belehrung absurd, und
damit ist auch die zweite diskreditiert.
Fassen wir zunächst den ersten Irrtum ins Auge. Wie konnte er
entstehen? Die Sache ist klar. Der Römer hielt in seiner Unkenntnis der
naturgeschichtlichen Dinge die Charta irrig für Baumbast (oben S. 253) und
lich]üngereSprache;dieBezeichnungr7/rtr^a ; des Tiberius angehörte, ist wahrscheinlich.
Angusta, die Plinius gibt, ist die authen- j ') Ephem. epigr.V S. 630 ff.
tische. Am wichtigsten wäre es, die Quelle j ^) Zur Lesung ^mwi vgl. Jon. Schmidt,
zu erraten, die Plinius seinem Traktat über I Rhein. Mus. 47 S. 326; Ygl. tiumdus ohen
die Charta zugrunde gelegt hat. Daß sie 1 S. 268.
der Schlußzeit des Augustiis oder der Zeit j ^) Buchwesen S. 52.
I. Beschreibstoffe. 15. Das Pergament. 281
übersetzte darum das grieclii sehe Wort ßißloq mit liber = „Bast", während
er das Wort xaQTqg in der Form Charta beibehielt. Man las nun die
älteren griechischen Autoren durch, fand in ihnen wohl das Wort ßißkoty
ßtßÄiaj also Bastbücher, aber nirgends das Wort xdoxrjg erwähnt i) und
schloß: also war die eharta nicht reperta\ den älteren Hellenen war dies
Material also noch unbekannt, sie hatten nur auf Bast geschrieben. Nicht
aus einer besonderen Überlieferung über griechisches und ägyptisches
Buch- imd Bibliothekswesen, sondern aus Zusammenlesen von Litteratur-
stellen, wie wir es heute auch noch ausführen können, entnahm man die
Entscheidung in dieser Frage. Daher sind auch die Einwände, die man her-
nach gegen Varro erhob, von derselben Art, Plin. 13, 84 f.: bei Cassius Hemina
stehe doch zu lesen, in dem ausgegrabenen Sarg Numas habe man Bücher
aus Charta gefunden; also gab es eharta schon zu König Numas Zeiten.
Der erste Irrtum Varros hat nun den zw^eiten Irrtmn nach sich ge-
zogen. Hatten die Alexandriner für ihre Bibliothekszwecke wirklich die
Charta erfunden, so mußten die Pergamener bei der offenkundigen Kon-
kurrenz beider Zentren der Gelehrsamkeit natürlich das andere Schreib-
material, die Membrane, erfunden haben: eine anekdotenhafte Zuspitzung
von Vorgängen, deren Ursprung in Wirklichkeit w^eiter und betreffs der
Charta viel weiter zui-ücklag. 2)
Allerdings aber muß Pergamon unter den Attaliden und auch noch in Perga-
hernach andauernd für die Membrane ein Hauptfabrikationsplatz gewiesen wTnde^und
sein. Das setzt eben dieselbe Darstellung des Plinius zweifellos als be- hergestellt
kannte Tatsache voraus; und in der schwierigen und lückenhaft über-
lieferten Galenstelle XVHI 2 S. 630 K. ist dies gleichfalls ausgesprochen
oder angedeutet. Ich entnehme einer freundlichen Mitteilung meines Kol-
legen Kalbfleisch, daß an dieser Galenstelle die einzig zuverlässige Pariser
Handschrift Folgendes bietet: xiveg juev ydo xal jcdw nalaicbv ßißXlcov dv
evQEiv eojiovdaoav jiqÖ Toiaxooicov hcbv yeyQafXfjLeva rd juev exovreg, xd öe ev
diacfogioig (pXvoaig ö)07ieo xd Tzag' yfuv er UeQydficp. Daß am Schluß für
dia(f6Qoig cpilvQatg, wie gedruckt wird, diq^&egaig zu lesen, konjizierte Cobet,^)
Avährend ich durch Umstellung zu helfen suchte.*) Kalbfleisch proponiert
mir unter der Annahme, daß das überflüssige eyovxeg aus ev ydoxatg ver-
schrieben sei, und unter Vergleichung der sehr ähnlichen GalensteUen
XVII 2 S. 249, XVII 1 S. 922, auch VII 890, 16, folgende HersteUxmg:
. . . fvqeXv EOTiovdaocxv tzoo xQiaxoolcov excjv yEyQafx^iva, xd juev ev ydgxaig, xd
de (^Ev ÖElxoig, xd Öe) ev öicp&EQaig cöojiEg xxL Werden auf diesem Wege
die (pdvgai aus dem Text beseitigt, so bleibt doch Tatsache, daß der
Schreiber des Archetyps von den cpdvgai als einem üblichen Beschreib-
stoff Kenntnis hatte. Die ÖKfy&EQm aber bedeuten keinesfalls Abschriften,
sondern Brouillons; das zeigen die anderen zitierten Galenstellen; vgl.
unten S. 289.
^) In der älteren griechischen Litte-
ratur steht es wohl tatsächlich nur einmal
bei dem Komiker Plato (bei Pollux 7, 210).
2) Vgl. Centralblatt S. 553 f. Speziell
sollte dann natürlich Krates das Perga- i ^) Buchwesen S. 503
ment erfunden haben; s. Boissonade, | -»^ Buchrolle S. 21, 1.
Anekd, I S.420: KQairjg 6 ygaLif-iarixog v::rdo-
j^cov fierä l-irzdXov zov IlegyafJtpvv ix SsojudTMV
k'xajLie fitfjßQÜvag xai ijiotrjos lov "Axxakov asxo-
ozeuai avräg eig 'PuifxrjV.
282 ^3.8 antike Buchwesen.
Zu- Eine feinere Zubereitung der auf alle Fälle ungegerbten Tierhaut
bereitung __ ^^ kommt besonders die Haut der Schafe, Ziegen, Kälber in Betracht,
gelegentlich auch Antilopenfell — bestand in sorgfältiger Reinigung, in
Entfernung der Haare und Beizung der Innenseite mit Kalk. Danach
wurde das Fell noch, um auszubleichen, in Wasser gelegt, endlich mit
Bimstein geglättet. i) Eine Stelle des Persius 3, 10 erklärt sich hieraus:
lam über et positis bicolor membrana capillis
Inque manus chartae nodosaque venit hanindo.
Wir sehen, daß sich der Studierende, von dem an dieser Persiusstelle die
Rede ist, erstlich des Über oder Litteraturbuchs zum Studieren und Lesen
bedient, sodann der membrana zu eigenen Entwürfen, endlich der chartae
zur Reinschrift ; die membrana aber ist bicolor infolge der Entfernung der
Haare: die eine Seite mehr gelblich, die andere weiß.
FrühesVor- Daß cinst aucli schon die wertvollen Membranbücher der Perserkönige
des Perga- iiD.d die gottesdienstlichen Lederrollen der Juden so sorgfältig hergestellt
ments waren, ist eine naheliegende Vermutung (vgl. oben S. 256), ja, mehr als das:
im Aristeasbrief wird die Feinheit des Pergaments, aus dem die gottes-
dienstlichen Rollen der Juden bestanden, ausdrücklich hervorgehoben. 2)
Vom Maler Parrhasios besaß man Zeichnungen auf membranae (Plin. 35, 68) ;
auch hier muß, bei der Kostbarkeit dieser Zeichnungen, unbedingt das-
selbe vorausgesetzt werden. Aus Persien kam das Verfahren mutmaßlich
nach Pergamon.
gerout, Jedenfalls herrscht aber auch hier, was nicht genug beachtet zu
geheftet Werden pflegt, wie bei der Charta, zunächst noch überall das System
der Rollung. Nur darum können die Membranbücher ßißUa heißen (an
der eben zitierten Galenstelle und auf der attischen Inschrift, oben S. 264) ;
denn ßißXia sind Rollen. Von geheftetem Pergament, das zu Lesezwecken
diente, erfahren wir bis zum Jahre 85 n. Chr. gar nichts. Die Idee der
Heftung war noch unerfunden. Auch die auf Membrane geschriebene
IHas in der Nuß, die Plinius 7, 85 als ein Wunder der Miniaturschrift
erwähnt, kann sehr Avohl geroUt gewesen sein; denn das empfiehlt schon
die Nußform. Sicher gilt dasselbe auch von der Landkarte auf Membrane
bei Sueton, Domit. 10. Solche Pergamentrolle erkenne ich ferner auch
auf dem Grabmonument des Architekten Statilius Aper, auf dem Capitol
(Buchrolle S. 218); ebenso steht es mit den deo/Aanva xal ßvßhva rev/i]
und öeQfxd'iiva ßvßUa auf der Inschrift von Priene;^) denn revyr} sind
wiederum Rollen, ßvßUa ebenfalls (oben S. 275). Ausdrücklich redet auch
Ulpian von solchen Pergamentrollen, Digest. 32, 52 : Volumina sive in charta
sive in membranis sint. Und die membranae consutae bei Ulpian a. a. 0.
bedeuten gleichfalls zweifellos Rollen;*) denn zur Herstellung einer
längeren Pergamentrolle war es eben unerläßlich, mehrere Häute zu-
sammenzunähen, Avie die Praxis des jüdischen Buchwesens zeigt und
1) Dies war zum wenigsten das Ver- | ^) Siehe Wilcken, Hermes 44 S. 150 f.
fahren im Mittelalter; s. MüRAtori, Anti- | ^ Näheres s. Buchrolle S. 21 Anm.:
quit. It. II S. 370: H. Breslau, Urkunden- j falsch aufgefaßt z.B. bei Marquardt-Mau
lehre I S. 887. j S. 819.
«) Vgl. Blau, Eivista Israelit. S. 49.
I. Beschreibstoffe. 15. Das Pergament. 283
Avofür uns heute auch sonst noch aus dem Mittelalter Beispiele genug
vorKegen.^) Durch Zusammennähen konnte auch den Pergamentrollen
eine gewaltige Länge verliehen werden; das zeigen schon die hebräischen
Thorarollen ; ebenso auch die profanen und gottesdiensthchen Pergament-
rollen des Mittelalters (unten S. 296 f.). Besonders alt und ehrwürdig die
Wiener Pergamentrolle der Psalmen aus dem 6. Jahrhundei-t. Die Juristen
Roms aber waren genötigt, ausdrücklich festzustellen, daß da, wo es sich
mn Vermächtnisse von lihri handelte, solche Membranrollen auch als lihri
gelten sollten; denn lihri bedeuteten eigentlich nur Bast-, d. h. Charta-
rollen, ä) Membranrollen waren nicht libri, sondern nur „quasi" libri.
Daher die Sorgfalt, mit der Ulpian hierbei verweilt.»)
•) Ueber erhaltene liturgische Perga- | S. 20; Buchwesen S. 87 f. u. 97 f.
mentrollen Buchrolle S. 288; mehr bei 1 «) Daß Pergament bei den antiken
Gardthausen S.152f.: über ExultetroUen Kulturvölkern zunächst mit der Heftform
auch Weinberger in Bursians Jahresber. gar nichts zu tun hatte, hebt auch Blau
Bd. 98 S. 127 und Bd. 106 S. 184. I hervor, Kivista Israelit. S. 78.
») Siehe oben S. 253 u. 280; Buchrolle ,
II. Die Verwendung der Beschreibstoffe.
A. Praktische Zwecke.
Blicken wir hiemach endlich zurück und fragen nach den Zwecken,
denen die verschiedenen Beschreibstoffe gedient haben, so ist für mehrere
von ihnen das Nötige schon in Obigem angegeben, und ich komme hier
weder auf die Türen noch Alba noch Bleiplatten noch libri lintei zurück.
Hervorhebenswert ist hier etwa nur das Folgende.
^t°k^u -^^^ stenographische Nachschreiben bei den Senatssitzungen ge-
in Codices, schah in E/Om auf Wachstafeln oder geweißten Holztafeln, Codices ; s. As-
^■^t^etf'conius p.32,6ed. Stangl;!) fälschlich versteht Schubart (S. 104) an dieser
Asconiusstelle Codices als Pergamenthandschriften, codex ist Holz (oben
S. 260) und wird deshalb vor dem Jahr 200 n. Chr. stets nur von Holztafeln ge-
braucht. In codicis extrema cera schreibt deshalb Cicero Verrin. 1,92.2) Die
Schnellschrift war vor allem Sache der notarii,^) die nach ihrer Schreib-
tafel auch cerariiy^) übrigens auch exceptores heißen ;•■>) aber auch die Sena-
toren selbst führten in der Curie Schreibzeug bei sich. Auch ein Bild-
werk gibt Anschauung: der Stein des Asteris (Johnen S. 124) zeigt uns
einen Tachygraphen des Altertums, der sich einer großen Schreibtafel
bedient. Nach Herstellung des Protokolls wurden dann ersthch aus dem-
selben die Senatsbeschlüsse entnommen und ausgehoben und in einem
liher zusammengestellt (Cic. ad. Att. 13, 33, 3), woraus Josephus Antiqu.
14, 219 mit öeXtco devrega ein genaues Zitat gibt. Zweitens aber erschienen
auch die vollständigen Senatsprotokolle in Buchform, und ein solches voll-
ständiges Protokoll benutzt der Redner bei Plinius epist. 9, 13, 4.6)
Auch die Familienchronik in den Hausarchiven der Römer befand
sich in solchen Codices, die wir gleichfalls nur auf Holz- oder Wachstafeln
deuten können.'^)
h^^h^d^*^' "^^^ kaufmännische Buchführung, Kontrakte, Quittungen und anderes
Kaufmanns Geschäftliche diente die Charta besonders massenhaft in Ägypten ; daselbst
coX^oder ^^^^ aucli die Ostraka; in Rom dagegen wiederum die Tafel. Daß der
in Mem- codcx ciccepti ct cxpcnsi bei Cicero pro Rose. com. 5 aus tabidcie, Holz- oder
^^^^ Wachstafeln, bestand, bestätigt die Bezeichnung tabulae accepti et expensi
ebenda § 2. Aber auch die MembranroUe diente dem Römer für diese
Familien-
chronik
ebenso
1) Siehe Buchwesen S. 96 ; Mommsen,
Schriften II S. 363.
2) Vgl. Mommsen, Hermes II S. 116:
oben S. 260 ff.
3) A. Mentz, Geschichte und Systeme
der griechischen Tachygraphie, Berlin 1907 ;
Johnen a. a. O.
^) Gardthausen S. 44.
'-) Siehe Ulpian, Digest. 19, 2, 19;
Augustin. epist. 141, 2 (falsch das Scholium
zu Juvenal 7, 104).
^) Vgl. Arthur Stein, Die Protokolle
des römischen Senats (43. Jahresbericht der
deutschen Staatsrealschule in Prag, 1904).
7) Plin. nat. hist. 35, 7.
IL Verwendung der Beschreibstofife. A. Praktische Zwecke.
285
Zwecke. 1) chiwgrapha dehitorum auf memhrana erwähnt Scaevola in den
Digesten 32,102, und bei Gaius steht, Digest. II 18,10,2: argentarius
rationes edere iuhetur, mit der Einschränkung: ut non totum cuique codicem
rationum totasque memhraiias inspiciendi describendique potestas fiat, sed ut
sola ea pars rationum quae ad instruendmn aliquem pertineat inspiciatur et
describatiir. Der hier erwähnte codex wird Wachstafeln bedeuten, die me^n-
hranae aber können gerollt sein (vgl. oben S. 282). Denn in der Tat erscheint
auf den Bildwerken der Kaiserzeit die E,oUe als Hauptbuch des Geschäfts-
manns; s. „Buchrolle" S. 153, 167,322 u. 66: aus der Rolle wird den Notaren,
die ihrerseits auf Tafeln schreiben, diktiert. 2) Eine dicke Geschäftsbuch-
rolle erwähnt auch Seneca epist. 87, 7: magniis halendarii liber volvitur.
Daß endlich auch bei den Gerichtsverhandlungen außerhalb Ägyptens
Papyrusrollen, tomi maiores, in bestimmter Anzahl Verwendung fanden,
lehrt uns das inschriftlich erhaltene Edikt, von dem S. 280 die Rede war.
Wieder etAvas anders steht es mit Testamenten und Ehekontrakten; Ehekon-
denn hier scheint, zum wenigsten in vornehmeren Familien, die Charta
die Tafel allmählich verdrängt zu haben. Ehekontrakte auf Papyrus sind
noch massenhaft erhalten; ständig erscheinen sie auf Sarkophagen als
Rolle in der Hand des sponsus.^) Dasselbe zeigt sich bei den sogenannten
commentarii, vjzo/uv/jjuara^) oder Amtsführungsbüchern der Magistrate, Commen-
vielleicht mit Ausnahme der Censoren.^) Das Amtsbuch eines Prokonsul **"^
als codex ansatus lernten wir oben S. 262 kennen. Sonst aber heißen z. B.
die commentarii pontificiwi auch libri pontificum, waren also Rollen. Auch
die commentarii Caesaris heißen ßißUa bei Plutarch, Anton. 15, also wieder
Rollen; nicht anders die Munizipalakten der Stadt Caere, CIL. XI 3614;
nicht anders die Protokolle bei der Rechtsprechung, Tacit. Ann. 15, 74.
Ein Stenograph schrieb da zunächst auf Wachs; nachher geschah die
Mundierung auf Papyrus. ß) Auch das Hof Journal der Kaiser — die Epheme-
Ephemeriden — stand in Rollen mit Buchzählung. '^) Endlich wurden "*^®^
auch die Gesetze und kaiserlichen Constitutionen in ßißUa gesammelt. ») constitutio-
ünd daher wird der römische Kaiser, Avie dereinst schon die alten ägyp-
tischen Könige, auf Bildwerken regelmäßig mit der Buchrolle in der
Linken charakterisiert, die den Uher principis bedeutet, Avie ihn Plinius
epist. 5, 13, 8 nennt; das ist to töjv eyrolSbr ßißkiov bei Lucian 19,13. Die
betreffenden Bildwerke sind von mir „Buchrolle" S. 68 f. besprochen (vgl.
ebenda S. 335). Philostrat sagt uns, daß der Kaiser mit dem ßißXiov auch
in die Gerichtsverhandlung geht. 9) Ebenso stand es auch bei den jüdischen
Königen; die Rolle in der Hand Avar ihr Kennzeichen. 10)
») Vgl. Buchrolle S. 66 f.
2) Vgl. M. Krämer S. 11. Ueber Buch-
führung in der Tempel\^er\valtung s.Wal-
TER Otto, Priester und Tempel im hel-
lenistischen Aegypten II S. 145 ff.
3) Vgl. Buchrolle S. 67 f . ; 243 ; Mommsen,
Schriften II S.342f.; Khein.Mus.63 S.48,2;
MiTTEis-WiLCKEN a. a. O. I 2 S. 213 ff.
*) Auch neutr. commentarium; auch
actum, Corp. gl. lat. II 467, 5.
^) üeber die tabulae censoriae oben
8. 263.
6) Mommsen, Strafrecht S. 516.
7) Script, bist. Aug., Aurelian 12, 4 f.
8) Premerstein a. a. O. S. 738, dessen
ganzer Artikel „Commentarii" für diese
Dinge nachzusehen ist. Vgl. übrigens das
Anm. 3 Zitierte.
») Philostrat Apoll.Tyan.8,1 fin. Ebenda
8, 4 wird auch der Ad\'okat und Ankläger
mit dem ßißUov ^vyyeyga^ifihw rac; aixlag vor-
geführt.
10) Blau, Rivista israelit. S. 69.
286
Das antike Buchwesen.
tabula und
jiivaS aucli ,
geroUt Jlivrx^
Land-
karten
Orakel
Hier ist der Ort, hervorzuheben, daß die Ausdrücke tabula, tabellay
nivdxiov, wo wir sie in solchen Beziehungen lesen, oft täuschen
und nicht wörtlich zu nehmen sind. Sie bedeuten ohne Zweifel oftmals
gar nicht die Holztafel oder Wachstafel, i) sondern gradezu die Charta
oder ein Stück Charta. Dafür habe ich im Rhein. Mus. 63 S. 48, 2 zweifel-
lose Belege zusammengestellt, die ich hier nicht wiederhole. Auch sagen
uns dies ausdrücklich Ulpian Dig. 37, 11, 1 und Paulus, Sentent. 4, 7, 6:
tabularum autem appellatione chartae qitoque et membranae continentur.
Auch gerollte Membrane oder Charta ist „tabula".
Es ist daher von Wichtigkeit, einmal auch nach der Etymologie des
Wortes tabula zu fragen. Mit .,Pfosten" und „Stützen" hat das Wort
sicher gar nichts zu tun, und alles, was man in Waldes Etymologischem
Handbuch in diesem Sinne proponiert findet, ist darum hinfällig. Aber
auch das Holz gehört nicht zum Wesen des Begriffs tabula. Der Grund-
begriff der tabula ist vielmehr überall ausschließlich nur „die Fläche".
An ein bestimmtes Material, woraus diese besteht, ob Holz, Metall oder
Kunstpapier, ist dabei von Hause aus noch gar nicht gedacht. Das Wahr-
scheinlichste ist darum, daß ta-bula zu rdvvjuaiy rsivco gehört, ein Femi-
ninum, analog der pagina; es ist „die gedehnte Fläche von geringem
Umfang".
So ist denn auch da, wo mva^, tabula, als Landkarte, Weltkarte vor-
kommt, ganz gewiß nicht an Holztafeln, sondern an eine aufhängbare
Rolle, sei es Charta-, sei es Pergamentrolle zu denken, 2) nach Art der im
13. Jahrhundert gezeichneten tabula Peutingeriana, einer Reisekarte auf
Pergament, die gegenwärtig noch 6,82 Meter lang ist, bei 34 Zentimeter
Breite.
Auch die Befragungen der Orakel geschahen schriftlich; in Dodona
auf Blei (s. oben S. 258) ; in der römischen Kultarwelt auf Charta, in einem
versiegelten ßißliov. Die Antwort des Gottes wird dann unmittelbar unter
die Frage geschrieben: s. Lucian Alexandros 18. Diese ßiß/Ja sind gerollt
{vgl. xaTeih]oag ihid. 20; übrigens auch 49). Apollonius von Tyana steigt
in die Grotte des Trophonios und kommt erst nach sieben Tagen wieder
zmn Vorschein, und zwar mit einem Buch, in dem Antwort auf seine
Frage steht. Das Buch hatte pythagoräischen Inhalt und kam später an
Kaiser Hadrian und nach Antium (Philostrat 8, 19 u. 20). Solche dünne
Buchrollen, die einen Orakelspruch enthalten, sehen wir auf das anschau-
lichste auf den Admetbildern Pompejis abgebildet vor uns (Buchrolle
Abb. 72 u. 73). Später geschahen die schriftlichen Anfragen jedoch auch
auf Membrane (Amm. Marcell. 19, 12, 4); die Orakelstätte aber bewahrte
die Fragezettel auf. 3)
Für Briefe diente dagegen niemals die Membrane,^) sondern nur
Brie e auf
Wachs
oder
Charta nie i) Dgher wird Corp. gloss. lat. V 526, 45
M mb ligneaezutahulaesLUsdräcklichhinzugesetzt,
em rane ^^^ ^^^ tahellariiis als derjenige, der tahukis
ligneas befördert, erklärt wird. Vgl. dazu
Festus p. 359, 8 M. : tahcUis pro chartis ute-
hantur antiqui, quibiis ultro citro, sive pri-
vatim sive publice opus erat, certiores ahsentes
faciebant; unde adhuc tabellarii dicuntur et
tahcUae missae ab impcratoribus.
2) lieber Landkarten s. Buchrolle S.288
u. 219: Ehein. Mus. a. a. O.
3) Buchrolle S. 221, 1 ; Gardthausen
S. 133.
*) Dies ist bewiesen Buchwesen S.62ff.;
II. Verwendung der Beschreibstoflfe. A. Praktische Zwecke.
287
entweder die Wachstafel oder die Charta. Eine besonders zierliche Sorte
von Wachstafeln, die VifeUiani (pugiUares), waren dafür u.a. im Gebrauch. i)
Ihr Rand oder Deckel, opercuhim, wurde gelegentlich mit Gold beschlagen;«)
die ÖFArdgia Kleopatras waren sogar övvyjva xal xQvoxdXXtva.^) Die Elfen-
beindiptA^cha der consules ordinarii mit Goldschmuck und Goldschrift, die
der Spätzeit angehören,-*) haben dagegen nicht der Korrespondenz gedient.
Aber auch ein besonderes Briefpapier (charta) wird erwähnt. 0)
Intime Briefe schrieb jeder, auch der vornehme Römer, eigenhändig;
dies heißt chirographum oder propria scriptura (Glossare). Für Geschäfts-
briefe hatte der Wohlhabende seinen Sekretär, den man ab epistulis
nannte. War das Schreiben aufgesetzt, so mußte der Absender selbst
für die Expedition sorgen mit Hilfe seiner Dienerschaft. Denn das
öffentliche Postwesen stellte keine Briefträger zur Verfügung. Männer
wie Cicero haben also ihren eigenen Brief boten; solcher Bote hieß tabel-
lariiis, aber auch Cursor; denn er war geübter Schnelläufer; spätlateinisch
auch haiulus.^)
Der Satz, daß intime Briefe jeder selber schrieb, hat allerdings seine
Ausnahmen. So bat Kaiser Augustus den Horaz um seine Mitwirkung
scrihendis epistulis amicoriim^) Fälschlich hat man das dahin ausgelegt,
daß Horaz das Ministerialamt des Sekretärs, ah epistulis, übernehmen
soUte. Denn der Minister ah epistulis hatte mit den epistulae amicorum
nichts zu tun. Der Genetiv amicorum selbst aber ist hier ohne Anstoß;
er bedeutet soviel wde „an Freunde", etwa so, wie regis crimina „An-
klagen gegen den König" (Livius 1,47), scelus Callisthenis „Verbrechen
gegen Callisthenes" heißt u. a. m. So wie also der Apostel Paulus seine
Briefe durch einen Amanuensis schreiben ließ, so woUte sich auch Augustus
der Hilfe des Horaz für seine intimere Korrespondenz bedienen.
Der Brief Avurde in allen Fällen mit Siegel geschlossen, nicht nur als
Brieftafel (oben S. 261), sondern auch als Chartabrief, den man zuvor mit
einem Band oder starken Faden umwand. Dabei wurde der Chartabrief
geringeren Umfangs — denn oft genügte eine oekig für ihn — nicht zu-
sammengerollt, sondern nach Art des Fidibus der Länge nach gefaltet
oder zusammengeknickt, s) Die Briefe und Billets, die in den Komödien
des Plautus und Terenz und ebenso auch bei den Liebesdichtern, Properz
und seinesgleichen, erwähnt werden, stehen regelmäßig auf Tafeln ; ^) war
die Sache eilig und dringend, so wurde vom Empfänger die Antwort Zurück-
gleich auf dieselbe Tafel geritzt, und derselbe Bote trug sie an den Ab- wLh^stafei
Sender zurück, i") Ciceros wichtige Korrespondenzen standen dagegen
ausschließlich auf Papyrus, und Plinius stellt nat. liist. 13, 88 epistulae
bestätigt Buchrolle S. 34, 3. Eine späte Aus-
nahme zur Regel bei Max Krämer S. 61.
Von der Skytale der Spartaner (oben S. 255)
sehe ich hier natürlich ab ; denn die Spar-
taner hatten noch keine Membrane in dem
hier besprochenen Sinne.
1) Martial 14, 8 f. Fälschlich hält Schu-
bart S. 14 die Vitelliani für pergamenten.
2) Prop. 3, 23, 7: Non illas fixnrn caras
efjfecerat aurum.
3) Plutarch Anton. 58.
*) Claudian Stil. 3, 347 f.
5) Martial 14, 11.
«) Vgl. BlCmner, Privataltertümer
473.
') Sueton p. 45 Reiff.
8) Siehe Dziatzko, Unters. S. 126.
9) Vgl. z. B. Ovid Ars am. 3, 495.
1«) Prop.3,23; WiLMANXS, Exempla312.
288
Das antike Buchwesen.
gradezu in Gegensatz zu codicilli, denkt bei den epistulae also gleichfalls
ausschließlich an Charta. Auch zu des Festus Zeit braucht man nicht
tabeUae, sondern ehartae für die Briefe, i) Auf einem Gemälde, das Apol-
linaris Sidonius carm. 22, 168 beschreibt, war ein Brief als Charta ab-
gebildet: ein schwimmender Soldat chartam madido transportat corpore
siccam.
Brief- Ujn die Chartabriefe aufzuheben, legte man sie in fasciculi zusammen, 2)
und zwar in fasciculi mit Aufschrift des i^bsenders oder des Adressaten. 3)
Die kaiserlichen Briefkonzepte wurden zu Rollen zusammengeklebt und
so in die Archive gelegt,*) die Brief massen selbst in Scrinien aufgehoben
(Seneca de ira 2, 23, 4). Daher sind scrinia epistularum soviel wie Archiv
(Plin. nat. hist. 7, 94).
Sonstige Natürlich Avurden einzelne Chartablätter nicht nur als Briefe, son-
Ver- .
Wendung dem aucli sonst zu Notizen, kurzgefaßten Urkunden, Rechnungen, auch
der schedae g^\^ Zauber und Amulett, massenhaft benutzt; das ist, was man schedae
nennt, 5) und auch in diesen Fällen trat dann vielfach nicht Rollung,
sondern Faltung mit scharfen Kniffen ein, entweder fidibusartig der
Länge nach oder auch in der Richtung der Höhe der Blätter, ß) Doch
brauchen wir hierbei nicht zu verweilen.
Gleich- So Weit das Schriftwesen, das sich in mannigfachen Formen außer-
[Medfr- halb dcs Bereichs der litterarischen Zwecke entwickelt hat. Besonders
Schrift auf Q^QY ig^ nocli liervorzuhebcn, daß es für Texte, auf die man den höchsten
zwei Be-
schreib- Wert legte, üblich Avar, sie gleichzeitig zweimal und zw^ar auf zw'ei
verschiedenartige Beschreibstoffe zu schreiben, um sich für die Erhal-
tung des Wortlauts größere Sicherheit zu verschaffen. Ebendies ist auch
für Ägypten nachgewiesen, für einen Erlaß, durch den eine Königin zur
Göttin erhoben werden soU.*^) Ich verweise zunächst auf die athenische
Bauinschrift Inscr. Att. I 324, wo für gewisse Aufzeichnungen gleichzeitig
zwei yaQTai und vier oavideg vorgesehen werden; beide sollen denselben
Text aufnehmen. Auch eine Inschrift von Priene vom Jahr 84 v. Chr.
redet von einer dinXfj ävaygacprj und zw^ar ev deQjuarivoig xal ßvßUvoig
TEvyeoiv („Rollen"). 8) Ganz ebenso ist es gemeint, wenn bei Jesaias 30,8
der Befehl Gottes steht: ygdyjov em iiv^ioi^ rama xal eig ßißliov (von
Dziatzko ganz mißverstanden). 9) Ebenso geschieht bei Demosthenes ;iar«
AiovvoodovQov p. 1283 eine geschäftliche Niederschrift ev yga/ujuareidicp dvöiv
yaXxolv ecovij/uevcp xal ev ßvßhöico jLuxocp jidvv. Nach Martianus Capeila 1, 89
schreiben auch die Parzen ein und dasselbe Schicksal gleichzeitig in librl
und in einer pugiUaris tabula (Wachstafel) nieder, w'oraus ich erkläre, daß
man auf etruskischen Aschenurnen gelegentlich ein und denselben Ver-
storbenen sowohl mit dem Jiber als mit der tahida ausgerüstet findet;
beide Buchformen deuten sein Schicksal, den zweimal aufgeschriebenen
Willen der Fata an. Und wenn endlich Aeschylus schreibt, Hiket. 946 f. :
Stoffen
1) Oben S. 286 Anm. 1.
2) Buchrolle S. 258, 3.
3) Siehe Oic. ad Att. 8, 5 fin.
*) Premerstein S. 738 u. 752.
^) lieber schedae s. auch unten S. 290.
6) Gardthausen S. 133 f.
'') Pietschmann in „ Beiträgen " I V S. 58.
8) W. Schubart, Das Buch S. 102; oben
S. 275 u. 282.
») Meine Auffassung wird gestützt
durch Blau, Rivista Israelit. S. 72.
^
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 289
ravx' Ol) mva^iv ioriv eyyeyga^ixeva
ovo' £v Jirv^aig ßißkcov xazeoffoayiofiiva,
SO ist diese Spezialisierung der Beschreibstoffe sehr auffälHg, und es be-
steht kein Zweifel, daß der König, der hier redet, sagen will: ich gebe
meine Zusicherung nur mündlich, aber dies ist ebensoviel wert, wie wenn
ich sie in doppelter Ausfertigung auf mvaxeg und in ßißloi mit meinem
Siegel gäbe.i) Daß man übrigens Dekrete zugleich auf Papyrus und auf
Stein aufsetzte, ist etwas ganz Geläufiges. 2)
B. Litterarisches.
1. Das Brouillon.
Nähern Avir uns hiernach endlich den litterarischen Dingen, so ist BrouiUon
das Brouillon des Schriftstellers zunächst vom edierten Text sorgHch und Mem-
zu unterscheiden. ^^«-"^
Wer dichtete, entwarf, konzipierte — Apuleius nennt dies praenotare
(met. 6,25)3) — , bediente sich dazu wiederum am liebsten der "Wachstafel.
Denn die unbrauchbar gewordene Schrift und jedes Versehen ließ sich da
auf das bequemste und sauberste wieder weggiätten. Die Nützlichkeit der
Wachstafel begründet in diesem Sinn Quintilian 10, 3, 31 ; Ovid met. 9, 521 f.
schildert das Verfahren. Solche Tafeln in der Hand der Autoren heißen
besonders oft codicilliA) Für Schwachsichtige aber war — nach Quin-
tihan — die Membrane vorzuziehen, weil hier die schwarzen Buchstaben
auf weißem Grunde deutlicher sichtbar waren. 0) Andererseits urteilten
die Ärzte, daß das Schreiben auf Membrane für das Auge angreifender
sei als das auf Charta, ß)
So macht denn in der Tat Horaz auf der Membrane seine Entwürfe,
und der Diener muß ihm dazu die Membrane reichen (Sat. 2, 3, 2 ; vgl. Ars
poet. 389).'') Ebenso macht es der Studierende bei Persius (oben S. 282).
Auch Cicero braucht dicp^eom für seine Vorarbeiten (ad Att. 13, 24), ebenso
Aristides (p. 292 Jebb). Auch Galen kennt sie nur im Dienst der Entwürfe,
v7toyga(pai{XY112 S.249) und vTzofivrnÄma (XVD 1 S.922); vgl. oben S.281.
Sicher aber war dies kein geheftetes Pergament (oben S. 282). Denn solche
Heftung wird nirgends angedeutet, und wenn Eumolpus bei Petron 115 auf
die ingens membrana seine Verse hinschreibt, so sehen wir die entfaltete
Pergamentrolle gradezu mit Augen. Noch Ausonius nennt (epist. 24, 23 f.)
die Skytale der Spartaner einen libellus Pergameus, versteht also unter
Pergament etwas Eollbares ; denn die Skytale wurde um den Stock gerollt.
Erst im Jahr 84 — 85 n. Chr. begegnen uns vereinzelt aus Membrane in pugiUares
hergestellte Codices oder richtiger piigiUares, bei Martial 14,7; vgl. 14, 184 '«^'«*~'^"
') Siehe Centralblatt 17 S.553; Buch- ] Diptychon mit der Elegie des Poseidippos
rolle S. 111; Neue Jahrbücher 19 S. 718 f.
2) Larfeld, Griech.Epigraphik2S.431 f.
3) Das Brouillon der kaiserlichen Re-
skripte u. ä. hieß periculum, Script, hist.
Aug. Marc. 11, 10; Premerstein S. 738.
*) Belege Buchwesen S. 95; über ein
s. H. DiELS, Sitz.ber. der Berl. Akad. 1898
S. 847 f.
5) Vgl. auch Martial 14, 5 über die pu-
giUares ehorei.
«) Buchrolle S. 302, 1.
') Hierüber Buchwesen S. 59.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 19
290 I^^s antike Buchwesen.
bis 192, die da sowohl für Herstellimg des Brouillons (dies betrifft 14, 7)
wie für Schulbücher dienen. Als Reisebuch erscheinen sie bei Martial I 2
(s. unten). Ihnen entsprechen die in einem Apollotempel dedizierten
pugiUai'es memhranacei operculis eboreis CIL. X 6. Die erwähnten Martial-
steUen lehren, daß auch Quintilian a.a.O. um das Jahr 90, wo er Membrane
für das BrouiUon empfiehlt, an ebensolche pugiUares gedacht haben kann,
auf Charta Endlich versteht sich, um das nicht zu vergessen, daß man das
Brouillon oder Autographum gelegentlich auch auf schlechte Charta hin-
warf (hierüber M. Krämer S. 55 f.) oder doch auf Einzelblätter der Charta.
Solche beschriebenen Chartazettel nannte der Römer i) schedae oder schidae
(s. oben S. 288). Die scheda erscheint als cJiarta scripta in den Glossaren
IV 422, 52; V 243, 10, und Isidor definiert: scheda est quod adhuc emen-
datur et necdum in lihris redactum est.^)
Paiim- Stand das Brouillon oder Autographum auf Charta, so wurde die zu
Charta und tilgende Schrift mit dem Schwamm weggewaschen, s) so wie Octavian seine
Membrane g^^ze Tragödie Ajax mit dem Schwamm wieder vernichtete. Solche Charta
hieß Charta deleticia, das Wegwischen ä7ia/.€iq)eir. Daher geben die Glossare
XOLQtYjg äjzdXmrog. Auch auf erhaltenen Papyri läßt sich mitunter Weg-
waschung von älterer Schrift noch konstatieren.*) Aber auch auf Mem-
brane wurde die Schrift ohne Zweifel vielfach durch Waschen getilgt;
das delere bei Martial 14,7, 2 braucht nichts anderes zu bedeuten. &) Dafür,
daß im Altertum die Schrift auf Membrane durch Radieren oder Kratzen
getilgt worden ist, habe ich kein Zeugnis. 0) Das Wort JiaUjuiprjorog be-
deutet jedenfalls ein Buch, in dem durch Waschen die Schrift wieder
entfernt ist; denn es wird grade speziell von der Charta gebraucht, auf
der sich nicht radieren Heß: so bei Plutarch ßißUov jtakljuipfjOTov (Cum
princip. philos. 4; vgl. De garrul. 5); entsprechend die Glossare xagri^g
äjzdXiJiTog. Das Verb um ipäv^ das in jiaAijuip7]OTog steckt, weist durchaus
nicht notwendig auf „kratzen"; es kann auch ein Abwischen und Ab-
reiben (mit Schwamm oder mit Bimstein) bedeuten. Ja, diese Bedeutung
ist die nächstliegende; d7ioifi]oao&ai heißt „sich abwischen" (Aristoph. Fax
1231; Plut. 817), und als Objekt tritt yßoag u. ähnl. hinzu; xarai^do} rijv
xe(pah]v heißt „streicheln" (Herod. 6, 61 u. sonst); ähnlich eipi^oe uiaQrjtdag
Apoll. Rhod. 3, 831. Jede Handschrift (oder Brief), sie sei Membrane oder
Charta, in der die erste Schrift durch Wischen getilgt ist, heißt somit
palimpsestus;'^) und wenn Catull das Wort braucht (22,5), steht es uns
frei, dabei an einen ydQTtjg tm denken,
juvenai In Anlaß des Brouillons muß hier endlich noch, da sie meist miß-
verstanden wird, die Juvenalstelle 7, 23 f. besprochen werden. Juvenai
1) Bei den Glriechen ist dieser Wort- ! *) Preisigke, Straßburger Papyri, 1
gebrauch von scheda unbekannt. S. 129.
2) Weiteres Buchwesen S.229; Blüm-
NER, Technologie S.315. Als Teil der Buch-
rolle erscheint schida bei Martial 4, 89, 4,
wo summa schida das letzte Blatt derselben
bedeutet; ebenso Plinius, oben S. 265 Z.35.
2) Siehe Marquardt-Mau S. 824; Wat-
tenbach S.300f.; Neue Jahrbb. 27 (1911)
S. 599.
^) Dies sage ich im G-egensatz zu Wat-
tenbach S. 302.
6) Noch im 7. Jahrhundert n. Ohr. war
Jedenfalls das äjiaXsiq)eiv üblich; s. die Stel-
len ib. S. 303 f.
^) Dies betone ich gegen ^hübart
S. 15. Belege auch bei Marquardt-Mau
S. 815; Buchwesen S. 57 f. u. 68.
II. Verwendung der Beschreibst oflfe. B. Litterarisches. 291
redet von den Dichtern, die, da sie von ihrer Poesie keinen Vorteil haben,
besser täten, ihre Werke zu verbrennen. Dabei werden zugleich membrana,
tahellae und lihelli erwähnt:
Si . . . croceae membrana tabellae
Implentur, lignorum aliquid posce oeius et quae
25 Oomponis, dona Veneris, Telesine, raarito
Aut clude et positos tinea pertunde libollos.
Frange miser calamum.
^Hast du etwas gedichtet, so verbrenne oder verschließe es; zerbrich
jedenfalls das Schreibrohr." Ob man im v. 24 implentur oder imjMur
best, ist für die Sache, die uns hier beschäftigt, einerlei. Ich nehme
mernhmna als vulgären Plui-al des Neutrums, i) Wer aber glaubt, hier
werde auf Membrane gedichtet oder gar Reinschriften hergestellt, der
kann nicht lesen. Denn dazu paßt erstlich und vor allem implere nicht;
kein Mensch sagt implere chartam oder memhranam für „schreiben"; man
wird umsonst dafür nach irgendeinem Belege suchen. Zw^eitens kann
man Pergament nicht wie Papier verbrennen, oder es gäbe einen ent-
setzlichen Gestank; das kann also Juvenal hier nicht fordern; drittens ist
die zum Schreiben präparierte Membrane nicht crocea, „krokusgelb"; 2)
eine solche Farbenangabe wäre auf jeden Fall höchst befremdhch. Viel-
mehr w^eist dies Adjektiv auf künsthche Bemalung liin. Also sind mit
membrana die ledernen Paenulae gemeint, in die man die fertig beschrie-
benen Rollenbücher aus Charta einhüllte und die in der Tat stets bunt
gefärbt wurden. 3) Erst w^enn wir dies ansetzen, erhält implere guten Sinn:
die Buchhüllen sind mit Text „vollgefüllt", membrana implentur, da nämlich
das Buch in ihnen steckt. Aber auch die sonst überflüssigen Worte quae
componis erhalten jetzt Zweck und Sinn: nicht die membrana, die Hüllen
selbst, sondern das, was du dichtest (quae componis), d. h. das Buch, das
in den Hüllen steckt, soll verbrannt werden. Dieselbe Erklärung wird
aber überdies auch noch durch libelli und durch tinea im v. 26 erzwungen;
denn libelli sind der Regel nach durchaus Chartarollen, und die tinea ist
die Feindin der charta: diese also ist es, die hier verbrannt oder im Schrank
verschlossen werden soll.*) tabella im v. 23 bedeutet soviel wie Blatt (s. oben
S. 286). Also besagt der v. 23 : „Die Pergamenthüllen, die aus krokusfarbenem
Blatt bestehen, w^erden ausgefüllt oder mit Inhalt versehen (implentur). ^^
^) Der Scholiast zu Persius 3, 10 ist so
sehr an das Neutrum membranum gewöhnt,
daß er anzumerken für nötig hält : et no-
tandum feminino genere membrana.
'^) Die hicolor membrana bei Persius 3, 10
wird vom Scholiasten dortselbst auf zweier-
lei Weise erklärt : aut quae hicolor facta est
ut posuit capülos; das ist das Eichtige, s.
oben S. 282; aut merito hicolor, quod pars
crocea, pars glutinata apud antiquos erat;
hier ist jedenfalls nicht an zum Schreiben
präparierte Membrane gedacht; das zeigt
schon das glutinata; es nützt also nichts,
den liber membianaceus crocatus aus dem
J. 680 n. Ohr. (Wattenbach S. 138) zu ver-
gleichen ; mutmaßlich meint der Scholiast
vielmehr die „paenula".
3) Dabei kann croceae tahellae als No-
minativ des Plural und als Apposition zu
membrana gefaßt werden ; so Winterfeld
in Gott. gel. Anz. 1899 S. 897. Aber nötig
ist dieser Ansatz nicht; vgl. die Genitive,
die ich Buchrolle S. 242 besprochen. Der
Oxforder Juvenalvers 6, 365, 11 kann nicht
zum Vergleich dienen. Die Worte pulsa-
tamque arma tridentem sind dort sicher ver-
derbt; Leos Aenderung der Stelle hat frei-
lich wenig Wahrscheinlichkeit; es liegt viel
Tiaher^pulsantem^e arma tridentem zu lesen.
*) Aehnlich urteüte schon Blümner,
und Friedländers Einwände gegen ihn sind
nichtig.
19*
292
Das antike Buchwesen.
So viel vom Brouillon der Schriftsteller. Mit ihm ist aber das Schreib-
heft der Schulknaben verwandt, da auch die ungeübt schreibenden
Schüler stets ändern und korrigieren oder sich korrigieren lassen müssen,
und so steht es denn wirklich mit diesem ähnlich wie mit jenem. Auch
die Schreibübungen der Knaben geschahen, um von den Ostraka abzusehen
(oben S. 254), auf Wachs- oder Holztafeln i) wde auf schlechten Lappen
von Charta, oft opisthographisch, 2) endlich aber auch auf Pergament. 3)
2. Buchbegriff und Buchgröße.
liber.iibeiius Wenden Avdr uns endhch den Htterarischen Werken selbst zu und
fragen, auf welchem Material sie zum Zweck der Veröffentlichung
geschrieben wurden. Es handelt sich jetzt um Edition. Dabei ist
terminologisch noch zu erinnern, daß, wie liber und ßißlog überall die
Papj^rusrolle bedeutet, so auch die Deminutiva ßißUov, lihellus allermeistens
in demselben Sinne zu verstehen sind. Gleichwohl könnte man sich
denken, daß bei lihellus und ßißUov infolge der Ableitungssilben die kon-
krete Vorstellung des Materials des „Bastes" und des „Papyrus" leichter
verloren ging, und so wäre die Möglichkeit offen zu halten, daß da, wo
diese Deminutiva für „Brief" oder Aktenstück stehen, eventuell auch an
eine Wachstafel gedacht sein kann ; ^) doch besitze ich dafür keine sicheren
Belege (oben S. 274 u. 264). über kann nie Teil eines Buches heißen, aber
auch lihellus erscheint als Buchteil nur ganz ausnahmsweise; ich habe es
nur für Statins' Silvae nachweisen können, wo die fünf Bücher selbst
lihri, die Einzelgedichte in denselben konsequent lihelli heißen: Buchwesen
S. 24; dies hat aber eine schöne Analogie in dem liber libellorum rescrip-
torum^ worüber Mommsen, Schriften II S. 183 f. ; oben S. 270.
Veröffent- Die goroUten libri lintei und volumina plumhea kommen für Publi-
duich^Aus- kationszwecke kaum in Betracht; denn sie gehören unentwickelteren Zeiten
steHungaiif an. Wohl aber blieben die Lindenbastrollen oder -tafeln, wennschon immer
stein in engen Grenzen, doch für litterarische Texte dauernd in Gebrauch, in
Rom wie bei den Griechen. 0) Eine gewisse Art der Veröffentlichung war
sodann auch das öffentliche Ausstellen eines Exemplars; in dieser
Weise w^urden Gemälde, Landkarten, Gesetze veröffentlicht, d. h. dem
Publikum, das sich Kopie nehmen konnte, zugänglich gemacht ; ^) in der-
selben Weise aber auch htterarische Werke.'') Ein berühmtes Beispiel
dafür ist die Chronik, die man das Marmor Parium nennt (ed. F. Jacoby,
1904); ebenso wertvoll eine inschriftlich in Bruchstücken erhaltene Ge-
schichte der griechischen Komödie ; ^) weiter erwähnenswert die Grabrede
i)Marquardt-Mau S. 802 ; Gardthau-
SEN S.36U.44; Babriostafeln oben S. 261;
über Schultafeln Kenyon, Journ. of hellen.
studiesXXIX S.29f.; Ziebarth, Aus dem
griechischen Schulwesen S. 106 K
2) Martial 4, 86, 11.
') Dies wenigstens in den Ehetoren-
schulen: Liban. I S. 238 E.
*) In der Sprache der Urkunden heißt
ßißUov ständig Eingabe oder Aktenstück:
Schubart S. 23. Und zwar kennen die
ägyptischen Pap^^ri anscheinend nur die
Schreibung ßißUov, nicht ßvßUw.
^) Siehe Galen u. Mart. Capella oben
S. 253 u. 281.
^) Zur Weltkarte des Agrippa vgl. D.
Detlefsen, Ursprung, Einrichtung und
Bedeutung der Erdkarte des Agr,, 1Ö09.
') In diesem Sinn fassen die Juristen
öfters den Begriff edere auf; s.Ulpian unten
S. 308.
8) A. Körte, Ehein. Mus. 60 S. 444 fL
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 293
des Vespillo auf Turia, CIL. VI 1527; des Kaiser Claudius Lyoner Rede,
auf Bronze ; sodann die lex Tappula, eine satirische lex convivalis, über die
Festus und Yalerius Maximus berichten; dieselbe oder doch ein damit nahe
verwandter litterarischer iocus hat sich auf einer Bronzetafel gefunden, i) Der
attische Redner und Staatsmann Lykurg schrieb einen Rechenschaftsbericht
über sein eigenes Leben und Wirken nieder und weihte den Text dann
inschriftlich auf einer Stele (äve&7]x£v ev oTi)]lrj) am Eingang der von ihm
gestifteten Palästra. Dies ist als ein Vorläufer für das Monumentum Ancy-
ranum, den großen Rechenschaftsbericht des Kaiser Augustus, erwähnens-
Avert. Der Rechenschaftsbericht des Augustus fand sich ursprünglich in
Buchrollen in seinem Nachlaß vor. Er wurde als Inschrift veröffent-
licht. 2) So war auch das Relief der Trajanssäule, das zum Überfluß deut-
lich die Form einer Buchrolle nachahmt, die Publikation eines Bilder-
buches mit Darstellungen vom dakischen Krieg; 3) und der antike Fries,
ob skulpiert oder nur gemalt, ist überhaupt nichts als die monumentale
Schaustellung solcher Bilderbuchrollen oder imaginum libri an den Häuser-
wänden.^)
Wenn wir von diesen Fällen, die für unsere litterarischen Interessen yeröffent-
geringere Tragweite haben, absehen, so war der einzige Träger der lit- ^^bu^I
terarischen Texte der Griechen und Römer, wenn sie durch Edition dem
Publikum übergeben wurden, die Papyrusrolle, ßvßXog^ Über.
Die Buchteiluns: der antiken Autoren ist hierauf zurückzuführen. Das Maximai-
T ••-r^ii- • 1 • ^ Ti 1 uiJafang des
Lesen m einer Rolle ist, Avenn sie zu lang ist, unbequem; daher sah gerollten
man darauf, daß eine solche nicht mehr als 3 — 4000 Zeilen, d. i. etwa ^"^^^^
100 Schriftspalten entliielt; bei Gedichtbüchern, die noch mehr auf das
äußerliche Gefallen berechnet w^aren, ging man auf 1000 Zeilen, das sind
etwa 30 Kolumnen, im Maximum zurück. Schon Isidor sagt, Orig. 6, 12:
Gedichtbücher und Briefbücher sind dünner, Historienbücher umfang-
reicher. 0) Manche Prosaautoren und nicht nur die Epistolographen, ad-
optierten dann aber das geringere Format des Gedichtbuchs, so vor allem
die Romandichter.
Die Autoren Avaren also gezAVungen, ihre größeren Werke nach Büchern J®"^^"^^^
zu disponieren, d.h. ihren Stoff auf mehrere RoUen zu verteilen; und da- auf Bücher
durch wurde weiter das Streben hervorgerufen, den Inhalt jedes Buchs
nach Möglichkeit in sich abzurunden, jedes Buch als Werkteü zu ver-
selbständigen; denn jedes ruhte immer allein in der Hand des Lesers.
Aus dem Gesagten erklärt sich aber Aveiter, daß jedes Buch der Aeneis,
des Li\ius u. s. f. in der Überlieferung von neuem die volle inscriptio und
subscriptio trägt, die Werk und Autor immer wieder nennen. Dies hatte
nur Sinn, Avenn, wie Avir nun schon hinlänglich erkannt haben, jedes Buch
als Rolle für sich umging, und ist aus den Rollenaufschriften in die
Sammel Codices des Mittelalters treu übernommen worden.
Buch und Rolle sind hier überall identisch. Ausnahmen hierzu gibt
*) Schanz, Eöm. Litteraturgesch. § 60.
') U eher Lykurg und Augustus s.Buch-
ToUe S. 276, 3.
») Mehr Beispiele Buchrolle S. 270.
*) Buchrolle S. 309 ff .
^) Genaueres hierüber Buchwesen
S. 287—333.
294 ^^^ antike Buchwesen.
es nicht. Zur Buchterminologie stimmt der Tatsachenbefund durchAveg;
denn der CalHmachuspapyrus, der zugleich den Schluß der Airia und den
Anfang der "lajußot des Calhmachus mit Subskription und Inskription ent-
hält, bildet dazu nur eine scheinbare Ausnahme (s. unten). Wohl aber
trat bisweilen der Fall ein, daß ein fertig gestelltes Buch sich bei der
Edition als zu dick erwies und nachträglich noch weiter in zwei Rollen
zerlegt wurde. Dies ist bei Diodors erstem Buch, ist bei Cicero De gloria
wie bei Yellejus geschehen ;i) auch beim älteren Phnius. Drei Bücher
desselben wurden in sechs geteilt (Plin. epist. 3, 5, 5). Vielleicht ist es-
mit des Plinius Naturgeschichte ebenso gegangen.*) Auch Pausanias sah
sich so gezwungen, seine Eliaca in zw^ei Bücher zu zerteilen. Alsdann
finden wir in den Herculanensischen Rollen den Vermerk: tmv eig ovo ro
ngöregov und rcav eig ovo ro ß' (Philodem).
In alledem zeigt sich, w^as sich auch sonst wahrnehmen läßt, daß die
antiken Autoren einen möglichst gleichmäßigen Umfang ihrer Rollen an-
strebten {oTox(i^so§ai TYJQ ovjujuETQiag).^)
Weil das Volumen einen herkömmlichen Umfang hat, daher sagt
Plinius epist. 7, 4, 8 unum volumen dbsolvere, und Vellejus spricht 2, 119
von iusta Volumina. Auch öXov ßißXiov ist ein häufig wiederkehrender
Terminus, der dasselbe ausdrückt und uns einmal auf 1000 Zeilen ver-
anschlagt wird.*) Aber auch schon das kurze Über ut fieret bei Ovid ex
Ponte III 9, 51 ist ebenso gemeint. Die Rolle ist ein festes Raummaß.
Monobibia Ein AVcrk ohne Buchteilung heißt /uovoßißlog oder juovoßißkov. Nie-
mals aber übertrifft eine Monobiblos an Umfang den Umfang eines Einzel-
buchs mehrbücheriger Werke.
Minimal- Hiermit ist das Maximalmaß angedeutet. Blicken Avir auf das Minimal-
^°^^^°|^^^^maß, so sind die Bücher mehrbücheriger Werke nicht leicht kürzer als
800 oder 700 Zeilen. Die auffällige Kürze der vier Georgicabücher Ver-
gils, die sich gleichmäßig auf 500 — 600 Verse beschränken, läßt sich wohl
nur daraus erklären, daß sie von vorneherein mit den eingelegten Ab-
bildungen, die uns erhalten sind und die viel Raum wegnahmen, erschienen
(Buchrolle S. 296 Anm. 2). Wolil aber konnte gelegentlich eine Monobiblos
noch kürzer und dünner als sie sein und sich, wie ein Brief, auf ein bis
zwei Blätter reduzieren, falls man nämlich zu einem so kurzen Gedicht
wie dem Carmen saeculare des Horaz nichts Gleichartiges fand, mit dem es
in ein Buch normalen Umfangs hätte zusammengeordnet Averden können. &)
Sehr winzig waren z. B. auch die Rollen, in denen die Atellanen standen
oder die Reden des jüngeren Scipio.^) Von auffälligen Formaten wird
darmn gelegentlich mit Hervorhebung gesprochen; von einem ;paucorum
versuum Über redet so Seneca epist. 93, 11 mit Betonung, von einem ßißUov
jbiixQÖv berichtet Plutarch im Pompejus 79 und im Brutus 13, von einem
über grandis dagegen Plinius epist. 1, 20, 8; 2, 1, 5, und die naymi^g tov
1) Sprockhoff a.a. 0. S.52ff.; Buch- 1 Weiter ist dies im Buchwesen S. 316 ff.
wesen S. 318 f. ; oben S. 276. I ausgeführt.
2) Buchwesen S. 316 u. 349, 2.
3) So z. B. Hipparch in Aratum am
Schluß des Buches II (S. 216 ed. Manitius).
4) Buchrolle S. 218 Anm. 1.
5) Hierüber s. Catalepton S. 9.
6) Buchrolle S. 217 Anm. 1.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
295
ßißliov hebt Philostrat Apoll. Tyan. 4,80 hervor; na'/v ßißUov auch Lucian
15, 26. Solche Bemerkungen betreffen aber stets nur Monobibla.
Dies System, durch das die Bücher oder Rollen auf ein Maximum
von etwa 4000 Zeilen in der Prosa, 1000 Zeilen in der Poesie normiert
wurden, nenne ich das Kleinrollensystem.
teilungen.
3. Das Großrollensystem der älteren Zeiten.
Dies Kleinrollensystem hat indes nicht immer und nicht von vorne- voraiexan-
herein gegolten. Die alten Ägypter stellten auch Papyrusrollen von ß^uchwesen
exorbitanter Länge, bis zu hundert Fuß, her, die dann also auch viel
umfangreichere Textmassen aufzunehmen imstande waren. Dieselben
Ägypter unterschieden gradezu beim Zitieren mit festem Terminus „kleine
Bücher"!) und „große Bücher". 2) So haben sich nun auch die Griechen
der voralexandrischen Zeit, wo die Sache es erforderte, viel größerer Größere
Hollen bedient, als wir sie bisher vorausgesetzt haben. Darüber, daß Fehlen Ter
alle Buchteilungen bei ihnen unecht, besteht kein Zweifel ; denn die Ein- Buch-
schnitte, die vorliegen, sind vielfach ganz unsachgemäß : das betrifft Piatos
Staat und Gesetze, Herodot, Thukydides, Xenophons Hellenika, den Homer
selbst. In einzelnen Fällen, wie für Thukydides, wird es uns in der Über-
lieferung auch gradezu ausgesprochen, daß das Werk ursprünglich ungeteilt
vorlag ; auf dasselbe führt aber auch die Wahrnehmung, daß Thukydides,
Xenophons Hellenika und andere Werke im Altertum in verschiedenen
Buchteilungen umgingen, von denen dann offenbar keine auf den Autor
selbst zurückging. Ursprünglich sind diese berühmten Werke also in ge-
waltige Konvolute ohne alle Einteilung eingetragen worden, s) wie wir sie
auch auf Abbildungen der älteren Zeit wirklich wahrnehmen.*) Thuky-
dides zerfiel in zwei solche starken Konvolute; da, wo er sich selbst
nochmals als Autor nennt, bei V 26, begann das zweite. Immerhin aber
konnte, wer sich solches umfangreiche Werk erwarb, die ungegliederte
Textmasse dann selbst nach eignem Belieben in irgendwelche Abschnitte
oder rojuoi zerschneiden. 0) Der Ausspruch des Callimachus rö jueya ßißXiov
ioov eivai xw jueyd?iCp xaxco (Athenaeus p. 72 A) hatte jedenfalls hierauf Be-
zug. Wer den analogen Ausspruch des Plinius epist. 1, 20, 4 bo7ius Über
melior est quisque quo^maior vergleicht, erkennt, daß auch jener wie dieser
die Dicke der Rollen anbetraf. Mit solchem Ausspruch hat Callimachus
das Verfahren, von dem ich redete, begründet, und die ungefügen großen
Rollen wurden bald nach ihm durch die alexandrinischen Philologen und
Verwalter des Litteraturerbes in Serien kleinerer Rollen zerlegt, d. h. die
Buchteilung eingeführt. Callimachus war anscheinend der erste, der dies
Postulat erhob, und die Forderung mußte sich ihm aufdrängen, da er die
Calli-
machus
^) Buchwesen S. 49 Anm.
2) Buchrolle S.19. Dazu die vier Zauber-
bücher, die als the old book, the book to
destroy men, the great book, the book
to be as God unterschieden werden : s. Ee-
cords of the Fast, VI, Eg;y^ptian texts, S. 122.
3) Dies ist zuerst Buchwesen S. 444 ff.
dargelegt, revidiert und gesichert Buch-
rolle S. 2i5 f. Zu Homer vgl. A. Römer,
Sitz.ber. d. bayer. Akad. 1907 Heft 3 (1908)
S.498.
4) Buchrolle S. 216 u. 217 ; dazu Abb. 90.
^) Buchwesen S. 464.
296
Das antike Buchwesen.
große alexandrinische Bibliothek inventarisierte, also in den wüsten Groß-
rollen der älteren Zeit sich zurecht zu finden hatte.
