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Full text of "Kritik und Hermeneutik nebst Abriss des antiken Buchwesens"

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HAND5UCH  DER  KLASSISCHEN 
ALTERTUMSWISSENSCHAFT 

in  systematischer  Darstellung  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen  Disziplinen 


In  Verbindung  mit  P.  Arndt,  G.  Autenrieth  f,  Ad.  Bauer,  Erich  Bethe,  Th.  Birt, 
Fr.  W.  V.  Bissing,  Fr.  Blass  t,  H.  Blümner,  Ad.  Bonhöflfer,  K.  Brugmann,  H.  Bulle, 
G.  Busolt,  W.  V.  Christ  f,  Leop.  Colin,  L.  Curtius,  K.  Dieterich,  H.  Dragendorff, 
K.  DyrofF,  A.  Ehrhard,  E.  Fiechter,  H.  Geizer  t,  E.  Gerland,  H.  Gleditsch  f,  O.  Gruppe, 
S. Günther,  C.  Hammer, F.  Heerdegen,  A.  Heisenberg,  G.  Herbig,  Fr.  Hommel,  E.  I lübner  t, 
Chr.  Hülsen,  W.  Judeich,  Jul.  Jung  f,  G.  Karo,  K.  Krumbacher  f,  W.  Kubitschek, 
W.  Larfeld,  H.  G.  Lolling  t>  E.  Lommatzsch,  E.  Löwy,  P.  Maas,  M.  M^itius,  P.  Marc, 
B.  Maurenbrecher,  A.  Mayr,  K.  J.  Neumann,  B.  Niese  f,  H.  Nissen  f,  iß:  Oberhummer, 
G.  Oehmichen,  E.  Pernice,  E.  Pfuhl,  B.  Piek,  A.  Eehm,  0.  Richter,  "g.  Rodenwaldt, 
G.  Roeder,  B.  Sauer,  M.  v.  Schanz,  H.  Schiller  f,  J.  H.  Schmalz,  W.  Schmid,  H.  Schmidt, 
A.  Schulten,  J.  Sieveking,  K.  Sittl  f,  O.  Stählin,  P.  Stengel,  Fr.  Stolz,  M.  Streck, 
L.  V.  Sybel,  Herm.  Thiersch,  A.  Thumb,  G.  Fr.  Unger  f,  L.  v.  Urlichs  f,  M.  Voigt  f, 
R.  Volkmann  f,  K.  Watzinger,  K.  Wessely,  Th.  Wiegand,  W.  Windelband,  G.  Wissowa, 
P.  Wolters,  R.  Zahn,  Th.  Zielinski 

Begründet  von    IwäH    VOIl    MÜllCF,    fortgeführt  von    Robcii    VOn    PÖhlmanil 


Erster  Band 

Einleitende  und  Hilfsdisziplinen 

Dritte  völlig  neubearbeitete  Auflage 
3.  Abteilung 

Kritik  und  Hermeneutik  /  Abriß  des  antiken  Buchwesens 

Von  Theodor  Birt 


C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 
OSKAR  BECK  MÜNCHEN  1913 


KRITIK  UND  HERMENEUTIK 


NEBST  ABRISS 


DES  ANTIKEN  BUCHWESENS 


VON 


THEODOR  BIRT 


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C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 
OSKAR  BECK  MÜNCHEN  1913 


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65" 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


J.  H  Beck'sche  Buchdruckerei  in  Nördlingei 

Frinted  in  Germany 


DEN  DEUTSCHEN  PHILOLOGEN 
UND  SCHULMÄNNEEN  ZU  IHEER 
52.  TAGUNG  IN  MAEBUEG  A.  L. 
IM   HEEBST    DES    JAHEES    1913 


DARGEBRACHT 
VOM  YEEFASSEE 


VORWORT. 


Als  ich  nach  Friedrich  Blaß'  Ableben  es  übemahm,  eine  dritte  Auf- 
lage der  „Kritik  und  Hermeneutik"  zu  besorgen,  konnte  ich  mich 
doch  nicht  entschließen,  die  Ausführungen  des  ausgezeichneten  Ge- 
lehrten nach  über  zwanzig  Jahren  einfach  zu  wiederholen,  noch  weniger 
aber,  sie  wie  ein  Korrektor  abzuändern.  Ich  habe  es  daher  vorgezogen, 
den  Gegenstand,  den  ich  auch  in  Vorlesungen  seit  langem  behandle,  in 
meiner  Weise  neu  vorzutragen,  indem  ich  an  meinen  Vorgänger  nur  hin 
und  wieder  mich  anlehnte.  Dabei  sind  von  mir  sowohl  die  „Paläographie" 
wie  das  „Buchwesen"  ausgeschieden  worden.  Kritik  und  Hermeneutik 
sind  die  Kunst,  mit  richtigem  Verständnis  zu  lesen;  die  Kenntnis  der 
Paläographie  und  des  Buchwesens  wird  von  ihr  vorausgesetzt  und  steht 
zu  ihr  in  dienendem  Verhältnis. 

Die  Paläographie  wird  von  kundigerer  Seite  in  diesem  „Handbuch" 
eine  Darstellung  finden.  Dagegen  habe  ich  die  Behandlung  des  Buch- 
Avesens  meinerseits  übernommen  und  der  Kritik  und  Hermeneutik  in 
diesem  Teilband  hinzugefügt.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um  eine 
Wiederholung  meines  früheren  umfangreicheren  Werkes  „Das  antike  Buch- 
wesen in  seinem  Verhältnis  zur  Litteratur",  zu  dessen  angemessener  Neu- 
bearbeitung ich  vorläufig  nicht  gelangen  kann,  sondern  um  eine  übersicht- 
lichere Zusammenfassung  und  deutlichere  Entwicklung  des  Wichtigsten 
und  Wissenswertesten,  wobei  ich  vielfach  die  neuen  Studien  und  Ergeb- 
nisse zugrunde  legte,  die  von  mir  in  dem  Buche  „Die  Buchrolle  in  der 
Kunst"  im  Jahre  1907  veröffentlicht  sind.  Denn  ein  Tag  belehrt,  wie 
man  sagt,  den  anderen,  und  so  ist  es  auch  nicht  wunderbar,  daß  der 
Leser  in  dem,  was  ich  jetzt  hier  vorlege,  wieder  nicht  weniges  antrifft, 
worin  ich  von  den  beiden  früheren,  ungleich  stoffreicheren  Werken  ab- 
weiche oder  sie  ergänzen  zu  können  glaube. 

Wende  ich  mich  zu  dem  Abschnitt  über  Kritik  und  Hermeneutik 
zurück,  so  werden  Aufbau  und  Gliederung,  die  ich  dem  Stoff  gegeben, 
einer  Rechtfertigung  kaum  bedürfen.  Die  Aufgabe  selbst  aber,  die  in  der 
Kritik  und  Hermeneutik  Behandlung  findet,  ist  im  Grunde  grenzenlos 
und  unerschöpflich.  Bin  ich  zu  ausführlich  gewesen?  oder  zu  karg?  Dem 
subjektiven  Ermessen  ist  bei  solchem  Thema  ungefähr  alles  anheimgegeben. 
Ich   habe   mich   bemüht,    für   die    methodologische   Erörterung   möglichst 


VTTT  Vorwort. 

zahlreiche  Gesichtspunkte  aufzustellen  und  sie  durch  eine  angemessene 
JBeispielgebung  zu  erläutern.  Diese  Beispielgebung  führt  aber  nicht  selten, 
ja,  fast  allerorts  mitten  in  die  Kontroversen  hinein,  die  die  heutige  For- 
schung bewegen.  Daher  die  gelegentlichen  Exkurse,  die  das  Gleichmaß 
des  Vortrags  beleben  sollen,  ohne  es  zu  zerstören. 

Der  Durchsicht  der  Druckbogen  hat  sich  Prof.  Chr.  Jensen  (Königs- 
berg) freundlichst  unterzogen  und  mir  zudem  mehrere  wertvolle  Hinweise 
gegeben,  die  ich,  vornehmlich  in  den  „Zusätzen",  noch  verwerten  konnte. 
Ebenso  haben  meine  Schüler  F.  Iber  und  G.  Esau  sorgsam  Korrektur  ge- 
lesen, bei  Herstellung  der  Inhaltsverzeichnisse  Dr.  H.  Hollstein  (Fulda) 
wesentliche  Hilfe  geleistet.  Allen  Genannten  sei  auch  an  dieser  Stelle 
mein  herzlicher  Dank  gesagt. 

Marburg,  18.  JuH  1913. 

Theodor  Birt. 


INHALTSÜBERSICHT 


Kritik  und  Hermeneutil^.  Seite 

Einleitung 3 

I.  Die  Textgrundlegung 10 

1.  Die  handschriftliche  Überlieferung 10 

2.  Zitate 29 

3.  Lexika 33 

4.  Exzerpte 34 

5.  Florilegien 35 

6.  Übersetzungen  und  Paraphrasen        . 36 

7.  Entlehnungen 37 

8.  Stichometrische  Angaben    ..........  39 

II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik 40 

A.  Formale  Auslegung  nach  Grammatik  und  Stil           ...  41 

1.  Das  Wort 44 

2.  Lehnwörter 46 

3.  Über  Homonyme  und  Synonyme 47 

4.  Die  Veränderung  der  Wortbedeutung 53 

5.  Einfluß  des  Dialekts 55 

6.  Einfluß  der  Litteraturgattung     ........  58 

7.  Individuelles          ...........  64 

8.  Metrisch-Prosodisches ;  Ehythmik  der  Prosarede       ....  69 

B.  Historische  Interpretation  und  Sacherklärung        ...  83 

1.  Biographisches 84 

2.  Zeitumstände .  93 

3.  Textauslegung 97 

III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes      ....  124 

1.  Wort-  und  Silbentrennung          .........  125 

2.  Eigennamen 126 

3.  Die  Veränderung  der  Akzente    .         .         .         .         .         .         .         .         .  127 

4.  Berichtigung  der  Interpunktion 127 

5.  Verteilung  der  Worte  an  die  Personen  des  Dialogs        ....  130 

6.  Verkennung  von  Zahlzeichen 132 

7.  Vertauschung  ähnlicher  Buchstaben 132 

8.  Der  Einfluß  der  Aussprache 134 

9.  Elision  vokalischer  Endungen  in  der  Schrift 138 

10.  Falsche  Auflösung  von  Compendien 139 

11.  Haplographie  und  Dittographie 140 

12.  Verstellung  von  Buchstaben  im  Wort 141 

13.  Auslassung  oder  Zufügung  eines  Buchstabens 141 

14.  Angleichung 142 

15.  Cruces .143 

16.  Lücken  im  Text 144 

17.  Umstellungen 147 


X  Inhaltsübersicht. 

Seite 

18.  Modernisierung  der  Sprache 149 

19.  Doppellesnngen  im  Text 151 

20.  Emendationsversuche  der  Schreiber  (jiagadioQi^coosig)        ....  152 

21.  Ausfüllung  von  Lücken 153 

22.  Buchtitel  gefälscht .  153 

23.  Falsche  Initialen 155 

24.  Einschaltung  erklärender  Notizen 155 

25.  Sachliche  Einschaltungen  zur  weiteren  Belehrung          ....  156 

26.  Äußerungen  des  Beifalls  oder  Tadels 157 

27.  Antwort  des  Lesers  auf  eine  Frage  im  Text 157 

28.  Resümees 157 

29.  Trieb  zur  Amplifikation 158 

IV.  Die  höhere  Hermeneutik  . 164 

A.  Persönlichkeit  und  Werkgattung 164 

B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerkc  ......  170 

1.  Kommentare 170 

2.  Lexika 171 

3.  Varia 171 

4.  Anthologien  und  Exzerpte 172 

5.  Die  Historiker 172 

6.  Die  kleinere  Erzählung  und  die  historische  K^leinarbeit          .         .  173 

7.  Lehrschriften 175 

8.  Redekunst 176 

9.  Kleinere  Gedichte  und  Briefe 177 

10.  Drama 182 

11.  Der  Dialog 196 

C.  Quellen  und  Vorbilder 198 

V.  Die  höhere  Kritik 213 

1.  Veränderungen  in  der  Buchteilung 213 

2.  Breviarien 214 

3.  Anstöße  in  der  Komposition 214 

4.  Postume  Werke  und  Verwandtes 216 

5.  Doppelte  Redaktion  und  Umdichtung 218 

6.  Athetese  einzelner  Abschnitte 221 

7.  Pseudepigrapha 222 


Abriß  des  antiken  Buchwesens. 

Einleitung 245 

I.  Beschreibstoffe 247 

1.  Naturwüchsiges 249 

2.  Türen  und  Älmliches 249 

3.  Geglättete  Steinflächen 251 

4.  Bronzeplatten 251 

5.  Vaseninschriften 251 

6.  Palmblätter 252 

7.  Baumbast 252 

8.  Ostraka 254 

9.  Tierhäute 254 

10.  Holzplatten,  Alba 256 

11.  Bleiplatten 257 

12.  Bücher  aus  Leinen 258 

13.  Die  Wachstafel     .        .    * 259 

14.  Die  Papyrusrolle 263 

15.  Das  Pergament 280 


Inhaltsübersicht.  XT 

Seite 

II.  Die  Verwendung  der  Beschreibstoffe 284 

A.  Praktische  Zwecke 284 

B.  Litterarisches 289 

1.  Das  Brouillon     • 289 

2.  Buchbegriff  und  Buchgröße 292 

3.  Das  Großrollensystem  der  älteren  Zeiten           .       • .         .         .         .  295 

4.  Eintragung  der  Schrift  in  die  Bolle  .......  297 

5.  Das  Lesen 303 

6.  BUderbücher  und  Goldschrift 305 

7.  Edition  und  Bucliliandel 307 

8.  Dedikation  und  Anekdota 312 

9.  Geldgewinn  def  Autoren     .........  315 

10.  Bücherpreise 322 

11.  Privatabschrift 325 

12.  Ausstattung  der  Rollen 327 

13.  Aufbewahrung  der  Rollen 332 

14.  Öffentliche  Bibliotheken 335 

15.  Neueditionen  und  Bücherverluste .  341 

16.  Das  Aufkommen  des  gehefteten  Pergamentbuchs    ....  344 

17.  Über  Martial  12..... 346 

18.  Der  Codex  das  Buch  der  Ärmeren 351 

19.  Beschaffenheit  der  Codices 356 

20.  Die  allmähliche  Übertragung  der  Litteratur  in  den  Codex    .         .  360 

Anhang  I 367 

Anhang  II 373 


Zusätze  und  Berichtigungen 377 

Inhaltsverzeichnisse 383 


KRITIK  UND  HERMENEUTIK 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft,    I,  3.    3.  Aufi. 


EINLEITUNG. 


Der  Pliilologe  mul5  Texte  lesen;  er  muß  sie  lesbar  machen,  erklären. 
Kritik  und  Hermeneutik  sind  gleichsam  die  beiden  Augen,  mit  denen 
er  liest.  Soll  es  die  Aufgabe  der  nachfolgenden  Ausführungen  sein, 
uns  Zweck  und  Wesen  der  philologischen  Kritik  und  Hermeneutik  zu 
verdeutlichen,  so  muß  dabei  zunächst  auf  einiges  Allgemeinere  zurück- 
gegriffen werden,  das  in  ähnlicher  Weise  auch  von  L.  von  Urlichs  in 
seiner  Grundlegung  und  Geschichte  der  klassischen  AltertumsAvissenschaft 
dargelegt  ist. 

Die  Philologie  ist  von  den  alten  Griechen  begründet  worden.  Jedoch 
hieß  sie  damals  nicht  „Philologie",  sondern  „Grammatik"  (}^^a//^aar<x:iy,  ^oa^aTiKö? 
sc.  rexvt]).  Ihre  Wesensbestimmung  aber  war,  daß  sie  als  die  Kunst  der 
Betrachtung  und  Untersuchung  dessen  galt,  was  man  in  den  Dichtern 
und  Prosaisten  findet  (Dionys.  Thrax  1  und  Schob  Dionys.  p.  667:  rexvrj 
&€a)QrjTixi]  Tcbv  Tragd  jzoirjTaTg  xal  Xoyevoiv.  Abweichendes  bei  Sext.  Empiricus 
adv.  grammat.  1,  44).  Sie  war  also  die  Kunst  und  der  Beruf  der  Be- 
trachtung des  Gesamtbestandes  der  Litte ratur.  Dazu  waren  allerdings 
auch  enzyklopädische  Kenntnisse  nötig,  die  uns  Quintilian  1,  4,  2  aufzählt, 
wie  Musiktheorie,  Astronomie  u.  s.  f.  Aber  diese  Kenntnisse  galten  nicht 
als  Selbstzweck;  sie  dienten  nur  der  Lektüre;  sie  halfen  nur  den  vor- 
liegenden Text  verstehen. 

Dies  die  „Grammatik"  im  Dienst  der  Schule.  cpdoXoyog  war  dagegen  (piXoXoyog 
ursprünglich  der  Gelehrte,  der  das  Wissen  mn  des  Wissens  willen  erwirbt, 
der  Vielwisser,  Polyhistor  und  Antiquarius.  Um  sich  von  den  eigenthchen 
Grammatikern  und  Schulleuten  zu  unterscheiden,  nannte  sich  zum  ersten- 
mal Eratosthenes  den  Philologen,  so  auch  später  Ateius  in  Eom  (Sueton 
gramm.  10)  sowie  Andromachos,  der  Gatte  der  Dichterin  Myro  (Wester- 
mann, Biograph.  S.  77).  Das  Wort  war  noch  nicht  Berufsbezeichnung. 
Später  freilich,  bei  Martianus  Capella  im  4.  Jahrhundert,  ist  dann  Philo-  Philologie 
logie  der  Inbegriff  der  höheren  Bildung  jener  Zeit  geworden  als  Summe 
des  enzyklopädischen  Wissens,  das  auf  Lektüre  und  Bücherkenntnis  be- 
ruht. Heute  hat  „Philologie"  endlich  die  Stelle  des  antiken  Begriffs  der 
Grammatik  eingenommen.  Sie  ist  ein  Schulbegriff.  Wenn  wir  aber  heute 
unseren  Beruf  und  unser  Lehrfach  nach  ihr  nennen,  dürfen  wir  nicht 
vergessen,  daß  das  Wort  nicht  ein  Wissen,  sondern  nur  die  Liebe  ziun 
Wissen  bedeutet;  das  (pdo-j  der  erste  Bestandteil  in  (pdo-Xoyog,  ist  zu  be- 
tonen. Philologie  ist  also  keine  Wissenschaft,  sondern  ein  Verlangen 
nach  ihr;  sie  ist  Forschung. 


4  Kritik  und  Hermeneutik. 

Ihre  Aufgabe  aber  hat  ijich  inzwischen  erhebHch  verändert,  nicht  nur 
deshalb,  weil  das  klassische  Altertum  für  uns  zeitlich  so  ferngerückt  und 
als  ein  abgeschlossenes  Yölkerleben  weit  liinter  uns  liegt,  sondern  auch, 
weil  sich  unser  Gesichtsfeld  heute  wesentlich  erweitert  hat;  wir  kom- 
mentieren heute  nicht  nur  Schriftsteller,  und  nicht  nur  die  Litteratur 
ist  es,  was  wir  erfassen,  sondern  das  Leben  der  alten  Zeiten  selbst. 
Dieser  weiten  Aufgabestellung  suchte  August  Böckh  zu  entsprechen,  in- 
dem er  der  Philologie  eine  umfassendere  Begriffsbestimmung  gab,i)  als 
selbst  Kant  sie  ihr  gegeben  hatte. 
Definition  Nach  Kant  ist  sie   diejenige  Disziplin,    „die    eine   kritische  Kenntnis 

der  Bücher  und  Sprachen  (Litteratur  und  Linguistik)  in  sich  faßt.  Einen 
Teil  der  Philologie  machen  die  Humaniora  aus,  worunter  man  die  Kenntnis 
der  Alten  versteht,  welche  die  Vereinigung  der  Wissenschaft  mit  Ge- 
schmack befördert.  ..."  Dies  läuft  auf  die  Vorstellung  hinaus:  Philologie 
ist  Wissenschaft  von  den  Werkzeugen  der  litterarischen  Gelehrsamkeit 
und  der  Geschmacksbildung.  2)  Böckh  stellte  die  Philologie  zur  Philo- 
sophie in  Gegensatz  und  definierte:  „Philosophie  ist  Erkennen  des  Un- 
erkannten, Philologie  ist  Erkennen  des  Erkannten";  d.  h.  die  letztere  hat 
die  Aufgabe,  alles  das  wiederaufzudecken,  was  die  Vorzeit  dereinst  in  Moral, 
Naturkunde,  Kimst  u.s.f.  erdacht  und  für  die  Menschheit  erworben.  Allein 
auch  diese  Definition  ist  noch  zu  eng.  Denn  wenn  z.  B.  der  Grammatiker 
fragt,  warum  griecliisches  C  aus  Jod  (in  Cvyor)  oder  aus  dj  (in  Zevg)  hervor- 
ging, so  ist  dies  kein  Erkennen  des  Erkannten  (denn  die  alten  Griechen 
waren  sich  dieses  Lautprozesses  nicht  bewußt),  sondern  es  ist  ein  Er- 
kennen des  Gewesenen.  Wir  sagen  also:  Philologie  ist  das  Erfassen 
alles  dessen,  was  im  Bereich  mensclüicher  Kultur  einmal  gewesen  ist; 
sie  ist  Rekonstruktion  vergangener  menschlicher  Kulturen.  In 
diesem  Sinne  reden  wir  auch  von  Altertumskunde;  Altertumsforschung 
aber  wäre  das  richtigere  Wort. 

Hiernach  erhebt  sich  noch  eine  Schwierigkeit.  Trifft  das  Gesagte 
zu,  wie  sollen  wir  dann  noch  die  Geschichtsforschung  von  der  Philologie 
trennen  und  unterscheiden?  Sind  nicht  beide  dasselbe?  In  der  Tat  sind 
sie  das  bei  oberflächlicher  Betrachtung;  und  doch  läßt  sich  das  scheinbar 
Identische  folgendermaßen  auseinanderhalten.  Der  Philologe  behandelt 
das  Gewesene,  der  Historiker  das  Geschehene.  Solange  ich  von  dem, 
was  vergangen,  die  einzelnen  Erscheinungen  und  das  in  sich  ruhende 
Detail  feststelle  und  untersuche,  bin  ich  Philologe.  Ich  werde  zum  Histo- 
riker, sobald  ich  die  Einzeltatsachen  in  ursäclilichen  Zusammenhang  zu 
stehen  beginne  und  ein  Hergang  entsteht.  Der  Historiker  kombiniert 
das  Gewesene  zum  Geschehen,  indem  er  Bewegung,  Werden,  eine 
Entwicklung  vorführt,  nach  den  Motiven  der  Veränderungen  fragt.  Der 
Philolog  analysiert  des  Sophokles  Antigene  als  solche  mit  größter  Sorg- 
falt, um  sie  als  Kunstwerk  und  Organismus  für  sich  allein  ganz  zu  be- 
greifen.    Für  den  Historiker  kommt  das  Drama  nur  als  Glied  einer  Ent- 


1)  Enzyklopädie  und  Methodologie  der   .  ^)  Vgl.  A.  Ludwich  in  Altpreuß.  Mo- 

phüol.  Wissenschaften  (s.  unten  S.  6).  j   natsschrift  40  (1903)  S.  244. 


Einleitung.  5 

Wicklung  in  der  Geschiclite  der  Dichtkunst  in  Betracht.  Der  Historiker 
läßt  uns  die  Varusschlacht  erleben;  der  Philologe  sucht  das  Schlachtfeld 
für  sie  festzustellen.  Daher  schreibt  der  Philologe  Kommentare  und  Ab- 
handlungen; der  Historiker  erzählt. 