Einteilung ]V[an muß gestehen, daß die Gresichtspunkte, nach denen man nun
Alphabet die Teilungen vornahm, gelegentlich sehr äußerliche waren. Das betrifft
besonders Homer, dessen Werke die Anordner als zweimal 24 Bücher
nach den 24 Buchstaben des Alphabets einteilten und numerierten. Schon
in den Anfangsbuchstaben MH{viv) der Ilias fand man die Zahl 48. Um
dies richtig zu würdigen, sei verglichen, daß, wie Athanasios berichtet,
auch das Alte Testament nach den 22 Buchstaben des hebräischen Alpha-
bets geordnet worden ist: 5 Bücher Mose, 1 Jesus Nave, 1 KQirai, 1 Ruth,
2 Baodixöjv (von den 4 Büchern heißt es, daß je zwei eig ev ßiß)dov ägiß-
ßeTTai)y 1 Paralipomena (die 2 Bücher als fV), 1 ßlßXog Wakjucbv, 1 Uaooi-
juiai, 1 Ekklesiastes, 1 Asma asmaton, 1 'layß, 1 Zwölf Propheten (als ev),
1 lesaias, 1 leremias (xal ovv aviib BaQovyi Ggijvoi eTtioroh]), 1 Hezechiel,
1 Daniel: gibt 22. i)
Die Autoren, die zuerst ihre Werke so abfaßten, daß sie sie selbst
räumlich und sachlich in Werkteile zerlegten, waren dem Anschein nach
Ephoros und Theopomp, die Historiker, sowie Aristoteles in seinen Dia-
logen. 2)
Länge der Man hat sich gesträubt, das Großrollensystem, das sich uns füi- die
Rollen -^iiQYQ ^cit hieiTnit ergeben hat, anzuerkennen. Als einziges Argument
dient dabei, daß Bücher von 50 bis 100 Fuß Länge zum Benutzen doch
zu unpraktisch gewesen sein müssen. Aber durch solche Bedenken lassen
sich Tatsachen nicht beseitigen, wie ich sie „Buchrolle" S. 216 aufgezählt:
denn sogar auf Abbildungen wird uns die Ilias unzweifelhaft als eine
Buchrolle vorgeführt. Und wenn Alexander der Große seine Narthex-
Ilias, wie Plutarch, Alex. 8, erzählt, immer unter dem Kopfkissen liegen
hatte, so wird Plutarch nicht geglaubt haben, daß das wirklich 24 kleine
E-öUchen waren. s) In der Tat eine königliche Mühe, die vierundzwanzig jede
Nacht unter dem Kissen anzuordnen ! Die alten Ägypter schrieben und lasen,
wie gesagt, in so langen Buchrollen; von den Ägyptern aber lernten die
Griechen zunächst den Umgang mit dem Buch. Und wem dies nicht genügt
oder zu ferne liegt, der denke an die Rotuli longissimi, deren sich auch
noch das Mittelalter in vielen Fällen tatsächlich bedient hat: ExultetroUen,
WappenroUen, Nekrologien, die noch jetzt vorHegen, deren viele Wattenbach
S. 163 ff. aufzählt und die gelegentlich 11 oder 23 Meter lang sind; im
Louvre gar eine Rolle, die aus 100 aneinandergenähten Pergamentblättem
besteht, jedes von reichhch 2 Fuß Länge (ib. S. 174). Das ergibt 200 Fuß. „Die
päpstlichen Gesandten, welche im Jahre 1320 in den Streitigkeiten zwischen
Polen und dem deutschen Orden Verhöre anstellten, ließen den ganzen
Prozeß in zwei Exemplaren auf 17 Ellen langen und 9 Zoll breiten Rollen
verzeichnen, deren Unbequemlichkeit nur der vollkommen würdigen kann,
welcher sie abgeschrieben oder kollationiert hat; eine einzige Stelle darin
1) Athanasios epist. 39 : Migne, Patrol.
graec. 26 S. 1436.
2) Buchwesen S. 461—476 ; Ed. Meyer,
TheopompsHellenika, Halle 1909 ; Gt.Engel,
De antiqu. epic. didact. historicorum pro-
oemiis (1910) S. 48 f.
oemiis (1910) ... ^^ ..
3) Buchrolle S. 338.
IL Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 297
zu suchen, kann zur Verzweiflung bringen." So Wattenbach S. 170. Diese
Rollen des Mittelalters sind also gleichfalls höchst unbequem und bringen
den Benutzer zur Verzweiflung, aber sie existieren doch. So war es
auch bei den Griechen.
4. Eintragung der Schrift in die Rolle.
Bevor wir uns dem Editionsverfahren selbst zuwenden, seien noch
einige Beobachtungen über das gerollte Buch und seine Benutzung voran-
gestellt.
Die Schrift konnte in der Buchrolle in langen, ununterbrochenen Schrift-
Zeilen stehen, die über alle Klebungen und BlattgTcnzen hinwegliefen ; ^ ^°^^^^
sie konnte auch in der Richtung der Rollenhöhe laufen. Sowohl dieses
Avie jenes Verfahren, das eine Spaltung des Textes vermied, wurde in
Diplomen, wie auf den ravennatischen Papyri, beliebt, ist aber auch auf
Abbildungen von Büchern zu sehen, i) Für eigentliche Buchschrift da-
gegen war das Übliche, und zwar schon bei den Agj^tern,^) die Schrift
auf Spalten zu verteilen. Diese Spalten heißen dann, wie die Blätter
selbst, paginae, oeUdeg, und diese Bezeichnung setzt voraus, daß man
prinzipiell immer eine Schriftspalte auf eine Seite der Rolle setzte. Doch
wurde unendlich oft auch über die feinen Klebungen und Seitengrenzen
hinweggeschrieben, und die Zeilenlänge und Breite der Kolumnen wechselt
deshalb in "Wirklichkeit sehr. Besonders gering ist sie z. B. oft in den
herculanensischen Rollen. Diese Kolumnen w^urden dann häufig auch
numeriert, s)
Die Schriftspalten im Rollenbuch heißen auch düroi, welches Wort ^^Atoc
nicht kurzerhand mit „Schrifttafel" übersetzt werden darf, sondern zum
wenigsten in älterer Zeit Schriftspalten auf jedwedem Material be-
deutet. dÜToi ist keine Stoff bezeichnung, sondern bedeutet Türen; „Tüi-"
aber war der übhche Ausdruck für Schriftspalte.*) Die Tragiker Athens
vermeiden das Wort ßißUov, ebenso wie das Wort mva$; von orphischen
Sprüchen sagen sie, daß sie ev oavioiv stehen (Eur. Alk. 967) ; Aussprüche
der oo(poi stehen dagegen auf düroi (Eur. fr. 370 v. 6) ; aber auch eine Er-
zählung der Musen, also ein Dichtwerk, über Helenas Geburt findet sich
er dÜToig, Iphig. Aul. 798. Schon hier Hegt es nahe, Buchspalten zu ver-
stehen. Dasselbe gilt vor allem von Aristoph. Thesmoph. 778 mvdxojv
^eoTOjv dekroi, vio eine Tautologie vorläge, wären dehoi = mvaxsg. Das
Wort ist Schriftkolumne, Schriftseite. Daher auch die dürog yaXxri dvo-
viJiTog Soph. Trach. 684, wo der Zusatz ;jaA>tf»] verständlich wird, wenn
deXrog selbst kein bestimmtes Material bedeutet. 5) So sagt denn auch der
M Buchrolle S. 189 Abb. 126; auch
Abb. 118 und S. 228; 320 f.
2) Vgl. Gr. Möller, Hieratische Paläo
^raphie ; die ägyptische Buchschrift in ihrer
4) Blau, Althebr. Buchwesen S. 116;
oben S. 250 f.
5) Vgl. ysvecdoyiag ix deXtcov xo^->ion>, Suidas
s.'AxovoiXaog, und 6£/roi'?;ifa^a?Lucian Alex.
Entwicklung bis zur römischen Kaiserzeit, 10 u. sonst. Höchst verkehrt schließt Gardt-
Bd. I Leipzig 1909 i hausen S. 125 aus diesem Ausdruck, „dab
3) Buchwesen S.159f.; Dziatzko bei - Deltos auch die Erztafel bezeichnet"; nein!
Pauly-WissowaIIIS.952;HÄBERLL\Nr.79; I nicht Deltos, sondern nur ^^Uro? ^cOx^be-
The Oxyrhynchos Pap. IV Nr. 657. | zeichnet die Erztafel; ebenso verkehrt S.124:
298 Das antike Buchwesen.
dichtende Pigres von seiner Batrachomyomacliie, v. 3: ev dekroioir si^tjxa
xrjv äoidriv, d. h. „in Spaltenschrift legte ich meinen Gesang nieder" und
fügt hinzu: efioTg im yovvaoi. Daß nun ein auf einer Schreibtafel befind-
liches Schriftwerk auf den Knien liegt, dafür gibt es meines Wissens auf
den Bildwerken, die uns den Menschen mit dem Buch vorführen, kein w
Beispiel. Wohl aber war es Herkommen grade der älteren Zeit, daß die ^
offene Rolle so auf den Knien Hegt; man betrachte in meinem Buch
„Buchrolle in der Kunst" die Abbildungen 17 (äg^^tisch), sodann 90; 91;
92; außerdem 95 u. 120. Am nächsten aber liegt es, mit Pigres das Sitz-
bild Pindars zu vergleichen, das ebenso etzI töjv yovdxcov ävedr/juevov ßißUov
liielt (Aeschines Epist. 4). Die öeItol befinden sich also bei Pigres wie
bei Pindar im ßtßXiov, das geöffnet auf den Kjiien aufliegt. Besonders
zwingend scheint mir endlich auch noch das Gedicht Posidipps über das
Alter,!) wo die Musen erscheinen als yQaifdjtievai de/aovg er xQvoeatg oeUoiv.
Denn hier ist deXxovg Objekt zu ygdcpeiv, die öeXxol sind also etwas, was
geschrieben wird, sie sind also kein Beschreibstoff, sondern Schrift; und
zwar sind sie Schriftkolumnen; denn sie befinden sich auf den Seiten
{oeUÖEg) einer Rolle, die hier als in Gold nachgeahmt oder mit Goldsclimuck
versehen (s. oben S. 257 f.) gedacht ist. Daher heißt denn endlich delxooy
einfach „schreiben" (Aeschyl. Suppl. 179 = 185; s. schob); und auch Eun
Palamed. 582, 9 ist öeXxog lediglich Schrift und keine besondere Buchform»
Doch ich breche ab. Daß öeXxog im Lauf der Zeit immer häufiger zur
Bezeichnung von Tafeln verwendet wurde, läßt sich nicht leugnen. Aber
auch ein ganzer Schriftkomplex, ob Polyp tychon oder Rolle, heißt ge-
legentlich ebenso. 2)
CatuU c 22 über das Schreiben selbst und seine Hilfsmittel hat die Paläographie
und Papyruskunde Auskunft zu geben. Gleichwohl sei eine dahingehörige
Schilderung CatuUs, c. 22, weil sie auch sonst Interesse bietet und oben-
drein eine Unklarheit enthält, hier in Kürze vorgeführt. Es handelt sich
mn den sclilechten Dichter Suffenus:
Puto esse ego üli müia aut decem aut plura
5 Perscripta, nee sie ut fit in palimpsesto
Celata: chartae regiae novae Hbri,
Novi nmbihci, lora mbra membranae;
Derecta plumbo et pumice omnia aequata.
Hier ist der Text nach den Handschriften gegeben; nur wird v. 6 i^elata
statt celata, v. 8 detecta statt derecta überliefert. Die erstere Änderung
ist ungCAviß, die zweite ist überzeugend. Bei keiner von beiden brauche
ich hier zu verweilen. Es ist klar, daß liier Bemerkungen über die Aus-
stattung der Reinschrift, libri aus neuem Königspapier, neue Rollenstäbe
und rote Riemen aus Leder, vorangehn; dann folgt im v. 8 die Schrift
„^f'Aros- ist ohne Frage ursprünglich die Holz- ! ichCentralblattf.Bibliotheksw.l7S.548ff.,
tafel: daher öüxog y.vjtaoiooivrj." Nicht Öüzog \ Buchrolle S. 155, 2 u. 210, Ehein. Mus, 63
selbst, sondern nur dsXrog HVJiagiooivt] ist
Holztafel.
1) Siehe Diels, Sitz .her. d.Berl.Akad.
1898 S. 851.
2) Dieser Gegenstand ist jedenfalls zu
retraktieren. Das oben Vorgetragene habe
S. 41 begründet. Weiteres Material bringt
Gardthalsex S. 37 f . ; 124 f., bes. nach Wil-
helm in Sonderschriften des österr. arch.
Instituts VII (1909) S. 240 f. Vgl. Histor.
Vierteljahrsschrift 1912 S. 400 und oben
S. 286 u. 259, 4.
■f^j^
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 299
selbst; in diesen Zeilen wird nun das derecta plumbOy wie ich meine, erst
dann verständlich, wenn man zu omnia aus dem Yoraufgelienden decem
milia versuum mit plura aufs neue ergänzt. Also: alle milia versuum sind
mit dem Bleilineal „gerichtet" oder zwischen Linien gestellt; weniger
verständlich ist alsdann aber das pumice aequata; denn nicht die Tausende
von Versen selbst wurden mit Bimstein geglättet, sondern nur die Charta
vor dem Beginn des Schreibens, i) Hier scheint also eine Ungenauigkeit
des Ausdrucks vorzuliegen. Auf das Linienziehn im Buch spielt auch
das tendere versum bei Persius 1, 65 an. Und zwar wurden vor allem nur
senkrechte Linien gezogen, die die Schriftkolumnen einfaßten, 2) während
wir innerhalb derselben die Zeile selbst meist frei schweben sehen.
Es gilt nun also — nach Catull — als ein Zeichen besonderer Ele-
ganz, wenn die Schrift im Buch zwischen Zeilen stand.
Die äußeren Endteile der Rolle, das Protokoll und das Eschatokoll, (^ornua-,
bheben, Aveil die Schrift hier zu leicht Schaden genommen hätte, un- letztes
beschrieben. Sie wurden häufig verdickt und geweißt und heißen cornua.^) ^^*" ^^^"^
Wenn Martial XI 107 schreibt: explicitum nohis usque ad sua corniia lihrum
et quasi perlectum . . . refers, so fehlt jede Nötigung, ja, jede Berechtigung,
cornua vom Rollenstab, der nach der irrigen Vorstellung mancher Gelehrter
Knöpfe gehabt haben soll, zu verstehen. Martial macht es uns hier viel-
mehr so deutlich wie möglich, daß cornua das erste und letzte Blatt der
offenen Rolle sind; denn explicare heißt, wie evolvere, nicht „zu Ende
rollen", sondern „auseinanderrollen" (oben S. 272). Hier wird das Buch
von dem übereifrigen Leser bis zur ersten und letzten Seite aufgetan.*)
Auch bei den Juden ti-ugen die Endteile der Rolle, die cornua, keine
Schrift. 5)
Man sollte erwarten, daß nun hinter dem leerstehenden ersten Blatt An-
auf der Innenseite der Rolle zunächst das Titelblatt folgte, daß also der d^^liteS
Text im Rolleninnern durch den vorangestellten Buchtitel eröffnet wurde.
Indes haben sich hiergegen berechtigte Zweifel erhoben, und sicher ist,
daß die Titelaufschrift oft nur an der Außenseite der Rolle zu lesen stand.
Im althebräischen Buchwesen hatten die Rollen keine Titel, und beim
Zitieren dienten zur Benennung des Buchs die Anfangsworte seines Textes.
Allerdings nimmt Blau an, daß ursprünglich doch solche Titel wie „Exodus"
vorhanden w^aren, daß sie aber außer Gebrauch kamen. 0) Damit scheint
das Verfahren des CalHmachus übereinzustimmen, der in seinen Pinakes
die Anfangswoi-te der Bücher, die er katalogisierte, ausschrieb. Doch
würde dies Verfahren des Grammatikers natürlich nur auf das vorkalli-
macheische Buchwesen ein Licht werfen; überhaupt aber ergibt sich aus
^) Gardthausex S. 190 referiert hier- '• lonich d<as Lineal oeXiÖcov aj/umtoga jiXsvQii^,
über unrichtig; der Bimstein tat für die
Chartarolle zwei Dienste : erstlich das Glät-
ten der Charta selbst, wie an der oben
besprochenen Catullstelle (dasselbe wurde
Anthol. Pal. 6, 62, 1. Es ist ein oeXiömv y.avo-
viofia (pdoQ&iov, ebenda 6, 295, 3.
3) Siehe Buchrolle S. 235 ff. : Rhein. Mus.
63 S. 44. Ich komme unten auf diese Be-
auch mit dem Eberzahn ausgeführt ; daher i Zeichnung zurück.
Charta dentata); zweitens wurde aber auch I ^) Siehe Histor-Vierteljahrsschrift 1912
der faserige Schnitt der geschlossenen Rolle ; S. 398.
mit pumex poliert; s. unten. j ^) L. Blau, Althebr. Buchwesen S. 42.
2) Daher nennt Philippus von Thessa- | «) L. Blau, Rivista israelit. S. 53.
800
Das antike Buchwesen.
ihm meines Erachtens kein ganz und unbedingt sicherer Schluß, da sich
in ihm vielleicht nur die Sorgfalt des Bibliothekars verrät, der die Identi-
fikation des betreffenden Buches außer Zweifel stellen will; denn ver-
schiedene Bücher konnten doch eventuell denselben Titel haben. Wenn
unter den erhaltenen Papyrusfunden sich keine vorn im Buchinnern an-
gebrachten Buchtitel antreffen lassen, so stammen diese Funde aller-
meistens nicht von normalen Litteratui'büchern her; dies betrifft z.B. die
Epicharmsprüche im ersten Hibehpapyrus, der circa dem Jahr 250 v. Chr.
angehört und gleich mit dem Vermerk jzgooijuiov einsetzt, worauf unmittel-
bar in der zweiten Zeile einleitende Verse folgen: reld' eveort noXXä xal
jiavToia xtL, „in dieser Rolle ist vieles enthalten, was nützlich".^) Daß
dies indes kein normales Litteraturbuch war, ist klar. Meistens aber ent-
behren die erhaltenen Papyri grade der ersten Seiten, 2) und ein zwingender
Schluß 3) ist daher meines Erachtens vorläufig noch nicht gegeben. Jeden-
falls sei hier auf Folgendes hingewiesen. In der Zeit des Codexbuch-
wesens, das aus dem Papyrusbuchwesen hervorging, wurde der Codex
regelmäßig in liminari pagina mit dem Werktitel eröffnet (s. unten). Bis-
weilen aber spielen die Schriftsteller auch selbst auf den Titel an. Martials
dreizehntes Buch heißt „Xenia"; der Dichter selbst erwähnt diesen Titel
erst im dritten Gedicht des Buchs; die voraufgehenden ersten beiden Ge-
dichte sind aber, wenn man ihn nicht kennt, unverständlich. Soll er sich
wirklich nur an der Außenseite der Eolle, wo er dem Auge des Lesenden
ganz entzogen war, befunden haben? Er gehörte hier so eng zur Sache,
daß man auch räumUch einen engen Konnex erwartet. Dazu nehme man
Frontos „Lob des Rauchs". Die Überschrift lautet:
M. Frontonis
laudes fumi et pulveris
item
Laudes neglegentiae,
und das Vorwort beginnt dannFronto unmittelbar mit den Worten: Plerique
legentium forsan rem de titulo contemnant. Der Augenschein spricht dafür,
daß das auch schon in der Papyrusrolle so hintereinander zu lesen war,
wie wir es im alten Frontocodex lesen (p. 211 Nab.). Auch des Ausonius
Bissula oder Parentalia ließen sich für den, der sie zu lesen begann, kaum
auffassen, wenn der Titel nicht davor stand. Derselbe Ausonius scheint
für sein Technopaegnion gradezu auf ihn zurückzuverweisen, wenn er
dort im Vorwort sagt: Uhello Technopaegnii nomen dedi. Hieronymus weist
am Anfang des siebzehnten Buchs seines Jesaiaskommentars ausdrücklich
auf den voranstehenden Titel dieses Buches hin, avo mit der Zahl 17 eine
Psalmenstelle verbunden war.*) Dazu kommt der Papyrus Massiliensis
des Isokrates; er ist eine Rolle in achtzehn Kolumnen; auf der ersten
Kolumne stand wirklich der Titel. Es ist die Schrift jzgdg NixoxUa. Der
Text bricht aber beim 8 30 der Schrift ab, und der Titel erscheint darauf
1) Siehe Orönert, Hermes 47 S. 402 ff.
2) Eine weitere Ausnahme der Hiero-
kles, s. MuTSCHMANN, Hermes 46 S. 99.
') Wie ihn Schubart zieht, Das Buch
S. 41.
*) Er sagt: admoneo quod psahnus qui
huius numeri (nämlich XVII) titulo prae-
notatur, sit pueri Domini David.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
301
noch einmal.») Nur den Werken der voralexandrinischen Zeit hat oft der
inhaltsanzeigende Buchtitel tatsächlich gefehlt, wie denn die erste der
beiden Thukydidesrollen direkt anfing: Qovxvdidi^g 'A§r]vaiog ^wey^aiife
tÖv JiöXefÄOV xrk.^)
Auf diesen Titel folgte dann weiter im Schriftwerk gegebenen Falls ^1^*« ^^r
eine praefatio, die aber, wenn sie bloß orientierender Natur, extra ordinem ' 'fati?^
paginarum, d. h. also vielleicht auch bisweilen an der Außenseite der Rolle
angebracht war. 3) Der Text schloß endlich mit der Wiederholung des Titels
imd dem bekannten explicit{us)y zeXog. Diese Wiederholung schien nötig,
weil nach zu Ende gelesener Rolle der Schluß des Konvoluts außen lag und
man auch bei einer so gerollten Rolle den Titel finden mußte. Von den
Doppeltiteln in Yarros Satiren oder Logistorici stand augenscheinlich der
eine vorne, der andere hinten eingetragen; denn Censorinus sagt De die
nat. 9: in libro qui vocaüir „Tubero" et intus subscribitur „de origine
hnmana'^. Dies intus läßt sich nicht anders verstehen.
Die Rückseite der Rolle blieb bei guten Exemplaren, wie die Buch- Opi^^iio-
verkäufer sie lieferten und wie sie in den öffenthchen Bibliotheken auf- fort-
bewahrt Avurden, gewiß zumeist unbeschrieben; ja, sie wurde mitunter T^p^^^^ati
bunt gefärbt, z. B. grün auf dem Schauspielerbild im Thermenmuseum demVerso
(Buchrolle Abb. 78). Eine Ausnahme machten nur solche Fälle, wie sie ^geführt^
Juvenal 1, 6 erwähnt, wenn nämlich die vorgesehene Rolle für den zu-
sammenhängenden Text des Schriftwerkes nicht ausreichte und man den
Rest desselben sich genötigt sah, auf dem Verso einzutragen. Ebenso
steht es auch mit dem Schicksalsbuch in Gottes Hand, das die Johannes-
apokalypse c. V uns schildert ; wenn dies Buch nicht nur eoco&ev, sondern
auch ömod^ev yeyQajujuevov war, so soll damit angezeigt sein, daß die Rolle
ihren einheitlichen Inhalt kaum zu fassen vermochte.*) Ebenso muß aber
auch das Exemplar der Cicerorede pro Milone, das Asconius benutzte,
wie seine Zitier weise ergibt, ein Opisthograph gewesen sein ; &) d. h. ihr
Text stand auf Vorder- und Rückseite.
Diese Gattung von Opisthographa gab also auf Recto und Verso ein Opistho-
einheitliches Schriftwerk. Ganz anders stand es damit jedoch bei v^schfe-
privater Buchschreiberei. Für sie nehme ich schon die Opisthographa in ^^^J^^'^®^*
Anspruch, die Lucian 14, 9 im Ranzen des Cynikers erwähnt : rj jziJQa de u. Verso
') Eine Privatabschrift; vgl. Blass,
Fleck. Jahrbb. 129 S.418; Häberlin Nr. 79.
^) Ueber das Fehlen von Titeln in
älterer Zeit und über Doppeltitel s. Buch-
rolle S. 237 f. ; oben Kritik u. Hermeneutik
S. 153 f. Bei den älteren griechischen Philo-
sophen war der Werktitel Jiegl (pvoscog von
Späteren zugesetzt und ist in der Regel
unzuverlässig, wie beim Xenophanes. Von
diesen Tatsachen, die Schubart S. 90 u. 125
nicht berücksichtigt oder übersieht, war
natürlich auch noch die Zitierweise des
Callimachus in seinen Tlivaxeq abhängig.
Es wird angenommen, daß derselbe Calli-
machus es war, der die Reden des Demo-
sthenes edierte und mit ihren Titeln ver-
sah : Sauppe, Epistola critica S. 49 ; Thal-
heim bei Pauly-Wissowa, RE. V S. 183.
^) Ueber extra ordinem paginarum s.
Buchwesen S. 142, 3; über TtQoygacpr) und
7iQosx§soig ebenda. Dazu G. Engel, De
antiquorum epicorum didacticorum histo-
ricorum prooemiis, Marburg 1910, S. 55f.;
Friderici S. 52 adn. Das Gesagte betrifft
besonders deutlich die Vorreden des Statius
in den Silven und des Martial. Wenn aber
Catulls Gedichtsammlung als Passer, d. h.
nicht nach dem ersten, sondern nach dem
zweiten Gedicht zitiert wird, so stand sein
erstes Gedicht wohl gleichfalls extra pagi-
narum ordinem; s. Commentariolus Oatul-
lianus tertius p. IV; Philol. 63 S. 425.
4) Buchrolle S. 86 Anm.
6) Buchwesen S. 176 f.
302 I^as antike Buchwesen.
ooi ^EQjucjov EOTco jueori] xal ojiLo&oyQacpcDv ßißluov. Denn offenbar kopierte
der Cyniker sich die nötigen Bücher eigenhändig und sparte dabei mit
Papier. Ebensolche Bücher sind nicht in Herculaneum , wohl aber in
Ägypten massenhaft gefunden worden. Dies sind aber im Unterschied
zu den oben gegebenen Beispielen solche Opisthographa, wo das Verso
ein anderes Schriftwerk trägt als das Recto (vgl. oben S. 278); dies
aber können in keinem Fall normale Litteraturbücher gewesen sein. Nie
wird uns ja auch bei den alten Autoren eine Schrift so zitiert, als ob sie
auf der Rückseite einer anderen stünde. Solches Sparen mit Papier verrät
die Buchschrift des gemeinen Mannes, i)
Schreiben Wer wisscu wiU, wic ein antiker Mensch sich beim Schreiben ver-
Knien hielt, muß die Bildwerke zu Rate ziehen. Das Schreiben auf einzelnen
Chartablättem war bequem genug: man stand dabei aufrecht und legte
das Blatt in die linke Hand. 2) Schwierigkeit bereitete das Schreiben da-
gegen in größeren Rollen. Auch dies wurde ohne Tisch oder Pult aus-
geführt; s. Buchrolle Abb. 139 (auch bei Johnen S. 99) : man saß, und zwar
meist am Boden, und stützte die im Motiv VI geöffnete Rolle mit den
erhobenen Knien, den zu beschreibenden Teil der Rolle aber wiederum
auf der linken Hand.s) Das Eintragen in eine leere Rolle heißt eyygdcpeiv
ig ßißUov, Lucian Alex. 1; ig jiaxv ßißXiov iyyQacpeiv, derselbe Luc. 15, 26
(vgl. oben S. 270). Derselbe Lucian, Hermotim. 2, schildert jemanden, der
in philosophischem Schulbetrieb sich anstrengt, ig ßißUov ijiixexvcpoTa xal
vTiojuvijjbLaTa töjv ovvovoicov äjioyQaqpojuevov. Am anschaulichsten die Hippo-
kratesbriefe, 17,7: . . . o ^' elyj: . . . ßißliov im toTv yovdroiv, xal exeoa öe
Tiva ii äjjL(poiv toXv juegoiv avrcp jiaQeßeßlrjxo . . . o de die juev ^vvxojucog
Bygacpe iyxeijuevog, öre de xrL*)
Beklopfen Daß infolge des Eintragens der Schrift die Charta zerknittert wurde
und hernach glatt geklopft werden mußte, habe ich oben S. 271 in An-
laß der nondum malleati libri des Ulpian besprochen. Aber auch sonst
diente das Beklopfen, jieQixoineiv (Lucian adv. indoct. 16) dazu, Rollen,
die lange gelegen, Avieder auszuglätten.
Es war der Stolz des vornehmen Ägypters, seine Bücher eigenhändig
selbst zu schreiben. Anders die Griechen. Die Ägypter waren keine
Redner, wohl aber die Griechen, und feinsinnig hat E. Curtius bemerkt, daß
eben die Redekunst den Griechen verhinderte, die Kunst des Schreibens
so zu ehren, wie die Ägypter es taten. 5) Doch haben sich gelegenthch
auch angesehene Griechen herbeigelassen, Buchmanuskripte selbst her-
zustellen, ß) König Eumenes war Schreiber von Beruf gewesen; allerdings
w^urde er darum von seinen Soldaten verachtet."^) Der vornehme Römer
hat sich dagegen der Buchschrift ganz enthalten; er benutzt, wie z. B.
Seneca Epist. 65, 2, nur den stilus, nicht den calamus; d. h. er schrieb
Lohn-
Schreiber
^1
Vgl. Buchrolle S. 7 f . ; 30 f. | S. 152.
Ebenso das Schreiben im Codicill; [ ») E. Curtius, „Wort und Schrift",
vgl. den dpi?07^a97ft>r, Ehein. Mus. 66 S. 150: | G-öttinger Festreden 1864 S. 79f.; vgl.
er steht dabei so aufrecht wie Athene, die ! Johnen S. 92.
auf der Wachstafel schreibt, u. ähnl.
3) Näheres BuchroUe S. 11 f. u. 202 ff.
'') ^S^- ^- Brinkmann, Rhein. Mus. 66
6) Siehe unten über „Privatabschrift".
^) Plutarch, ovyxgioig des Sertorius und
Eumenes cap. 3.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
303
nur das Brouillon auf AVachs eigenliändig ; füi' die Reinschrift hatte er
seine librarii.^) Vom stilus hat der vornehme Grammatiker Aehus Stilo
sogar sein Cognomen erhalten (es ist beiläufig pervers, wenn Apuleius
Metam. 8, 1 stilus und charta verbindet). Die scribae heißen mercennarii.^)
Aber das Gesagte betrifft natürlich nur die Ktterarischen Werke. Mit
Briefen und Entwürfen auf Charta steht es anders. So schrieb Pompejus
mit eigener Hand den Entwurf zu einer Ansprache in eine kleine Rolle, 3)
und demselben Pompejus fielen in Spanien die avxoyQacpoi Emorolai römi-
scher Vornehmer als Beute zu.*)
5. Das Lesen.
Auf das Schreiben folgt das Lesen. Viele, nicht nur der üppige Vorleser u.
Vornehme, sondern auch der Gelehrte, benutzten dazu den Vorleser oder ^^®^
Anagnosten, eine besondere Gattung von Hausdienern. 5) Sonst geschah
das Lesen in Buchrollen vielfach auch mit Hilfe des Lesepultes, äva-
/.oyeiov, ävayvmoxYjQiov, manuale ledoiium, auf dem man die halbgeöffnete
Rolle aufstellte. Martial redet einmal von ihm (14, 84), auch die Glossare
wissen davon, und es ist mir gelungen, auch auf Bildwerken dies für
Rollen bestimmte manuale verscliiedentlich nachzuweisen, ß) Seine Gestalt
erinnert in einigen Fällen an ein Geigenpult, und es ist so der Vorgänger
des Lese- und Schreibpultes gewesen, der im Codexbuchwesen des Mittel-
alters seit dem 5. Jahrhundert häufige Dienste tut.
Meistens aber las man doch aus freier Hand ; und zwar der Vor- ^^^ 'Lesen
tragende oder Vorsingende vorzugsweise stehend, der Studierende sitzend
oder auch liegend. Die Monumente geben die mannigfaltigste Veranschau-
lichung (Buchrolle S. 128 — 196). Das isoUert für sich Lesen heißt äva-
yiyvojoy.siv Jtgdg eainov (Aristoph. Frösche 52 f.) oder xad'' eavrov (Philostrat.
Apollon. Tyan. 5, 38); dabei schritt man auch gern auf und ab, man las
also auch JiEQinaxwv, wie uns Bilder zeigen (ebenda S. 165 f.) und wie es
der Pastor Hermae Vision. H 1, 3 erwähnt.
Während des Lesens wurde immer mit der linken Hand der gelesene Das Buch
Teil des Buchs gleich wieder zusammengerollt; auch schnellte die Charta, ^Händen
durch das eingebogene Liegen gewöhnt, schon von selbst wieder zu-
sammen,"^) so daß also nach der Lektüre das Buch jedesmal verkehrt zu-
sammengerollt 8) in der Linken lag (die letzte Seite lag jetzt außen statt
innen) und das Ganze gleich noch einmal wieder zurückgerollt werden
mußte, damit der Anfang des Buchtextes wieder an die Außenseite kam.
Es ist wahrscheinlich, daß bei der Prozedur dieses Zurückrollens das
Kinn zur Hilfe genommen wurde; anders lassen sich, wie ich glaube, die
1) Buchrolle S. 197 f.
2) Nepos, Eumenes 1.
3) Plutarch Pompe] . 79.
*) Plut. Sertorius 27.
5) Buchrolle S. 171 f. Ich füge hinzu,
daß schon Kallisthenes am Hof Alexanders
einen Anagnosten ZxgoXßog hatte (Plut. Alex.
54) ; ferner den Aiocojiog Mi&oiödrov dvayvcoarrjg
(Suidas). Unter den Sklavenscharen des
Orassus, die Plutarch (Crassus 2) aufzählt,
stehen die Anagnosten und die vjtoygaq)sTg
voran. Die acta diurna ließ man sich in
Eom vom actttarius vorlesen; s.Petron53
und die Erklärer zu Juvenal 7, 104.
6) Buchrolle S. 174 ff.
7) Buchrolle S. 42; 189.
8) Eine so verkehrt aufgerollte KoUe,
deren erste Pagina innen lag, ist tatsäch-
lich in Aegypten gefunden worden und
so nach Berlin gelangt; s. Schübart S.97.
304
Das antike Buchwesen.
Dichterstellen, die die Benutzung des Kinns beim Lesen erwähnen, nicht
erklären. 1) Yor allem sind also beim Lesen immer beide Hände beschäf-
tigt; jede Hand hält eine Rollung. Daher Lucian39, 9: ßißUov ev xöiv
X^Qolv eixev £Q ^vo ovvedr]juevov. Auch sonst ist, wo die Hände im Plural zu-
sammen mit dem Buch erwähnt werden, immer grade von einem Lesenden
die Rede, z. B. Plutarch Cic. 49: ßißUov eycov Kixegoyvog ev rätg yßQoiv.
Anaxippos (Comici ed. Kock Bd. HI) fr. 1 v. 24 : ev ralg xeQoi jli' ö\i^>ei ßvßlia
eyovTa xal C^rovvra rd xard Tfjv reyvrjv (der Koch liest in seinen Rezepten-
büchern) ; ebenda Baton Euergetai fr. 4, 3 : ßvßXiov xatg xeqoL Kaiser Do-
mitian w^ehrte sich nicht, als er ermordet wurde, weil er mit beiden Händen
just eben eine Rolle hielt (Sueton cap. 17). Der Römer hat, wenn er liest,
das Buch inter manus.^)
ohne das Fcmcr aber mußte der Lesende darauf acht geben, daß beim Lesen
beehren ^^^ Buch das Kleid nicht berühre, da die Charta, vor allem der Charta-
rand, leicht fasert, haart und splittert und durch Berührung gefährdet
ist. 3) Überhaupt aber Avar beim Aufrollen jede heftige BcAvegung zu
vermeiden; sonst zerriß die Charta. Wenn Seneca de benef. 7, 30, 1 den
allgemeinen Satz ausspricht: saepe quod explicari (potiiit), pertinacia tra-
hentis ahntptum est, so ist das ein Gleichnis, und dies Gleichnis ist, wie
jeder antike Leser verstand, von der Buchrolle hergenommen. Sowohl
das explicare wie das trahere weist sinnfällig darauf hin.
Aber noch ein anderes wurde, wie die Bildwerke zeigen, sorglich
daß ein Teil der Rolle nicht während des Lesens als auf-
gelöste Fahne zur Erde hing. Denn die Charta, die so leicht zerriß,
würde so hängend unter ihrer eigenen Last geHtten haben. Daher eben
die Sorgfalt, mit der die linke Hand das Gelesene stets gleich wieder
zusammennimmt; daher die vorsichtige Haltung des Buchs bei Unter-
brechung der Lektüre*) Entrollte sich aber ein Rollenteil beim Lesen
trotzdem und hing nachlässig zur Erde, so Avurde das Ende, wo es sich
um ein wertvolles oder gar heiliges Buch handelte, vom Diener oder Ge-
hilfen im Gewand oder im Tuch aufgefangen. Diesen Sinn haben ge-
wisse Darstellungen des Christus und Petrus mit dem Buch, die fälsch-
lich als „traditio legis" aufgefaßt zu werden pflegen. 0) Vorbild waren
hierfür gewiß Vorschriften im Ritual der Juden, Blau, Althebr. Buchw.
S. 40 f. : „Wenn jemand (am Sabbath) auf der Schwelle in einem Buche
liest und das Buch sich seinen Händen entrollt, soll er es zurückrollen;
wenn er auf dem Dache liest und das Buch entrollt sich seinen Händen,
solange es zehn Handbreiten (etwa 75 Zentimeter) von der Erde entfernt
ist, soll er es zurückrollen, ist es aber nicht mehr zehn Handbreiten von
der Erde entfernt, wende er es um" u. s. f.
Der obere und untere Rand der Papyrusrolle, der unserem Buch-
schnitt entspricht, heißt fronst) Weil dieser Rand, wie gesagt, leicht
Das Herab-
hängen . T
vermieden Vermieden
frons
1) Martial 1,66,8; 10,93,6; Anthol.Pal.
12, 208; Buchrolle S. 116 f; Buchwesen
S. 254.
2) Buchrolle S. 135 u. 338.
3) Buchrolle S. 166; 176 f.
4) BuchroUe S. 186 ff.
191.
5) Buchrolle S. 322 f. u. 185 ; zustim-
mend L. V. Sybel, Eöm. MitteU. 25, 1910,
S. 201 f.
6) Lygdamus 1, 13 ; Ovid Trist. 1, 1, 11 ;
Seneca de tranqu. an. 9, 6 ; Buchrolle S. 236 ;
238.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 305
haarte, wurde er beschnitten oder auch mit Bimsstein geglättet, i) überdies
aber auch gefärbt wie bei uns der Buchschnitt. Die schwarze Farbe
dieses Buchschnitts erwähnt Ovid Trist. 1, 1, 8 für seine Trauerelegien.
Sonst wird der Schnitt also auch wohl buntfarbig gewesen sein.
■L
6. Bilderbücher und Goldschrift.
So viel vom Lesen und Schreiben in der Chartarolle. Die Charta- ^laierei auf
Ue diente nun aber wie das linum ebensogut zur Malerei wie zur
Schrift; denn zwischen Malen und Schreiben war kein wesentlicher Unter-
schied. Mit Figuren bemalte Teppiche aus Charta scheinen in Ägypten
weitverbreitete Sitte gewesen zu sein, und so sind auch die altägyptischen
Papyrusrollen oder Bücher selbst bekanntlich an farbigen Bildern reich.
Dasselbe hat sich bei den Griechen fortgesetzt. Es ist lächerlich, zu be-
haupten, daß sich auf Charta schlecht malen ließ; denn die Ägypter
widerlegen das hundertfach auf das glänzendste. Hätte die griechisch-
römische Buchmalerei sich, wie einige meinen, vorzugsweise des Perga-
ments bedient, so Avürde Plinius uns das sagen. Die besondere Mitteilung,
daß Parrhasius Bilder auf Membrane hinterließ (oben S. 282), beweist im
Gegenteil, daß man sonst nicht häufig auf Membrane malte. Das Malen
auf Pergament verbreitete sich naturgemäß erst mit dem Pergamentbuch-
Avesen selbst. Eben jetzt werden die von Gay et bei der Ausgrabung von
Antinoe in Ägypten gemachten großartigen Funde bekannt: da tritt uns
auch die griechische Porträtmalerei des 2. bis 3. Jahrhunderts n. Chr. ent-
gegen, und zwar Porträts, bald auf Holz, bald auf Charta. 2) Und das ist
kein Wunder; denn auch die griechische Buchschrift war ja ein Malen
und Farbenauftragen.
Die Griechen s^inpen nun bald so vor, daß die Bilder wie im Nikander BUder im
. Text und
zur Illustration eines Lehrtextes dienten und den Text selbst unterbrachen, BUder ohne
bald so, daß das Buch nur Bilder mit erläuternden Beischriften enthielt. '^^'^^
Dies sind die eigentlichen Bilderbücher des Altertums, und für sie
sind Yarros Imagines der berühmteste Beleg. 3) Für die Kenntnis des
Buchwesens ist die Kenntnis dieser Bilderbücher natürhch etwas sehr
Wesentliches, und es ist zu verwundern, daß bisher fast niemand diesen
Forschungsgegenstand zusammenhängend behandelt hat. Wer Umschau
hält, bemerkt, wie mannigfaltig und reich auch dieser Betrieb im Alter-
tum war. Es gab Botanikbücher, die nur farbige Pflanzenbilder mit Bei-
schriften gaben; ebenso Tierfabeln, nur in Bildern erzählt; ebenso die
Sternbilder im Buch beisammen; Bilderbücher über die Ilias, über römische
Gescliichte oder andere Kriegsereignisse aus der Sagenzeit oder auch aus
1) Lucian Adv. indoct. 16 ; Isidor Orig. [ rück, auf Mißverstand des Wortes sicilis
6, 12, 3: circumeidi libros Sidliae primum
inrrebruit; nam initio pumicdbantur, unde
et Catullus nit (folgt Catull 1, 1 u. 2). Also
verstand Isidor oder seine Quelle, Sueton,
diese Catullstelle dahin, daß mit pumex
der Schnitt geglättet wurde; dies sagt
auch Ovid a. a. O. Uebrigens Martial 8, 72, 2 ;
4, 10, 1 ; 1, 6f), 10. Was Isidor über Sizilien
mitteilt, führt man auf einen Irrtum zu-
, Sichel", sieilire „mähen" (zu secarc; Mar-
quardt-Mau S. 816). Doch ist dies nicht
überzeugend.
2) Siehe J. P. Lafitte in La Nature,
1912, Nr. 2037 S. 18.
') Das roaqeiov des Callimachus kann
schwerlicli ein Bilderbuch bedeuten, und
von einem Vorbild für dies Unternelimen
Varros wissen wir nichts.
Handbuch der klass. Altertximswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 20
306 I^as antike Buchwesen.
der Gegenwart; man denke dabei an die JosuaroUe und an die Trajanssäule.
Alles das aber als Papyrusrolle (oben S. 293). Es gab femer auch Land-
schaftsbilder auf Charta, langgestreckt, auf denen drei Meter lang nichts zu
sehen war als Meer und Himmel und die man im Automatentheater als
Hintergrundsbild verAvenden konnte. Wer sich eine Anschauung davon
machen will, vergleiche die heutigen Bilderbücher der Chinesen, die zum
Teil hohen künstlerischen Wert haben. Diese Bücher bestehen aus Seide
und sind über drei Meter lange Rollen mit Rollenstäben, die gleichfalls lang-
gestreckte Gemälde, seien es Landschaften oder Menschengruppen, enthalten,
zusammengerollt aufbewahrt und beim Betrachten aufgerollt von zwei Per-
sonen an den Stäben gehalten werden. Zu dem, was ich über diese
Dinge „Die Buchrolle in der Kunst" S. 282 ff. zusammengestellt habe,
könnte ich jetzt gar manches hinzufügen; doch reicht dafür an dieser
Stelle der Raum nicht. Es sei nur erwähnt, daß wir Gedichte, die Bei-
schriften zu solchen Bilderfolgen waren, noch mehrfach besitzen, i) Lehr-
reich ist auch, was Suidas von den ßißXia des Oeodooiog (pdooocpog mit-
teilt: diaygacpdg oixicbv ev ßißXioig y\ außerdem ein Buch neql oly.rjOEcov.
Hier ist klar, daß das Buch tieq! oixijoecov den Text über Häuserbau gab,
dagegen die andern drei Bücher oder Rollen lediglich Grundrisse von
Häusern enthielten.
Vervieifäi- Besouders sei noch betont, daß solche Bilderbücher nun auch ver-
seiben vielfältigt wurdeu. Es stand mit ihnen ganz ebenso wie mit den litte- «
rarischen Werken; sie wurden in massenhaften Exemplaren in Umlauf m
gesetzt. Von Varros Lnagines sagt Plinius 35,11: „eine Erfindung, die
den Neid der Götter erregen muß, da sie den Bildern nicht nur Unsterb-
lichkeit verlieh, sondern sie auch in alle Länder ausschickte, so daß sie
wie Götter überall anwesend sein können." Was von diesem Porträtwerk
galt, muß zweifellos von anderen Bilderbuchrollen ganz ebenso gegolten
haben; denn ohne Verbreitung im Publikum konnten sie ihrem Zweck
nicht dienen. 2) *
Gold- Auch über die Goldmalerei, xQvooygacpia, herrschen immer noch irrige *
Vorstellungen, wenn man sie für etwas dem Pergamentbuchwesen Eigen-
tümliches hält. 8) Nichts ist verkehrter als das. Denn ein ägyptischer
Papyrus mit aufgelegten goldenen Ornamenten ist vorhanden,*) und wenn
Gaius, Instit. II 77 schreibt quod in chartidis sive membranis aliquis scripseritj
licet aureis litteris eqs., so bezeugt er uns ausdrücklich, daß damals für
Goldschrift Charta in erster Linie, Membrane erst in zweiter Linie in
Betracht kam; ganz dasselbe bezeugt uns nochmals der von mir, „Buch-
rolle" S. 302, zitierte Leidener Papyrus, der uns sagt, daß XQ^^^YQ^V^^
nicht nur em xglqtov xal dicpßeoag, sondern auch auf Stein möglich sei;
und dazu kommt noch die poetische Inschrift bei Bücheier, Carm. epigr.
938, aus der zu ersehen ist, daß man Liebesbriefe in Goldschrift auf
Papyrus schrieb:
Pulveris aurati pluvia sit sparsa papj^nis:
Rescribet Danae so^icitata: veni.
*) Wessely, Wiener Studien 12 S. 259 f.
1) Z. B. Anthol. lat. 831 ff.
») Buchrolle S. 296 ff.
3) Gardthausen S. 215.
lieber „goldne Bücher" vgl. oben S. 257f.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 307
Hiermit haben wir die Papyrusrolle als Trägerin litterarischer Texte
sowie auch als Bilderbuch hinlängHch kennen gelernt und können end-
lich zu dem, was wuchtiger, weitergehen.
7. Edition und Buchhandel.
Wir kehren zur eigentlichen Litteratur zurück. Eine solche kann ^"^-
nicht entstehen ohne den Akt der Edition. Denn zum Wesen der Litte- des^B^ch-
ratur gehört die Öffentlichkeit. Edition aber ist ohne Buchhandel nicht Editrons"*
möglich, der für die Griechen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. nachweis- verfahreng
bar ist.i) Der hihliopoles hält sich ein Schreiberpersonal und heißt daher '" ^^^"'"
zugleich hlhliographos. Daß schon des Euripides Dramen seinen Mit-
bürgern als Lektüre dienten, zeigt uns z. B. Aristophanes Ran. 52. Sokrates
sagt, jeder, der nicht äjzeigog, kennt die Schriften eines Anaxagoras ; *)
diese wurden also damals auch vervielfältigt. So war denn auch der Be-
griff der „Ausgabe", exdooig, in der Zeit des peloponnesischen Kriegs
schon vorhanden ; und auch nach auswärts ging damals schon der athenische
Buchhandel, wie es uns Xenophon Anab. 7, 5, 14 zeigt. Dies bestätigt
Diogenes Laertius 7, 31, w^o w4r lesen, daß aus Athen ßißkia sokratischen
Inhalts nach auswärts versandt w^erden. Des Isokrates Eeden gingen in
Bündeln um (Aristotel. fr. 134 R.), und er selbst rechnet darauf, in Sparta
gelesen zu werden (Panath. 250 f.).
Seit dem Rückgang Athens waren Hauptverkaufsplätze Alexandria
und hernach Rom, und zwar Rom auch für griechische Bücher. Der Römer
Atticus ist es, der zu Ciceros Zeit Athen mit Büchern versorgt, s)
Die römische Litteratur begann um das Jahr 240 v. Chr. mit dem Etmsker
bekannten Livius Andronicus. Aber schon vorher hat die Papyrus-
rolle und somit wohl auch der ganze Buchvertrieb in Mittelitalien Ein-
gang gefunden. Ich denke hierbei an die Etrusker; denn die Jibri fatales
und Ubri Acherontici der Etrusker, von denen wir hören und die bei den
Römern noch lange hernach Gegenstand des Studiums waren,*) die Etrusci
Ubri, von denen Cicero har. resp. 37 redet, die Ubri rituales bei FestuSj^)
verraten schon durch die Bezeichnung Ubri, worum es sich handelt; dies
bestätigt Cicero de divin. 1, 20, der ausdrücklich von chartae Etruscae,
und Plinius, der nat. hist. 2, 199 von Etruscae discipUnae volumina redet.
Die Etrusker brauchten also schon „Rollen" und ZAvar Chartarollen. In
zalilreichen Belegen erblicken wir die Rolle daher wirklich auch auf
etruskischen Monumenten; s. „Buchrolle" Fig. 43; 60; 89 und S. 80; 92;
94; 150. Die dort Fig. 89 abgebildete Sarkophagfigur aus Corneto, liegender
Mann mit weit offener Papyrusrolle, die neun Zeilen Schrift trägt, gehört
nicht, wie ich ansetzte, dem 5., sondern dem 3. Jahrhundert an,6) und
der dort Dargestellte ist also ein Zeitgenosse des Livius Andronicus.
Gleichzeitig von P]truskern und Griechen ist nun im 3. Jahrhundert
1) Siehe Buchwesen S. 433f.: A. Rö- i "*) Censorin dedienat. 14,6; Serv. Aen.
MKR, Abhandl. d.bayer.Akad. d.Wissensch. | 8, 398; Arnob. 2, 62.
22 (1902) S. 45 f.; feuchrolle S. 212 f. ">) Fest. S. 285 M.; vgl. (^ensorin 17.
2) Plato Apol. p. 26 D. i «) Vgl.PALLY-WissowA,RE.VIlS.784.
3) Cic. ad Att. II 1, 2.
20*
308 ^^^ antike Buchwesen.
in Rom dieser Buchvertrieb auf Rom übergegangen. Ennius Annal. 564, Lucilius
V. 709 u. 1085 Mx. erwähnen in Rom zuerst die Charta. Doch hat sich
das ChartabuchAvesen dort anfangs sehr langsam entwickeh. Zu Ciceros
Zeit waren in Rom lateinische Bücher noch schwer aufzutreiben,!) und
erst in den Zeiten der nächsten Generation haben sich diese Verhältnisse
wirklich gebessert.
Verschie- Was ist „Edicron"? Es ist nicht nur „Veröffentlichen", sondern
deu^ungen Edieren heißt im Geschäftsleben auch schon das Mitteilen des Geschrie-
von edere benen an irgendeinen Einzelnen zu persönlicher Kenntnisnahme. Wer
vor Gericht als Kläger auftritt, soll seine Klage dem Angeklagien „edieren",
Ulpian ad edictum, Digest. II 13, 1 : qua quisque actione agere volet, eam
edere debet . . . ut sciat reus utrum cedere an contendere ultra debeat . . .
Edere est etiam copiam describendi facere, vel in lihello complecti et dare,
vel dictare. Eiim quoque edere Labeo ait, qui producat adversarium suum
ad album et demonstret quod dictaturus est u. s. f. Ebenda II 13, 2 : heredes
solent habere exemplmn testamenti; falls ein Streitfall entsteht, non iubet
praetor verba testamenti edere. II 13, 6: der Argentarius soU descriptas
rationes dare, das heißt: edere rationes. Mehrere unterschreiben alsdann
solche editio; edi (so) autem est vel dictare vel t rädere libeUum vel codicem
proferre. Das Original des Rechnungsbuchs steht also im Codex, die Ab-
schriften werden im libellus gegeben. Deutlicher Gaius ebenda II 13, 10:
ratio ni(^si a capite} inspiciatiir, intellegi non potest: scilicet ut non totmn
cuique codicem rationum totasque membranas inspiciendi describendique po-
testas fiat, sed ut ea sola pars rationum . . . inspiciatur et describatur eqs.
Ein wirkliches „Veröffentlichen" ist es dagegen, Avenn der Magistrat
durch Inschrift oder Anschlag dem großen Publikum Mitteilungen zu
machen hat. Solches Veröffentlichen amtlicher Bestimmungen heißt pro-
ponerc] Ulpian, Digest. II 1, 7 : und zwar geschieht dies in albo vel hi
Charta vel in alia materia (s. oben S. 256). Ich zitiere als Beispiel Kaiser
Julian, der in dieser Weise sein tadelndes Schreiben an die Stadt Ale-
xandria ausstellen läßt: jtQoref^ijTO) Toig i^uotg jiokiTaig'Ä?.e^avdQevoiv{Ftpiüt.lO).
Hiervon unterscheidet sich nun aber die Veröffentlichung litterari-
scher Werke sehr Avesentlich, und nur von ihr ist im Nachfolgenden zu
handeln.
Littera- Litterarischo Edition ist Vervielfältigung einer Textvorlage, die nur
EcUtion i^ einem Exemplar vorliegt, durch Kopie zum Zweck der Verteilung, vor-
nehmlich zum ZAveck des Verkaufs. Bezeichnungen dafür sind eyMödvai,
diadidovaiy edere, in publicum dare, puhlicare, divulgare, vulgare u. ähnl.;^)
vollständiger diadidövai roTg ßoidojuevoig kajußäveiv (Isokrat. 12, 233), oder,
weil man ein Werk auch als Steininschrift veröffentlichen konnte, ev
ßiß?doig exdovvai,^) Den Ägyptern AA^ar dies Verfahren noch unbekannt;
es ist etwa seit der Zeit des Beginns des peloponnesischen Krieges nach-
weisbar,*) und die Erfindung gehört den Griechen. Der Unternehmer heißt
*) BuchAvesen S. 363 f. ... sy.öeModai.
2) Dem lat. puhlicare ist das Srjfioommv | ^) Buchrolle S. 213 nach Clemens Ale-
bei Cassius Dio nachgebildet. j xandrinus Strom. 1, 78 u. 79.
3) Plut. Alex. 7: )Myovg riräg h ßißUoig \
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 309
ßißhoyodqog iind ist dann liäufig zugleich auch ßißhomoXtjQ; lateinisch in
beiden Fällen Uhrarius.
Auch der Homertext erfuhr gewiß früh solche Vervielfältigung; ein Ausgaben
Zeugnis dafür aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. haben wir bei Xenophon """''"''^
Memor. 4, 2, 10. Bei den alexandrinischen Grammatikern, die Homer
traktierten, ist der Ausdruck endooig ständig; sie verschafften sich teils
exöooHg xaia ziolnq, teils Exöooeig xar ävöoa, die sie ihren Diorthosen des
Textes zugrunde legten. Für die xar ävdga, die auf einzelne Personen
zurückgehen, werden in den Scholien Antimachos, ein jüngerer Euripides
und Aristoteles genannt. Da nun jede exdooig Vervielfältigung des Textes
voraussetzt, so ergibt sich, daß man in den griechischen Städten zu Unter-
richtszwecken „Staatsexemplare" benutzte — das w^aren die Homertexte
von Massilia, Chios, Kreta u. a. — , daß außerdem aber von den genannten
Männern, Antimachos, Euripides und Aristoteles, Homerausgaben, iy.döoeig,
veranstaltet worden waren, in denen irgendwie ihr persönliches Urteil zur
Geltung kam imd den Text beeinflußte. Denn das xar' ävdoa kann nur
die Nennung des Urhebers bedeuten, wie das xam UivÖaoov bei Plato
Phaedr. p. 227 B und das allbekannte xara Mar&aioy, xatä Mdoxov.
Für Werke, die auf viele Leser rechneten, kann in der Zeit der ent-
wickeltsten Kultur eine Auflage von hundert Exemplaren nicht entfernt
genügt haben. Sie muß aber in der Weise hergestellt worden sein, daß Ve™ifäi-
viele Buchschreiber gleichzeitig nach Diktat schrieben. durch
Daß tatsächlich eine Anzahl von Schreibern gleichzeitig nach Diktat ^^^^^^
arbeiteten, zeigen uns schon ägyptische Bilder (Buchrolle S. lOff.). Weitere
Nachweise habe ich dafür „Buchwesen" S. 351 f. und „Buchrolle" S. 197, 1
mitgeteilt und füge hier noch andere hinzu. Bei Westermann, Biogr.
p. 84 (Suidas) lesen wir: „Daß die Verse der Sibylle so unfertig und un-
metrisch sind, liegt an den TaxvyQdq)oi, die nach ihrem Diktat nicht schnell
genug nachschreiben konnten." Cicero sorgte als Konsul für rasche Ab-
schriften durch Uhrarli {ab omnihus Uhrariis pro Sulla 42), die also augen-
scheinlich gleichzeitig in Tätigkeit traten. Auch Tertullian I p. 56, 16
ed. Reiff. setzt dies Verfahren als Gewohnheit voraus. Auch in der
Historia Augusta lesen wir, daß der Verfasser nicht schreibt, sondern
diktiert, trig. tyranni 33, 8: no}i scribo, secl dicto, und so erscheint auch im
Corpus giossariorum latinorum dictare ständig unter den Ausdrücken, die
das Schriftwesen betreffen, dazu dldator „der Diktierende", didatura „das
Diktieren", griechisch vmxyoQevoj, ib. II 463, 5 u. sonst. Aber auch ein Vers
aus den neu bekannt gewordenen "la^ßoi des Callimachus (Oxyrhynch. Pap.
VII 1011 V. 102) läßt sich hiermit in Zusammenhang bringen. Er lautet:
ocojirj ysv€od(0 xai ygdqpeo&e xijv grjoiv.
Denn mir scheint, daß Callimachus hier den Vorgang in einer antiken
Schreibstube imitiert. Er diktiert als Dichter gleichsam seinen Schreibern
(in der Mehrzahl): „Beginnt jetzt meine lamben zu schreiben imd seid still."
Wurden nun also z. B. 20 Schreiber in dieser Weise beschäftigt, so
konnten in 20 Tagen 400 Exemplare hergestellt sein. Dies ist in der
Tat das Verfahren, das uns im Esdra IV (= II) 14, 14 bezeugt wird. Ganz
ebenso gab es im Altertum auch ein massenhaftes Vervielfältigen von
310
Das antike Bachwesen.
Bilderbüchern oder einzelnen Malereien durch gelernte Leute, die vor-
nehmlich dem Sklavenstande angehörten, i) Der Maler, der so Bilder ver-
vielfältigte, mußte also allerdings direkt aus einem Exemplar in das andere
kopieren. Für den Buchsclireiber war dagegen ein rasches Kopieren von
Schrift ohne Diktat und in der Weise, daß man ein Buch als Vorlage
neben sich legte oder vor sich aufstellte, kaum ausführbar und ist schwer-
lich vorgekommen. Man muß sich dabei die Schwierigkeit, in eine Papyrus-
rolle Schrift einzutragen, nochmals vergegenwärtigen (vgl. oben S. 302).
Wer sich das Bild eines solchen in die Rolle Schreibenden („Buchrolle"
Abb. 139) betrachtet, wird erkennen, daß der Mann weder Hände noch
Platz frei hatte, um eine Rolle als Schriftvorlage bequem vor sich auf-
zustellen oder sich vor Augen zu halten.
Die Edition geschah in den meisten Fällen und gewiß schon früh
durch Unternehmer, die wir Verleger nennen; nicht selten aber wohl
Biiciiveriag au^ch duTch den Autor selbst, also im Selbstverlag. Cicero besaß zeit-
weilig viele Schreiber, und ihm konnte im Jahre 58 v. Chr. zugemutet
werden, mit ihrer Hilfe die Annales seines Bruders Quintus selbst zu
edieren. 2) Wir folgern, daß Cicero damals wenigstens zum Teil auch
seine eigenen Sachen selbst vervielfältigt und herausgegeben haben muß.
Doch zog er es bald vor, dem Atticus dies Geschäftliche zu überlassen.
Während das griechische Verlagswesen sich seit langem sachgemäß ent-
wickelt hatte und in sicherem Betriebe blieb, merken Avir dagegen in Rom
im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. noch kaum etwas von editio und Buch-
verkauf römischer Autoren; 3) vielmehr bediente man sich, um Buchtexte
wie des Ennius Annalen bekannt zu machen, damals noch der Vorlesung.
Einer der frühesten, der im angegebenen Sinn edierte, ist vielleicht der
Redner Antonius ; *) dann edierte Cicero selbst gleich seine Jugendschrift
De inventione.ö) Allein eine so ideal gerichtete, tatkräftige und geld-
kräftige Persönlichkeit Avie Pomponius Atticus, der Freund und Verleger
Ciceros, Avar nötig, um den römischen Buchhandel endlich in die Höhe
zu bringen, und dieser Atticus beschränkte sich nicht etAA^a nur auf den
Vertrieb der Schriften Ciceros, sondern sein Verlag umfaßte griechische
AAde römische Autoren. Aber auch eine geAAdsse Konkurrenz regte sich
schon, und dieser wichtige Mann war damals nicht etAva der einzige
seiner Art. Neben ihm haben in Rom auch andere Unternehmer, Avenn-
schon geringerer Bedeutung, bestanden. Wenn Cicero zmn Atticus sagt:
in Zukunft AA'ill ich dir den Vertrieb meiner Reden überlassen (ad Att.
13, 12; oben S. 103), so klingt das so, als ob er sich auch an jemand
anders Avenden könnte, und dies bestätigt Cicero ib. 13, 21, 4; ad fam.
16, 21, 8; ad Qu. fratrem III 4, 5; III 5 u. 6, 6; pro Sulla 43; de or. 1, 94;
de leg. 3, 46; Philipp. 2, 21 , avo Buchhändler erAvähnt Averden; dazu die
librarioli de leg. 1, 7. Ja, auch der litterator Sulla bei CatuU carm. 14 scheint
Atticus
^) Buchrolle S. 297; 299; 302; 308 f.
2) BucliAvesen S. 282. Inwieweit ein
Autor sich selbst um die Herstellung der
ersten Reinschrift bemüht, ist Buchrolle
S. 197 f. erörtert.
^) Höchstens wäre anzuführen Lucil.
668 Mx.: trado ego aliis nummo porro quod
mihi constat carius; so Lachmanns wahr-
scheinliche Emendation, wozu Zwei poli-
tische Satiren des alten "Rom S. 87.
4) Oic. Orat. 18; Brut. 163.
5) Oic. De orat. 1, 5.
II. Verwendung der Beschreibstofife. B. Litterarisches.
811
diesen Leuten ins Handwerk gepfuscht zu haben, indem er eine Antho-
logie aus römischen Dichtern herstellte und Exemplare versandte, i) In
nächster Beziehung mit Atticus stand Cornelius Nepos,«) und wenn also
Catull sein Gedichtbuch diesem Nepos widmet und ans Herz legt, so hat
A.tticus vielleicht, durch Nepos angeregt, auch Catulls Gedichte für den
Verkauf vervielfältigen lassen.
Seltsam ist der Ausdruck in bybliothecas referre im Sinne von „publi-
zieren" bei Tacitus Dial. 21; und zwar waren es nach Tacitus' Angabe
so große Männer wie Cäsar und Brutus, die das persönlich mit ihren
poetischen Werken taten. Was für Bibhotheken sind da gemeint? Öffent-
liche gab es damals in Rom noch nicht.
Von alledem aber hat in Ciceros Zeitalter doch zunächst nur die
Hauptstadt Eom Nutzen gehabt. Catull 68 A 7 bezeugt, daß zu seiner
Zeit in abgelegenen Städten wie Verona überhaupt keine irgendwie unter-
haltende Lektüre aufzutreiben war. 3) Erst seit der Ära der augusteischen
Dichter ging der Versand von Buchexemplaren von Rom aus in alle
Städte und Provinzen. Ein Weltbuchhandel war entstanden. Weitbucii-
Und zwar Averden uns fortan, bei Seneca, Martial und Quintilian, als
Verleger nur noch Freigelassene genannt. Darin liegt aber durchaus
nichts Nachteiliges ; welch lebhaftes Interesse diese oftmals hochgebildeten
Freigelassenen an der römischen Litteratur nahmen, zeigt uns Trypho,
der Verleger Quintilians, der ein Avirklicher Verehrer des Werkes war,
das er herausgab. Poljbius, der Freigelassene des Kaiser Claudius, der
Freund Senecas, der am Hof den Posten a studiis innehatte und sich
mit römischen Dichtern eingehend beschäftigte,*) Avar ein Mann gleichen
Kalibers, und jene Verleger dürfen wir ebenso hoch einschätzen Avie ihn.
Noch im Verlauf des ganzen 1. Jahrhunderts n. Chr. war und blieb
Rom der einzige Verlagsort für neuerscheinende lateinische Bücher. Dann
aber hatten mit dem Aufkommen der Provinziallitteraturen auch die Haupt-
städte der Provinzen lateinischer Zunge ihren eigenen Buchhandel. Dafür Dezentraii-
Avird uns zuerst Lyon genannt, s) Ausonius und ApolHnaris Sidoniiis A^er- selben
anschaulichen uns die Art der Buchverbreitung und Edition im 4. und
5. Jahrhundert besonders deutlich. Ein Verleger im Dienst der christ-
lichen Gemeinde in Rom AA^ar sodann Clemens ; s. Pastor Hermae, Vis. 11
fin., wo wir hören: das Buch, das von der Ekklesia stammt, soll dieser
Clemens erhalten, aber nur in einem einzigen Exemplar, und dann: jiefni^ei
ovv Khjjuijg eh tag e^co noleig' exeivo) ydo emrhQajiraij d.h. er soll es ver-
A^ielfältigen und versenden. Außerdem erinnere ich an den Redner Libanios,
der uns I S. 78 f. R. schildert, Avie für alle Großstädte des römischen Reichs
Exemplare seiner Reden beschafft Averden; an all diesen Plätzen findet
ihre Vervielfältigung statt, und von da aus ging dann der Verkauf vor
sich. 6) Von Apollonius von Tjana gab es ein einbücheriges ') Werk negi
i%oio)v, von dem Philostrat 3, 41 sagt: t6 de negi ^vomv ev noXlöig fxev
1) Siehe Philol. 63 S. 465.
2) Siehe Nepos' Atticus.
3) Vgl. Ehein. Mus. 59 S. 446 f.
^) Ueber Polj^bius Neue Jalirbb. 27
(1911) S. 596 f.
5) Plin. epist. 9, 11, 2.
6) Buchwesen S. 507.
7) Siehe Philostrat 4, 19.
312 Das antike Buchwesen.
leQOig evQov, ev noXkaTg de jiÖaeoi, no'KKolq ök dvÖQcTyv oocfO)v oixoig. Audi
dies Werk Avar also durch den Buchhandel in alle Städte, in aller Hände
gelangt.
Buciiiäden Über Bucliläden und ihre Einrichtung fehlt es uns nicht an Nach-
richten. Es waren Tabernen, die sich in bestimmten Stadtquartieren be-
fanden, wo die Buchware in Börtern oder in Capsae mehr oder weniger
geordnet sich vorfand, aber auch auf einem Tischt) offen auslag; gleich
vorne am Türpfosten war überdies für den Passanten das Neueste an-
geheftet oder in Abschriftproben zu finden, um Käufer anzulocken. 2) Wir
aber lenken unser Interesse auf das, was wichtiger, auf die Autoren
selbst zurück.
8. Dedikation und Anekdota.
veröffent- j)as Schriftstellern ist Sache der freien Neigung und Eingebung.
mit"vv^d" Der Entschluß aber, das Geschriebene auch zu veröffentlichen, fällt man-
mung ciiei^ Yiel schwercr als das Produzieren selbst ; denn es heißt mit Recht :
nescit vox missa reverti, und die Reue kommt zu spät. In der älteren
Zeit merken wir von solchen Sorgen freilich noch nichts. Die Dichter
vertrauen eben ihrer Muse, wenn sie singen; ein Thukydides ergreift,
w^enn er seinem Griechenvolk die Kriege und Schicksale erzählt, die es
selbst erlebt hat, in großartig sicherer Ruhe das Wort. Nur ein Lelir-
dichter wie Hesiod wendet sich an eine bestimmte Adresse, an seinen
.Bruder Perses. Dann aber sehen wir auch bei anderen die Neigung ent-
stehen, das Werk, das man schreibt, einer bestimmten Person zu widmen. »)
Dies tat vielleicht zuerst Dionysios Chalkus mit seinen sympotischen Ele-
gien (Athenaeus p. 669 D), dann Isokrates Ugog NixoxXea.
Isokrates wendet sich also schon an einen König. Das wird bald da-
nach zur Gewohnheit. Wenn in der Rhetorik ad Alexandrmn die Wid-
mung an Alexander den Großen eine Fälschung ist, so gibt es doch sonst
seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. dafür Beispiele genug; ich erinnere an
Aristoteles Protrepticus (frg. 50 Rose); übrigens Diogenes Laertius 4, 88;
7, 185. Daneben steht das Verfahren des Cornificius ad Herennium und
des Nikander, der Freunden seine Lehrgedichte zugeeignet hat.
Zweck der Welchen Zweck aber hatte diese Widmung? Entweder hat sie nur
1 mung ^^^ Zw^eck der intimeren Belehrung wie bei Nikander, Cornificius oder
Cato ad filium,*) oder aber sie ist eine Huldigung und ein Werben um
Protektion. Übliche Ausdrücke dafür sind dvaii&rjjui, consecro, donOy dedicOy
jieiiTiWy aTiooTeXlcOy mitto, transmitto u. a. Die ersten beiden Verben deuten
an, daß die Person, der man huldigt, an die Stelle einer Gottheit tritt.
^) Die mensa wird erwähnt bei Ps.-
Acron zu Horaz Epist. 1, 20, 1 f.
2) scriptis postihus ^o^^sMartial 1, 117, 11 ;
vgl. Hör. Sat. 1, 4, 71; Ars poet. 373; Mar-
quardt-Mau S. 826f.; Dziatzko, „Buch-
handel« S. 981.
3) Siehe E. Gräfenhaix, De more libros
dedicandi, Marburg 1892; Joannes Rup-
PERT, Quaestiones ad historiam dedicatio- ' belehrt, und sonst.
nis librorum pertinentes, Lips. 1911. Bei
Enkomien verstand sich die Dedikation
von selbst ; über sie F. Stephan, Quomodo
poetae Graec. Rom. carmina dedicaverint,
Berlin 1910, S. 15 f.
*) Diese Art der Widmung ist älter
und erscheint schon bei Hesiod, wie wir
sahen, bei Empedokles, der den Pausauias
II. Verwendung der Beschreibstoflfe. B. Litterarisches. 31H
Besonders deutlich offenbart sich das in Wendungen wie tibi mcra fem
(Gennanicus Aratea v. 3); opus tibi sacratiim (Ovid Trist. 2, 552).
Die Übersendung des Dedikationsexemplars geschieht nun, was über-
aus bemerkenswert, regelmäßig vor der Edition und nicht etwa durch
einen librarius oder Verleger, sondern durch den Autor selbst. Die
glänzende Ausstattung solcher AVidmungsexemplare wird uns oft geschil-
dert, z. B. bei Lygdamus (Tibull III 1). Es folgt aber hieraus, daß man,
Avo mittere steht, noch nicht an Edition denken darf.i) Vielmehr wird,
wie wir nicht selten hören, dem Empfänger der Sendung die Entschei-
dung zugeschoben, ob das Werk der VeröffentHclmng w^ert, und zuvor
seine Korrekturen erbeten (z. B. bei Justin praef.; Statius Silven II praef.;
Terentianus Maurus v. 283 f. u. 314 u. sonst). Geschah es doch auch sonst
häufig, daß man Freunde und Studiengenossen vor der Edition um ver-
bessernde Durchsicht des Textes bat. 2) Denn dreierlei gehörte, wie ims
Plinius epist. 5, 10, 3 sagt, zur Edition: describi, legi und venire volumina,^)
wo legi nur von dem Korrekturlesen, das der Ausgabe und dem Verkauf
voraufliegt, verstanden werden kann, also das emendari (oben S.271 u.290)
in sich schließt. Unterblieb nun nach solchen Überlegungen die Edition,
so fand nur ein privatim dicare ohne Vervielfältigung statt; dies erwähnt
Plinius, nat. bist. 5, 16 für den König Juba, und auch Wendungen wie
tibi edidi (Avien, Ora marit. 1, 415) sind vielleicht in gleichem Sinne zu
verstehen; denn edere kann auch, w^ie wir S. 308 salien, die Mitteilung
an einen Einzelnen bedeuten. Besonders deutlich ist Firmicus Maternus
Mathes.VIII praef. 3: horum autem libroriim artificiiim nos tibi sali edidisse
siiffieiet.
Aber auch in den Fällen, wo es sich mn ein Werk handelt, das der bittere und
Autor zu publizieren wünscht, ist zwischen mittere und dedicare ein
wesentlicher Unterschied, und wer diesen Unterschied nicht beachtet,
kann z. B. das Verhältnis des Martial zum Kaiser Domitian nicht richtig
auffassen, mittere ist nichts als das geschenkweise Übersenden eines
Exemplars in der Weise, wie wir ein solches auch heute an Freunde
und Respektspersonen übersenden. Durch diesen Akt ward der Empfänger
zu nichts verpflichtet; er kann das Buch lesen oder ignorieren, imd das
betreffende Litteraturwerk findet zum übrigen Publikum ganz ohne sein
Zutun den Weg. dedicare ist dagegen das Zusenden der einzigen, vom
Verfasser selbst veranlaßten ersten Reinschrift, die der eventuell bevor-
stehenden Publikation zugrunde gelegt w^erden soll, und dies dedicare hat
die Konsequenz, daß der Empfänger es ist, der über diese Publikation
selbst entscheiden Avird. Bei seinen ersten vier Büchern Heß Mai-tial es
dem Kaiser Domitian gegenüber mit dem bloßen mittere bewenden ; nach-
dem er bemerkt zu haben glaubt, daß der hohe Herr an ihnen Gefallen
gefunden, „dediziert" er ihm sein fünftes Buch.'*)
^) Ueber mittere s. auch M. Krämer
S. 17.
■•*) So macht es der jüngere Plinius
häufig, s. Buchwesen S. 348; vgl. auch
Krämer S. 35 u. 62. tragen worden
3) Vgl. auch Plin. epist. 7, 17, 1.
*) Diese Dinge sind von E. Lieben,
Zur Biographie Martials, Progr. 1911 und
1912, durchaus verkannt und daher nur
Wirrsal in die (^lironologie des Martial ge-
314 Das antike Buchwesen.
Martiai Ein Beispiel sei hier besonders beigebracht, da es das Gesagte erläutert
und zugleich durch das Gesagte erläutert wird. Zum dritten Buche des
Martiai hat man mit Unrecht eine zueignende Praefatio vermißt. Dies
Buch III ist in durchaus verständlicher AVeise so eingeleitet, daß zunächst
das Stück III 1 den befremdlichen Aufenthaltsort des Dichters mitteilt — er
ist ausnahmsweise nicht in Rom, sondern in GaUien, und was kann aus
Gallien Gutes kommen? — , dann aber in III 2 sogleich die Zueignung
vollzogen wird. Der auch sonst bei Martiai oft erwähnte reiche Faustinus
ist es, dem der Dichter sein drittes Buch „schenkt" {munus v. 1), und
Faustinus Avird dadurch zum vindex des Buches (v. 2); nur durch seine
Protektion kann es in allem Glanz der Ausstattung im Publikum erscheinen,
und zwar mit so korrektem Text, daß es den Grammatiker Probus nicht
zu scheuen braucht (v. 12). Hier ist das Verhältnis des Patrons zu dem
"Werk, das ihm dediziert Avird, besonders klar formuliei-t; er tritt vor der
Öffentlichkeit ganz dafür ein und sorgt für die erste Ausgabe des-
selben, und zwar eine exakte Textedition in dem Grade, daß der strengste
Kritiker nichts zu tadeln findet, i) Neben diesem Widmungsgedicht III 2
steht nun noch das Gedicht III 5, avo ein gewisser Julius (Martialis) als
Empfänger desselben dritten Buchs des Martiai erscheint; aber das ist
mit dem Gesagten durchaus nicht unA^^ereinbar. Auch diesem Julius schickt
Martiai eine Abschrift, die er in Gallien herstellen ließ. Aber dieser soll
das Geschenk nur freundlich aufnehmen; daß er irgendetAvas für die Ver-
breitung oder Textsicherung des Buches tun soll, Avird nicht gesagt.
Zwischen Faustinus und Julius als Empfängern ist also ein Avesentlicher
Unterschied. Nur jener Avar der vindex libri.
Noch deutlicher macht Statins uns diese Verhältnisse, Avenn er sein
zweites Buch Sih^ae dem Atedius Melior darbringi und zu ihm im Hin-
blick auf die darin enthaltenen Verse sagt (praef. fin.): si tibi non dis-
pUcuerint, a te publicum accipiant: si minus, ad me revertantur. Schickt
Melior also das empfangene Exemplar an den Autor zurück, so läßt dieser
es unpubliziert liegen; behält es Melior dagegen, so ist er es auch, der
die Publikation auf Grund jenes Exemplars besorgt. Denn der Autor hat
es ja nicht mehr in Händen. Ganz ebenso schickt auch noch Luxorius
sein Gedichtbuch an Faustus (Anthol. lat. 287, 11 ff.); Faustus soll, Avie
Luxorius sagt, Vervielfältigung und Versand auf sich nehmen. 2)
Schon hieraus erhellt die große praktische Bedeutung, die die Wid-
mung der Schriften für ihren Autor und für das Publikum hatte; sie
Avird gleich hernach noch überraschender hervortreten.
A^eröftent- Konutc ciu Autor zur Veröffentlichung sich nicht entschließen, so
licliiiiifir
gegen den kam es aucli A^or, daß seine Schüler oder Verehrer Abschrift nahmen oder
^^ aT ^^^ auch stenographierten und hinter seinem Rücken das diadidovm betrieben. 3)
») Im Eröffnungsgedicht III 1 wird | ist; die Gedichte III 1 und III 2 sind eins:
gleichfalls ein Empfänger des dritten Buchs j es wechselt nur das Versmaß. Kein anderer
angeredet, aber der Name desselben nicht ; als der rmdeic/iör/ kann dort der x^nge redete
genannt. Daraus zieht Immisch, Hermes 46 ■ sein. Ueber das vermeintliche Fehlen von
S. 490 Schlußfolgerungen, die mir ebenso j Präfationen s. den „Anhang",
bedenklich wie unnötig scheinen. Aus dem | ^) Vgl. Gräfenhain a. a. 0. S. 49.
oben Ausgeführten ergibt sich, daß auch i ^) Johnen S. 131.
III 1 wie III 2 an den Faustinus gerichtet |
Statins
suv. n
II. Verwendimg der Beschreibstofife. B. Litterarisches.
815
Dies erwähnt besonders Galen, der sich genötigt sah, in einer besonderen
Schrift JisQi Tcbv Idicov ßißXUov sein litterarisches Eigentum festzustellen.
Vgl. z. B. Galen De anatom. administr. c. 1 (II p. 217 Kühn): ovvEßi) xa
vjzojuviiuara exjieoeiv wg xT)]oao&ai JtoUovg avrd xaixoi y ov Jigög exdomr
jjr yeyovöra. Über dasselbe beschwert sich auch Quintihan,i) der gleich-
falls erwähnt, daß Stenographen dabei beschäftigt wurden, die davon
Gewinn hatten. 2) Auch die Cosmographia des Julius Honorius (um 360
n. Chr.) wurde nicht vom Autor selbst publiziert, sondern einer seiner
Schüler illo nolente ac subterfugiente divulgavit ac piihlicae scientiae obtulit,^)
Auch Ovid behauptet, daß seine Metamorphosen wider seinen Willen
herauskamen; 4) und auch ein Teil der Bücher Diodors erfuhr solche un-
^^'illkommene jrgoexdooig.^)
Des Aristoteles Schulschriften oder Pragmatien waren, als Aristoteles Anekdota
starb, noch ävexdoTa und gelangten erst danach und zum Teil erst sehi-
s[)ät in die Hände des gelehrten Publikums. 6) Im Testament des Lykon,
das solche ävsxdoTa erwähnt, bilden to. ßißUa rd dveyvcoojueva dazu den
Gegensatz. 7) Diodor gibt 1, 4, 6 über den Inhalt seines umfangreichen
Geschichtswerkes zunächst eine Voranzeige, da die Bücher selbst, wie er
sagt, noch nicht heraus sind: ejzel d' f] juev vjioi^eoig eyei relog, al ßlßXoi de
jLiexQL rov vvv dvexdoToi rvyydvovoiv ovoai, ßovXojLiai ßgayja nooöiooioai Tzegi
olrjg Tr]g jigayjuLarelag. GoAvisse Sachen blieben sogar absichtlich dvexSoTa
und wurden nur vorsichtig unter der Hand Aveitergegeben ; 8) und so
Avird auch zu verstehen sein, AA'as Januarius Nepotianus, der Epitomator
des Valerius Maximus, in seiner praefatio an Nepotianus Victor sagt: et
cum integra fere in occulto sinf, praeter nos duo profecto nemo epitomata
cognoscat. Besonders charakteristisch ist, daß ein Firmicus Maternus seine
astrologische GeheimAveisheit , die „Mathesis", nur für seinen Freund
Mavortius Lollius und dessen Söhne bestimmt (vgl. oben S. 313). Lollius
soll die ersten sieben Bücher des Werkes hüten, daß kein Unfrommer
sie lese, praef. VIII3: hos lihros custodi ne improhis et sacrilegis aurihus
scientia istius operis intimetur.^) Wir müssen auch hier folgern, daß die
Bücher AAdrklich unveröffentlicht blieben. Sie können uns nur auf dem
Wege der „Privatabschrift" erhalten Avorden sein.
9. Geldgewinn der Autoren.
Hiernach erhebt sich endlich noch die Frage nach dem Verhältnis
des Autors zum Verleger und ob der Verleger dem Autor Honorar zahlte
oder irgendAvie sonst Anteil am GcAvinn gab. Daß diese Dinge für uns
im Dunkeln liegen, ist naturgemäß und die BeantAvortung der aufgOAVorfenen
Frage daher nicht leicht. Seitdem ich sie in meinem Buchwesen S. 353 ff.
behandelt, hat sie Avenig Förderung erfahren. Besonders enttäuschten
1) Prooem. 7; 1116,68.
«) VII 2, 24.
') Vgl . Teuffel, Eöm. Litteraturgesch.
*') Siehe Ovid Trist. 1, 7, 28.
5) Siehe Wachsmuth, Rhein. Mus. 45
S. 476. Weiteres bei Gräfenhain S. 50.
«) Vgl. DziATZKOS Artikel Apellikon
bei Paulj'-Wissowa, RE.
7) Buchwesen S. 437 Anm.
8) Cic. ad Att. 2, 6, 2: Hirzel, Rhein.
Mus. 47 S. 368.
9) Vgl. Gräfenhain S. 48.
316
Das antike Buchwesen.
Verleger
fehlen
Theater-
dichter
mich die Ausführungen L. Haennys, „Schriftsteller und Buchhändler in
E/Om", Halle 1884, da in dieser Schrift entscheidende Belegstellen falsch
ausgelegt und obendrein Dinge, die von Wichtigkeit, übersehen sind.
Be- Voran stehe die Wahrnehmung, daß im Altertum nie gehässig oder
gegen die mit Groll, wic doch leider heute nicht selten, über die Verleger gesprochen
wird. Hätten diese die Schriftsteller durchgängig übervorteilt, benach-
teiligt, ja, ausgenutzt, so müßten wir bei Martial oder verwandten Spott-
dichtern, die doch sonst kein Blatt vor den Mund nehmen und ihren
hämischen Groll niemals verbergen, einmal einen Wutschrei oder eine aus-
fallende bittere Bemerkung hören. Das ist aber absolut nirgends der Fall.
Nichts derart ist zu finden. Also müssen die Verhältnisse das Gerechtig-
keitsgefühl jener Zeit vollauf befriedigt haben, sie müssen normaler als
heute gewesen sein.
Wer richtig urteilen will, muß die verschiedenen Gattungen der
Litteratur sondern; er muß zugleich auch die von unseren heutigen so
abweichenden Verhältnisse der antiken Welt mit in Rechnung ziehen.
Es stand anders mit der Poesie, anders mit der aktuellen Publizistik, die
den Tagesinteressen diente.
Nehmen wir zuerst die Poesie. Dem Plautus wurden seine Komödien
vom Prätor oder Adilen zmn Zweck der Auffülirung abgekauft, i) und er
lebte von diesen Einnahmen, worauf ein Horaz mit Verachtimg zurück-
blickt, Epist. 2, 1, 175: Gestit enim nummum in löcidos demittere, post hoc
securuSj cadat an recto stet fabula talo. Ebenso kaufte der Tänzer Paris
dem Statins zum Zweck der Aufführung seine Pantomimentexte ab, und
nur dadurch kam Statins zu Gelde.^) Das betreffende Theaterstück, ob
Komödie oder fabula saltica, war nach solchem Handel nicht mehr Eigen-
tum des Dichters; dem Plautus ist es, wie Horaz sagt, nachdem er das
Stück verkauft, einerlei, ob es auch Erfolg beim Publikum hat oder nicht ;
er hat sein Geld in der Tasche. Wollte nun also ein Verleger das Stück
in den Buchhandel bringen, so mußte er das Recht dazu, wie sich von
selbst versteht, nicht von dem Dichter, der nicht mehr Eigentümer war,
sondern von dem betreffenden Beamten, resp. von jenem Paris, der des
Statins Pantomimen inszenierte, abkaufen. Nähere Angaben besitzen Avir
begreiflicherw^eise darüber nicht, die Sache aber ist klar.
Buchpoesie Audcrs staud es mit der Buchpoesie. Die schweren Sachen der
Epiker und Lyriker waren nicht für die große Masse. Wie hätte ein
Dichter wie Horaz von seiner Schriftstellerei leben sollen? In seinem
ganzen Leben hat Horaz nur zehn kleine Bücher fertig gebracht, die heut
etwa 250 Druckseiten füllen. Wie hätte er davon leben können, wenn ihm
ein Verleger wie die Sosii auch wirklich für jedes Büchlein ein gewisses
Sümmchen gezahlt hätte? Die Folge dieses Umstandes w^ar, daß Horaz und,
wie er, so ungefähr auch alle anderen Dichter der Buchpoesie auf Gönner
und reiche Liebhaber angewiesen waren. Die Armut trieb den Horaz frei-
lich zum Dichten an und machte ihn kühn (paupertas impnlit audax, ut
versus facerem Epist. 2,2,51); denn er w^ollte nicht hungern; aber er machte
^) scrihere faJndas solitus ac vendere, 1 ^) Jnvenal 7, 87.
Sueton p. 24 R. |
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 317
es dabei — so führt Horaz Aveiter aus — wie der Soldat des Lukuli, der
nachts seiner ganzen Barschaft beraubt wurde ; das versetzte den Krieger in
blinde Wut ; zornig gegen sich und die Feinde, beging er einen Handstreich
mit großer Bravour und Avurde dafür reich belohnt. Dieser Vergleich ist
genau durchzuführen: auch Horaz sclilug, indem er seine ersten Satiren und
die Epode 16 dichtete, gleichsam nur in Wut um sich und rechnete dabei
gar nicht auf Lohn ; aber seine Leistungen erregten großes Aufsehen, und
auch er Avurde alsbald reich belohnt, da nun Mäcenas sein Gönner Avurde. Hiife der
Er ist Klient des Mäcen, der ihn pekuniär sicher stellt. Auf diesem Wege, ^'^'^'"^"^
durch die Gunst der Großen, sind beide, Horaz und Vergil, Avohlhabend,
ja, reich gOAA^orden. 0\äd dagegen AA^ar von Hause aus ein Avohlhabender
Mann, und er begnügt sich damit, auf Euhm zu hoffen (Ars am. IH 408 f.).
Wohlhabend Avar auch Persius. Dieser aber bringt in seinem Prologus
\. 10 trotzdem die Phrase A^om Hunger an, der zum Dichten treibt:
maglster artis venter, und der Scholiast bemerkt dazu, Persius habe causa
vidus zu dichten begonnen, um regelmäßige Tagegelder zu erAverben, ut
salarium mereretur. Auch hier herrscht also die Vorstellung, daß ein
Dichter dichtet, um sich ein salarium zu erwerben. Wer zahlte in solchem
Falle das salariuml Gewiß nicht der Verleger, sondern nur der Patron.
Leider blieb die Gunst der Verhältnisse nicht die gleiche. Im Ver-
lauf der Zeit Avuchs in Rom die Zahl der Dichter und der Verseschmiede
ins Unendliche; in gleichem Maß aber Avuchs im I.Jahrhundert auch der
Überdruß der Leser, und es fanden sich bald keine verschwenderischen
Patrone mehr. Daher klagt im 2. Jahrhundert n. Chr. Juvenal, daß die
Poeten hungern. Niemand schenkt ihnen jetzt noch etAvas (Juvenal 7, 1 — 97).
Der Buchdichter lebt also von Geschenken, Avenn er nicht selbst Avie
Silius Italiens ein reicher Mann ist.
Hiermit haben Avir nun auch die Erklärung dafür gOAVonnen, Aveshalb Historiker
gewisse Autoren, vor allem so manche unter den Historikern, ich nenne
Polybius, LiA^ius, Tacitus, Appian, nicht dedizieren; es sind Männer, die
pekuniär selbständig dastehen. Sie brauchen keinen Patron. Ebendaher
hat JuA^enal in seiner siebten Satire, avo er das kärgliche Los der Litteraten
bespricht, über die Historiker am allerwenigsten vorzubringen; er geht
mit sieben Zeilen (v. 98 ff.) über diese doch meist Avohlhabenden Leute
hinAveg. L^nter den erhaltenen Dichtwerken fällt der „Aetna" auf; denn
dieses Lehrgedicht ist niemandem zugeeignet ; auch dies ergibt eine Schluß-
folgerung auf die gesellschaftliche Stellung seines uns unbekannten Ver-
fassers, i)
Wie gelangte nun aber der Buchhändler, wenn er doch dem Dichter i>er Patron
nichts zahlte, zu dem Eecht, ein solches Werk Avie die Oden des Horaz *^Emtion ^
in den Handel zu bringen imd für eigene Eechnung zu verkaufen? Wurde
ihm das Avirklich ohne alle Vergütung konzediert? Das ist undenkbar;
denn die Eömer Avußten zAvischen Mein und Dein just so gut zu unter-
scheiden Avie AAdr. Man kommt hier auch mit der Erwägung nicht durch,
daß es den Eömern scliAver fiel, geistiges Eigentum als Ware zu werten,
i) Sielie Philologus 57 S. 605 f.
318
Das antike Buchwesen.
SO wie gewisse Juristen behaupteten, eine fertige Statue müsse dem Eigen-
tümer des Marmorblocks gehören, aus dem sie hergestellt war; die auf-
gewandte Kunst und Arbeit rechneten sie nicht; womit sich vergleichen
läßt Gaius, Institut. II 1,33: hat Titius in eine leere Charta ein Gedicht
hineingeschrieben, so ist nicht Titius der Besitzer der Charta, sondern
der andere, der das leere Papier besaß; höchstens muß dieser den
Schreiberlohn für die Schrift an Titius entrichten. Aber diese primitive
Auffassung drang im römischen Hecht keineswegs durch. Der Jurist
Proculus wollte an den Statuen das geistige Eigentum des Verfei-tigers
\'ielmehr anerkannt wissen und sprach sie ihm deshalb ganz als Eigentum
zu.i) Und den Theaterdichtern Plautus und Statins ist ja doch auch tat-
sächlich, wie wir sahen, ihr Geistesprodukt gut bezahlt worden.
Dcdikation Hier ffilt CS, auf die Buchdedikation des Altertums, über die ich pc-
über- sprochen, nochmals acht zu geben. Das Dedizieren von Büchern ist für
tragung ^^^^ hcute uur Eliruug imd Ornament; bei den Alten hatte sie eine viel
wesentlichere und eminent praktische Bedeutung, cledicare ist soviel wie
donare „schenken". Es ist Besitzübertragung. Der Dichter gibt mit der
Dedikation sein Eigentumsreclit auf. Der Patron ist rechtlich durch diesen
Akt der Eigentümer des Dichtwerks geworden, und der Verleger, der das
Werk in den Handel brachte, konnte also dafür den Dichter selbst auch
nicht mehr honorieren; er hatte den Handel mit dem Avirklichen Besitzer
des Werkes, dem Vornehmen abzumachen, dem es vom Verfasser als
Eigentum zugesprochen und der der vindex lihri war. Daraus erklärt sich
auch die so häufige Äußerung der Schriftsteller, daß der Gönner, dem
sie ihr Werk darbringen, die Entscheidung treffen soll, ob es ediert, d. h. ob
es verhandelt werden solle oder nicht. Alles Geschäftliche, was Edition
und Verlag betraf, wurde, wie uns das Martialgedicht III 2 und besonders
des Statins Vorwort an Atedius Melior sowie Luxorius deutlich zeigte (oben
S. 314), vom Klienten an den Patron abgegeben. Dafür rechnete er seiner-
seits auf Solarium und Lebensunterhalt. Daher auch bei Martial das angst-
volle Hoffen und Harren auf ein Gegengeschenk, wenn er einem reichen
Mann ein Buchexemplar in schöner Ausstattung übersandt hat. Das Avaren
vitale Sorgen, und in alledem steht das Kliententum vor uns: eine Art
der sozialen Fürsorge der Hochfinanz für Dichter und Gelehrte, die uns
zum Glück heute fremd geworden.
Wenn also Horaz Ars poet. 345 sagt: hie meret acra liber Sosiis, so
Avar er persönlich an dem guten Absatz seines Buches schw^erUch inter-
essiert; und auch mit Martials Xenienbuch steht es nicht anders. Martial
Martial g^gt dortsclbst 13, 3, 5 zum Leser: Avenn du, aa^c ich, zu arm bist, um
AAdrkliche Gastgeschenke zu verschenken, so kaufe dies billige Buch, das
ich geschrieben und das a^oII A^on Xenien oder Gastgeschenken ist, und
bringe es deinen Gastfreunden (hospitibus) statt solcher Geschenke dar.
Natürlich soll das der Angeredete in Erwartung reicher Gegengeschenke
tun, und, AA'ie Avir folgern, hofft Martial selbst, der auch nichts Aveiter als
Klient ist, erst recht beim Dichten dieser seiner Xenien auf besonders
^) Vgl. Zur röm. Knlturgeschiclite » S. 72.
II. Verwendung der Beschreibstoflfe. B. Litterarisches. 319
reiche Douceurs von allen denen, denen er sie ins Haus schickt. Seine
späteren Bücher dediziert dann Martial ausdrücklich an vornehme oder
doch reiche Männer, und die Sachlage ist darum bei ihm auch so, wie
wir sie vorhin schilderten: der Detailverkauf findet statt, aber er selbst
hat keinen Profit davon: nescit saccuhis i$ta mens (11, 3, 6). Ein ander
Mal äußert Martial 5, 16, 10, daß seine Bücher nur gratis gefallen. Das
bedeutet aber natürlich nicht, daß der Buchhändler sie gratis verteilt,
sondern des Dichters Meinung ist nur: „Die Leser wollen meine Bücher
beim Händler, wo sie ausliegen, nicht kaufen ; ich muß ihnen, um gelesen
zu werden, die Exemplare schenken; die aber, die solche Gratisexemplare
von mir persönlich erhalten, schenken mir nichts wieder." Über die
pekuniären Beziehungen Martials zu seinem Buchhändler läßt sich hieraus
nichts entnehmen.
Zweifelhaft ist es, wie es mit Juvenals Satiren stand. Es muß auf- invenai
fallen, daß sich Juvenal, wo er die hungernden Dichter bespricht, darüber,
daß er selbst hungere und keinen Gewinn von seinen Versen habe, durch-
aus nicht beklagt; nur Epiker, Lyriker, Elegiker sind es, deren Schicksal
er bemitleidet, weil sie keine Gönner mehr finden. Damit hängt gewiß
zusammen, daß Juvenal selbst seine Satiren niemandem, auch nicht dem
Kaiser, dediziert. Er zeigt damit an, daß er selbst keine Geschenke will.
Er braucht die Vornehmen nicht. Endlich aber spielt Juvenal auch nie
auf den Buchverkauf seiner Satiren an, ganz anders als Martial. Er ist
als Litterat ein zufriedener, saturierter Mann gewesen, und es regt sich
darum der Verdacht, daß er selbst doch auch von seinen Versen hinläng-
lichen Vorteil hatte, sei es, daß er sie, nachdem er sie öffentlich vor-
gelesen,!) im Selbstverlag publiziert oder daß ein Bibliopole ihm das
Manuskript abkaufte. Denn solche Satiren hatten große buchhändlerische
Erfolge. So riß man sich auch um die Satiren des Persius, sobald sie
erschienen {cliripere coeperunt, Vita).
Wenden wir uns hiemach anderen Litteraturgebieten und zunächst B^jchhümi-
der Spätzeit zu. Auch in dieser Spätzeit sind die Litteraten unendlich seibst-
fleißig und erpicht, das Publikum zu belehren. Daß damals in der '■''^''^^^
römischen Welt der Buch verkauf zum Vorteil des Autors geschah, setzt
H. Dessau (Hermes 27 S. 573 f.) mit Eecht voraus. Ein Sulpicius Severus
(Dialog. I 23, 4) freut sich z. B. über den Verkauf seiner Vita Martini
Turocensis, der durch Buchhändler geschieht : nihil prmnptiiis, nihil cariits
vendebatur. Dabei achte man, beiläufig, auch auf das camis, welches
Wort uns zeigt, daß ein Buch, das beliebter ist als andere, auch teurer
als andere bezahlt wird, weil die Nachfrage größer. Der Händler schlug
auf, wenn die Sache sensationell war. Aus Hieronymus aber ersehen wir,
daß im 4. Jahrhundert der Autor gelegentlich allein bestimmt, in wessen
Hände Abschriften seines Werkes gelangen sollen, daß er ferner selbst
die Kosten der Herstellung trägt, dann aber auch anscheinend selbst gegen
1) Daß Juvenal seine Satiren im Hör- solche Sachen anhörte, beschaffen war und
saal vorlas, ergibt sich aus dem semper ob auch Frauen sich der Vorlesung der
ego auditor tantum ? eqs. (1, 1). Man möchte sechsten Satire Juvenals ausgesetzt haben?
freilich wissen, wie das Publikum, das |
rius biblio-
pola
320 I^^-s antike Buchwesen.
Geldzahlung Exemplare abgab,') und damit haben wir ein Beispiel für
Selbstverlag; hier ist der Händler ausgeschaltet.
mercenna- Auf dasselbe kommt es hinaus, wenn Apollinaris Sidonius, ein höchst
vornehmer Mann, zeitweilig römischer Stadtpräfekt und kaiserlicher
Schwiegersohn, den Vertrieb seiner Schriften einem intelligenten Sklaven
oder Söldhng überläßt; er nennt ihn mercennarius bibliopola.^) M. Krämer
vermutet mit Wahrscheinlichkeit, daß auch Ausonius sich eines solchen
zum gleichen Zweck bedient hat. 3) Die Benutzung eines mercennarius
hihliopola kann aber nur bedeuten, daß die vornehmen Autoren diesem
Menschen für seine MühcAvaltung eine feste Besoldung, merces, gaben,
und darin liegt, daß die Einnahme, die der Buch verkauf eventuell ergab,
nicht an diesen gefallen sein kann, sondern an den Auftraggeber, den
Autor selbst. Andernfalls hatte die merces keinen Sinn. Der vornehme
Schriftsteller sagt zu seinem Faktor: „Du erhältst ein Fixum für deine
Bemühung; die Unkosten für Herstellung der Exemplare trage ich selbst,
und die Einnahmen hast du mir auszuzahlen." Wir erkennen damit,
welche Formen der Selbstverlag annahm. In diesen Fällen hatte der
Autor eventuell selbst Gewinn vom Detail verkauf.
Cicero und Besoudors Sensationell war die Publizistik Ciceros, und bei ihm liepen
die Dinge ganz offen, und jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Anfangs
besaß er selbst viele Schreiber (s. oben S. 310); er muß sich ihrer damals
also auch zum Vertrieb seiner eigenen Schriften bedient haben ; denn wozu
hatte er sie sonst? Auch dies Avar Selbstverlag, und er kann ihn, Avie
Sidonius, nur so betrieben haben, daß er einem seiner Angestellten unter
bestimmten Bedingungen den Einzelverkauf überließ. Dann aber übernahm
Pomponius Atticus den Verlag der Cicerosachen, und wenn nun Cicero aus-
ruft: „du hast meine Rede pro Ligario brillant abgesetzt; in Zukunft Averde
ich dir für alles, was ich noch schreibe, Reklame und Verkauf {praeconium)
übertragen" — denn so und nur so kann diese wichtigste aller Belegstellen
ad Att. 13, 12 interpretiert Averden*) — , so ist CAndent, daß der Verleger
dem Autor bei Schriften, die sich so gut verkauften, daß der GcAvinn die
Herstellungskosten übertraf, tatsächlich auch Anteil am GeAvimi gab, so
damals Avie heute. Das ist ja selbstverständlich. Ein anständiger Mann
AAde Atticus hätte sich ja genieren müssen, das Plus allein in seine Tasche
zu stecken. Vollauf bestätigt Avird dies dadurch, daß Cicero und Atticus
sich hierbei in die Kosten der Beschaffung des Papiers teilten; denn
Cicero schreibt ad Att. 13, 25, 3: quoniam impensam fecimus in macrocoUa,
facile patior teneri. Hier steht fecimus im Plural noben patior im Singular;
also kann fecimus kein Pluralis maiestaticus sein, sondern Subjekt dazu ist
ego et tu.^) Der Autor hatte Anteil an den Kosten, also auch am Gewinn.
Unsere Zeugnisse sind damit aber noch keinesAvegs erschöpft. Denn
1) Grenaueres Buchwesen S. 111. | mitgeteilt.
2) Sidon. epist. IT 8, 2. | s) Buchwesen S. 353, 2. Daß da „Makro-
3) Siehe M. Krämer S. 71 u. 19. 1 koU" gekauft wurde, ist für uns hier ein
*) Wie gröblich sich Haenny in der 1 gleichgültiger Umstand ; wurde in diesem
Interpretation dieser Stelle geirrt, habe I Fall breites, so wurde in anderen Fällen
ich in Kritik und Hermeneutik S. 103 dar- | schmäleres Papier A'on den Männern ge-
gelegt und das Genauere zum Verständnis j meinsam angeschafft.
I
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 321
Seneca sagt, daß der librarius Dorus, der mit Ciceros Schriften Handel Doms
trieb, dm-ch Kauf in ihren Besitz kam. AVir lesen Sen. de benef .YII 6, 1 :
libros dicimus esse Ciceronis; eosdem Dorus librarius suos vocatj et utrumque
verum est: alter illos tamquam auctor sibi, alter tamquam emptor adserit.
Dorus war also emptor librorum Ciceronis \ wie Seneca hinzufügt, hatte
Dorus auch den Verkauf der Bücher des Livius inne, und der Zusammen-
hang der Stelle legt es nahe, anzunehmen, daß Dorus auch emptor librorum
Livii war. Es ist nicht ersichtlich, daß Dorus erst in Senecas Zeit lebte.
Wie dem aber auch sei und wer auch in diesem Fall der Verkäufer der
Livius- oder Ciceroschriften gewesen sein mag, auf alle Fälle ergibt sich,
daß der librarius das Werk, das er verhandelt, vorher bezahlt.
Und dazu kommt nun noch, was \^dr von dem Cyniker Menippos bei^^'^nipp'i^d
Diogenes Laertius 6, 8, 4 hören: evloi de rd ßtßXC avxov ovx amov elvai, ^"^° °^
aXXä Aiovvoiov xal Zcojivqov tcov KoXocpcovicov, o? rov naii^eiv evexa ovy-
ygoLcpovieg eölöooav amco <hg ev Svvajuevq) ötad^eod^at. Ob das hier Er-
zählte Wahrheit oder Fiktion, ist für uns einerlei; denn jedenfalls werden
uns hier reale Verhältnisse vorgeführt. Zwei Schriftsteller, Dionysios und
Zopyros, überlassen hier somit ihre satirischen Schriften dem Menipp, und
ZAvar lediglich aus pekuniärem Interesse, Aveil sie nämlich glauben, daß
er sie besser als sie selbst verkaufen kann. Der Autor erwartete also
direkten Geldgewinn vom Absatz seiner Schriften. Menippos gab sich als
Verfasser der Schriften aus und hat durch ihren Verkauf wdrkhch Geld
erworben: das Avird hier vorausgesetzt. Es ist klar, daß der Autor auch
sonst den Verkauf selbst vollzogen haben muß. Hermodoros dagegen
unterdrückte Piatos Namen nicht; Cicero stellt sich das Verhältnis des
Plato zu Hermodoros ganz ebenso vor wie sein eigenes Verhältnis zum
Atticus (ad Att. 13, 21, 4).i)
Das Beigebrachte genügt 2) und ist mehr als wir brauchen und als Ergebnis
wir erwartet haben. Denn man kann es im Grunde doch von keinem
Schriftsteller, weder heute noch im Altertum, verlangen, daß er uns Er-
öffnungen über seine Honorareinnahmen macht. Man lese die klassische
deutsche Litteratur von Klopstock bis zu Goethes Ende darauf durch,
ob einer unserer Litteraten wirklich damals so geschmacklos und indiskret
: geweseil ist, in seinen Publikationen dem Publikum selbst anzuvertrauen,
ob und was ihm sein Verleger bezahlt. Derartiges ist erst ganz neuer-
dings in Blättern wie der „Feder" oder dem „Korrespondenzblatt des
Akademischen Schutz Vereins" zur Sitte geworden. Sonst kann man über
solche Dinge nur in intimen Privatkorrespondenzen Mitteilungen finden;
und so war es auch im Altertum. Es ist durchaus natüiiich, daß z. B.
ein Mann wie Quintilian VI praef. 16 über diese Dinge sich ausschweigt
und daß wir über sie innerhalb des Altertums grade nur in Privatbriefen,
in den Briefen Ciceros an seinen Verleger, orientiert werden. Um so ent-
scheidender ist, was uns Cicero dort sagt.
Wir schließen mit dem Ergebnis ab, daß gewisse Artikel dem Autor
^) Vgl. Buchwesen S. 435, 3. ' nummorum statt numerum daselbst durch-
') Von dem Vers 55 E. des Laberius i aus unsicher ist.
habe ich hier abgesehen, weil die Lesung 1
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 21
322 I^^s antike Buchwesen.
tatsächlich eine gewisse Einnahme brachten. Groß aber dürfte der Gewinn
den man aus dem Buchverkanf zog, in keinem Fall gewesen sein, und
ganz gewiß hat kein antiker Schriftsteller, die Theaterdichter etwa aus
genommen, vom bloßen Absatz seiner Schriften leben können. Denn der
Verleger hatte damals mit den ungünstigsten Umständen, er hatte mit der
Privatabschrift zu rechnen, über deren Bedeutung gleich hernach zu
reden sein wird und gegen die der Nachdruck , über den sich unser
18. Jahrhundert beschwerte, ein geringes Übel war.
10. Bücherpreise.
Hohe J)qj. Ladenpreis der Bücher war im Altertum sehr hoch, und erst,
preise wer sich das klar macht, begreift, Avelcher Luxus und pekuniäre Kraft-
leistung für das Altertum eigentlich seine Litteratur gewesen ist. Nicht
viele Ajigaben sind erhalten, aber sie stimmen unter sich gut überein.
Ein einzelnes Prosabuch des Chrjsipp, etAva im Umfang eines einzelnen
Liviusbuchs, kostete im Handel 5 Denare, das sind 4 Mark 10 Pfennige.
Das w^ar die normale Preislage. Da das Geld aber im Altertum sehr
^del teurer war als heute, so würde dieser Buchpreis im heutigen Handel
und AVandel vielmehr etwa 14 Mark bedeuten, i) Es war also, wie man
sieht, ein ganz gewaltiger Aufwand, sich eine Bibliothek zu halten. Wer
sich alle 142 Bücher des Livius kaufen w^ollte, hatte 710 Denare zu zalilen;
das wüi'de — nach dem Gesagten — im heutigen Geldwert allein schon
gegen 2000 Mark ergeben. Daher auch in der Apostelgescliichte 19, 19
die erstaunlich hochgegriffene Wertangabe über die in Ephesus ver-
brannten Bücher: xai ovveifrjcpioav rag xijudg avrcöv xai evQOv aQyvQiov
jbiVQidöag nevre.
Diese hohen Preise müssen sich aus der Höhe des Schreiberlohns,
scripturtty und der Teuerkeit des Papyrus selbst, tomus, erklären, scriptura
und tomus werden so von Martial 1, 66, 3 zusammengestellt. Über den
hohen Wert der Charta selbst ist oben S. 278 f. gehandelt. Über die Höhe
des Schreiberlohns dagegen wissen wir nichts. Anekdotenhaft ist, was
Athenaeus p. 614 E erzählt, daß König PhiHpp von Macedonien, der die
Witzlitteratur liebte, ein Talent an die attischen Spaßmacher schickte, IV
eyygacpöjuevoi td yeXola Jtejujiwoiv avrcp.
Phiion jT£<ji Wenn bei den Griechen solche Werke, wie des Philon von Byblos
KTijosois 2wölf Bücher Tzegl xxrjoecog xai exkoyfjg ßißXicov, von denen uns Suidas
meldet, 2) aufkamen, so liegt der Gedanke nicht fem, daß dieser offenbar
sehr gründhche Wegweiser auf dem antiken Büchermarkt auch Bücher-
preise angab; das besagt jzeqI xxrjoecog. Ereilich müssen die Preis-
schwankungen für No\dtäten, da sie nur auf dem verschiedenen Umfang
der Bücher beruliten, unerhebUch gewesen sein. Bei Philon aber handelte
Antiquaria CS sicli gewiß vielfach aucli um ältere Sachen; auch das xräodai ßißliay
id I
is- I
') Genaueres hierüber Buchrolle S. 28 | ^) Aehnlich aucliTelephosPergamenus
bis 30. Wenn im übrigen von Liebhabern 1 (Suidas) ; ja, schon Artemon von Kassan-
für Originalmanuskripte von Gelehrten i dreia, der :jeQi owaycoyijg ßißUoyv und :jisqI
enorme Preise gezahlt wurden (Buchwesen j ßißXicov xQrjoscog schrieb (Athen, p. 515 E u.
S. 355), so hat das mit dem eigentlichen j 694 A).
Buchhandel nichts zu tun.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 323
das Lucian Adv. indoctmn 4 scliildert, betrifft grade das Zusammenkaufen
solch alter Schmöker, und es versteht sich, wde unsere heutigen Antiquariats-
kataloge zeigen, von selbst, daß Exemplare vergriffener und seltener
Schriften im Wert sehr schwankten und oft gewaltig hoch getrieben
sein müssen :i) rivä jukv jtaXaid xal jzoUov ä^ia, nvd de (pavXa xal äXXcDg
ooTigd (Lucian ibid. cap. 1).
Bedeutsame Worte liest man bei Dio von Prusa, Orat. 21, 12, und auf
sie sei noch besonders hingewiesen: rd dgxaia rcbv ßißXUov ojiovdaCdjueva
cbg äjueivov yeygajujueva xal ev xgehrooi ßißXioig. Denn diese Worte ergeben,
daß schon zu Dios Zeit, um das Jahr 100 n. Chr., sowohl Schrift wie
Buchpapier, scriptura und tomus, an Quahtät gegen früher durchgängig
zurückgegangen sein müssen; auch das Buchpapier; denn darauf geht
iv xgeiTTooi ßißXioig. Die älteren Chartarollen Htterarischen Inhalts wurden,
wie wir hier lesen, gesucht, weil besser an Papier und besser geschrieben.
Dio fügt dann noch liinzu, daß man damals die Naturfarbe der älteren
Charta, die so begehrenswert schien, künstlich zu imitieren suchte.
Schubart urteilt (Das Buch S. 5), bis tief in die Kaiserzeit hinein sei der
Dui'chschnitt der erhaltenen Papyri als gute Ware zu bezeichnen. Dio
war doch anderer Ansicht.
Daß sich alte Rollenexemplare konservierten, w^ird bisweilen aus- ^t^^r der
drücklich erwähnt ; so gab es zu Quintilians Zeit noch veteres libri des ^^^^ *^^
Cato und des Lucilius mit archaischer Orthographie ; 2) diese Rollen
mochten also zweihundert Jahre alt sein. Ebenso alt waren aber auch
die Originalexemplare der Gracchen, die Plinius nat. bist. 13, 83 s) erwähnt.
Besonders die Magier brauchten für ihre Weissagungen gern alte Schar-
teken; s. Lucian Philops. 12.*) Merkwürdig zu sehen ist es, wie Mark
Aurel und Fronto sich einem alten Enniusexemplar gegenüber verhalten.
Der junge Mark Aurel hat seinem Lehrer Fronto ein offenbar uraltes
Exemplar des Sota des Ennius geschickt; Fronto läßt das Werk auf
sauberer Charta, in einer eleganteren Rolle und mit schöner Schrift neu
herstellen ö) und schickt es so dem kaiserhchen Prinzen zurück; das alte
Original beliielt Fronto, der Liebhaber der antiquaria, stillschweigend
für sich. Mark Aurel aber läßt sich den Tausch gerne gefallen (Fronto
p. 61 Nab.).
Es leidet keinen Zweifel, daß damals derartige Antiquaria exorbitant
teuer und fast unerschwinglich gewesen sein müssen.
Der Ladenpreis bestimmte sich, wie wir sahen, nach tomus und scrip- Normai-
tura. Die scriptura der Buchschreiber aber wurde nach der Zahl der Zeilen,
Birj^ orixoi, versus, bezahlt. ß) Dabei ivurde nach einer Normalzeile von
circa 35 Buchstaben oder 15 — 16 Silben — das ist die Hexameterlänge —
teuer und
DerL£
(iura. Die s
ijzrj, oTixoi,
circa 35 Bi
1) Buchr
preise für äl
2) Quinti
3) Oben
*) SuDHi
Schaft IX 2 ;
^) Eben
^) Buchrolle S. 31 f. Enorme Buch- ' weisen, dcoß die Vorlage der Kopie ein
preise für ältere Werke gibt Gellius 3, 17. \ voliimen ingratum von charta impura und
2) Quintil. 9, 4, 39. schlecht lesbarer Schrift war, deutliche
3) Oben S. 266 Z. 49. j Merkmale des Alters. Vahlen, Enn.
S. LXXXII, hat bei diesem Umstand nicht
genügend verweilt.
6) Siehe Diocletians Edikt, CIL. III
p. 831; Buchwesen S. 208.
21*
*) Sudhaus, Archiv f. Eeligionswissen-
schaft IX 2 S. 198.
^) Eben die Worte in charta puriore
et volumine gratiore et littera festiviore be-
324 ^^^ antike Buchwesen.
gerechnet. Das E/echnen nach Silben wird öfters erwähnt; es beruhte auf
lautem Lesen und setzt voraus, daß der Schreiber, wie wir S. 309 dar-
gelegt haben, nach Diktat schrieb, i) Es wurde nach Silben geschrieben,
weil nach Silben diktiert wurde ; syllahatim sagt Cicero ad Att. 13, 25, 3.
Interessant ist, wie sich der Pastor Hermae dieser Silbenzälilung gegen-
über in Verlegenheit befindet. Im Pastor Hermae Vision. II 1, 4 geht die
Frau Kirche einher und Hest ein Buch; der Autor entlehnt es von ihr
und schreibt es ab, und zwar /lezeyQaipdjurjv jidvxa JiQog ygdjujua' ov^ rjvgioy.ov
ydg rag ovXXaßdg' releoavrog ovv /llov rd ygdjUjuaTa tov ßißhdiov xrX., woraus
wir entnehmen, daß es, wie so oft, in diesem Buch an Worttrennung
fehlte, und da der Autor niemanden hatte, der ihm den Text diktierte,
konnte er ihn nicht nach Silben schreiben, sondern mußte die einzelnen
Buchstaben abmalen. Der Diktierende sprach also langsam und sonderte
die Silben. Diese Stelle schien schon dem Clemens Alexandrinus auf-
fäUig, der über sie berichtet, Strom. 6, 131.
sticho- Es war griechische Sitte, die Zahl der Stichen in der Subscriptio
jeder Buchrolle anzugeben, wovon zahlreiche Reste, z. B. in den De-
mostheneshandschrif ten, erhalten sind ; ^) auch am Rand des Textes selbst
fand sich oft solche Zählung. Es fehlt nicht an Anzeichen dafür, daß
dasselbe Verfahren auch bei den Römern übhch war ; für Firmicus Maternus
haben wir die Angabe: secundus über habet versus MDCCCXXV.^) Dies
ist die Stichometrie der Alten.*) Sie diente wohl nicht nur zur Be-
rechnung des Schreiberlolins, sondern auch für den Buchkäufer dazu, die
Vollständigkeit des vorHegenden Exemplars zu kontroUieren. Die uns
erhaltenen Summen werden bei den griecliischen Autoren in den hand-
schriftlichen Subskriptionen in vielen Fällen, wie beim Demosthenes, noch
mit den Ziffern der alten, attischen Dekadenschrift und nicht mit den
gewöhnlichen Zalilenbuchstaben gegeben, wodurch wir für diese Zählungs-
weise in erhebHch frühe Zeit hinauf verwiesen werden.
Koiometrie ^qy sci eingeschaltet, daß man Werke, die in rhythmischer Prosa
abgefaßt waren, gelegenthch auch zur VerdeutHchung der Rhythmik wie
ein lyrisches Gedicht per cola et commata niederschrieb, so daß die ein-
zelnen Kola ungleicher Länge immer je eine Zeile einnahmen. Die Zeilen-
länge schwankte hier. Dies geschah in den Rhetorenschulen zur Er-
leichterung der Deklamation und wurde dann auch auf kirchliche Texte,
:i
^) Ich zitiere die Subscriptio im cod. | ^) Siehe Archiv f. Lexik. lY S. 611.
Cheltenh. 12266 (Mommsen, Hermes 21 i *) Ich erinnere speziell an die Sticho-
S. 142f.iind25 S.636f.): gwonia^w m^?ez(7wm | metrie des Nikephoros Oonstantinopolita-
versuum in urhe Roma non a(dy liquidum, sed
et alibi avariciae causa non hdbent integrum,
per singulos libros computatis syllahis posui
. . . numero XVI versum Vergilianum, omni-
hus libris numerum adscrihsi. Dies betrifft
nus (ca. 800 n. Chr.) im Anliang seiner
Ohronographia (ed. de Boor, Leipz. 1880).
G-rundlegendes für diesen Gegenstand
gaben F. Ritschl, Opusc. I S. 191 ff. und
H. Graux, Re^-ue de phil. II S. 97 ff.
die Stichometrie im Alten Testament. Das | Danach Gardthausen, Paläogr., 1. Aufl.
S. 127 ff. und meine Ausführungen, Buch-
wesen S. 162 ff. Uebrigens oben Kritik
und Hermeneutik S. 39 ; Einzelbeiträge z. B.
von DiELS, Hermes 17 S. 377 f. ; Fuhr, Rhein.
Mus. 37 S. 468 ff.
althebräische Buchwesen selbst zählte nicht
die Zeilen der Bücher, sondern die Buch-
staben, die sie enthielten: Blau, Rivista
Israelit. S. 54.
») Vgl. Anm. 4.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
325
Privat-
abschrift
oft auf
geringem
Material
die bei der Liturgie vorzulesen waren, übertragen, i) Doch hat diese
„Kolometrie" mit der eigentlichen Stichometrie nichts zu tun.
11. Privatabschrift.
Blicken wir nun aber auf die erwähnten hohen Bücherpreise zurück,
so wird es begreiflich, daß der Minderbegüterte den Buchkauf auf alle
Weise umging. Ein Schutz des litterarischen Eigentums fehlte im antiken
Kulturleben, das zum ersten Mal Buchhandel und Verlagswesen ausbildete,
noch gänzhch. Es blühte also die Privatabschrift. Sie machte dem
Buchhandel eine ungeheure Konkurrenz. Man kann schwanken, ob die
Privatabschrift jene hohen Bücherpreise selbst hervorrief oder die letzteren
zur Selbsthilfe des Publikums ihrerseits den Anlaß gaben. Die Einwirkung
war gewiß wechselseitig.
Das Schlimmste war, daß dies Verfahren die Zuverlässigkeit der
Tradition der Texte selber schwer gefährdete. Jeder, der da wollte,
borgte sich von einem Bekannten ein Exemplar des ihn interessierenden
Werkes und nahm eigenhändig oder durch seinen Amanuensis Abschrift. 2)
Soll doch sogar Demosthenes sich seine Bibliothek selbst geschrieben
haben. 3) Auch Cicero kopierte sich Texte gelegentlich eigenhändig.*) Der
gemeine Mann aber griff in solchen Fällen zu dem lumpigsten, gering-
wertigsten Beschreibstoff, er schrieb auf der Rückseite von irgendwelchen
Aktenstücken (vgl. oben S. 278; 302), sogar auf Ostraka.^) Dabei wurde
sogar der Titel der Schrift, um die es sich handelte, bisweilen weggelassen, ß)
Ist es nicht lehrreich, daß Clemens Alexandrinus 6, 131, wo es sich um
Privatabschrift des Propheten Jesaias handelt, ausdrücklich befiehlt, für
einen so heiHgen Text solle man ein xaivov ßißXlov nehmen? Das be-
stätigt den tatsächlichen Befund: in Wirklichkeit nahm man zu solchem
Zwecke allermeist alte Scharteken. Mit den meisten der massenhaften
Htterarischen Papyrusfunde, die man neuerdings gemacht hat, verhält es
sich in der Tat so. Daher ihre Geringwertigkeit und abnorme Beschaffen-
heit.') Aber auch aus Rom und sonst haben wir die Zeugnisse für dies
Verfahren und aus allen Jahrhunderten. »)
Anders lag der FaU, wenn vornehme Leute wider Willen des Autors
von Werken, die noch gar nicht ediert waren, aus Neugier sich Kopie
nahmen oder zu verschaffen wußten, worüber sich Cicero zu beschweren
hatte. 9)
Vielleicht sind manche Werke, die wir besitzen, überhaupt nie ediert, ]^^g!^®°_
sondern nur auf dem angegebenen Wege durch Privatabschrift propagiert handeis
worden. Als Beispiel kann dienen, was ich S. 315 über des Firmicus
Matemus Mathesis und Verwandtes mitgeteilt. Sidonius ApolHnaris schickt
^) Siehe Hieronym.praef. Jes.I; Euseb.
bist. eccl.VI 16 ; Lachares bei Kastor, Walz,
Rhet. in S.721 ; Bucbwesen S.178 ff . u. 219f . ;
MoMMSEN, Schriften 11 S. 347.
2) Siehe BuchroUe S. 197 f. ; Buchwesen
S. 282 ff. u. 346.
') Lucian Adv. indoct. 4.
*) Buchwesen S. 282 f.
') U. WiLCKEN, Archiv für Papyrus-
forschung II S. 174.
6) DziATZKO, Unters. S. 158.
A Vgl. auch oben S. 23 Anm. 5.
8) Siehe Hieronym. epist. 49, 2 ; M. Krä-
mer S. 16 f.; 59.
») Cic. ad Att. 13, 21, 4.
326
Das antike Buchwesen.
ein einzelnes Exemplar eines seiner Werke auf Reisen und läßt es bei
einem Dutzend seiner Freunde in Frankreich herumgehen; jeder darf sich
Abschrift nehmen und hat es dann an den nächsten weiterzuschicken;
schließlich geht das Exemplar an denjenigen Freund des Autors zurück,
dem das Buch dediziert ist; denn dieser ist der Eigentümer. i)
Inwieweit Die Volumina Herculanensia weichen in manchen Beziehungen von
^'haitenen^ den ägyptischen Bücherfunden ab und scheinen zum Teil wirklich rechten
Papyri Buchhändleroxemplaren zu entsprechen; denn sie sind keine Opistho-
händier- grapha (vgl. oben S. 301 f.). 2) Das gilt besonders von dem monumental
exempiare ? geschriebenen lateinischen Epos über den aktischen Krieg, von dem sich
die Trümmer in Herculaneum gefunden haben.
Fast alle aus Agy}:)ten stammenden litterarischen Papyri verraten
sich dagegen, wie gesagt, durch deuthche Merkmale als Privatabschriften.
Als Ausnahmen seien etwa die Homerpapyri Ilias ^ und Odyssee y bei
Häberlin, Griech. Papyri Nr. 22 u. 27, erwähnt. Dziatzko unternahm den
Versuch, an bestimmten Merkmalen rechte Buchhändlerexemplare oder
Normalexemplare von den Privatabschriften zu imterscheiden.^) Als zu-
treffend betrachte ich, daß erstere besseres Papier hatten, der Regel nach
keine Opisthographa waren, die Buchschrift geübter und unindividueller
war, grobe Korrekturen von erster Hand gefehlt haben. Vornehmlich
sind als Privatskripturen alle diejenigen zu betrachten, die mit Schollen
von erster Hand versehen sind.*) Denn SchoKen sind Auszüge aus Kom-
mentaren (oben S. 83; 171), und es ist klar, daß sie in den Buchschreibereien
der Verleger nicht so wie der Text selbst und mit ihm zugleich nach
Diktat vervieKältigt werden konnten.