Die  Aufgabe  der  klassischen  Pliilologie  ist  somit  das  Erforschen 
der  Kultur  der  sog.  klassischen  Völker.  Ihr  dienen  die  einzelnen 
Forschungsgebiete,  als  da  sind  Religionsgeschichte  und  Mythologie,  Staats- 
imd  Rechtsaltertümer,  Litteraturgeschichte  u.  s.  f.,  wie  sie  in  dem  groß 
angelegten  Unternehmen  des  Iwan-Mtillerschen  Handbuchs  der  klassischen 
Altertumswissenschaft  systematisch  verbunden,  doch  jede  selbständig,  vor- 
geführt werden. 

Ais  Quelle  aber  für  all  diese  Forschungsgebiete  dient  die  Litteratur     Hüfs- 
der  Alten,    die  erst  gelesen  sein  will,    die  uns   in  den  Handschriften  des  ^^^jg^ pi"ji^". 
Mittelalters  vorlieai  und  die  wir  durch  Kritik  und  Hermeneutik  benutzen      logi« 
lernen.    Aber  nicht  nur  diese  Litteratur;  weitere  wichtige,  ergänzende  und 
imentbehrliclie  Hilfsdisziplinen  sind: 

1 .  die  A r  c h ä o  1  o gi  e  als  Erforschung  der  antiken  Bildwerke  und  Bauten, 

2.  die  Epigraphik  oder  Inschriftenkunde, 

3.  die  Numismatik  oder  Münzkimde, 

4.  die  Papyrologie. 

Der  unermeßliche  Wert  der  Archäologie  und  auch  der  Epigrapliik 
steht  vor  aller  Augen.  Auf  Grund  der  Baubefunde  und  Inschriften  wird 
ja  heute  die  Stadt-  und  Baugeschichte  Roms  gemacht,  ebenso  die  Athens 
mit  seiner  Akropolis,  ebenso  die  Pergamons,  Prienes  u.  s.  f.  Wie  viel 
hat  uns  allein  das  ausgegrabene  Pompeji  gelehrt!  wde  viel  wird  nicht  das 
jetzt  auch  halbAvegs  ausgegrabene  Antinoe  lehren!  Mehr  als  viele  Autoren. 
Auf  Grund  der  Inschriften  werden  ferner  heute  die  griechischen  Dialekte, 
Jonisch,  Thessalisch,  Böotisch  u.  s.  f.,  dargestellt,  wird  seit  Ritschi  auch 
die  Geschichte  der  lateinischen  Orthographie  gemacht.  Aber  auch  die 
Münzen  haben  nicht  nur  handelsgeschichtlichen  Wert,  indem  sie  uns  un- 
mittelbar auf  den  antiken  Geldmarkt  versetzen;  ihre  datierten  Prägungen 
sind  oft  von  hohem  Kunstinteresse,  immer  aber  historisch  wichtig,  und 
ihre  Legenden  bringen  für  die  Grammatik  mitunter  wertvolle  Schreibungen 
(besonders  die  griechischen;  aber  auch  gen.  plur.  Romano)  oskisch  hampano 
f.  kampano  u.  a.).  Die  Papyri  endlich  überschütten  uns  mit  einer  Fülle 
der  Belehi-ung;  icli  erinnere  nur  daran,  daß  sie  uns  das  Griechisch  des 
Neuen  Testaments  besser  verstehen  lehren,  indem  sie  uns  das  echte  Volks- 
griechisch zeigen,  das  man  in  Ägypten  sprach. 

Selbstverständlicherweise  findet  nun  auch  auf  diese  vier  Hilfsdisziplinen 
die  Kunst  der  Kritik  und  Hermeneutik  Anwendung,  von  der  wir  handeln 
wollen.  Baureste,  Statuen,  Münzen,  Grabsteine,  Papyri  bedürfen  eben  auch 
der  Auslegung,  für  die  man  nach  sicheren  Methoden  sucht,  sie  bedürfen  auch 
der  Kritik ;  denn  ihre  Echtheit  ist  zu  prüfen,  an  Bauten  ältere  und  jüngere 
Bestandteile  kritisch  zu  sondern  (wie  an  der  Serviusmauer,  am  Theater 
in  Athen),  zwei  Teile  eines  in  Stücke  zerrissenen  Papyrus  sind  wieder  zu- 
sammenzusetzen u.  s.  f.  Aber  nicht  damit  haben  wir  uns  an  dieser  Stelle 
zu  beschäftigen.    Denn  auf  jenen  vier  Gebieten  der  Forschung  handelt  es 


0 


5  Kritik  und  Hermeneutik. 

sich  um  lauter  Originale,  die  das  Altertuin  uns  unmittelbar  vorlegt.  Auch 
die  heutige  Papyrologie  beschäftigt  sich  mit  lauter  Originalmanuskripten 
der  Antike.  Im  Nachfolgenden  soll  es  dagegen  vorzugsweise  unsere  Auf- 
gabe sein,  darzulegen,  wie  Kritik  und  Hermeneutik  an  solchen 
litterarischen  Werken  auszuüben  ist,  die  uns  indirekt  über- 
liefert sind. 

Die  antiken  Inschriften  sind  Yotivsteine,  Grabsteine,  Bauinschriften, 
Gesetzestafeln,  und  ihr  Inhalt  betrifft  meist  das  praktische  Leben.  So 
gehört  abei-  auch  der  Inhalt  der  Papyri,  die  uns  aus  Ägypten  so  reichlich 
zufließen,  großenteils  dem  praktischen  Leben  und  Privatverkehr  an :  Briefe, 
Urkunden,  Rechnungsablagen,  Quittungen  in  Unzahl.  Gleichwohl  besitzen 
wir  sowohl  Inschriften  wie  auch  Papyri  mit  Htterarischen  Texten,  und 
diese  beanspruchen  natürHch  unsre  höchste  Aufmerksamkeit.  Ich  erinnere 
nur  an  die  Fülle  der  Homerpapyri,  oder  an  den  Hyperides,  Alkman, 
Timotheos,  Herondas,  BakchyHdes,  Menander,  Autoren,  die  uns  nur  auf 
diesem  Wege  bekannt  geworden  sind.  Aber  auch  als  Steininschrift 
besitzen  wir  einen  epikureischen  Lehrabriß  (Inschrift  von  Oenoanda, 
ed.  Williams,  Lips.  1907),  Bruchstücke  einer  Rieseninschrift  über  grie- 
chische Komödie  (Körte,  Rhein.  Mus.  60,  444),  die  Gründungssage 
Magnesias,  eingegraben  an  den  Mauern  der  Agora  dieser  Stadt;  dazu  das 
Marmor  Parium,  dazu  das  Monumentum  Ancyranum  oder  das  Testament 
des  Augustus,  auch  letzteres  ein  Buchtext,  der  auf  Stein  pubhziert  Avurde. 
Dies  sind  die  Fälle,  in  denen  die  Epigraphik  und  Papyrologie  unserer 
Aufgabe  und  dem  Litteraturstudium  des  Pliilologen  auf  das  nützlichste 
entgegenkommt  und  sie  ergänzt. 

An  dieser  Stelle  haben  Avir  es  jedoch  nicht  mit  solchen  Texten  zu 
Aufgabe  tun,  die  uns  in  Originalniederschrift,  auch  nicht  mit  solchen,  die  uns  nur 
in  Exemplaren,  die  der  Antike  angehören,  vorhegen.  Über  sie  muß  die 
Papyrologie,  resp.  der  betreffende  Abschnitt  der  Paläographie  Auskunft 
geben.  Ich  will  hier  dagegen  ganz  vorzugsAveise  von  solchen  Texten 
handeln,  die  in  Abschrift  und  meistens  in  Aviederholter  Wiederabschrift 
durch  kontinuierliche  traditio  oder  jiagddooig  von  Kennern  and  Litteratur- 
freunden  aus  dem  Altertum  durch  das  Mittelalter  hindurch  uns  überhefert 
sind.  Sie  sind  es,  an  denen  sich  die  Kritik  und  Hermeneutik  in  erster 
Linie  zu  üben  hat. 

Fragen  Avir  endlich,  Avas  Kritik  und  Hermeneutik  wollen  und  wie  sie 
sich  zu  den  großen  Sachdisziplinen  der  Philologie  verhalten,  so  ist  die 
Antwort  durch  das  Gesagte  schon  angedeutet.  Sie  sind  ledighch  formale 
Disziplinen  und  füi^  die  Traktation  aUer  gi'oßen  Materialgruppen  der  Alter- 
tumskunde die  notAvendige  Voraussetzung.  Ilire  Behandlung  hat  darum 
propädeutischen  ZAveck.  Kritik  und  Exegese  sind  Aveder  Wissenschaft 
noch  Avissenschaftliche  Forschung,  sondern  Kunst  (rexvi]).  Sie  sind,  zu- 
sammengenommen, die  Kunst  der  Behandlung  und  Auslegung  von  Texten, 
oder  einfach:  sie  sind  die  Kunst  zu  lesen.  Einerlei,  ob  Avir  die  Autoren 
ästhetisierend  um  ihrer  selbst  Avillen  oder  ob  AA^ir  sie  nur  als  QueUe  füi- 
grammatische  oder  antiquarische  Untersuchungen  benutzen:  für  beide 
Zwecke  dient  Kritik  imd  Hermeneutik  gleicher Aveise. 


Einleitung.  7 

Nur  der  kann  eine  Kunst,  lernen,  der  für  sie  Talent  hat.  So  ist  auch 
die  Kunst  des  Lesens  nicht  für  jeden  lernbar.  Sie  ist  Sache  einer  be- 
sondei'en  philologischen  Begabung.  Hier  gilt  Huhnkens  Wort:  criticus 
non  fit,  sed  nascitur.  Die  Theorie  hinkt  hinter  der  Praxis  immer  er- 
bärmlich nach,  sowie  die  Poetik  des  Aristoteles  erst  kam,  als  die  Poesie 
Athens  ihr  Werk  vollendet  oder  doch  nahezu  vollendet  hatte.  Unsere 
Theorie  der  philologischen  Textbehandlung  kann  also  nicht  lehren,  wie  / 
man  Konjekturen  machen  soll  —  das  wäre  ein  verwegenes  Unterfangen  — , 
wohl  aber  kann  sie  lehren,  wie  man  sie  nicht  machen  soll.  Für  die  Kritik 
gilt  es  „per  exempla  docere",  gute  Vorbilder  in  Erinnerung  zu  bringen, 
vor  allem  klarzustellen,  durch  welche  Übergänge  im  Schriftwesen  die 
Texte  auf  uns  gelangt  sind  und  auf  welche  Ursachen  die  Textschäden 
^äelfach  zurückzugehen  pflegen;  für  die  Exegese  gilt  es,  die  Bedingungen 
sich  gegenwärtig  zu  halten,  unter  denen  jedes  einzelne  zu  interpretierende 
Werk  ursprünglich  entstanden  ist;  denn  jedes  Werk  ist  immer  aus  seiner 
eigenen  zeitlichen  Bedingtheit  zu  erklären. 

Hiernach  sei  einiges  zum  Wort  gebrauch  angemerkt.  Der  ältere  Herme- 
Ausdruck  für  „auslegen"  war  eQjUfjveveiv,  zunächst  das  Dolmetschen  des  "^^^^^^ 
in  fremder  Sprache  Gesprochenen  (Xenoph.  Anab.  5,  4,  4);  daneben  aber 
das  Yerständlichmachen  schwieriger  Dichterstellen  (rd  rwv  jioirjTOjv,  Plato 
Ion  p.  535) ;  öfter  so  bei  Dionys  von  Halicarnaß  und  Plutarch.  eQjurjvsla  el'g 
Ti  hieß  später  der  Kommentar  (Script,  ecclesiast.).  Daneben  steht  bei  Dionys 
von  Halicarnaß  auch  der  Ausdruck  „Exegese",  yga/njuaTixi]  e^rjyrjoig.  Dazu  die 
l^rjyrixaL  Exegeten  hießen  übrigens  auch  die  astrologischen  Zeichendeuter, 
so  auch  die  Ciceroni  oder  Führer  und  Erklärer  von  Kunstwerken  am  Ort. 
Der  Römer  sagt  interprefari,  interpretes. 

Ein  seltenes  Wort  im  Text  heißt  ylmooa  und  yXcooorjjua,  und  es  findet 
Erldäning  dm'ch  Einsetzung  des  geläufigen  Wortes,  des  övojua  xvqiov. 

Während  Avir  diese  Termini  auch  heute  im  gleichen  Sinne  weiter  Kritik 
führen  (nur  nennen  wir  heute  das  zur  Erklärung  eines  schwierigen  Aus- 
drucks verwendete  övo/ua  xvqiov  mißbräuchlich  „Glossem"),  so  steht  es 
anders  mit  dem  AVort  „Kritik".  Hier  ist  zu  erinnern,  daß  die  Alten  die 
Tätigkeit  des  Philologen  in  ^der  oder  auch  in  sechs  Aufgaben  (grammatici 
offtria)  zerlegten;  die  viere  sind  1.  lectlo,  das  richtige  laute  Yorlesen 
des  Textes  nach  Prosodie  und  Akzent  {ävayvcoorixov  juegog,  xard  JiQoowdiav), 

2.  emendatio,   die   Emendation  des   verderbten   Textes  (öioQ^corixov  juegog), 

3.  enarratio,  Sacherklärung  (eirjyrjrixdv  jusgog),  4.  iudicium,  Kunsturteil 
{xgnixov  /legog).  So  lehrt  das  Scholion  zu  Dionysios  Thrax  p.  659  Bekker.i) 
Die  Sechsteilung  bei  Dionysios  Thrax  selbst  gibt  fünf  geringere  officia: 
1.  das  Lesen,  ävdyvMoig,  2.  das  Erklären  nach  den  im  Text  verwandten 
rhetorischen  Figuren,  e^ijyrjoig  'xard  rovg  evvjidgxovrag  noirjxixovg  TQonovg, 
3.  sprachliche  und  sachliche  Erklärung,  Behandlung  der  yXwooai  und 
lOTogiai,  4.  granmaatische  Exkurse  über  Ableitung  der  Wörter,  hvjuoXoyiag 
fvgeaig,  5.  ebensolche  über  Formenlehre,  dvaXoyiag  exXoyiojuog;  dazu  endlich 
als  jueydXr]  rexvr}  6.  das  Kunsturteil,  xgioig. 

»)  Ebenso  Varro  bei  Diomedes  p.  421,   ,    Bayr.  Akad.  1892  S.  592  ff. 
nach  Tyrannio?  Vgl.  Usener,  Sitz.Ber.  d.   j 


S  Kritik  und  Hermeneutik. 

Die  alexandi'inischen  Gelehrten  verstanden  demnach  unter  Kritik  das, 

was  wir  weiterhin  als  höhere  Hermeneutik  bezeichnen  werden,   und  dies 

galt   ihnen   als   höchste  Aufgabe   und   xdXXiorov  juegog    der   pliilologischen 

Tätigkeit  (Dionjs.  Thrax):    die   künstlerische  Würdigung   einer   Schrift,  i) 

Wir  dagegen  brauchen  das  Wort  „Kritik"  in  ganz  anderem,   empirischen 

Sinne,  als  Prüfung  des  Standes  der  Überheferung  und  als  Vorbedingung 

zur  Diorthose  oder  zum  Teil  11  der  obigen  Einteilung. 

LLttoratiu-  Litteratur.    Die  Werke,  die  die  Geschichte  der  klassischen  Philologie  in  Alter- 

tum und  Neuzeit  behandeln,  aufzuzählen,  ist  nicht  dieses  Ortes  (s.  Urlichs,  Gesch. 
der  Philologie^  S.  41).  Ueber  die  Worte  q)d6Xoyog,  xQizixog,  ygafifjarocög  s.  K.  Lehrs, 
Progr.  Königsberg  1838;  Güdeman,  Grundriß  zur  Gesch.  der  klass.  Philologie,  1907, 
S.  1  ff.  Weiteres  bei  K.  Lehrs,  Aristarch^  S.  36  ff.  u.  198  ff.;  A.  Ludwich,  Aristarch 
II  S.  483  ff.  —  C.  G.  CoBET,  De  auctoritate  etc.,  in  Commentationes  philologicae  tres,. 
Amsterdam  1853. 

Uebrigens  sei  in  Auswahl  auf  folgende  Litteratur  verwiesen :  Jon.  van  derWowerbn, 
De  polymathia,  de  studiis  veterum  apospasmation,  Hamburg  1604  (auch  in  Gronovs 
Thesaurus  griech.  Altertümer,  Bd.  X  a.  1735).  —  Gerhard  Vossius,  De  philologia 
liber,  Amsterdam  1650.  4.  —  Jon.  M.  Gesner,  Isagoge  in  eruditionem  etc.,  Leipz.1756; 
ed.  altera  1784.  —  F.  A.  Wolf,  Vorlesungen  über  Enzyklopädie  und  Methodologie 
der  Studien  des  Altertums,  vom  J.  1786,  herausgegeben  von  Westermann  1845;  der- 
selbe, Darstellung  der  Altertumswissenschaft  nebst  Auswahl  s.  kl.  Schriften,  ed.  S.  F. 
W.  Hoffmann,  Leipz.  1833.  —  F.  Ast,  Grundlinien  der  Grammatik,  Hermeneutik  und 
Kritik,  Landshut  1808.  —  Chr.  Dan.  Beck,  Observat.  historicae  et  criticae  de  proba- 
bilitate  critica,  exegetica,  Programme,  Leipz.  1823  u.  24.  —  F.  Schleiermacher,  Herm. 
u.  Kritik,  1838  (Werke  Bd.  VII).  —  G.  Bernhardt,  Grundlinien  zur  Enzj^klopädie  der 
Philol.,  Halle  1832.  —  A.  Böckh,  Enzyklopädie  und  Methodologie  der  philol.  Wissen- 
schaften, ed.  Bratuschek,  Leipz.  1877;  2.  Aufl.  von  Klußmann,  1886.  —  W.  von  Hartel, 
Aufgaben  und  Ziele  der  klass.  Philol.,  2.  Aufl.,  Wien  1890.  —  H.  Usener,  Phüologie 
und  Geschichtswissenschaft,  Bonn  1882.  —  Zur  Hermeneutik  sei  noch  notiert: 
G.  Hermann,  De  officio  interpretis,  Opusc.  Bd.  VII.  —  C.  G.  Cobet,  De  arte  inter- 
pretandi,  Leiden  1847.2)  Zut  Kritik:  Fr.  Eobortellus,  De  arte  corrigendi  anti- 
quorum  libros,  Padua  1557  (wiederholt  bei  Caspar  Scioppius,  De  arte  critica  com- 
mentarius,  Amsterdam  1662).  —  J.  J.  Scaliger,  De  arte  critica,  Leiden  1619.  —  H. 
Valesius  (Valois),  Emendationes  und  De  arte  critica,  ed.  Burmann,  Amsterdam  1740.  — 
JoH.  Clericus  (Le  Clerc),  Ars  critica,  3  Bde.,  Lips.  1713.  —  F.  Bücheler,  Philol. 
Kritik,  Bonn  1878.  —  Auch  auf  Gercke  und  Norden,  Einleitung  in  die  Altertums- 
wissenschaft, Leipz.  1909,  sei  noch  hingewiesen,  wo  der  Abschnitt  über  „Methodik'' 
von  Gercke  verfaßt  ist  (2.  Aufl.  1912). 

Plan  Kommen  wir  nunmehr   zur  Sache.     Womit  beginnen?     Man  hat  ge- 

stritten, was  das  Frühere  sei,  Kritik  oder  Auslegung.  Der  Platoniker  Ast 
meinte,  die  Kritik  sei  das  Spätere;  zuerst  nehmen  wir  aus  dem  Text  die 
Antike  wie  eine  Wiedererinnerung  in  uns  auf,  die  Kritik  meldet  sich  nur 
gelegentlich,  wo  diese  Wiedererinnerung  sich  gehemmt  fühlt.  Umgekehrt 
urteilten  andere.  In  Wirklichkeit  lösen  sich  vielmehr,  wie  es  der  psy- 
chische Hergang  bei  der  wissenschaftHchen  Lektüre  von  selbst  ergibt, 
fünf  Aufgaben  folgendermaßen  ab: 

1.  Der  Philologe  beginnt  mit  der  kritischen  Leistung  der  Text- 
grundiegung.   Welcher  Wortlaut  ist  die  echte,  d.  h.  älteste  Überlieferung? 

2.  Hiernach  beginnt  das  erste  Stadium  der  Auslegung :  das  als  über- 
liefert Konstatierte  wird  seinem  Sinne  nach  bestmöghchst  zu  verstehen 
gesucht. 


1)  Hierfür   sei  nur   an  Aristarch   er-  i           ^)  Karl   Bone,    Usigaia    xexvijg   (sie): 

innert;  s.  W,  Bachmann,  Die  ästhetischen  !   über  Lesen  und  Erklären  von  Dichtwerken 

Anschauungen  Aristarchs  in  der  Exegese  (132  S.),  Leipz.  1909,  kann  nicht  ernstlich 

und  Kritik,  Nürnberg  1902  u.  1904,  in  Betracht  kommen. 


Einleitung.  9 

3.  Der  Leser  tritt  in  ein  drittes  Stadium;  hier  luid  da  hat  sich  Un- 
verständliches ergeben.  Die  Kritik  setzt  neu  ein  und  suclit  das  Unver- 
ständliche auf  irgendeine  Ursache  zui'ückzuf ühren  luid  aufzuklären :  negativ 
durch  den  Nachweis  der  Korruptel,  positiv  durch  die  Konjektui*. 

4.  Alle  Einzelschwierigkeiten  im  Text  sind  endlich  erledig-t.  Jetzt 
regen  sich  bedeutsamere,  umfassendere  Aufgaben,  und  zunächst  beginnt 
ein  viertes  Stadium;  die  höhere  Hermeneutik  setzt  ein.  Sie  fragt 
nach  dem  Gesamtplan  des  Werkes;  nach  der  Litteraturgattung,  der  es 
angehört,  und  wie  es  sich  als  Individuum  zu  seiner  Gattung  verhält? 
i]l^^'ieweit  sich  in  ihm  femer  die  IndividuaHtät  des  Autors  offenbart,  die 
den  feststehenden  Gattungscharakter  des  Werkes  leise  abwandelt  und 
modifiziert?  Sie  sucht  zu  erkennen,  ob  das  Werk  der  Jugend  oder  einer 
späteren  Lebenszeit  des  Autors  angehört.  Von  fragmentiert  erhaltenen 
Werken  sucht  sie  den  Inhalt  zu  erraten;  endlich  forscht  sie  nach  Quelle 
und  Vorbildern,  zu  dem  Zweck,  die  Arbeitsweise  der  Autoren  und  Dichter, 
die  wir  besitzen,  beurteilen  zu  lernen. 

5.  Bei  dieser  Art  der  Interpretation,  die  Avie  ein  inneres  Durchleben 
des  Schriftwerkes  ist,  regt  sich  nun  endlich  wieder  die  Kiitik;  die 
höhere  Kritik.  Es  haben  sich  Anstöße  ergeben,  die  sich  auf  keine 
organischen  Ursachen  zurückführen  lassen.  Es  erhebt  sich  die  Frage: 
kann  das  Werk  echt  sein?  ist  es  durch  Irrtmn  unter  einen  falschen 
Namen  geraten  oder  gar  absichtlich  gefälscht?  imd  zu  welcher  Zeit  hat 
die  Fälschung  stattgefunden? 