Auch der neue Callimachuspapyrus, Oxyrhynch. Pap.VII n. 1011 verrät
sich deutlich als Privatabschrift; gleichwohl scheint nötig, kurz bei ihm zu
verweilen, da der eigentümliche Sachverhalt, den er uns zeigt, bei flüch-
tiger Betrachtung doch leicht mißdeutet werden könnte. In diesem E/oUen-
rest stehen der Schlußabschnitt der Miia des Callimachus mit subscriptio
und die ^'lafjißoi desselben mit inscriptio hintereinander. Daraus ergibt
sich natürlich nicht, daß der Dichter selbst seine beiden Werke in eine
SarmnelroUe, ßißlog ovjujuiyijg^ gestellt hatte; sondern dieser Papyrus ist
ein Auszug, den sich ein Liebhaber zu seinem Zweck herstellte. Im
Schlußvers der Aitia, dortselbst v. 89, sagt CaUimachus von sich, daß er
als jzeCog dichte; auch dies kann zu der Mißdeutung verführen, als weise
er mit dem jieCog selbst auf die folgenden Jamben hin, die einer niederen
Dichtgattung angehören, als habe also Callimachus selbst die Jamben un-
mittelbar im Buch an die Aitia angelaiüpft. Jenes Tze^ög ist jedoch, wie
auf der Hand hegt, vielmehr im Gegensatz zu dem, was voraufgeht, ge-
sagt; denn im v. 86 dieses Aitiarestes heißt es vom Epiker, daß er, als
ein Dichter großen Stils, hoch zu Roß reite oder daß seine Musen im
Calli-
machus-
papyrus
1) Sid. ApoUinar. carm. 24.
2) Anders urteilt Schubart S. 152. In
diesen EoUen ist nicht nur die Schrift ver-
schieden, sondern auch die Sorte der Charta,
das Schreibmaterial, bald dünner, bald
dicker, bald feiner, bald gröber; s.W. Crö-
NERT, Neue Jahrbb. V (1900) S. 588.
') Untersuchungen S. 153 ff.
*) z.B.derAlkman; auch derEpicharm
in Mitteilungen Erzherzog Rainer V S.lff.
(Dziatzko S. 160).
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 327
rossebespannten Wagen daherf aliren : reo Movoai ... ovv juvßovg IßdXovto
nag r/vtov o^eog I'tzjiov. Dazu gibt der Schlußvers 89 den Gegensatz: ich
bin nur ein Elegiker, der von Liebesdingen handelt: avrdg eyo) Movoeoyv
jze^og eneifii vo^ov, wofür uns Ovid und Properz die Aufklärung geben;
Ovid sagt Am. 3, 15, 18, nicht die Erotik, sondern das Epos ist ein Eitt
(oder Wagenfahrt): pulsanda est magnis area maior equis, Properz sagt
II 10, 2: ich will jetzt die Erotik verlassen und ein Preisgedicht auf
Augustus dichten: et campum Haemonio iam dare tempus equo. Ist zu
solcher epischen Leistung die erotische Elegie der Gegensatz, so ist sie
Ifür Properz sermo pedester; ebenso ist der Dichter der Aitia nei^og. Nun
[Stehen aber auf dem Papyrus subscriptio und inscriptio folgendermaßen
hintereinander :
KaXkc/Lidxov Altioiv ö.
Kailifxdxov "laf-cßoi.
Ginge diese Buchrolle so, ^vie sie uns das gibt, auf die Ausgabe des
CaUimachus selbst zurück, so würde der Name des Dichters nicht beide-
mal stehen, sondern es stünde an zweiter SteUe rov avrov. Der Schluß
der Aitia mit Subskription ist also aus einer anderen Rolle abgeschrieben
als der Anfang der 'Jajußoi mit Inskiiption. Daher steht beidemal der
Dichtername.
Die Privatabschrift hatte also die weiteste Ausdehnung, ein rastloser Geringer
Betrieb zu allen Zeiten. Gleichwohl Hegt die Sache für uns günstig, ^'pritat^^'^
Denn für die meisten der uns erhaltenen Autoren des klassischen Alter- abschriften
tums dürfen, ja, müssen wir annehmen, daß ihr Text, so wie er uns in
den Handschriften des Mittelalters vorHegt, in letzter Linie nicht auf
solche Privatabschriften, sondern auf ein rechtes Editionsexemplar, d. h.
auf einen Originaltext zurückgeht, den der Autor selbst — eventuell mit
der Zustimmung und Beihilfe des Freundes, dem er das Werk gewidmet —
zur Edition hergerichtet und zur Grundlage der Vervielfältigung bestimmt
hatte. Denn nur auf diesem Wege hergestellte Exemplare werden in den
öffentlichen Bibliotheken niedergelegt worden sein. Wir handeln im Ver-
folg nur von ihnen.
12. Ausstattung der Rollen.
Über die Ausstattung der Buchrolle, die htterarischen Zwecken diente,
findet man in den Hand- und Lehrbüchern — und so auch in dem vor-
liegenden Abriß — immer wieder dasselbe Belegmaterial verwendet. Doch
hat sich durch die Betrachtung der Monumente, E-eliefs, Terrakotten, Mosaiks,
der Malerei und der großen Plastik des Altertums manches Detail hinzu-
gefunden und manche imgenaue Vorstellung präzisiert, und wenn ich
nunmehr diese Dinge, deren Tragweite gering, in mögHchster Kürze zu-
sammenfasse, so lege ich dabei zum Teil die ausführHcheren Auseinander-
setzungen zugrunde, die ich in der „Buchrolle in der Kunst" S. 228 — 268
gegeben, indem ich nur da, wo sich Zweifel erheben, den Boden des
Referats verlasse.
Titel und Autorname mußten, wenn nicht im Buch selbst (s.oben /^J^^jf^^^^
S. 299 ff.), so doch jedenfalls an der Außenseite jedes geschlossenen Kon-
328
Das antike Buchwesen.
Titel auf be-
sonderem
Zettel
Conservie-
rung des
Charta-
buchs
voluts möglichst sichtbar angebracht sein. Dies geschah nicht immer in
derselben Weise, und das Verfahren war anfangs primitiv. Denn in der
voralexandrinischen Zeit begnügte man sich damit, den Titel einfach
direkt auf der Außenseite des zusammengerollten Rollenzylinders selbst
entlang zu schreiben, wie das schöne Bild auf der Euphroniosvase, „Buch-
rolle" Abb. 84, es uns lehrt. Daher heißt die Titelaufschrift des Buchs
beim Komiker Alexis mit Recht „Aufschrift", emygajujua,^) und dies em-
ygajujua entsprach der Aufschrift gesclilossener Briefe, wie sie unter den
erhaltenen Papyri häufig angetroffen sind. 2) Aber auch noch der Sosylos-
papyrus trägt auf seinem Rücken die Aufschrift : 3)
SoiOvkoV T.(bv
JlBQl 'AwißoV
Jigä^scov ö
Ebenso ist auch noch die emyQacprj des ßißXiov, das an Orakelstätten ge-
schickt wird, bei Lucian Alex. 54 gemeint. Ob auch das in libris nomen
suum inscribere, das Cicero pro Archia 26 den alten Philosophen zu-
schreibt,*) ebenso zu verstehen ist, bleibt unsicher.
Später, d. h. wohl seit der Zeit der großen alexandrinischen Biblio-
theksverwalter, begnügte man sich jedoch mit solchem emyQaju/bia nicht
mehr, sondern es wurde am Kopf des Konvoluts vielmehr ein perga-
mentener, bunt gefärbter Zettel, der die betreffenden Worte trug und
den wir so oft auf Abbildungen sehen, befestigt. 0) Dieser Zettel heißt
oiXXvßog oder ovnvßog^ titulus^ index.^) Die Worte auf dem titulus heißen
lemmaJ) Bisweilen war dieser Zettel umfangreicher, so daß man in Brief-
sammlungen auf ihm auch die Namen sämtHcher Adressaten finden konnte,
die das Konvolut entliielt ; «) und es ist wahrscheinlich, daß auch im Fronto
und bei Cicero Ad familiäres das Titel Verzeichnis, das der betreffenden
Brief Sammlung in den Handschriften vorausgeht, von solchen Zetteln
stammt. 9)
Die Charta war nun aber, wie schon angedeutet, leicht gefährdet.
Sie splitterte, zerriß leicht, verfiel bei feuchter Luft der Fäulnis {caries),
wurde ein Opfer der Motten, der Mäuse und des Bücherwurms. Ein
Chartabuch, das, geschont und wenig benutzt, ein Alter von zweihundert
Jahren erreichte, galt schon als Mirakel. ^o) Zu seiner Konservierung
wurden nicht nur Rauheiten am Buchschnitt mit Schere und Bimsstein
Aveggenommen und geglättet (oben S. 309, 1) ; man bestrich es auch oft mit
Cedrusölii) und schüttelte die zusammenklebenden Rollen aus {situ cohaerent;
excuti debent, Sen. epist. 72, 1).
Vor allem aber wurde für einen guten Verschluß der Rolle gesorgt;
^) Buchrolle S. 237 f.
») DziATZKO a. a. 0. S. 126.
3) U. WiLCKEN, Hermes 41 S. 103 ff.
4) Vgl. Amm. Marcellin. 22, 7, 3.
5) Blichrolle Abb. 64 ; 67 ; 103 ; 154 : 156 ;
157; 159.
®) Ueber oiXkvßog und oixxvßog LoBECK,
Proleg. pathol. S. 290; M. Haupt, Opusc.
III S. 411.
7) Auson. XV 1,2; vgl. M. Krämers. 13.
8) Siehe Sid.ApoUinar. epist. VIII 16,1.
9) Siehe H. Peter, Der Brief etc. (Ab-
handl. sächs. GW. XX, 3) S. 57 ; M. Krämer
S. 36.
10) Buchwesen S. 366.
11) aA«tV«v Lucian AdA^ indoct. 7; bes.
Vitruv 2, 9, 13 ; vgl. P. Wolters, Jahrbuch
d. arch.Inst. 24, Heft 2, S. 60 f. ; Marquardt-
Mau S.815f. Ueber Martial III 2,7 {cedro
perunetus) unten S. 330.
II. Verwendung der Beschreibstofife. B. Litterarisches. 329
und zwar schon bei den Ägyptern. Man schloß sie, wie den Brief, mit Siegeln
Strick und Siegel, i) Daher die o(pQayig des Theognis. Der Text des
Monumentum Ancyranum des Augustus befand sich ursprünglich in ver-
siegelten EoUen, signaüs voluminibus (Sueton Aug. 101). Sieben solcher
Siegel hat auch die Eolle in der Johannesapokalypse 5, 2, und das ävoiyeiv
t6 ßißXiov bedeutet dort nicht das Auseinanderrollen, sondern nur das
Lösen jenes Verschlusses; es findet statt mittels des Xveiv rag ocpgayTdag.^)
Aber auch mit festem Riemenwerk schloß man die Rolle. Dies sind Riemen
die lora rubra membranae bei Catull 22, 7 (oben S. 298), die ihr unver-
kennbares Vorbild bei den Ägyptern haben (Buchrolle S. 9) und dann auf
Scliildereien der späten Kaiserzeit ebenso wieder auftauchen (ib. S. 241 f.).
Ebendasselbe ist ohne Zweifel auch das äfxfxa (poLvixivov, d. i. loriim rubrum^
das man bei C. W. Goodwin, Greek egypt. fragm. on mag. (in Publicat. of
the Cambridge Antiqu. Soc. 1852, Oct., S. 16) zusammen mit dem x^Q'^V^
erwähnt findet : 3) äjioxeiQÖjuevog ix rrjg xecpalrjg oov JQixa ovveh^ov ra> x^Q'^^tl
äjUjuari (poLVLxivcp.
Die Charta ist jedoch gegen jeden Druck empfindlich, und Riemen-
werk ist ihr nachteiHg; chartae alligatae mutant figuram sagt Petron 102.
Daher zog man es vor, die Rolle, wie wir unsere Tischservietten, in ein
vollständiges Futteral zu stecken, das aus Pergament hergestellt und paenuia
gern wiederum bunt gefärbt wurde. Es hieß öiq^^ega (Lucian), paentda
((faivoXrjg). Doch ^\'ird dies erst ziemlich spät und häufiger nur bei den
Römern erwähnt; weder in Herculaneum noch in Oxyrhynchos und wie
die ägyptischen Papyrusfundstätten sonst heißen, hat sich eine perga-
mentne paenuia gefunden, und nur jene Protzen und Bildungsrenommisten,
Avie Lucian sie schildert, die ihre BibHotheken nicht durchlasen, sondern
als Zimmerschmuck betrachteten, scheinen auf die paenuia, die die rasche
Benutzung der Bücher erschwerte, Wert gelegt zu haben.*) Übrigens
erscheint auch sie schon bei den Ägyptern. 0)
Hieran läßt sich nicht unpassend die Besprechung des Rollenstabes, umbuicus
ö/uxpaAdg, umbilicus, anknüpfen. Will man aber zum Verständnis desselben
gelangen, so ist es geboten, die jüdische Lederrolle von der Papyrusrolle
streng zu sondern. An der gottesdiensthchen Rolle der Juden sind zwei
„Säulen" oder Stäbe befestigt, die oben und unten weit hervorragen und
überdies noch eine Platte tragen, welche Platte in der Septuaginta als
xe(pa?ug „Kopfstück" bezeichnet wird.^) Unter xecpaUg wird dann auch
die Buchrolle selbst verstanden.') Dies Hervorragen des Stabes 'und die
xecpaUg daran waren nötig, weil der Ritus das heihge Buch selbst an-
zufassen verbot; das Buch wurde und wird bei den Juden nur mit Hilfe
eines solchen Stabes gehalten und auf- und zugerollt, und die xovxdxiay
die in den christlichen Kirchenkultus des Mittelalters übergingen, s) haben
I
^) Siehe z. B. Fronto ad M. Caesarem
I 8; Buchrolle S. 243 u. 9. Dazu Jesaias
29, 11 f.
2) Vgl. die genauere Interpretation
dieser Stelle Buchrolle S. 86, 2.
3) Siehe Dziatzko S. 126.
*) Ueber beschränkte Anwendung der
paenuia Buchrolle S. 239 f.
k) Buchrolle Abb. 18.
8) Siehe L. Blau, Althebr. Buchwesen
S.42f.
7) Siehe Rhein. Mus. 62 S. 488.
*) Zu den xoyidxia vgl. Wattenbach
S. 163 f. Irrtümlicherweise habe ich der-
330 Das antike Buchwesen.
dann auch dieselbe Art des umbilicus mit xecpa)dg oder Kjiopf als Hand-
habe der Pergamentrollen übernommen.
Die antike Papyrusrolle dagegen war kein Gegenstand der HeiHgung,
und sie hatte darum auch zumeist gar keinen Stab. Fast nirgends ist
ein solcher in den Papyrusfunden angetroffen worden, und er mrd uns
nur für Luxusexemplare erwälint. Kam er aber vor, so war er nicht am
Buch befestigt (nm- große, prospektartige Malereien hatten einen befestigten
Stab), sondern er saß lose und war zum Heraus- und Hereinschieben be-
stimmt. Ferner ragt€ er, me die in Herculaneum tatsäclihch gefundenen
Beispiele zeigen, nicht oben und unten aus der Rolle hen'or ; vor allem aber
hatte er kein „Kopfstück", keine Knöpfe, wie dieselben Beispiele zeigen, und
der nächste Zweck dieses pflockartigen Stabes war offenbar, den inneren
Hohlraum der zusammengerollten Rolle vor Staub zu schützen. Denn
Bücher sind Staubfänger; und da die Schrift nach innen stand, war dies
Schutzmittel um so nützHcher. Überdies aber wurde dies Stäbchen alsdann
natürhch auch zum Zusammenrollen der Papiermasse benutzt. Während
des Lesens rollte man das eben Gelesene mit der linken Hand an ihm
sogleich ^\deder zusammen, i)
Die Römer erwähnen diesen Rollenstab, der gern bunt bemalt oder ver-
goldet wurde, yiqI öfter als die Griechen, weil die Römer sich viel öfter
damit abgeben, Dedikationsexemplare zu beschreiben. Belegstellen für
den einfachen umbilicus sind Catull c. 22, 7 (oben S. 298), Horaz Epod. 14, 8
und dazu Porphyrio, Lucian De merc. conduct. 41, Adv. indoct. 16; für den
doppelten erst die späteren Dichter Statins Silv. lY 9, 8 und Martial V 6, 15
(u. sonst). Auch Sidonius Apollinaris denkt noch an wirkliche Rollen mit
umbilici.*) Wo zwei umbilici erwähnt werden, waren sie hohl und steckten
ineinander, und beim Lesen wui'den sie auseinandergenommen, der eine
im rechten Konvolut belassen, der andere zur Achse des linken Konvoluts
gemacht. 3) Die Redensart ad umbilicum adducere oder venire heißt dem-
nach soviel wie „bis zum Ende des Konvoluts gelangen, wo im Hohlraum
der Stab steckt".-»)
Eine kurze Besprechung erfordert Martial III 2, 7 f., wo man falsch
interpungiert. Der Dichter redet sein Buch an:
Cedro nunc licet ambules perunctus
Et frontis gemino decens honore
Pictis luxurieris umbilicis
10 Et te purpura delicata velet
Et cocco rubeat superbus index.
einst in meinem „Buchwesen" S. 24 den ! nicht Martianus CapeUa V 566, wo es von
Ausdruck y.ovxoq?6oog bei Lucian als Buch- ! der pagina (= „Buch") heißt:
rolle, die den Speer oder Rollenstab trägt, | quae tamen voluminis
verstanden. E. Rohde hat mich gründlich j vix umbilicum multa opertum fascea
dafür gestraft. Trotzdem übernimmt ScHU- 1 turgore pinguis insuit nibellulum.
BART S. 94 auch jetzt noch meine Weisheit, j lieber den Anstoß, den insuit auch sonst
1) Dies ist näher ausgeführt „Buch- ! gibt, s. Buchrolle S. 234, wo ich statt dessen
rolle" S. 228 ff. Dazu W. Weinberger, I iVj^m^ vermutete. Vielleicht ist aber m^wiY
Ztschr. f. österr. Gymnas. 1908 S. 579.
2) Siehe M. Krämer S. 35 f.
') Buchrolle a. a. 0.
^) Zu der unumstößlichen Tatsache,
zu lesen. Zu diesem Gebrauch von induere
kann Servius zu Aen. 10, 681 verglichen
werden: mucrone induat: . . . hypallage est
pro: mucronem suo induat corpore . . . id
daß der umbilicus lose saß, stimmt nur | est (mucro) tegitur et vestitur.
n. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 331
Der V. 10 geht auf die paenulay v. 11 auf den Sittybus, v. 9 auf die um-
hilicl', diese umbilid haben aber nichts mit der im v. 8 erwähnten frons
zu tun. Denn frons ist der Rollenschnitt; die frons wurde durch Be-
schneiden und Eeiben geglättet, außerdem gefärbt (s. S. 304 f.), das war ihr
honor; die umUUci trugen zur Verschönerung der frons nichts bei. Es
ist also natui'gemäß, die Worte so abzuteilen:
Cedro nunc licet ambules peninctus
Et frontis gemino decens honore.
Pictis luxurieris umbilicis eqs.
Es ist herkömmlich, an die Besprechung des umbilicus die der cornua
anzuknüpfen. Auch neuerdings wird, obgleich ich dies als falsch nach-
gewiesen, die Behauptung aufrecht erhalten, w^o man cornua erwähnt
findet, seien Knöpfe gemeint und der umhiUcus habe eben doch Knöpfe
gehabt. 1) Daß dies falsch ist, wird schon durch den soeben dargelegten
Tatbestand erwiesen, und ich könnte mich dabei beruhigen. Aber auch
sprachlich betrachtet, berührt die Gleichung cornu = „Knopf" mehr als
sonderbar. Man sehe den reichen Artikel „comu" im lateinischen Thesaurus
durch. Wo cornua in tropischer Anwendung steht, sind immer Gegen-
stände gemeint, die die gekrümmte Form des Halbmondes oder des Huf-
eisens besitzen, einerlei, ob sie dabei zugleich aus Hornmasse bestehen
oder nicht: so werden die Pferdehufe cornua genannt, ebenso die Ki-ebs-
scheren, die Blasinstrumente, die Gießgefäße für Öl, der Bogen des Bogen-
schützen. Das Auffälligste ist, daß auch die Laterne cornu liieß (Plaut.
Amph. 341; Priapeen 32, 14). Woher das? Symphosius Nr. 67 gibt uns
die Aufklärung, der von der Laterne sagt, sie ist cornibus apta cavis: d. h.
sie ist aus zw^ei hohlen HalbzyKndem zusammengesetzt (apta). Das Ge-
sagte trifft also auch hier zu; die cornua sind cava. Knöpfe heißen auf
lateinisch nicht cornua, sondern buUae; es ist nicht einzusehen, wieso
Martial sie cornua nennen konnte, da sie doch schwerlich eine geschweifte
Halbmondform hatten. Dafür, daß cornu ledigHch einen Gegenstand aus
Hom, ohne daß die geschweifte Form hinzutritt, bezeichnen könne, finde
ich keinen zuverlässigen Beleg. Wäre aber dies der FaU, so w^e man
ebur für die Flöte, ferrum füi' Schwert braucht, so w^ürde der Plural cornua
Anstoß geben. Denn kein Mensch setzt z. B. den Plural ferra füi*
SchAverter.
Wohl aber verstand nun auch noch jeder Römer unter cornua im
Plm-al die Endteile größerer geschweifter Flächen oder bauhcher Anlagen.
Ich habe dies „Buchrolle" S. 235 und Ehein. Mus. 63 S. 44 ausführUcher
erörtert und wiederhole hier die Belege nicht. Vor allem gehört daliin
auch das Heer mit seiner Schlachtordnung; denn auch das Heer hat Flügel,
cornua, und dasselbe Heer wird aufgerollt wie die Rolle; man sagt ex-
plicare aciem wie expUcare librum usque ad sua cornua. Ja, sogar ex-
plicare cornu dextrum wird von Livius 36, 44, 1 verbimden. In diesem
Sinne habe ich daher oben S. 299 die cornua der Rolle besprochen.
1) Leider ist auch P. Wolters, Jahrb. | diesem Irrtum verfallen,
d. arch. Inst. 24 (1909) 2. Heft S. 58 wieder |
332 I^s-s antike Buchwesen.
Ganz besonders aber befremdet mich, daß man auch jetzt noch
glaubt, eine verfälschte und jedenfalls ganz unzuverlässige "Wiedergabe
des pompejanischen Bildes Heibig Nr. 1726 geltend machen zu können,
ja, sie auch jetzt noch wieder ohne irgendwelche Beanstandung abbildet, i)
nachdem ich eine nach dem wohlerhaltenen Original sorglich hergestellte
korrekte Wiedergabe, Buchrolle Abb. 154, vorgelegt habe. Ich kann nicht
zugeben, daß man diese meine Bemühung so ignoriert. Ich meinerseits
verlasse mich auf das Original.
Auf der unrichtigen "Wiedergabe dieses Bildes im Museo Borbonico
I 12 sind nun Fäden oder Schleif chen, die aus dem Innern der beiden
Konvolute der offenen RoUe heraushängen, gezeichnet. In Wirldichkeit
sind diese Fäden oder Schleif chen gar nicht vorhanden und ledigHch eine
Phantasieleistung des dekorationssüchtigen Nachzeichners. Wäre diese
Wiedergabe nun aber auch richtig, so sind doch Fäden oder Schleifen
immer noch keine Knöpfe. Es ist fast belustigend, das verzweifelte Argu-
mentationsverfahren zu sehen : die Schleife ist ein Knopf, und der Knopf
ist ein Hörn. Also hat der Rollenstab Knöpfe gehabt.
Die Hauptbelegstelle Martial XI 107 explicare librum usque ad sua
cornua „auseinanderrollen bis zu beiden Endblättern" ist oben S. 272 er-
örtert. Diese cornua oder Endblätter, die, wie S. 299 gezeigt, niemals
Schrift trugen und die aus festerer Papiermasse bestanden, ^Tirden, wenn
man das Buch elegant ausstattete, auch gefärbt. Dies sagt ersthch Lyg-
damus (Tibull 3, 1, 13) mit den W^orten inter geminas frontes pingantur
cornua unzweideutig (die frontes sind der Buchschnitt der Rolle, oben
und unten); sodann Ovid, der in den Tristien 1,1,8 für sein trauerndes
Buch die Bestimmung trifft, daß es keine Candida cornua haben soll nigra
fronte; die Verse lauten:
Nee titulus minio nee eedro eharta notetur
Candida nee nigra eomua fronte geras.
Die Scliluß Worte heißen auf Deutsch : dein Anfangs- und Endblatt soll „nicht
weiß" sein, während der Buchschnitt schwarz ist; anders ausgedrückt: An-
fangs- und Endblatt sollen ebenso schwarz wie der Buchschnitt gefärbt
werden ; auch die cornua sollen nigra sein : et nigra cornua nigra fronte geras.
13. Aufbewahrung der Rollen.
Die Ausstattung des Buches ist endlich vollendet. Wie wurde es
transportiert und aufbewahrt?
Rolle im Handelte es sich nur um eine einzelne Rolle, so nahm man sie regel-
mäßig geschlossen in die unke Hand und trug sie, da die sinistra oft im
sinus ruhte, auch im sinus mit sich; ein Buch vno reo IjuaTio) Philostr.
Apoll. Tyan. 4, 30; so auch ein Brief im xöXjtog ib. 3, 38; fugis in sinum
Martial 3, 2, 6; sinu te excipiet 3, 5, 7.2)
Bündel Zum Transport mehrerer zusammengehöriger Rollen aber wurden
Bündel, fasces, fasciculi, öeojuai, ovvdeojuoi zu je 3 bis 15 und mehr hergestellt.
Sinus
1) Gardthausen S. 145 ; Blümner, I ^) Weiteres Buchrolle S. 43 ; vgl. auch
Privataltertümer S. 473. | Horaz Sat. 1, 6, 74 = epist. 1, 1, 56.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
333
Capsa
die uns auf Bildwerken unendlich oft in der Nähe des Vortragenden oder
Lesenden erscheinen, i) Dahin gehören auch die chartae alligatae bei
Petron (oben S. 329). Der Verscliluß solcher Bücherbtindel wurde auch
versiegelt (Horaz epist. 1, 13, 2). Natürlich trug man dann auch diese
Bündel direkt in der Hand oder auch unter der Achsel ; dies zeigt schon
der Horazbrief I 13; auch Martial 5, 51, 1: lihellis praegravem gerit laevam;
auch Bildwerke, die „Buchrolle" S. 258 besprochen sind. Über Rollen-
bündel bei den Ägyptern ebenda S. 15.
Der Sorgsamere aber legte oder stellte die EoUen lieber in einen
Hollenkasten, xißoyTog, xißcoriovy xlorr}, auch rev^og, scriiiiiim, capsa. Das
ist, was man auch ein yQajUjuaroq^vXdxiov ^) oder xaQToq)vXdxtov 3) nennt, das
die Griechen wie die Buchrolle selbst von den Ägyptern übernahmen
(vgl. Buchrolle Abb. 10 — 12 u. 14) und das, anfangs eckig, später auch
rund geformt war, und zwar aus Holz. Übrigens hat der Ägypter die
Rolle auch einfach in Töpfen und Krügen aufbewahrt.*) Bei den Griechen
aber läßt sich dann weiter ein Wechsel der Gewohnheit wahrnehmen. In
voralexandrinischer Zeit legte der Grieche die Rollen flach in den Kasten;
als aber die am Kopf der Rollen befestigten Sittybi aufkamen (oben S. 328),
stellte er sie vielmehr aufrecht, damit letztere gleich ins Auge fielen.
Ebendeshalb begegnen runde Rollenkästen, in denen ein Flacliliegen
nicht möglich, nicht in voralexandrinischer Zeit; vielleicht aber sind die
Rollensäcke der Ägypter (Buchrolle Abb. 15 u. 16), in denen gleichfalls
die Rollen nur senkrecht stehen konnten, für die runden RoUenkästen das
Vorbild gewesen.
Solche capsa faßte wiederum etwa 5 — 15 Buchrollen, die man lose,
oft aber auch verschnürt 0) hineinstellte. Aber auch diese Kästen haben
wie das Bündel nicht etwa den AufbewahrungszAvecken der Bibliothek
gedient, sondern vielmehr dem Transport. Der Gelehrte nimmt die nötigen
Schriften darin mit auf die Reise — Capsula me sequitur, sagt Catull — ;
der Advokat nimmt sie darin aufs Forum mit; vgl. Cicero in Caecilium 51:
si te semel ad meas capsas admisero (er hat sie also bei sich stelin)-, wozu
Ps.Asconius: custodes . . . accusatori solebant dari non solum chartarum
causa . . ., sed etiam eqs. Der Diener, der den Kasten nachträgt, heißt
capsarius.
Aber auch in den Buchläden standen die zu verhandelnden Bücher
in capsae oder scmiia;^) denn der Händler sowohl wie der Käufer mußte Kasten
die Ware bequem von Ort zu Ort schaffen können. Dabei bildeten die
Rollen in der Capsa oft auch sachlich eine Einheit, eine Werkeinheit, 7)
wie z. B. der Dichter Krinagoras in solchem Gefäß (xevxog) der Antonia
die fünf Rollen des Anakreon übersendet (Anthol. Pal. 9, 239). Auch von
Werk-
einlieit im
») Vgl. Buchrolle S. 255 f. ; S. Ebinach
über den Krieger von Cüli, Eevue archöol.
1908 S. 118.
2) Plutarch Aristid. 21.
») Siehe Lexica; vgl. Blümner, Privat-
altert. S. 132.
4) Gardthausen S. 175; Buchwesen
S. 49.
') Buchrolle S. 259 f.
«) Stat. Silv. 4, 9, 21 ; CatuU 14, 18 ; Horaz
Sat. 1, 4, 22.
7) Genaueres s. Buchrolle S. 248 ff. u.
259 ff. ; Daremberg-Saglio, Dict. des anti-
quit. Artikel „capsa"; E.Pfuhl im Jahr-
buch d. arch. Inst. 22 S. 131 f. und meine
Bemerkungen ebenda 23 S. 122.
334 I^as antike Buchwesen.
der Dichterin Korinna gab es just fünf Bücher. Die Statuette der Korinna
von Compiegne hat eine Capsa neben sich, in der man nur vier Rollen
gewahrt; die Frau selbst aber liest eben in einer fünften; der Künstler
setzt also voraus, daß die Capsa auch hier alle fünf umschloß, i)
Bibliothek Eine Aufbewahrung und Sicherung des Buchbestandes gewährte da-
gegen die Bibliothek, ßvßho^i^xrj.^) Auch der Plural ßvßhod'fjxai wird
gelegentlich von einer Bibliothek gebraucht, da §ij>cr} eigenthch nur das
einzelne Gestell w^ar. Aber man sagte dafür auch einfach rä ßißUa,^)
weshalb der Bibliothekar auch ad lihros oder a libris heißt: CIL. VI 8877 f.
Im Yerwaltungswesen Ägyptens heißt der Auf bew^ahrer der Rechtsurkunden
Geidkiste Besonders w^ertvoUe Bücher oder Urkunden legte der Privatmann
allerdings vielmehr in die verschließbare eiserne Geldkiste; vgl. Appian
b. civ. 4, 44: Oviviov . . . exQvipev ev XaQvaxi äg äno oidrjQov ig ^Qrjjudrcov i)
ßißXicov e^ovoi (pvXaxi]v. Ein Mißbrauch war es dagegen und ein Zeichen
Faß der Verwahrlosung, wenn ganze Büchermassen in Tonfässern aufbewahrt
wurden, wie wir dies in Anlaß der Hexapla des Origenes erfahren; be-
treffs der sogenannten sechsten exdooig, die Origenes benutzte, lesen wir
in einer Subskription, die auf ilm selbst zurückgeht: EVQs^eToa juerd xal
äkkcov ßißXicov 'EßQaixöjv xal EXXrjvixcbv ev xivi nid^co negl rrjv 'leQixcb xrX.^)
Solches Verstecken von Büchern ist gewiß oft in Anlaß der Christen-
verfolgungen geschehen.
Bücher in WoUcn wir nichts übersehen, so haben wir zu den „Bibliotheken"
des Altertums auch die Gräber zu rechnen. Es war Sitte, dem Toten
seine Lieblingsbücher oder die von ihm selbst verfaßten Schriften mit
ins Grab zu geben, und in der Tat stammen viele der in Ägypten ge-
machten Pap3^rusfunde litterarischen Inhalts aus Gräbern. Dafür kommen
vor allem die Särge selbst in Betracht. Fhnders Petrie entdeckte, daß
die Mumienkartonage selbst, aus der in Ägypten die Särge bestehn, aus
mehreren Schichten von zusammengeklebtem Papyrus hergestellt ist.
Solche Särge sind seitdem massenhaft ausgebeutet worden, wie z. B. von
Rubensohn in Abusir-el-Mäläk. Ihnen entsprechen die mumifizierten und
in Papyrusrollen eingewickelten heiligen Krokodile in Tebtunis. Alles
das ist beschriebene Charta. Zahlreiche Textfunde, z. B. Reste der euri-
pideischen Antiope oder des Xenophon, des Demosthenes sind von solcher
Herkunft. Sehen wir aber von dieser Kartonage ab und nehmen die
Bücherf linde, die nicht zu Pappe verklebt sind: zwischen den Beinen
einer Mumie, also im Grab, fand man den Alkman, ebenso Isokrates ad
Nicoclem; in einem Sarkophag Hyperides;^) in einem Grabe die Hias
1) Siehe Jahrbuch d. arch. Instit. 23 | s) Poland S. 10; vgl. The Hibeh Papyri
(1908) S. 122.
2) Auf Inschriften vorwiegend so mit
f geschrieben ; s. Poland S. 9; ebenso auch
auf den älteren lateinischen, wie CIL. VI
8743 ; X 1739 ; 7580 ; XIV 2916 ; vgl. Immisch
S. 525 Anm. Auch hubliothece findet sich,
VI 2349. Uebrigens vgl. Suidas s. v. Aaf.i6-
cpikog : xavxd fxoi svQtjxm km xaXg xcöv ßißXloiv
drjxaig.
part I ed. Grenfell u. Hunt (1906) Nr. 48:
ab yag evqioxco ev xoTg ßißkioig „in meinen
Geschäftsbüchern".
*) Mitteis- WiLCKEN a. a. 0. II 2 S. 54.
5) Siehe Mercati, Studi e Testi 5
S. 28 f. ; F. ScHWARTZ, Nachrichten der Göt-
tinger GW., 1903, Heft 6 S. 5.
6j Häberlin Nr. 94.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
335
Bankesiana, vor allem den Dithyramb des Timotheos, einen der ältesten
griechischen Buchschriftreste.
Man sollte nun glauben, die Gräber seien die besten Bibliotheken
und sichersten Aufbewahrungsorte, die man sich wünschen kann, da sie
das Buch durch Jahrtausende vor jeder Unbill bewahren. Aber alle diese
ägyptischen Gräberfunde haben unvollständige Exemplare geUefert; ja,
offenbar wurden sie schon dereinst dem Toten in dieser Weise, als Bruch-
stücke, mit ins Grab gelegt; so auch der Timotheos: eine Sitte oder Un-
sitte, die schwer zu erklären ist. Hat man diese Buchfragmente nur im
Dienst des Aberglaubens als Amulette gebraucht, woß. den Leichnam zu
schützen? 1) Jedenfalls ist festzuhalten, daß dies Verfahren der Ägypter
mit dem der echten griechisch-römischen Frömmigkeit nichts gemein hat.
Properz schreibt 11 13 für seinen Todesfall vor, daß ihm seine sämtlichen
Dichtwerke (drei Rollen) und zwar natürHch vollständig mit ins Grab
gegeben Averden sollen, damit er sie der Persephone als Geschenk dar-
bringe. Wirkhch bringt so der Musiker Eutychides, wie A\dr Anthol. Pal.
11, 133 hören, seine sämtlichen Oden und dazu noch zwölf Schachteln
voll vo^uoi in die Unterwelt, und dem Dictys Cretensis werden nach seinem
Tode seine vollständigen sechs oder neun Eollen vom trojanischen Krieg
in einer arcula aus Zinn oder "Werkblei mit in den Grabhügel gelegt.*)
Dem entspricht die arca, in der man im Jahre 181 v. Chr. bei Rom ^der-
zehn sogenannte „Bücher des Numa" auffand, und nicht anders stand es
mit der Paulusapokalypse, wie diese uns selbst überhefert: ein marmornes
y/.cooo6xojuov wurde ausgegraben; darin lag sie intakt. ») So zeigen uns
denn auch griechische Grabrehefs in Abbild Rollenbücher in oder auf
dem Grabe des Verstorbenen.*) Diese Bücher sind dem Toten mitgegeben;
aber es sind gewiß überall vollständige Bücher.
Kehren wir indes zu den Lebenden zurück. Wir unterscheiden
Archiv und Bibliothek. In den Archiven werden arndygacpa^ Geschäfts- Archiv
papiere und Verwaltungsakten, in der Bibliothek vornehmlich litterarisches
Gut in übersichtlicher Ordnung aufgehoben. Beide Institute hat auch das
Altertum unterschieden, ß) Wir aber w^erden von den Archiven, die übrigens
auch ygafi/uarelov, yQafxijLaxo(pvMHiov,xQe(0(pvXdyAov,^) lat. tabularium'^) heißen,
hier absehen.
14. Öffentliche Bibliotheken.
Wer ein Buch kauft, pflegt es auch aufzuheben. Wo der Buchkauf
beginnt, stellen sich also Privatbibliotheken von selbst her, und wir be-
1) So Blau, Eivista Israelit. S. 50. Vgl.
Schubart S. 32 u. 76.
«) Vgl. Buchrolle S. 83.
3) Ebenda S. 255.
4) Vgl. Jahrbuch d. arch. Instit. 23 (1908)
S. 123 f.
5) Nach Script, hist. Aug. Tacitus 10, 3
wurden in archiis Abschriften angefertigt,
die dann in hyhliothecis Aufstellung fanden.
In diesem Fall heißen archia Eegierungs-
gebäude. Ueber Tempelarchive und Archiv-
beamte, ßißhwpvkaxsg, s. L. MiTTEiS, Archiv
f. Papyrusforsch. I S. 184 f., bes. W. Otto,
Priester und Tempel II S. 21 f. u. 156 f.
Ueber ßißho^rjxr] eyxxrjoecov, das Central-
archiv in den größeren Städten oder Metro-
polen, MiTTEis-WiLCKEN a.a.O. 1 2 S. 63. Im
allgemeinen M. Mimelsdorf, De archivis
imperatorum Eomanorum, Halle 1890 ; Pre-
MERSTEiN a. a. O. S. 756.
6) Siehe S. Reinach, Traitö d'epigraphie
grecque S. 304 ; Larfeld S. 431.
■>) MoMMSEN, Schriften III S. 309 ff.
Privat-
biblio-
theken
336
Das antike Buchwesen.
dürfen nicht erst der NachAveise dafür, daß z. B. ein Mann wie Euripides
oder Aiistoteles eine beträchtliche Bücherei besaß, i) Gleichwohl ist
solche Erwähnung von Büchereien, Avie Avir sie schon bei Xenophon
Memor. 4, 2, 8 f . antreffen, willkommen, da sie die Anschaulichkeit steigert.
Insbesondere geht aus Xenophons Scliilderung hervor, daß da die Bücher
schon nach Werkgattungen gruppiert und geordnet waren. Über sonstige
ältere Bibliotheken redet Athenaeus p. 3 A.^) Die Auffindung der Volumina
Herculanensia Avar ein Griff in solche Privatbibliothek, aaIc sie im 1. Jahr-
hundert n. Chr. in einer italienischen Yillenstadt bestanden hat. Aber auch
ganze Massen ägyptischer Papyrusfunde geben uns den Bestand der Haus-
büchereien oder Hausarchive ägyptischer Kleinbürger; dies gilt besonders
von den Funden aus Dimeh. Dort sind die Chartae unter dem Wüsten-
sand noch ganz so beisammen gefunden worden, Avie sie um 300 n. Chr.
in den Häusern lagen. 3)
öffentiiciie Das größte Ereignis aber in der Geschichte des BuchAvesens und der
theken Htterarischcn Tradition überhaupt, ein Werk AA^eisester Fürsorge und ein
unschätzbarer GcAvinn für die Geschichte des Geisteslebens Avar die Grün-
dung öffentlicher Bibliotheken. Darin gingen um das Jahr 300 v.Chr.
die ptolemäischen Könige voran, die die Doppelbibliothek in Alexandria
gründeten.*) Es war ein Glück, daß dies Beispiel in anderen Haupt-
städten bald Nachahmung fand, da der Avichtigste Teil der Gründung der
Ptolemäer, die Bibliothek im Brucheion, Aviederholt zerstört AA^orden ist.
In Antiochia und Pergamum, wohl auch in Pella,^) entstanden bald kon-
kurrierende Anstalten, dann endlich auch in Rom.
Es versteht sich, daß es auch in Rom anfangs nur Privatbibliotheken
gab, nacliAveisbar besonders für Ciceros Zeit. Luculi gab dafür das vor-
nehmste Beispiel, der seine Sammlung dem Publikum mit einer Liberahtät
zugänglich machte, die ihr nahezu den Charakter einer öffenthchen ver-
lieh, ß) Dem folgten bald nach Ciceros Tod in Rom, um nur das Wich-
tigste herauszuheben, die öffentliche Bibliothek im Atrium Libertatis, die
Asinius Polio bald nach a. 39 a^ Chr. gründete; die von Augustus ge-
gründete palatinische (wohl im Jahr 28 v. Chr. fertig, zugleich mit dem
Apollotempel); die der OctaAda in der Porticus gleichen Namens. Unter
Vespasian kam die im Templum Pacis, die Gellius benutzte, hinzu. 7) Alle
diese überbot die Ulpia des Trajan. Jedes dieser Depots zerfiel in zAvei
Abteilungen für griechische und lateinische Bücher. Im ganzen erwähnt
die constantinische Regionenbeschreibung in ihrem Anhang für Rom
28 hibliothecae.^) Aber auch für manche anderen Plätze der griechischen,
dann auch der römischen Welt der Kaiserzeit lassen sich solche Bibho-
1) Vgl. Häberlin, Oentralbl. f. Biblio-
theksAvesen VII S. 295 f.
2) Uebrigens Buchrolle S. 244 ff. ; Buch-
wesen S. 360 f.; 363 f.; 434; Dziatzkos Ar-
tikel „Bibliotheken".
3) Siehe Mitteis-Wilcken IIS. XX.
^) lieber diese L. E. Lögdberg, im
Eranos, Acta phüol. Suecana III (1899)
S. 162 ff.
^) Auf Pella Aveist die Bücherbeute
des Aemilius Paulus, Isidor Orig. 6, 5;
Plutarch Aem. Paul. 28.
Plut. Luculi fin.
Auch im Pantheon zu Eom gab es
eine solche ; \^on ihr redet Julius Africanus
in einem Papyrusrest, Oxyrhynch. Pap. III.
8) Siehe Lanciani Ancient Eome in the
light of recent discoveries, 1888, S. 178 f. ;
M. Ihm, Centralblatt f. Bibliothekswesen X
S. 513 ff.
II. Verwendung der Beschreibstofife. B. Litterarisches. 337
theken nachweisen, die teils an Heiligtümer, teils an Gymnasien, bis-
weilen auch an Paläste (domus) angeschlossen waren. Die Griechenlands
hat F. Polandi) aufgezählt; die in Ephesus ist erst neuerdings bekannt
geworden. 2) In ItaHen finden wir z. B. eine BibHothek in Tibur (bei
Gelhus), in Suessa Aurunca (CIL. X 4760); und so wie Plinius der Stadt
Comum eine BibHothek stiftet (epist. 1, 8, 2), so ist ÄhnHches auch sonst
oft an anderen Plätzen geschehen, s) Füi- Afrika haben wir das Beispiel
Tamugadis.*)
Für die kaiserHchen Bibliotheken in Eom setzte der Fiskus jährlich Bibiio-
bestimmte Summen aus, 6) und ihre geschäfthche Verwaltung war in der verwl^tüng
Hand eines procurator. Von diesem Prokurator war der wissenschaftliche
Leiter der Anstalt, der a bybliotheca heißt, oftmals verschieden. Der Aus-
druck bibliothecarius steht nui- einmal b^ Fronte, außerdem in den
Glossaren. 6)
Daß zu letzterem Amt nur Gelehrte erster Qualität brauchbar, hatten
schon die ptolemäischen Könige erkannt, und so große Namen wie Zenodot,
Eratosthenes, Aristophanes von Byzanz und Aristarch erscheinen in Ale-
xandria in dieser Funktion. Die Bibliothek galt also schon in dieser
ersten klassischen Zeit des Bücherwesens als wissenschaftliches In-
stitut, sie galt als Substrat und Dienerin der Forschung.
Ebenso wm*de es nach Möglichkeit wohl auch später gehalten : C. Me-
lissus ordnete in Rom die Bibliothek der Octavia. Wird uns Pompeius
Macer für die Palatina genannt, so steht auch dieser Mann groß da.
Dieses Pompeius Nachfolger Avar Hyginus. Julius Vestinus erscheint in
Hadrians Zeit als kaiserlicher Oberbibliothekar. '^)
Daß diese öffentlichen Anstalten durch Erwerb seltener Exemplare bücIut-
und durch Aufkauf kleinerer Sammlungen sich ihren Grundbestand ver- iJfre^Her-
schafften, ist wohl eine selbstverständhche Voraussetzung, imd für die^^""/^""^
alexandrinische wird es uns auch mehrfach erwähnt; und zwar kaufen da
nicht die Bibliothekare, sondern die Könige. Aber es kamen auch
Schenkungen liinzu, und das betraf vor allem die Novitäten. Denn
die Autoren selbst schenkten ihr Werk bisweilen, wir dürfen vielleicht
sagen, häufig an die öff entheben Bibhotheken, resp. an die Kaiser selbst,
und die Kaiser pflegten das Werk alsdann in ihrer Bibliothek, die, wie
die Ulpia, zugleich kaiserlich und öffentlich war, niederlegen zu lassen.
So ist es z. B. mit des Josephus Antiquitates ludaicae unter Vespasian
imd Titus geschehen.«) Für alle Werke, die den Kaisem persönhch
dediziert worden sind, ist gewiß dasselbe vorauszusetzen.
Die Verwaltung sorgte aber augenscheinhch nicht nur für einen mög-
lichst vollständigen Bestand an Werken, auch nicht nur für möghchst
gute Exemplare, sondern es lag sogar oftmals ein und dasselbe Werk in
^) In Historische Untersuchungen, E.
Förstemann gewidmet, Leipz. 1894, S.7ff.
2) Siehe Wilberg in Oesterr. Jahres-
hefte XI (1908) S. 118 f.
») Vgl. Ihm a. a. 0. S. 528 f.
*) R. Cagnat, Les bibliotheques muni-
cipales de l'empire Rom., Mem. de l'acad.
inscr.beU.lettres Bd. 38, 1(1906); Berl.phü.
W.schr. 1907 S. 563.
») CIL. VI 2132.
«) Diese Glossare haben aber dabei nur
Codicesbibliotheken im Auge ; s. unten.
7) Siehe Ihm S. 522 ff. u. 517 f.
8) Siehe Buchrolle S. 246 Anm. 5.
Handbuch der klass. Altertumswiäsenscliaft. I, 3. 3. Aufl. 22
338
Das antike Buchwesen.
vielen Exemplaren vor.i) Für Alexandria ^^drd uns überliefert, daß bald
nach ihrer Gründung in der sogenannten „äußeren" Bibliothek daselbst
sich im ganzen 42800 Rollen, in der des BqovxeTov sich einesteils 400000
ßlßXoi ovjujuiyeig, andernteils 90000 ßißkoi äjuiyeig xal änlaX befanden. 2)
Diese ungeheuerlich großen Summen sind nur unter obiger Annahme be-
greiflich; denn die griechische Litteratur hatte damals bei weitem nicht
so \dele Schriftwerke, daß sie solchen Zahlen entsprechen könnten, auf-
zuweisen.
Aus dem Mitgeteilten ergibt sich aber auch noch das Folgende. Die
ßißXoL ovjujuiyelg waren solche Rollen, die mehrere unter sich nicht zu-
sammenhängende Texte, die ajilal waren solche, die nur einen einzigen,
in sich zusammenhängenden Text enthielten. Wir wissen, daß die Rollen
damals oftmals noch im altägyptischen Stil von exorbitanter Länge waren
(s. oben S. 295f.); sie konnten also noch mehrere Schriften aufnehmen; und
in den umfangreicheren Schriftwerken fehlte noch jede Buchteilung, s) Ein
handgreifliches Beispiel jener ovjujuiyeig liegt uns in dem großen Papyrus,
den Grenfell: Revenue laws of Ptolemy Philadelphus, Oxford 1896 heraus-
gab, wirklich vor; dies ist eine Aktensammlung des königlichen Fiskus
in einer Rolle von 59 Fuß Länge, die von etwa zwölf verschiedenen
Händen geschrieben ist. Aus der Litteratur aber bieten sich die zehn
TÖjuoi des Antisthenes, deren jeder nach der Registrierung der antiken
Litteraturwissenschaft etliche Schriften des Antisthenes enthielt, als frap-
pierendstes Beispiel. Denn Tojtioi sind Rollen. Richtig urteilt über diese
Dinge L. Blau, der, Rivista israelit. S. 55, mit den alexandrinischen ßißXoi
ovjujuiyeig solche hebräische Mischrollen wie den Jesaias (cap. 1 — 39 und
40 — 66) sowie den Maleachi als Appendix der Rolle des Zacharia ver-
gleicht.
Wenn dagegen die pergamenische BibHothek, wie die Mitteilung
Plutarchs, Anton. 58 zeigt, im I.Jahrhundert v. Chr. nur noch ßißUa ajikä,
Bücher mit einheithchem Text, aufwies, so verrät sich darin die ver-
änderte Zeitgewohnheit. Die pergamenische Bibliothek war über hundert
Jahre jünger als die alexandrinische.
Jene gewaltigen Zahlen aber erklären sich, wie gesagt, nur, wenn
die Bibliotheken, ^vie auch Gellius 7, 17 ausdrücklich meldet, die vor-
handenen Werke überdies noch durch Abschrift vervielfältigen ließen.
Damit hängt also gewiß auch die ausgedehnte Editorentätigkeit der ale-
xandrinischen Bibliothekare, besonders des Aristophanes von Byzanz, zu-
sammen; sie edierten die meisten älteren Texte neu und hielten gewisse
Quanten der Neuabschriften auf Lager. Die Bibliothek war also zugleich
Depot, Magazin, ein Bücherlager zum Zweck des Verkaufs und Aus-
tausches.
Es darf uns nicht wundern, daß war von solchem Verkauf und Aus-
tausch in Wirldichkeit kaum etwas erfahren; schon allein aus der frühen
1) Genaueres Buchwesen S. 491. S.215f.; oben S.295. Ich folge in der Auf-
2) Siehe Tzetzes Prolegom. zu Aristo- fassimg dieser Dinge nicht Dziatzko bei
phanes, Ehein. Mus. VI S. 117 (Buchwesen Pauh^-Wissowa,EE.,„ Bibliotheken" S.411f.
S. 485). und Ehein. Mus. 46 S. 362 f.
3) Vgl. Buchwesen S. 487 f., Buchrolle
n. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 339
Zerstörung der Brucheionbibliothek, die im Jahr 46 v. Chr. geschah, erklärt
sich das hinlänglich. Als Kaiser Domitian für die römischen Bibliotheken
Bücher brauchte, dachte er jedenfalls nicht daran, aus den Vorräten der
alexandrinischen Bibliothek vorrätige Exemplare zu entnehmen, sondern
ließ sie in Alexandria vielmehr neu anfertigen, i) Die betreffs des Brandes
der Brucheionbibliothek geäußerten Zweifel 2) teile ich nicht; vgl. A.Butler,
The Arabik conquest of Egypt, 1902, der S. 407 ff. eine Geschichte der
alexandrinischen Bibliotheken gibt. Berühmt war im Verlauf der Kaiserzeit
die des Serapistempels (Butler S. 411 ff.), die im Jahre 391 zerstört wurde, s)
Eine Inventarisierung der öffentlichen Bibliotheken durch Herstellung Kataloge n.
von Katalogen {mvaxeg) Avar bei den geschilderten Verhältnissen selbst- d^r^Büche^r
verständlich und unentbehrlich. Berühmt sind des Callimachus Ilivaxeg
Tcbv ev Ttdor] naideia dialajuipdvrcov xal d>v ovveyQaxpav in 120 Büchern. Dies
Werk Avar freilich, wie der Titel zeigt, der Alexandria nicht nennt, gar
kein eigentlicher BibKothekskatalog, sondern beanspruchte vielmehr eine
Inventarisierung der gesamten Litteratur überhaupt zu sein, zu der frei-
lich die alexandrinische Bibliothek als HiKe diente. Callimachus gab darin
auch Biographien der Autoren. Zur Identifizierung der Werke zitierte er
auch ihre Anfangsworte, um sicher zu gehen (oben S. 299 f.) ; er gab femer
auch die Zahl der Stichen. Aber wieviel Doubletten etwa von diesem
und jenem Werk in der Bibliothek vorhanden waren, gab er nicht an.*)
Auch für Rom haben wir überall, wo im Zusammenhang dieser Dinge
das Wort ordinäre vorkommt, BibHothekskataloge vorauszusetzen.
Das Bruchstück eines Bücherverzeichnisses aus dem Anfang des
3. Jahrhunderts n. Chr., das augenscheinlich eine kleine PrivatbibUothek
betrifft, hat sich wirklich in Memphis gefunden; s. Mitteis-Wilcken I 2
S. 182. Bemerkenswert ist, daß da noch „Simon der Sokratiker" und
„Kebes der Sokratiker" erscheinen. Man kann nach der Art der Registrie-
rung nur annehmen, daß jeder der beiden nur eine RoUe gefüllt hat.
Den Grabungen der letzten Zeiten ist es zu danken, daß wir die Be-
schaffenheit der Bibliotheken von Pergamon, 5) Ephesos,«) Timgad') sowie
derjenigen im templum divi Augusti auf dem römischen Forum «) im wesent-
lichen erkennen können. Eben jetzt 9) geht durch die Zeitungen die Nach-
richt, daß bei den Ausgrabungen in den CaracaUathermen Roms gleichfalls
eine Bibliothek, die dem BadepubHkum diente, freigelegt worden ist; doch
werden über die dort gemachten Funde noch keine Mitteilungen gegeben.
1) Sueton Domit. 20.
2) Y. J. Teggart, Centralbl. f. Biblio-
thekswesen XVI S. 470 f.
3) Ich füge die Notiz hinzu, die sich
bei Johannes Chn^sostomos (Migne, Patrol.
Graeca48 S. 850) findet: zu dieses Johannes
Chrysostomos Zeit existierten noch die
Schriften des Alten Testaments als Rollen
nicht nur in der Synagoge Alexandrias,
sondern auch im Serapistempel, und die
letzteren hielt man für die ehrwürdigen
*■) Vgl. übrigens 0. Schneider, Calli-
machea II S. 297 ff.; F. SuSEMraL, Gesch.
der griech. Litteratur I S. 337 ff.
*) Siehe Conze, Sitz.ber. d. Berl. Akad.
1884 n S. 1259 ff.; Dziatzko, Sammlung
bibliothekswissenschaftl. Arbeiten X S. 38 f.
•) Siehe Wilberg, Oesterreich. Jahres-
hefte XI S. 118 ff.
') Siehe oben S. 337 Anm. 4.
8) Siehe Hülsen, Rom. Mitteü. XVII
S. 80 f.; Neue Jahrbb. 1904 S. 40 f. Dazu
Exemplare der Septuaginta, die angeblich ; Buchrolle S. 244 ff.; Archäol. Jahrb. XXIII
noch aus des zweiten Ptolemaeus Zeit j S. 121.
stammten. I *) September 1912.
22*
340 ^^s antike Buchwesen.
Schränke Zu den eigentlichen Büchersälen oder Bücherkammern kamen für die
Benutzer regelmäßig ein Wandelgang {porticus) sowie auch ein eigent-
hcher Lesesaal, endlich Räume für die zahlreiche Dienerschaf 1 1) hinzu.
Die Ausstattung war prunkvoll und eines sakralen Baues würdig. Die
Fassade des Baues in Ephesus ist im Aufriß rekonstruiert. Das Innere
zeigte hier einen lichten Saal in der Höhe zweier Stockwerke, so daß die
drei Fenster, die in der Höhe des zweiten Stockwerks standen, ihr Licht
in die Tiefe des Saals warfen. Die Nachrichten, die uns die Litteratur
über die Einrichtung der Bibliotheken gibt, lassen sich hiermit gut ver-
einigen. Auch die Kenntnis der Privatbibliothek in Herculaneum kommt
hierbei zu HiKe. Das Wichtigste für uns ist aber nicht der äußere Prunk,
der Statuenschmuck, die Bemalung, 2) sondern die Art der Unterbringung
der Buchrollen selber. Sie geschah auf Wandbörtern (plutei), die in
Fächer (iiidi) zerfielen, und in Schränken {armaria), deren Inneres durch
Börter in drei oder vier Teile zerlegt war. Diese Schränke standen mitten
in der Bücherkammer; sie Avurden aber auch in die Wand eingelassen. s)
Das armarium heißt griechisch nvQyioxog.
Ein anderer Ausdruck für nidi ist loculamenta. Auch foruli bedeutet
dasselbe. Gestelle heißen pegmata, der Aufbau dieser pegmata endlich
nach wahrscheinlicher Lesung bei Cicero ad Att. lY 5 structio',^) Cicero
ließ, wie er in diesem Brief mitteilt, gleichzeitig die Bücherkammer, den
Aufbau der Büchergestelle und an den Büchern die Sittybi malen oder
bunt färben, welche Sittybi das einzige sind, was von der Buchrolle, wenn
sie im nidus liegt, in die Augen fällt. Zum fiidus aber verlohnt es,
Claudian carm. min. 19, 7 anzuführen, wo Claudian, durch eben diesen
Sprachgebrauch angeregt, seine Gedichtexemplare mit Vögeln vergleicht,
die sämtlich aus ihrem nidus ausgeflogen sind, so daß der Dichter für
seinen Freund Gennadius keine Exemplare mehr übrig hat. Dies verrät,
daß Claudian sich noch der PapyrusroUe bediente (s. unten), es ven-ät
aber, wenn ich nicht irre, zugleich, daß der Dichter ähnlich wie ApoUi-
naris Sidonius sein eigener Verleger war, d. h. den Vertrieb durch eigene
librarii besorgen ließ.^) Hieronymus ahmt Epist. 47, 3 diese Claudian-
stelle nach; für ilin gilt da also auch dasselbe.
Oruppie- J)[q meisten litterarischen Werke zerfielen in mehrere Bücher oder
Rollen Rollen, dio Ilias in 24 u. s. f. In jedem nidus und in jedem Abteil der
Schränke ließ sich die Einheit eines solchen Werkes demnach auf das
beste sichern und verwirklichen, indem man die zusammengehörigen
Rollen, die ein einheitliches Werk ausmachten, eben in solchem „Nest"
zusammenlegte. Der Kopf der Rollen, mit dem bunten Sittybos, lag
dabei, wie wir es bei Cicero sahen, regelmäßig nach vorne, und so
machten Titel und Numerierung für den Benutzer die Zusammengehörig-
^) Auch ein medicus a hyhliotlieeis (ein \ Schwarz, De ornamentis librorum, Dis-
Arzt für das Personal?) findet sich; Ihm | putat. II.
S. 527. I *) Daß hier Uhliothecam mihi tui pin-
2) Hierzu Ehein. Mus. 64 S. 469 f. xerunt cum structione et sittyhis (cum struc-
3) Buchrolle S. 245 f.; J.W. Clark, | tione statt constnwtione) zu lesen, habeich
The care of books S. 15 ff. Eine andere j Ehein. Mus. 64 S. 469 f. begründet.
Abbildung bei dem alten Ohr. Gottl. j ^) Ueber Selbstverlag oben S. 320 f.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 341
keit der betreffenden Bücher sofort kenntlich. Am besten ^\drd uns dies
durch das Relief von Neumagen veranschaulicht (Buchrolle Abb. 159 und
S. 339), wennschon wir nicht sicher zu entscheiden vermögen, ob dies
Bild, das die Rollen in den loculamenta geordnet und außerdem eine
Rolle aufgeschlagen auf einem Pulte (manuale) zeigt, uns Einblick in ein
Archiv oder in eine Bibliothek gewährt.
Daß man sehr umfangreiche Werke gern in Dekaden oder Pentaden, Dekaden,
d. h. in Gruppen zu je zehn oder fünf Rollen ordnete oder schichtete,
erklärt sich nun auch aus dem Gesagten. Wie die zehn Rollen als Pyra-
mide aufgebaut im Schrank lagen, zeigt uns ein Relief (Buchrolle S. 266
und Abb. 171). Jeder erinnert sich dabei an die Dekaden des Livius.i)
Man wollte mögHchst gleichmäßige Haufen von Rollen haben. Überdies
A\Tirde aber auch das Herausfinden eines Einzelbuchs durch dies System
bedeutend erleichtert. Man denke sich nur den Fall, daß der Diener aus
den 142 Rollen des Livius etwa die siebenundachtzigste rasch heraus-
suchen sollte : er wandte sich sofort zum neunten Haufen, der die neunte
Dekade umfaßte, und hatte, was er wollte.
Von drolliger Anschaulichkeit ist einmal Vitruv, der sein Vorwort schrank-
zum siebten Buch De architectura mit folgender Anekdote ausgeschmückt Aiexandna
hat, § 5 — 7. Als der hochgelehrte Aristophanes von Byzanz noch nicht
Bibliothekar war, las er in der alexandrinischen Bibliothek täglich „omnes
libros ex ordine" durch. Er folgte also, wie ex ordine zeigt, bei dieser
Lektüre der Reihenfolge in der Aufstellung der Bücher, die gewiß mit
der Anordnung des Katalogs übereinstimmte. Schon bei Xenophon erschien
uns so (oben S. 336) eine Bibliothek nach den Materien geordnet.*) Die
Freiheit in der Benutzung der BibHotheken aber scheint im Altertum
überhaupt sehr groß gewesen zu sein. Dann heißt es weiter, daß Aristo-
phanes bei einer anderen Gelegenheit fretus memoria e certis armanis in-
finita (!) Volumina eduxit. Also hatte jene berühmte Bibliothek vorwiegend
Schranksystem. Daß die Schränke, armaria, ebenso wie die nidi, numeriert
waren, ist an und für sich wahrscheinlich. Der kluge Mann aber wußte
inzwischen auch ohne Katalog (fretus memoria) in „bestimmten" Schränken
zu finden, was er suchte, und er holte „unendliche" Rollen aus ihnen
herv-or. Hier ist nur fraglich, was „unendhch", infinita, bedeuten soll.
Heißt es „zahllos"? Aber die Rollen konnten nicht zahllos sein, wenn
sie nur in einer gewissen Anzahl von Schränken lagen. Oder heißt in-
finita Volumina Rollen von endloser Länge? oder waren es „unfertige
Schriften"? Als Aristophanes sich auf diese Weise ausgezeichnet hat,
wird er dann selbst BibHothekar: supra bybliothecam constitutus.