Es  soU  im  Nachfolgenden  demgemäß  von  mir  behandelt  werden: 
I.  Objektiver   oder   technischer   Teil   der   niederen   Kritik:    die  Text- 
grundlegung. 

IL  Die  niedere  Hermeneutik  oder  Einzelauslegung 

a)  formal,  sprachlich,  grammatisch  und  stilistisch, 

b)  material,  als  Sacherldärung. 

III.  Subjektiver  oder  ingeniöser  Teil  der  niederen  Kritik:  Emendation 
der  Textschäden. 

IV.  Höhere  Hermeneutik. 
V.  Höhere  Kritik. 


L  Die  Textgrundlegung. 

1.  Die  handschriftliche  Überlieferung. 

Das  Altertum  kannte  weder  Buchdruck  noch  Schreibmaschinen.  In 
Handschrift  geschah  nicht  nur  die  erste  Feststellung  des  Textes  durch 
den  Autor,  sondern  auch  seine  Vervielfältigung.  Daher  ist  es  für  alle  Text- 
kritik grundlegend,  sich  klar  zu  machen,  erstlich  Avie  das  Schreibmaterial 
und  das  Buch  beschaffen  war,  das  die  Texte  aus  der  Hand  des  Autors 
durch  Altertum  und  Mittelalter  zu  uns  trug,  zweitens,  in  welcher  Schrift- 
gattung die  Texte  vorliegen  und  ursprünglich  niedergeschrieben  worden 
sind.   „Buchwesen"  und  „Paläographie"  sind  Hilfsdisziplinen  der  Textkritik. 

Buciiroiie  Über  ersteres  ist  in  dem  „Abriß  des  antiken  Buchwesens"  dieses  Bandes 

ox  ^^^  Wichtigste  zusammengestellt.  Es  gilt  zu  wissen,  daß  das  Homerische 
Zeitalter  vielleicht  schon  die  Schrift,  aber  noch  kein  Buch  und  keine  Buch- 
vervielfältigung kannte;  daß  ferner  das  Buch  der  Antike  eine  Rolle  von 
mäßigem  Umfang  war,  die  nur  wenig  Text  aufnahm,  und  daß  der  ge- 
räimiigere  geheftete  Codex  erst  seit  dem  4. — 5.  Jahrh.  n.  Chr.  diese  Rolle 
als  Träger  der  Litteratur  wirklich  abgelöst  hat.  Die  Übertragung  des 
Textes  aus  Rollen  in  den  Codex  ist  überall  das  wichtigste  Ereignis  der 
Textgeschichte.  Ein  Codex  konnte  wohl  nicht  den  ganzen  Livius,  wohl 
aber  den  ganzen  Yergil  in  sich  aufnehmen.  So  sind  im  Codex  Clarkianus 
des  Plato  24  Dialoge  vereinigt;  Aeschylos  liegt  ims  mit  Sophokles  und 
mit  ApoUonius  Rhodius  in  einer  Florentiner  Hs.  vereinigt  vor.  Der 
Typus  der  Miscellenhandschrift  des  Mittelalters  brachte  es  mit  sich,  daß 
wir  die  herrenlose  Schrift  „Vom  Erhabenen",  Jiegi  iripovg,  mit  den 
Aristotelischen  (pvoixd  jtQoßhjjuara,  daß  wir  Senecas  Claudiussatire,  die 
„Apotheosis",  zusammen  mit  Heiligenviten,  medizinischen  und  anderen 
Fragmenten  überliefert  erhalten,  Theophrasts  Charaktere  in  rhetorischen 
Sammelwerken,  mit  Aphthonius,  Hermogenes. 

inscriptiou.  Eine   antike   Buchrolle    enthielt   dagegen   nie   mehrere  Bücher   (über 

scnp  lo  ^T^ignahmen  späterhin) ;  andererseits  mußten,  da  die  Rolle  nicht  groß, 
umfangreichere  Werke  in  mehrere  Bücher,  d.  i.  Rollen  zerfallen.  Wenn 
wir  über  jedem  Buch  eines  Autors  den  Werktitel  von  neuem  drucken 
(z.  B.  Lucanus  de  hello  civili  Über  V),  so  geht  dies  darauf  zurück,  daß  im 
Altertum  jedes  Buch  des  betreffenden  Werkes  als  Rolle  für  sich  bestand, 
jedes  also  auch  als  Anzeichen  seiner  Zugehörigkeit  des  genauen  Titel- 
vermerks mit  Numerierung  bedurfte.  Ebenso  schließt  jedes  Buch  mit 
dem  Vermerk  explicit  oder  explicitus,  d.  h.  „ganz  aufgerollt  oder  bis 
zum  Ende  aufgerollt",  und  wer  die  Originaledition  eines  Werkes  wie  der 
Aeneis  zur  Anschauung  bringen  will,  hat  auch  dies  jedesmal  ^^^eder  mit 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  H 

abzudrucken,  sowie  wir  auch  die  unverdächtigen  Buchüberschriften  genau 
abzudrucken  verpf Hebtet  sind.  Tragweite  hat  dies  letztere  z.  B.  bei  der 
Monohihios  des  Properz  (ein  liber  primus  des  Dichters  fehlt).  Jetzt 
endlich  hat  sich  ein  Herausgeber  dieses  Dichters,  C.  Hosius,  entschlossen, 
das  Monohihios^)  wenigstens  mit  in  den  Titel  zu  setzen.  Ebenso  gilt 
das  Gesagte  von  dem  Editio  ad  libellum  des  Apollinaris  Sidonius.  Dieser 
originelle,  durch  die  beste  Überlieferung  garantierte  Titel  besagt,  daß  die 
„Herausgabe",  personifiziert,  das  Gedichtbüchlein,  das  in  die  Welt  gehen 
soll,  anredet.^)  Weiter  ist  es  falsch,  in  der  T i b u  1 1  Sammlung  über  den 
Fanegyricus  MessaUae  gegen  die  Hss.  ein  über  quartus  zu  drucken, 
da  vielmehr  Panegyricus  MessaUae  die  antike  Aufschrift  der  auf  das 
dritte  Tibullbuch  folgenden  EoUe  war,  in  die  dann,  wie  es  scheint,  noch 
die  Tibullgedichte,  die  man  fälschlich  als  IV  2 — 14  numeriert,  im  Alter- 
tmn  als  Anhang  eingetragen  worden  sind.  Ein  „viertes"  Tibullbuch  gibt 
es  nicht.  Noch  verkehrter  aber  ist  es,  den  Inhalt  des  sog.  4.  Buches  des 
Tibull  zum  3.  Buch  zu  schlagen,  wie  Hiller  dies  tat. 

Weiter  aber  kann  ein  Einzelprosabuch  Avieder  in  Kapitel  sowie  ein  Kapitel- 
Gedichtbuch  in  Einzelgedichte  zerfallen.  Es  gilt  nachzuprüfen,  inwieweit  ^^^^"^^^ 
jene  Kapitelteilung  nebst  Kapitelüberschriften  sowie  die  dem  Gesamt- 
text oftmals  vorauf  geschickten  Inhaltsübersichten  antik  sind,  und  sie 
eventuell  sorglich  mit  abzudrucken.  In  diesem  Punkte  wird  bis  auf  die 
neueste  Zeit  noch  schwer  gesündigt,  indem  man,  was  echt  ist,  veruntreut 
und  unter  den  Tisch  fallen  läßt.  Neuerdings  ist  von  P.  Friderici^)  er- 
Aviesen,  daß  die  Kapitelteilung  von  Prosatexten,  wie  sie  im  Neuen  Testa- 
mente vor  uns  steht,  durchaus  antik  ist  und  in  Lehrschriften  soAvie  be- 
sonders in  Kollektivschriften  mit  oder  ohne  Überschriften  herrschte.  Zur 
Veranschaulichung  dienen  Inschriftentexte;  so  hat  schon  das  Gortynische 
Gesetz  Kapitelteilung.  Von  den  Herakleer  Tafeln  zerfällt  der  Text  der 
ersten  in  zwei  Teile,  die  durch  die  Überschrift  ovv&rjxa  Aiovvow  xmQOJv 
getrennt  werden.  So  also  auch  in  der  Litteratur.  Die  großen  Ilivaxeg 
oder  Schriftstellei'^^erzeichnisse  des  Kallimachos  zerfielen  in  Abschnitte 
mit  solchen  Überschriften  Avie  demva  öooi  eyQaipav  (Athenäus  p.  244  A). 
Jede  Vita  im  Buch  des  Nepos  hat  eine  Überschrift,  auf  die  gelegentlich 
gradezu  mit  hie  Bezug  genommen  wird,  wie  z.  B.  cap.  2:  Themistocles 
Neocli  fiUus  Atheniensis.  Huius  vita  ineuntis  adidescentiae  eqs.  Ebenso 
macht  es  Putilius  Lupus,  und  in  einem  inschriftlich  erhaltenen  Kranken- 
journal des  5.  Jahrh.  v.  Chr.  ist  das  Verfahren  schon  ganz  ähnlich: 
auf  der  großen  epidaurischen  Inschrift  IG.  IV  951  f.  werden  erst  immer 
kurz  die  Personalien  des  Kranken  gleichsam  als  Überschrift  gegeben, 
dann  mit  ovxog  die  Heilungsgeschichte  asjndetisch  angefügt.^)  Daraus 
erklärt  sich  bei  den  Pömern  der  Terminus  „Pubrik",  rubrica  (Digest. 
43,  1,  2).  Die  Kapitelüberschrift  wurde  nämlich  in  roter  Farbe  gemalt; 
so  schon   in   der  lex  Acilia  repetundarum  A^om  Jahr  123  auf  122  v.  Chr. 

^)  Ueber  monohihios  s.  Khein.  Mus.  64  ;  sione  atque  summariis,  Marburg  1911. 

S.  393  ff.  I  ^)  Auch   an   den  Achiqarpapj'^rus   sei 

2)  Max  Krämer,  Res  hbraria  cadentis  erinnert,   wo    die   einzelnen   Sprüche   ab- 

antiquitatis  u.  s.  f.,  Marburg  1909,  S.  49.  [  getrennt  stehen:  s.  Ed.  Meyer,  Papyras- 

')  De  librorum  antiqu.  capitum  divi-  •  fnnd  von  Elephantine  S.  111. 


12  Kritik  und  Hermeneutik. 

Man  hat  bei  den  Autoren,  z.  B.  bei  Catos  Schrift  vom  Landbau,  die  über- 
lieferten Kapiteleinteilungen  deshalb  beanstandet,  weil  bisAveilen  die  Sinn- 
abschnitte nicht  gut  getroffen  sind.  Dafür  aber  haben  Avir  den  klassischen 
Beleg  des  Monumentum  Ancyranum,  dessen  Einteilung  —  auch  nach 
Mommsens  Urteil  —  nicht  besser  ist. 

Der  Begriff  caput  muß  noch  einmal  besonders  untersucht  werden,  i) 
Vielleicht  deckt  sich  Keq)dXaiov  damit.  Nach  meiner  Meinung  heißt  caput 
im  Buchwesen  ursprünglich  „Anfangszeile  eines  Abschnitts"  und  danach 
ist  dann  der  Abschnitt  selbst  so  benannt,  aucli  gelegentlich  numeriert 
worden.  2) 
Summarieii  Ebouso  siud  aber  endlich  auch,  wo  nicht  zA\'ingende  Yerdachtsgründe 

vorliegen,  die  überlieferten  Summarien  an  den  Werk-  oder  Buchanfängen 
echt  und  vorne  mit  abzudrucken,  wie  dies  jetzt  H.  Mutschmann  in  seinem 
Sextus  Empiricus  einsichtig  getan.  Echt  sind  sie  z.  B.  auch  in  Josephus' 
Antiquitates ;  echt  ist  der  niva^  rwv  xecpalaUov  des  Rhetors  Hermogenes, 
vor  allem  das  erwähnte  Summarimn  des  Cato,  Avie  icli  schon  früher  betont 
hatte  und  wie  es  Friderici  mit  sprachlichen  und  sachlichen  Gründen  er- 
härtet hat.  Nicht  anders  steht  es  dann  mit  Columella,  Palladius  u.  s.  f. 
Plinius  hat  in  seiner  Natm-geschichte,  Avie  es  scheint,  Überschriften  ver- 
mieden, aber  sein  ganzes  1.  Buch  für  die  Inhaltsübersicht  seines  stoff- 
reichen  Werks  eingeräumt,  und  darin  Avar,  wie  er  uns  sagt,  Yalerius 
Soranus  sein  Vorbild,  dessen  ßlßkoi  sjiojzTideg  genannten  Bücher  demnach 
nichts  anderes  als  „Übersichten",  eigentlich  „die  Hüterinnen"  bedeuten. 3) 
Der  Ausdruck  eTiojirideg  steht  dem  ovvoyng  „Compendium"  nahe  (Plutarch 
Mor.  p.  1057  C). 
Gedicht-  Dagegen  richten  sich  berechtigte  Zweifel  gegen  geA\dsse  Gedichtüber- 

schrrften  schriftcn,  solclicr  Gedichte  nämlich,  die  geringeren  Umfangs  und  nur  Teile 
eines  Buchs  sind.  In  Horaz'  Oden  müssen  sie  nicht  allzu  lange  nach  des 
Dichters  Tod  hinzugefügt  sein,  da  sie  gute  Personalkenntnisse  A^erraten.*) 
In  Wirklichkeit  scheint  es  erst  nach  Ovids  Tod  allmählich  Sitte  geworden 
zu  sein,  auch  die  Einzelgedichte  im  Sammelbuch  mit  Titeln  zu  versehen. 
Zweifelhafte  Zeugen  sind  Statins'  Silvae,  sichere  Zeugen  Martials  Buch 
XIII  und  Xr\^.  Zuerst  aufgekommen  ist  dies  Verfahren,  wie  ich  ver- 
mute, im  Dienste  der  Anthologien  oder  Gedichtauslesen.  Dahin  gehört 
das  frülieste  mir  bekannt  gCAvordene  Beispiel,  die  Überschrift  "lajußog 
0oivixogy  die  in  einem  Sammelpapyrus  des  2.  Jahrh.  a'.  Chr.,  nachdem 
anderes  voraufging,  den  Phönixtext  eröffnet.  5)  Ebenso  muß  es  Meleagros 
in  seinem  Zrecpavog  gehalten  haben,  der  für  die  einzelnen  Epigramme, 
die  er  gab,  solcher  Titel,  die  den  Dichter  nannten,  doch  nicht  entbehren 

1)  Hieronymus  nennt  das  Kapitel  auch  crimina    selbst    kurz    formuliert   mitteilt, 
comma,   s.  Vulgata,   praef.  lob:    lihri  par-  wie     z.    B.     De    Postumi    criminihus,    so 
vum  comma  quod  remanet ;   und  in  Habac.  sind  das,  wie  ich  meine,  Kopfworte  oder . 
3,11,  p.  649:    commatice  per  capitula    dis-  Titelüberschriften,  mJ)^Y<7,  für  die  die  Aus- 
seramus.  arbeitung  fehlt. 

2)  Ueber  Kapitelzählungen  im  Alter-  ^)  Friderici  S.  56. 

tum  Friderici  S.  12  f.   Wenn  Cicero  pro  *)  Vgl.  Ad.  Kibsslixg,  Progr.  Greifsw. 

Murena  §  57   nicht  die  Widerlegung   der       1876. 

einzelnen  gegen  Murena  gerichteten  An-  j  ^)  Siehe  Gr.  A.  Gerhard,  Phoinix  von 

klagepunkte  ausarbeitet,  sondern  nur  die  '    Kolophon  >S.  5. 


I.  Die  Textgrnndlegung.      1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  13 

konnte.  Nicht  älter  als  Meleager  ist  der  Bakchjdidespapyrus,  der  nicht 
nur  Überschriften  zeigt,  sondern  auch  einige  Gedichte  alphabetisch  nach 
den  Titeln  ordnet,  i)  Die  zu  Theokrit  erhaltenen  Titel  sind  zum  Teil 
verdächtig.  Erst  in  der  Spätzeit,  in  der  Zeit  des  Ausonius,  wo  die  Ge- 
wohnheit sich  durchgesetzt  hatte,  hat  man  solche  für  die  älteren  Dichter, 
Yergils  Eclogen,  Properz,  Martials  Buch  I — XII,  nachträglich  erfunden 
und  zugesetzt.  Gewisse  Gedichtüberschriften  in  der  Anthologia  Palatina 
scheinen  aber  doch  verhältnismäßig  alt  zu  sein,  d.  h.  noch  vor  des  Ausonius 
Zeit  zu  fallen,  da  sie  Ausonius  mit  übersetzt;  dies  gilt  von  Anthol.  Pal. 
16,  275  elg  äyaX/ia  tov  KaiQov,  vgl.  Auson.  epigr.  11  in  simulacrum  Occa- 
sionis  et  Paenifentiae,  und  16, 129  eig  äyaX^ua  Nioßrjg,  vgl.  Auson.  epigr.  51 
in  Signum  marmoreum  Niobes. 

Insonderheit  sind  es  die  Rätsel,  die  uns  in  der  Spätzeit  regelmäßig 
mit  Überschrift  entgegentreten;  die  Überschrift  gibt  uns  dann  jedesmal 
die  Lösung,  und  sie  ist  unentbehrhch.  Das  sehen  wir  nicht  nur  bei 
Symphosius,  sondern  auch  Anthol.  lat.  281 — 284;  481  ff.;  also  z.  B.: 

De  funambulo. 
Vidi  hominem  pendere  cum  via, 
cui  latior  erat  planta  quam  semita, 
ein  Verfahren,    das    von   Martials   Geschenkbüchern  XIII  und  XIV    aus- 
zugehen scheint;  denn  auch  Martials  Geschenkbeschreibungen  wären  uns 
ohne  den  Titel,  der  das  Rätsel  löst,  oft  sehr  schwier  verständlich. 

Gehen  wir  w^eiter  und  kommen  endlich  zui*  Hauptsache.  Wer  heute  Paiäo- 
eine  Textausgabe  zu  machen  unternimmt,  muß  vor  allem  auch  alte  Hand-  """^p^'* 
Schriften  lesen  können,  und  das  lehrt  die  Paläographie.  Das  Mittelalter 
hat  durch  zehn  Jahrhunderte,  vom  6. — 15.  Jahrhundert,  Klassikerabschriften 
geliefert,  und  es  ist  nicht  immer  leicht,  die  Zeit  und  womöglich  auch  den 
Ort  der  Herkunft  der  Handschrift,  die  man  eben  benutzt,  zu  bestimmen, 
wennschon  es  auf  der  Hand  liegt,  daß  die  Schrift  des  14.  Jahrhunderts 
anders  aussah  als  die  des  8.,  und  in  Irland,  Schottland  anders  geschrieben 
wurde  als  in  Spanien.  Aber  auch  die  Buchschrift  des  Altertums  selbst 
kennen  wir  jetzt  aus  den  Papyri  und  sind  so  in  der  Lage,  uns  für  jeden 
antiken  Autor  die  Beschaffenheit  der  ersten  Originaledition  seines  Werkes 
annähernd  zu  rekonstruieren.  Der  Autor  schrieb  seinen  Text  im  Entwurf 
zunächst  auf  Wachstafeln  oder  Membrane,  zumeist  geiviß  in  Kui'sivschrift. 
Die  vom  Verleger  zum  Verkauf  bestimmten  Textkopien  wurden  mit  Sorg- 
falt vorwiegend  in  Unzial-  und  Kapitalschrift,  und  zwar  auf  Charta  ge- 
schrieben; Privatabschriften  dagegen  wiederum  oft  minder  sorglich  in 
Kursive.  Jedenfalls  gab  schon  dies  erste  Kopieren  eine  Fülle  von  An- 
lässen zur  Textverderbung.  So  ist  es  wahrscheinlich,  daß  schon  Varius 
oder  der  erste  Herausgeber  des  Vergilischen  Catalepton  in  das  c.  IIb  die 
schweren  Textfeliler,  die  uns  beschäftigen,  hereintrug,  weil  er  das  Brouillon 
auf  der  Wachstafel  nicht  sicher  lesen  konnte. 

*)  v.WiLAMOWiTZ,  Die  Textgeschichte  '  dagegen    bei    Strabo    p.  728    Zificoviörjg   tV 

der    griechisclien    Lj^riker,    Abhandl.  der  i  Ms/nvovi    dißvQdfißco    xxX.   zitiert,    so    füllte 

Göttinger  GW.  1900  ».  43,  führt  diese  Auf-  ;  diese;-  Memnon,  ob  echt  oder  nicht,  jeden- 

schriften  auf  die  zu  supponierende  Text-  j  falls  ein  ganzes  Buch, 

ausgäbe  tier  Alexandriner  zurück.     Wird  : 


14  Kritik  und  Hermeneutik, 

Doppel-  Dagegen  ist  es  unglaublich,  daß  Textvarianten  oder  Doppellesungen, 

und"edh;k)  ^16  ujis  lieute  vorliegen,  bis  auf  das  Brouillon  des  Autors  selbst  zurück- 
princeps  gehen  könnten.  Für  Senecas  Tragödien  hat  man  z.  B.  versucht,  die 
Lesungen  beider  Handschriftenklassen  E  und  A  auf  Seneca  selbst,  der 
sein  Konzept  durchkorrigiert  hätte,  zui'ückzuführen.  Aber  dem  wider- 
spricht das  antike  Editions-  und  Yervielfältigungsverfahren.  Denn  bei 
einer  gleichzeitigen  Herstellung  von  100  oder  500  Exemplaren  nach  Diktat 
konnten  nicht  wohl  durchgehende  Varianten  aus  dem  Konzept  mit  über- 
nommen werden.  Auch  für  Ovids  Metamorphosen  läßt  sich  solche  Ver- 
mutung i)  nicht  genügend  begründen.  In  keinem  Fall  bleibt  es  ims  dem- 
nach erspart,  zu  entscheiden,  welche  Lesung  der  Autor  selbst  in  die  editio 
princeps  seiner  Zeit  hat  aufgenommen  wissen  wollen. 

Woher  aber  sind  jene  Varianten  in  den  Texten  entstanden?  Darüber 
einiges  in  Kap.  IIL 

Das  aufgestellte  Postulat,  daß  wir  den  Text  der  antiken  editio  prin- 
ceps wiederherzustellen  versuchen  müssen,  duldet  Ausnahmen  nur  in  Hin- 
blick auf  Autoren  hohen  Alters  und  von  besonders  schwieriger  Text- 
geschichte wie  Homer  und  Plautus.  Plautus  selbst  schrieb  noch  keine 
Doppelkonsonanz,  noch  kein  ?/,  kein  c,  und  wir  sind  zufrieden,  den  Text 
dieses  Komikers  annähernd  so  wiederherstellen  zu  können,  wie  er  etwa 
in  den  letzten  Dezennien  vor  VaiTOS  Ausgabe  hergestellt  worden  war  und 
wie  Varro  ihn  dann  weitergab.  Auch  für  gewisse  Fragmentsammlungen 
trifft  dies  beiläufig  zu.  Für  die  Fragmente  der  alten  jonischen  Philo- 
sophen sucht  Diels  nur  die  Textform,  in  der  sie  die  Alexandriner  lasen, 
wiederzugewinnen,  und  mit  den  Pesten  der  römischen  Saliarlieder  müßte 
es  nicht  anders  gehalten  werden.  Maurenbrecher  hätte  sich  in  seiner 
Sammlung  dieser  Peste  damit  zufriedengeben  sollen,  sie  so  vorzulegen, 
wie  Aelius  Stilo  sie  las,  edierte  und  kommentierte,  und  die  problematischen 
Vermutungen  über  den  ursprüngUchen,  d.  i.  präliistorischen  Wortlaut  der 
Gesänge  durchgängig  in  die  Anmerkung  verweisen  sollen. 
Kollation  Nähern  wir  uns  nunmehr  der  Sache.    Es  gilt  zunächst  von  der  vor- 

Hegenden  Hs.  eine  Kollation  anzufertigen.  Man  trage  sie  an  den  Rand 
eines  nicht  zu  unmodernen  Druckes  ein,  achte  auf  Kompendien,  Kor- 
rekturen, Pasuren,  auf  Interpunktion,  unterscheide  Korrekturen  erster, 
zweiter  und  eventuell  noch  weiterer  Hände.  Anwendung  der  Lupe  ist 
dazu  nötig.  Bisweilen  finden  sich  dieselben  Errata  in  verschiedenen  Hand- 
schriften, und  es  läßt  sich  daraus  auf  eine  nahe  Zusammengehörigkeit 
schließen.  Oftmals  gibt  die  durchkorrigierende  zweite  Hand  eine  ganz 
andere  recensio  als  die  erste;  so  steht  es  z.  B.  mit  der  Haupthandschrift 
des  Polybius,  dem  Vaticanus  des  11.  Jahrhunderts;  so  auch  mit  dem 
Bernensis  A  des  Valerius  Maximus.  2)  Im  Laurentianus  L  des  Euripides 
sind  nur  de  Korrekturen  erster  Hand  {L 1),  nicht  die  zweiter  Hand  {l  bei 
Prinz)  von  Wert. 