15. Neueditionen und Bücherverluste.
Trotz aUer bibUothekarischen Sorgfalt gab es jedoch schon früh Aus- <^^~^^-
fälle und Verluste, zunächst von Werkteilen. Ein mehrbücheriges Werk
heißt jiQayjuateia, es heißt vom Zusammenordnen der Rollen auch ovvtaiig,
1) Genaueres Buchrolle S. 265 ff. ' blatt f. Bibliothekswesen 6 S. 494 ff. Ver-
2) Zur Anordnung der alexandrini- j mutungen,
sehen Bibliothek gibt Häberlin, Central- |
342
Das antike Buchwesen.
Verlust
einzelner
Bücher
ovvrayjua, ein Ausdruck, der unverkennbar der Militärsprache entlelint ist.i)
Hesych erklärt ovvrayjua als ex Xöycov rdyjua, auch dies militärisch ; 2) und
derselbe Tropus liegt auch im lateinischen corpus lihrorum vor, was das
Gegenteil einer Körpereinheit ist und den Haufen von selbständigen Eollen,
die nebeneinander gelegt ein Werk ausmachen, bedeutet; vgl. corpus mili-
tum,^) Es ereignete sich aber nur zu leicht, daß von einem solchen Corpus von
15 oder 20 oder 100 RoUen einzelne oder auch ganze Gruppen versprengt
^\airden und verloren gingen. Schon Diodor vermißte von Theopomp die
EoUen VI, YII, XXIX, XXX (und wohl auch XU). Berühmter ist der
Verlust so vieler Dekaden des Livius. Daß Cornificius der Verfasser der
Rhetorik ad Herennium, bleibt eine Annalime höchster Wahrscheinlich-
keit; Quintilian aber fand nur das vierte Buch dieses Werkes, das auch
das wertvollste war, vor, was sich aus den liier besprochenen Umständen
sehr natürlich erklärt; dies besonders umfangreiche vierte Buch wurde
dann als ein Werk für sich betrachtet und wieder in drei bequeme Bücher
zerlegt, was nach dem S. 294 Ausgeführten zu beurteilen ist. Ganz ebenso
ging es mit Sevius Nicanor; auch von seinen commentarii war ein großer
Teil untergegangen : magna pars intercepta ; *) und von des Origenes Kom-
mentar zu den Evangelien sagt Eusebius liist. eccl. 6, 24, 1 : nur zweiund-
zwanzig TOjuoi elg ^juäg jiegifjX^ov.
Aber auch ganze Schriftwerke gerieten in Vergessenheit und ver-
schwanden. War ein Werk ausverkauft und bestand weitere rege Nach-
frage, so wurde es allerdings — damals wie heut — neu aufgelegt und
blieb in Kurs. So gab es schon früh eine exdooig devrega der Argolika
des Deinias.5) So beschäftigte sich Fronto mit einer Neuausgabe Ciceros
(S. 190 Nab.) ; so wurden zu Frontos Zeit sogar auch noch Varros gelehrte
Schriften neu ediert (in volgus exeunt: Gell. 19,14,3); so wurde im 3. Jahr-
hundert der Text des Tacitus durch den gleichnamigen Kaiser erneut, ß)
Ebendahin gehören ja schLießHch auch aUe Neuausgaben Homers, daliin
auch die sogenannten 'Arrixiavä avclygacpa der griechischen Prosaiker, die
textrezensierende Tätigkeit des Valerius Probus und die aller andern
Philologen des Altertums.
UnterbUeb jedoch solche Neuauflage, so war es unausbleibHch, daß
die Werke rar und teuer wurden') — daher die nalaia und nollov a^ia
ßißXia bei Lucian 58, 1 (vgl. 60, 30) — und schließlich nicht mehr auf-
zutreiben waren. Manche Altlateiner waren schon im 3. Jahrhundert n. Chr.
verschollen; der Beispiele dafüi- ließen sich viele bringen. s)
Es gab aber noch eine andere Art, die Schriftsteller zu retten: das
schoUenen Exzcrpt Und die Auslese, wofür ich im Abschnitt über Kritik und Her-
meneutik (S. 34 f. ; 172) Beispiele zusammengestellt habe. Hier sei zunächst
an Theokrit und vor allem an das Epigramm des Artemidoros erinnert.
Neu-
editionen
Verlust
ganzer
Werke
Rettung
der ver
^) Siehe A. Schümrick, Observationes
ad rem librariam pertinentes de ovvxa^ig
avvxayfia Jigayf^arsia vji6fxvr}fj,a vocabulis, Mar-
burg 1909, S. 21 f.
2) Ebenda S. 44.
3) Buchwesen S. 36 f.; 503; Buchrolle
8.264:267 f.
*) Sueton de gramm. 6.
5) Weiteres s. Buchwesen S. 35, 1 ; 105 ;
285; 356.
6) Buchrolle S. 24 Anm.
7) Vgl. Buchrolle S. 31 f.
8) Buchwesen S. 356 u. 82; oben S. 323.
II. Verwendung der Beschreibstoflfe. B. Litter arisches. 343
das mit der Theokritüberliefemng verknüpft ist und der Interpretation
SchAvierigkeiten bereitet. Eingehender habe ich es schon Buchrolle S.267f.
besprochen.
Vorauszuschicken ist die Frage, wie man sich die erste Edition der Bukoiika-
neun oder zehn echten Nummern der Bukolika des Theokrit zu denken hat. "''^"'"'^''"^
Bei Suidas steht das Buch Bovxohxd des Theokrit als ein selbständiges
in sich abgesclilossenes Buch für sich. Hat nun der Dichter die Samm-
lung dieser ländlichen Szenen, die just eine Buchrolle füllte, nicht selbst
hergestellt, sondern nur die einzelnen Idyllien, jedes imter besonderem
Titel, ausgegeben und es anderen überlassen, etwa erst nach seinem
Tode die Stücke in ein Buch zu sammeln? Das ist, wie ich meine,
angesichts des Verfahrens anderer Dichter im höchten Grade unwahr-
scheinlich, i) Vor allem sind des Moschos und des Bion Bovxohxd zu
vergleichen, die durchaus nur als in sich gesclilossene Bücher auftreten.
Auch sind die Titel, die die einzelnen Idjllien in den vorliegenden Hand-
schriften Theokrits tragen, von zweifelhafter Echtheit (oben S. 13; 154), so
daß sie ein Separaterscheinen der IdyUien keineswegs garantieren können;
endlich sind diese ländlichen Gedichte selbst bei aller anmutigen Ab-
wechslung, die sie bieten, doch unter sich so artgleich, daß wir nicht ver-
kennen können: sie sind füreinander konzipiert und gedichtet und soUten
grade durch ihr Nebeneinanderstehen wirken. Ja, daß das erste planvoU
vorangestellt und für die weiteren präparativ sei, erkannten schon die
antiken Erklärer. Das Buch Bovxohxd war also gewiß von vorneherein
als Buch gedacht. Theokrit muß es als solches ediert haben, wie Calli-
machus seine Hvmnen.
t/
Um so sicherer ist, daß jenes Epigramm des Artemidor, nach dessen
Aussage verstreute Hirtengedichte jetzt alle gesammelt sind:
Bovxohxal Möioac OTiogaöeg :ioxd, vvv <5' äga Jiäoai
evtl fuäg /Mxvdgag, evtl fitäg dysXag,
nicht auf Theokrit selbst Bezug hat. Wäre hier speziell Theokrit gemeint,
so würde er auch genannt sein. Es kann sich hier also nm* um eine
Zusammenstellung sämtHcher bukolischen Dichter handeln, verstreute
Eollen, die in Gefahr waren, verloren zu gehen und jetzt in der judvdga
des EoUenkastens (s. a. a. 0.) sicher vereinigt sind.
Es liegt nahe, hiermit zu vergleichen, was Vitruv IV 1, 1 von sich zu-
aussagt: Vitruv hat die Volumina anderer Autoren über Ai'chitektur als fasTiSgen
particulas errabundas (vgl. onoQddeg noxd) in seinem eigenen Werk wie '^ Exzerpt
in einem corpus (sie) gesammelt. Aber auch Vegetius äußert sich De re
militari p. 13,11 f. und 5,3 (ed. Lang) genau ebenso über das Verhältnis
seines kui^zen Werks zu seinen ausführlicheren Quellen; und eine dritte
^) Wenn v. Wilamowitz sagt, „im | Perzeption des einen die des anderen stört.
Wesen des sidv^liov liegt die Einzelpublika- ! Aber das betraf nur den Akt der Vorlesung,
tion" (Hermes 13 S.279), so teile ich diese i die aus den Büchern geschah. Man las und
Ansicht nicht. Mit demselben Kecht könnte i genoß gewiß immer jedes Gedichtchen ein-
man sagen: zum Wesen des Epigramms \ zeln. Gleichwohl haben die griechischen
gehört die Einzelpublikation. Richtig ist : Epigrammatiker ihre Epigramme selbst m
nur, daß jedes Epigramm oder Idyll ge- Büclier gesammelt; dasselbe tat auch Theo-
sondert betrachtet sein will und daß die \ krit mit seinen Bukolika.
344 ^^^ antike Buchwesen.
Analogie gibt Philostrat, Apollon. Tyan. 1, 3 mit den Worten: iwrjyayov
ravra (nämlich rd ßißXia diacpögcov) dieojiaojueva. Diese Worte sind eine
genaue Umschreibung dessen, was Artemidor über seine E-ettung der
verstreuten Bukolika sagt: auch die letzteren waren ßißXia öia(pÖQa)vA)
In allen diesen Fällen zeigt sich gleicherweise das Streben antiker
Bücherfreunde, dem Verschwinden und der Zerstreuung wertvoller Bücher
dadurch vorzubeugen, daß diese Männer sämtliche Werke, die einer be-
stimmten Gattung, wie der Strategie, der Architektur, der Hirtenpoesie,
angehören, sammelten und ihren Inhalt zusammenfaßten. Sie wollten
damit das geistige Eigentum vergangener Zeiten retten. Nahm diese Zu-
sammenfassung jedoch den Charakter des Auszugs an, so wurden die
Originalwerke selbst, die sie auszogen, grade dadurch vielfach dem Unter-
gang geweiht.
Verfall der Aber uicht nur die Einzelwerke verschwanden; auch von den zahl-
BibL- reichen und zum Teil so großartigen antiken Büchereien selbst mit ihren
theken vielhunderttausend Papyrusrollen hat sich keine einzige bis in unsere Zeit,
ja, auch nur bis in die Zeit Karls des Großen erhalten. Sie sind alle
entweder durch Brandkatastrophen oder schnöde Vernachlässigung zu-
grunde gegangen. Für das 4. Jahrhundert erhalten wir die erschreckende
Äußerung des Ammianus Marcellinus 14, 6, 18, die gewiß stark übertreibt,
aber dabei doch bestimmte Tatsachen voraussetzt, daß in gegenwärtiger Zeit
alles sich nur für Musikaufführungen interessiere und die BibHotheken
wie die Gräber für immer geschlossen seien: bibliothecis sepulchrorum ritu
in perpetuum clausis. Und dies bestätigt das Beamtenverzeichnis der
„Notitia dignitatum" vollauf; denn in dieser „Notitia" fehlen die Biblio-
theksprokuratoren ganz. Es gab keine mehr. Die Kaiser hatten sie
kassiert, schon im 4. Jahrhundert. Es gab in den großen Bibliotheken,
die bisher der Öffentlichkeit dienten, kein Personal mehr. Sie waren ge-
schlossen und mochten verfallen.
Angesichts dieses Untergangs des HoUenbuchwesens ist es endlich an
der Zeit, uns noch einmal zur Membrane zurückzuwenden. Denn durch sie,
durch die Einführung der gehefteten Membrane ist uns ja die antike Lit-
teratur in Wirklichkeit erhalten worden. Wir handeln schließlich noch vom
Pergamentcodex, einer der bedeutsamsten Erfindungen des Altertums.
16. Das Aufkommen des gehefteten Pergamentbuchs.
Auf- Es herrscht noch immer die Neigung, die Zeit des Aufkommens des
des Perga- Pcrgamentcodcx zu früh anzusetzen. Man muß die litterarischen Zeug-
mentcodox nigge sorglich wägen und auch die Bildwerke zu Eate ziehen. Für das
1. Jahrhundert n. Chr., genauer für die Jahre 70 — 79, ist die Äußerung
des PHnius nat. bist. 13, 70 entscheidend, der erzählt, Ptolemäus habe
dereinst die Ausfuhr der Charta aus Ägypten verhindert, darum seien
^) Der uns erhaltene Theokritnachlaß | und Bion, in seiner Capsa; zweitens sam-
ist sicher nicht mit der äßgocoig Artemidors ; melte er nur ßovxohxd, und alles Nicht-
identisch ; denn erstlich vereinigte Artemi- bukolische, das uns von Theokrit vorliegt,
dor „sämtliche" bukolischen Musen, also | fehlte bei ihm.
auch die vollständigen EoUen des Moschos |
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
345
damals die memhranae erfunden worden, und fortfährt : postea promiscue Piiniws-
repatuit usus rei qua constat inmortalitas hominum. Hier hat Schubart '''"'^'''^
(S. 101) das promiscue gar nicht verstanden, wenn er es mit „wechselweise"
übersetzt. Das Wort heißt „ allgemein ",i) und dieser Satz, der von der
Charta handelt, besagt: „hernach wurde der Gebrauch des Gegenstandes
wieder allgemein freigegeben, eines Gegenstandes, auf dem die un-
vergängliche Erinnerung der Menschheit und ihrer Geschichte
beruht"; dieser Gegenstand ist, wie gesagt, die charta; von ihr redet
Plinius. Von ihr allein hing also noch in den genannten Jahren, laut
Plinius, die inmortalitas hominum ab.
Die von Plinius erwähnten memhranae aber sind natürlich keine
Codices ; sie sind als Pergamentrollen zu denken (vgl. oben S. 282 f. ; 289).
Es folgen die memhranae des Neratius. Wenn Schubart S. 106 urteilt, Xeratius
so, memhranae, könne das betreffende Werk dieses Juristen in Wirklich-
keit nicht geheißen haben, übrigens aber setze der Titel Codexform voraus,
so ist das letztere gänzKch unerwiesen und beide Bemerkungen verfehlt;
s. Centralblatt f. Bibliothekswesen 17 S. 562 und Buchrolle S. 20 Anm. 3.
Auf den Reliefs und sonstigen Schildereien der griechisch-römischen Bildwerke
Kunst w^erden Bücher massenhaft abgebildet; diese Darstellungen, wie
ich sie in der „Buchrolle in der Kunst" gesammelt, sind die anschau-
lichsten Zeugen und ergänzen das, was wir sonst wissen, in \deler Be-
ziehung erheblich; das Lesebuch aber erscheint auf ihnen vom 6. Jahr-
hundert V. Chr. bis zum Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. stets nur als
EoUe. Neben der Eolle erscheint auf ihnen nur die Wachstafel, die überall
als solche deutlich genug charakterisiert ist, aber natürhch mit litterarischer
Lektüre nichts zu tun hat. Einen Pergamentcodex erkenne ich nur ein-
mal auf der athenischen Grabstele des Timokrates aus dem 2. — 3. Jahr-
hundert n. Chr.; 2) doch sieht Brinkmann s) auch hierin eine Wachstafel.
Gleichwohl hat sich die Buchform, von der wir jetzt handeln, in ge-
wissen Schichten der Bevölkerung schon etw^a hundert Jahre vor dem ge-
nannten Termin des 4. Jahrhunderts n. Chr. allmählich durchgesetzt. Daß
sie bis zu dieser Zeit auf Bildwerken noch gar nicht erscheint, wird den
nicht befremden, der erwägt, daß skulpierte marmorne Sarkophage und
verwandte Monumente nur die reichen Familien sich herstellen Heßen,
der Pergamentcodex dagegen von Haus aus das Lesebuch der ärmeren
Bevölkerung war.
Er taucht zum allererstenmal^) im Jahr 84/85 bei Martial 14, 184—192 Zeugnis
auf, wo aber Martial den Ausdruck codex dafür noch nicht zu verwenden
wagt; denn codex bedeutete Holz, und Holz kann nicht aus Leder sein.
*) promiscuus heißt „gemeinschaftlich",
aber nie „wechselweise". Daraus ent-
wickelte sich aher die angegebene Bedeu-
tung; vgl. capere cibum promiscuum „ganz
gewöhnliche, allgemein übliche Nahrung" ;
so Plinius in den Briefen ; promiscua mer-
cari im selben Sinn Tacitus Germ. 5 ; vgl.
auch Tac. Annal. 16, 16. Vor allem schreibt
der ältere Plinius selbst 21, 7 : in promiscuo
um esse ; derselbe 5, 15 victum promiscum,
u. ä. m. Kurz, promiscuus heißt im sUbemen
Latein soviel wie communis.
2) Siehe Comptes rendus du congr^s
intern, d'archeol., Athen 1905, S. 192 f. ;
Rhein. Mus. 66 S. 147.
«) Rhein. Mus. 66 S. 152, wie ich glaube,
mit Unrecht.
*) Ueber den pergamentnen Homer
in der Nuß oben S. 282.
346 ^^^ antike Buchwesen.
Augensclieinlich war die Sache damals noch ganz neu; denn während
Martial über die Beschaffenheit der gleichzeitig dort erwähnten Bücher
auf Papyrus kein Wort verliert, hält er für nötig, die Pergamentbücher
sorgHch zu beschreiben. Er nennt sie pugillares membranei. Weil die
Wachstafeln in der Faust ruhten, hießen sie pugiUares; diese waren also
jetzt in Membrane nachgeahmt, an die Stelle der Wachsfläche die Perga-
mentfläche getreten. Martial selbst sagt das deuthch, 14, 7:
Esse puta ceras, licet haec membrana vocetur.
Delebis quotiens scripta novare voles.
Ebendieselbe Buchform hat dann Martial, wie er uns I 2 mitteilt, hernach
auch auf seine eigenen Epigramme übertragen.
17. Ober Martial I 2.
Martial 12 Das Epigramm Martials I 2 bedarf der Interpretation. Zu seinem Ver-
ständnis und zur Klarlegung des Sachverhalts, der uns hier beschäftigt,
sei es mir gestattet, etwas weiter auszuholen. Es handelt sich zugleich
um das Verständnis der Praefatio des ersten Martialbuchs.i)
Daß Martial seine Bücher gelegentlich, nachdem er sie ediert, noch
umgestaltete, zeigt sein zehntes Buch, das er zweimal herausgab, und
zwar, wie alle seine Sachen, auf charta (s. X 2, 11). Aus Buch X und XI
stellte er ferner einen Auszug, und zwar mit ganz persönlicher Adresse
für Kaiser Nerva, her. 2) Es war das eine Auslese der besseren oder
dezenteren Stücke, die, in nur einem Exemplar hergestellt, augenschein-
lich nicht in den Buchhandel kam und der also für die Textgeschichte
des Martial schwerlich mit Recht Bedeutung beigemessen wird.
So redet nun auch das Gedicht I 2 von einer besonderen Ausgabe
irgendwelcher Martialgedichte unbestimmter Anzahl und Abgrenzung, die
beträchthch später als das Buch I selbst hergestellt worden ist.
und Eben hierauf hat auch die Vorrede zu Buch I Bezuff. Martial hat
Praefatio I . . ...
seine Bücher nur selten mit Prosavorreden versehen. Weil er dies in
seinem zweiten Buche tut, hält er es für nötig, sich dort wegen dieser
Neuerung ausdrückhch zu rechtfertigen, s) Schon deshalb ist die Prae-
fatio zu Buch I sicher später abgefaßt als die zu Buch II. In der Tat
gehört sie, wie ihr Inhalt zeigt, gar nicht zu dem Buch, das sie eröffnet.
Ebenhierauf führt auch, daß die übrigen Praefationen, die bei Martial ein
Einzelbuch eröffnen, einen bestimmten Adressaten anreden, was in der zu
Buch I nicht der Fall ist.
Aber auch mit den Gedichten I 1 und I 2 steht es ebenso. Letzteres
erwähnt das forum Nervae sive Minervae, ist also frühestens unter Nerva
und sicher \del später als Buch I geschrieben; und I 1 setzt voraus, daß
Martial schon ein berühmter Dichter ; auch das paßte nicht in sein erstes Buch.
^) Unannehmbare Aufstellungen, die ] u. 217.
auf der Kombination mehrerer Fehlinter- ^) Alles, was Immisch a. a. 0. in bezug
pretationen beruhen, hat O. IisfMiscH, Her- hierauf vermutet, beruht auf seltsamen
mes 46 S. 481 ff. gemacht. Ich hoffe, daß
sie durch das Obige berichtigt sind. Vgl.
auch den „Anhang I".
2) Siehe Friedländer, Martial S. 63
Trugschlüssen. Darauf einzugehen ist an
dieser Stelle unmöglich, doch findet man
im „Anhang I" das Grenauere.
I
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 347
Nun redet nicht nur das Gedicht 12 in v. 1 von mehreren libelli die
Martial dem Leser jetzt in knapper Fassung vorlegen will, sondern ebenso
auch II V. 3, und auch die Praefatio redet von lihelli mei im Plural.
Daraus ergibt sich, daß alle diese Stücke, I 1 und I 2 und das Prosa-
vorwort, gleicherweise nicht das Buch I, sondern eine Kollektion von
mehreren libelli oder eine solche aus mehreren lihelli einzuleiten bestimmt
waren. Und das „erste" Buch des Martial hebt also in WirkHchkeit ohne
alles Vorwort mit der Nummer I 3 Argiletanas mavis habitare tabernas eqs.
an und liegt in den Nummern 3 — 118 vollständig vor.
Die besprochene Prosapraefatio aber geht in ihrem Schlüsse selbst in
Verse über; und zwar schließen die Gedichte I 1 und I 2 in der hand-
schriftlichen Überlieferung!) unmittelbar an den Prosatext an, und erst
darauf folgen die vier choHambischen Verse an den gestrengen Cato, die
die Praefatio abschließen und die ich als 3 a bezeichne. In allen Aus-
gaben wird das umgestellt; aber es fehlt zu solcher Umstellung an hin-
reichendem Anlaß. Es ist also überHefert:
Spero me secutum in libellis meis tale temper amentum, ut de Ulis
queri non possit quisquis de se bene senserit, cum salva infimarum quoque
personarum reverentia ludant; quae adeo antiquis auctoribus defuit ut nomi-
nibus non tantum veris abusi sint, sed magnis. Mihi fama vilius constet et
probetur in me novissimum ingenium. Absit a iocorum nostroriim simplicitate
malignus interpres nee epigrammata mea f scribat.^) Improbe facit qui in
alieno libro ingeniosus est. Lascivam verborum veritatem, id est epigrammaton
linguam excusarem si meum esset exemplum; sie scribit Catullus, sie Marsus,
sie Pedo, sie Gaetulicus, sie quicunque perlegitur. Si quis tamen tam ambitiöse
tristis est ut apud illum in nulla pagina latine loqui fas sit, potest epistola
vel potius titulo eontentus esse. Epigrammata Ulis scribuntur qui
solent spectare Florales. Non hitret Cato theatrum meum aut si in-
traverit spectet. Videor mihi meo iure facturus si epistolam versibus clusero:
I 1, 1 Hie est quem legis ille, quem requiris,
Toto notus in orhe Martialis
Argutis epigrammaton lihellis:
Cui, lector studiose, quod dedisti
5 Viventi decus atqiie sentienti,
Bari post cineres habent poetae.
12,1 Qui tecum cupis esse meos ubicunque lihellos
Et comites longae quxieris habere viae,
Hos eme, quos artat hrevihus memhrana täbellis.
Scrinia da inagnis, me munus una capit.
5 Ne tamen ignores ubi sim venalis et erres
TJrbe vagus tota, me duce certus eris:
Libertum docti Lucensis quaere Secundum
Limina post Pacis Palladiumque forum.
1) In der zweiten Handschriftenklasse 1 exzerpte und kommt hier also nicht in
(BA bei Lindsay) fehlen die Gedichte I u. II, | Betracht
die dritte Klasse (CA) bietet sie so, wie
ich es oben angegeben. Durch den Aus-
fall der Stücke in BA wird die Eeihen-
folge des Textes in CA durchaus nicht
verdächtigt. Die erste Klasse der Hand-
schriften gibt überhaupt nur Martial-
2) scribat ist sinnlos und Friedländers
Erklärungsversuch vergeblich. Der inter-
pres kann nur der sein, der, ein malignus,
für die Pseudonyme Martials die wirklichen
Namen einsetzt, resp. über die Epigramme
setzt. Also ist m. E. inscribat zu lesen.
348 ^^s antike Buchwesen.
I 3 a, 1 Nosses iocosae didce cum saerum Florae
Festosque lusus et licentiam vulgi,
Cur in theatrum, Cato severe, venisti?
An ideo tantum veneras, ut exires?
Der Prosatext schließt also mit demselben Gedanken ab, den auch
das Gedicht 3 a ausführt. Dies ist der Grund, weshalb die Ausgaben die
Verse 3 a im Widerspruch mit der Überlieferung unmittelbar auf jenen
folgen lassen. Das ist aber verfehlt und die Umstellung eine Entstellung.
Denn Martial versteift sich durchaus nicht darauf, ZAveimal genau dasselbe
dicht hintereinander zu sagen, sondern schiebt, wo das vorkommt, grade
gern ein paar andere Stücke dazwischen. Hätte die Umstellung recht, so
hätte er femer auch nicht gesagt : videor mihi meo iure facturus si epistolam
versibus clusero, sondern: si id quod dixi etiam versibus proposuero. Martial
ist der Prosa überdrüssig und will als Dichter „suo iure" das Vorwort nur
mit irgendwelchen netten Versen abschließen, und diese Verse nennen
nun, wie sich gebührt, zuerst den Verfasser (I 1), dann den Ort, wo die
Buchkollektion zu kaufen (I 2), und repetieren dann den Gedanken vom
gestrengen Cato, der die sündigen Spaße der Florales sich anhört.
Daß die Verse zuerst den Verfasser nennen: Hie est quem legis eqs.,
womit durchaus nicht etwa auf ein Porträt Martials hingewiesen werden
soll,i) entspricht genau dem Verfahren des Apulejus, Metam. I 1, der,
nachdem er vorausgeschickt hat, daß er milesische Schlüpfrigkeiten vor-
tragen will, sogleich fortfährt: quis ille? paucis accipe, um dann seine
eigenen Personalien zu geben. Auch Apulejus denkt nicht entfernt daran,
daß sein Werk mit seinem Porträtbild eröffnet werde. Beide Werkeröff-
nungen sind sich genau analog.
Sammlung Betreffs der hier angekündigten Kollektion von Epigrammen ist nun
Gedichte aber erstUch klar, daß sie nur lauter Lüsternes enthalten haben kann. Sie
Avar also mit den Martialsammlungen, wie sie uns in Buch I — XII vor-
liegen, keinesfalls identisch. Denn das Prosavorwort beschäftigt sich,
genau betrachtet, ausschließlich mit diesem Umstand. Es hebt mit der
Zusicherung an, daß der Dichter in seinen Versen vorsichtig ist und keine
Personen mit wahren Namen nennt; und er dringt darauf, daß nicht etwa
ein andrer diese wahren Namen einsetze. Worin aber besteht die Be-
denklichkeit der Epigramme, die solche Vorsicht nötig macht? Das Vor-
wort gibt nur die eine Antwort: in ihrer Laszivität. Diese Laszivität aber,
beteuert Martial, sei sein Hecht als Nachfolgers des Catull ; und darauf folgt
die summarische Mitteilung: die Epigramme, die er jetzt zusammenstellen
) Dies die durch nichts empfohlene \ (S.489, 1), das Wort j^a^rma könne bei Mar
Annahme von Immisch S. 484. Granz un-
möglich ist, daß das titulo in der Praefatio
{potest epistula vel potius titulo contentus
esse) auf ein Porträt hinweisen soll, titulus
heißt nie Titelblatt, sondern nur „Ueber-
tial „natürlich" auch die Seite im Codex-
buch bedeuten. Martial spricht nur von
tabellae der pugillares membranei, und zwar
dreimal, 12,3; XW186,2; 192,1; außer-
dem von pelles XIY 190,1; 184,2. Wir
Schrift", resp. titulus ist der Zettel (Sit- j müssen die Zeiten sondern und dürfen
tybus), auf dem der Titel als Lemma i einen Sprachgebrauch des 4. oder 5. Jahr-
stand. Noch weniger kann titulus ein mit | hunderts nicht gleich auf das 1. Jahrhun-
einem Porträt ausgestattetes erstes Buch- i dert übertragen, ^vo bei der Neuheit der
blatt bedeuten. Durchaus zweifelhaft ist ^ Sache eine Terminologie sich erst bilden
mir auch die These desselben Gelehrten mußte.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 349
will, gleichen den Spaßen an den ludi Florales, d. h. sie sind hoch obszön
und sie sind nur obszön: epigrammata Ulis scribuntur qui solent spedare
Florales; d. h. „die Epigramme werden von mir jetzt nur für die zu-
sammengeschrieben, die auf Unanständigkeiten Jagd machen". Auch die
Verse 3 a kommen deshalb ausdrücklich nochmals auf diese ludi Florales
zurück. Die Obszönität ist das Charakteristicum der hier angekündigten
Gedichtsammlung gewesen.
Die Worte der Praefatio: cum salva infimarum quoque personarum
reverentia liidant (sc. Hbelli mei) führen sogar zu der Annahme, daß in ihr
kein einziger wahrer Eigenname vorkam; selbst die untergeordnetsten
Personen waren in ihr mit Pseudonym benannt. Auch diese Durchführung
der Pseudonymität stimmt mit keinem der erhaltenen Martialbücher überein.
Dazu kommt nun noch folgende Wahrnehmung, und sie ist das Wich- ""'^ ^"^'^^
tigste und Entscheidendste. Die Kollektion, von der hier die Eede ist, war aus den
gar keine Zusammenstellung vollständiger Bücher, wie man gewöhnlich an- np^gn^ien
ninunt, sondern nur eine Auslese. Alles Freche war darin aus sämthchen Bdchem
Mai-tialbüchem ausgelesen. Das beweist das Verbum artare 12 v. 3, das
ganz speziell „verkürzen, ausziehen" bedeutet. In diesem Sinn gebraucht es
Martial auch 12,5,2; im selben Sinn schreibt Plinius epist. 1,20, 8 coartare
in librum. Vor allem aber ist das Martialgedicht 14, 190 zu vergleichen,
das klärlich zu dem Gedicht I 2 als Vorbild gedient hat. 14, 190 lautet:
Pellibus exiguis artatur Livius ingens.
Quem mea non totum bibliotheca capit.
Wie man sieht, kehrt hier nicht nur das artare wieder, sondern das j)^^-
libus exiguis entspricht auch sachlich genau den hrevibus tabellis, von denen
wir I 2, 3 lesen. Das artatur Livius bedeutet „Livius wird exzerpiert" ;
und daß Martial in dem Epigramm 14, 190 nur an eine Liviusepitome
denkt, bezweifelt niemand, i) Also steht es mit der I 2 geschilderten
Martialkollektion ebenso. Denn es ist nicht gestattet, die eine Stelle
anders als die andere zu interpretieren.
In I 2 spricht das Buch selbst; denn das me in 7ne manus una capit, im kleinen
' 1 1 Tir • 1 1 • • Codex
V. 4, kann nur auf den Membrancodex selbst gehen, den Martial hier ein-
führt; und 7neos libeUos im v. 1 heißt: „die Bücher, die ich enthalte". Der
Codex selbst sagt also im v. 3 : „kaufe diese Büchlein, die das Pergament
auf kleinen Blättern im Exzerpt enthält": quos artat membrana hrevibus
tabelhs. Zu magnis aber im v. 4 kann nicht etwa tabellis ergänzt werden,
denn das Wort steht unverkennbar zum folgenden me in Gegensatz ; wir
müssen also zu magnis vielmehr operibus ergänzen. „Eollenkästen {scriniä)
überlaß den umfangreichen Werken" sagt Martial im v. 4. Er betont
also auch hier wie im Epigramm 14, 190 ganz ausdrücklich die Kleinheit
des verwendeten Pergamentcodex, der demnach auch nicht viel Text um-
fassen konnte. Daher ist dieser Codex endlich speziell für Reisezwecke
geeignet; denn er ist klein und zugleich dauerhaft und kann einen Stoß
vertragen. Dies besagt v. 2. Auch heutzutage ist die an den Bahnhöfen
ausgebotene Reiselektüre nicht die zahmste. Für den Reisenden sind von
Martial alle Frivolitäten in diesen Codex zusammengetragen worden.
1) Vgl. WöLFFLiN, Archiv f. Lexik. 14 S. 222; Buchrolle S. 32.
350 ^^^ antike Buchwesen.
Das me manus una capit im v. 4 ist aber ferner in Hinblick auf die
vielen Papyrusrollen gesagt, in denen sich des Martial Gedichte sonst zu
befinden pflegen. Diese vielen E-ollen, ob fünf, ob zehn, kann eine
Hand nicht zugleich umfassen; den Codex hält eine Hand. Aus wie vielen
Martialbüchern enthielt er nun Exzerpte? Aus allen denen, die bis zur
Zeit Nervas, bis zur Zeit der Vollendung des forum Minervae (I 2, 8), also
bis zum Jahre 98 erschienen waren.
Eine Durch das Obige ist nun, wie ich denke, die auch sonst gänzHch
bücher- haltloso Hypotheso abgetan, daß das Gedicht I 2 auf eine vollständige
un^^f^sen Sammlung von sieben Martialbüchern, Buch I — VH, Bezug habe.
Seine Bücher hat Martial nicht als einzelne opera, sondern als zu-
sammenhängende Serie, als ein einheitHches Opus, das in Bücher zerfällt,
aufgefaßt; allmählich kommt dies Opus durch jährliche "Weiterdichtung
zustande. Daher bhckt er YH 11 auf alle bisherigen Rollen, ohne zu
sagen, wieviel es sind, zurück, als wären sie eine Einheit, und dem Julius
MartiaUs schenkt er VII 17 seine bisherigen „sieben" Bücher, die, wie er
sagt, zusammen in einem nidus untergebracht werden sollen (v. 5), also
sicher Hollen sind. Er schenkt diesem Mann nur deshalb nicht acht
E/oUen, weil er bisher nur sieben fertig hat. Daraus folgt doch nicht, daß
es eine Separatausgabe von sieben Büchern müsse gegeben haben. Weiter
steht VIII 3: „Fünf Bücher genügten, o Muse. Mein sechstes und siebtes
Buch waren schon zu viel. Warum diktierst du mir ein achtes?" Auch
diese Worte besagen durchaus nicht, daß Buch I — VH etwa eine Samm-
lung für sich bildeten. Viel eher müßte man aus ihnen schließen, daß
Buch I — V zunächst als abgeschlossene Sammlung für sich standen, daß
Martial dann noch überflüssigerweise Buch VI und VII hinzudichtete und
nun noch weiter fortfährt. Aber auch das wäre eine absolut müßige An-
nahme. Die Zahl qiiinque war ja überhaupt eine Pauschzahl, i) insbeson-
dere aber im Buchwesen war sie typisch, weil man die BücherroUen gern
nach Pentaden disponierte (oben S. 341).
Endlich braucht Martial in der Praefatio zum Buch VIH von allen
seinen bisher erschienenen Büchern den Ausdruck opus nostrum (operis
nostri odavus inscribitur). Er schrieb also an dem mehrbücherigen „Opus"
seiner Epigramme in der Weise, daß er jedes Buch desselben, sobald es
fertig, gleich publizierte, wie auch z. B. ColumeUa De re rustica jedes
Buch, sobald er es fertig hatte, herausgab, unbekümmert darum, daß das
Ganze doch ein einheitliches Opus Avar.
Dann aber hat Martial, wie wir aus I 2 entnehmen — und liiermit
kommen wir zum Abschluß dieser Ausführungen — , nach dem Jahr 98
eine Auslese von Epigrammen in Codexform zusammengestellt, in der die
frecheren Stücke aus allen bisher vollendeten Büchern enthalten waren;
und dieser Auszug sollte, vde der pergamentene Cicero, den er 14, 188
beschreibt, speziell zur Reiselektüre dienen.
^^Codex^^ Solche Codices waren damals etwas Neues; Plinius in der Natur-
geschichte, in den Jahren 70 — 79, weiß noch nichts von ihnen. Und sie
1) Siehe H. Hollstein, De Properti 1 Herondas 1, 10 ; Juvenal 1, 105 und Fried-
monobiblo, 1912, S. 73 f. Vgl. dazu auch | Länder zu Juvenal 11, 206.
%
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 351
waren nun auch gleich kauf Hch ; sie lagen gleich auch im Buchladen aus.
Aber nicht jeder Buclihändler führte die neue AVare. Martial gibt I 2, 7
die Adresse des Händlers Seeundus genau an, bei dem allein sie zu
haben sind.
So viel über das Problem des Martialcodex, bei dem ich so ausführlich Codifizie-
verweilt, weil es galt, falsche Vorstellungen abzuwehren, die sich an das "tilfs im
Martialgedicht I 2 geknüpft haben und die zu unmöglichen Konsequenzen ^- ^^^''
führten. Eine Frage aber bleibt noch übrig. Wie sind die Gedichte I 1,
I 2 und I 3a nebst der Praefatio I, deren Teil sie waren, an den Anfang
des ersten Martialbuchs, mit dem sie doch nichts zu schaffen hatten, ge-
kommen? Wir antworten: als im 5. Jahrhundert die Codexform über das
Rollenbuchwesen endgültig siegte und man es unternahm, alle Bücher
des Martial vollständig in die Buchform des Codex zu übertragen, da
griff man zu dem kleinen Martialcodex selbst, der uns im Gedicht I 2
erwähnt wird, behielt dessen einführende Stücke (II, 12 und I 3a mit
Praefatio) bei, ließ dann aber nicht die kargen Exzerpte, die er enthielt,
sondern vielmehr den vollen Inhalt der MartialroUen I — XII, sowie XIII
und XIY folgen, die es zu konservieren galt und neben denen jene Ex-
zerpte, weil überflüssig, für immer verschwunden sind. Die weitere
Folge aber war, daß die Stücke Praefatio I, carm. 1 1, 12 und I3a mit
dem Buch I, vor dem sie standen, für immer zu einer Einheit ver-
wachsen sind.
Martial
14, 184—192
18. Der Codex das Buch der Ärmeren.
Martial disponiert die Satumaliengeschenke seines 14. Buches, wie ich
„Buchwesen" S. 71 ff. dargelegt, in wechselnder Folge nach reich und
arm. Diese Reihenfolge ist in den Handschriften Martials fast überall
treu gewahrt; sie lehrt aber, daß die dortselbst 14, 184 — 192 erwähnten
Pergamentbücher die Geschenke des Ärmeren, die Chartabücher die des
Reicheren sind.
Ich habe dies a. a. 0. als überlieferte Tatsache aufgedeckt und. zu er-
klären versucht und späterhin meine Argumente, die zur Erklärung des
ÜberHeferten dienen, wie ich glaube, nicht unerhebhch verstärkt. Trotz-
dem verstummen dagegen die Zweifel nicht, und es gibt immer noch
solche, die nicht glauben wollen, daß ein Gvid-Metamorphosencodex, der
obendrein mutmaßlich nur ein Compendium gab,«) damals billiger gewesen
sein soll als ein Sallust in Papyrusrollen. Daher stellte Friedländer die
betreffenden Epigramme fröhlich um, verfälschte also das einzige Zeugnis,
das wir zunächst in dieser Frage besitzen, und man stellt nun die An-
sicht, die ich vertrete, zu Friedländer in Gegensatz, als ob Friedländer
und ich zwei gleichartige Autoritäten wären, zwischen denen man wählen
könne. 0 Das ist aber eine Verdrehung der Sachlage. Ich für meine
Person lehre liier nichts, sondern die Martialhandschriften lehren. Fried-
länder steht also gegen die Martialhandschriften.
Dafür, daß das Pergament in der Kaiserzeit etwa teurer als die Charta, ^.^^^[^*;^.^
war oder überhaupt als etwas Wertvolles galt, ist aus den alten Autoren de8 Codex
und der
.)Gardthaü8ekS.98. | •) Vgl. .Anhang II-. C'-""™»°
352 ^^s antike Buchwesen.
noch keine einzige Belegstelle beigebracht worden. Ein bloßes Gutdünken
soll also genügen, um die gute Überlieferung umzuwerfen.
Was ich zur weiteren Rechtfertigung dieser Überlieferung „Buchrolle"
S. 26 f. und 31 ff. eingehender ausgeführt habe, brauche ich hier nicht in
extenso zu wiederholen. Niemand hat es widerlegt. Daß die Charta etwas
Kostbares, ergab sich uns schon oben S. 278 ff.; 323 ff. Daher betont Martial
auch 14, 10, daß ein leerer xdgrrjg kein geringes Geschenk sei : munera non
pusilla. Vor allem war für die Chartabereitung selbst und insbesondere für
das Loslösen der inae aus den Stengeln des Schilfes ein zahlreiches Arbeiter-
personal nötig, und ein solches, das die feinste, subtilste Arbeit ohne Er-
müdung zu leisten imstande war (oben S. 266 ff.). Das setzt ein gewaltiges
Betriebskapital voraus. Die Herstellung des Pergaments erforderte keines-
falls denselben Aufwand. Dazu kommt aber noch, daß die Chartafabriken
sich ja nicht in aller Welt, sondern ausschließlich nur im Nildelta be-
fanden. Das kleine Nildelta hatte also nicht nur Ägypten, sondern Klein-
asien, Syrien und halb Europa, Griechenland, Rom und ganz Italien,
bald auch Gallien, Nordafrika, Spanien allein mit dem alltäglich gebrauchten
Schreibmaterial zu versorgen. Man denke, daß ein paar Städte an den
Rheinmündungen, Gent, Antwerpen, Brügge, heute allein für ganz Deutsch-
land, England, Frankreich, Italien, Rußland das nötige Papier liefern und
herstellen sollten aus einem Material, das nur an den Rheinmündungen
wüchse. Ich wollte sehen, ob da solches Papier nicht sehr kostbar würde
und ob nicht viele vorziehen würden, wieder zum ungefügen Tierfell zu
greifen, mit dem sich das Mittelalter begnügen mußte, i) In Wirklichkeit
steht heute die Sache so, wie ich einer Notiz in der Leipziger illustrierten
Zeitung (1885, 7. März, Nr. 2175 S. 241) entnehme, daß um das Jahr 1885
auf der Erde 3985 Papierfabriken arbeiteten (dagegen im Nildelta zur
Zeit des Plinius vielleicht nur etwa ein Dutzend); jährlich werden, nach
derselben Notiz, in modernen Zeiten 952 Millionen Kilogramm Papier
erzeugt, für jeden Tag also 822000 Kilogramm. Was sind dagegen die
Papyrusfunde aus dem Faijüm, aus den Kehrichthaufen und Mumien-
kartonagen von Oxyrhynchos, Tebtunis, Hibeh u. s. f., deren Masse, seien
es selbst eine halbe Million,*) sich auf viele Jahrhunderte verteilt? Ein
Sandkorn gegen eine Wüste.
Daß auch das Tierfell im Handel seinen Wert hat, entgeht mir durch-
aus nicht; denn man braucht kein Schuster von Beruf zu sein, um das
Leder zu respektieren. Der große merkantile Vorteil der Membrane bestand
aber, von allem bisher Erwogenen abgesehen, auch noch darin, daß man
sie so gut wie nie zu erneuern brauchte ; sie zerriß nicht. Eine häufig ge-
lesene PapyrusroUe war dagegen unglaublich rasch zerlesen; sie zerfiel nur
zu schnell. Daher Avaren rd TzaXaid ßißUa, rä aQxcua so überaus wertvoll;
es war schon ein Wunder, wenn sie eine Generation überdauert hatten.
Wert- Auch bei den Wertbestimmungen, die Martial in seinem 14. Buche gibt,
bei Martial wirkt die Rücksiclit auf die Generationen, denen der Autor angehört, ent-
scheidend mit. Das zeigen die beiden Epigramme 14, 193 und 194, wo
») Nach Buchrolle S. 27. 1 publiziert ;s.Mitteis-WilckenI1S.XXIII.
') Gegen 10000 Papyri sind bis jetzt |
im
der
f
II, Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 353
Tibull wertvoller als Lucan erscheint. Beide Dichter stehen da in Papyrus-
rollen. Tibull ist wertvoller nur, weil er älter ist.
Übrigens sind dort, 14, 183 ff. die Geschenke des Reicheren die fol-
genden: Homers Batrachomachie , Vergils Culex, Mevdvdgov ßak, die
Monobiblos des Properz; sie stehen alle auf Charta, und das waren gewiß
nicht etwa erst neu hergestellte Exemplare. Vielmehr spricht alles dafür,
daß dies im Buchhandel selten gewordene Sachen waren, worüber das
Nähere „Buchrolle" S. 31 f. Folgendes sind dagegen die Geschenke des
Ärmeren, und sie stehen alle in Pergamentcodices : Homer, Vergils Aeneis,
eine Cicerorede, eine Liviusepitome, Ovids Metamorphosen. Diese Perga-
mentcodices aber waren damals zweifellos etwas Neues (s. oben S. 345).
Was ist nun der erste Anlaß zur Herstellung dieser Codices gewesen? ^!"^^'' '
Martial verrät uns auch das.i) Alle soeben aufgezählten Autoren, die im Knaben-
Codex standen, waren, wie jeder sieht, Schulautoren. Es sind nur ""''umdeT
solche, die auf den Knaben- und Rhetorenschulen gelesen wurden. Bücher
für Knaben und Studenten müssen aber durabel sein; denn man weiß,
Avie in Schülerhänden solch ein Exemplar schon nach einem Halbjahr
zugerichtet ist. Der Schulzweck ist es also gewesen, der zur Er-
findung des dauerhaften, gehefteten Pergamentcodex geführt
hat. Keine Eleganz haftete ihm an, sondern die banausische NützHchkeit.
Aber ein zweiter praktischer Zweck stand von vorneherein daneben: !^^
Das Codexbuch sollte auch den Eeisenden dienen. Es gibt ReHefs, die
uns zeigen, wie der Reisende, um sich auf der langen Fahrt nicht zu
langweilen, im engen Wagen in einer Rolle liest (Buchrolle S. 32 u. 132).
Die Rolle wurde dabei aber nur zu leicht ramponiert; denn ein antiker
Wagen hatte keine Federn; der Wagen stieß; bei der stoßenden Be-
wegung und Erschütterang schabte sich die Rolle zu oft am Kleide, was
man sonst streng vermied (oben S. 304; Martial 14, 84). Daher soll nach
Martials Vorschrift die Cicerorede (14, 188), daher soU auch die pikante
Martialauslese selbst (12; s. oben S. 349) nicht als Rolle, sondern im festen
Codexbuch zur Reiselektüre dienen.
Daß endlich der Homer, der Vergil und Ovids Metamorphosen voll-
ständige Exemplare waren, brauchen wir durchaus nicht anzunehmen.
Das Gegenteil wird durch die Beobachtung erzwungen, daß alle diese
pugiUares nur klein w^aren (s. S. 359). Da der 14, 190 erwähnte Codex
den Livius jedenfalls nur im knappen Exzerpt enthielt, so kann das von
den übrigen, die ich nannte, ganz ebenso gelten. Die Ilias latina und
tabulae Iliacae zeigen uns ja, wie man tatsächhch zu Schulzwecken den
Homertext gewaltig verkürzte (oben S. 212). Vor aUem verrät 14, 186 der
Wortlaut deutlich, daß Martial von der Aeneis nur ein enges Compendium
vor sich hatte; Genaueres hierüber im „Anhang II". Man memorierte den
Inhalt dieser Werke mit Hilfe von Compendien. Das Staunen, das
Martial in diesen Epigrammen darüber ausspricht, daß ein so umfangreicher
^) Von den pugiUares membranei bei
Martial 14, 7 (oben S. 346) sehe ich hier
natürlich ab, da es sich dort um un-
beschriebenes Pergament handelt, eine
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl. 23
Nachahmung der cerae in Membrane, die
nicht etwa Briefzwecken (s. oben S. 286 f.),
sondern dem Brouillon dienen sollte.
354 ^^^ antike Buchwesen.
Autor von der „kleinen" Membrane zusammengefaßt wird, betrifft dem-
nach nicht eine größere Aufnahmefähigkeit dieser Buchform, sondern die
Abkürzung des Textes im Dienst der Schule.
SeinFehien Pauporis sortcs i die geheftete Membrane war das Buch der ärmeren
Monu- Klassen, das bestätigt uns nun auch noch die weitere Folgezeit, und zu-
menten j^ächst die Bildwerke. Wir sahen schon S. 345, daß auf den Marmormonu-
menten, die uns nur reichere Leute im Abbild zeigen, dieser Codex die
Papyrusrolle nirgends aus der Hand des Porträtierten verdrängt. Er fehlt da
überall; die Monumente aber archaisieren nur ganz selten und ausnahms-
weise; sie zeigen uns das Leben, wie es tatsächlich war. Aber auch
und bei Lucian ergibt einen zwingenden Schluß ex silentio. Er schildert in der
Schrift Adv. indoctum die Bibliothek des reichen Bibliomanen und gibt
dabei die geringfügigsten Details. Aber da erscheint in der Bibliothek
ausschließhch nur die Papyrusrolle, die zu konservieren die ängstliche
Sorge des Besitzers ist. Wäre der Codex damals wirklich, wie man sich
einbildet, Sache des Luxus gewesen, hätte er der Charta wirklich an Wert
vorangestanden, so hätte dieser Bücherrenommist doch auch solche kost-
baren Codices in seiner Bibliothek haben müssen. Denn der Codex war
damals, im 2. Jahrhundert, schon durchaus in Aufnahme. Es nützt nichts,
diese Tatsache totzuschweigen. Wäre der Codex Sache des Reichen ge-
wesen, so müßten wir ihn hier bei Lucian antreffen. Also hat das Gegen-
teil zu gelten.
Buch rolle Suchcu wir wcitor und gehen von Ulpians Zeit aus, so findet sich
"bei den'^ ^or „Codex" im 3. Jahrhundert, nicht bei dem Dichter Commodian, von
Christen ^qj^ ^vir jotzt wisscu, daß er erst in das 5. Jahrhundert gehört, i) aber
doch in der Hand des jüngeren Maximin, der damals den Homer auf
Pergament las, 2) Besonders deutlich aber redet sodann die christliche
Kirche. Allerdings läßt sich nicht bestreiten, daß sich auch die christliche
Gesellschaft noch lange Zeit, wie die heidnische Welt, und zwar nicht nur
zu administrativen und sonstigen amtlichen Zwecken, der Charta und des
E/Ollensystems bedient hat. Dafür sind die Belege leicht zu finden; 3) im
2. Jahrhundert ist es Irenaeus, der Bischof von Lyon, der auch für den heiligen
Text den Gebrauch der Charta voraussetzt, adv. haereses HI 4: multae
gentes harharoriim eorum qui in Christum credimt^ sine charta et atramento
scriptam habentes per spiritum in cordihus suis salutem. Im 4. Jahrhundert
aber ist, zwar nicht bei den Hochvornehmen unter den Christen, aber in den
unteren Schichten der Gemeinden der codex weit verbreitet, ja, vollständig
zur Herrschaft gelangt. Während so vornehme Christen, wde Ausonius
und Apollinaris Sidonias, ihre verschiedenen Werke noch ausschließlich in
Papyrusrollen niederschrieben (dies steht heute fest), so erzählt Hieronymus
Der Codex adv. Rufiuum 1, 9 dagegen, wie Pamphilus von Cäsarea Bibeln in Codex-
'jj form auf Yorrat anfertigen läßt, um sie an die Bedürftigen in der Ge-
meinde als Geschenk gelangen zu lassen: scripturas sanctas . . . trihuehat
promptissime nee sohtm viris sed et feminis; unde et midtos Codices prae-
im Dienst
1er Arme
1) Siehe H. Brewer, Kommodian von i ^) Buchrolle S.76 ff. ; 241 ; 316 ff. ; Buch-
Gaza, Paderborn 1906.
2) Siehe unten S. 356.
wesen S. 102 f.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 355
parabat tif, cum necessitas poposcisset, volentibus largiretur. Wer will glauben,
daß zu solcher Gratisverteilung an arme Leute von Pamphilus grade der
teurere Beschreibstoff sollte verwendet worden sein? Codices ohne Zu-
satz sind in dieser Spätzeit immer Pargamentcodices. Also war das Perga-
ment damals tatsächlich billiger zu haben. Bei Augustinus Confess.
8, 6, 15 sehen wir, wie ein „Codex" mit dem Leben des hl. Antonius
sich in einer ärmlichen Einsiedelei befindet. Aber auch Optatus bezeugt
VIII dasselbe: manus omnium codicibus plenae sunt; denn das besagt: Tägliches
jeder, auch der ärmste Clirist, hat einen heiligen Text in Codexform in
Händen; und dazu stimmt weiter, daß Pseudo-Cyprian adv. Jud. 10 be-
hauptet: „auch Kinder und Bauern sind bibelkundig". Das war es, wohin
die Kirche strebte: jeder Christ soll im codex lesen (Hieron. epist. 22, 17),
und zwar täglich. i) Das Buchwesen des Christentums verwuchs auf diesem
Wege mit dem Codex, und so kommt es, daß der Sieg des einen zugleich
auch der Sieg des anderen gewesen ist.
Man kann vielleicht sagen, daß der Christ die heidnische Litteratur
damals gradezu am Gebrauch der Papyrusrolle erkannte. Stellen wie bei
Sedulius Carm. pasch. I 22 :
Plurima Niliacis tradant mendacia bibhs
erwecken diese Vorstellung. Das trifft aber wohl erst für das 5. Jahr- die BucIi-
hundert, dem Sedulius angehört, ganz zu. Im selben 5. Jahrhundert gibt 4*^jah™
uns Sidonius Apolhnaris epist. II 9, 4 Einblick in eine Bibliothek, und hundert
wir sehen, wie da wirklich die altheidnischen Autoren, Varro und Horaz,
noch auf (Papjrus-)Ilollen, die heiligen Schriften der Kirche dagegen in
Codices gelesen werden. Anders im 4. Jahrhundert ; da haben die christ-
lichen Dichter, wie Paulinus Nolanus, für ihre frommen Verse sich zweifellos
noch derselben Chartarolle wie Ausonius bedient (vgl. Paulin. Nol. carm.
29, 17), ja, auch die Prosaautoren, wie Hieronymus, haben es damals noch
ab und an mit ihren Kommentaren und Streitschriften ebenso gehalten. 2)
Von seinem Ezechielkommentar sagt Hieronymus, daß er jedes der Bücher
dieses Werkes mit einem Vorwort versehe, damit die E-eihenfolge der
Rollen nicht in Unordnung komme. ^) Vornehmlich waren es also nur
die heiligen Texte selbst, die scripturae sanctae, nebst den eben damals
aufkommenden Heiligenleben, die man im 4. Jahrhundert im Codex sicherte.
Dabei erhalten wir nun noch in dieser Spätzeit einige Äußerungen ihre Kost-
über die Kostbarkeit der Charta. So fürchtet Ausonius epist. VII 2, 56,
daß sie ihm, wenn er zuviel von ihr verbraucht, teurer zu stehen kommt
als Austern (ne sit Charta mihi carior ostreis). Des Hieronymus Geldbörse
ist „leer" geworden, weil er sich den Origenes auf Charta gekauft hat
(epist. 84, 3); Hieronymus erwähnt das „auf Charta" ausdrückhch; dadurch
erklärt sich eben die große Geldausgabe; und Sidonius Apolhnaris nennt
die Charta rara, d. h. teuer und selten, auf der er eines seiner Gedichte
^) Vgl. Ad.Harxack, Beiträge zur Ein-
leitung in das Neue Testament Bd.V: über
den privaten Gebrauch der heiligen Schrif-
ten, Leipz. 1912, S. 104.
2) M. Krämer S. 57 f.
3) Buchwesen S. 112 Anm. 2. Epist, 47, 3
redet Hieronymus von seinen Büchern, die
aus dem niduhis auffliege'n; auch diese Art
der Edition (vgl. oben S. 340) deutet auf
Papyrusrollen;
23*
356
Das antike Buchwesen.
niederschreibt (carm. 9, 319). Das ist ein wichtiges Zeugnis. Nie wird
uns etwas Ähnliches über die Membrane gesagt. So begreift sich denn
auch, daß, als Sidonius der Königin Ragnahilda ein Gedicht widmen soll,
er es nicht etwa auf Membrane, sondern wiederum auf Charta schreibt, i)
Nur Charta ziemte sich für die Fürstin.
Prunkrolle AUcs dics führt ZU derselben Anschauung; das geheftete Pergament-
tung des bucli War das Buch der ärmeren Klassen. Daher erschien z. B. auch das
Codex Arzneibuch des Marcellus von vornherein als solches. 2) Gleichwohl ist
es natürlich, daß auch die Vornehmen, ja, auch die Kaiser Roms selbst
die ganz eminenten Vorteile, die das neuaufkommende Codexbuchwesen
bot, bemerkten, und so begannen auch sie bald, es sich nutzbar zu machen ;
aber dies Buch war für die Gewohnheiten der E/Cichen zu ordinär; man
mußte es irgendwie hoffähig machen und stellte Purpurpergament her
und schrieb darauf mit Goldschrift. Einen so ausgestatteten Homer besaß
schon der Kaisersohn Maximin der jüngere um das Jahr 235 ;8) hernach
wurde das auf die Prachtbibeln in den vornehmen Häusern übertragen:
inficiuntur membranae colore piirpu7X0, aiirum Uquescit in litteras, gemmis
Codices vestiuntur; das bezeugt Hieronymus für den Occident, Johannes
Chrysostomos für den Orient.*) Gewiß war das ein Unfug; denn wer
kann in einem Buch solcher Ausstattung wirklich lesen? Aber erst so
und durch mit Gemmen geschmückte Einbanddeckel wurde der Codex zu
einem Gegenstand, an dem sich der Luxus, der nun einmal nie rastet,
üben konnte. Auch die Charta vertrug sowohl Purpurbemalung wie Gold-
schrift (oben S.305f.); aber jenes barbarische Verfahren ist auf sie doch wohl
sehr selten 5) angewandt worden. Sie war an und für sich kostbar genug.
19. Beschaffenheit der Codices.
Erfindung: Über die Beschaffenheit der perpamentenen Codices kann ich mich
dos firGlicf- • • • --"-
teten Buchs im übrigen sehr kurz fassen. Das Geniale an ihrer Erfindung war eben
die Heftform selbst. Daß dies Heften etwa in Pergammn erfunden sei,
ist durch nichts erwiesen. In der Zeit vor Martial wurde das Pergament
überall nur gerollt (s. oben S. 345). Es ist demnach sehr wohl möglich,
daß diese Erfindung in Rom selbst, avo sie zuerst erwähnt wird, gemacht
worden ist. Vielleicht Avar jener Secundus, der Freigelassene des Lucensis,
selbst der Erfinder, der in Rom hinter dem templum Pacis und forum
Nervae wohnte und bei dem allein zur Zeit Martials solche geheftete
Pergamentbücher zu kaufen waren (oben S. 351).
Blattlagen T)ies Buch beruht auf dem Doppelblatt. Man legte etliche Doppel-
blätter, je drei bis fünf, als Ternionen, Quatemionen, Quinionen ineinander
und heftete dann mehrere solche Blattlagen an einen gemeinsamen Rücken,
eine multiplex pellis und massa, wie Martial es nennt. Daraus erklärt sich
wohl auch der Ausdruck Codices componere (s. unten S. 364). Ohne solchen
Buchrücken, der einen festen Halt gab, sind die Schulbücher und Reise-
bücher, die Martial beschreibt, kaum denkbar. Doch kam auch das Primi-
1) Sid.Aponin.epist.IV8,5. Diese Be-
lege stellte M.Krämer a.a.O. zusammen.
2) Buchrolle S. 35.
8) Script, hist. Aug., Maximin. 30.
*) Buchwesen S. 108, 3.
5) Oben S. 306.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches.
357
tive vor, daß er fehlte und daß man die verschiedenen Blattlagen einfach
lose zusammen in eine Kapsel oder Ledertasche i) steckte. Vielleicht }^^^Si^l'
stellt sich uns ein so primitiv beschaffener Codex in jener Bleikapsel im lagen
Museo Kircheriano dar, die die Form eines Codex nachahmt und in der
sich sieben lose Bleitafeln mit Schrift befinden. 2) So würde sich noch
besonders erklären, daß die Griechen dies neue Buch vorzugsweise „Gefäß",
Tf 1';^ og, nannten. Die Pergamentdoppelblätter aber wurden in jedem Quaternio
in der Weise gelegt, daß immer Haarseite auf Haarseite zu liegen kam. 3)
Einen Einband, operculum, der die pugiUares memhranacei umschloß. Einband
erwähnt schon die Inschrift CIL. X 6. Diesen Einband hat man bei
leichteren Exemplaren wohl auch aus Leder,*) sonst aber ohne Frage
schon früh regelmäßig aus Holz hergestellt. Nach Suidas s. v. cpelXdg
war dafür das Holz der Korkeiche beliebt. Solche festen Holzdeckel
setzen auch die zahlreichen Abbildungen voraus, die wir vom Codex aus
dem 5. Jahrhundert besitzen, aber auch schon die Bilder, die uns die
Notitia dignitatum gibt. Erhalten ist von diesen alten Einbänden nichts. &)
Der Einband heißt zumeist tegiimentum, ord^/co/ua, das Einbinden cooperire^
oraichvEiv. Cassiodor hatte ein Bilderbuch, in dem die verschiedensten
Muster für den Bucheinband zur Auswahl gezeichnet waren. ß) Daß die
Üppigen den Deckel mit Edelsteinen schmückten, sagt uns Hieronymus
(epist. 18). Die Bilder in der Notitia dignitatum zeigen uns Codices mit
Medaillons der Kaiser auf farbigem Deckel (übrigens auch solche mit
Schlingen oder Haken, Codices ansati\ vgl. oben S. 262). Vor allem aber
geben uns die zahlreichen christlichen Heiligen des 5. und 6. Jahrhunderts
Anschauung, die farbenprächtig an den Wänden der Basiliken und Bap-
tisterien in Rom und Ravenna glänzen; dazu kommen auch einige Wand-
bilder in den Katakomben mit prächtigem Detail. Wer sich all diese
Bilder zusammenstellt, bedarf keiner weiteren Beschreibungen des Codex
jener Zeiten. Denn da sieht man Buchdeckel, Buchschnitt, Buchver-
schluß, auch die Edelsteine auf den Deckeln, auch das Band als Lese-
zeichen, das sog. registriifrij^) auf das deutlichste.