Aber  auch  darauf  ist  acht  zu  geben,    ob   der  Text   selbst  von  einem 

1)  R.  Helm  in  der  Festschrift  f."  Joh.  2^  Vgl.  L.  Traube,   Sitz.Ber.  d.  Bayr. 

Vahlen,  1900,  vS.  337  f.  i   Akad.  1891  S.  387. 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung. 


15 


Abschreiber  oder  von  mehreren,  die  sich  ablösten,  hergestellt  ist.  Im 
,, Codex  Vetus"  B  des  Plautus  lösten  sich  am  Schluß  der  Hs.  mehrere 
Schreiber  ab;  diese  schwanken  dabei  in  orthograpliischen  Dingen,  und 
der  eine  bewahrte  diese,  der  andere  jene  Eigentümlichkeit  der  Vorlage; 
s.  LiNDSAY,  Ancient  editions  of  Plautus  S.  136.  Ebenso  ist  die  beste 
Pro[)erzhandschrift  von  zwei  Sclireibern  hergestellt,  die  in  der  Ortho- 
_;raphie  zum  Teil  verschiedene  Prinzipien  befolgen. i) 

Man  notiere  beim  Kollationieren  ferner  Beschaffenheit  des  Beschreib- 
uiaterials,  Seitenhöhe  mid  -breite,  Zeilenzahl,  Länge  und  Höhe  der  Schrift- 
zeilen, Heftung  und  Einteilung  der  Blattlagen.  Man  suche  nach  ein- 
getragenen Notizen,  die  auf  Ort  und  Zeit,  Urheber  oder  Besitzer  der  Hs. 
einen  Schluß  ermöglichen ;  gewisse  orthographische  Erscheinungen  (espiritus 
f.  Spiritus)  weisen  eventuell  auf  französische  Herkunft.  2)  Man  übersehe 
endHch  auch  die  Kustodenzahlen  am  Schluß  der  Blattlagen  nicht,  die, 
falls  alt,  den  ursprünglichen  Bestand  der  Handschrift  garantieren.  Aus 
den  Kustoden  a\  ird  erschlossen,  daß  der  Cod.  Decurtatus  C  des  Plautus,  der 
Cod.  L  des  Properz  ursprünglich  vollständiger  war.  Die  erste  Blattlage 
im  Cod.  L  des  Properz  ist  mit  dem  Kustodenzeichen  K  versehen;  also 
gingen  ihr  9  Lagen  voraus,  die  die  Kustoden  A  bis  /  trugen.  Diese 
Lagen  reichten  grade  aus,  um  den  Catull  imd  Tibull  aufzunehmen.  Also 
enthielt  L  ursprünglich  die  drei  römischen  Elegiker.»)  Dei-  Decurtatus 
des  Plautus  trägt  davon  seinen  Namen,  daß  er  von  20  Plautusstücken  nur 
die  letzten  12  enthält,  die  sich  auf  30  Blattlagen  verteilen.  Aber  seine 
vierte  Lage  läßt  die  Kustodenzahl  XX  noch  erkennen,  ebenso  die  vier- 
zehnte die  Zahl  XXX  u.  s.  f.,  woraus  sich  derselbe  Schluß  ergibt;  ur- 
sprünglich gingen  noch  16  Quaternionen  voraus,  die  just  ausreichenden 
Platz  für  die  fehlenden  8  Plautuskomödien  boten.  Es  war  dies  also  ur- 
sprünglich eine  vollständige  Plautushandschrift.^) 

Eine  große  Hilfe  ist  jetzt  die  Photographie, 5)  und  sie  kann  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  Kollation  ersetzen.  Für  ein  erstes  Kennen- 
lernen von  Handschriften  ist  nichts  praktischer,  als  sich  ein  paar  Seiten 
daraus  .typen  zu  lassen.  Von  den  bedeutsameren  Codices  hat  man  nicht 
wenige  sogar  ganz  abphotographiert  und  so  zu  allgemeinem  Nutzen  ver- 
öffentlicht. Das  war  vor  allem  bei  solchen  dringende  Pflicht,  die  durch 
ihr  hohes  Alter  gelitten  haben  oder  sonst  schlecht  konserviert  sind.  Ich 
erwähne  das  von  de  Vries  in  Leiden  geleitete  großartige  Unternehmen 
der  „Codices  graeci  et  latini  photographice  depicti".  Jedoch  liegt  auf  der 
Hand,  daß  über  gewisse  oft  belangreiche  Subtilitäten,  wie  verschiedene 
Farbe  der  Tinte  und  Rasuren,  das  photographische  Abbild  nicht  Aus- 
kimft  gibt.  Selbstsehen  ist  also  in  allen  wichtigen  Fällen  immer  noch 
geboten.     Davon,  daß  Ribbecks  Kollationen   zu  Vergil  nicht  überall  zu- 


1)  Siehe  den  Propertius  phototypico 
editus,  Leiden  1911,  praef.  S.  XIII  ff. 

■^)  Die  orthographischen  Eigentümlich- 
keiten von  Hss.  französischer  Herkunft 
bei  Ch.  Eice,  The  phonologie  of  Gallic 
clerical  Latin,  Harvard  Universit.  1902. 

^}  P.  Köhler,  De  Properti  cod.  Lusatico, 


Marburg  1899,  S.  4  f. 

*)  Vgl.  über  die  Kustoden  im  Bruxel- 
lensis  des  Olaudian  meine  Claudianaus- 
gabe  S.  XCVI. 

^)  Vgl.  Krumbacher,  Die  Photographie 
im  Dienste  der  Geisteswissenschaften. 


Plioto- 


16  Kritik  und  Hermeneutik.    . 

verlässig,  überzeugt  man  sich  z.  B.  leicht  i)  an  der  Hand  der  schedae  Vati- 
canae  F,  die  in  der  angegebenen  Weise  reproduziert  vorliegen.  Aber 
erst  seitdem  ich  diese  Schedae  auf  der  Vaticana  selbst  einsah,  kann  ich 
darüber  Genaues  aussagen.  So  steht  dort,  um  ein  paar  Beispiele  heraus- 
zugreifen, Georg.  III  3  vacua  mit  übergeschriebenem  s  über  dem  Schluß-a. 
Dies  s  ist  aber  nicht  in  der  üblichen  Unzialform,  ferner  mit  schwärzerer 
Tinte  geschrieben,  also  nicht  von  erster  Hand.  Im  selben  Vers  geben 
die  Schedae  carmin  mit  übergesetztem  a;  dies  a  ist  sichei*,  keinesfalls  e, 
und  ist  von  m.  1 .  Ebenso  ist  dort  III  5  das  über  BVSIRIS  übergeschrie- 
bene DI  von  m.  1 ;  in  dem  QVOI  des  nächsten  Verses  6  aber  ist  Q  und  0 
nicht  etwa  wegradiert,  wie  Ribbeck  sagt,  sondern  durch  zufällige 
Schabung  des  Pergaments  imdeutlich  geworden.  III  14  steht  deutlich 
PROPTEAQyAM'  zu  lesen;  das  R  hinter  E  ist  weggelassen,  Eibbecks 
Angabe  ganz  hinfällig,  u.  s.  f. 
Fiiiation  Catull   liegt   nun   aber   in    über  70,    Claudian   in   über  100  Hss.  vor, 

Priscians  Grammatik  in  gegen  1000,  Homer  in  unzähhgen.  A.  Ludwich 
und  Th.  W.  Allen  *)  haben  sich  die  Mühe  genommen,  annähernd  sämtliche 
Homerhandschriften  wirklich  zu  vergleichen.  Doch  kann  kein  Apparat 
all  die  Lesungen  aufnehmen,  und  man  hat  bei  Neueditionen  in  solchem 
Falle  zunächst  nur  Stichproben  von  allen  Hss.  zu  nehmen,  um  danach 
aus  der  Fülle  diejenigen  auszuwählen,  die  nach  AusAveis  charakteristischer 
Lesungen  als  beste  Vertreter  eines  Typus  eine  vollständige  Durchver- 
gleichung  verdienen. 

Hier   erhebt   sich   die  Aufgabe   der  Fiiiation  der  Handschriften. 

In  früheren  Zeiten,  als  das  Reisen,  als  auch  das  Versenden  noch 
nicht  so  erleichtert  war  wie  heute,  und  man  auch  noch  nicht  photo- 
graphierte,  benutzte  man  für  den  Text  irgendwelche  Handschriften,  die 
sich  eben  darboten.  Ein  methodisches  Verfahren  brachten  die  ersten  Jahr- 
zehnte des  19.  Jahrhunderts,  und  Immanuel  Bekker  gab  Muster  der  Hand- 
schriftenbenutzung auf  griechischem,  C.  Lachmann  auf  lateinischem  Ge- 
biet. Treffliche  methodische  Erwägungen  gab  auch  H.  Sauppe  in  seiner 
Epistola  critica  (Ausgewählte  Schriften,  1896,  S.  82  ff.).  Doch  waren  auch 
sie  nicht  ohne  rülimenswerte  Vorgänger ;  ich  nenne  nur  Nie.  Heinsius,  den 
weitgereisten,  der  z.  B.  für  seinen  Claudian  schon  nahezu  alles  wichtigste 
Material  heranzog  und  zum  Teil  richtig  wertete. 

Erster  Grundsatz:  Ist  eine  Handschrift  aus  einer  andern,  die  wir 
noch  haben,  kopiert,  so  ist  nur  diese  zu  benutzen;  denn  was  jene  etwa 
Eigentümliches  darbietet,  kann  nur  auf  Willkür  und  Konjektur  beruhen. 
So  verwerfen  wir  im  Plato  viele  Hss.,  weil  sie  aus  dem  Venetus  T,  den 
wir  besitzen,  oder  aus  dem  Clarkianus  sich  herleiten.  Der  Text  der  Pala- 
tinischen  Anthologie  begründet  sich  auf  der  einen  berühmten  Pfälzer 
Hs.,  die  zur  Hälfte  in  Heidelberg,  zur  Hälfte  in  Paris  liegt.  Wenn  Stadt- 
müller in  seiner  Ausgabe  noch  vier  Abschriften  gelegentlich  heranzieht, 
so   haben    deren   abweichende    Lesungen   nur   konjekturalen  W^ert.     Eine 

^)  Vgl.  über    den    Mediceus    Vergils   i  ^)  Homeri  opera  recogn.  D.  B.  Monho 

M.  HoFFMAXN,  Progr.  von  Pforta  1889  und   I   et  Th.  W.  Allen,  ed.  alt.  Oxford  1908. 
1901. 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  17 

Ausnalime  tritt  natürlich  ein,  falls  die  Vorlage  nicht  mehr  vollständig  ist, 
wie  im  Festus,  der  nach  einer  einzigen  Neapler  Handsclirift  gedruckt 
wird;  für  die  in  ihr  verloren  gegangenen  Quatemionen  8,  10  und  16  sind 
aber  natürlich  die  früh  hergestellten  Kopien  zu  benützen. 

Zweiter  Grundsatz:  Man  bevorzuge  die  älteren  Hss.  vor  den 
jüngeren.  Auch  dies  scheint  selbstverständlich.  Es  wäre  ein  Unsinn, 
Vergil  nach  Hss.  des  9. — 12.  Jalirhimderts  zu  drucken,  da  Avir  die  des  5. 
besitzen.  Aber  erst  die  Neueren  konnten  dies  planvoll  durchführen, 
E-ibbeck  im  Vergil,  Ritschi  und  seine  Schüler  im  Plautus,  Schanz  im 
Plato,  Lachmann,  Tischendorf,  dann  Westcott  und  Hort  im  Neuen  Testa- 
ment. Besonders  das  14.  und  15.  Jahrhundert  war  eine  gefährliche  Zeit, 
die  Zeit  der  wiedererwachten  Eleganz  und  der  E/enaissancemänner,  die 
pflatt  lesbare  Texte  haben  wollten  und  sie  darum  durch  dreiste  Inter- 
polationen  lesbar  machten.  Unsere  Scheu  vor  den  schönen  E/Onaissance- 
handschriften  ist  daher  begreifUch.  Gleichwohl  kann  zufälligerweise  ein- 
mal der  Fall  eintreten,  daß  w^ir  solch  junges  Manuskript  bevorzugen 
müssen;  so  in  Ciceros  Rede  pro  Cluentio  die  Hs.  aus  Salzburg  des 
15.  Jahrhunderts.  Auch  im  Claudian  gibt  der  späte  Ambrosianus  A,  im 
Properz  der  Lusaticus  L  unerwartete  und  erwünschte  Hilfe.  Jedenfalls 
sind  die  sog.  deteriores  in  Zulvunft  durchw^eg  planvoller  heranzuziehen, 
als  man  es  bisher  zumeist  getan  hat. 

Dritter  Grundsatz:  Je  mehr  Hss.  nun  aber  von  einem  Autor  vor-^  stemma 
Liegen,  desto  zahlreicher  pflegen  die  Abweichungen  zu  sein,  und  es  gilt, 
die  vielen  nach  gewissen  Merkmalen  zu  klassifizieren.  Bezeichnen  wir 
sie  mit  Buchstaben  und  stehen  sich  auf  der  einen  Seite  die  Hss.  AB  CD, 
auf  der  anderen  EFGH  besonders  nahe,  so  kommen  nicht  eigentlich 
mehr  diese  acht  Einzelhandschriften  in  Betracht,  sondern  nur  der  Con- 
sensus  jeder  der  beiden  Klassen,  die  wir  etAva  Klasse  a  und  ß  nennen. 
Nur  was  a  oder  ß  bietet,  ist  dann  die  garantierte  alte  Lesung.  Weicht 
D  von  ABC,  also  von  a  ab,  so  erweckt  er  unser  Mißtrauen.  Denn  a 
und  ß  sind  dann  eben  die  verloren  gegangenen  Grundhandschriften. 
Diese  müssen  nun  irgendwie  w^eiter  auf  eine  gemeinsame  Vorlage,  den 
sog.  Archetypus  zm'ückgehen.  So  ergeben  diese  durch  sorgsame  Varianten- 
vergleichimg  festgestellten  näheren  Beziehungen  also  scliließlich  das, 
was  wir  das  Stemma,  den  Stammbaum  der  Hss.  nennen.  Aus  den  vor- 
handenen Kindern  werden  ihre  Ahnen  und  ersten  Ureltern  erschlossen, 
rekonstniiert. 

Als  erster  Archetyp  eines  Werkes  ist  natürlich  immer  ein  Exemplar  Archetyp 
der  Originaledition  im  Altertum  selbst  zu  betrachten.  Da  jedoch  im  Lauf 
der  Zeiten  beim  Wiederabschreiben  wiederholte  Textrezensionen  statt- 
fanden, ist  als  Archetyp  oftmals  nur  ein  Exemplar  einer  solchen  späteren 
recensio  anzusehen.  Bei  Werken,  die  nur  in  späten  Hss.  des  14.,  15.  Jahr- 
hunderts vorliegen,  gelangen  wdr  für  den  Archetyp  oft  nur  bis  etwa  in 
das  8.  oder  9.  Jahrhundert  zurück.  Dies  ist  z.B.  der  Fall  bei  Xenophon,i) 
Properz,  Tibull,  Catull. 


^)  Siehe  z.  B.  für  die  Anabasis  A.  HuG,  De  Xenoph.  naab.  codice  C,  Zürich  1878. 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.     3.  Aufl.  2 


1^  Kritik  und  Hermeneutik. 

Ohne  Frage  ist  diese  Zeitbestimmimg  von  großer  Wichtigkeit.  Hilfs- 
mittel dazu  ist  das  Beobachten  der  Orthographie  und  der  Korruptelen, 
die  aus  Buchstabenverwechselungen  entstanden.  Die  Vorlage  des  cod. 
Marcianus  des  Athenaeus  war  z.B.  in  Unzialen  geschrieben;  denn  p.  657 
steht  daselbst  al  yaXXixal  geschrieben  f.  ai  yaldi  xal,  eine  Yertauschung 
von  A  und  A,  ebenso  p.  256  xejuaxldeg  statt  xXijuayJdeg,  was  auf  xaifiaxiöeg 
zurückweist;  denn  e  wurde,  der  Aussprache  entsprechend,  massenhaft  für 
ai  gesetzt.  Auf  dem  gleichen  Wege  läßt  sich  auch  für  Horaz,  für  Senecas 
Tragödien  erschließen,  daß  ihre  Grundhandschrift  Majuskelschrift  zeigte, 
womit  immer  eine  ungefähre  Datierung  gegeben  ist.  Aber  auch  solche 
phonetische  Erscheinungen  dienen  zur  Altersbestimmung,  wie  wenn  wir 
exsidit  statt  excidit  lesen:  eine  SibiHerung  oder  Palatalisierung  des  c,  die 
nicht  wohl  vor  dem  5.  Jahrhundert  eingetreten  sein  kann. 

Als  Beispiel  für  die  Tragweite  solcher  Feststellungen  diene  Plautus. 
Plautus  liegt  in  zwei  Handschriftenklassen,  d.  h.  in  zAvei  erheblich  ab- 
weichenden Textgestaltungen  vor;  die  eine  vertritt  der  Palimpsest,  cod. 
Ambrosianus  A  des  5.  Jalirhunderts,  die  andere  wird  durch  etliche  Hss.  des 
10. — 12.  Jahrhunderts  BCD  u.a.m.  vertreten,  die  man,  Aveil  BC  der  Pfälzer 
Bibliothek  in  Heidelberg  angehörten,  resp.  angehören,  a  potiore  die  Pfälzer 
Hss.  P  nennt.  Man  wird  zunächst  denken,  daß  so  späte  Hss.  gegen  die  des 
5.  nicht  aufkommen  können.  Auch  läßt  sich  die  verlorene  Grundhandschrift 
P  selbst  zunächst  nicht  früher  als  in  das  8. — 9.  Jahrhundert  ansetzen, 
was  zunächst  schon  aus  gewissen,  den  Hss.  gemeinsamen  Yerschreibungen, 
die  auf  Minuskelhandschrift  weisen,  sich  folgern  läßt :  cispellam  f.  aspellam 
Amph.  1000;  perhibeas  f.  praehibeas  As.  188;  isfiid  f.  isti  id  Aul.  450;  ius 
f.  uis  Aul.  490;  nauderio  f.  nauclerio  As.  69;  poda  f.  pocla  As.  771.  Auf  die- 
selbe Zeit  deuten  audatiae  Amph.  367;  contief  f.  conciet  ib.  476;  vgl.  793; 
875;  extiam  f.  exciam  Cure.  295;  effitiam  Aul.  695.  Doch  Avar  natürUch 
auch  dieser  P  wieder  Kopie  einer  Vorlage,  und  es  läßt  sich  weiter  zeigen, 
daß  diese,  die  wir  P«  nennen,  sehr  viel  älter  und  in  Kapitalschrift  ge- 
schrieben, also  mit  dem  Palimpsest  A  gleichaltrig  Avar.  Dies  ergeben 
solche  Fehler  in  P  wie  eace  f.  face  As.  4,  forum  f.  eorum  As.  554  u.  769,^) 
fiirgifer  f.  furcifer  Amph.  285,  cessissem  f.  gessissem  ib.  524  (C  und  G  ver- 
wechselt), flat  f.  fiat  996,  egoua  f.  ecqua  {ECQYÄ)  As.  516.  So  stehn  sich 
also  doch  A  und  P«  an  Autorität  gleich.  Sucht  man  nun  noch  Aveiter 
zurückzugehen,  so  ist  zunächst  klar,  daß  soaa^oIiI  A  Avie  P«  Textes- 
rezensionen sind,  d.  h.  daß  keines  von  beiden  Exemplaren  dem  Original- 
manuskript des  Plautus  entsprochen  haben  kann.  GleichAA^ohl  müssen  beide 
schließlich  aus  einem  gemeinsamen  Urtext  abgeleitet  Averden,  und  es 
scheint  notAvendig,  daß  dieser  der  Zeit  Varros  noch  etAvas  A^orauflag  und  daß 
in  Varros  Zeit  selbst,  die  den  Plautusstudien  A^orzügiich  oblag,  die  beiden 
abAveichenden  Buchrezensionen  hergestellt  Avurden.2)    AVer  also  Lesungen 

0  Vgl.  auch  eidem  für  fidem  oder  fule  in  wichtigen  Punkten  durch  Eugen  Sicker 

bei  Cicero  und  sonst:    BüCHELER,  Rhein.  im Philol.  Suppl.  Bd.XI  korrigiert.  Die  den 

Mus.  XI  S.  515.  i   Prohus  betreffende  Suetonstelle  De  gramm. 

2)  Diese  Fragen  sind  besonders  durch  24istA^onLEO,Plautin.rorschungen2S.23f., 

W.M.LiNDSAY,  Ancient  editions  of  Plautus,  nicht  richtig  aufgefaßt  worden ;  sie  kommt 

Oxford  1904,  gefördert  worden.  Doch  wird  er  ;   für  diese  Fragen  nicht  in  Betracht. 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  19 

anzweifelt  und  abändert,  in  denen  AF  übereinstimmen,  muß  sich  klar 
inaclien,  daß  er  ein  Exemplar  korrigiert,  das  etwa  im  Jalire  100  v.  Chr. 
geschrieben  wkiv. 

Aber  nicht  nur  nach  Zeit  und  Schriftgattung  des  Archetyp  ist  zu  ^^^.g'*^^" 
fragen;  auch  anderes  festzustellen  kann  von  Nutzen  sein;  vor  allem  der  Archetypus 
Zeileninhalt  der  Seiten.  Hultsch  setzt  an,  daß  derYaticanus  des  Polybius 
die  Zeilenstellung  seiner  Vorlage  genau  übernommen  hat.»)  Bei  den 
Dichtern  sind  gelegentliche  Umstellungen  und  Ausfälle  von  Versen  hierfüi- 
ein  Merkmal;  so  hatte  der  Archetyp  der  Heroides  und  Amores  Ovids 
26  Zeilen  auf  der  Seite;  denn  die  Umstelhmgen  von  Versen 2)  betreffen 
da  Gruppen  von  je  26  oder  je  52  (2  X  26)  Zeilen;  es  woirden  also  bei 
solchen  Versehen  jedesmal  ganze  Seiten  übersprimgen;  und  auch  die 
Ausfälle  in  den  Heroiden  XVI  (XV)  39—142  und  XXI  (XX)  13—248 
weisen  Verssummen  auf,  die  just  durch  26  teilbar  sind.  3)  Ganz  ebenso 
hatte  auch  die  Vorlage  des  Vaticanus  Claudians  wahrscheinlich  Seiten  zu 
26  Zeilen.*)  Für  die  Grundhandschrift  Pa  des  Plautus  hat  man  Schrift- 
seiten zu  19 — 21  Versen  A^ennutet;  doch  ist  das  unsicherer,  s) 

Vorsicht  ist  auf  alle  Fälle  hierbei  geboten,  und  solche  Vermutungen 
Ivönnen  sehr  in  die  Irre  führen;  dafür  ist  F.  Ritschis  Abhandlung  über 
Tibull  I  4  (Opusc.  III  S.  616  f.)  ein  warnendes  Beispiel.  Ebensowenig 
überzeugen  die  Bereclinungen  für  den  Archetyp  Catulls,^)  und  auch 
Büchelers  Hypothese  hält  nicht  stand,  der,  um  die  Un Vollständigkeit  der 
letzten  Juvenalsatire  zu  erklären,  ansetzte,  daß  der  letzte  Vers  des 
Juvenal,  wäe  in  der  einen  Haupthandschrift  P(ithoeanus),  so  auch  im 
Archetyp  der  übrigen  Hss.  (co),  just  am  Schluß  eines  Folium  gestanden 
haben  müsse,  sodaß  der  Schluß  des  betreffenden  Gedichts  in  P  wie  in 
(I)  mit  dem  Wegfall  eines  w^eiteren  FoHums  weggefallen  sei.')  Viel  glaub- 
licher ist,  daß  Juvenal  seine  letzte  Satire  nie  vollendete  und  daß  er  somit 
sein  letztes  Buch  gar  nicht  mehr  selbst  herausgegeben  hat.  Denn  die 
Analogien  sind  zur  Hand ;  aus  dem  dazwischentretenden  Tod  des  Dichters 
erklärt  sich,  Avie  niemand  bezweifeln  kann,  daß  sowohl  die  Gigantomachie 
wie  die  Laus  Serenae  Claudians  mitten  im  Text  abbricht.  Auch  Statins' 
letztes  Buch  der  Silven,  auch  die  unfertigen  pseudo-ovidischen  Hali- 
eutica  sind  zu  vergleichen;  der  Fälscher  dieser  Halieutica  fingierte,  daß 
der  altgew^ordene  Ovid  in  Tomi  sie  unvollendet  ließ.  Schon  Phnius  hat 
sie  als  Fragment  gelesen.  Von  Persius  meldet  uns  seine  Vita:  hunc 
ipsum  librum  imperfectum  reliqiiit;  versus  aliqui  dempti  sunt  ultimo  libro 
nt  quasi  finitus  esset,  und  vom  Valgius  erzälilt  uns  Plinius  nat.  bist.  25,  4: 
temptavit  C.  Valgius  eruditione  spectatus  (sc.  agere  de  medicina)  imperfecto 
volumine  ad  divom  Augustum,  inchoata  etiam  praefatione  eqs.  Auch  dieses 
unvollendete  Werk  war  also  in  den  Buchvertrieb  gelangt.     Nicht  anders 


1)  Fleck.  Jbb.  1867  S.292f.  \  in  Wochenschr.  f.  klass.  Phüol.  I   (1884) 


«)  z.  B.  Ovid  ars   am.  II  77;   Herold 
14,  114. 

3)  Göttinger  Gel.  Anz.  1882  S.  841 


S.  152  f.  u.  a. 

')  Ueber  das  Problem  eines  vollstän- 
digeren Juvenaltextes  soll  hier  nicht  ge- 
)  Claudianausgabe  praef.  S.  95.  redet  werden;    s.  F.  Leo,   Hermes  Bd.  44 

^)  LiNDSAY  a.  a.  O.  S.  79.  1   S.  600  ff. ;  unten  S.  27. 

6)  M.  Haupt,  Opusc.  I  S.  27;  E.Fisch   | 

2* 


20  Kritik  und  Hermeneutik. 

stand  es  mit  Piatos  Ejitias,  um  das  namhafteste  Beispiel  dieser  Ai-t  nicht 
zu  übergehen  (vgl.  Plutarch  Solon  32). 

Es    seien   schließlich    noch    ein    paar   Beispiele    für    die    mehr    oder 
minder    verwickelte    handschriftliche   ÜberUeferung    Htterarischer   Werke 
angeführt. 
Einkiassen-  ^ni  einfachsten  liegt  für  den  modernen  Editoi-  die  Sache,  wenn  ein 

sys  em  ^^^^j^  ^^^  ^^  cinor  einzigen  Hs.  vorliegt;  denn  alsdann  ist  eben  zu- 
nächst nur  deren  Text  abzudrucken.  Das  betrifft  alle  jene  oben  S.  6 
genannten  Schriftsteller,  die  wir  den  neueren  Papyrusfunden  verdanken. 
Zu  ihnen  gehört  auch  Philodem  und  der  ganze  Papyrusrollennachlaß 
aus  Herculaneum.  Nur  haben  sich  in  Herculaneum  bisweilen  auch 
mehrere  Exemplare  desselben  Werkes  vorgefunden ,  und  alsdann  wird 
die  Arbeit  des  Editors  komplizierter,  gCA^dnnt  aber  auch  mehr  Sicherheit. 

In  einer  einzigen  Hs.  hegen  aber  auch  die  Exzerpte  aus  den  grie- 
chischen Historikern,  z.  B.  aus  Polybius  und  Cassius  Dio,  vor,  die  Kon- 
stantinos Porphyrogennetos  im  10.  Jahrhundert  anfertigen  heß.  Ebenso 
die  Fabeln  des  Babrios  und  der  yvjuvaoriKÖg  des  Philostrat,  die  Minas 
Minoides  um  das  Jahr  1843  im  Athoskloster  auffand;  ebenso  auch  der 
Hirtenroman  des  Longo s  von  Daphnis  und  Cliloe  (cod.  Florentinus) ; 
ebenso  Hesych.  Denn  mit  dem  Lexikon  des  Hesych  steht  es  ähnlich 
wie  mit  dem  des  Festus  (oben  S.  17).  Dies  so  wichtige  Werk  existiert 
nur  in  einer  Hs.,  und  zwar  in  Venedig  (Marcianus  627),  welche  Hs.  des 
15.  Jahrhunderts  eben  damals  von  Musuros  durchkorrigiert  und  dann  in 
Venedig  in  Druck  gegeben  wurde  (Aldine  1514). 

Auf  römischem  Gebiet  reiht  sich  z.  B.  der  Grammatiker  Charisius 
an  (in  Neapel),  sowie  alle  jene  Palimpseste,  aus  denen  uns  Cicero  De 
republica,  Gaius'  Institutionen,  Frontos  Briefe,  der  Historiker  Granius 
Licinianus,  die  Gedichtreste  des  späten  Merobaudes  bekannt  geworden 
sind.  Nicht  anders  aber  auch  Commodians  Carmen  apologeticum  (Hs.  in 
Middlehill),  nicht  anders  die  Hauptwerke  des  Tacitus. 

Das  Schicksal  will,  daß  uns  selbst  Tacitus'  Historien  imd  Annalen 
wie  durch  Zufall  nur  in  einem  Exemplar  des  11.  Jahrhunderts  vor- 
liegen. Buch  I — VI  der  Annalen  stehen  nm-  im  sog.  Mediceus  primus, 
einer  Handschrift  deutscher  Herkunft  (Corvey),  die  im  16.  Jahrhundert 
durch  Papst  Leo  nach  Florenz  kam;  sodann  Annalen  Buch  XI — XXI 
und  Historien  Buch  I — V  im  Mediceus  alter  (aus  Monte  Cassino).  Von 
letzterem  wurden  allerdings  später  einige  Kopien  angef ertig-t ,  die  das 
Verdienst  haben,  eine  inzwischen  in  Hist.  I  eingetretene  Lücke  zu  er- 
gänzen. 

Auch  da  aber,  wo  mehrere  Hss.  vorhanden  sind,  stellt  es  sich  öfter 
heraus,  daß  wir  nur  eine  zu  benutzen  haben,  da  die  übrigen  aus  ihr 
kopiert  sind.  Dafür  sind  schon  S.  16  ein  paar  Beispiele  angeführt.  Auch 
für  den  Redner  Lysias  trifft  dies  zu;  denn  für  die  meisten  seiner  Reden 
kommt,  wie  dereinst  Sauppe  zeigte,  i)  nur  der  Palatinus  in  Heidelberg 
saec.  XI — XII  in  Betracht;  in  dieser  Hs.  sind  nämlich  der  16.  Quaternio 


')  Ausgew.  Schriften  S.  80  f. 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  21 

und  einige  Blätter  des  5.  ausgefallen;  alle  anderen  Hss.  aber  haben  diese 
Textlücken  übernommen,  sind  also  aus  ihr  geflossen.  Auch  des  jüngeren 
Pliilostrat  Imagines  gehören  hierher. i) 

Nach  solchen  Feststellungen  wird  die  Textedition  natürlich  sehr  be- 
quem oder  doch  der  Apparat  sehr  vereinfacht.  Doch  ist  auch  hier  Skepsis 
geboten.  So  ist  man  für  Ciceros  Briefe  ad  Atticum  und  ad  familiäres 
von  der  Einhandschriftentheorie  längst  zurückgekommen  (Haupthandschrift 
sind  Medicei). 

Am  erwähnenswertesten  sind  hier  die  Tragiker  Aeschylus  und 
Sophokles  nebst  ApoUonius  Rhodius  (oben  S.  10).  Seit  Cobet  und 
Dindorf  glauben  viele,  daß  ihr  Text  nur  der  berühmten  Mediceerhand- 
schrift  Laur.  32,  9  des  11.  Jahrhunderts  (L),  die  Aurispa  aus  Griechen- 
land nach  Florenz  gebracht  hatte,  zu  entnehmen  sei.  2)  Aber  dieser  Hs. 
fehlen  von  erster  Hand  mehrere  Verse.  3)  Sie  Avürde  ferner  als  Text- 
grundlage nicht  genügen,  wären  in  ihr  nicht  die  Lesungen  von  zweiter 
Hand,  die  aus  einer  anderen  Vorlage  als  der  Text  stammen.  Dieser 
zweiten  Hand  ist  aber  der  cod.  Parisinus  2712  des  13.  Jahrhunderts  eng 
verwandt,  der  auch  für  die  Sophoklesscholien  der  wichtigste  Zeuge  ist."*) 
Also  beruht  in  Wirklichkeit  hier  unser  Text  auf  einer  doppelten  Über- 
lieferung, erstlich  L^,  zw^eitens  PL 2.  Trotzdem  stellt  sich  die  Praxis  im 
übrigen  Avirklich  so,  daß  man  den  Text  des  Mediceus  ganz  vor^viegend 
zugrunde  legi.-^) 

Stehen  nun  also  mehrere  Hss.  unabhängig  nebeneinander,  so  können 
sie  unter  sich  doch  durch  gleiche  Merkmale  so  nahe  verbunden  sein, 
daß  man  sie  ohne  Filiation  als  eine  einzige  Klasse  betrachtet;  so  im 
Pausanias^)  (Hss.  des  15.  Jahrhunderts,  gemeinsame  Interpolation  ejzei 
ixQfzTovv  IV  20,  5).  Gewöhnlich  aber  treten  sie,  wie  bei  Plautus,  mehr  oder 
minder  scharf  in  ZAvei  oder  mehrere  Klassen  auseinander.  Als  weiteres  Zwei- 
Beispiel  diene  hierfür  Lukrez.  Dieser  Dichter  liegt  uns  im  cod.  Oblongus  syst^em 
zu  Leiden  saec.  IX  vor  und  in  einer  Gruppe  junger  Hss.,  die  indirekt 
Abschriften  nach  einem  verlorenen  Exemplar  sind,  das  der  Italiener 
Poggio  im  15.  Jahrhundert  nach  ItaHen  brachte;  unter  diesen  die  zu- 
verlässigste eine  Hs.  in  Florenz,  Laurent.  35,  30.  Eine  zweite  Gruppe 
von  Hss.  ist  dadurch  kenntlich,  daß  mehrere  Blätter  ausfielen  und  ans 
Ende  geheftet  wurden:  dafür  ist  Hauptvertreter  der  sog.  Quadratus  in 
Leiden  saec.  X;  eben  hierzu  gehören  aber  auch  lose  Blätter,  die  teils  in 
Kopenhagen,  teils  in  Wien  liegen  (schedae  Havnienses  und  Vindobonenses) : 
woraus  sich  also  folgender  Stammbaum,  in  d,en  nur  das  Wichtigste  auf- 
genommen ist,  ergibt: 


S.  Xlf. 


")  Siehe  ed.  ScHENKL und  Reisch  (1902)   j   und  P,  Jahn,   Quaest.  de   schol.  Lauren- 


tianis,  Berlin  1884, 


2)  Siehe  C.  Meifert,  De  Soph.  codici-   i  ^)  Ueber  Nebenhandschriften  im  Aes- 

bus.  Halle  1891.  !    chylos  s.  Blass  ed.  Eum.  S.  17  ff.     Auch 

»)  Elektr.1485,  Oed.EexSOO,  Oed.Col.    1    für  ApoUonius  Rhodius  hat  Merkel  noch 
1256  (1105).    Auch  im  Agamemnon  erlitt 
der  Mediceus  Blätterausfall. 

*)  Siehe   W.  Kausch,    De   Sophoclis 
fab.  apud    Suidam    reliquiis,   Halle    1883, 


eine  Wolfenbüttler  Hs.  herangezogen. 

«)  ed.  Schubart  und  Walz  I  p.  XXY; 
übrigens  Ztschr.  f.  AW.  1853  p.  388.  Dazu 
ed.  Blümner-Hitzig  T,  Vorwort. 


22 


Kritik  und  Hermeneutik. 
(o  (saec.  IV — V;  verloren) 


ß  (verloren) 


Oblongu 


Laurentianus 


Quadratus 


schedae*Havn. 
-f  Vindob. 


Der  Editor  hat  demnach  im  Lukrez  eklektiscli  vorzugehen  und  vor- 
nehmlich zwischen  dem  Oblongus  und  Quadratus  zu  wählen.  Denn  das 
exemplum  Poggii  stand  dem  Oblongus  nah,  Avar  aber  stark  interpoliert,  i) 
Häufig  liegt  indes  der  Fall  so,  daß  Klasse  I  die  Avesentlich  reine  Über- 
lieferung gibt  und  wir  zur  Klasse  II  nur  im  äußersten  Notfall  greifen. 
So  steht  es  in  Senecas  Tragödien,  wo  oft  die  Yersclireibungen  im 
E(truscus)  richtiger  sind  als  die  glatten  Lesungen  der  reliqui;  ebenso  im 
Properz,  für  den  die  Neuausgabe  von  Hosius,  die  im  Apparat  den  Codex 
N(eapolitanus)  vernünftig  ^voranstellt,  höchst  Avillkommen  Avar.2)  Die  gleiche 
jnvenai  Methode  wurde  von  Bücheier  für  den  Juvenal  durchgeführt  und  ist  von 
Neueren  wohl  vergeblich  angefochten  Avorden:  hier  steht  der  cod.  P(ithot^- 
anus)  des  9.  Jahrhunderts  in  Montpellier  den  reliqui  gegenüber.  Als 
Beispiel  sei  die  Juvenalstelle  zitiert  lY  67,  wo  der  große  Fisch  verspeist 
werden  soll:  propera  stomachum  laxare  sag'mis.  So,  saginis,  geben  hier 
nur  die  reliqui;  P  hat  saginam,  und  daß  sich  hierin  das  richtige  sagina 
verbirgt,  bcAveist  die  Nachahmung  in  der  Versifikation  des  Heptateuchs, 
die  unter  Cyprians  Namen  geht,  Numeri  355:  laeta  ventres  laxare  sagina. 
Juv.  10,  304  korrigierte  0.  Jahn  non  licet  esse  viro  nach  P,  der  viros  gibt; 
die  reliqui  aber  machten  ?ion  licet  esse  viris  daraus.  10,  35  schrieb  Juvenal 
praetextae  traheae;  P  teilte  die  Buchstaben  nur  falsch  ab  imd  gibt:  prae- 
texta  etrabeae;  erst  die  reliqui  machen  praetexta  et  traheae  daraus.  Jua^ 
4,  120  ist  ^ae?;wm  Yulgatlesung ;  P  aber  hat  laevo\  Juvenal  schrieb  laevom 
(so  Ade  er  volgus,  nicht  vulgiis  schrieb,  7,  85).  Juv.  7,  23  ist  spectanda 
mit  Bücheier,  gegen  Leo,  zu  halten;  Bücheier  AA'ußte,  daß  spectare  so  viel 
wie  expectare  ist;  A^gl.  Claudians,  Eapt.  I  286,  Anthol.  ed.  Riese  687,  54 
omnia  te  spectant^)  und  253,  154  te  spectat  lacrimans  (avo  man  gleichfalls 
expectat  druckt).  Aber  Bücheier  Avar  noch  nicht  konsequent  genug. 
Juvenal  begünstigt  volkstümlichen  Yokalismus,  Avie  7,  26  clude  f.  Claude;^) 
so  ist  auch  z.  B.  7,  4  aus  P  das  wertvolle  fornos  statt  fumos  aufzunehmen; 
denn  das  o  in  fornus  bezeugte  schon  Yarro  (Non.  531,  33),  und  es  reichte 


^)  Siehe  Lucrez  ed.  A.  Brieger,  1894, 
S.  XIII. 

2)  Wennschon  ich  im  übrigen  ihrer 
Einrichtung   noch   niclit  ganz  zustimmen 


kann. 

3)  Vgl.  Ehein.  Mus.  54  S.  91. 

4)  Siehe  GtRöber  im  Archiv  f.  Lex.  I 

S.  548.       , 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  23 

wohl  bis  auf  Plautus  zurück,  i)  80  sollte  man  auch  dypeus  aus  P  auf- 
nehmen, auch  gijla  5,  158,  eine  ganz  echte  Ynlgärschreibung.'-*) 

Bisweilen  ging  Bücheier  freilich  auch  zu  Aveit.  vSo  verdächtigte  er 
das  autem,  Juv.  7,  217,  Aveil  es  in  P  ausgefallen,  und  suchte  16,  20 
tota  tarnen  cohors  est  (so  P)  zu  halten,  indem  er  hier  die  vulgäre  Form 
chors  zu  erkennen  glaubte,  die  aber  dieser  Dichter  scliwerlich  zuließ. 

Priscians  Zitate  zeigen  uns,  daß  auch  die  Handschriftenklasse  II  bei 
Juvenal  aus  dem  Altertmn  stammt;  so  liest  Priscian  mit  ihr  gegen  P 
moechos  Juv.  14,  30.  Doch  beweist  das  nur,  Avas  Avir  auch  sonst  Avissen, 
daß  schon  im  Altertum  die  Texte  stark  A^erderbt  AA^urden. 

Älmhch    steht  es  Aveiter  auch  bei  Properz,    bei  dem  z.  B.  die  rieh-    Propeiz 
tigen   Lesungen   dixerit  1,  20,  4;    sint  2,  3,  10;    Priamo  2,  3,  40;    duxistis 
2,  9,  21  der  ersten  Klasse  verdankt  Averden;  so  auch  2,  3,  24  ardidus  (ver- 
kannt und  schon  im  Altertum  entstellt).    Da  nun  im  Properz  der  Vorzug 
der  Klasse  I  anerkannt  ist,  hat  man  mit  ihr  z.  B.  auch  2,  9,  44  zu  lesen : 

Te  nihil  in  vita  nobis  accoptius  umquam. 

Nunc  quoque  eris  quamA'is  sie  inimica  mihi. 

Es  ist  begTeiflich,  daß  Klasse  II  quamms  sis  inimica  mihi  daraus  machte; 
aber  diese  Lesung  ist  minder  AvirkungsA'oll  und  ergibt  zudem  eine  schmäh- 
liche Kakophonie  in  den  drei  Wortschlüssen  eris  quamvis  sis.^)  Ebenso 
ist  das  qiii  {=  quomodö)  bei  Properz  2,  13,  58  im  cod.  A^  ganz  unmiß- 
A^erständlich : 

Nam  mea  q  u  i  poterunt  ossa  minuta  loqui? 

Die  übrigen  Schreiber  meinten,  quid  sei  deutlicher,  und  setzten  es  ein. 
„Genieße  das  Leben  und  die  Liebe",  heißt  es  endlich  bei  Properz  2,  15,  49: 

Tu  modo  dum  lucet,  fructum  ne  desere  A'itac. 
Omnia  si  dederis  oscula,  pauca  dabis. 

80  NL,  die  Vertreter  der  Klasse  I.  Man  verstand  das  lucet  nicht  und 
setzte  dafür  licet,  mit  Zerstörung  des  Versmaßes.  Aber  lux  ist  das 
„LebensHcht"  und  CatuU  hier  das  deutliche  Vorbild,  der  5,  5  sagt:  cum 
semel  occidit  brevis  lux  .  .  .  da  mihi  basia  mille  {basia,  w'iq  liier  oscula); 
vgl.  auch  Catull  8,  3:  fulsere  candidi  tibi  soles.  Das  lucet  ist  also  vor- 
trefflich. 

Natürlich  liegt  bei  jedem  Autor  die  Sache  besonders.  Im  Aristo- 
phanes  sucht  man  dem  cod.  Il(avennas)  den  Vorzug  zu  geben;  doch  ver- 
sagt er  nur  zu  oft.*)  Plato  Hegt  uns  in  gegen  150  Hss.  A^or,^)  und  es  piato 
hat  gCAvaltige  Arbeit  erfordert,  aus  ihnen  die  brauclibaren  auszusondern. 
Dabei  gilt  es  zu  unterscheiden.  Von  Piatos  36  Schriften,  die  das  Alter- 
tum in  neim  Tetralogien  zerlegte,    sind  die    achte  und  neunte  Tetralogie 


*)SieheLövvE,AnalectaPlautinap.ll5.  Berl.  phil.  W.schv.  30  8.  549  f.    Siehe  übri- 

2)  Siehe  „Sprach  man  avrum"  S.  176  !  gens  unten  S.  25  f. 

bis  191.  j  6)  Ueber  den  textkritischen  Wert  der 

')   Ueber    solchen    vSigmatismus    und  I  Platopapyri  kann  das  Urteil  nicht  günstig 

seine  Vermeidung  s.  unten.  •  i  lauten,  und  das  muß  sich  aus  dem  Zweck, 

*)  Hierüber    J.  van   Leeuaven,    Pro-  j  dem    diese   Manuskripte   liöchsten  Alters 

legomena  ad  Aristoph.,  Leiden  1908,  S.  270  j  dienten,  erklären;  s.  darüber  Const.  Rit- 

bis  356,  mit  Einwendungen  A-^onHoLZiNGER,  ;  tp:r  in  Bursians.  Jahresber.  Bd.  157  S.8ff. 