Die ersten Pergamentcodices, die wir einigermaßen vollständig be-
sitzen, reichen kaum über das 4. Jahrhundert zurück. Aus Ägypten sind
vereinzelte beschriebene Pergamentblätter aufgefunden, die früher als das
4. Jahrhundert zu fallen scheinen . und dabei wirklich Reste gehefteter
Bücher sind. In keinem Fall aber ist von ihnen der ursprüngliche Ein-
band und die Heftung selbst noch erhalten.
Dieser Codex heißt bei den Griechen jetzt ßißlog (z. B. bei Libanius I ^^^^^: Q"*-
p. 100 H.), vor allem revxog (Euseb. bist. eccl. 4, 37 und sonst) und ocojud- etc.
Tiov. Die Seiten der Papyrusrolle hießen nie folia (vgl. oben S. 252);
folittj (pvXla, heißen nur die Blätter im Membrancodex. Deutlich macht
dies der Dichter Orientius, Commonitor. I 114 (ed. Ellis):
1) Gardthausen S. 176.
2) Buchrolle S. 342.
3) Gardthausen S. 158.
^) Ein Umschlag aus Leder, in Aegyp-
ten gefunden: Gardthausen S. 157.
'") Nachweise bei Gardthausen S. 177.
ß) Wattenbach S. 387. Ueber Buch-
einbände vgl. u. a. auch W. Nissen, Die
Diataxis des Michael Attaleiates, Jena 1894,
S. 83.
^) Ueber dieses Wattenbach S. 396 f.
358 ^^^ antike Buchwesen.
Omnis honor pretii est; ibis pro pondere numi
Carta seu foliis sive petes tabulis.
Der Arzt Marcellus bediente sich des Codex und sagt in Bezug auf ein
Gedicht, das er einfügt und das er nugae nennt: {ut) nugas nostras multi-
plex foliorum celet obiectus (praef. p. 2, 33 ed. Helmreich). Wenn der
codex Laurentianus des Sophokles für jedes Stück des Dichters die Zahl
der cpvlla und der oiiyoi notiert, also z. B. für den Ajax (pvXla iq orixov?
,afjiö\ so können diese Angaben nicht als Reste antiker Stichometrie be-
trachtet werden; denn der Ausdruck cpvlXa weist auf Codex, nicht auf
Papyrusrolle. 1) Bei den Byzantinern heißen die Pergamentblätter dann
auch ^agrla, genauer xaQxia juejußgiva/'^) Der Ausdruck quaternio für die
Lage von vier Doppelblättern begegnet uns bei späten Kirchenautoren,»)
bei denselben auch quinio ; ^) das griechische xergdöiov schon auf Diokletians
Edikt; entsprechend dann jzEvrddioy u.s.i.^) Zweifelhaft ist die Deutung
der TQLood und retgaood bei Eusebius, Yita Const. 4, 37. ß)
Nicht die einzelnen Folia, aber die Quaternionen wurden numeriert,
eine Numerierung, die z. B. im Codex Sinaiticus der Bibel noch vorliegt,
die aber auch schon auf gehefteten Papyrusblättern, die aus dem Faijüm
stammen, angetroffen worden isf^) und die unbedingt beweist, daß die
Blattlagen oft längere Zeit unverbunden aufbewahrt wurden.
Anordnung Was die Stellung der Schrift im Buch anlangt, so herrscht in den
ältesten Pergamenthandschriften, die wir besitzen, noch mehrfach die
Sitte, mit dem Prosatext nicht einfach in ganzer Breite die Seiten aus-
zufüllen, sondern ihn in schmale Spalten zu zerteilen: so z. B. im Sinai-
ticus und Yaticanus B der griechischen Bibel. Dies geschah in Nach-
ahmung der Papyrusrollen mit ihrer Kolumnenteilung. Die Rollen wurden
also möglichst treu in den Codex auf genommen. «) Ja, auch der Umstand,
daß im Pergamentcodex die Zeilen in der uns gewohnt gewordenen Rich-
tung laufen, d. h. parallel mit den schmäleren Rändern des Blattes und
rechtwinklig zur Heftung, entspricht der Richtung der Schriftkolumne,
wie sie in der Papyrusrolle dem Leser vor Augen stand. Der Pergament-
codex war aus der Wachstafel hervorgegangen; auf der Wachstafel hatte
man aber die Schrift anders gestellt und vielmehr parallel mit der Richtung
des längeren Tafelrandes laufen lassen (oben S. 260). Die Schriftrichtung
im Pergamentcodex, die also von der im Wachscodicill abging, folgte dem
Vorbild der Papyrusrolle, 9) aber natürlich deshalb, weil das so für den
Lesenden bequemer w^ar.
Seitenüber- 'Etine EigentümHchkeit des CodexbuchAvesens aber sind die Seitenüber-
scliriften ^
*) Buchwesens. 193. Uebrigens ebenda I gelienhandschriften verstehen, in denen je
S. 288,1 ;WATTENBACHS.185)GrARDTHAUSEN | drei oder Je vier Evangelien verbunden
S. 161.
2) W. Nissen a. a. O. S. 86.
3) Marius Mercator bei Migne, Patrol.
lat. 48 S. 811 : auch Oassiodor u. a.
^) Gesta apud Zenophilum, s. Harnack
a. a. O. S. 57, 4.
ö) Wattexbach S. 176 f.
®) Nach E. ScHWARTZ bei Pauly- Wis-
se wa, RE. VI S. 1437 kann man hier Evan-
waren.
7) Gardthausen S. 157.
8J Daß der Titel des Werks im Codex
auf der ersten Seite stand, folgerte ich
(oben S. 300) aus dem in Uminari pagina
bei Hieronymus epist. 67, 2 ; doch ist dies
unsicher, s. „Zusätze" zu S. 300.
9) Vgl. A. Brinkmann, Rhein. Mus. 66
S. 155.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 359
Schriften, die wir schon früh antreffen. Dziatzko setzte „Untersuchungen"
S. 178 ff. mit Recht an, daß unter den Codices antiquissimi, die aus der Antike
auf uns gekommen sind, diejenigen das höhere Alter haben, die solcher
Überschriften noch entbehren ; denn das Papyrusbuchwesen besaß sie nicht,
und jenes ist zunächst aus diesem durch möghchst treue Nachahmung
entstanden. In den ältesten Membrancodices, wie z. B. den Schedae
Vaticanae und Berolinenses des Vergil, im Yergil-Vaticanus Nr. 3225, im
Gelliuspalimpsest und Gaius fehlen deshalb noch die Seitenüberschriften.
Im 5. Jahrhundert sind sie dagegen entweder von der Hand selbst, die
den Text schrieb, wie im Vergil-Mediceus und vielen andern Hand-
schriften, oder von einer andern Hand nachträglich eingetragen.
Allerdings haben sich Seitenüberschriften doch auch einmal in einer
Papyrusrolle gefunden: es ist der Didymuspapyrus.i) Aber sie sind
da von ganz anderer Beschaffenheit, und der Schreiber verfolgte mit
ihnen eine andere Absicht. Denn sie geben jedesmal nur den Inhalt des
untenstehenden Textabschnittes an, sind also vielmehr nur Kapitelüber-
schriften und lauten daher immer wechselnd über jeder Kolumne anders;
so z. B. Kol. YIII erster Teil: rig fjv XQovog ev w xtL; zweiter Teil: Tiegi
Tov V rdkavra jiqoooöov lajußäveiv ktX., Kol. IX: öti ß' 'ÄQiorojuijdeig, 6 juev
0€gaiog, 6 d' 'Äßrjvmog xrX.^) In den gehefteten Codices wird dagegen
eintönig auf allen Seiten immer nur der Verfasser und der Titel des Ge-
samtbuchs genannt, auf der linken Seite z. B. immer wieder PLIN. 8EG.
NATVR. RIS., auf der rechten immer wieder LIB. XIII oder links
T. MACCI PLAÜTI, rechts TRINVMMVS. Es leuchtet ein, daß sich
dieser Usus nicht aus jenem entwickelt haben kann, da er einem ganz
anderen Zwecke dient; er ist erst im Dienst des gehefteten Buches ent-
standen, s)
Das Format der ältesten Codices membrmiei, die Martial erwähnt, war Formate
noch sehr klein; denn Martial nennt sie, wie wir sahen, pugillares, d. h.
von Faustgröße, sagt von einem solchen Exemplar manus una capit {1,2,^)
und betont auch sonst das exiguum derselben (14, 190 u. 186; 1, 2, 3). Die
Kleinheit betrifft vor allem ihre Höhe und Breite; ihre Dicke mag immer-
hin gelegentlich beträchtlich, auch ihre Schrift eng und klein gewesen
sein. Zur YeranschauHchung läßt sich etwa der Rest einer Pergament-
handschrift des Demosthenes (nach Kenyon aus dem 2. Jahrhundert) heran-
ziehen, deren Seiten nur 71/2 engl. Zoll Höhe haben und dabei in zwei
Kolumnen beschrieben sind, die nicht weniger als je 36 Zeilen umfassen.*)
Später wuchs aber auch das Format erheblich, und die onera, non Codices,
von denen Hieronymus redet, 0) nahmen eine Menge antiker Rollenbücher
in sich auf. Auch Libanius redet I p. 21411. von schwer lastenden Codices
juristischen Inhaltes. Daher sagt Isidor Orig. 6, 13, 1: codex multorum
lihrorum est. Über unius voluminis. Der Nachlaß des Plotinos wurde nach
Enneaden gruppiert, d. h. auf sechs Codices zu je 9 ßißUa verteilt (Suidas).
^) Siehe Berl. Klassikertexte Heft 1. I ■•) Kenyon im Journal of philol. 22
2) Vgl. MuTSCHMANN, Hermes 46 S.98. S. 247 f.; Gardthausen S. 159.
3) Siehe R. Friderici, De libr. antiqu. ^) I p. 797 ed. Benedict,
capitum divisione, Marburg 1911, p. 36 adn.
360
Das antike Buchwesen.
Neben jenen onera blieb indes auch noch im 4. und 5. Jahrhundert
ein geringes Format behebt, in der Weise, daß z. B. die einzelnen Evan-
gelien in je einem Codex standen, i) Auch der Apostel Paulus bildete
nachweislich einen Codex für sich. 2) Dagegen schrieb Hilarion sich
eigenhändig alle vier Evangelien in einen Codex zusammen, den er später
statt Geldes verausgabt. 3)
Endlich schildern uns die Gesta apud Zenopliilum die Bibelkonfis-
kationen, die bei einer Christen Verfolgung stattfanden; da lesen wir, daß
in den verschiedenen Häusern bald Codices quattuor^ bald Codices quinquCy
bald Codices maiores, bald minores konfisziert werden; einmal entdeckt man
da codicem unum pernimium ^naiorem;*) übrigens Victor grammaticus (ein
Christ) obtulit Codices II et quiniones quattuor. Die Quinionen lagen also
bei diesem Grammatiker Victor noch lose und unverbunden (aus solchen
Quinionen besteht z. B. der mit Bildern geschmückte Codex Rossanensis).
Fand man nun, wie wir es hier sehen, in einem Hause vier oder fünf
Bibelcodices, so setze ich an, daß der Bibeltext sich in diesen Fällen auf
vier oder fünf Codices verteilt hat. Das Wichtigste aber ist, daß es, wie
diese Mitteilung zeigt, drei Formate gab: Codices minores ^ Codices maiores
und Codices nimium maiores.
20. Die allmähliche Übertragung der Litteratur in den Codex.
Aufkom- j)^ neue Buchform, das geheftete Buch, u^e^^'ann lanp^sam, aber an-
men des _ _ ' o _ ' o .. ö ' ^
Ausdrucks scheinend in allen Provinzen des E/oichs und auch in Ag^^pten gleichmäßig an
codex -Qq^qj^ Doch soll man sich hüten, ägyptische Pergamentfunde oder auch
Funde von geheftetem Papyrus^) zu früh zu datieren; diese Warnung
Traubes sei hier wiederholt; denn die paläographischen Indizien, die
dazu veranlassen, können täuschen, ß) Nächst Martial sind die Juristen
Ulpian und Paulus, etwa in den Jahren 200 — 228, für diesen Gegenstand
wichtige Zeugen. Von ihnen wird für den Fall, daß den Erben eine
„Bibliothek" vermacht wird, die Existenz von Codices memhranacei vel char-
tacei schon mit in Erwägung gezogen, allerdings so, daß das nur neben-
her geschieht.') Auf alle Fälle ist dies eine wichtige Etappe; denn diese
Codices w^erden von den Juristen ausdrücklich mit als libriy d. h. als Eollen,
gerechnet (oben S. 283) ; und zugleich taucht eben hier zum erstenmal die
Bezeichnung codex in dem uns geläufigen Sinne auf. Die Übertragung
oder Ausweitung dieses Terminus, der ursprünglich nur Holztafeln be-
zeichnete, hatte sich also zwischen den Jahren 86 — 200 n. Chr. vollzogen
(vgl. oben S. 345; 283; 260).
tIng'X's I^ Verlauf des 2. Jahrhunderts steigerte sich im ganzen Westreich
Codex zxiT unter der Fürsorge des Hadrian und der Antonine das Unterrichtswesen,
de*r Tox"? das der staatHchen Aufsicht und Fürsorge unterstellt wurde. Im 3. Jahr-
1) Vgl. Gregor von Tours, Hist. Franc.
4, 16: 5, 14: Buchwesen S. 116 f.: Buchrolle
S. 267, 2: M. Krämer S. 52 f.
2) Paulinus Nol. carm. 24, 273.
ä) Hieronym. Vita Hilar. 35 f.
*) Harnack a. a. O. S. 56 macht hieraus
irrtümlich den Nominativ codex pernimiiis
inaior, während peniimium Adverb ist.
^) lieber die Beste gefalteter Papyrus-
blätter Gardthausen S. 156.
6) L. Traube, Vorles. S. 95.
') Ulpian, Digest. 32, 52; Paullus Sen-
tent. 3, 6, 51 f.
II. Verwendimg der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 361
hundert drang das Bücherlesen darum in noch breitere Schichten. Wie
der von mir anderen Orts gegebene Überblick über die Bildwerke lehrt,
ist der Mensch mit dem Buch wohl in keiner Periode von der bil-
denden Kunst so massenhaft dargestellt worden wie im 3 — 5. Jahrhundert
n. Chr. Dazu kam nun, daß sich eben damals zugleich auch die christ-
Hche Propaganda gewaltig steigerte, die auch ihrerseits ganz auf dem
Buch, auf den yqacpai, auf der Massenverbreitung des bibhschen Textes be-
ruhte (s. oben S. 354 f.). Wir haben aber S. 353 gesehen, daß es das Schul-
wesen, der Betrieb der Knabenschulen, war, der das dauerhafte Pergament-
buch begünstigte und die zarte Papyrusrolle zurückdrängte. Nun tat
auch das Christentum dasselbe. Denn seine Propaganda bemächtigte
sich vor allem der ärmeren Bevölkerungsklassen, and gerade die Armeren
waren es, die nachweislich das Pergamentbuch benutzten. Dem 4. Jahr-
hundert gehören dann aber auch schon die Konstitutionensammlungen
an, die sich codex Hermogenianus, codex Gregorianus benannten; der
Gregorianus zerfiel in Bücher, und diese Bücher gingen wohl auch als
E-ollen im Publikum um;i) doch erwies sich, da es sich um dauernde
Konsei-vierung von Rechtsquellen handelte, ihre Zusammenfassung im
Codex als besonders zw^eckmäßig. Im selben 4. Jahrhundert hat dann
Kaiser Konstantin selbst die biblischen Schriften für kirchliche Zwecke
im Codex verbreiten lassen. 2) Eben damals wird auch schon hin und
wieder von veteres Codices, die also etwa hundert Jahre alt sein mußten,
geredet (so nicht nur Hieronymus, sondern auch Servius zu Aen. 5, 871
und sonst). Dazu kommt das Valentinianische Zitiergesetz im Cod.
Theodos. I 4, 3; dies Zitiergesetz spricht nur denjenigen Texten der römi-
schen Juristen Geltung zu, die in Codices stehen und die keine Un-
sicherheit der Lesungen bieten, wie sie die alt gewordenen Papyrusrollen
leicht mit sich brachten. Hierauf wurde ich durch R. Samter aufmerksam
gemacht. Das Zitiergesetz spricht dem Papinian, Paulus, Ulpian, Modestin
und Gaius uneingeschränkt, den von diesen zitierten Juristen dagegen
mit folgendem Vorbehalt Geltung zu: si tarnen eorum lihri propter an-
tiquitatis incertum codicum coUatione firmentur. Hier sind libri, wie stets,
Rollen, und diese Rollen w^aren im Verfall wie die xagTidia aQ^aia oajiQÖ.
bei Alkiphron 1, 26. Samter bemerkte mir hierzu einleuchtend, daß jene
fünf aufgezählten Juristen damals ausschließlich in Codexform benutzt
wurden, die älteren, die sich bei ihnen zitiert fanden, dagegen sowohl in
alten Chartarollen — lihri — wde in Codexform vorgelegen haben werden.
Nur soweit diese in der letzteren Gestalt vorlagen, sollte ihren Ent-
scheidungen Gültigkeit zukommen.
Gleichwohl dichtet und pubHziert ein Mann wie Ausonius in dem- ^^^'J^^äs
selben 4. Jahrhundert noch ausschließlich in der vornehmeren Papyrusrolle ; 5. Jahr-
d. h. die eigentliche schöpferische Literatur bewegte sich auch damals
noch in gerollten Chartae (oben S. 354; 355); ja, auch die voraufliegende
Literatur las man damals noch ebenso; vgl. Auson. Epist. 10, 40: tota
siipellex vaüim priorum chartea est ; Epist. 14, 13 : tot saecula condita chartis ;
•) Buchrolle S. 26. . | 2) Euseb. Vita Const. 4, 36 f.
362
Das antike Buchwesen.
fabrikation
und nicht das vierte, sondern das fünfte Jahrhundert hat als die
Epoche zu gelten, in der das Papyrusrollenbuchwesen wirklich
einging. Das lehren uns auch die Bildwerke (oben S. 345).
Um das Jahr 350 n. Chr. war die Fabrikation der Charta anscheinend
noch gar nicht wesentlich zurückgegangen; denn wir hören in der Ex-
positio totius mundi (ed. Riese p. 113): weder iudicia noch privata negotia
Rückgang können ohne die Charta des Nil bestehen; die hominum natura scheint auf
der
Papyrus- die charttt gegründet, und sine invidia schickt sie Alexandria omni mundo.
Gibt dagegen Cassiodor in seinen Yariae XI 38, 2 f. im Jahr 534 — 535
eine begeisterte Schilderung von ihr, wie sie dem Pergament nie zuteil
geworden ist, so wäre es verfehlt, daraus noch auf eine Alleinherrschaft
der Charta zu schließen. Derselbe Cassiodor, der seine Klosterbibliothek
ausschließlich aus Codices zusammensetzte, rühmt a. a. 0. die Charta wesent-
lich nur, insofern sie als das kostbarere Material immer noch der kaiserlichen
Kanzlei diente und für die kaiserlichen Diplome auch noch im 6. Jahr-
hundert Verwendung fand: solches Diplom hieß beiläufig voliimen publi-
cum (Ammian. Marcellin. 22, 3, 4). In der Tat muß, seit dem Jahr 400
die Papyrusfabrikation und der Papyrusexport in Ägypten doch merkUch
zurückgegangen sein. Ägypten gehörte nach der Teilung des Reichs
dem Ostreich an, und Alexandria wird, sobald Ostreich und Westreich
sich verfeindeten, auch nicht mehr sine invidia seine Ware nach dem
Westen exportiert haben, i)
Jedenfalls aber erklärt sich im Hinblick auf Cassiodor, daß im 5. Jahr-
hundert so hochvornehme Leute wie ApoUinaris Sidonius in Frankreich,
um ihre Vornehmheit zu markieren, die kostbare Chartarolle für ihre littera-
Vornehm- rischon Zwccke doch noch zu benutzen fortfahren ; aber Sidonius tut das
nur so lange, als er Einzelbücher oder einzelne Gedichte erstmalig heraus-
gibt. Als derselbe Sidonius eine Gesamtausgabe macht, trägt er aUes in
einen Codex zusammen ; 2) und schon bei Claudian ist der Hergang aller
Wahrscheinlichkeit nach derselbe gewesen; ursprünglich erschienen seine
Verse auf Charta;^) dann aber sind gleich nach seinem Tod, jedoch noch
bei Lebzeiten Stilichos, zwischen a. 404 und 408, seine sämtlichen Gedichte,
mit Ausnahme des Raptus Proserpinae und des Panegyricus Olybrii et
Probini, zu einer Sammlung im Codex vereinigt worden, die durch das
Mittelalter als „Claudianus maior" weiterging. Die beiden genannten
Nebenwerke wurden deshalb ausgeschlossen, weil sie nicht zum Ruhme
des Stilicho dienten. 4) Das Sammelwerk der Scriptores historiae Augustae
ist dagegen in der uns vorliegenden Redaktion von vornherein für Codices
abgefaßt worden, 5) und damit bestätigt sich die Ansicht der Gelehrten
auf das beste, die diese kindische und seichte Arbeit in eine möglichst
späte Zeit hinabrücken, ß)
Dies der langsame, aber endgültige Sieg des Pergamentbuchs im
Westreich, vom 2. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. Im Ostreich dürfte der
Papyrus-
rolle im
5. Jahr-
hundert
Zeichen der
1) Buchrolle S. 36.
2) Siehe M. Krämer a. a. O.
3) Oben S. 340.
"*) vSiehe Claudian praef . p. 78 u. 147
^) Siehe Grordiani 1, 4.
«) In das 5. Jahrhundert 0. Seeck,
Ehein. Mus. 67 S. 600 f.
n. Verwendung der Beschreibstofife. B. Litterarisches.
363
Uber-
Veiiauf im wesentlichen derselbe gewesen sein. Von Interesse scheint
mir ein Zeugnis des Palladas, Anthol. Pal. XI 378, 6, aus dem 5. Jahr-
hundert, der uns sagt, daß zu seiner Zeit der Grammatiker sich noch des
XOQT^^? bedient.
Die Übertragung aus den Papyrusrollen in die Codices, dieser wich-
tigste Prozeß in der Geschichte der antiken Texte, vollzog sich allmählich. Texte in
Viele berufene und unberufene Hände beteiligten sich daran, und die ^^^'^ciodex
Gefahr der Verunstaltung war dabei groß. Scheute man sich doch ge-
legentlich nicht, die Rolle, die als Textvorlage diente, zu zerschneiden,
um sie bequemer kopieren zu können, i) Auf die Numerierung der Rollen-
bücher war bei der Kopie möglichst acht zu geben, um die Bücher in
der richtigen Reihenfolge hintereinander zu stellen; doch ist auch dabei
geirrt worden. Die 21 Stücke des Plautus waren in 21 Rollen in alpha-
betischer Folge überliefert; in dem alten Codex Ambrosianus, der im
5. Jahrhundert geschrieben worden ist, sind die Stücke, deren Titel mit
T und V anfängt, verstellt und vor denen mit P eingetragen worden.
Ebenso haben in dem gleichzeitigen Codex Bembinus des Terenz der
Heautontimorumenos und Eunuch ihre Plätze vertauscht, und die Nume-
rierung der Dramen selbst ist danach verändert. 2)
Um so mehr muß uns die AVahrnehmung erfreuen, daß in den späten Fürsorge
Jahrhunderten, von denen wir handeln, und kurze Zeit vor dem Zu- nehmen
sammenbruch der antiken Kultur, da alle Bildung sich in die Klöster
flüchtete, vornehme Männer weltlicher Stellung für die Sicherung der
Texte noch vielfach Sorge trugen. Es handelt sich um jene Subskriptionen
mit ihrem legi distinxi emendavi, die in den Handschriften des Livius,
Terenz, Horaz und vieler anderer Autoren sich finden. 3) Wenn in früheren
Zeiten Thras^dl den Plato, Fronto den Cicero neu herausgab oder geben
wollte (oben S. 342), so steht fest, daß damit eine neue Vervielfältigung
des irgendwie verbesserten Textes gemeint war. Wenn dagegen jene
Subskriptionen uns sagen, daß ein Torquatus Gennadius den Text des
Martial, Junianus Tryfonianus den des Persius, CaUiopius den des
Terenz, Mavortius den Horaz revidierte, so werden wir damit in das 4.
bis 5. Jahrhundert geführt, und es erscheint zweifelhaft, ob der Text hier
noch in Rollen und nicht vielmehr schon im Codex gebucht wurde, noch
zweifelhafter, ob damit auch noch eine Vervielfältigung im Dienst des
Buchhandels verbunden war. Den codex nennt gradezu jener Turcius
RufiusApronianus Asterius im Mediceus Vergils, der hinter den vergiHschen
Bucolica sein legi et distinxi codicem fratris Macharii setzte. Erst wer
den Inhalt des valentinianischen Zitiergesetzes, über das ich S. 361 be-
richtete, vergleicht, wird die Absichten dieser Männer voll verstehen.
Wie aber stand es jetzt mit der Verbreitung der Texte und. ihrer Zurück-
Mitteilung an das Publikum? Mit dem Sieg des Pergamentcodex über ^^bucH-^^
die Papyrusrolle hat jedenfalls zugleich auch die Privatabschrift über Mandela
^) Traube, Vorles. S. 93.
') DziATZKO, Untersuchungen S. 142.
') Siehe O. Jahx, Sitz.ber.d.sächs.GrW.
1851 S. 327 ff., sowie Haase und Reiffbr-
SCHEID, De codicum subscriptionibus in
Breslauer Programmen v. J. 1860/61 und
1872/73.
364
Das antike Buchwesen.
den Buchhandel gesiegt; denn es läßt sich nicht bezweifeln und A\-ir sehen
es mitunter mit Augen, wie grade die Privatabschrift sich des Codex be-
dient ; 1) selbst Kaiser Julian hat sich vom alexandrinischen Bischof Georgios
Bücher jzQog juerayQa(p7]v entlehnt und sie dann zurückgegeben (Epist. 9).
Seit dem 4. Jahrhundert dürfte der Buchhandel also stark zurückgegangen
sein. Gleichwohl bestand er noch fort; ein Sidonius hat, wie wir oben
S. 320 sahen, noch seinen eigenen hibliopola. Daß auch der Codex lit-
terarischen Inhalts Gegenstand des Buchhandels war, bezeugt uns schon
Martial 1, 2; die Glossare, deren diese Dinge anbetreffender Wortschatz
nachweislich dem 5. Jahrhundert angehört,'^) definieren hibliopola mit qiii
Codices vendit, und auch sonstige Zeugnisse fehlen nicht. :^) Vom Verkauf
der Briefe des Cyprian in Codexform redet z. B. Rufin ;■*) und zwar hören
wir da, daß unter diese Briefe auch eine häretische Tertullianschrift ge-
mischt worden w^ar; sodann waren von dem Ganzen möglichst viele
Codices hergestellt worden (quam plurimos Codices de talibus exemplariis
descrihentes), und diese wurden in Konstantinopel zu billigerem Kaufpreis
verbreitet, damit die Leute das schädliche Tertullianwerk leichter kaufen
könnten.
Daß Kirchenbüchereien nur aus Codices bestanden (Hieron. epist.
48, 3), wundert uns nicht. Wie aber im 4. Jahrhundert auch in private
RoUen und Bibliotheken der Codex eindrang, zeigt Ammianus Marcellinus 29, 1, 41;
neben- ©s finden sich da Codices und volumina haufenweise nebeneinander; und
einander dassolbc gilt scliou von einer kaiserlichen Hausbibliothek etwa des
Jahres 300. 0) Im 4. Jahrhundert erwies sich die Papyrusrollenbibliothek
des Pamphilus in Caesarea als schadhaft; sie wurde von zwei Priestern
auf Membrane erneuert, ß) In einer BibHothek, die im 5. Jahrhundert
ApolHnaris Sidonius beschreibt, sehen wir, daß die Frauen Codices
kirchlichen Inhalts, die Männer dagegen die weltlichen Autoren aus-
scliließlich oder zum Teil noch in Hollen lesen. '^) Dagegen könnte auf
den ersten Blick befremden, wenn wir für die kaiserliche Bibliothek in
Konstantinopel in einer Verfügung aus dem Jahr 372 (cod. Theodos. 14, 9, 2)
nur Codices erwähnt finden. Es heißt dort: antiquarios ad hihliotliecae
Codices componendos vel pro vetustate reparandos quattuor graecos et tres
latinos scribendi peritos legi iuhemus. Dies bedarf einer näheren Aufklärung.
Die kaiserliche BibHothek zerfiel, wie selbstverständlich, in eine griechische
und eine lateinische Abteilung. In beiden Abteilungen gab es, wie wir
sehen, damals schon Codices, die der Reparatur bedurften. Aber nicht
nur „reparieren" sollen die sieben antiquarii, die da Beschäftigung finden,
sondern die Aufgabe, Codices zu „komponieren", steht voran. Der Aus-
druck ad Codices componendos fülirt aber unbedingt zu der Annahme,
In den
Biblio-
theken
1) Buchwesen S. 110.
2) Mit Ausnahme der großen Herme-
neumata im dritten Band des Corp, gloss. ;
dies wird, wie ich hoffe, demnächst in
einer Marburger Arbeit dargelegt werden.
3) Buchwesen S.103f, ; über Sulpicius
Severus oben S. 319.
*) Epilogus in Apologet. S. Pamphüi,
bei Origenes ed. Lomm. XXV S. 395.
°) Buchwesen S. 113.
^) Hieronym. epist. 141 ad Marcellam.
0 Sidon. epist. 2, 9, 4 ff. Die Biblio-
thek des Claudianus Mamertus zerfällt in
Romana, Attica und Christiana, ebenda
4, 11, 6.
II. Verwendung der Beschreibstoffe. B. Litterarisches. 365
daß da in der kaiserlichen Bibliothek noch viele ältere Litteratur in
E/oUen vorlag, aus denen durch Abschrift jetzt Codices „komponiert"
werden sollen. Denn nur aus Schriftwerken, die noch nicht Codices sind,
kann solches „Zusammensetzen" geschehen. Für den Akt der Übertragung
der Texte aus der Rolle in den Codex haben wir auch hierin ein will-
kommenes Zeugnis.
Die schließlichen Erben der Litteratur aber wurden im Westreich codex-
die Mönche; die Zukunft gehörte der Klosterbibliothek, und den "Weg tbeken
der Zukunft beschritt zuerst Cassiodorius Senator, „der letzte Römer",
der gegen das Jahr 550 seine Klosterbibliothek gründete, die in zwei
Abteilungen der kirchlichen und heidnischen Autoren zerfiel ; vgl. Cassiodor,
Institutiones 1 1 — 9.^) Codex und Buchschrift gehören hinfort zum Pflicht-
leben des Mönchtums, 2) und nicht nur die divini, sondern auch die scrip-
tores saeculares retteten sich damals, und zwar für ein volles Jahrtausend, //
in die Klöster. Der Codex hatte definitiv die Rolle verschlungen. ■/
Bezeichnend für ihre späte Abfassung ist, daß die Glossare den biblio-
tJiecarius nirgends mit qui lihros servat, sondern nur mit qui Codices servat
definieren: s. Corp. gloss. lat. IV 488, 37. Daneben bieten sie die auf-
fällige Erklärung hibliothecarius : qui Codices secat oder resecat. Das ist ein
Nonsens. Wie der Irrtum entstand, sagt uns G. Löwe in seinem Pro-
dromus S. 72 nicht. Er kann aber m. E. nur darauf zurückgehn, daß man
im 6. Jahrhundert das griechische Q in ßißho&rjxr] schon wie die Neu-
griechen in einer Weise aussprach, die dem s nahe kam (vgl. lakonisch oiog
für §e6g). Man hörte also bibliosecarius und machte daraus: qui Codices secat. ^)
Es ist noch zu erwähnen, daß die Papyrusfabrikation in Ägypten Gebrauch
auch dann noch fortbestand, als die Araber dort herrschten, wennschon p^ ^^^^^ j^
sie stark zurückgegangen war. Sie währte bis ins 10. Jahrhundert. *)t.—io. Ja in -
Eustathius, der zur Odyssee XXI p. 1913 ed. Rom. darüber spricht, daß
die Charta nicht mehr fabriziert wird, gehört dem 12. Jahrhundert an.
Inzwischen aber Avar das moderne Papier aus China zu den Arabern ge-
langt; das Hadernpapier w^urde durch sie im 9. Jahrhundert in Ägypten
selbst eingeführt. Nicht durch das Pergament, sondern durch dies neue
chinesische Papier ist damals in Ägypten die altehrwürdige Chartafabri-
kation ertötet worden. Gleichzeitig waren am Anapus in Sizilien jene
Papyruspflanzungen entstanden, die dort heute noch vorhanden sind. Im
Occident beobachtet man die Verwendung der Charta für Urkunden in
Rollenform — chartae oder tomi genannt — noch im 10. Jahrhundert;
eine päpstliche Urkunde auf Papyrus stammt noch aus dem Jahre 1011.
Aber die Päpste haben dazu keine ägyptische, sondern nur noch die
siziHsche Charta verwandt. &) Die Wahl dieses Materials galt damals ohne
») Vgl. hierzu Neue Jahrbb. 27 (1911)
S. 360.
J) Vgl. Cassiodor, Institutiones I 30
im allgemeinen Gr. Marini, I papiri diplo-
matici, Rom 1805; Bresslau in Oesterr.
Mitteilungen 1888 S. 1 ff. ; Wattenbach
das Bücherabschreiben sei für den Mönch | S. 87; Paoli S. 47 u. 53f.; Gardthausen
wichtiger als der Ackerbau.
3) So wird Anthol. lat. 338, 8 für Perse-
phone sogar persenece(m) geschrieben, weil
(povog — nex (Eiese).
4) Siehe U.Wilcken, Hermes 23 S. 629 f.;
S.50u.78f.
^) Vgl. hierzu Karabacek u. Wiesner
in Mitteilungen aus der Sammlung Erz-
herzog Rainer II u. III S. 87 f.; IV S. 75 f.
366
Das antike Buchwesen.
Codices
chartacei
Frage als erlesen, die Charta als größte Kostbarkeit. Die päpstliche
Kanzlei bediente sich ihrer aus diesem Grunde besonders, i)
Auch auf die Charta ist endlich im Altertum die Form des gehefteten
Buches angewandt worden, und zwar ist das schon früh, und gewiß schon
im 2. Jahrhundert geschehen; dies zeigt Ulpian, Digest. 32, 52 (Buchwesen
S. 97; oben S.360). Daß man dies versucht hat, war nur zu natürlich; denn
die Vorteile des gehefteten Lesebuchs sprangen in die Augen ; warum sollte
man die Heftung auf das Pergament beschränken? Daher also die Arielen in
Ägypten gefundenen Reste gefalteter Charta, die aus der römischen Kaiser-
zeit stammen. Aber vornehmlich nur in Ägypten, der Heimat der Charta,
scheint das häufiger geschehen zu sein.^) Im ganzen betrachtet, sind die
Codices chartacei, die Ulpian a. a. 0. erwähnt, im litterarischen Betriebe doch
immer eine Seltenheit geblieben, ») und dies erklärt sich eben daraus, daß
sie kostbarer als die memhranacei und dabei soviel weniger haltbar waren.
Denn schon der Faden, mit dem die Heftung geschah, genügte, um dm-ch
seine Reibung die zarte Charta zu zersplittern und ernstlich zu beschädigen,
und daher mußte gelegentlich in solchem Chartacodex das Pergament mit
aushelfen, indem man z. B. gefaltete Pergament stücke als Falz unter den
Faden schob, um den Faden zu isolieren und die Chartablätter vor ihm
zu schützen. 4) Läßt Hieronymus (epist. 71) für seinen Gebrauch Codices
chartacei herstellen, so hebt er das als etwas Außergewöhnliches und auch
gewiß als etwas Wertvolles besonders hervor. 0) Wo wir bei ihm und
anderen Autoren seines Zeitalters von Codices ohne Zusatz lesen, Avird
jedenfalls überall nur an Pergamentbücher gedacht. ß) Sie sind es, denen
im Occident die Papyrusrolle unterlegen ist.
1) Nach Gardthausen S.79 hätten die
Päpste das Pergament nicht verwenden
wollen, weil es ketzerischen Ursprungs
war. Aber es diente doch seit langem
dem Gottesdienst in allen Kirchen des
Orients und Occidents.
2) Gardthausen S. 156.
3) Traube, Vorles. S. 89 ; derselbe in
Bibl.de l'ecole des chartes Bd.64 (1903) S.6 ff.
*) Gardthausen S. 175.
5) Vgl. dazu auch Hieron. epist. 5, 2:
eos libros quos non habere me brevis suhditus
edocebit, librarii manu in cJuirta scribi iubeas.
Hier wissen wir indes nicht, ob Eollen
oder Codices gemeint sind.
. «) Buchrolle S. 36.
ANHANG I
zu S. 346 ff.
Martial hat seine sämtlichen Bücher als Papyrusrollen ins Publikum
gegeben, und er bringt uns deshalb auch für die Kenntnis der Beschaffen-
heit des antiken Rollenbuchs das reichste Detail. Trotzdem ist Martial
auch für die Frage nach den Anfängen des Codexbuchwesens der wich-
tigste Autor. Deshalb habe ich oben S. 346 ff. über den I 2 von ihm er-
Avähnten Sammelcodex eingehend handeln müssen, indem ich mich dabei
gegen 0. Immisch wandte, dessen Aufsatz im Hermes 46 S. 481 ff. nach
meiner Meinung eine gi'oße Anzahl kühner Aufstellungen enthält, die
sich nicht aufrecht erhalten lassen. Füi' die Bücher Martials, die einer
Prosapraefatio entbehren, setzt Immisch an, daß sie sämtlich solche Prae-
fationen, die in der Überlieferung verloren gegangen seien, besaßen. Der
Bew^eis dafür aber ist hinfällig; für die Bücher I und III habe ich das
oben S. 346 und S. 314 gezeigt; für die übrigen soll es im Nachfolgenden
dargelegt werden. Denn diese von Immisch vertretene Annahme hängt
mit der anderen Aufstellung zusammen, daß, so wie Martial seine ersten
sieben Bücher in einen Codex gesammelt habe (auch diese Annahme ist
oben S. 350 widerlegt), auch die Bücher 8 — 11 oder 8 — 12 vom Dichter
nachträghch noch einmal in einem gleichen Codex ausgegeben sein sollen.
Füi' diesen Ansatz vermisse ich, wie schon angedeutet, jede Spur eines
wirkhch nötigenden Nachweises. Was ich im Folgenden gebe, sind zum
größten Teil die Ausfülii-ungen meines Schülers F. Schuchardt, zu denen
ich ihn anregte und deren Inhalt ich im wesentHchen vertreten kann.
Ich habe indes von den Ausführungen Schuchardts mehreres weggelassen,
anderes meinerseits hinzugesetzt.
„Ebensowenig wie im dritten Buch Martials findet sich in den folgenden
Büchern Anlaß, den Ausfall von Prosaepisteln anzunehmen. Nach Immisch
sind nämlich auch in den Büchern 4 — 7 die nicht vorhandenen Episteln
unterdrückt,') und sie sollen deshalb vorhanden gewesen sein, weil sie
bei Statins in keinem Buch der Silven fehlen. Dies Argument kann aber
nicht überzeugen; denn Statins ist eben nicht Martial, ganz abgesehen
davon, daß zwischen Martial und Statins grade ein gespanntes Ver-
hältnis 2) bestanden haben mag. Denn Martial, der all die übrigen litte-
rarisch berühmten Zeitgenossen, Plinius Secundus, Sihus Italiens, Juve-
nalis, QuintiHanus, Sulpicia, SteUa, Valerius Flaccus, Canius Rufus u. a.
reichlich nennt, schweigt den Statins ganz tot. Man könnte also gar
') a. a. O. S. 490. | 2) sjehe Friedländer, Ausg. I p. 8/9.
368 Das antike Buchwesen.
im Gegenteil schließen, daß er mit Absicht von seines Gegners Art
abging. So ist auch des Decianus Verwundern über die dem zweiten
Buch vorangestellte Praefatio und Martials wenn auch scherzhafte Ver-
teidigung dieses ausnahmsweise zugelassenen Prosastücks verständlich.
Jedenfalls liegt kein Anlaß vor, an das ursprüngliche Dasein dieser weiteren
Episteln zu glauben.
„Warum aber erscheint dem genannten Gelehrten das Unbeweisbare
so wünschenswert, daß ursprünglich in allen Martialbüchern in Prosa ab-
gefaßte Praefationen vorhanden Avaren? Immisch glaubt, i) daß auch die
Bücher 8 — 11, wie die Bücher 1 — 7, in Codexform, und zwar noch von
Martial selbst, ediert worden seien. In den Büchern 1 — 7 seien nämlich
von dem Eedaktor des Archetyps V alle Episteln mit Ausnahme der dem
ganzen Codex zur Einleitung dienenden, dem ersten Buche vorangestellten
mit Absicht unterdrückt. 2) In den Büchern 8 — 11 seien ebenso von V
alle Episteln mit Ausnahme der dem achten Buche vorangestellten mit
Absicht unterdrückt. Daraus folge, daß auch Buch 8 an der Spitze eines
seit Alters zusammengestellten, die Bücher 8 — 11 umfassenden Pergament-
codex gestanden habe.
„Wie verhält es sich nun aber zunächst mit dem achten Buche und
seinem Vorwort? Immisch selbst s) gesteht, über dies Buch nicht viel
sagen zu können; während wir doch, wenn Buch 8 einen neuen Codex
eröffnet haben soll, grade für dies Buch den Nachweis bestimmter An-
zeichen erwarten müssen. Und wenn Immisch später sagt, 4) das neunte
Buch könne nicht mit zureichenden Gründen als Eingangsbuch des zweiten
Codex betrachtet werden, so scheint er selber einen Augenblick gezweifelt
zu haben, ob er jenen zweiten Pergamentcodex bei Buch 8 oder 9 eröffnen
solle. Ferner, die Epistel des ersten Buches kann, da sie ohne bestimmten
Adressaten ist und von Uhelli in der Mehrzahl spricht, zu der Annahme
führen, daß sie später einem mehrere Bücher umfassenden Codex voran-
gesetzt sei (s. oben S. 347). Die Epistel des achten Buches dagegen bietet
dergleichen Anhaltspunkte nicht. Aus dem hoc libro, qui operis nostri
octavus inscribitur, geht deuthch genug hervor, daß dieses Vorwort — das
dann doch eigentlich nach Immischs Anschauung, wie das des ersten
Buches, dem Codex später zugefügt worden wäre — umgekehrt, schon der
Einzelpublikation des achten Buches, also diesem Buch allein beigegeben
war; was ja auch schon daraus folgt, daß die Epistel noch dem im Jahr 96
verstorbenen Domitian gewidmet ist, während sie, einem die Bücher 8 — 11
umfassenden Codex vorangestellt, erst nach der Redaktion des zehnten
Buches hätte veröffentlicht werden können, also erst im Jahre 99, in das
Stobbe, oder im Jahre 98, in das Friedländer die Redaktion des zehnten
Buches setzt. All dies läßt uns aber von vornherein an dem einstmaligen
Vorhandensein des die Epigrammenbücher 8 — 11 umfassenden Codex voll-
ständig irre werden.
„Und wie verhält es sich mit der bloß in G überlieferten Epistel des
neunten Buches? Denn auf die Unterdrückung von Episteln legt Immisch
1) S. 515. I 3) s. 494.
•-') S. 496. I *) S. 496.
Anhang I. 369
ja, Avie wir sahen, großen Wert. Das kleine Prosavorwort des neunten
Buches ist nun nach Immischi) das Bruchstück eines längeren Briefes, der
gleich dem zu Buch 1 und dem hj^pothetischen zu Buch 3 dazu bestimmt
war, dem auf ihn folgenden metrischen Stücke zur Erläuterung zu dienen."
In "Wirklichkeit liegt aber die Sache doch anders. Das Vorwort, um
das es sich handelt, lautet, kurz genug: Have, mi Torani, f rater carissime.
Epigramma, quod extra ordinem paginarum est, ad Stertinhim clarissimum
virum scripsimus, qui imaginem meam ponere in hihliotheca sua voluit. De
quo scribendum tibi piitavi ne ignorares, Ävitus iste quis vocaretur. Vale et
para hospitium. Es betrifft also nur ein einzelnes Epigramm, mit w^elchem
Epigramm es anders stand als mit den sonstigen Gedichten, mit denen
Martial seine Bücher füllt.
Das betreffende Epigramm stand, wie Martial sagt, extra ordinem
paginarum. Dasselbe kann und muß auch von der Praefatio gelten, die
sich mit ihm beschäftigt. Früher^) habe ich dies so gedeutet, daß, Avas
sich extra ordinem paginarum befand, opisthographisch auf dem Rücken
der Rollen eingetragen war. Für die Frage, die uns an dieser Stelle be-
schäftigt, ist die Entscheidung hierüber freilich ziemlich gleichgültig; doch
möchte ich erwähnen, daß vielleicht folgende Annahme den Vorzug verdient.
Halten wir uns die Tatsache gegenwärtig, daß die Endseiten in den
antiken Buchrollen der Regel nach keine Schrift zu tragen pflegten, sondern
leer standen (oben S. 299; 332). Die paginae oder Schriftkolumnen begannen
in der Rolle erst nach einem solchen ausgesparten und leer gelassenen
Raum. Auf diesen leeren Platz, extra ordinem paginarum, hat Martial, wie
ich meine, das Epigramm Note licet nolis eqs., das wir vor der ersten
Nummer des neunten Buches antreffen und mit dem es seine besondere
Bewandtnis hatte, gestellt. Denn die wirkliche Eröffnung des neunten
Buches bildet ohne Frage das Stück, das wir nach dem Herkommen als
Nr. 1 zählen und das die kaiserliche Regierung feiert. In jenem vor-
geschobenen Epigramm aber erwähnt Martial, daß er porträtiert worden
ist, und gibt Verse zum Besten, die in der Bibliothek des Avitus als
Unterschrift seines Porträts zu dienen bestimmt sind. Das Prosabriefchen
an Toranius aber stand in der Papyrusrolle, die Martial hier voraussetzt,
auf demselben leeren Anfangsblatt mit dem Epigramm Note licet nolis
vereint, und zwar unmittelbar über ihm angeordnet: was daraus zu ent-
nehmen ist, daß es im Archetyp unsrer handschriftlichen Tradition eng
mit dem Titel des neunten Buches selbst, respektive mit der Subscriptio
des Torquatus Gennadius verwachsen ist.
Dies Briefchen ist zwar kurz, aber es ist vollständig. Daß es kurz,
erklärt sich aus seinem Zweck, daß es vollständig, beweist seine Fassung.
Denn das Billet beginnt mit dem have und schließt mit dem vale. Das
„Guten Tag" ist der Anfang, das „Adieu" ist der Schluß. Dabei hat es,
obschon es gut gefeilt ist und die üblichen rythmischen Satzklauseln zeigt,
doch den Charakter des Gelegenheitsbriefchens : denn es fügt noch den
Wunsch hinzu „wenn ich nächstens zu dir komme, nimm mich gut auf".
1) S. 494—496. I 2) Antikes Buchwesen S. 142, 3.
Handbuch der klass. Altertumswissenscliaft. I, 3. 3. Aufl. 24
370 ^^s antike Buchwesen.
2)ara hospitium. Die kurze Fassung aber erklärt sich eben daraus, daß
Martial nichts weiter als den außerordentlichen Charakter und Standort
des gleich nachfolgenden Epigramms Xote licet nolis rechtfertigen und
erläutern will. Diese Epistel sollte also nicht auf das ganze Buch 9,
sondern nur auf ein einziges Poem Bezug haben. Toranius, und mit ihm
auch das Publikum Eoms, soll erfahren, daß der edle Avitus, der Martials
Büste bei sich aufstellte, der diese Büste also gOAviß auch anfertigen ließ,
mit vollem Namen Stertinius Avitus hieß. Der Mann, der eine so große
Sache zum E,uhm Martials getan, war natürlich ewig denkwürdig und
sein Name mußte der Nachwelt unzweideutig erhalten, er mußte gesichelt
werden. Daher ist das Briefchen und das zugehörige Epigramm selbst
vom Dichter in die öffentliche Ausgabe seines neunten Buches, und zwar
an außerordentlicher Stelle, mit aufgenommen worden. —
„Wenn nun aber die Epistel des neunten Buches, wie aus dem Ge-
sagten hervorgeht, auf ganz anderer Stufe steht, als die übrigen Episteln
(denn sie bezieht sich eben nicht auf das neunte Buch selbst, sondern auf
ein Stück außerhalb des Contextes dieses neunten Buches), so ist damit auch
die von Immisch gegebene, den zweiten Martialkodex betreffende Beweis-
führung, die sich ganz auf die den einzelnen Büchern ursprünglich mit-
gegebenen Praefationen bezieht, entkräftigt. Denn nun ist ja auch Buch 9,
obwohl mit einer Epistel versehen, dennoch ohne Praefatio. Daß aber die
Bücher 10 und 11, wie Immisch meint, i) dereinst auch Episteln auf-
wiesen, dafür bietet sich nicht die geringste Stütze. Und selbst Avenn die
Bücher 1 — 7 und 8 — 11 alle ursprünglich ja eine solche gehabt hätten,
die nachher bis auf die des ersten und achten Buches von F mit Absicht
unterdrückt Avorden wären: nicht einmal daraus würde folgen, daß die
Bücher 8 — 11 in Codexform, und zAvar noch von Martial selbst, ver-
öffentlicht seien. Einen anderen Beweisgrund aber hat Immisch für den
die Bücher 8 — 11 umfassenden Codex nicht beigebracht.
„Hinzu kommt, daß in den ersten Martialbüchern zwar Adelleicht
Epigramme sind, von denen man annehmen kann, daß sie erheblich später
abgefaßt und veröffentKcht seien als diejenigen, in deren Nachbarschaft
sie uns jetzt überliefert sind. Yon Buch 8 an aber fehlen, abgesehen von
dem zweimal redigierten zehnten Buche, dergleichen Epigramme ganz. 2)
„Wie indeß Immisch selber über das Anfangsbuch seines zweiten
Martialcodex im Zweifel gewesen zu sein scheint, so auch, Avie mich dünkt,
über das Sclilußbuch. Denn das ZAvölfte Buch hat er doch aus jenem
ZAveiten Codex vielleicht bloß desAvegen ausgeschlossen, Aveil in diesem
ZAA^ölften Buche — zufällig, könnte man sagen — wiederum eine Epistel,
und zAvar in O soAvohl Avie in T^, überliefert ist.
„Nun aber vermutet Immisch S. 516 f., daß bald nach Martials Tod
ein dritter Codex, der die Bücher 8 — 12 umfaßte, ediert Avorden sei als
Ersatz für den ohne das ZAvölfte Buch umlaufenden zAveiten Codex. Die
Existenz dieses dritten Codex, A^on A^ornherein nur für den Verteidiger
des ZAveiten glaublich, ist schon mit der Beseitigung dieses zAveiten Avider-
^) S. 496. • j libellorum rationc temporibusque, Eostock
2) Siehe Dau, De M. Valerii Martialis | 1887, p. 74.
Anhang I. 371
legt. Denn gesetzt den Fall, es seien, wie Immisch S. 514 behauptet,
einige Epigramme aus dem zehnten Buch, in das sie gehören, in das
zwölfte fälschlich umgestellt: folgt denn daraus, daß sie dorthin umgestellt
wurden durch denjenigen, der bald nach Martials Tod jenen dritten, die
Bücher 8 — 12 umfassenden Pergamentcodex redigierte? Es fehlt dafür
in AVirklichkeit jedes Anzeichen.
„Die Frage, ob überhaupt Gedichte aus dem zehnteü Buch in das
zwölfte versetzt worden, ist nach dem Gesagten ohne Belang. Doch sei
auch auf sie eingegangen. Welche Stücke soUen das sein? Nach Immisch
(S. 504 — 511) zunächst die Epigramme aus der Nervaanthologie XII 4;
5; 6a; 8; 11; sodann das Gedicht an Priscus XII 4: -{- ßh und die zwei
Spottverse auf Ligia, XII 7. All diese Stücke stünden zu Unrecht in
Buch 12; denn, erst in diesem Buch veröffentlicht, wären diese Sachen
(abgesehen von dem zeitlosen Ligiaepigramm) nicht mehr aktuell gewiesen.
Das Ligiagedicht falle zudem ganz aus der Stimmung i) und stehe
außerdem «unglückselig isolierte, 2) während es, an den Schluß von Buch 10
gestellt, durch das auf dieselbe Ligia gedichtete Epigramm X 90 besser
in den Buchzusammenhang verwoben würde. 3)
„Freilich waren die Gedichte, im zwölften Buche ediert, nicht mehr
aktuell. Aber Martial hat doch auch, als er im Jahre 98 das zehnte Buch
zum zweitenmal herausgab, dem Publikum nicht bloß Gedichte, die er
vor mindestens drei Jahren verfaßt, vorgesetzt, sondern sogar solche, die
teilweise schon lange gelesen und belacht w^aren. Soll er also nicht im
Jahre 101 Gedichte veröffentlicht haben können, die zum Teil schon vier
Jahre alt, aber doch noch nicht vorher publiziert waren? Das eine muß
uns für so mögHch gelten wie das andere, und mir scheint also kein
Grund vorhanden, anzunehmen, Martial habe die von Immisch auf-
gezählten Gedichte der Xervaanthologie und das Priscusbriefchen schon
im zehnten Buch edieren müssen und wirklich ediert.
„Ebensowenig vermag ich die «lächerlich deplazierte> Stellung-*) des
Ligiagedichtchens in Buch 12 einzusehen. Vereinzelt steht es ja zwar an
seiner jetzigen Stelle XII 7, und es mag wohl gar der Färbung der um-
liegenden Gedichte widerstreiten. Aber was verschlägt das in einem
Epigrammenbuch? Hat doch sogar Catull, der Liebling des Martial, seine
zwei Kußlieder durch das Flaviusgedicht, scheinbar gewaltsam, getrennt.
Ja, man kann wohl sagen, daß die römischen Dichter, der AbAvechslung
halber, Gegensätzliches zuweilen gern nebeneinanderstellten, und auch
wohl ab und zu ein Fremdes, gleichsam als Interpunktionszeichen, mitten
unter Andersartiges hineinschoben. Catull bietet noch mehr Beispiele der
Art,ö) und Martial selbst handelt z. B. VI 2 u. 4u. 7 von der pudicitia, die
Domitian in Rom wiederhergestellt habe; er stellt die Anulkung der
Paula VI 6 mitten dazwischen. Ebenso Avendet sich Martial VII 1 u. 2 u. 5
gleicherweise an den Kaiser; durch die zwischengeworfenen Spaße über
Pontilianus und Oppianus VII 3 u. 4 stört er absichtlich den Zusammenhang.
I 4) s. 513.
^) Siehe Philolog. 63 S. 432; 468 ff.
24*
')
s.
512.
')
s.
514.
')
8.
513.
372 ^^^ antike Buchwesen.
„Dazu kommt, daß Immisch, wie mir scheint, doch wieder dem Martial
dasselbe vorwirft, wovon er ihn freisprechen will:^) denn der Zweizeiler
auf Ligia stand jedenfalls auch in der Nervaanthologie, in der er ja ent-
halten w^ar, ebenso «unglückselig isoliert» wie nun im zw^ölften Buch. Auch
das Gedicht X 90 handelt zwar schon von der Ligia; aber dies furcht-
bar unanständige Stück hat gewiß nicht mit in der Nervaanthologie ge-
standen, weil es erstens denn doch, wie wdr zu sagen pflegen, etwas zu
stark ist; weil es zweitens auch an einem ganz anderen Ort, oline Zu-
sammenhang mit den Ner vagedichten, überliefert steht. x4.1so hätte dann
doch auch in dem kaiserlichen Papyrus, wo zudem solche Sünde noch
viel sündhafter gewesen wäre, jenes Epigramm XII 7 unglückselig isoliert
gestanden.
„Und so kann denn, meiner Meinung nach, aus mehreren Gründen
von einer Umsetzung jener Gedichte aus dem zehnten in das zAvölfte
Buch nicht ernstlich die Rede sein. Welche Gründe hätten denn auch
zu einer solchen Umstellung führen können?
„Nach Immisch hat der E-edaktor, der für solche Umstellung ver-
antwortlich zu machen wäre, zunächst das im Auge gehabt, daß er das
dem älteren Priscus gewidmete, jetzt als XII 4 -|- 6b gezählte Gedicht aus
dem zehnten in das dem jüngeren Priscus gewidmete ZAVölfte Buch ver-
setzte. Aber mir scheint doch der Redaktor sehr wunderlich, der zugleich
so zartfühlend war, Vater und Sohn zusammenzubringen, und zugleich
so wenig zartfühlend, die Ligia, wde sie jetzt im zwölften Buch steht, von
der Ligia des zehnten Buches so schmählich zu trennen! Aber Immisch
glaubt, daß der Redaktor noch einen zweiten Grund für die Umstellung
hatte. Das zehnte Buch schien ihm nämhch zu lang zu sein; und so hat
er es zugunsten des zwölften beschnitten. Doch auch dies leuchtet nicht
ein; denn ob die einzelnen Bücher länger oder kürzer sind, das ist doch
eben in der Codexform viel gleichgültiger als in der einzelnen, durch
technische Gründe begrenzten Papyrusrolle. Da man aber das allerdings
auch jetzt noch etwas längere zehnte Buch in der Papyrusrolle anstands-
los und ungeschmälert überlieferte, so lag doch später, bei Gelegenheit
der von Immisch angenommenen Codexredaktion, um so weniger Ver-
anlassung vor, das Buch zu verkürzen.
„All dies läßt uns an der Umstellungstheorie irre Averden. Daß aber
selbst, w^enn solche Umstellung stattfand, sie nicht von dem herrülirt,.
der nach dem angeblichen zweiten Codex den angeblichen dritten Codex
redigierte, das habe ich schon oben berührt." —
So wenig es also einen Martialcodex gab, der zu des Dichters Leb-
zeiten seine ersten sieben Bücher umschloß, so wenig haben damals seine
Bücher 8 — 11 oder 8 — 12 in einem zweiten Codex beisammen gestanden.
') S. 514.
Anhang II. 373
ANHANG II
zu S. 353.
Es ist notwendig, die wichtigen Martialepigramme XIY 184; 186;
190; 192, in denen uns zum erstenmal Litteraturbücher in der Form des
gehefteten Pergamentcodex entgegentreten, noch einmal eingehender zu
betrachten, und ich tue dies hier im Anhang, um die im Vorstehenden
gegebene zusammenfassende Darstellung nicht durch disputatorische Ab-
schnitte zu sehr zu zerreißen. Es ist das dritte Mal, daß ich in meinen
Arbeiten über Fragen des antiken Buchwesens diese interessanten Ge-
dichte bespreche; die Vermutung, daß wir es hier überall nur mit Aus-
zügen zu tun haben, hat sich allmählich in mir befestigt und ist zur
Überzeugung geworden. Nur den Cicerocodex:
XIY 188 : Cicero in membranis.
Si comes ista tibi fuerit membrana, putato
Oarpere te longas cum Cicerone vias,
nehme ich aus; er kann immerhin eine der kürzeren Ciceroreden voll-
ständig enthalten haben. Im übrigen haben wir S. 346 ff. gesehen, daß
auch der von Martial im Gedicht I 2 erwähnte kleine Codex keine Samm-
lung von Martialbüchern, sondern nur Exzerpte aus ihnen enthielt. Also
auch da ein Exzerptencodex. Da nun ferner unter den im Buch XIV be-
sprochenen Pergamentbüchern der Livius, XIV 190, sicher und zweifellos
nur periocliae des Livius enthalten hat (oben S. 349), so liegt bei der
Ähnlichkeit und engen Zusammengruppierung der hier vorliegenden Epi-
gramme schon an und füi' sich der Analogieschluß äußerst nahe, auch
für Homer, Vergil und Ovids Metamorphosen ebendasselbe anzunehmen.
In der Tat wüßte ich nicht, was dagegen sprechen könnte. Dazu kommt
aber noch der zwingende Umstand, daß, wie ich S. 359 ausgeführt, das
Format dieser Codices nur sehr klein war und es gradezu unvorstellbar
ist, wie ein so kleines Buch alle 15 Metamorphosenbücher Ovids oder gar
die 48 Bücher Homers vollständig enthalten haben sollte, i) Bei der ge-
ringen Blatthöhe dieser Codices, die die Größe einer Hand nicht über-
troffen hat, hätte die Dicke der Exemplare ganz exorbitant sein und alle
Grenzen des Möglichen und Ausdenkbaren überschreiten müssen.
Für Homer, der folgendermaßen eingeführt wird:
XIV 184: Homerns in pugillaribus membraneis.
Ilias et Priami regnis inimicus Ulixes
Multiplici pariter condita pelle latent,
geben uns nun, Avie schon S. 353 gesagt, die tabulae Iliacae und die
lateinische IHas des Homerus latinas von 1070 Versen eine erwünschte
Bestätigung. Aber auch jene Periochae aus Homer, die man in den Aus-
gaben des Ausonius findet, bieten uns für das, was Martial hier meint,
die trefflichste Anschauung; denn in diesen Periochae sind, so Avie auch
Martial es voraussetzt, beide Werke, Ilias und Odj^ssee, in kurzer und
anschaulicher Nacherzählung nacheinander vorgeführt. Es handelt sich
^) Der Inhalt des Menandercodex von Kairo wird auf 6000 Verse berechnet.
374 ^^s antike Buchwesen.
somit in XIY 184 mutmaßlich gleichfalls um ein Buch in lateinischer
Sprache.
Wenden wir uns zu Yergils Aeneis. Hier scheint es ganz besonders
evident, daß Martial das ganze Epos nicht im Auge gehabt haben kann.
Wer die beiden Martialepigramme :
XIV 186: Vergilius in membranis.
Quam brevis inmensum cepit membrana Maronem!
Ipsius et vultus prima tabella gerit.
XIV 190: Titus Livius in membranis.
Pellibus exiguis artatur Livius ingens
Quem mea non totum bibliotheca capit,
unter sich vergleicht, dem kann ihre auffällige Übereinstimmung nicht
entgehen; denn in beiden herrscht dieselbe Kontrastierung hrevis mem-
hrana und inmensus Maro, exiguae peUes und mgens Livius. Da nun,
wie. gesagt, der kleine Membrancodex des Livius, den der Dichter hier
als Geschenk des Armen vorführt, sicher eine Liviusepitome war, so er-
zwingt schon die Analogie auch für die Aeneis ganz denselben Ansatz;
und in der Tat hätte eine hrevis membrana des oben S. 359 festgestellten
Formats den vollständigen Text des Epos ja auch nimmermehr aufnehmen
können, es sei denn, daß es sich um ein Kunststück in Notenschrift
handelte, gleich dem Homer in der Nuß (oben S. 282). Nach meiner
Meinung genügt zur Erklärung dessen, was Martial voraussetzt, schon
durchaus der Vergleich der zehnzeiligen Aeneisargumenta, Anthol. lat. N. 1,
die unter Ovids Namen gehn. Es scheint mir wichtig, daß diese Argu-
menta mit Vergil schon in einer hochehrwürdigen Handschrift, dem alten
Vergilvaticanus 3867 (i?) des 5. oder 6. Jahrhunderts verbunden sind. Dies
Aeneiscompendium, das fälschlich Ovids Namen trägt, umfaßt im ganzen
142 Zeilen, hat also in einem kleinen gehefteten Büchlein immerhin 6
bis 7 Seiten zu 24 Zeilen anfüllen können, und es handelte sich also bei
Martial XIY 186 eventuell nur um ein pergamentenes Triptychon. Man
beachte noch, daß auch jener „Ovidius" selbst im Vorwort seines Aeneis-
auszugs V. 7 f. gradeso wie Martial die Vorstellung erwecken will, daß es
das totum corpus der Aeneis sei, das er gebe:
Bis quinos feci legerent ut carmine versus,
Aeneidos totum corpus ut esse putent.
Ich halte sonach für möglich, daß Martial eben diese Argumenta des
„Ovidius" wirklich vor sich hatte. Die Verstechnik derselben entspricht
der Zeit des Nero; das o in cupio und adfirmo wird da noch lang ge-
messen, i)
Nicht ganz so dünn ist dagegen der von Martial XIV 184 voraus-
gesetzte Homercodex gewesen, wie die AVorte multiplici pelle condita ver-
raten; er mag demnach einen Text von 2000 bis 3000 Versen enthalten
haben; und ebenso stand es endlich mit Ovid, wie Martials Epigramm:
XIV 192: Ovidi Metamorphoses in membranis.
Haec tibi multiplici quae structa est massa tabella,
Carmina Nasonis quinque decemque gerit
0 lieber dies Kriterium vgl. J.MiDDEN- 1 1912, S. 16 f.
DOEF, Elegiae in Maecenatem, Marburg |
Anhang II.
375
ergibt. Der Livius und Vergil waren dünne Hefte, der Homer und Ovid
hatten gleicherweise muUiplicem pellem und multiplicem tdbulam. Gleich-
wohl können wir nicht ansetzen, daß in diesem Fall das Format der
massiger zusammengelegten memhranae größere Seitenhöhen und Blatt-
flächen hatte als in den anderen Fällen; das Pergamentbuch kann die
Höhe und Breite einer Wachstafel damals überhaupt noch nicht über-
schritten haben. Denn in der Überschrift des ersten dieser Epigramme,
XIY 184, das den Homer betrifft, finden wir die Bezeichnung pugillares,
die eben dies Größenmaß voraussetzt, ausdrücklich erwähnt; und nur um
die Monotonie zu vermeiden, hat Martial das m imgülarihus^ das über
Xr. 184 steht, über den folgenden Nummern 186, 188, 190, 192 nicht noch
einmal hinzugesetzt. Dagegen macht er über XIV 7 wieder denselben
Zusatz und befestigt uns dadurch in der Überzeugung, daß er hier überall
das gleiche Format der pugülares vor sich hatte. Das esse pitta ceras
(XIV 7)^) gilt hier wie dort. Der Ovidcodex würde nun also, wenn er
das angezeigte Werk vollständig enthielt, bei einer Höhe von nur
14 Zentimeter (vgl. S. 260) aus etwa 231 Blättern oder 30 Quaternionen, der
Homer gar bei gleicher Blatthöhe aus 535 Blättern oder 67 Quaternionen 2)
bestanden haben müssen, was gradezu undenkbar ist. Dabei sind von mir
füi' die Seite 26 Zeilen berechnet, ein Ansatz, der für das Format der
piigillares wahrscheinlich noch zu hoch ist. In Wirklichkeit würde also
die Zahl der Quaternionen sogar noch höher anzusetzen sein. Auf alle
Fälle wären die Codices ungefähr so dick wde breit gewesen, wahre
Monstra, sie hätten Jnahezu die Form des Kubus gehabt, und jeder Ver-
nünftige würde sie in mehrere Codices zerlegt haben. Wir haben bisher
versäumt, uns die Sache klar vorzustellen; sonst wäre das Richtige längst
ausgesprochen worden: es kann auch in diesen Fällen sich nur um eine
Epitome handeln. In der Tat hat es im Altertum auch vom ovidischen
Metamorphosentext wirklich Abkürzungen gegeben; eine solche hreviatio
desselben in Prosa besitzen wir noch; 3) über ein anderes Compendium
von Verwandlungsgeschichten, das früh vorhanden war und vielleicht aus
Ovids Werk selbst seinen Inhalt geschöpft hatte, handelt A. Leuschke,
De metamorphoseon in scholiis Vergilianis fabulis, Marburg 1895. Wer die
von Leuschke erörterte Frage aufnimmt, wird das von Martial 14, 192
erwähnte Metamorphosencompendium, wie ich meine, hinfort mit in Er-
wägung zu ziehen haben.
Der in Ägypten aufgefundene Auszug aus Livius, der mit den uns
sonst erhaltenen Liviusperiochae nicht identisch ist, verrät, daß in der
Kaiserzeit die Breviarien sich wiederholten, sich häuften und verschiedene
Form annahmen und daß uns keineswegs alles Klägliche, was in dieser
Gattung existierte, erhalten ist. Man wird demnach auch nicht verlangen,
daß die im vierzehnten Buch von Martial aufgeführten Epitomen aus
Homer, Vergil und Ovid, auch dies ohne Frage armselige Bücher, in der
1) Oben S. 346.
2) Homer hat 27 803 Verse, das sind
1069 Seiten zu 26 Zeilen, also 535 Blätter;
Ovids Metamorphosen enthalten 11996
Verse, also 462 Seiten oder 231 Blätter
des gleichen Umfangs.
3) Siehe M. Schanz, Gesch. der röm.
Litt. § 313.
376 I^as antike Buchwesen. Anhang II.
Litteraturgeschichte des Altertums breitere Spuren hinterlassen haben
müßten. Nur ein blinder Zufall ist es gewesen, der uns die Liviusperiochae
und die Aeneisperiochae, von denen Martial redet, wirklich doch in die
Hände gespielt hat.
Justin epitomierte den Pompejus Trogus. Dabei zeigt uns Justin,
wie ich noch hervorheben möchte, daß in solchem Fall trotz der großen
Textverkürzung die Buchteilung und Buchzählung der Vorlage vom Epi-
tomator doch sorglich beibehalten zu werden pflegte; und eben dies scheint
auch Martial für das Ovidcompendium vorauszusetzen, indem er, XIY 192
V. 2, ausdrücklich die Zahl der fünfzehn Bücher, die in dem Compendium
enthalten seien, erwähnt. Daher glaube ich, daß Vollmer in seiner neuen
Ausgabe des Homerus latinus, des lateinischen Iliascompendiums, die
Buchteilung und Buchzählung der Ilias, die von den Handschriften dar-
geboten wird, nicht hätte unterdrücken sollen, i) Auch in den vorhin an-
geführten Periochae des Pseudo-Ausonius ist sie gewahrt und der Dar-
stellung zugrunde gelegt.
^) Ueber das Verhältnis dieses Home- 1 den ilischen Tafeln gibt Brünings S. 212
ms latinus zu Homer und zugleich zu | zitierter Aufsatz genauere Auskunft.
Zusätze und Berichtigungen.
S. 12 Anm. 4: vgl. auch W. Ohrist, Sitz.ber. Münchener Akad. 1893 S. 100 f.
S. 12 f. : Daß hn Kranz des Meleagros Einzelüberschriften standen, die den Namen
des Dichters, aber nur ihn nannten, bestätigt der Papyrus etwa des 1. Jahrhunderts
n. Chr. (Berl. Ivlassikertexte V 1 S. 75), wo Mshaygov und liernach rovavzov als Ueber-
schriften zwischengestellt sind; ähnlich das ä?j.o auf einem Ostrakon (ebenda S. 78).
Eine Art Anthologie sind auch die Epicharmsprüche auf dem Hibehpapyrus (ca. a. 250
V. Chr.), wo zwischen den Einzelsprüchen, die durch jragdygacpog getrennt sind, solche
Sachanzeigen wie jtorL-Tovrjgov, Jioxayooixm' u. a. als üeberschriften stehen (Crönert,
Hermes 47 S. 402 ff.; oben S. 300).
S. 21: Zu den Pausaniashandschriften auch H. Hitzig in Melanges Nicole, Genf
1905, S. 261 f.
S. 30: Zu Seneca vgl. H. Wirth, De Vergili apud Senecam philos. usu, Freiburg
1900. Weiteres über ungenaue Zitate O. Eibbeck, Proleg. ad Yergil. p. 201 f.
S. 33 Z. 5 von unten: es ist „Sisenna" statt „Scaurus" zu lesen.
S. 36: Die Beispiele für den Nutzen der üebersetzungen ließen sich leicht ver-
mehren; ich nenne noch die lateinische zum Sextus Empiricus (ed. Mutschmann).
S. 47: Nieschmidt hat gezeigt, daß Cicero in seinen philosophischen Schriften
griechische Vokabeln stets mit lateinischen Lettern schrieb; daher also auch care für
yaXge cod. Erlang. De fin. 1, 9. Minder konsequent war darin Seneca: zu den von
Nieschmidt gegebenen Beispielen ist Sen. Epist. 51 fin. quos stylitas Aegyptü vocant
hinzuzufügen (Eadermacher in Wiener Stud. 32 S. 210). Die Mahnung, daß unsere
Editoren auf diese Dinge mehr acht zu geben haben, möchte ich angesichts der
Hilbergschen Ausgabe der Hieronymusbriefe wiederholen. Hilberg druckt Epist.
18, 18, 4 äv&gay.a, wo die Handschriften antea; der Archetyp hatte also antraca, was
zu antraea, antrea verlesen worden ist; Epist. 22, 28,5 ysgcov vulgo Ji07invt,03v, wo deut-
lich lateinische Schrift ; ebenso Epist. 41, 3, 2 quos appellant caenonus, u. a. m. Wird
Epist. 108, 8, 1 odoeporieum vom Editor so beibehalten, so muß dies auch für jenes
caenonus gelten; ebenso für trionymum Epist. 108,9,1.
S. 67 Anm. 4: Ludwichs Ausgabe des Musaeus ist inzwischen (Bonn 1912) er-
schienen; sie befriedigt die von mir geäußerten Wünsche indes nur zum Teil.
S. 72: Zu den angeführten Längungen in Hebung können noch folgende Bei-
spiele hinzugefügt werden:
Vergil Aen. 3, 702: Inmanisque Gela fluvii cognomine dicta
Tibull 1, 6, 34: Servare, frustra clavis inest foribus.
Ueber die zitierte Vergilstelle Aen. 3, 702 urteile ich jetzt anders als im Philol. 57
S. 616. Dagegen glaube ich an den Spondeus forte im Aetna 291 auch Jetzt noch nicht
(s. ebenda S. 629). Wohl aber finden in diesem Zusammenhang auch noch die Verse :
Aetna 433: Quam vis aetemum pingue scatet ubere sulp hur,
Aetna 471: Pars lapidum domita, stanti pars robora pugnae,
ganz abgesehen vom Einfluß der sogenannten Position, ihre Erklärung.
S. 76: Der Reim, das Homoeoteleuton benachbarter gleichartiger Verse, wurde
gemieden ; daher ist bei Horaz Od. IV 8, 15 celeris fuga zu lesen. Ausnahmen wie
Verg. Aen. 10, 804 f. ; Horaz Od. II 20, 21 f. dürften sich selten finden. Unbedenklich
gestattet ist solcher Reim dagegen bei Versen ungleicher Länge wie Hör. Epod. 1, 12
u. 13; Od. IV 1,22 f.
S. 77 : Die Klanganapher steht bei Theokrit und seinesgleichen im Hexameter
nicht nur bei bukolischer Cäsur, sondern ebenso auch, wo diese fehlt und der Vers
nur im dritten Fuß Einschnitt hat. Immerhin begünstigte die Klanganapher die Ver-
wendung der bukolischen Cäsur und hat sie oft hervorgerufen.
S. 78: Betreffs des Sigmatismus sei noch an Euripides erinnert; Eustathius gibt
378 Zusätze und Berichtigungen.
uns p. 1170 eine Anekdote über den cpiXooiy^iaxo? EvgiJiiötjg und die oiy/Liaia Evgimöov.
Das Getadelte betraf in diesem Fall aber vielmehr das s im Wortinnern, wie in
y.oooaßog für xorraßog.
S. 82: Die Redner bildeten bisweilen absichtlich auch unregelmäßige Klauseln,
um durch die Härte im Silbenfall Hartes und Schmerzliches zum Ausdruck zu bringen ;
dies sagt uns Ps.Asconius p. 192, 28 ed. Stangl.
S. 83: Für antike Kommentare, die den zu erklärenden Text nicht mitenthielten,
ist übrigens Asconius das bekannteste Beispiel; auch an den Didymuspapyrus (ed.
Diels) sei noch als Beispiel eines Demostheneskommentars erinnert. — Was den S. 83
von mir angeführten Horazkommentar des Terentius Scaurus betrifft, so liegt es bei
flüchtiger Betrachtung nahe, ihn nur auf die Ars poetica allein zu beziehen; so die
Früheren, so auch Vollmer (Philol. Suppl. Bd. X S. 278 Anm.). Oharisius zitiert
p. 202 K. so: „imparitei'" Horatiiis epistoJaruni „versibus impariter imictis" ubi Q. Terentius
Scaurus in commentariis in artem poeticam libro X ,.adverhium'' inquit ..figiDYivit'- ; genau
entsprechend derselbe p. 210: primus pro in primis ut Maro „Troiae qui primiis ab
oris", ubi Q. Terentius Scaurus coinmentariis in artem poeticam libro X eqs. Gegen jene
Auffassung habe ich jedoch De halieuticis S. 199 und Ehein. Mus. 38 S. 199 Anm. 2
unabhängig von Zangemeister geltend gemacht, daß ein zehnbücheriger Commentar
zu einem Büchlein wie die Ars poetica innerhalb der lateinischen Grammatik wohl
etwas ganz Unerhörtes und Unglaubliches ist, daß aber die Zahl X hier in einem
ganz anderen Sinne mit ihr verbunden sein kann ; denn Horaz hat just zelm
Bücher hinterlassen; schrieb Scaurus zu jedem dieser Bücher einen Kommentar, so
war der zur Ars just der zehnte. Daher auch der Plural commentariis; wäre es nur
ein Kommentar zur Ars gewesen, so wäre commentarii in artem poeticam libro X zu
erwarten. Auf alle Fälle hat es mit diesem Titel seine besondere Bewandtnis; denn
es kommt meines Wissens bei den lateinischen Grammatikern sonst nie vor, daß
Kommentare mit so genauer Titelgebung angeführt werden. Ich entsinne mich nicht,
daß bei ihnen sonst Kommentare mit Buchzahlen erscheinen. Wir haben also nichts,
was wir vergleichen könnten und müssen den obigen Wortlaut aus ihm selbst er-
klären. Ich weise darauf hin, wie Eufinus VI K. 561, 1 die Plautuskommentare ein-
führt: Sisenna in commentario Poenuli Plautinae fabulae sie . . . in Pseuduto sie . . .
Scatirus in eadem fabula, sie eqs. Diese Kommentare haben den Plautustext selbst
gewiß nicht mit enthalten. Die Kommentarrolle zum Pseudolus war aber selbst
augenscheinlich auch Pseudolus überschrieben, und so konnte in Kurzform Sisenna in
Pseudido, Scaurus in Pseiidulo zitiert werden. Es ergibt sich hiernach, daß auch die
Einzelbücher des Horazkommentars, von dem wir handeln, entsprechend mit Separat-
titeln versehen sein konnten: in carminum I, in epistularum I, in artem poeticam, und
dazu trat dann in diesem Fall noch eine Durchzählung der Bücher des Kommentars,
die der richtigen Anordnung der Rollen diente, hinzu. Diese Durchzählung aber
erklärt sich daraus, daß auch die Horazbücher selbst wirklich so durchgezählt worden
sind, eine Tatsache, die uns z. B. Diomedes S. 527 mit den Worten Über quintus qui
epodon inseribitur sicher stellt. Es ist danach klar, daß es auch einen über decimns
qui Ars poetica inseribitur gegeben haben muß. Das Charisiuszitat, von dessen Be-
sprechung ich ausging, ist also, genau genommen, so wiederzugeben: „Terentius
Scaurus in seinen Kommentaren, und zwar zur Ars poetica, das ist im zehnten Buch."
S. 100: Zu Herodot sei jetzt W. W. How und J. Wells, A commentary on Hero-
dotos, 2 Bände, Oxford 1912, hinzugefügt.
S. 107: J. Marouzeau hat, wie ich sehe, in seiner trefflichen Arbeit L'emploi du
participe present latin (Extrait des Mem. de la soc. de linguistique XVI, 1910) den
passivischen Gebrauch des Participium praesentis in Zweifel gezogen ; doch beschränkt
er seine Sprachbeobachtung auf die Zeit der Republik. Ueber passivisches intolerans
s. Schmalz in Berl. philol. W.schr. Bd. 33 S. 785. Auch an das ^^ilgärlateinische aman-
tissimus für amatissimus ließe sich noch erinnern.
S. 108 f. : Ueber das Verhältnis des Sophokles zu Herodot handelt neuerdings
JOH. Rasch, Sophocles quid debeat Herodoto eqs., Leipzig 1913 (Commentat. philol.
Jenenses X 2) ; s. bes. S. 92 ff. Indes hat Rasch für die Antigonestelle das, was wesent-
lich, nicht gesagt.
S. 112 Anm. 1: Nicht Wilhelm, sondern Häuser ist der Verfasser des Aufsatzes
in Oesterr. Jahreshefte 1909 S. 81 f. Ablehnend äußert sich H. Blümxer, Technologie
und Terminologie I2 S. 113.
S. 114: Für das Problem der Bühne des attischen Theaters kommt C. Fenster-
busch, Die Bühne des Aristophanes, Leipzig 1912, hinzu, der das ävaßaiveir richtig
auffaßt. ,
S. 122: Das Trinkgefäß als Braut im Catalepton XII ist zustimmend besprochen
von de Witt im American journ. of phil. 32 (1911) S. 452.
Zusätze und Berichtigungen. 379
S. 127f. : Zur Interpunktion in griechischen Texten vgl. das Fragment jieol oTr/fi(7)v
bei Bachmanx, Anecdota II S. 316 und Norden, Hermes 27 S. 622 f.
S. 129: Dem obiektlosen tu ne quaesieris bei Horaz, Od. I 11, 1 entspricht am
schlagendsten das absolut gesetzte qiiaere bei Plautus, Miles 200; Persa 47.
S. 130 f. : Ueber die Notation der alexandrinischen Philologen, die die Personen-
verteilung im griechischen Drama betraf, s. A. Römer, Abhandl. d. bayer. Akad. 19
(1892) S. 633 f.
S. 130 ff.: Die Zahlen vor den Ueberschriften sind zu hoch; statt 6 ist 5 zu
lesen u. s. f.
S. 133: Die Frage nach der Umschrift älterer griechischer Texte ist Jetzt wesent-
lich geklärt durch Eudolf Herzog, „Die Umschrift der älteren griechischen Litteratur
in das jonische Alphabet", Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel, Leipzig
1912. Die Grammatiker Aristophanes und Aristarch setzen solche Umschrift für
Homer, Pindar und andere Texte als Tatsache voraus, und in der handschriftlichen
Ueberlieferung selbst sind Reste der älteren Schreibart, besonders o für co, z. B. bei
Hesiod und Pindar, noch zahlreich vorhanden. Die Umschrift muß in Griechenland
im 4. Jahrhundert v. Chr. durchweg erfolgt und allerorts von den Schullehrern auf
staatliche Anregung hin ausgeführt worden sein. Gilt dies nun auch für Homer, so
folgt daraus, daß auch der Homertext dereinst in altattischer Schrift aufgesetzt war,
und dies führt nicht allein zu der Annahme, daß die Buchung Homers durch Pisi-
stratus oder Hipparch (vgl. oben S. 277) doch ernst zu nehmen ist (Herzog S. 61),
sondern auch zu der wiclitigeren, daß die Staatsexemplare von Massilia, Kreta und
anderen Plätzen, die jene alexandrinischen Grammatiker ihren homerischen Text-
studien zugrunde legten (oben S. 309), von der athenischen, voreuklidischen Homer-
ausgabe stark beeinflußt und gradezu durch Abschrift von ihr abhängig gewesen sind.
S. 138 : Daß bei der Elision im Latein der Vokal vollständig verklingt, sagt uns
auch Hieronymus Epist. 20, 5, 2.
S. 139 : So wie M. Accius Plautus aus Maccivs Plautus wurde, schrieb auch Oassius
Dio 57, 20, 3 räiog AovTcooiog Ugioxog, während in seiner Vorlage Clutorius Priscus ge-
standen haben muß: s. Prosopographia imp. Rom. I S. 425.
S. 139 Anm. 4: Zu den notae iuris vgl. Steffens, Lat. Paläogr.^ (1909) S. XXXIV
und Johnen a. a. 0. S. 159.
S. 145: Zu Theophrast Charakt. 4, 11: mit Unrecht, wie ich meine, setzte Diels
das Zeichen der Lücke hinter avai.uf.atjoy.oixevog. Denn das ajiaitelv gehört sachlich zu
tfjg wxrog und muß also auch mit ihm zusammenstehn ; denn darin liegt das Rüpel-
hafte des Benehmens des Bauern, daß er den Gegenstand „nachts zurückfordert",
„indem er schlaflos daran denkt", nicht aber, daß er ihn „zurückfordert", „indem er
nachts sclilaflos daran denkt". Wenn Theophrast den Infinitiv sonst gern an den
Schluß der Sätze stellt, so pflegt alsdann doch keine so breite Partizipialkonstruktion,
wie hier, voraufzugehen.
S. 146: Ueber die Lücke in Tacitus' Dialog aufklärend K. Barwick, Rhein. Mus.
68 S. 279 ff.
S. 149 Z. 1: Es ist Tibull I 4 statt Tibull I 3 zu lesen.
S. 149: evQeg war neben rjvgeg auch schon attisch; die Bj^zantiner aber brachten
es, wie gesagt, auch da in die Texte, wo ein r]VQsg überliefert stand.
S. 154: Ueber Doppeltitel in der Komödie handelt Nicola Terzaghi, Fabula,
Mailand 1911, Bd. I S. 23 ff., doch ohne die Arbeit von W. Bender, De graeca comoediae
titulis duplicibus, Marburg 1904, zu kennen.
S. 173 f.: Zur Erläutening der Schwierigkeiten, die grade oft kleinere Gedicht-
kompositionen bereiten, hätte ich vor allem das erste Gedicht in der Monobiblos des
Properz anführen sollen, von dessen Interpretation die Properzchronologie ausgehen
muß. Denn es ist besonders erstaunlich, daß dies vielgelesene Gedicht von den
wenigsten richtig verstanden worden ist; das Zutreffende hat H. Hollstein, De Prop.
monobibli sermono etc. (Marburg 1911) S. 61 ff. nach dem Vorgang von Giac. Giri ge-
geben, und erst dadurch ist die richtige Datierung des „ersten Buchs" des Properz
möglich geworden, über die ich S. 86 referiert habe. Seine Abfassung erstreckte sich
über die Jahre 40 — 31. Daß in der Monobiblos Gedichte ganz verschiedenen Stils
vereinigt sind, muß jeder achtsame Leser wahrnehmen; dieser Umstand erklärt sich
nur daraus, daß sie sich auf etwa neun Jahre verteilen.
S. 178 Anm. 3 : Zur Ars poetica vgl. auch Jon. Vahlen, Sitz.Ber. Berl. Akad. 1906
S. 589 ff. und Cauer, Rhein. Mus. 61 S. 232 ff.
S. 180: Zum Verständnis der Mosella des Ausonius ist auch noch an die gleich-
zeitigen Peregrinationen zu erinnern, wie die der Silvia ad loca sancta.
S. 181 Anm. 1: Zur Theorie des Briefes vgl. auch Rabe, Rhein. Mus. 64 S. 289 ff.
S. 183: Bühnenanweisungen für den Schauspieler kommen in den erhaltenen
380 Zusätze und Berichtigungen.
Dramentexten nicht vor, wohl aber in den Ueberresten des Mimos, die O. Crustus
im Anhang seines Herodas abdruckt.
S. 186 Anm. 5: lies: Freilich nicht immer die neuere Komödie.
S. 190 Zeile 9 von unten: lies evos.Ttov statt oevsjTTov.
S. 190 — 194: Meine Ausführungen über den Oedipus Eex und seinen Grund-
gedanken waren schon gesetzt, als ich die Eektoratsrede von S. Sudhaus, „König
Oedipus" Schuld", Kiel 1912, durch die Güte des Verfassers erhielt. Ich freue mich,
in wesentlichen Punkten mit ihm zusammengetroffen zu sein.
S. 203: Meine Auffassung des Verhältnisses des Quintus Sm^-rnaeus zu Vergil
findet in dem Aufsatz von P. Becker, Ehein. Mus. 68 S. 68 ff. eine Bestätigung. Daß
die Aeneis, wie ich dargelegt habe, auch bei den Griechen gelesen wurde, Ja, ziem-
lich verbreitet war, lehrt jetzt auch unter den Oxj^rhj-nch. Pap. Bd. 8 die Nr. 1099,
wo wir sehen, wie ein Grieche in Oxyrhynchos sich die" lateinische Aeneis vornimmt
und einzelne Worte des 4. und 5. Buches ins Griechische übersetzt. Das Blatt stammt
aus dem 5. Jahrhundert; so wird also auch der Grieche und Aegypter Claudian ver-
ständlich, der als fertiger poeta Vergilianus von Alexandria nach Eom übersiedelte.
Der Text wird übrigens dortselbst durch expl lih. IUI, ine Üb. V unterbrochen.
S. 203 Anm. 6 : Ueber Tryphiodor und Vergil ist von Noack im Hermes 27 S. 459
gehandelt worden. Der von mir dort zitierte Aufsatz Noacks im Ehein. Mus. 48 be-
trifft die Helenaepisode und war zu S. 160 anzuführen.
S. 206: Im Gegensatz zu Eeitzenstein und zugunsten meiner Auffassung erwähne
ich noch, daß der Tropus, der den Eros in seinen Wirkungen mit der Schlange ver-
gleicht, in der Sprache der Erotik so verbreitet und so naturgemäß war, daß Plutarch
De amore (Bd. VII S. 135 ed. Bernadakis) auch, ohne die Sclüange selbst zu nennen,
schreibt: rot S' eocoxLxa bi]ynaxa, xär a:iooxr] t6 &r]oiov, ovx i^avitjoi zov löv. Das drjQim' ist
eben 6 egcog. Auch dies dient zum Verständnis des Orakels bei Apuleius.
S. 213f.: Ein Problem bildet die Anordnung der Bücher des Sextus Empiricus;
dies ist trefflich aufgeklärt von Mutschmann ed. I S. XXV f. Eühmenswert war die
Leistung Lachmanns, der aus dem zerrütteten Corpus der Gromatiker den Agennius
herstellte; vgl. Mommsen, Hermes 27 S. 114.
S. 214: Vielleicht habe icli oben über die Heroideji Ovids zu kurz referiert. An
der Echtheit der ersten 14 Stücke dieser Sammlung zu zweifeln, fehlt ein hinläng-
licher Grund; zu diesen 14 kommt aber noch der Sapphobrief Ov^ids (ob wir nun den
erhaltenen Sapphobrief als echt einsetzen oder nicht) hinzu. Für diese 15 Nummern
reichte eine Pap^^rusrolle nicht aus; sie ergeben vielmehr drei richtige Buchumfänge
zu Je fünf. Die Briefe 16 — 21 halte ich für unecht. Stammen sie aber dennoch von
Ovid, so schrieb sie der Dichter doch Jedenfalls sehr viel später, zu einer Zeit, als
die Nr, 1 — 15 längst im Publikum waren. Für die Frage nach deren Bucheinteilung
ist also die Existenz der Nr. 16 — 21 ohne Belang.
S. 218 f.: Als Beispiel für den durch sorgfältige Analyse des Textes gewonnenen
Nachweis doppelter. Ja, häufigerer Eedaktion eines Werkes kann Jetzt neben Eusebius'
Kirchengeschichte auch des Polj-bius Geschichtswerk angeführt werden; dies danken
wir der glänzenden Untersuchung Laqueurs; s. E. Laqueur, Polj^bius, Leipzig 1913;
vgl. die Besprechung Soltaus im Litterar. Centralblatt 64 (1913) Nr. 18.
S. 221: Aehnlich wie im Hesiod Erga v. 383 steht es aucli im Aristoteles; öfters
fehlt bei ihm, besonders in der Metaphysik, eine L^eberleitungspartikel von Buch zu
Buch; wo dies der Fall, ist ursprünglicher Eollenanfang anzusetzen (W. W. Jäger,
Entstehungsgeschichte der Metaphysik, Berlin 1912, S. 156).
S. 223 ff.: Zum Thema A^om Plagiat vgl. Jetzt auch 0. Hosius in Neue Jahrbb.
Bd. 31 (1913) S. 176 ff.
S. 223: Betreffs der Piatobriefe vgl. auch A. Brinkmann, Ehein. Mus. 66 S. 226 ff .
S. 225 Anm. 2: Ich möchte noch bemerken, daß die auffällige Wendung deponere
oculos bei Horaz Od. I 36, 18 im Thesaurus 1. lat. keine Beachtung gefunden und nicht
angeführt ist. Manilius 4, 875 scheint sich aus der Horazstelle zu erklären.
S. 234 Anm. 5 : Die Arbeit von W. Holtschmidt, De Culicis carminis sermone et
de tempore quo scriptum sit, ist inzwischen, Marburg 1913, erschienen.
S. 236: Interessant ist, wie Hieronymus epist. 84, 11 die einzige Schrift, die von
Pamphilos existierte, für unecht erklärt: date quodlibet aliud opus Pamphili, nusquam
repperietis; hoc unum est; unde igitur scinm quod Pamphili sit? eqs.
S. 239: Die Ausführungen Middendorfs werden durch Schmalz in der Wochen-
schrift f. kl. Phil. 1913 S. 515 ff. weiter erhärtet; ebenso urteilt auch H. Oldecop, De
consolatione ad Liviam, Göttingen 1911; belanglos die Bemerkungen von JuL. Ziehen
in Deutsche Litt.Ztg. 1913 S. 350. Der Aufsatz von E. Ellis über die Mäcenaselegien,
den MiDDENDORF S. 18 zitiert hat, ergibt nichts, wodurch sich der von mir vertretene
Zeitansatz erschüttern ließe.
Zusätze und Berichtigungen. 381
S. 242: Zu den modernen Fälschungen gehört auch das Palimpsestblatt, das Giac.
CoRTESE in Rivista di filol. 12 S. 396 in ungeschickter Nachahmung veröffentlichte;
der Inhalt betrifft den römischen Historiker Postumius Albinus, der sein Werk dem
Ennius gewidmet habe ; den Nachweis der Unechtheit gab L. Traube in Abhandl. d.
baver. Akad. 24, 1 S. 47 f.
S. 247: Wenn ich mit Hinweis auf das „Buchrolle in der Kunst" Abb. 80 vor-
geführte Yasenbild kurzweg von Stesichoros rede, der die Eolle im Schoß hat, so
kann man diese Benennung beanstanden ; es handelt sich um einen Kylix aus Naukratis,
der uns einen alten Mann sitzend zeigt; auf der Fläche der offenen Buchrolle, die
er hält, stehen Buchstaben, die nicht wirklich den Namen jenes Dichters selbst, son-
dern vielmehr nur die Worte ergeben : ot7]oixooov hv^ivov äyoioai. Da nun aber das Ad-
jektiv oTTjoi/ogog in der Litteratur sonst nirgends vorkommt und da der sitzend vor-
tragende Mann auf dem Bilde zugleich als alter Mann und als Sänger mit Sorgfalt
charakterisiert ist, so ist es wolil klar, daß nur Stesichoros gemeint sein kann und
daß jene Worte deshalb gewählt sind, weil eben er hier hat dargestellt sein sollen.
Die Worte sollten und mußten jeden Betrachter an ihn erinnern. Zurückhaltend
äußert sich hierüber E.Herzog, Die Umschrift der älteren griechischen Litteratur S. 16.
S. 255 : Der Tatsache, daß bei den Griechen der Gebrauch der öicpMoaL nicht alt,
widerspricht nicht das Sprichwort do/aiörsga Öicpdsoa ?MÄ.stg (Erasmus Chiliad. I cent. 5),
das nur darauf hinweist, daß Membrane sehr alt werden kann: „du redest Dinge, die
älter oder alberner sind, als altes Leder."
S. 258 : Auch Hieronj-mus setzt, Epist. 107, 10, 1, aurum, wo er von Goldwebereien
redet: aurum in fila lentescens.
S. 260 : Für das Tilgen der Schrift auf der Wachstafel sei noch das Sprichwort
zitiert: imis, quod aiunt, ceris eradcre, Hieron. epist. 9, 2.
S. 260 Zeile 11: lies tabula statt hibiila.
S. 263: Auch umfangreiche Inschriften auf Erz zerfielen nicht nur in verschiedene
Tafeln, sondern diese wieder in paginae und loci; vgl. die Zitierweise tob. I pag. II
loc. XXXXIIII auf den Militärdiplomen CIL. HI 2, 850.
S. 266 Anm. 2: lies ita sint statt ita sini.
S. 269: Die These, dsiß pagitia ein kleiner ^a^^ws ist, wird durch fiscina „Körbchen"
bestätigt; denn fiscina ist ein kleiner fiscus.
S. 275: Ueber AÖyog im Sinne von ölov ßißXiov s. auch W.W. Jäger, Entstehungs-
geschichte der Metaphysik, Berlin 1912, S. 153 f.
S. 279 Anm. 5 : Die charta Augusta wurde in honorem Äugusti ganz in derselben
Weise benannt, wie Herodes Samaria üsßaox?] nannte in honorem Äugusti (Hieronvm.
epist. 108, 13, 4).
S. 290: scedula braucht Hieronymus öfter vom Brief: scedulae angustia Epist. 11, 1;
cartae scedulam Epist. 8, 3. Hilberg pflegt gegen die guten Handschriften schedula zu
drucken; vgl. auch Epist. 83,1 und sonst; dagegen in scidulis Epist. 114, 2. Das deutsche
„Zettel" wird von schedula hergeleitet, setzt aber eben dieselbe Orthographie scedula
voraus (zum Doppel-^ in „Zettel" vgl. das in Quitte: Glotta III S. 244).
S. 292: Daß lihellus von dei tabula sorglich unterschieden wird, also prinzipiell
nicht das Tafelbuch, sondern das gerollte Büchlein bedeutet, zeigt uns auch noch
im 4. Jahrhundert auf das schönste das Edikt des Diocletian CIL. III S. 831, wo
25 Denar als zu zahlender Preis für je 100 Zeilen angesetzt werden tdbellanioni in
scriptura lihelli vel tabulanmi.
S. 294: Zur monohiblos verlohnt es Hieronym. epist. 33, 4, 4 anzuführen, wo es in
der Aufzählung der Werke des Origenes heißt: in Canticum Canticormn libros X et
alios tomos II quos super scripsit in adulescentia, in Lamentationes Hieremiae tomos V,
item inquit Monobihla; hier ist das inquit sinnlos, aber nicht etwa zu tilgen, sondern
aus quinque verschrieben; daß quinque zu lesen ist, wird durch das item bewiesen.
Es waren also fünf zusammenhängende tomi zu den Lamentationes, die ein Werk
ausmachten, imd außerdem fünf Monographien, die unter sich nicht zusammenhingen ;
ähnliche Sammlungen oder Serien von Monobibla habe ich Ehein. Mus. 64 S. 394 f.
besprochen. Der lateinische Ausdruck für Monobiblos ist liber singularis; er findet
sich besonders häufig im Schriftenkatalog der Digesten. So lehrt uns auch derselbe
Brief des Hieronymus c. 2, daß Varro 10 singulares (sc. libri) hinterlassen hatte.
S. 297 f. : Öekxog in der Bedeutung liber steht Corp. gl. lat. HI 277, 38 : rj ßißlog i6
ßißXiov fj behog Über.
S. 298 Zeile 4: Statt „Schriftwerk" ist „größeres Schriftwerk" gemeint und zu lesen.
S. 300: Daß die Eolle mit dem Titel eröffnet wurde, scheint auch das praenotari
bei Hieronymus Epist. 107, 12, 3 anzudeuten: caveat omnia apocrypha et . . . sciat non
eorum esse qiiorum titulis praenotantur; denn die Apokry^phen wurden damals aller
Wahrscheinlichkeit nach einzeln in Eollen gelesen. Aber auch auf die Titel tragende
382 Zusätze und Berichtigungen.
Uminarls pagina, die Hieronj'mus Epist. 112, 3, 1 erwähnt, möchte ich noch einmal die
Aufmerksamkeit lenken; oben S, 300 habe ich sie auf einen Codex bezogen; sie kann
aber ebensowohl eine Eolle anbetreffen (vgl. S. 358, 5); es "wird dort von dem Über
des Hieronj-mus De viris iUustribus oder De scn'ptorihus ecdesiastkis gesprochen, dessen
Uminaris imgina Hieronymus selbst unbeschrieben ließ und der darum des titidus
entbehrte.
S. 308: Dazu, daß Ennius die charta schon erwähnt, stimmt Cicero Orator 160;
wenn von Cicero dort antiqui lihri des Ennius benutzt werden, so hat Ennius, da
lihri nur Bast- oder Chartarollen bedeuten, seine Annalen schon bei Lebzeiten in
solche Rollen eingetragen.
Ebenda, S. 308: Die Ausführungen über „edieren" bei Jäger a. a. O. S. 185 ver-
fehlen das Richtige: des Aristoteles Abhandlungen wurden in der Schule des Peri-
patos vorgelesen ; dies Vorlesen, das in der Schule stattfand, habe schon als s'y.dooi;
gegolten; alles Vorlesen sei endooig gewesen und die Bibliopolen für diese Dinge
etwas Sekundäres. G. Pasquali, Hermes 48 S. 161 f., nennt diese Aufstellungen Jägers
grundlegend für alles Buchwesen. Sie werden aber durch alles oben Vorgetragene
und auch schon durch Aristoteles selbst hinlänglich widerlegt, der gelegentlich die
Ausdrücke exöedo/nsvoi löyoi oder /.6yoi iv xoivdo yiyvo/uevoi gebraucht (p. 1454 B u. 407 B 29)
und diese „herausgegebenen" Schriftwerke augenscheinlich zu seinen eigenen Prag-
matien und Scliulschriften in Gegensatz stellt, diese letzteren also als nicht publi-
ziert betrachtet hat; eben darauf führt im Testament des Lykon die Erwähnung der
drf:?<doza, die ein gewisser Kallinos herausgeben soll, womit wiederum nur wissen-
schaftliche Abhandlungen des Lj^kon, die der Benutzung in der Schule dienten, ge-
meint sein können (Buchwesen S. 435 f.); diese galten also trotz solcher Benutzung
als nicht herausgegeben. Ein Vorlesen kam dem „Edieren" nur gleich, wenn es vor
großem Publikum geschah (oben S. 310).
S. 328: tituhis bedeutet den aus der Rolle heraushängenden Zettel, Deminutiv zu
titus, worüber BCcheler, Archiv f. Lex. II S. 118 f. Welcher Wortsinn ursprünglich
zugrunde lag, bleibt zweifelhaft; doch könnte die Bedeutung penis, die Büclieler für
titus feststellte, durch tltulus eine Bestätigung erhalten, da der titulus an der Rolle
als ein membrum prominens erscheint. Anstoß gibt der Pleonasmus der Ausdrucks-
weise in den Scholia Bobiens. Ciceron. p. 169 ed. Stangl: oratio . . . cuius inscriptionis
titulum . . . explanandmn puto; hernach folgt: si orationis titulum . . . 7ion indocte per-
spexerint.
S. 336 : Eine Bibliothek des Euripides setzt auch Aristophanes Ran. 943 mit den
Worten a:io ßvßlkov djirj&cöv voraus (worüber Buchrolle S. 214, 3). Vgl. dazu aucii
oben S. 90.
S. 363: Man muß, wie gesagt, zu der Annahme sich sehr geneigt fülilen, .daß die
Urheber der besprochenen Textrevisionen, ein Calliopius oder Mavortius oder die
Nicomachi, den Terenz-, Horaz- oder Liviustext schon im Codex niedergeschrieben
hatten. Doch ist hier jeder Fall besonders zu prüfen. In der ersten Dekade des
Livius hat z. B. jedes der zehn Bücher seine besondere Subscriptio, und das hatte
nur rechten Sinn, wenn jedes der Bücher noch für sich ging und abgesondert von
den übrigen neun traktiert wurde. Der vornehme „domnus S^-mmachus" wird sie
sich zunächst auf kostspieligem Papyrus haben vorlegen lassen, und ein Zehnbücher-
codex dürfte aus den zehn Liviusrollen erst hernach hervorgegangen sein; ebenso
war damals, wie wir S. 362 sahen, auch bei Claudian und Apollinaris Sidonius der
Hergang; ebenso stand es auch schon bei Ausonius.
S. 364 f. : Bemerkenswert scheint noch, daß Hieronj-mus das hebräische alte Testa-
ment in Codices benutzt und liest (Ant. Buchwesen S. 106); kommt dagegen ein
Hehraeiis zu ihm, so bringt dieser aus seiner Sj-nagoge Volumina mit, um den hebrä-
ischen Text daraus vorzulesen: Epist. 36, 1. Uebrigens erscheint Jesaias als ein voIumen
Hieron. Epist. 18 A, 4, 3.
S. 369 : Das extra ordinem paginarum setzt voraus, daß man die Stellung der
Kolumnen in der Buchrolle als einen bestimmten ordo auffaßte, der gewisse Plätze
in ihr ausschloß. In anderer Rücksicht wird der ordo im Buch auch sonst noch
erwähnt: des Origenes Hexapla hatte sechs ordines auf der Buchseite; wir lesen
Corp. gloss. lat. V 619, 19: exapla est bihliotheca sex ordines habens, nam exa VI (sie);
qida Origenes VI ordinibus diversas interpretum editiones in una pagina constituit. Durch
diese Stelle scheint erwiesen, daß des Origenes Hexapla nicht in Rollen, sondern im
Codex umging; denn der Codex hieß bibliotlieca (vgl. oben S. 274, 1). Im aufgeschlagenen
Codex der Hexapla sah man also auf jeder Seite je sechs schmale Textspalten oder
Kolumnen.
INHALTSVERZEICHNISSE.
1. Verzeichnis der besprochenen Schriftsteller und anonymen Werke.
Aeliaii 171.
Aelius Stilo 303.
Aemilius Macer 201.
Aeschines 25.
Aeschines, Sokratiker 197.
Aeschvlus 56. 65. 84. 90. 91 f.
167.183. 184. 188. 189. 195.
208 f. 218 f. 225. 277 ; üeber-
lieferung 10. 21.
Aesop 174; latein. Aesop
211.
Aetna 92. 98. 228. 239. 317.
Agennius 380.
x4Lgon des Homer undHesiod
90.
Alexander Aetolus 211.
Alexis 185.
Alkaeus 85. 167. 277, 1.
Alkman 57. 74. 133. 167. 277.
326, 4.
Altes Testament, Buchtei-
lung 296.
Ambrosius 171.
Anakreon 333 : Anakreontea
237.
Anaxagoras 307.
Andokides 118.
AndrokA^des l'ragm. 132.
Andronikos 218.
Antigonos Karj^stios 171.
Antiphanes 185.
Antiphon 90. 149, 7.
Antisthenes 49. 197. 208. 222.
236. 338.
Anthologia latina 38. 92.
216.
Anthologia Palatina 13. 16 f.
35. 64. 172.
Antonius, Eedner 310.
Apion jregi riig 'Pwi^iaixfjq öia-
Uy.Tov 276,
Apokah^psen, Petri, Pauli:
237.
ApollinarisSidonius 11. 150.
154. 180. 320. 325 f. 330.
354. 355. 362.
Apollodor, Chronik. 90.
Apolloniusroman 158.
I Apollonius Ehodius 10. 21.
I 202. 219.
Apollonius Sophista 33.
I Appian 173. 204.
I Apuleius 61. 81. 170. 173.
! 174. 205 ff. 225. 348. 380.
' Arat 36.
Archilochos 56. 167. 277.
' Argumenta zu Plautus 240.
Aristainetos 181. 210.
Aristarch 31. 32. 44. 99. 337.
Aristeasbrief 237.
Aristides rhetor 87.
Aristides Miles. 106 f.
' Aristobulos 223. 237.
Aristomache 257.
Aristophanes 58. 75 f. 91. 94.
101.167.184.185.196.218;
! Ueberlieferung 23. 25. 26.
1 32.
Aristophanes von B^^zanz 42.
224. 337. 341.
Aristoteles 31 f. 37. 195. 197 f.
213. 217 f. 222. 227. 276.
I 296. 315. 380. 382.
j Ps.Aristoteles de mundo 36.
I 92.227. 237; Rhetorik ad
Alexandrum 240. 312.
, Arrian 65. 214.
Artemidoros' BovyMliHd 342 f.
344, 1.
I Artemon von Kassandreia
; 322, 2.
I Asconius 378.
I Ateius 3.
I Athenaeus 18. 276.
Augustinus 165. 168.
! Ausonius 38. 47. 51. 98. 118.
i 170. 179 f. 229. 258. 300.
! 320. 354. 361. 379; Epi-
1 gramme 13. 143. 154; Ps.-
Ausonius Periochae 373.
j 376.
j Avien 313.
I Babrios 20. 81. 214. 242. 254.
t 261.
I Bakchylides 58. 174. 225.
Barnabasbrief 120.
Basilius 171.
Batrachomachie 226; vgl.
Pigres.
Bellum Actiacum, Epos:
326.
Bibelübersetzungen, lat.42 f.
203; Bibelhandschriften
354 ff.; vgl. Septuaginta.
Bion, Bukoßker 343. 344, 1.
Bion, Cyniker 157. 179.
Bolo3 Mendesius 237.
Brutus 311; sjiioxoXwv ovva-
ycoyt] 236.
Caecilius, Komiker 202.
Oaecilius, Rhetor 208. 228.
Caesar 61. 156. 165. 222. 311.
Caesius Bassus 235.
Callimachus s. Kallimachos.
Calpurnius 240.
Calvus 64. 177. 211 f.
Cassius Dio 34. 199.
Cassiodor 357. 362. 365.
Cato 312. 323; de agri cult.
12. 154; Disticha Catonis
238.
Catull 63. 64. 69. 74. 77. 87.
101. 109. 116. 171. 181,8.
188.195.204.216.225.371;
Ueberlieferung 15. 17. 19.
24.35.140.213.253.301,3.
Charisius 20.
XgcoTog jidoycov 38.
Chrj^sippos 322.
Cicero 86 f. 98. 101. 154. 156.
174. 175. 177. 223. 237. 238.
241 f. 276. 310. 320. 325.
pro Mil. 301: Briefe 21.
29. 94. 148. 180. 181. 287.
328; Dialoge 26. 34. 197 f.
201. 276. 294; De republ.
87; De fin.96; De deorum
nat. 154; Fälschung 241;
Ueberlieferung 17. 158.
321. 342. 363. 373: Sprache
46. 47. 61. 65. 82.
Ciceroscholien 82.
384
Inhaltsverzeichnisse.
Ciris 181. 204. 228. 239 f.
276.
Claiidian 94 f. 100. 118. 154.
175. 176. 181. 182. 203. 204.
209. 216. 221. 229 f. 340.
380 ; Ueberlief erang 16. 17.
19. 26. 27 f. 28. 362.
Codex Gregorianus 361.
Coelius Antipater 139.
Commodian 20. 80. 354.
Consolatio adLiviam29. 239.
241.
Copa 131. 229. 276, 3.
Cornelius Gallus 279, 6.
(Cornificius) ad Herennium i
46. 140. 176. 201. 228. 240. '
312. 342.
Corpus glossar. lat. 34. 37 f.
124. 143. 158. 213. 275. 364.
365.
Culex 160. 224. 232 ff. 238.
276. 353. 380.
Curtius Eufus 89.
Cyprian 364.
Ps.Cyprian Heptateuch 80.
Dares 100. 238.
Declamatio in Sergium Cati-
linam 241.
De dubiis sermonibus liber
33.
De generibus nominum 33.
Deinias Argolika 342.
Demetrius Phalereus 226.
Demokrit 63. 208. 223.
237.
Demosthenes 24 f. 26. 39. 82.
93 f. 101. 158. 168. 301, 2.
324. 325. 334. 359; Ps.-
Demosthenes 227. 228.
239.
Dictys 238. 253. 335.
Digesten (Pandekten) 98.
135. 172.
Didj^mos 42. 159 ; Didymos-
papyrus 359. 378.
Dio von Prusa 87.
Diodor 173. 200. 294. 315.
Diogenes Laertius 200 f.
Dionys. v. Halicarnaß 65. 98.
228.
Dionysios Chalkus 312.
Dionj^sios KaAXtcpwvxog 93.
Dionysios periegeta 93.
Dioskurides 93.
Empedokles 312, 5.
Ennius 78. 382; Sota 323.
Ephoros 172. 198. 199. 213.
296.
Epicharm 56. 196. 300. 326, 4.
377.
Epiktet 179.
Epikur 159. 214.
Eratosthenes 3. 214. 236.
337.
Etvmologica 33. 213.
Euripides 75. 90. 91 f. 108.
147. 169. 184. 185. 186. 187.
188. 189. 194. 195. 217. 218.
307. 377 f. 382; Ueberlief e-
rung 14. 334.
Ps.Euripides Danae 124. 241 ;
vgl. Rhesos.
Eusebius 31. 36. 219.
Eutrop 36. 203.
Evangelien 200. 358, 3. 359.
Fannius 175.
Festus 17. 93. 124. 171.
Fimiicus Maternus 313. 315.
324.
Flavius Caper 32.
Floras 201.
Fronto 47. 300. 328.
Fulgentius 33.
Gaius 358. 361.
Galen31.98. 227. 230. 314f.
Gellius 171. 199. 276. 358.
Germanicus, Phaenomena
230.
Gorgias 53. 56. 65. 236.
Gracchen, Reden 328.
Harpokration 33.
Hekataeus 200.
Heliodor, Roman 85.
Heliodoros, Metriker 25.
183, 5.
Hellanikos 207.
Helvius Cinna 204. 253.
Heraklides Ponticus 223.
238.
Heraklit 97. 247.
Hermagoras 227.
Hero 41. 93.
Herodes Atticus 236.
Herodot 56. 58. 64 f. 87. 100.
108. 149. 172. 196. 200. 278.
295. 378.
Herondas 41. 57. 81, 3. 196.
225.
Hesekiel 277.
Hesiod 167. 220 f. 258. 277.
312. 379.
Hesych 20. 33. 126. 137.
Hieronymus 36. 83. 319. 340.
355. 366. 377. 382.
Hippias 196.
Hippokrates 58. 224. 227.
230.
Homer 88 f. 98 f. 100. 117.
133. 219 f. 247 f.; Ueber-
lief erung 16. 26. 30 f. 147,3.
277. 278. 295. 309. 326. 353.
355.356.379; Buchteilung
296 ; Homerperiochae 353.
373 ff. : Sprache und Me-
trik 53. 57. 62. 70 f. 78.
81. — Hymnen 38. 89. 177.
181.
Homerus latinus 92. 212.373.
376.
Horaz 73 f. 84. 89. 156. 166.
180. 225. 289. 316 f. 318;
Ars poet. 149. 176. 181, 8.
217. 378 : Carmen saec. 294 ;
Ueberlieferung 12. 18. 24.
28. 145. 238. 363. 378.
Hosidius Geta 38. 201.
j Hyginus 337.
Hj^erides 334.
Ibykos 240.
Ion 167.
Isidor, Quellen 279, 6.
Isokrates 82. 169. 208. 215.
300. 307. 312. 334.
Jamblichos 85.
Jesaias 325. 338.
Johannesapokalypse 200.
Johannes Damascenus 155.
Josephus 34, 337.
Juba 313^
Julian, Kaiser 165. 207.
Julius Valerius 150.
Justin 89. 214. 376.
Juvenal 84. 91. 100. 169. 216.
229.317. 319; Ueberliefe-
rung 19. 22 f. 27.
Kallimachos 301, 2; Uivaxeg
11. 295 f. 299. 339: Dich-
tungen 174. 210. 235; Fou-
cpEiov 305. 3 ; Pap3^rus 294.
309. 326 f.
Ps.Kallisthenes 120. 173.
Kallistratos 180.
Kebes 339.
Konstantinos Porphyrogen-
netos, exloycd 20. 214.
Korinna 56. 247. 334.
Krates von Mallos 281, 2.
Kratinos 101.
Krinagoras 333.
Laevius 174.
Laus Pisonis 228.
lex Tappula 293.
Libanios 215, 4. 311.
Livius 61. 65. 99. 173. 199;
Ueberlieferung 28. 34. 321.
341. 342. 363. 382; Livius-
epitome 353. 373.
Livius Andronicus 276.
Lobon 223. 238.^
Ps.Longin .Tf^t mpovg 10. 82.
92. 208. 228. 240.
Longos, Daphn. u. Chloe 20.
1. Verzeichnis der besprochenen Schriftsteller und anonymen Werke.
385
Lucan 89. 154. 182. 204. 209.
224; Ueberlieferung 28.
353.
Lucian 90. 100. 175. 187. 203.
224. 227. 238 f.
Lucrez 21. 46. 78. 176. 202.
217.
Lucilius 95. 174. 211. 323.
Luxorius 136. 314.
Lvgdamus 228. 240.
Lvkon 315.
Lvkophron 36. 97. 211. 222.
LVkurg 293.
Lysias 65. 170. 227. 228.
Maecenaselegien 68 f. 226.
239. 380.
Macrobius 83.
:Manilius 92.
]\IarceUus (empiricus) 355.
357.
Mark Aurel 28. 165.
Martial 84. 86. 289. 300. 301, 2.
313. 319. 346 ff. 351 ff.
367 ff. ; Ueberschriften 13 ;
Ueberlieferung 35. 347, 1.
363. 367 ff.
Martianus Capella3. 150. 169.
Märtyrerakten 237.
Matius 201.
Meleagros Zxecfavog 12. 172.
377.
Melissus 337.
Menander 85. 168. 185. 186.
225. 238. 353.
Menander rhetor 176.
Menippos 174. 223. 321.
Menonpapj^rus 224.
Merobaudes 20.
Mimnermos 60. 64.
Minucius Felix 64. 197.
Modestinus 361.
Monumentum Ancvranum
42. 293. 329.
Moretum 228. 239.
Moschos 343. 344, 1.
Musaeus 67. 210. 377.
Musonius 179.
Naevius 64. 91. 104. 165.
Nemesianus 240.
Nepos, Cornelius 11. 174.
311.
Nepotianus, Januarius 315.
Keratins 345.
Xero 235.
Neues Testament 66. 200.
Nikander 312.
Nikephoros Constantino-
politanus 324, 4.
Nonius 32. 171.
Nonnos 67. 78. 81. 175.
Optatianus Porf. 135.
Oribasios 172.
Origenes 83. 334. 342. 355.
381. 382.
Orphika 238.
Ovid 35. 49. 98. 119. 148. 155.
174. 176. 180. 181. 225.
226. 317 ; Metamorphosen
14. 203. 315: im Auszug
353. 373 ff.: Heroides 19.
29.155.210.214.239.380;
Amores 19; Ibis 97; Nux
239.
Ps.Ovid Halieutica 19. 98.
155. 231 f. 238. 239.
Pacuvius 121.
Palladius 83.
Pampliilos 380.
Papinian 361.
Paris 34.
Pastor Hermae 311. 324.
Patricii Epithalamium 241.
Paulinus Nolanus 355.
Paulus Silentiarius 204.
Paulus, Jurist 361.
Paulus, Apostel 359 f.
Pausanias 21. 93. 176. 294.
377.
Persius 19. 89. 145. 164. 170.
178. 317. 363.
Petron 64. 173. 174. 203.
210.
Pliaedrus 35. 149.
Phalarisbriefe 236.
Philistion 238.
Philitas, Philetas 137.
Pliilodem 20. 40. 294.
Philon von Byblos 322.
Philostrate 20*: 27. 175. 180.
344; Grymnasticus 226.
Phoinix von Koloplion 12.
179, 1.
Phokj'lides , Ps.Phokylidea
227. 237.
Photius Lex. 33. 37. 132.
137.
Phrynichos 189.
Pigres 247; vgl. 353.
VPindar 57. 65. 94. 100. 111.
i 167. 168. 179. 242. 247.
Plato'31. 64 f. 96 f. 100. 169.
197.208.215.217; Ueber- I
liefemng 10. 20. 23 f. 36.
39. 275. 295. 321. 363; I
Sprache 62 f.; Briefe 223. i
380;Ps.Platonica224.226f. '
228. 229. 230. I
Plautus 46. 91. 104. 118. 153. \
159. 165. 169. 186. 188. 189. |
196.202.287.316; Ueber-
lieferung 14. 15. 18 f. 130.
363 ; Sprache und Metrik
56. 72. 76. 80 f.
Plinius, bist. nat. 119. 176.
201. 230. 294.
Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. I, 3. 3. Aufl.
Plinius, Briefe 29. 87. 94. 165.
180.
Plutarch 29. 65. 168. 171. 174.
199. 218.
Plotinos 359.
PoUux 171.
PolybiuslOO. 173.200;Ueber-
lieferung 14. 19. 380.
Polykrates 207. 215.
Pompeius Macer 337.
Pompeius Trogus 37. 242.
376.
Pontica 155.
Porphj^rios 83.
Posidippos 168.
Postumius Albinus 380.
Priapea 170.
Priscian 23.
Probus, Valerius 58. 342.
Prodikos 47. 196.
Proklos 83.
Properz 60. 86. 144. 147. 169.
177. 204.216; Ueberliefe-
rung 11. 13. 15. 17. 22. 23 f.
155. 162. 214. 353.
Protagoras 62 f.
Ptolemaeus Cheiinos 238.
Publilius Syrus 36. 220.
Quintilian 31.65.98.290. 311.
315. 321; Declamationes
92.
Quintus Smvrnaeus 203.
380.
Reposianus 174.
Ehesos 228.
Ehinton 59.
Eomulus 211.
Eufinus 237.
Eutilius Lupus 11.
Eutilius Namatianus 29.
Sabinus 239. 241.
Saliarlieder 14.
Sallust 64. 66. 162. 170. 174.
203. 211; Ps.Sallust, In-
vektive 240 f.
Sappho 56. 58. 59. 85. 109.
149. 167. 247.
Satyros 85, 1. 90. 198. 276.
Scaurus, grammat. 83. 378.
Scipio, Eeden 294.
Scriptores historiae Augus-
tae 100. 150. 260 f. 362.
Seleukos 42.
Seneca rhetor 34.
Seneca 28. 30. 87. 109. 179.
214. 217. 229; Tragödien
85. 183. 195.208.216.224;
Ueberlieferung derselben
14. 18.22; Apotheosis 10.
53. 95. 100. 154. 174; Oc-
tavia 226. 228. 240; Epi-
gramme 235 f. ; Brief-
25
386
Inhaltsverzeichnisse.
Wechsel mit Paulus 226.
237.
Septuaginta 339, 3.
Servius 82, 8. 102. 160. 213.
Sevius Nicanor 342.
Sextus Empiricus 200 f. 377.
380.
Sibyllinen 237.
Sidonius s. Apollinaris.
Sieben Weisen 238.
Silius Italicus 92 f. 170.
Simon, Sokratiker 339.
Simonides 13, 1. 167. 227.
Sisenna 106 f.
Sisenna zu Plautus 377.
^78
Sokratesbriefe 236. 238.
Solinus 38. 155.
Solon 58. 64. 85.
Sophokles 47. 58. 90. 108.
188.189.190ff.378;Ueber-
lieferung 21. 357 f.
Sophron 56. 196.
Sosylos 328.
Spurinna 241.
Statins 12. 19. 28. 171. 177.
182. 2ia 301, 2. 314. 316.
367.
Stesichorus 240. 247. 277. 381.
Stobaeus 36.
Strabo 93. 117.
Sueton 42. 156. 166. 171. 174.
224.
Suidas 33. 37. 98.
Sulpicius Severus 319.
Susarion 238.
Symmachus 180.
Symphosius 13. 121.
Tacitus 64. 66. 89. 96. 99.
100.162.173.175.197.200.
204 f. 227; Ueberlieferung ;
20. 214. 342. 379. [
Teles 179. I
Terentianus Maurus 28. 66, 4. !
89. 151. :
Terentius Scaurus 378. i
Terenz 85. 89. 105. 118. 183. I
186. 202.287; Ueberliefe-
rung 24. 363.
Terpander 238.
Tertullian 364.
Testamentum porcelli 272.
Theodoros von Gadara 82.
Theodosios philosophos 306.
Theognis 24. 64. 220. 329.
Theokrit 57. 58. 59. 66. 101.
181. 196. 213 f. 216. 229.
235.236. 342 f. 377; Titel
13. 154. 343.
Theopomp 211. 296. 342.
Theophrast 34. 93. 211.
Thespis 238.
Thukvrdides 56. 64 f. 90. 100.
167. 168. 172. 197. 207. 215.
301; Ueberlieferung 26.
31. 295.
Tibull 11. 15. 17. 35. 86. 147.
149. 162. 178. 228. 353; Pan-
egyricus Messallae 179.
235.
Timaeus, Lex. 33.
Timon von Phlius 211.
Timotheos 225. 335.
Traian 212.
Tribonian 98.
Tryphiodor 203. 380.
Tjrrtäus 57. 85.
Tzetzes Prolegomena zu Ari-
stophanes 338, 2.
Ulpian 361.
Valerius Maximus 14. 24.
34. 172.
Valerius Soranus 12.
Valgius 19.
Varius und Tucca 160.
216.
Varro 28. 91. 154. 174. 183.
301. 306. 342. 355.
Vegetius 343.
Velleius 29. 276. 294.
Vergil 89. 98. 99. 110. 117.
202. 203 f. 216 f. 226. 250.
317. 380; Ueberlieferung
15 f. 160 f. 165 f. 196. 353.
358.363: Belogen 13. 101;
Georgica 294 ; Catalepton
13. 166 f. 170. 201. 221;
Aeneisepitome 353. 374 f. ;
Sprache 46. 61 f. 68. 77.