Drei- 

k lassen - 


24  Kritik  und  Hermeneutik. 

(danuiter  die  Nö/wi)  dui'ch  die  vortreffliche  Pariser  Hs.  A  gesichert.  So 
versuchte  nun  Schanz  auch  für  Tetralogie  1 — 6  (in  Tetralogie  7,  Hippias  I 
und  II,  Ion  und  Menexenos,  ist  die  Sachlage  minder  günstig)  den  Text 
wesentlich  auf  zwei  Hss.,  den  berühmten  Bodleianus  (Clarkianus)  des 
9.  Jahrhunderts  und  den  Yenetus  T  mit  grundsätzlicher  Zurückdrängung 
des  letzteren  zu  gründen,  imd  seine  Ausgabe  ist  daran  gescheitert.  Auch 
die  zalilreichen  mit  T  zusammenhängenden  Nebenhandschriften  lassen 
sich  nicht  so  radikal  beiseite  tun.i)  Denn  oft  tauchen  in  ihnen  alte, 
sicher  aus  antiken  Exemplaren  stammende  Lesungen  auf.  Die  ägyptischen 
Papyri  bringen  für  Plato  und  ebenso  auch  für  andere  Autoren  nicht  selten 
Varianten,  die  in  solchen  -späten  luid  gering  geschätzten  Hss.  unerwartet 
wieder  auftauchen.  Eine  sorgliche  Aufarbeitung  auch  des  geringeren 
Handschriftenmaterials,  wie  ich  sie  einst  für  Claudian  ausgeführt,  wird 
dalier  jetzt  für  alle  Autoren,  die  in  weitverzweigter  Überlieferung  vor- 
liegen, mit  Recht  verlangt. 

Dies  sind  Belege  für  doppelte  Textesrezensionen,   deren  Differenzen 

System  in  mehreren  Fällen  zweifellos  schon  aus  dem  Altertum  selbst  sich  her- 
leiten und  die  abschriftlich  weiter  durch  das  Mittelalter  propagiert  worden 
sind.  Gelegentlich  aber  wird  die  Saclilage  noch  komplizierter,  und  wir 
haben  zAvischen  drei  Rezensionen  die  Wahl.  Dafür  könnte  man  schon 
CatuU  imd  Theognis  anführen:  Catull,  bei  dem  wir  zunächst  zwischen 
den  zwei  Haupthandschnften  (0  und  G)  die  Wahl  haben,  wo  sie  aber 
beide  versagen,  zu  der  Gruppe  der  interpolierten  greifen  müssen;  2) 
Theognis,  dessen  Text  vor  allem  auf  dem  Mutinensis  A  in  Paris  (saec.  X), 
daneben  auf  dem  Yaticanus  0  saec.  XHI  gegründet  wird;  avo  beide  irren, 
greift  man  zur  Gruppe  der  Deteriores.  Ganz  ebenso  liegen  auch  beim 
Yalerius  Maximus  die  Yerhältnisse.^) 

Wichtiger  ist,  daß  auch  die  zalillosen  Horazhandschriften  in  drei 
Gruppen  zerfallen,  die  drei  unter  sich  abweichende  Yorlagen  voraussetzen. 
Diese  Yorlagen  gehörten  aber  schon  der  Antike  an.  Dies  Dreiklassen- 
system im'Horaz  hat  0.  Keller  einst  dargelegt  imd  neuerdings  vor  allem 
für  die  Oden  gegen  Zweifel  gesichert.*)  Keiner  dieser  Klassen  felilt  es 
dabei  an  Yorzügen,  und  das  Rezept,  das  Keller  dem  Editor  gab,  ist  un- 
gefähr dies,  abzustimmen:  zwei  gegen  eins.  Wo  zwei  Klassen  zusammen- 
gehen, ist  die  dritte  im  Unrecht. 

In  drei  Klassen  zerfallen  aber  auch  die  Hss.  des  Terenz,  wie  die 
des  Horaz,  doch  mit  dem  Unterschiede,  daß  beim  Terenz  die  erste  Klasse, 
die  der  ehrAvürdige  Codex  Bembinus,  saec.  Y,  vertritt,  an  Autorität  bei 
weitem  prävahert. 

Demo-  Auch  Dcmostlienes   sei   noch   genannt,    der   uns   in  circa  170  Hss. 

st  enes  ^;.Qj.][^Qgt.  Demostlieues'  Reden  wurden  in  den  Rhetorenschulen  der  römi- 
schen Kaiserzeit   tausendfältig   benutzt   und   sind   im  Altertum    mehr   als 


1)  Vgl.  O.  Immisch,  Studien  zii  Plato 
2.  Heft,  Leipzig  1903. 

2)  Vgl.  Catull  73,  4  und  70,  11 


TiNi  in  Studi  di  filol.  class.  1910  S.  289  f. 
4)  Ehein.  Mus.  61  S.  78  ff.   Vgl.  J.  W. 
Beck,  Horazstudien,  Haag  1907:  J.  Bick 


)  A^gl.  oben  S.  14  und  dazu  Lindsay,    ■   in  Burs.  Jahresber.  1909  Bd.  143  S.  6  ff. 
Class.  Philol.  IV  (1909)  S.  114;  E.  Valen- 


I.  Die  Textgrandlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung.  25 

irgendein  anderer  Autor,  wenn  Avir  von  Homer  absehen,  der  Interpolation 
ausgesetzt  gewesen.  Hier  steht  es  nun  ähnlich  wie  bei  Terenz.  Als 
Hauptcodex  gilt  der  Parisinus  ^  des  Demothenes,  saec.  X;  er  vertritt  die 
erste  Klasse  und  gibt  die  äg^nla  exdooig,  den  reinsten  Text ;  i)  daneben  gibt 
die  zweite  Klasse,  die  örjjuajdijg  exdooig,  den  antiken  Viilgattext,  wie  man 
ihn  in  den  Schulen  gebrauchte,  und  zwar  noch  in  reinerer  Form  (z.B. Pari- 
sinus Y)',    die   dritte  Klasse   gibt   den  letzteren   in  überarbeiteter  Gestalt. 

Wie  nun,  wenn  es  in  einer  der  Klassen  Handschriften  gibt,  die  stärker  AescUines 
divergieren?  Man  darf  in  solchem  Fall  innerhalb  jeder  EHasse  jedenfalls 
nicht  nach  Majorität  abstimmen,  sondern  muß,  wie  Max  Hej^se  es  kürzlich 
füi-  Aeschines  getan,  2)  oline  die  Mülie  zu  scheuen,  die  Zuverlässigkeit  jeder 
Einzelhandschrift  nachprüfen;  wobei  es  zu  fragen  gilt:  hat  die  betr.  Hs. 
selbständige  Lesungen  von  Wert?  und  in  Avelcheni  Grade  ist  sie  von  Hss. 
aus  einer  anderen  Klasse  beeinflußt?  Leichter  als  für  Demosthenes  oder 
Horaz  ist  dies  eben  für  des  Aeschines  Reden  zu  kontrollieren,  weil  sie 
eine  geringere  Textmasse  bilden.  Für  die  zAveite  und  dritte  Rede  des 
Aeschines  unterscheidet  man  drei  Klassen,  A^  B  und  M\  für  die  erste 
Rede  fällt  Klasse  A  fort.  Hier  ist  beispielshalber  das  Ergebnis,  daß  die 
Klasse  B  wieder  selbst  in  drei  Gruppen  auseinandertritt,  die  verscliie- 
denen  Wert  beanspruchen. 

Bei  Aristophanes  pflegten  wir  bisher  den  beiden  hochangesehenen  Aristo- 
Hss.  Ravennas,  saec.  X — XI,  und  Yenetus,  saec.  XI — XII,  die  unter  sich  ^ 
an  Wert  konkurrieren,  unser  ganzes  Vertrauen  zu  schenken.  Aber  die 
jüngeren  Hss.,  vor  allem  der  beste  der  Parisini,  saec.  XIII,  lassen  sich 
nicht  entbehren,  und  es  regt  sich  neuerdings  der  Trieb,  sie  gTadezu  in 
den  Vordergrund  zu  drängen.  3)  Es  ist  gefährlich,  darin^zu  weit  zu  gehen. 
Jedenfalls  ist  aber  auch  hier  ein  Dreiquellensystem  anzuerkennen.  Es  sei 
in  diesem  Sinne  hier  eine  AristophanessteUe  behandelt,  die  keiner  der 
Neueren  richtig  beurteilt  zu  haben  scheint.  Achamer  v.  61  macht  der 
Herold  (?)  die  Meldung:  oi  jzQeoßeig  01  Tiaga  ßaodecog.  So  der  Ravennas. 
Aber  das  ist  Prosa,  ist  kein  Versgiied  und  kann  also  in  der  Komödie 
nicht  stehen.  Die  Schoben  zu  den  Achamem  aber  beginnen  mit  den 
metrischen  Anmerkungen  des  Heliodor.  Da  lesen  w^ir  betreffs  der  Prolog- 
szene dieses  Stücks:  oi  de  orixoi  eiolv  lafißixol  Tglfiergoi  äytaxdXi^xjoi  od  (es 
sind  201,  da  man  Halbverse  nicht  mitzählte)  wv  rekevraiog  •  eycb  de  (pev^o/Liai 
ye  Tovg  'A/agreag.  Wir  bemerken  schon  hier:  der  v.  201  =  203  ist  rein 
jambisch  gebildet,  offenbar  mit  Absicht,  um  die  Eile  des  Davonlaufenden 
zu  schildern,  und  der  Ravennas  gibt  hier  also  mit  Unrecht  (pev^ovjuai. 

Weiter  heißt  es :  6  juevroi  juy'  xojujudriov  an  eldooovog  (vgl.  v.  53  ndgir 
eg  rö  jzooodevY)  ^^^  Q^^  Jievi^rjjuijueQi^g  (geht  auf  124  oiya  xdd^ii^e).  Dann 
aber  folgt:  6  de  ^  eq^&rjjtiijueQi^g.    HeHodor  las  also  im  Vers  60  =  61,  von 


')    Doch    hatte    Harpokration    einen   [   stoph.,  Straß  bürg  1908;  W.  Süss,   Kleine 
besseren  Text;   s.  Helmke,  De  Demosth.       Ausgabe  der  Frösche,  1911. 
codicibus,  Berlin  1896. 

2)  Max  Heyse,  Die  handschriftl.  Ueber- 
lieferung  der  Eeden  des  Aeschines,  Progr., 
Ohlau  1912. 

')  OouLONS,   Qnaest.  criticae    in   Ari- 


*)  Hierzu  sei  K.  v.  Holzinger,  lieber 
die  Paragraphae  zu  Aristophanes,  Wien 
1883,  und  Max  Consbruch,  De  veterum 
71.  TToiri^idron'  doctrina,  1890,  vS.  70  verglichen. 


26  Kritik  und  Hermeneutik. 

dem  ich  handle,  eine  jambische  Hepthemimeres.    Das  ist  aber  die  Lesun*;' 
der  dritten  Handschriftenklasse: 

Ol  Tiaoa  ßaodkog  jrosoßeig. 

Diese  Hss.  haben  also  auch  hier  recht,    mid  diese  Lesung  ist  auf  Grund 
des  bestätigenden  Zeugnisses  des  Heliodor  in  den  Text  zu  nehmen. 
Wechseln-  Nun  hat  sich  aber  weiter  bei  Demosthenes  herausgestellt,  daß  in  ^er- 

Charakter  schiedcnen  seiner  Reden  das  Handschriften  Verhältnis  ein  anderes  ist.^) 
von  Hss.  ]3iese  Möglichkeit,  daß  das  Verhältnis  der  Hss.  zueinander  verschieden 
ist  in  den  verschiedenen  Stücken  ein  und  desselben  Autors,  ist  aucli 
sonst  offen  zu  halten,  und  die  Mühe  der  Untersuchmig  wird  dadmxh 
gesteigert.  So  muß  man  für  jede  der  Aristophaneskomödien,  ebenso 
auch  für  jeden  der  philosophischen  Dialoge  Cicero s  die  Untersuchung 
besonders  führen.  Der  Ravennas  steht  in  den  Acharnern  z.  B.  anders 
als  in  der  L^^sistrate,^)  Ciceros  Leidensis  C  (oder  H)  in  De  natura  deoruiu 
anders  als  in  De  legibus.  Der  Yaticanus  B  des  Thukydides  scheint  vom 
sechsten  Buch  an,  cp.  92,  5,  einer  anderen  Vorlage  zu  folgen  als  vorher. 3) 
Der  Wert  der  Pliilostrat-Hs.  des  Minas  (in  Paris)  ist  im  Heroikos  geringer 
als  in  der  ersten  Dialexis.*)  Audi  der  cod.  La  des  Pausanias  gehört  hier- 
her, u.  a. 
Texterwei-  Die   Sachlage   kann   abei'   noch   verzwickter   Averden,    und   die    Über- 

II.  -ausfälle  licferung  bringt  mitunter  ganz  unerwartete  Überraschungen.  P]s  gibt 
Werke,  die  uns,  so  wie  die  Jiokvorixog  exdooig  Homers  neben  dem  Vulgäi- 
text  stand,  in  knapperer  und  erweiterter  Form  vorliegen.  W^ie  ist  da  zu 
ciaudian  mteilen?  So  haben  Avir  Claudi ans. Raptus  Proserpinae  in  einer  kürzeren 
und  längeren  Fassung,  beide  gut  lesbar. 0)  Die  längere,  die  wir  abdrucken, 
ist  auch  noch  dadurch  umfangreicher,  daß  sie  vor  dem  dritten  Buch  ein 
nicht  zugehöriges  Proöm  eingestellt  hat ;  die  kürzere  läßt  im  ersten  Buch 
die  Verse  139 — 213  und  im  dritten  Buch  nicht  allein  den  Schluß,  Vers 
438—448,  sondern  auch  die  80  Verse  280—360  fort,  für  die  der  nicht 
ungeschickte  Ersatzvers  Omnis  hono:^  recti  nohls.  sie  fata  recedit  eintritt, 
der  den  Zusammenhang  herstellt.  Endlich  felilt  nm^  in  der  kürzeren 
Fassung  des  Raptus  der  unechte  Vers  II  118.  Beide  Fassungen  haben 
also  ihre  Vorzüge.  Die  kürzere  ist  mit  Geschick  hergestellt,  und  Aver 
nur  sie  allein  läse,  Avürde  Adelleicht  kamn  A^ermuten,  daß  etAA^as  fehlt.  ^') 
Beide  können  sehr  aa^oIiI  dem  Altertum  entstammen.  Doch  bezAA^eifle  ich, 
daß  beide  vom  Dichter  selbst,  der  sein  Werk  unvollendet  liinterlassen 
hatte,  so  hergestellt  Avorden  sein  können. 
Juvenai  In  dicscn  Zusammenhang  AVürde,    Avenn  Leo   recht  hätte,')   auch   da.s 


1)  J.  H.  LiPSius,    Ber.  sächs.  G.W.  45  Ber.  der  Wiener  Akademie). 

S.  1  ff.  und  Leipz.  Stud.  18    S.  319  ff.;    E.  ^)  Siehe  Clandian  p.  CXLYII  ff. 

DRERUP,Philol.Suppl.Bd.AT:il899S.533ff.;  ^)  Daß    der  Yers  T  214  an  I  139    auf 

E.  Bethe,    Demosth.  script.  corpus  etc.,  das  beste  anschließt,  hat  Winterfeld  nicht 

Rostock  1897.  :   wahrgenommen,    der    „Schedae    criticae", 

2)  Siehe  Zacher,  Burs.  Jbb.  71  (1892)  \   Berlin   1895,    S.  42    den    Tatbestand    aus 
S.  1  ff.  ;    BlätterA^erlust   erklären  wollte.     Man  er- 

')  Siehe  z.  B.  R.Richter  in  Dissert.  :   kennt  vielmehr  eine  planvoll  hergestellte 

von  Halle  Bd.  XVI  S.  253  ff.  I   kürzere  Redaktion  des  Gedichts." 

*)  Siehe  Jul.  JCthxer,  Der  Gymnasti-  ">)  Hermes  44  S.  600  ff. 
kos  des  Philostratos,  Wien  1902  (aus  Sitz.- 


I.  Die  Textgrundlegung.     1.  Die  handschriftliche  Überlieferung. 


ZI 


neue  Jiivenalproblem  gehören.  Es  handelt  sich  um  die  interessanten 
Winstedtschen  Juvenalfraginente  aus  der  sechsten  Satire,  Zusätze  im 
Text,  die  an  den  Vers  365  und  an  Vers  373  anschließen,  i)  Daß  diese 
neu  bekannt  gewordenen  Verse  antik  sind,  leidet  wiederum  keinen  Z^veifel. 
Hatte  sie  also  der  Dichter  selbst  nachträglich  eingefügt?  oder  hei-nach 
ausgeschaltet?  Oder  sind  sie,  wie  ich  glaube,  erst  im  4.  Jahrhundei-t  von 
einem  Nachdichter  Juvenals  hinzugedichtet?  2)  Und  wie  kommen  sie  grade 
in  den  einen  Codex  Oxoniensis  (0),  der  sonst  in  seinen  Lesimgen  über 
die  anderen  Vertreter  der  zweiten  Handschriftenklasse  nicht  hei-A^orzuragen 
scheint?  Es  ist  scliAvierig,  das  Handscliriftenstemma  hiernach  zu  gestalten, 
(rfinstiger  liegt  Avieder  folgender  Fall. 

Es  handelt  sich  mn  die  fehlenden  Verse  im  Panegyricus  Probini  et  ciaiuiian 
Olybrii  und  im  Panegyricus  de  IV  cons.  Honorii  des  Claudian.  Denn  da 
ist  es  nur 3)  der  Claudiandruck  des  Michael  Isengrin  (Basel  1534),  dei-  uns 
überraschenderweise  die  Verse  IV  cons.  315,  432,  509  und  636  sowie  Paneg. 
T^rob.  et  Olybr.  201 — 204  überliefert.  Daß  diese  Verse  echt  und  unent- 
behrlich, habe  ich  Idargelegt.'*)  Hier  haben  wir  also  sicheren  Boden  unter 
den  Füßen,  imd  es  ergibt  sich  für  die  Hauptmasse  der  Claudiangedicht^ 
folgender  komplizierter  Stammbaum :  &) 

Q 


B 


A  B 

Vcm  den  hier  \  orausgesetzten  Hss.  des  Claudian  sind  uns  nur  die  mit 
Crl^P.4J^/7CJ]^  bezeichneten  erhalten:  F der  Vaticanus,  C die  Hs.  in  Brüssel, 
R  die  in  Verona  u.  s.  f.     E  und  e  sind  Exzerpte.    Eine   genaue  Prüfung 


^)  Siehe  Class.  Eeview  13  S.  201  f. 

2)  Ich  bemerke  hier  nur,  daß  die  frag- 
lichen Verse  dem  Urheber  unserer  Juvenal- 
^cholien,  die  sonst  doch  nirgends  aus- 
-letzen,  unbekannt  sind. 


3)  oder  fast  nur 
zum  Text. 

*)  Claudian  S.  OLXXXVII. 
->)  ib.  S.  Olli. 


die  Anmerkungen 


28  Kritik  und  Hermeneutik, 

der  Isengrinausgabe  aber,  die  ich  vornahm,  ergab,  daß  die  in  ihr  benutzte 
Claudianhandsclirift  auch  sonst  große  Vorzüge  aufwies,  i) 
Lucan  In  dicseu  Zusammenhang  gehören  aber  endhch  auch  noch  die  über- 

schüssigen Verse,  die  versus  controversi,  gewisser  Hss.  des  Dichters  Lucan 
(Vossianus  V),  die  einst  Nie.  Heinsius,  und  doch  w^ohl  nicht  mit  Unrecht, 
hoch  einschätzte.  2)  Auch  hier  muß  ein  irgendwie  ähnlicher  Fall  vorliegen. 
So  verschiedenartig  stellt  sich  die  Tradition  der  antiken  Autoren  dar. 
Unsre  Überschau  sei  hiermit  erledigt.  Doch  ist  es  gut,  noch  einige  ander- 
weitige Zufälligkeiten  in  Erinnerung  zu  bringen,  die  uns  die  Textrezen- 
sion erschweren.  Ich  meine  den  FaU,  der  übrigens,  wie  wir  sahen,  sich 
auch  schon  ^n  der  Claudianüberheferung  beobachten  ließ,  daß  Hand- 
schriften, die  früher  einmal  von  Liebhabern  und  Editoren  benutzt 
wurden,  heute  verloren  sind.  Alsdann  stürzt  sich  natürlich  die  Unter- 
suchung darauf,  über  sie  Notizen  zu  sammeln. 
Verlorene  Wie  vicl  Fleiß   uud  Di\4nation   ist   nicht   auf   den   sog.  codex  Blan- 

dinius  antiquissimus  des  Horaz  vei'wendet  worden!  Der  Holländer  Cru- 
quius  benutzte  diesen  Blandinius  dereinst;  aber  der  Codex  ist  verbrannt, 
und  die  Lesungen,  die  Cruquius  aus  ihm  auf  das  unordentlichste  mit- 
teilte, haben  schon  früh  die  Achtsamkeit  erAveckt,  ja  zu  einer  über- 
triebenen Verehrung  des  Codex  geführt.  Keinesfalls  aber  ist  er  gering 
zu  achten,  wie  Keller  es  tut.  Um  \^eles  nützliclier  ist  die  Kollation  einer 
hernach  verloren  gegangenen  Hs.,  die  wir  von  Politian  zu  Catos  und 
Varros  Schriften  De  re  rustica  besitzen.  Eine  ähnliche  besitzen  wir  zum 
Dichter  C lau di an  (von  mir  mit  £"  bezeichnet) ;  in  geringem  Umfang  auch 
zu  Plaut  US  (Marginalien  des  Turnebus).  Für  die  dritte  Dekade  des  Livius 
ist  der  verlorene  codex  Spirensis  von  Wichtigkeit,  über  den  wir  in  der 
Baseler  Liviusausgabe  des  Jahres  1535  Mitteilungen  besitzen.  3)  Zu  Mark 
iVurels  Werk  Elg  eavxov  muß  neben  einer  Vaticanischen  Hs.  der  Erst- 
druck Xjdanders  vom  Jahre  1558  benutzt  werden;  die  Hs.,  nach  der 
dieser  Druck  gemacht,  ist  verloren.'^)  Der  erwähnte  Renaissancegelehrte 
Poliziano  gibt  uns  auch  Lesungen  zu  Statius'  Silvae,  die  er  einer  von 
Poggio  kopierten  Ils.  entnahm;  es  fragt  sich,  ob  diese  Hs.  identisch  war 
mit  dem  Codex  M  (Matritensis),  der  für  uns  heute  die  beste  Textquelle 
der  Silvae  ist;  es  scheint,  daß  jenen  Lesungen  doch  ein  selbständiger 
Wert  zukommt.^)  Und  so  können  auch  heute  noch  Handschriften  abhanden 
kommen.  Die  Straßburger  Hs.  zu  Senecas  philosophischen  Schriften  ver- 
brannte mitsamt  der  Bibliothek  bei  der  Belagerung  Straßbm'gs  im  Jahre 
1870.  Zum  guten  Glück  hatte  Bücheier  sie  kurz  zuvor  kollationiert. 
Erstdrucke  Aber  es  gibt  auch  solche  Schriftsteller,    für   die  wir   ganz   oder   fast 

^*H*ss^*'^  ganz  auf  alte  Drucke  angewiesen  sind,  da  die  Hss.,  nach  denen  damals 
gedruckt  wurde,  nicht  mehr  existieren.  Ich  denke  z.  B.  an  den  Metriker 
Terentianus  Maurus,  den  man  nach  einem  Mailänder  Druck  vom  Jahre 


1)  a.  a.  0.  S.  CXOI.  :   Sitz.Ber.  1869,  2,  S.  580. 

2)  Siehe  F.  Beck,  Untersuchungen  zu  *)  Siehe  J.  H.  Leopolds  Ausgabe,  Ox- 
(len  Handschriften  Lucans,  München  1900,  i  ford,  Clarendon  Press,  sine  anno  (1909). 
S.  51f.                                                                 j  5)  Siehe  Postgate,  Olass.EevieAv  1903 

3)  Grenaueres   bei  Halm,   Münchener   !    S.  344  f. 