126.
Vergil viten 106.
Verrius Flaccus 171.
Vestinus, Julius 337.
Vincentius Bellovacensis
35.
Vitruv 93. 343.
Vorsokratiker , fragm. 41.
58.
Xenophanes 301, 2.
Xenophon 17. 64 f. 87. 100.
161. 169 f. 172. 173. 174.
197. 200. 207 f. 208. 215 f.
222. 229. 295. 334; 'Aßf]v.
jiohreia 92. 226. 240; Cyn-
egeticus 230 f.
Xenophon Ephesius 85. 173.
214.
Zenodot 337.
2. Verzeichnis der Stellen, die Besprechung gefunden.
Aeschylus
Agam. 113 : 38
294: 33
1469: 120
Choeph. 349: 32
403: 142
424: 33
449: 138
Eum. 730: 32
Hiket.947: 273. 277. 288 f.
Prom. 2: 32
665: 45
Aetna 6: 72
433: 377
471: 377
Afranius 187: 135
Afranius 300: 138
357: 138
Anthol. lat. 1: 374
253, 154: 22
259: 44
286,27: 151
303,1: 136
338,8: 365,3
687,54: 22
Anthol. Palat.
1X239: 333
XII 208: 304, 1
XIII 21: 249
Apuleius
met. 1, 1: 105
4,33: 205 f.
Apostelgeschichte
19, 19: 322.
Aristophanes
Acharn. 3 f . : 67
24 f.: 113
61: 25
69 f.: 128
78: 45
197: 67
203: 25
2581: 76
885 ff.: 75
Ekkles. 89ff.: 111
405: 126
Fried. 214: 127
Frösche 245: 50.
2. Verzeichnis der Stellen, die Besprechung gefunden.
387
Aristophanes
Vesp. 1342: 114.
Aristoteles
Hist. anim. p. 598 A 25: 37
P.598B8: 37
Poetik 1,3: 37
4, 12: 37
6, 18: 156
9,9: 37
9,11: 151
c. 13: 194
Ehetor. p. 1361 A u. 1400 B :
133
Athenaeus
p. 75D: 127
p. 153 F: 127
p. 287C: 125
p. 308E: 37
p. 329A: 33
p. 457B: 123,4
p. 558 B: 125
Augustinus:
Confess. IV4, 7: 152
Ausonius Bissula 145.
Bakchylides 15, 56: 134.
Caesius Bassus
carm.fr. 2, 6: 235,4
Calpurnius 4, 96 f . : 145
Carm. lat. epigraph.
938: 306
946: 55,6
Cassius Dio 57.20,3: 379
62,17,2: 119
OatuU 1,8: 147
2: 131
3, 12: 233
5: 130. 150
14: 3101
17,1: 137
22, 5 f.: 290. 298. 329
47, 2: 116
49: 116
51,11: 120
54: 129
55: 122
57: 76
58 b: 123
62, 1: 126
62,45: 31
63,75: 120
64,309: 126
64,368: 145, 1
65,9: 153
67: 250
68Au.B: 177. 179
68A7: 311
68B47: 144
68B61: 34
68B68: 55
80,8: 138
84: 50
111,2: 141
116, 1: 138
Cicero
pro Milone 2: 40
Orator 108: 155
de nat. deor. 1, 13 ;
30
1,19: 157
1,20: 128
2,125: 119
2,126: 152
2,153: 158
de f in. 4,72: 62,1
ad famil. 9,16: 152
ad Att. 4, 5: 340
12,19,2: 103,4
13,12,2: 103.320
13,25,3: 320
15,3,1: 51
Schol. Bob. p.l69 Stangl:
382.
Ciris 57: 72,2
189: 72
204: 135
397: 138
408: 145
477: 145
Claudian
Eutrop. I 358 ff . : 51
II 347: 49
Fescenn. 3: 182
Nupt. 136: 128
Codex Theodosianus
14,3: 361
Xiy9,2: 364
Copa 28: 119
Corp. gl. lat. n 569,24: 119
Culex 5: 233,5
26 f.: 143
35: 79.
Demosthenes
Androt. p.590: 132
Digesten
12,1: 139
XXXII 52, 2 f.: 270 f.
Ennius Annal. 186: 52
366: 126.
Eubulos frg. 206K.: 142
Euripides
Alkest. 86 ff. : 60
366 u. 607: 112
El. 489 ff.: 115
lonl: 163
Iphig. Aul. 1580: 163
Med. 40 ff.: 159
759: 130
262: 162
Orest 505: 147
547: 157
667: 29
1024: 159
Eutrop 6, 9: 155.
Fronto
p. 156,1 ed. Nab.: 47
p. 155: 135.
Galen
Bd.XVni2S.630K.: 281
Gellius 4, 13: 151.
Herodot 1, 181: 155
2, 94: 151
2, 116: 156
3,53: 152
4, 127: 156
7, 25 ff.: 45
7,220: 151
8, 60: 152
8, 104: 156
Hesiod Erga 344: 33
Hieronymus
Epist. 33, 4, 4: 381
Homer 11. E 291 f.: 128
Odyss. <24f.: 117
Odyss. /I593f.: 79
hymn. 1,31: 71
Horaz
Od. 12: 95.119
17: 177
17, 17 f.: 51
17,22: 139
111,1: 129.379
112,20: 129
112,41: 31
112,45: 102
113,2: 32
I 14: 174
116, 5 ff.: 141
118: 182
122,2: 79
126,1: 79
128: 131
136,18: 225,2. 380
111,21: 102
1111,23: 125
1118,14: 51
ini4,19: 32
IV 6: 177
lY 8, 15: 377
IV 8, 17: 102.118. 163
Sat. I 5, 52 : 126
110, 1 ff.: 161
Epist. 17,29: 119
Ars poet. 139: 52
253: 66.
Jesaias 30,8: 288
Johannesapokalypse
5, 2: 329
13, 18: 120
Josephus
Archaeol. 18, 3 : 162
20fin.: 132
Josephus latinus
c. Apion. II202: 36
I s i d o r Origin. 6, 12, 3 : 305, 1
Julius Valerius
p. 153, 10 K.: 143
Juvenal:
4, 67: 22
4, 120: 22
25*
388
Inhaltsverzeichnisse .
Juvenal
5, 158: 23
6,365, 11: 291,3
6, 365, 28 : 166, 1
7,4: 22
7, 23 ff.: 22.291
7, 80: 133
7,87: 34
7, 98 f.: 317
7, 105: 131
7, 124: 131
7, 130: 104
8, 126: 252
8,148: 148
10,54: 72.
Kallimachos, Oxyrh.Pap.
VII 1011 V. 102: 309
V. 89: 326
K rat es com. frg. 15: 127
Kratinos frg. 74: 131.
Laberius 55 E.: 321,2
Laevius frg. 4: 51
Livius 9,40: 111
21,63,7: 135
45,29,1: 151.
Ps.Longin
jr. vtpovg cap. 4, 4: 140
4,5: 30
9,6: 30
43,2: 264,4
Ps.Lucian
De astrolog. 10: 139
"EgcoTsg 13: 118
Lucilius V. 54: 49
V. 668: 310,3
Lucrez 1,454: 163
2,44: 32
4,229: 159
5,606: 79
5, 1112: 66.
Maecenaselegien
1,8: 68
1,37: 69
1, 139: 72
2,33: 142
Martial
Spectac. 28, 10: 72
I praefat.: 3471 368
12: 349 f.
166,8: 304,1
III 1,3 f.: 276
III 2 u. 5: 314
III 2, 7 f.: 330
V16: 319
VI 3: 96
VI 6: 371
VI 17: 118
VII 3 u. 4: 371
VII 51, 5: 49
VIII praef.: 368
VIII 3: 350
IX praef. : 368 ff.
Martial
X93,6: 304,1
XI 107: 272. 299. 332
Xn4 + 6b: 372
Xn7: 371 f.
XIII 3: 318 f.
XIV 84: 303
XIV 190: 349
XIV 184—192 : 35 1 ff. 373 ff.
Martianus Capeila
p. 125— 129EYSS.: 139
II 219: 269
M e n a n d e r
frg. 69 K: 138
frg. 109: 155
frg. 249: 130
frg. 223: 127
Epitrep. 575 : 127
Minucius Felix 14, 1: 52
Musaeus 17 f.: 67
101: 68.
Nikomaclios com. f r.l : 130.
Ovid
Am. 1,10, 9: 138
heroid. 9, 80f.: 153
Metam. 14,215: 150
Trist. 1,1,8: 332
1,1,90: 39
1,11,31: 126
2,413: 106
2,443: 106 f.
Ps.Ovid, Halieut. 1: 155
2: 232,1
45 f.: 144
75:232,1
95: 232.
Palladius
p. 64 u. 65 ed. Schm. : 148
Pausanias 1, 35, 8: 140
Persius 3, 10: 282
Petron 47, 4: 151
75,11: 151
Phaedrus 4, 7: 177
Pindar Nem. 10, 62: 133
Plautus
Amph. 429: 50
Capt. 846: 129
997: 33
Ourc. 99: 32
470: 140
Men. 1089: 66
Merc. 272: 50
709: 147
Mü. 24: 142. 151
92: 136
Most. 1 : 32
40: 34
629: 138
Persa 173: 133
843: 144
Poen. 554: 136
Pseud. 242: 138
Tmc. 121: 32.
Plato
Hipp, mai.p. 283 A: 155
P.289A: 139
Hipp. min. p.370C: 31
Phaedr. p.230A: 52
P.245A: 251
P.274F: 150
P.278E: 269
Protag. p. 320 f.: 63
Tim. p.43A: 37
Plin. n. hist.
12,7: 119
13,68: 280 f. I
13, 70: 114 ''
13, 74 ff.: 265—272; vgl.
279,6
14,58: 143
32, 148: 140
Plin. epist. 7, 17, 11: 155
Polyb 4, 36, 6^: 133
Pomponius 70: 150
ProperzI 1: 379
18: 177
116,10: 250
121: 132
111,22: 135
113,24: 23
114,3: 142
114,24: 132
1X9,44: 23
niO: 177
1110,11: 138
1113,25: 72
1113,58: 23
1115,49: 23
n29: 123.177
1129,39: 72
1134,42: 50 f.
1134,64: 39
11120,28: 107,1
IV 1: 177
R^3,51: 141
IV 5, 64: 72
IV 8, 15: 39
IV 10,27: 142
Plutarch
De sollert. anim. p. 977 E :
37.
Quintilian 8,6, 10: 141
Sappho frg. 28: 133
Seneca
De benef . 7, 1, 1 : 30
7,30,1: 304
Epist. 10,4: 30
82, 18 : 30
92,30: 30
Apotheos. 4: 51
9: 151
10: 148
Herc. Oet. 1319: 141
Oedip. 687ff.: 85
Phoen. 650f.: 131
Thyest. 486: 135
3. Sach-, Wort- und Personenverzeichnis.
389
Sophokles
Ajax 172 f.: 60.79
341: 159
Antig. 100—116: 146 f.
127 ff.: 110 f.
141 ff.: 178
794: 52
802: 190
905 ff. : 108 f.
Oed. Col. 337ff.: 109
367: 134
678 f.: 107
704: 107
719: 120
1199: 33
1604: 107
Oed. Eex 495 u. 510: 178
862 ff.: 190 ff.
1031: 134
1505: 141
Sophoklesvita 132
Statins Silv. 4,8,26: 138
Strabo p. 389: 134
p. 614: 49
Sueton
Horazvita p. 45 Eeiff . : 287
Nero 39: 121.
Tacitus
Dial. 8: 144
15: 144
17: 103.118
Annal. 15,44: 162
Terenz
Adelph. 470: 148
766: 138,5
Eun. 25: 104
Heaut. 4f.: 105
Theognis 299: 133
1135: 116
Theokrit c. 8: 131
8,53: 127
9, 10: 134
15,13: 131
Theokrit 16,6: 273
c. 17: 95. 120 f.
18, 18: 141
c. 21: 143
21,58: 140
28, 14: 134
23,16: 138
Theophrast
Charact. 1, 1: 35
1,2: 35,2
1,4: 35
2,3: 35
3,4: 35,2
4, 11: 145. 379
5,4: 35
6,8: 262
Thukydides
1 1, 74: 142
I 2, 15, 3 f.: 112 f.
I 2,23: 33
I 3.4,5: 118
j 4,56: 33
! Tibull
14: 19
16,34: 377
115,47: 110
(Lygdamus) ni 1, 13: 332
(Lvgdamus) III 6, 3: 140
Titinius81: 125
Turpilius 137: 150
192: 140.
Valerius Maximus
VI 9, 14: 142
Yarro Menipp. fr. 197: 47,3
Yergil
Oatal. IIa3: 138
IIb 4: 47
nia3: 34
VII 2 f.: 46.47
IX 1: 139
1X60: 72
c. X: 145
c. XII: 121 f. 378
Vergil
Catal. XIII24f.: 51
Ecl. 1,28: 128
2,9: 119
3, 104 f.: 123
4: 95 f.
Georg. 1,85: 79
Aen. I prooem.: 160. 234
1,2: 38 f.
1,333: 148
1,667 f.: 68
2,462: 78
2, 567 ff.: 160 f.
2,577: 131
2,798: 125
3, 204 f.: 160
3,661: 160
3,702: 377
4,427: 79
5,595: 160
6,95: 30
6,199: 128
6,254: 68
9,667: 137
10, 144: 137
10,819: 79
12,541: 69
12, 605 : 137
12,648: 72
Velleius 2, 84: 125
VitruvVn praef. 5ff.: 341.
Xenophon
De rep. Laced. 1, 5 : 149
3, 5:^140
Anabas. Prooem. : 157 f.
Hellen. 2, 4, 26: 127
Memor. 1, 2, 48: 142
2,7,8: 127
3, 5, 4: 156
Oekon. 7, 16: 148
10,8: 157
20,25: 150
Sympos. 2, 29: 127.
3. Sach-, Wort- und Personenverzeichnis.
ab epistulis 287.
ahietinus 44.
Ablativ-fZ 126.
actum 285, 4.
adglutinare 269.
adorare 65.
adplicare 269.
Adressatenverzeichnisse in
Brief büchern 328.
Adverbien auf -Mg 53 f.; lat.
auf -e vermieden 234.
Aegäische Kultur 99. 248.
Aegyptisches Buch- und
Schriftwesen 254. 255. 256.
257. 274. 295. 302. 305. 329.
333.
Aeolisch 57.
Aesop 90.
Aetiologische Dichtung 194.
Agon in der Komödie 185.
äyoQsveiv 54.
ai'viyfta 121.
Akropolis 112.
Akrosticha 92 f.
Akte 183.
Akzentuation 127.
Album 256 f.
Alcäische Strophe 73.
Alexandria 266. 307; Biblio-
thek 296. 336 ff.
Alexandrinische Dichtung
225. 233.
a libris 334.
alii für ceteri 65.
Allegorische Auslegung 101 .
Allegorische Dichtung 207.
Alliteration 50. 76 f.
Alphabet 248. Euklidisches
133. Umschrift 133. 379.
amicus 54.
Amor als Schlange 206. 380.
Amphibolien 50 f.
390
Inhaltsverzeichnisse.
312.
311.
342.
afxcpiJioXeXv 107.
Amphitheos 101.
avaßaiveiv 114. 378.
dvayvcoQioig 189.
dvdyvcooig 7.
dvayvcooxy]Qioi' 303.
dvayvMorrjg 303.
dva).oy£Tov 303.
Anapher 77.
dvcmxvooeiv 212.
dvaxißrjfxi „widmen
dvögeia 54.
Androkydes 143.
Anekdota 315. 382.
anima 138.
annalis, Über 263.
dvoiyeiv 329.
Anordnung der Gedichte im
Buch 371.
Anthologien 172
Antinoe 305.
Antiochia 336.
Antiphrasis 116.
Antiquaria 322 f.
dvCMÖTj 184.
Antonius, Marcus 101. 237.
djiaXeiqjEiv, djidXmxog 290.
djiTjXsyscog 77.
Apfel, beschrieben 249.
Apokrj^phen 237.
djiohkvfisvov 184.
'Ajr6U.CL>v 53.
Apollonios von Tyana 286.
, 311.
djxöojiaojua 153, 2.
Apotropäisches 255 f. 257.
Apposition 69.
Araber 365.
arca, arcula 335.
Archäologie 212.
Archetyp 17 ff.
Archive 288. 335.
Aretalogie 175.
dgext) 54.
armaria 340 f.
artare 349.
Artikel 53.
Asclepiadeus 74.
Assimilationen 45.
d^dvaxog 62.
Atellanen 294.
Athen 56 ; Topographie 112 f.
Athenisclies Tlieater 182.
Athetese, d&exsTv 149.
'ArxiMavd dvxi'ygacpa 342.
Atticus, Pomponius 307. 310.
320.
Attisch 56. 149.
au, av Diphthong 134.
Aufhängen der Codices 262.
Auftreten der Personen 186.
August eus 279, 6.
Aurelian 259.
Aussprache 134 f. : des ß : 365. j
autem 228.
Autobiographie 165.
avxöygacpa 303. 335.
Automatentheater 306.
aveo, habeo 135.
ä^orsg 255. 257.
baiulus 287.
Ballade 173 f.
Barbarismus 118.
bassus = pinguis 34.
Baumstämme, beschrieben
249.
Beschreibende Dichtkunst
179 f.
Bestattungswesen 112.
Bibliomane 354.
ßißh'm' Eolle 262. 264. 276.
282. 290. 292. 297; ßißUa
äyga^a 269. 270. 318. 325.
352; ö2ov ßißUov 294.
bibliopola, bibliographus 307.
309. 364 ; mercennarius
bibliopola 320.
hibliothecarius 337. 365.
Bibliotheken 255. 280 f. 322.
325. 334. 336 ff. 344. 364 ff.
bibliotheca — Bibel 274, 1;
in bybliothecas referre 311.
Bibliothekskataloge 339.341.
ßißkog ßvßkog 264. 273. 276.
277. 280 f. 293 ; ßlßXoi d/uysTg
und ov/ii/iuyeTg 338; ßißkog
„Codex" 357.
Bilderbücher 101. 250. 293.
305. 310.
Bimstein, pumex 299.
Biographie 173. 174. 339.
ßiovv, fßicooa 149.
Bleiplatten 258. 356.
honus 54.
Breviarien s. Epitome.
Brief 180. 225. 258. 286 f.
303. 379.
Brieftafel 247. 286 f.
Bronzetafeln 251. 259.
Brouillon 289 ff.
Buch 10. 226. 247 ff. ; Aus-
stellung desselben 327 ff. ;
Alter der Exemplare 323.
328.
Bücher geweiht 257.
Bücherdekaden, -pentaden
341. 350.
Buchhandel 313. 319 ff. 351.
363 f.
Buchläden 312.
Buchpreise 322 f. 325. 352 f.
Buchrolle 198; Buchgröße
293 f.: Eaumzwang 176.
177 ; Zusammenkleben
derselben 270 ff.
Buchteilung 171. 213 f. 295 f.
340.
Bülmenwesen 114 ff. 183 f.
378. 379.
Cäsur 70 f. 73 f. 377.
calamus 302.
capsa, scrinium, xißcoxög 333.
capsarius 333.
Caput 12. 263.
carbasiim volumina 258 f.
carmina figurata 182.
cavtus 134.
Cednisöl 328. 330 f.
Centone 38. 201.
cera, tabula cerata 260. 284.
379.
cerarii 284.
ceromata 262.
Charakterzeichnung 187.
xdox7]g, clwrta 253. 264. 273.
' 279, 6. 281. 282. 287 f. 308.
323.328.345.352; Sorten
der Charta 270. 271. 298.
381: Fabrikation 264 ff.
278. 361f. 365;Eectound
Verso 268 ; Geldwert 278 f.
353 ff.
chartarii 266.
Xagxla als Pergamentblätter
368.^
/aQxojicoXrjg 270.
XStQCOV 49.
Xtgcov 49. 137.
Chinesen, Buchwesen 306;
ihr Hadernpapier 365.
chirographa 285. 287.
Chorlyrik 146. 183. 189.
yor]ox6g 54.
Christen, Xgrjoxcaroi 137.
Christliches Buchwesen 311.
334. 354 ff. 360 ff.
Christus, Xgtjoxög 137. 162.
cicirrus 126.
circumcidere libros 305, 1.
civitas 48.
Cliententum in der Littera-
tur 316 ff.
cludere statt claudere 22.
Codex 10. 260. 284. 308. 345.
360. 373 f. : codex ansatus
262. 357; Codexbuchwesen
350 ff. ; codicem componere
356.364; Codices antiquis-
simi 359; Codexformate bis
zum 5. Jahrh. 359 f. ; Co-
dices chartacei 360. 365 f. ;
Codex als Kapsel 356.
codicillus 260. 288. 289.
comma 127 Anm. 4.
commentum, commentarius
83. 285.
Compendien 139 f.
confectura 266.
Conlatinus 150.
Consecutio temporum 56.
conserere 106.
constitutiones der Kaiser 285.
contaminare 105 ; Contami-
nieren 188.
3. Sach-, Wort- und Personenverzeichnis.
391
cooperire 357.
cordoUum 45.
cornu, Laterne 331.
cornua der Eolle 299. 331 ff.
Corpus iuris 98.
corpus (librorum) 342. 343.
cottidie 45.
eroceus 291.
cruces interpretum 143.
Clin nos, Clin nobis 45. 78.
Cursor 287.
Custodenzahlen 358.
Cynismus 49.
Daktylen 59.
Daktylo-Epitriten 59 f. 70.
74 f.
Dative auf -i gelängt 71;
Dativ qui für cui 135;
Dativ ei 232.
dedicave 312 f. 318.
dedici für didici 136.
dem 150.
delere, charta deleticia 290.
dehoq 259, 4. 262. 263. 284.
297 f. 381; öehow 298.
Deminutiva 253.
ötjfwoieveiv puhlicare 308, 2.
denuo 45.
dentare chartam 299, 1.
deponere oculos 225, 2; 380.
derat für deerat 136.
Dialekte 5. 48. 55 f. 188.
Dialog 96. 188. 196 ff. 216.
229. 276.
diaoxEvr] 218.
Diatribe 179.
dicare 313.
Didaskalische Xotizen 90.
Digamma 70.
ÖixaioovvT] 54.
Diktat 134. 309 f. 324.
Diktion 188.
bioodcozixov jusoog 7.
dicfüsgai 254 ff r259. 264. 280 f.
329.
diq)&eoaloi(pog 254.
biffdegägiog 280.
Diphthong ae 49.
Diptychon, Triptychon 261.
Disposition der Eeden 176.
öidvQog 251. 257.
Dit\ographie 140.
divus 279, 6.
Dochmien 59. 72.
domina 54 f.
donatio Constantini 237.
Doppelte Niederschrift von
Texten 288.
Doppeltitel 154. 379.
Dramaturgie 182 ff.
Dramen, Kürze derselben
182.
duellum 134.
duplex 105.
Edition, edere 292. 307 ff.
313. 338. 342. 350. 382.
educere für educare 62.
ey-ygäcpeiv 302.
Ehekontrakte 285.
siöv?2iov 343, 1.
Eigennamen 126 f. 146.
elh]täoiov, £veiXr]f.ia 214:.
elv für Ev 62.
Einband der Bücher 357.
Eindichtung 219.
Einheitlichkeit der Hand-
lung 185.
Einsilbige Wörter 78. 234.
sI'qcov 54.
£XyQd(pElV 256.
EHÖooig 307. 334; Exöooig xax
ävöga 309.
ixloyai 214.
ExcpQaoig von Kunstwerken
EX^Xiyng 138.
Elegie 164. 225.
Elegisches Distichon 60.
elementum 55.
Eleusinien 167. 189.
Elfenbein 290; Elfenbein-
tafel 260. 261. 289, 5.
Elision 234. 235. 379; aus-
gedrückt in der Schriftl38.
eXiooeiv und Oomposita 272.
Ellipse des Eivai 230.
emendatio 7. 271. 290. 313.
enarratio 7.
Enkomien 179 f.
Enneakrunosquelle 113.
entheatus 47, 3.
Entlehnungen 202 f.
Epeisodien 183. 196.
EjTt] Prosazeilen 323.
Ephemeriden 285.
Ephesos 337. 339 f.
EJiiygafi'ia, Titel: 328.
Epigrammenbücher 343, 1.
Epigraphik 6. 251.
'EjTixoyxvXog 143.
Epilog 176.
Epimenides 254.
Episode 186.
Epistolographie 165. 180 f.
293.
Epitheton ornans 188.
Epitome 34. 214. 353.
ijioJiTideg {ßißkoi) 12.
Epos 186. 187 f. 202 f.
Epyllion 174.
ergo 228. ^
£Q/iir]VSV£lV 7. 41.
Erotik 204.
etenim 228.
Etmsker 259. 288. 307.
Etymologie 7. 48.
EV/LiikEia 184.
EVOEßrjg 54.
evenat 150.
exceptores 284.
E^ijyrjoig 7.
explere c. gen. 161, 1.
explicare, explicit, expUcitus
10. 272. 299. 304. 331.
Exultetrollen 283, 1 ; 296.
Exzerpte 172. 210. 214. 342.
344. 349 f.
fädlest für facilis est u. ä.
138 f.
Fälschungen 222 f. 226 ff.
Familienchronik 284.
Fannius, Fabrikant 270. 278.
Farbensinn 116.
fasciculi 288. 332 f.
Felsinschriften 249.
ferhuit 134.
Fescenninen 122.
Firmus, Kaiser 263, 5. 279.
Florilegien 35 f.
folium, qjvllov im Buch 252.
357.
fores 48.
formitatus 34.
fornus für furnus 22.
foruli 340.
Fragmente 210. 211.
Frauencharaktere 100.
Freigelassene als Verleger
311. 356.
Fries 293.
Freie Erfindung im Drama
185.
frons der Buchrolle 304 f.
331. 332.
Fuficius 129, 1.
functus für mortuus 239.
Futur mit dV 149.
Galliamben 69 f.
Gedankenlosigkeiten der
Autoren 117 f.
Gefäße, mit Schrift 252.
Geistiges Eigentum 318.
yEloTov 59. 189. 195.
Genetiv Plur. der Partie, act.
62.
Genius 188, 1.
yi'vofiat 137.
Glossare 42.
Glossatoren 98.
Glosse und Glossem 7. 33.
149. 152.
ykcooooxojiiov 335.
glutinum, gluten 267, 2 ; glu-
tinatores 269.
Glykoneus 70. 73.
gnatus 136.
Goldne Bücher 257 f.
Goldschrift 258. 306. 356.
Goldweberei 258. 381.
Gracchen 109.
Gräber, Bücher in Gräbern
334 f.
392
Inhaltsverzeichnisse.
Graffiti 249.
yQa^Haxixr] 3.
Grammatischer Eeim 71. 76.
grammatici officia 7.
ygäcfsiv 248; bei Homer 53.
gratari 62.
Griechen als Nachahmer der
Eömer 203 f.
Griechische Wörter latein.
flektiert 52.
yglcpog 121. 206.
Großrollensvstem 198. 295 f.
gida, gyla 23. 135. 136.
yvfxvaolaoxo? 226.
yvfivoi, Ol 123.
h, Aussprache 50 f. 135.
hahitior 34.
Hadrian 233.
haediliae 34.
Hämmern des Papiers 268.
Halbchöre 184.
Handtuch des Ehampsinit
258.
Haplographie 140.
haucl 135.
Heftung 259. 261.
Heldenbiographie 173.
Herculaneum , Bibliothek
340.
Herculanensische Eollen
326. 330. 336.
Hermodoros 223. 321.
Hexameter 59. 70 f. 80 f. 148.
231 f. 234 ; Elision im Hexa-
meter 160, 2.
Hiat 70. 144. 168.
hie und is, Ms und eis ver-
wechselt 136.
Hipponakteischer Vers 81.
hircum, circum 50.
hirnea 122.
Historische Monographie
174.
Historische Stoffe der Tra-
gödie 185.
Historische Werke , Dis-
position 172 f.
Holzplatten 256 f.
Homonyme 48 ff.
Honorarfrage 315 ff.
honos, onus 135.
horrea cJmrtaria 269. 279.
'Yyla für 'Yyieia 137.
Hymnen 173.
vjrayoQSVio 309.
V7i6fivi]^a 83.
Hypotaxis, Entstehung 56.
/ der Konsonant, als ii ge-
schrieben 133.
Jambenkürzungsgesetz 80.
Jambischer Trimeter 59. 75 f.
Icherzählungen 220.
Hie gekürzt 80.
Hlustrierte Bücher 101.
Imitationen 38. 202 f.
immortalis und deus 207.
implere 291.
inae 266.
index 223. 328.
induere 330, 4.
Infinitiv statt Imperativ 230.
Inhaltsübersichten (Sum-
marien) 11 f.
Initialen, entstellt 155.
inserere 106.
integer 105.
interductus 127.
Interpolationen 149 ff. 221.
interpretari 7.
Interpunktion 127 f. 379.
invideor 62.
Jonici 69 f. 74.
Josuarolle 306.
Ironie 116.
ista haec für istaec 150.
Itacismus 137.
Jüdisches Buch- und Schrift-
wesen 255. 275. 277. 282.
283. 296. 304. 324, 1. 329.
338. 366 Anm. 382.
ins 49.
ius iurandnm 45.
Justinian 98.
Kaiser und Könige mit dem
Buch 285.
Kakophonien u. xaxsfiq^axov
78.
kalendarium 285.
Kapitel 11.
xaxä MatdaXov 309.
xazaßaivBiv 114.
Katharsis 196.
Kaufmännische Buchfüh-
rung 284 f.
xetvog statt EHEivog 31. 126.
Hsgdiorog 53.
xsq^aleiov 12.
xe(fa/.ig 329.
Kinn : Hilfe des Kinns beim
Lesen 303.
Klanganapher 77. 377.
Klauseln 82. 378.
Klebungen im Buch 269. 297.
Kleine Wörter im Vers 77 f.
Kleinrollensj^stem 294 f.
Kleister 267.
Kloster- und Kirchenbiblio-
theken im 4. und 5. Jahrh.
362 ff.
I Koine 56 f. 149. 230.
' Kollation 14.
I Kolometrie 324 f.
i Kommentare 83. 170 f. 213.
[ q-Tö
I Kommos 184. 185.
I xatjucoöia 164; Komödie 56.
i nOO. 185 f. 204.
Komödientitel 153.
xottäxia 329.
xovzoqpoQOi 329, 8.
Kontraktion von Vokalen
(Synizese) 136. 150.
Kopieren nach Vorlage 310.
xogda^ 184.
Krasis 126. 149.
Kritik, xgi'otg 7 f.
Kursivschrift 13.
Kurze offene Silben in
Hebung 72. 377.
Kustoden 15.
xvdvsog 62.
xvgßeig 257.
Labdacismus 135.
lacuna 144.
Landkarte 282. 286. 292.
Lateinische Sprache 46 ; Aus-
dehnung des L. 55; Alt-
latein 56. 150; Afrikani-
sches L., Plattlatein 55;
Volkslatein 50.
Latein. Wörter griechisch
flektiert 47.
lauta für kdfxßöa 135.
Lavinus 39.
lectio 7.
Lehnwörter 46 f. 80.
Lehrschriften 175 f. 215. 23L
lemma 328.
Lesen, Lautlesen 102; Hal-
tung des Buchs beim.
Lesen 303 f.
Leukas und Ithaka 117.
kei'xcofxa 256 f.
Lexikographie 41 ff. ; Lexika
213.
Xe^ig eioofimn] 61.
lihellus „Bast« 253; ,Eolle«
274. 276. 289. 291. 292. 308.
381; Teil der Eolle: libri
libellomm 270.
liher „Bast" 252 ff.
liber „Eolle« 260. 270 f. 273.
276. 280. 282. 283. 293.
361.
liber singularis 381.
librarius 253. 303. 309.
Liebesbrief 181.
Lineal, plumhum 299.
lintei, libri 258 f.
Litterarisches Eigentum
nicht geschützt 198 f.
Litteraturgattungen 164 f.
Litteraturgeschichte und
Altertum 174.
Liturgische Texte 325.
loculamenta 340.
locus 381.
Aoyoygdq-oi 170.
Xoyog für öid/Myog 196; Xöyog-
= Buch 275. 381.
Loucana für Lucania 39.
3. Sach-, Wort- und Personenverzeichnis.
393
luci claro 150.
Lücken im Text 144 ff. 153.
Maecius Plaidus 139.
fid^sioa 53.
macrocoUum 320.
Märchen 174. 232 f.
Märtyrerlitteratiir 175.
Maesoleum für Mausoleum
135.
Magier 323.
Magistratsakten 285.
Malerei 248. 258 f. 305 f.
maUeiis, malleare libros 271.
302.
Malvenbast 252. 253.
maniiale lectorium 303. 341.
Masken 259.
Matris 152.
membranae 273. 280 ff. 285.
289 f. 291, 2. 305. 306. 329.
memhranariiis 280.
memhranum 291, 1.
/Moog 54.
Metaplasmus 118.
Milesische Erzählungen 105.
174.
Militärdiplome 251. 261. 381.
miluics, Messung 232.
Mimus 59. 196. 379.
mittere {libros) 313.
mom'für muri 137.
fioXvßdog 258.
momen 66.
monobiblos 11. 154. 241. 294.
381.
Monodien 184.
Monolog 187.
Mosaiken 261.
Münzen 5.
Mumienkartonage 334.
Mj^tacismus 79.
Nähen der Pergamentrollen
282 f.
Narbo, Narbonam 150.
narratio 176.
narrator u. exornator rerum
200.
Narthex-Ilias 296.
NsaJioXtrrjg 45.
ne car für val yäo 138.
Nekrologien 296?
nempe gekürzt 80.
Nereiden 120.
Nero 238.
nidus 340. 350.
Nilwasser 267.
vo^og des Terpander 179.
non sanus für insanus u. ähnl.
231.
nonscit für nescit 55.
notae iuris 139, 4. 379.
notarii 139. 284.
va&sverai 159. 226.
Normalzeile 323 f.
Novelle 174.
Numa, Bücher des 237.
Oblatio für ablatio 135.
H Obszönes 51. 170. 229. 348 ff.
Octavian 96.
oe und y vertauscht 137, 8.
offerre für auferre 135.
officiales rationis chartariae
279.
i oidafiev 149.
} operculum 290. 356.
I Opisthographa 292. 301 f. 326.
! optimus 54.
Orakel 52. 205 f. 258. 286. 328.
orare 55.
ÖQ^iaßoi 262.
Orthographie 5. 15. 47. 135 f.
\ -OS statt -US 136.
Ostraka 254. 259. 325.
Ostracismus 254.
oMvy] 259.
ovvofia 62.
paenula 291. 329. 331.
Päon 82.
Päpstliche Urkunden auf
Charta 365.
pagiiia 269. 297 ; pagina limi-
naris 358,5. 382; ordopagi-
narum 301. 369. 382.
Paläographie 13. 133.
i Palamedes 249.
! Palimpseste 20. 290.
Jidhv 53.
I Palmblätter 252.
I Pamphilos 354. 364.
I üiartoöajid 171.
Pantomimentexte 316.
I Papier 364.
Papierfabriken, moderne
352.
Papvrologie 6.
I papyrum 265. 266. 264, 5.
I Papyrus 263. 278.
i Papyrussteuer 263.
: parabsis für paropsis 135.
jiagaöiögßcootg 152.
jiagddooig 6.
jiaqayQaqjrj 127.
Paraphrasen 36.
TcaQajioisTv 170.
Tiagädeoig 45.
Parechese 77.
jiaoeyyQaqrsiv 221.
Tiaosxßaoig 186.
Parenthese 240.
nagen lygacpai 183, 5.
Parodie 174. 201.
Parodos 60. 183. 186.
Paronomasie 52.
Parrhasios 282. 305.
particip. praes., z. B. ferens,
passivisch 107. 378.
pegmata 340.
Pella 336.
Pentameter 71.
nenksy/Liert] 188.
Pergament 256. 280 ff. 292.
344 ff. ; Purpurpergament
356; pergamena 280; Per-
gamentrollen des Mxl.
296 f. Vgl. membranae, dicp-
Mgai.
Pergamum 336. 338 f.
Periakten 258.
periculum, Concept 289, 3.
Peripetie 189.
Persischer Eeisewagen 128.
Persisches Schriftwesen 254.
256. 282.
Persönlichkeiten 100 f. 226.
Personenverteilung im Dia-
log 130.
neCog 326 f.
(patvöhjg paenida 137.
(pdaizazog 149.
Philologie 3.
q?iX6koyog 3.
(piXovixog und (fdoveixog 137.
(pdvga 252 f. 257. 281.
Photographie 15.
(pQaCeiv 53.
Pilz 249.
niva§ 12. 257. 259, 4. 260. 286.
297. 339.
Piraeiis für Piraeeus 137.
Pisistratus 277. 379.
niOTOi 52.
Plagiate 199. 223 f. 380.
nkdtr] 249.
plicare 272.
pluteus 340.
Pnyx 113 f.
noirjoig, jromv „dichten" 227 f.
noEiv für noielv 137.
Polemische Schriften 207 f.
noAig 48.
Polybius, Claudii lib. 311.
nokvoTixog ijy.öooig) 31. 160.
Pompejanisches Gemälde
332.
Pompeji 249. 260. 261.
popina 48.
porta 48.
Porträts 369 f.
praefatio 301. 367 ff.; vgl.
Proöm.
praesse für praeesse 136.
praenotare 289. 381.
Präpositionen 45.
Predigt 179.
primaetas 138.
Privatabschriften 13. 315.
322. 325 ff. 363 f.
procurator bibliothecarum
337. 344.
p7'ode est,prode ambulare 138.
150.
394
Inhaltsverzeichnisse.
prodes. Ad]. 150.
jtQOSxdooig 219. 315.
jiQoex'&eoig 301, 3.
3iQOYQaq)rj 301, 3.
Prolog 186.
promiscuus 345.
Proöm 173. 175 f. 176. 198.
199. 228. 231. 346 ff.
proponere 308.
Prosa 60. 82. 136. 277 ; Kunst-
prosa 61.
jiQooxoU.äv 269.
Prosodie und ihre Verände-
rung 79 f. 374.
Pseudepigrapha 222 ff.
Pseudonyme 349.
tpoyog 59.
jiTvooeiv 257. 272.
pueri minuti 123.
pugülares 260. 288. 289 f. 346.
356. 375; Yitelliani 287.
pumex, pumicare 305, 1.
Punisch 188.
Purismus 46.
purus 166.
Putten 123.
jivlac 48.
JivgyioHog 340.
jiv^cov 260. 288.
quaternio 385.
que für quoque 68.
quia einsilbig 151.
Quinio, jisviddtw 358. 360.
quinque Pauschzahl 350.
Quintipor 45.
Quitte 381.
Rätsel 13. 120 ff. 257, 8.
ratio chartaria 279.
Eavennatische Papyri 268,7.
registrum 357.
Eeim 76. 377.
Eeisende mit dem Buch 353.
Eekomposition 45. 135.
reliquus, Messung 62.
Eesponsion 147.
Eesümees 157 f.
Ehapsoden 247 f.
Ehapsodie 173.
Ehetorik 81 f. 176.
Ehinozeros 104.
Ehythmik 61. 82 f.
Eiegel am Codex 261.
Eiemenverschluß der Bü-
cher 329.
Qo8odd}irv/.og 116.
Eollenbündel 332 f.
Eollenkasten 333.
Eom, Bibliotheken 336; Cen-
trale des Buchwesens 307.
311.
Roma 50.
Eoman 188. 293.
Romana, die Eömerin 65.
ruhens 116. |
rubrica 11. |
Euder, beschrieben 249. j
rullus 34.
Sais 271.
salarium 317.
Samniten 259.
oavidsg 251. 256. 260; oaviötov
257. 288. 297.
Sapphische Strophe 73 f. j
Satire 59. 95. 100. 101. 174. I
178.
Saturnaliengeschenke 351 f.
Saturnischer Vers 69. 70. 71.
Satyrspiel 188. 195.
Satzklauseln 30.
scapus 268. 269.
Schauspieler, Zalil derselben
184.
S chauspielerinterpolationen
159.
schedae 288. 290.
schedula, scedula 381.
Schicksalsidee 189.
Schild des Achill, karischer
SchUd 99.
Schlachtfelder 99.
Schlangenhaut 255.
Sclilangensäule, delphische
255.
Sclilußsilbe, offene, kurze
71 f.
Scholien 33. 83. 159. 171.
213. 326.
Schreiberlohn 322 f. 324.
Schreibtafel 253. 257; vgl.
Brieftafel.
Schrift 89. 138. 247 f. 260. 358 ;
scriptura continua 125 f. ;
das Schreiben 302. 305.
Schriftwesen 10.
Schüler, Schreibübungen
257 292
Schulwesen 353. 360.
Schwämme 111. 290.
sdlicet 45.
scissurae 266.
scribae mercennarii 303 ; anti-
quarii 364.
Scribonia 96.
scrinia 288.
secum iungere 106.
Seidene Bücher 259.
Seife 46.
Seitengespräche 184.
Seitenzählung, Kolumnen-
zählung 297.
Seitenüberschriften 359.
Selbstgespräch 212 (vgl.
Monolog).
Selbstverlag 310. 319. 320.
340.
aeXig 269. 297. 298.
Senatsakten 200. 284.
Seriphos 145.
sermonem severe 105.
Sibyllen 252.
Sicilia 61.
Siegel 261. 286. 287.289. 329.
Sigmatismus 23, 4. 78 f. 277.
377 f.
oixivi'ig 184.
Silbenzählung 324.
Silber- und Goldplättchen
257.
oiXXvßog, oizrvßog 328. 331. 333.
340.
similis c. gen. 66.
sinistra im siniis 332.
Siron 96. 137.
oxvx6.kr] 255.
Sokrates 47. 90. 100. 101.
169. 187, 1. 197. 229.
Soldatensprache 55.
Solözismus 118.
oöj^a 53.
OCO/MXtlOV 357.
ooifiorrjg 54. 231.
sortes 257.
spectare für exspectare 22.
ojiavöoysloiov 174. 195.
Spruchdichtung 227. 238.
ozdxcofia 357.
Stasima 183.
statio 103.
Stenographie 284.
Sterben auf der Bühne 184.
Stichometrie 39 f. 145. 323 f.
Stichomythie 188.
Stichworte , musikalische
111. 146, 2. 178.
stilus 260. 302 f.
ariCeiv, oicy/ut] 127.
Stoa 201. 222.
subscriptio 293. 327. 363.
382.
arQS(peiv 269.
Strophen in Gedichten xard
OTiyov 182.
Sufficius 129.
Sulla, Sylla 136.
superlectüis 150.
ovyygacpoqpvka^ 334.
ovyxoV.rjoifiog zö/tiog 270.
ovjUjuezQia zov /.oyov 181, 6. 294.
ovv und juszd 63, 1.
Synaphie 71. 73.
Synizese 38 f.
Synonji-ma 47 f.
ovvoifig 12.
ovvza^ig, ovvzayjua 342.
ovv&eoig 45.
tahellurius 286, 1. 287.
tabula, tahella 260. 284 ff. 286.
tabulae censiis 263.
tabulae Iliacae 212. 353. 373.
Tachygraphen,Stenographie
139. 309. 314 f.
3. Sach-, Wort- und Personenverzeichnis.
395
tarnen nachgestellt 161, 1.
rafiTov für xafiieiov 137.
Tamugadi (Timgad) 337. 339.
tantocius 138.
Taubenbecher des Nestor 99.
rdya 53.
tegumentum 357.
xeXog 301.
xsigdöiov 358.
Tempelarcliive 277.
Tendenzstücke 194 f.
Testamente 285.
t est es 49.
tevxog 275. 282. 333. 356. 357.
Theaterstücke, Geldwert
316.
Themistokles 254.
^Bog, fj 150.
d^vyareoEg 62.
Thyle ^136.
ik^oibeg 251.
Tiere, ihr Fortleben im
Hades 233.
tüia 252 f.
tinea 291.
Tisch 312.
Titel 193. 209. 223. 327 f.
343.348,1. 381; Titelver-
änderungen 153 ; Titel-
blatt 224. 299 f.; inscriptio
293; Ueberschriften von
Gedichten 12 ; titellose
Werke 301: Doppeltitel
154. 301. 379.
titulus, titus 382.
Töpfereien 252.
xöfiog, tomus 268. 270. 274.
280. 295. 322; tumulus 268.
Tontafeln 252.
Tragödie , Ursprung der-
selben 189 ; Definition 194.
XQaycpdia 164.
traditio 6.
„traditio legis" 304.
Trajanssäule 212. 293. 306.
Transkription des Griechi-
schen 47.
Triadengesetz 178.
tripudium 69.
xQiood, xsxgaood der Bibel 358.
Trochäen 59.
Trust der Fabrikanten 280.
tum in der Aufzählung 231.
xvgawog 193.
Türen, mit Schrift oder Re-
lief 249 ff.
Ueberschriften von Gedich-
ten 121.
Uebersetzungen 36. 41. 105.
201 f. 203.
ultima verba 175.
ultrix faina für ultionisl^l, 1.
umhilieus, Rollenstab 329 f.
Umbrische Tafeln 41.
unde gekürzt 80.
urhanus 54.
vagax 32.
Varia 171.
varium Carmen 171 f.
vasculum 275, 5.
Vaseninschriften 251 f. ; Va-
senbilder 259.
vel 147, 1.
vendere 103.
Verleger von Büchern 307.
310 f. 316 ff.
Versschlüsse 78.
Vesper für Hesperus 126.
vocare für vacare 135.
volvere und Oomposita 272.
Volumen 274. 276. 282. 285.
294 ; Volumen publicum 362.
Vorhang 184.
Vorlesung der Werke 310.
319, 1. 382.
Wachstafel 259 ff. 284 ff.
289 f. 345.
Wappenkunde 111.
Wappenrollen 296.
Widmung der Werke 312 f.
314. 318 f.
Widmungsexemplare 313.
318. 330.
Wort, Wortbedeutung 44ff.
53 f.
Wortakzent 81.
Wortkomposition 45. 59.
Wortstellung im Vers 71.
Worttrennung 125.
Wortwitz 48 ff. ; Witzlitte-
ratur 322.
Xerses für Xerxes 135.
vygog 53.
Zahlzeichen 132.
Zaubersprüche 250. 258.
Zeileninhalt der Seiten 19.
Zeilenstellung in der Buch-
rolle 297.
„Zettel" 381.
Zinn, gerollt 257, 9.
Zitate 30. 377.
Vorlesungen und Abhandlungen
aus dem Nachlaß von Ludwig Traube
weiland o. Professor der lateinischen Philologie des Mittelalters an der Universität München
Herausgegeben von Dr. FRANZ BOLL
0. Professor der klassischen Philologie in Heidelberg
Erster Band: Zur Paläographie und Handschriftenkunde. Herausgegeben von PAUL
LEHMANN. Mit biographischer Einleitung von FRANZ BOLL. 1909. LXXV, 263 Seiten
gr.80. Geheftet M 15.—, in Halbfranzband M 18.—
Zweiter Band: Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters. Herausgegeben
von PAUL LEHMANN. IX, 176 Seiten gr.8«. Geheftet M8.— in Halbfranzband M IL—
Dritter Band: Überlieferungsgeschichte der römischen Literatur. Herausgegeben von
FRANZ BOLL.
Vierter Band: Geschichte der Halbunciale. Herausgegeben von PAUL LEHMANN.
Fünfter Band: Gesammelte kleine Schriften. Herausgegeben von SAMUEL BRANDT.
Der Preis der Bände richtet sich nach dem Umfang. Als Subskriptionspreis sind für den
Druckbogen etwa 70 Pfennig angesetzt. Die Verlagsbuchhandlung behält sich eine Erhöhung
dieses Preises nach Abschluß der gesamten Publikation vor.
Quellen und Untersuchungen
zur lateinischen Philologie des Mittelalters
Begründet von LUDWIG TRAUBE
weiland o. Professor der lateinischen Philologie des Mittelalters an der Universität München
Subskriptionspreis für jeden Band M 15. —
Es liegen vor:
L Band, 1. Heft: Sedulius Scottus von Dr. S. HELLMANN, a. o. Professor der Geschichte
an der Universität München. XV, 203 Seiten Lex. 8^ Einzelpreis geheftet M 8.50
2. Heft: Johannes Scottus von E. K. RAND, Assistant-Professor of Latin at Harvard-
University. XIV, 106 Seiten Lex. 8*^. Einzelpreis geheftet M 6. —
3. Heft: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der ältesten lateinischen
Mönchsregeln von Dr. HERIBERT PLENKERS. XI, 100 S. Lex. 8« und zwei Tafeln in
Folio. Einzelpreis geheftet M 7. —
II. Band: Nomina sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzung von
Dr. LUDWIG TRAUBE, Professor der lateinischen Philologie des Mittelalters an der
Universität München. Mit Traubes Porträt. X, 287 S. Lex. 8". Einzelpreis geh. M 15. —
III. Band, 1. Heft: Franciscus Modius als Handschriftenforscher von Dr. PAUL LEHMANN.
XIII, 151 Seiten Lex. 8°. Einzelpreis geheftet M 7.—
2. Heft: Die Textgeschichte Liudprands von Cremona von Dr. JOSEPH BECKER.
VII, 46 Seiten Lex. 8«. Mit 2 Tafeln. Einzelpreis geheftet M 2.50
3. Heft: Die ältesten Kaiendarien aus Monte Cassino von Dr. E. A. LOEW.
XVI, 84 Seiten Lex. 8°. Mit 3 Tafeln. Einzelpreis geheftet M 6.—
4. Heft: Die Gedichte des Paulus Diaconus. Kritische und erklärende Ausgabe von
Dr. KARL NEFF. XX, 231 Seiten Lex.S». Mit 1 Tafel. Einzelpreis geheftet M 10.—
IV. Band, 1. Heft: Johannes Sichardus und die von ihm benutzten Bibliotheken und Hand-
schriften von Dr. PAUL LEHMANN. X, 237 Seiten Lex. 8». Einzelpreis geheftet M 10.—
2. Heft: Isidor- Studien von CHARLES HENRY BEESON, Associate Professor of
Latin in the University of Chicago. VII, 174 Seiten Lex. 8°. Einzelpreis geheftet M 7. —
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
Griechische Grammatik
(Lautlehre, Stammbildungs- und Flexionslehre, Syntax)
Von Dr. KARL BRUGMANN
ord. Professor der indogermanischen Sprachwissenschaft in Leipzig
4., vermehrte Auflage bearbeitet von
Dr. Albert Thumb
ord. Professor der indogermanischen Sprachwissenschaften in Strassburg
Mit Anhang über Griechische Lexikographie von
Professor Dr. LEOPOLD COHN, Bibliothekar der Universitätsbibliothek zu Breslau
XX, 772 Seiten Lex. 8" Geheftet M 14.50, in Halbfranzband M 16.50
[Handbudi der klassisdien Altertumswissenschaft. II. Band, I. Abteilung]
„Was aber kann man dem klassischen Philologen Empfehlenderes sagen, als daß diese
neueste Auflage noch mehr nach der philologischen Seite erweitert worden ist als die
früheren? Im einzelnen finden sich auf Schritt und Tritt, fast in jedem Paragraphen, Er-
weiterungen und Zusätze: das Buch ist so von 632 auf 772 Seiten angewachsen! Auch
durch manch glückliche Umstellung und durch Verwendung verschiedener Satzarten ist
eine recht übersichtliche Gliederung des Stoffes erzielt worden. Die Beispiele sind ver-
mehrt und besonders wertvoll sind die reichen Literaturangaben. Auch die vierte Auflage
von Brugmanns Buch ist nicht eine, sondern d i e wissenschaftliche griechische Grammatik
geblieben. " Wodiensdirift für klassisdie Philologie.
Lateinische Grammatik
Laut- und Formenlehre von Dr. FRIEDRICH STOLZ, ord. Professor der ver-
gleichenden Sprachwissenschaft in Innsbruck.
Syntax und Stilistik von J. H. SCHMALZ, Direktor des Großh. Bertholdsgym-
nasiums zu Freiburg i. B.
Mit einem Anhang über Lateinische Lexikographie von Dr. FERDINAND HEERDEGEN,
0. Professor an der Universität Erlangen. 4. Auflage. 1910. XVI, 779 Seiten Lex. 8°.
Geheftet M 15.—, in Halbfranzband M 17.50
[Handbudi der klassisdien Altertumswissensdiaft. IL Band, 2. Abteilung]
„Was zu der Bezeichnung der Auflage nicht hinzugefügt ist, »vermehrt und verbessert', war
bei diesem Buch, wenn bei irgendeinem am Platz. Die Art, wie Stolz und Schmalz hier
eine Lebensarbeit mit Berücksichtigung aller ihnen zugänglichen inzwischen erschienenen
Literatur weitergeführt haben, kann nicht genug gerühmt werden." Das humanistisdie
Gymnasium. — „Was seither die Verfasser auf dem ihnen im Handbuch zugewiesenen Ge-
biete gearbeitet haben, um ihrerseits dasselbe auf der Höhe der Forschung zu erhalten,
kommt äußerlich in einer Erweiterung der vierten Auflage um 12 Druckbogen zum Aus-
druck, entspricht aber auch inhaltlich selbst hochgespannten Forderungen in einer Weise,
die jedem billig Denkenden das Geständnis abnötigt, daß in gewissenhaftere Hände die
Bearbeitung der im vorliegenden Bande behandehen Disziplinen nicht hätte gelegt werden
können." Zeitsdirift für die österreidiisdien Gymnasien.
C. H. ßeck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
Geschichte der griechischen Litteratur
Von WILHELM VON CHRIST
In Verbindung mit Dr. OTTO STÄHLIN, ord. Professor an der Universität Würzburg,
neu bearbeitet von
Dr. WILHELM SCHMID, ord. Professor an der Universität Tübingen
I.Teil: Die klassische Periode der griechischen Litteratur, 6. Auflage. 1912. XIV,
771 Seiten Lex. 8°. Geheftet M 13.50, in Halbfranzband M 15.80
2. Teil, erste Hälfte: Die nachklassische Periode der griechischen Litteratur von
320 V. Chr. bis 100 n. Chr. S.Auflage. 1911. VIII, 506 Seiten Lex. 8».
Geheftet M 9.—, in Halbfranzband M 10.80
2. Teil, zweite Hälfte: Die nachklassische Periode der griechischen Litteratur von
100 bis 527 n. Chr. (nebst Register über das ganze Werk) wird im Herbst 1913
das Werk in der Neubearbeitung zum Abschluß bringen.
[Handbuch der klassisdien Altertumswissensdiaft. VII. Band]
Geschichte der römischen Litteratur
bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian
Von MARTIN VON SCHANZ
1. Teil: Die römische Litteratur in der Zeit der Republik. Erste Hälfte: Von den
Anfängen der Litteratur bis zum Ausgang des Bundesgenossenkrieges. Mit
Register. 3., gänzlich umgearbeitete und stark vermehrte Auflage. 1907. XII, 362 Seiten
Lex.8^ Geheftet M 7.—, in Halbfranzband M 8.80. — Zweite Hälfte: Vom Ausgang des
Bundesgenossenkrieges bis zum Ende der Republik. Mit Register. 3., ganz um-
gearbeitete und stark vermehrte Auflage. 1909. XII, 531 Seiten Lex. 8". Geheftet MIO.-,
in Halbfranzband M 12.—
2. Teil : Die römische Litteratur in der Zeit der Monarchie bis auf Hadrian. Erste
Hälfte: Die augustische Zeit. Mit Register. 3., ganz umgearbeitete und stark ver-
mehrte Auflage. 1911. X, 604 Seiten Lex.8o. Geheftet M 10.—, in Halbfranzband
M 12.— . — Zweite Hälfte: Vom Tode des Augustus bis zur Regierung Hadrians.
3., ganz umgearbeitete und stark vermehrte Auflage. 1913. XII, 601 Seiten Lex. 8".
Geheftet M 10.—, in Halbfranzband M 12.—
3. Teil: Die römische Litteratur von Hadrian bis auf Constantin (324 n. Chr.).
Mit Register. 2. Auflage. 1905. XVI, 512 Seiten Lex.S». Geheftet M 9.— in Halb-
franzband M 10.80
4. Teil, erste Hälfte: Die Litteratur des 4. Jahrhunderts. 2. Auflage im Druck. (Die
zweite, das ganze Werk abschließende Hälfte des 4. Teils erscheint baldmöglichst.)
[Handbudi der klassisdien Altertumswissensdiaft. VIII. Band]
Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters
Von MAX MANITIUS
Erster Teil: Von Justinian bis zur Mitte des zehnten Jahrhunderts
1911, XIII, 766 Seiten Lex.8o Geheftet M 15.—, in Halbfranzband M 17.50
]Handbudi der klassisdien Altertumswissensdiaft. IX. Band. 2. Abteilung. 1. Teil]
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
Kleine Schriften von Adolf Furtwängler
Herausgegeben von Prof. Dr. CURTIUS und Dr. JOHANNES SIEVEKING
Erster Band. VIII, 516 Seiten gr.S". Mit 46 Textillustrationen und 20 Tafeln
Geheftet M 20.— In Halbleder gebunden M 23.50
Inhalts verzeiclmis: Eros in der Vasenmalerei (1874) — Der Dornauszieher und der Knabe mit der
Gans (1876) — Intomo a due tipi d'Amore (1877) — Cista Prenestina e Teca di specchio con rappresen-
tazioni bacchiche (1877) — Büste Pans in Teiracotta (1878) — Der Satyr aus Pergamon (1880) — Arianna
dormente e Bacco sopra cratere etrusco (1878) — Aus der Umgebung Olympias (1880) — Eine Ausgabe
der Funde von Olympia in einem Bande (1882) — Zum Batliron des Anatliems des Praxiteles (1879) —
Inschriften aus Olympia (1879) — Von der Reise: Olympia (1888) — Zum Ostgiebel von Olympia, mit
Anhang (1891) — Zum Ostgiebel des Zeustempels in Olympia (1892) — Der Ostgiebel des olympischen
Zeustempels (1903) — Zu den olympischen Skulpturen (1893) — Bronze aus Olympia (1879) — Die
Bronzefunde aus Olympia und deren kunstgeschichtliche Bedeutung (1879) — Hektors Lösung (188-1) —
Bronzi arcaici provenienti dalla Grecia (1880) — Das Alter des Heraion und das Alter des Heilig-
tums von Olympia (1906) — Archaischer Goldschmuck (1884) — Der Goldfund von Vettersfelde (1883).
Verzeichnis der Tafeln:!. Cista Prenestina. 2. Due testine di bronzo. 3. Teca di specchio. 4. Bronze-
statuette aus Pergamon in Berlin. 5. Marmortorso in Berlin. 6. Sechs Satyrdarstellungen. 7. Cratere
trovato presso Filacciano. 8. Cratere rappresentante Bacco ed* Arianna. 9. Due vasi rappresentanti
Satiri e Baccanti. Pansbüste aus Athen. 10. Bronze aus Olympia. 11. Fragment eines Sarkophags in
Berlin. Kopf aus dem olympischen Westgiebel. 12. Kopf von Brauron in Attika. 13. Fibula e diadema
trovati presso Tebe. 14. Frammenti di bronzo trovati ad Atene e nella Beozia. 15. Archaischer Gold-
schmuck aus Korinth. 16. Archaischer Goldschmuck aus Athen, Kameiros, Melos und Delos. 17. Ar-
chaischer Goldschmuck aus Athen und Etrurien. 18. 19. 20. Goldfund von Vettersfelde.
Zweiter Band. IV, 532 Seiten gr.S«. Mit 158 Textillustrationen und 30 Tafeln
Geheftet M 24. — . Soeben neu erschienen! In Halbleder gebunden M 28. —
Inhaltsverzeichnis: Plinius und seine Quellen über die bildenden Künste (1877/78) — Zu Plinius
Katuralis Historia (1876) — Weiße attische Lekythos (1880) — Notizen aus England: Vasen (1881) —
Zwei Tongefäße aus Athen (1881) — Schüssel %'on Aegina (1882) — Kentaurenkampf und Löwenjagd
auf zwei archaischen Lekythen (1883) — Griechische Vasen des sog. geometrischen Stils (1885) — My-
kenische Vase in Marseille (1893) — Charon, eine altattische Malerei (1905) — Ein Wirtshaus auf einem
italischen Vasenbilde (1905) — Prometheus (1885) — Nebukadnezar (1885) — Phrygillos (1885) — Eine
Eros- und Psyche-Gemme (1888) — Studien über die Gemmen mit Künstlerinschriften (1888,89) —
Gemme des Künstlers Skopas (1893) — Der Augustus-Kameo des Aachener Lotharkreuzes (1906) —
Über ein auf Cypern gefundenes Bronzegerät (1899) — Bronzewagen von Monteleone (1905) — Bronze-
reliefs aus Perugia (1905) — Über einige Bronzestatuetten vom Rhein und von der Rhone (1891) —
Römische Bronzen aus Deutschland (1898) — Römisch-ägj'-ptische Bronzen (1901) — Apis und Hermes-
Thoth (1902) — Noch einmal zu Hermes-Thoth und Apis (1906) — Die Bronzeeimer von Mehrum (1891) —
Zu den Köpfen der griechischen Kolüenbecken (1891) — Zwei griechische Terrakotten (1907) — Neue
Denkmäler antiker Kunst I. IL in. (1897. 1900. 1905) — Orpheus, attische Vase aus Gela (1890).
Verzeichnis der Tafeln: 21. 22. Schüssel aus Aegina. 23. Salbgefäß in Berlin. 24. Vasen des geo-
metrischen Stils in Kopenhagen. 25. 26. 27. 28. Gemmen mit Künstlerinschriften. 29. Der Augustus-
Kameo des Aachener Lotharkreuzes. 30. 31. 32. Bronzewagen von Monteleone New York. 33. 34. Bronze-
relief aus Perugia in München. 35. Bronze der Sammlung Forst in Köln. 36. Merkurstatuetten in
Köln und Berlin, Erosstatuette in Bonn. 37. Bronzestatuette in Regensburg. 38. Bronzestatuette eines
Stieres. 39. Bronzestier im Museum Wallraf-Richartz Köln. Bronzestier im Provinzialmuseum Bonn.
40. Terrakottastatuette des Hermes. 41. Doppelherme von Marmor aus Cypern. 42. 43. Die Bronzeeimer
von Mehrum. 44. Bronzestatuette aus Olympia. Bronzekopf aus Sparta. 45. Bronzestatuette in Boston.
46. Zwei Bronzestatuetten im British Museum. 47. Zwei Terrakottaköpfe aus Tarent. 48. Altjonischer
Terrakottafries. Kalksteinkopf von Cypern. 49. Bronzekopf aus Rom. 50. Orpheus, Vase aus Gela.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
PA Birt, Theodor
39 Kritik land Hermeneutik
B5
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