I.  Die  Textgrundlegung.     2.  Zitate.  29 

1497  ediert;  an  die  Briefe  Ciceros,  die  im  zweiten  Buch  ad  Brut  um 
beisammenstehen;  an  des  Plinius  Briefwechsel  mit  Trajan;  an  Hygins 
Fabehi,  sowie  an  Rutilius  Namatianus'  Gedicht  De  reditu  (suo).  Bei 
letzterem  tritt  zur  editio  princeps  noch  eine  späte  Hs.  des  16.  Jahr- 
hunderts hinzu;  und  ähnlich  steht  es  auch  mit  dem  Historiker  Yelleius. 
Im  Jahre  1515  wurde  von  Beatus  Rhenanus  in  der  Abtei  Murbach  im 
Elsaß  eine  einzige  Hs.  des  VeUeius  aufgefunden.  Dieselbe  wurde  damals 
sogleich,  aber  schlecht  von  Bonifacius  Amerbach  in  Basel  kopiert;  besser 
ist  der  Druck,  den  Beatus  Rhenanus  im  Jahre  1520  nach  ihr  herstellte. 
Danach  verschwand  sie. 

Es  ist  nun  begreiflich,  daß  sich  gegen  Texte,  die  uns  nur  in  Drucken 
vorliegen,  oftmals  die  Skepsis  regt.  Kein  Geringerer  als  M.  Haupt  hat 
danma.  die  Elegie  Consolatio  ad  Liviam,  die  unter  O^dds  Namen  geht 
und  von  der  er  glaubte,  daß  ihr  Text  nur  auf  gedruckten  Exemplaren 
beruhe,  füi'  eine  Fälschung  der  Renaissancezeit  erklärt.  Inzwischen  haben 
sich  für  dies  Gedicht  einige  ganz  junge  Hss.  hinzugefunden;  vornehmlich 
aber  ist  Haupt  durch  sonstige  Erwägungen,  die  den  Inlialt  des  Gedichts 
betreffen,  längst  widerlegt.  Ebenso  unbegründet  sind  aber  auch  die  Ver- 
dächtigungen, die  man  gegen  zwei  Abschnitte  in  0\dds  Heroiden  XYI  31  ff. 
vmd  XXI 13  ff.  (s.oben  S.  19)  gerichtet  hat;  auch  diese  Abschnitte  sind  antik 
und  zugehörig,  und  es  gilt  hier  nur,  die  eigentümhchen  fata  libelli  auf- 
zuldären.  Dies  sind  indes  Probleme,  die  nicht  diesem  Abschnitt,  sondern 
der  höheren  Kritik  zufallen.  Ich  werde  im  letzten  Kapitel,  am  Schluß 
meiner  Ausfülirungen,  auf  sie  und  Ähnliches  zurückkommen. 

Hat  nun  aber  der  Herausgeber,  wenn  er  Handschriften  und  Drucke 
ausgiebig  heranzieht,  seine  Hilfsmittel  erschöpft?  Keineswegs,  und  noch 
eine  Fülle  weiterer  wichtiger  Hilfen  stehen  ihm  zu  Gebote,  die  freihch 
stets  mit  Kritik  zu  verwerten  sind.  Ich  meine  antike  Zitate,  Imitationen 
und  Ahnliches.     Versuchen  wir  denn  auch  dies  zu  verdeutlichen. 

2.  Zitate. 

Selbstverständlicherweise   müssen   hier,    wo   es    sich  um  Zuverlässig-  Zitate  bei 
keit  handelt,  Zitate  bei  Grammatikern  von  solchen  unterschieden  werden,     Gram- 
die  sich  bei  Pliilosophen  und  Autoren  der  Unterhaltungslitteratur  finden,  i)   matikem 
Wer   einen  Ausspruch   nur   des  Sinnes   oder   einer  Pointe  wegen  zitiert, 
ist  oft   lässig   in   der   Einfülirung   desselben,    und   er    schlägt    nicht   erst 
nach,    sondern  vertraut  seinem  Gedächtnisse.     So  deklamieren  wir  ruhig: 
„Dem    Glücklichen    schlägt   keine   Stunde",    ohne   uns    an   den  Wortlaut 
in    Schillers    Piccoloinini    („Die    Uhr    schlägt    keinem    Glücldichen")    zu 
kehren.    Plutarch  ist  der  Autor,  bei  dem  das  Zitieren  zur  Krankheit  wird. 
Aber  man  muß  ihn  für  die  Textkritik  mit  Vorsicht  heranziehen,   und  es 
dürfte  selten  sein,  daß  er  einmal  Hilfe  gibt  wie  bei  Euripides  Orest  667, 
wo  Aristoteles  und  Plutarch  ri  del  qpiXcov  garantieren,    was   auch   im   cod. 
Vatican.  B  steht;  die  anderen  Hss.  des  Euripides  geben  ri  XQ^I  ^f'^f^v.    Zu 
Aesch.  Prom.  314,  Suppl.  948  W.  hat  Plutarch  schwerhch  recht.     Cicero 

^)  Manche  Beispiele  bringt  Ed.  Stemp-   i   Litteratur,  Leipzig  1912,  8.  242  ff. 
LiNGER,   Das  Plagiat  in   der  griechischen   ! 


30  Kritik  und  Hermeneutik. 

zitiert  oft  auf  das  legerste,  z.  B.  De  nat.  deor.  1,  13  itaque  mihi  Übet  excla- 
mare  ut  in  Synephebis,  worauf  dann  z.  T.  in  Prosa  aufgelöste  Yerse  aus 
Caecilius  Statius  folgen,  deren  richtige  Herstellung  den  Gelehrten  immer 
noch  nicht  gelungen  ist. 

Ebenso  frei  geht  Seneca  natürlich  mit  seinem  Yergil  um.  Er  brauchte 
Yergilworte  als  Perlenschmuck  im  Golde  seiner  Lehrvorträge;  aber  er 
fühlte  sich  nicht  berufen,  der  Nachwelt  als  besonders  zuverlässige  Text- 
quelle für  diesen  Dichter  zu  dienen.  Epist.  10,  4  bringt  er  pone  in  ordine 
uites  aus  Eclog.  1,  73  mit  Zusetzung  des  in\  er  nennt  Vergil  dabei  gar 
nicht  und  akkommodiert  die  Worte  einfach  seiner  Prosa.  Epist.  92,  30 
zitiert  er  ohne  Slaaipel  animusque  in  corpore  praesens,  wähi-end  der  Dichter 
selbst  Aen.  5,  363  in  pectore  schrieb;  Seneca  brauchte  hier  eben  corpus, 
nicht  pectus,  für  den  Zusammenhang  seines  Exposes.  De  benef.  7,  1,  1 
bringt  er  den  Vers  Georg.  2,  45,  er  schrieb  aber  statt  carmine  ficto,  was 
zu  seinen  Gedanken  doi-t  nicht  paßte,  wiederum  einfach  cat^mine  longo. 
Diese  Textveränderimgen  darf  man  also  nicht  etwa  als  wirkliche  Lesungs- 
varianten im  Apparat  vorbringen. 

Höchst  seltsam  ist  bei  Vergil  Aen.  6,  95  der  Sachverhalt,  wo  alle 
Hss.:  audentior  ito  quam  tiia  te  Fortuna  sinet.  Ribbeck  druckt  hier 
q^ia  statt  quam  mit  Verweis  auf  „Senecae  co".  An  der  betreffenden 
Senecastelle  Epist.  82,  18  ist  aber  gleiclifalls  quam  tua  te  eqs.  Avirklich 
überliefert.  Hense  indes  druckt  in  seiner  Senecaausgabe  wiedeiiim  mit 
Rücksicht  auf  Vergil  gegen  seine  Hss.  qua.  Das  qua  bei  Seneca  findet 
also  keine  Stütze  an  der  Vergilüberlief erung ,  und  das  qua  bei  Vergil 
findet  keine  Stütze  an  der  Überlieferung  des  Seneca.  i)  Es  hängt  wie 
ein  Phantom  in  der  Luft. 

Der  Autor  TleQi  vxpovg  cap.  9,  6  begnügt  sich  nicht  damit,  aus  Ilias 
21,  388  die  Worte,  die  er  braucht,  ä^Kpl  d'  eodhiiy^ev  fieyag  ovgavog  an- 
zuführen, sondern  er  füllt  den  unvollständigen  Vers  mit  ovkvfijiog  re  eigen- 
mächtig aus,  offenbar  nur  zu  dem  Zweck,  um  dann  die  Verse  aus  Ilias 
20,  61  ff.,  die  er  auch  noch  zitieren  will,  unmittelbar  daran  anknüpfen 
zu  können.  Er  ersparte  sich  damit  für  sie  eine  neue  Einführungsphrase. 
Man  kontaminierte  eben  gern  beliebige  Stellen  aus  Homer;  das  tut  schon 
Plato  im  Staat  p.  389  E.  Im  cap.  4,  5  zitiert  derselbe  Autor  „vom  Er- 
habenen" eine  Stelle  aus  Plato  legg.  p.  741  C  folgendermaßen:  jiegl  de 
Teiyo)v,  o)  MeyiXXe,  iycb  ivju^eQOi^uf]i>  äv  rfj  Ztkiqt}]  t6  xa&evdeiv  iäv  iv  Tfj 
yfj  xataxei^ueva  rd  rsix^f]  xai  /li]  tjTapioraodai.  Plato  selbst  aber  schrieb 
nach  dem  Vokativ  MeydXe  etwas  anders:  c5  Meydke,  eycoy'  äv  rfj  Znägri] 
ivjLKpegoffifjv  t6  .  .  .  xai  jui]  enavioTavai.  Plato  setzt  also  vor  allem  am 
Satzschluß  das  Aktivum,  der  Rhetor  setzt  dafür  das  Medium.  Warum 
dies?  um  die  jambische  Satzldausel  zu  vermeiden. 2)  Er  ist  also  kein 
sicherer  Textzeuge. 


1)  Hense    gründet  hier  den  Text  auf  j  «)  Ueber  die  Satzklauseln  in  der  Schrift 

die  Hss.  FP,  weil  cod.^  schon  Epist.  71,7  |  IIsqI  vyxwg  s.  Hans  Freytag,  De  anonymi 

zu  Ende  geht  (praef .  p.  IV).  Auch  Norden,  |  n.  vy^ovg  sublimi  gen.  dicendi,  Marburg  1897, 

in  der  Ausgabe  der  Aeneis  Buch  VI,  hat  S.  72. 

den  Sachverhalt  nicht  wahrgenommen.  } 


I.  Die  Textgrundlegung.     2.  Zitate.  31 

Genialiscli  frei  sprang  man  besonders  mit  Homer  mn,  und  schon 
früli.  Man  darf  z.  B.  glauben,  daß  die  meisten  Homerzitate  des  Aii- 
stoteles  naeli  dem  Gedächtnis  gegeben  sind;i)  sie  sind  also  nicht  allzu 
hoch  zu  werten.  Auch  Plato  zitiert  z.  B.  Hipp.  min.  p.  370  C  aus  Homer 
/M)ior  statt  cpEQTFQov  (IL  1,  169).  Dennoch  haben  für  die  Geschichte  unsies 
Homertextes  die  voralexandi'inischen  Homerzitate,  die  Ludwich  sammelte,*) 
entscheidenden  A\'ert;  denn  sie  zeigen,  trotz  aller  untergelaufener  Ver- 
sehen, daß  es  vor  Zenodot  verbreitete  Homertexte  gab,  die  von  dem 
unseren,  vom  sog.  Yulgattext  des  Altertums,  gar  nicht  wesenthch  ab- 
wichen. Ja,  öfter  läßt  sich  erkennen,  daß  Lesungen,  die  uns  als  ari- 
starchisch  überliefei-t  werden,  mit  dem  Wortlaut  jener  Zitate,  die  ihm 
zeitlich  voraufliegen,  übereinstimmen,  daß  Aristarch  folglich  in  diesen 
Fällen  nur  für  das  eintrat,  Avas  er  schon  vorfand.  Aristarch  tilgie  B  192 
— 197:  dieselben  Verse  felilten  aber  schon  in  Xenophons  Exemplar;  s. 
Memorab.  1,  2,  58.  £"128  las  Aristarch  fjöe  xal  ävdga  wie  schon  Plato 
(Alkibiad.  II  [).  150  D).  Aristarch  schrieb  im  Homer  xal  xeivog,  nicht  xä- 
xeh'Os,  ebenso  las  schon  Aristoteles. 3)  Die  amplifizierende  Neigung  der 
TioXvoTixoi  (darüber  unten)  bestand  allerdings  schon  damals;'*)  gleichwohl 
scheint  in  Piatos  Homerexemplar  kein  Vers  mehr  gestanden  zu  haben 
als  in  unserer  Homervulgate.  Auch  hierüber  werden  wir  durch  die  Zitate 
l)elehrt. 

Manche  Textstellen  aus  Thukydides  finden  sich  bei  dem  Redner  Aid- 
stides,  manche  auch  bei  dem  Rhetor  Hermogenes  angeführt  ;ö)  aus  Plato 
schreibt  femer  Eusebius  (in  der  Praeparatio  evangelica)  breitere  Abschnitte 
aus.  Auch  dies  dient  uns  als  Hilfe;  denn  Avir  sehen,  daß  den  genannten 
Zeugen  gute  Hss.  vorlagen.  Die  Sammlung  der  Platozitate  aber,  die  man 
bei  Proklos,  Alexander  von  Aphrodisias  u.  a.  findet,  hat  die  wichtige  Be- 
lehrung gebracht,  6)  daß  schon  jenen  Männern  im  3. — 5.  Jahrh.  n.Chr.  ein 
Platotext  vorlag,  der  unserer  zweiten  Handschriftenklasse  (Venetus  T)  ent- 
spricht. Damit  wächst  im  Plato  das  Ansehen  der  Hss.,  die  vom  Bodleianus  B 
abweichen  (oben  S.  24).  Analog  steht  es  vielleicht  im  Galen,  dessen  Text 
man  an  den  Galenzitaten,  die  bei  Oribasios  vorliegen,')  kontrollieren  kann. 

Quintilian  ist  Rhetor,  nicht  Grammatiker,  und  Avenn  er  uns  aus  Horaz 
Od.  1,  12,  41  hunc  et  intonsis  Curium  capillis  zitiert,  so  ist  das  Flüchtig- 
keit; Horaz  selbst  schrieb  hier  incomptis;  das  wird  allein  schon  dm-ch  die 
starke  Alliteration  empfohlen.  Dieselbe  Nachlässigkeit  zeigt  Quintilian, 
wo  er  eine  sprachliche  Seltenlieit  aus  Catidl  beibringt;  er  hielt  für  nötig, 
das  AvertvoUe,  A^olkstümlich  doppelt  gesetzte  dum  bei  Catull  62,  45 

Sic  v'iTgo  dum  intacta  manet,  dum  cara  suis  est 


')  A.  Römer,  Sitz.Ber.  d.  Bayer.  Akad. 
1884  'S.  278. 

2)  A.  Ludwich,    Die   Homervulgata, 
Leipz.  1898,  S.  71  ff.:  138  ff. 

3)  Ludwich  a.  a.  O.  S.  88. 
* )  Zum  Wortgebrauch  fxSootg  jiokvanxog 

vgl.  Simplicius,  der,  Comment.  in  Epicteti 

Encheirid.  praef.,   von  Arrian    sagt:   6  zag 

EjTiy.TrjTov     hiaiQißag    h    jioXvoziyoig    oi'vtd^ag    !    et  DarembERG,  Paris  1851  ff. 

ßiß).inig.  '  ! 


^)  Siehe  F.  Schröder,  Thucyd.  histo- 
riarum  memoria  .  .  .  apud  Aristidem,  Göt- 
tingen 1887.  Weniger  brauchbar  sind  die 
Thukj'dideszitate  bei  Dionys  von  Hali- 
karnaß. 

6)  A.  ScHÄFFER,  Quaest.  Piaton.,  Straß- 
burg 1898. 

^)  Oeuvres  d'Oribase  ed.  Bussemaker 


G-ram. 
matikern 


32  Kritik  und  Hermeneutik. 

genauer   zu   erklären,   und   nui-   daclui'cli   ist   uns    das  dum   hier   erhalten. 
Aber  er  schreibt  innupta  statt  intacta,  prosaisch  und  gewiß  unrichtig,  da 
Ovid   in   einem   ähnlich   lautenden  Verse    das    intacta   nachahmt   (Metam. 
3,  355).  1) 
Zitate  bei  Grammatiker  dagegen  Avar  Flavius  Capei",  imd  wir  haben  die  Gram- 

matiker ernster  zu  nehmen,  da  es  zu  ihrem  Beruf  gehört,  Texte  zu  trak- 
tieren und  auf  das  Einzelwort  genau  acht  zu  geben.  Zitiert  also  Caper 
für  Horaz  Od.  1,  13,  2:  lactea  Telephi  bracchia,  so  fand  er  das  auch  in 
seinem  Dichtertext;  unsere  Lesung  cerea^)  gibt  auch  sonst  zu  Bedenken 
Anlaß.     Man  lese  also  lactea. 

Soll  man  nun  aber  auch  bei  Horaz  Od.  3,  14,  19: 
Spartacum  si  qua  potuit  vangantem 
nach  Charisius  p.  66  ed.  Keil  vagacem   für  vagantem  einsetzen?     Das  va- 
gacem  wäre  ein  äjia^  eiQrjfieyov,  dem  fiigacem  durchaus  tadellos  nachgebildet, 
und  es  wäre  immerhin  diesem  Dichter  zuzutrauen. 

Wie  groß  im  übrigen  der  Nutzen  der  Grammatikerzitate  ist,  läßt 
sich  hier  nicht  einmal  andeuten.  Man  denke,  was  allein  Nonius  zum 
Plautus  bringt!  oder  an  die  griechischen  Schollen,  die  ja  immer  von  Zeile 
zu  Zeile  bestimmte  Lesarten  in  dem  Text,  den  sie  erklären,  voraussetzen: 
Schollen  zu  Aristophanes,  zu  Pindar,  zu  den  Tragikern  u.  s.  f.  Das  Wicli- 
tigste  aber  sind  die  Iliasscliolien.  Denn  durch  sie  kennen  wir  Aristarch 
und  alles  Wesentliche  zui'  antiken  Textgeschichte  Homers.^)  Ein  paar 
zufällig  herausgegriffene  Litteraturstellen  seien  hier  wieder  vorgeführt: 
Plaut.  Truc.  121  wird  die  Lesung  odio  es  nicht  unseren  Hss.,  sondern  einem 
Priscianzitat,  Plaut.  Cui'c.  99  die  Schreibung  nautea  dem  Nonius  verdankt. 
Nonius  las  auch  Mostell.  1  colina  f.  culina;  so  las  aber  auch  schon  Varro, 
der  das  Wort  von  colere  ableitete.  Der  Lulo-ezvers  11  44  steht  in  keiner 
Hs. ;  Nonius  gibt  ihn  uns,  und  Lambin  hat  ihn  [an  dieser  Stelle  in  den  Text 
eingefügt.  Wie  die  Aristophanesscholien  gelegentlich  dem  Aristophanes- 
text  dienen,  zeigt  A.  E/Ömer,  Studien  zu  Aristoph.  (1902)  S.  57  f.  Im 
Aeschylus  Eum.  730  Weckl.  ist  das  daljuovag  unverständlich;  im  Schohon 
zu  Euripides,  Alk.  12,  wird  aber  diese  Aeschylusstelle  zitiert  und  diayojudg 
gelesen;  das  ist  richtig: 

ov  xoi  jialaiag  öiavo/näg  ^caracpßioag 
oivcp  jraQrjjidrrjoag  dgxacag  ßsdg. 

Gleich  im  Anfang  des  Prometheus  Vers  2  steht  irrig  äßazov  t  eig  igrjjuiav. 
Dem^ Homer-  und  Aristophanesschohasten  wird  das  richtige  wirkungsvolle 
äßgoTov  ek  eQfjjuiav  entnommen.  AlinlichJ[steht  es  auch  ebenda  im  Vers  6. 
Die  Form  aloj  für  a<a>va 'bezeugen  als  äschyleisch  die  Bekkerschen  Anek- 
dota  p.  363,*und  diese  Form  hat*man  in  den  Choephoren  349  W.  passend 
eingesetzt. 

Dies  aber  führt  uns  unmittelbai*  zu  den  Lexika  weiter. 


aUeber   den  Wert   der  Cicerozitate  |  ^)  Die  auch  zweihundert  Jahre  später 

uintilian   hat   gehandelt  P.  Emlein,  i    Servius  als  Yulgate  kannte. 

De  locis  quos  ex  Cic.  orat.  laudavit  Quin-  \  ^^  K.  Lehrs  ,    De    Aristarchi    studiis 

tUianus,  Karlsruhe  1907,    ohne  ein  festes      Homericis,  s.  oben  S.  8.     Für  Pindar  vgl. 
Gesetz    zu    finden.     Die    Frage    wäre    in       A.  Böckh,  Kl.  Schriften  Y  S.  369. 
weiterem  Umfang  zu  behandeln. 


I.  Die  Textgrundlegung.     2.  Zitate.     3.  Lexika. 


33 


3.  Lexika. 

Es  sei  hier  auf  griechischem  Gebiet  nur  an  Hesych  (ed.  M.  Schmidt),  ^""j^^^'^^j^^^® 
vSuidas  (ed.  Bernhardy),  Photius  (ed.  Naber)  i)  und  die  Etymologika  (Etym. 
Magnum;  Etym.  Gudianum)  kurz  erinnert.  *)  Dies  sind  umfangreiche 
zusammenfassende  Arbeiten;  daneben  stehen  Speziallexika,  wie  Harpo- 
kration  zu  den  Rednern,  Timaeus  zu  Plato,  Apollonius  Sophista  zu 
Homer.  Die  wichtigsten  der  genannten  sind  Hesych  und  Suidas.  Diese 
Werke  sind  aber  zum  Teil  aus  SchoHen  hervorgegangen^)  und  haben 
also  gleichen  Wert  wie  sie.  Manche  PlatosteUe  ist  aus  dem  Timaeus, 
manche  Tragikerstelle  aus  Hesych  geheilt.  Denn  Hesych  nennt  zwar  meist 
den  Dichter  nicht,  aus  dem  die  Glosse  stammt,  die  er  erklärt.  Aber  wir 
können  ihre  Herkunft  oft  mit  Sicherheit  erkennen.  So  steht  Soph.  Oed. 
CoL  1199  sinnlos  ov  ßiaia;  man  liest  hier  ovxi  ßaid  nach  Hesych;  so  wird 
Aescli.  Choeph.  424  das  Wort  irjhjuioTQiag  dem  Hesych  verdankt;  das 
äyyaQov  nvQog  Agam.  294  dem  Etymol.  Magnum  und  Suidas.  Bei  Hesiod 
Erga  344  stellte  Spohn  eyxcojuiov  aus  den  Lexika  her,  wo  die  Hss.  eyxcDQiov 
bieten;  ersteres  heißt  „was  im  Dorf  {xcojuf])  ist".  In  dem  Callimachus- 
fragment  bei  Athenaeus  p.  329  A  ist  der  Fischname  ixiag  in  iKräga  zu 
emendieren  nach  Hesych  s.  v.  Für  Thukydides  aber  läßt  sich  das 
geographische  Lexikon  des  Stephanos  von  Byzanz  (ed.  Dindorf),  betitelt 
^EdviyA  und  nur  im  Auszug  erhalten,  gelegentlich  heranziehen.  Thuk. 
2,  23  steht  sinnlos  IIsiQaix^;  es  ist  nach  Stephanos  yfj  rgacxi]  einzusetzen; 
4,  56  steht  'A^Qodiola;  Stephanos  aber  gibt  die  richtige  dorische  Form 
'A(pQodiria.^) 

Gleichwohl  sind  die  Lexika  mit  Vorsicht  auszunutzen,  da  sie  zu  ihren 
Glossen,  wie  gesagt,  zumeist  den  Autor  nicht  nennen.  G.  Hermann  hat 
hier  zum  Aeschylus  in  maßvoller  Weise  den  Weg  gewiesen,  Heimsöthö) 
dagegen  überschritt  die  Grenze  des  Rationellen,  als  ob  es  uns  freistünde, 
für  jedes  etwas  trivial  Idingende  Wort  in  den  Tragikern  ein  seltenes  aus 
dem  Glossenschatz  der  Lexika  einzusetzen. 

Bisweilen  tritt  aber  auch  der  umgekehrte  Fall  ein,  daß  uns  die 
Lexika  durch  Angabe  der  Herkunft  des  Zitates  in  Verlegenheit  setzen. 
Wenn  Hesych  folgendes  bringt:  äoxevoig-  yjdoTg  äjiaQaoxevoig  Aloxvlog 
Ayajusjuvovi,  so  sucht  man  im  Agamemnon  nach  dem  hier  angeführten 
Wort  vergebens.  6)  Ähnliche  Schwierigkeit  bereitete  die  Mitteilung  des 
Scaurus,  der  behauptete,  in  Plautus'  Captivi  verliere  ornatus  sein  s 
(s.  Grammatici  lat.  VII  p.  561);  doch  kann  dies  schUeßHch  wohl  auf 
Captivi  997  bezogen  werden.  AuffäUig  ist  auch  manches,  was  der  liber 
de  dubiis  sermonibus  bringt.  Besondere  Schwierigkeiten  macht  mit  ihren 
Zitaten  die  Schrift  De  generibus  nominum;  mehr  noch  Fulgentius. 


1)  Dazu  R.  Eeitzenstein,  Der  Anfang 
des  Lexikons  des  Photios,  Leipz.  1907. 

2)  Eine  genügende  Ausgabe  dieser 
Etymologika  fehlt  noch;  die  Vorarbeiten 
gab  Eeitzenstein.  Danach  Etymolog.  Gu- 
dianum ed.  A.  DE  Stephan!  ,  begonnen 
Leipz.  1909. 

3)  Vgl.z.  B.F.Heimsöth,  Die  indirekte 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I 


Ueberlieferung  des  äschylischen  Textes, 
Bonn  1862;  J.  J.  Frey,  De  Aeschyli  schol. 
Mediceis,  Bonn  1857. 

4)  Niese,  Hermes  14  S.  423  ff. 

2  Die  Wiederherstellung  der  Dramen 
eschylus,  Bonn  1861 ;  Krit.  Studien 
zu  d.  griechischen  Tragikern,  Bonn  1865. 
6)  Vgl.  Agam.  1323  W. 


3.    3.  Aufl. 


3 


Glossare 


34  Kritik  und  Hermeneutik. 

Endlich  ist  für  das  Latein  hier  Festus,  zum  Teil  auch  wieder  Nonius 
Lat.  zu  nennen;  dazu  die  Sammlung  der  lateinischen  Glossare.  Natürlich 
schaffen  auch  diese  namenlosen  lateinischen  Glossare  ihren  Nutzen.  Doch 
sind  sie  großenteils  nicht  aus  Schollen  hervorgegangen  und  können  daher 
zur  Emendation  nicht  in  gleicher  Weise  Verwendung  finden.  "Wenn  z.  B. 
Usener^)  bei  Plautus  Most.  40  versuchte,  rullus  für  rusficus  einzusetzen,  weil 
die  Glossare  CGL.  II  175,  60  rullus  in  diesem  Wortsinn  glossieren,  so 
überzeugt  das  nicht.  Etwas  anderes  ist  es,  wenn  gewisse  Wörter,  die  in 
unsem  Texten  stehen  und  die  da  als  d'jral  etQr]jLieva  unser  Befremden  er- 
regten, auf  diesem  Wege  ihre  Sicherung  und  Bestätigung  finden.  So- 
wird  uns  das  basso  in  sudore  (=  pingui,  crasso  in  sudore)  bei  Catull 
68  B  61,  so  das  formitata  in  Vergils  Catalepton  IIP  3  in  der  Tat  durch 
die  Glossare  bestätigt.*)  Man  vergleiche  auch  Corp.  gloss.  V  72  zu  dem 
habitior  bei  Plautus  Epid.  10  und  das  haedüiae  bei  Horaz  in  den  Oden 
I  17,  9,  das  Bücheier  aus  Corp.  gloss.  III  432  gewann.  Auch  für  Petron 
sind  so  die  Glossen  nützHch  geworden.  3)  Bei  Juvenal  7,  87  steht  der 
Akkusativ  Ägauem,  so  mit  m,  in  den  Hss.  Die  Herausgeber  haben  die 
Pfhcht,  zu  dieser  Stelle  anzumerken,  daß  Agauuem  cantionem  novam  auch 
im  Corp.  gloss.  lat.  Y  652,  13  steht,  welche  Glosse,  wie  Götz  erkannte,, 
eben  auf  diese  Juvenalstelle  hinbhckt;  und  zwar  stimmt  mit  der  Glosse 
das  JuvenalschoHon,  das  Ägauem  mit  cantionem  inauditam  erklärt,  so  über- 
ein, daß  ein  Zusammenhang  mit  den  Schollen  evident  ist.  Das  m  im 
Akkusativ  wurde  also  sicher  im  4. — 5.  Jahrhundert  gelesen. 

4.  Exzerpte. 

Wert  der  Eine    Geschichtc    der    antiken   Breviarien    oder    imrojuaij    die    schon 

früh  und  schon  vor  der  Alexandrinerzeit  einsetzt,  zu  geben,  ist  hier 
unmöghch.^)  Natürhch  sind  diese  Auszüge  für  uns  da,  wo  das  Ori- 
ginalwerk ganz  oder  teilweise  verloren  ging,  unschätzbar;  ich  erinnere 
nur  an  die  Periochae  des  Livius  und  an  die  Controversiae  des  Seneca, 
wo  uns  die  Exzerpte  die  verlorenen  Bücher  ersetzen  müssen.  Wo  der 
Autor  dagegen  vollständig  erhalten  ist.  Hegt  es  nahe,  den  Auszug  ganz 
beiseite  zu  werfen.  Indes  stellt  es  sich  bisweilen  heraus,  daß  er  nach 
einer  besonders  guten  Textvorlage  hergestellt  ist  und  also  sonst  un- 
bezeugte  Lesungen  enthalten  kann,  wie  jener  Paris,  der  den  Valerius 
Maximus  exzerpierte.  Daher  hat  Niese  die  Josephusexzerpte  vollständig 
zimi  Abdruck  gebracht,  ebenso  Boissevain  die  Auszüge  zmn  Cassius  Dio.^) 
Schwenke  edierte  die  zu  Ciceros  philosophischen  Schriften.^) 
Theophrast  Auch   die   kleine  Epitome   zu  Theophrasts  Charakteren  bewährt 

sich,  wennschon  sie  oft  frei  verfährt  und  das  überlieferte  Wort  durch  ein 
anderes  sinnverwandtes  ersetzt,  und  es  ist  gut,  daß  man  sie  mit  abdruckt. 


Ehein.  Mus.  14  S.  469. 

2)  Siehe   Ehein.  Mus.  59   S.  428    und 
meine  Cataleptonausgabe  S.  40. 

3)  Siehe  W.  Heraeus,  Die  Sprache  des 
Petronius  und  die  Glossen,  Offenbach  1899. 

^)  Vgl.  Das  antike  Buchwesen  S.  381 
Anm. ;  Stemplinger  a.  a.  O.  219  f. 


^)  Vgl.  die  Neuausgabe  der  Excerpta 
historiae  des  Oonstantinos  PorphjTogenetos 
(1906  f.),  an  der  De  Boor,  Büttner-Wobst, 
Boissevain  beteiligt  sind. 

6)  Vgl.  über  die  Oiceroexzerpte  jetzt 
Wiener  Studien  1912. 


I.  Die  Textgnmdlegung.     3.  Lexika;  4.  Exzerpte;  5.  Florilegien.  35 

Aber  auch  von  den  neuesten  Herausgebern  der  Charaktere  wird  sie  m.  E. 
noch  nicht  genügend  ausgenutzt,  und  es  seien  hier  deshalb  ein  paar 
Stellen  daraus  vorgeführt,  i)  1,  1  gibt  die  Epitome  jiQoojiolrjoig  im  t6 
X^^QoVy  und  das  ist  besser  als  das  ejtI  xeiQOv  der  Hss.,  wie  z.  B.  c.  28,  1 
elg  To  yeiQoy  beweist.  Auch  3,  5  hat  sie  den  Artikel  rd  vor  Aiovvoia 
erhalten.  Zu  2,  3  ist  klar,  daß  der  Epitomator  mit  den  besten  Hss.  Xeyeiv, 
nicht  Xeycov  las;  wenn  er  schreibt  xai  anXayg  eiJieiv  ndvxxov  C^jlcoTÖrarog  xal 
öoa  totavra  xtX.,  so  muß  er  in  seiner  Vorlage  folgendermaßen  gelesen 
haben:  xal  äkXa  roiavxa  keyeiv  (xai)  dnb  xov  ijuariov  äcpeXeXv  xgoxvda,  und 
dies  ist  gCAviß  anzunehmen.  2)  5,  4  sichert  er  uns  den  Akkusativ  rovg 
^evovg  de  eijielv  cbg  .  .  .  1,  4  ist  der  Wortlaut  q)i]oai  eri  ßovXeveo&ai  voll- 
kommen sinngemäß,  das  en  kaum  zu  entbehren  und  eine  Bereicherung 
des  Textes,  die  gCAviß  aus  der  Vorlage  der  Epitome  stammen  kann.  Diese 
dem  cod.  Parisin.  B  nächstverwandte  Vorlage  übertraf  hie  und  da  unsere 
Hss.  der  „Charaktere"  an  Treue. 

Daneben  sei  hier  nur  noch  an  Exzerpte  aus  lateinischen  Dichtem, 
die  uns  für  den  Text  des  Catull,  Tibull  und  Ovid  wichtige  Dienste 
leisten,  erinnert.  Eine  Haupthandschrift  dafür  ist  der  codex  Thuaneus, 
Parisinus  lat.  8071  saec.  IX — X,  in  welchen  Catulls  carm.  62  vollständig 
Aufnalime  fand.  So  ist  auch  Martial  viel  exzerpiert  Avorden.^)  Zahlreiche 
solche  Dichterexzerpte  sind  dann  in  das  allumfassende  Speculum  doctri- 
nale  des  Vincentius  Bellovacensis  gelangt. 

Eine  Hs.  wie  der  angeführte  cod.  Thuaneus  ist  aber  in  Wirklichkeit 
nichts  anderes  als  ein  Florilegium,  eine  sinnvolle  Auslese  schöner  oder 
denkwüi-diger  Litteraturstellen,  und  so  führt  uns  dies  unmittelbar  zur  Be- 
sprechung der  Blütenlesen  weiter. 

5.  Florilegien. 

Ein  Florilegium  ist  entweder  ein  verkürzender  Auszug,  wofür  wir 
soeben  Beispiele  kennen  gelernt  haben,  oder  es  ist  eine  Zitatensamm- 
lung. Im  erst^ren  Fall  ist  seine  Wirkung,  daß  die  zugrunde  ge- 
legten Originalwerke  selbst  in  der  Folgezeit  in  Vergessenheit  geraten; 
dafür  ist  die  Palatinische  Anthologie  das  bekannteste  Beispiel;  aber 
auch  die  Geschichte  der  antiken  Tierfabel  fäUt  unter  diesen  Gesichts- 
punkt. Der  originale  Phaedrus  ist  uns  verloren,  weil  man  aus  seinen 
fünf  Büchern  die  Auslese  herstellte,  die  uns  vorlieg-t.  Uns  interessieren 
an  dieser  Stelle  \delmehr  die  alten  Zitatensammlungen,  die  meist  unter  zitaten- 
moralistischem  Gesichtspunkt  zustande^  kamen.  Der-  moralistische  Ge-  l^^^^ 
Sichtspunkt  herrscht  nicht  nm-  in  vielen  Florilegien  des  Mittelalters,^)   er 

^)  DiELS  Beurteilung  derselben  praef.  1  gesellt,  wie  Sokrates  es  mit  den  Sophisten 
p.  XXII  überzeugt  mich  nicht.  '   hielt.     Das  o?'  /nioeTv  muß  aus  6/m^Tv  ver- 

2)  Denn  ein  xai  fiel  in  diesem  Text  j  schrieben  sein,  ein  xai  aber  ist  dabei  un-; 
leicht  aus :  so  wird  xai  von  Diels  4,  9  vor  |  entbehrlich ;  also  roTg  sx^goTg  e&eXeiv  laksTv 
TTjv  OtfQav  ergänzt,  und  auch  1,  2  gehört 
hierher,  wo  es  §  2  sinnlos  heißt:  roTg  i/ßgoTg 
e§Ehiv  laXsTv,  ov  ^loeTv.  Dies  ov  fiioElv  versucht 
man  umsonst  zurechtzurenken.  Ob  der 
Ironicus  liaßt  oder  liebt,  ist  überhaupt 
gleichgültig.  Gesagt  soll  werden,  daß  er 
grade  seinen  Widersachern  sich  gern  zu- 


xui  o^ihlv.  So  fiel  3,  4  auch  (hg  aus,  wo 
zu  lesen  ist:  xal  <ök>  ;ft?£?  ^fieos.  Denn 
im  cap.  3  wird  die  indirekte  Rede  durch- 
geführt. 

3)  Siehe  ed.  Friedländer  S.  67  u.  89  f. 

*)  Siehe  meine  Claudianausgabe  praef. 
S.  175  f. 

3* 


36  Kritik  und  Hermeneutik. 

herrscht  auch  schon  in  den  antiken  Monosticha  Menanders  und  den]  Sen- 
tentiae  PubHlii  Syri.i)  Den  wertvollsten  Zitatenschatz  des  Altertums  aber 
stobaeiis  hinterließ  uns  Joannes  aus  Stobi,  den  man  Stobaeus  nennt,  aus  dem 
Anfang  des  6.  Jahrhimdeits,  unter  dem  Titel  \4vdoX6yiov  (im  Mittelalter 
in  zwei  Werke  'Exloyal  und  "Av&oXoyiov  zerlegt) :  2)  ein  System  der  grie- 
cliischen  Ethik,  Gesellschafts-  und  Pfhchtenlehre.  Stobaeus  bringt  eine 
unendliche  Fülle  ethischer  Sentenzen  oder  auch  größere  Abschnitte  aus 
über  500  Autoren.  Natürlich  war  er  dabei  öfters  genötig-t,  die  Anfangs- 
worte der  betreffenden  Stelle  willkürlich  abzuändern,  da  sie,  aus  ihrem 
Zusammenhang  gerissen,  selbständig  dastehen  sollte.  Dasselbe  Verfahren 
kann  man  auch  in  den  lateinischen  Florilegien  des  MA.  beobachten.  Im 
übrigen  aber  schreibt  Stobaeus  seine  Vorlagen  sorglich  aus,  und  er  be- 
nutzte oft  gute  Vorlagen.  An  gelegentlichen  Abweichungen  von  unseren 
Texten  fehlt  es  nicht,  z.  B.  in  den  Xenophonabschnitten.  Im  Plato  geht 
er  mit  Venetus  T;  vgl.  z.  B.  Protag.  p.  324  B;  Euth^^d.  p.  280  D.  Welche 
Fülle  von  Fragmenten  nicht  erhaltener  Autoren  wir  dem  Stobaeus  ver- 
danken (ich  nenne  nur  Teles),  kann  hier  nicht  dargelegt  Averden. 

6.  Übersetzungen  und  Paraphrasen. 

über-  Welchen  Nutzen  eine  Übersetzung  hat,  zeigt  am  einleuchtendsten  die 

se  Zungen  gj.JQ(,]^ig(3}^ß  Soptuaginta,  die  für  die  Gestaltung  des  hebräischen  Urtextes  des 
Alten  Testaments  als  erste  und  wichtigste  Quelle  dient.  3)  Es  versteht  sich, 
daß  es  mehr  Fälle  dieser  Art  gibt;*)  ich  erwähne  nur  den  Dichter  Arat  mit 
den  lateinischen  Versionen  des  Cicero,^)  des  Germanicus  und  des  Avien;  so- 
dann Piatos  Timaeus,  übersetzt  von  Cicero  und  von  Chalcidius ;  auch  Pseudo- 
Aristoteles de  mundo,  übersetzt  von  Apuleius;  füi-  des  Eusebius  Kirchen- 
geschichte die  lateinische  Übersetzung  des  Rufinus  und  die  wichtigere 
syrische ;  vor  allem  die  griechische  Chronik  desselben  Eusebius,  dio  mit  Hilfe 
der  lateinischen  Übersetzung  des  Hieronymus,  aber  auch  einer  armenischen 
Übersetzrmg  sich  hat  rekonstruieren  lassen  (ed.  A.  Schöne).  Für  den  Histo- 
riker Eutrop  benutzt  man  die  griechische  Übersetzung  des  Paionios.  Aber 
auch  die  translatio .  vetus  des  Aristoteles  aus  dem  13.  Jahrhundert  sei  er- 
wähnt, da  sie  als  wortgetreu  und  wertvoU  gilt.  Endlich  aber  stehen  hiermit 
Para-  auf  einer  Linie  auch  solche  Prosaparaphrasen  von  schwierigen  Gedicht- 
phrasen  ^^rgi-j^^jj^  ^^{q  (jj^  (jgg  Eutoknios  ZU  Nikaudors  Alexipharmaka  und  Lykophrons 
Alexandra,  paraphrasieii  von  Tzetzes.  Wenn  man  die  metrischen  Fabeln 
des  Babrios  in  Prosa  auflöste,  so  läßt  sich  auch  dies  als  eine  Art  Para- 
phrase hier  anreihen. 

Natürlich  kann  also  nun  in  solchen  Fällen  das  Original  nach  der 
Übersetzung,  bisweilen  aber  auch  die  Übersetzung  nach  dem  Original 
korrigiert  werden.  Im  Josephus  latinus  contra  Apionem  II  202  steht 
unter  den  Vorschriften,  die  das  „Gesetz"  gibt:  universis  autem  mulieribus 

^)  Beispiel  eines  Florilegiums  aus  vor-  i  1905. 

christlicher    Zeit    s.  Kaibel,    Hermes   28  j  '*)  Einiges  stellt  Stemplinger  a.a.O. 

S.  62  f.;  Stemplinger  S.  10.  i  S.  212  zusammen. 

2)  ed.  Wachsmuth  und  Hense.  |  ^)  Vgl.  0.  Atzert,  De  Cicerone  inter- 

')  Vgl.  G.  Jahns  Ausgaben  des  Buch  |  prete  Graecorum,  Göttingen  1908. 

Esther  und  des  Ezechiel;  letztere  Leipz.  : 


I.  Die  Textgrundlegung.     6.  Übersetzungen;  7.  Entlehnungen.  37 

interdixit  vel  celare  quod  statum  est  vel  .  .  .  Das  ist  unverständKcli ; 
C.  Boysen  stellte  hier  nach  Nieses  Vorschlag  quod  satum  est  her;  denn 
im  Original  steht  oTiagev.  So  korrigiert  C.  Atzert^)  unter  Anleitimg  der 
Ciceroübersetzimg  in  Piatos  Timaeus  u.a.  p.43A  äXmoig  in  avroig.  Nützlich 
erweist  sich  auch  die  arabische  und  die  syrische  Übersetzung  für  den  Text 
der  Poetik  des  Aristoteles.  Poetik  I,  3  gibt  die  Pariser  Hs.  sinnlos:  rcß 
yevei  hegoig  juijUMo&ai,  zu  fordern  aber  ist  reo  ev  hegoig  juijuelo&m.  Wirklich 
las  so  der  Arabs:  imitatur  rebus  diversis.  Ebenda  IX,  9  fehlt  im  Arabs 
das  övvajä  yiveodai,  das  an  dieser  Stelle  bloß  Dittographie  ist  zu  ola  äv 
eixög  yevEo&ai.  Es  ist  also  zu  tilgen.  Ebenda  IV,  12  lesen  wir  nach 
Vahlens  Emendation:  Mv  rig  ecpe^fig  §fj  giqoeig  fjd^ixdg  xal  Ae^ei  xai  diavoia 
fv  7i€Jioü]juevag  (wo  Aeieig  xal  diavoiag  die  Hs.).     Dies  bestätigt  der  Syrus. 

7.  Entlehnungen. 

Mit  Entlehnung  ist  hier  zimächst  der  Fall  gemeint,  daß  ein  Autor  eine  i»  der  Prosa 
Vorlage  ausschreibt,  und  zwar  eine  solche,  die  wir  noch  besitzen.  Zunächst 
in  der  Prosa.  Plinius  exzerpiert  in  seiner  Naturgeschichte  die  Tiergeschichte 
des  Aristoteles,  freilich  wohl  nicht  direkt,  sondern  nach  der  Übersetzung 
imd  Redaktion  des  Pompeius  Trogus.  Wer  nun  beide  genau  vergleicht» 
ge^vinnt  soAvohl  für  den  Aristoteles-  wie  für  den  Pliniustext  Berichtigung. 
Bei  Aristoteles  p.  598  A  25  ist  ev  rcp  Älyaio)  zu  lesen  nach  Plin.  9,  48;  da- 
selbst p.  598B  8  ist  TÖ  Tivevjua  in  t6  Qevjua  zu  ändern;  2)  denn  Plinius  gibt 
an  der  entsprechenden  Stelle  fluctus.  Besonders  aber  verrät  Phnius,  daß 
der  Aristotelestext  \a  elf  ach  lückenhaft  ist  und  Kürzungen  erfuhr.  3) 

Aber  auch  der  Fall  kommt  vor,  daß  zwei  Autoren  eine  gemeinsame 
Vorlage,  die  nicht  erhalten  ist,  ausschreiben.  Alsdann  können  wir  einen 
am  andern  kontrollieren.  So  beruhen  die  Lexika  des  Suidas  und  des  Photios 
auf  gemeinsamen  Vorlagen,  und  da  das  letztere  schlecht  überliefert  ist, 
zieht  man  zur  Herstellung  seines  Textes  Suidas  durchgängig  heran. 
Plutarch  erzählt  De  sollertia  animalium  p.  977  E^  daß  der  Fisch  Xdßga^ 
sich  durch  List  dem  Netz  entzieht:  xal  rvjirei  xodaivcov  ro  edaqjog,  Avas 
unverständlich,  denn  durch  rvjtreiv  erreicht  der  Fisch  seinen  Zw^eck  nicht; 
in  den  Halieutica  des  sog.  Ovid  steht  nun  vom  selben  Fisch  lupus  die- 
selbe List,  aber  es  heißt  Vers  24:  submissus  sidit  harenis,  d.  h.  er  bückt 
sich  nieder.  Also  ist  auch  bei  Plutarch  xvjirei  zu  schreiben.  Die  gemein- 
same Vorlage  war  wohl  Chrysipp.'*)  Das  glossographische  Material  des 
Athenaeus  steht  mit  dem  des  Hesych  in  quellenmäßigem  Zusammenhang, 
und  wenn  wir  bei  jenem  p.  308  E  lesen  vjiö  noXXwv  oajiegdrjv  Jigooayo- 
oeveo&ai,  bei  diesem  aber  zu  oajregdrjg  notiert  wird  vtio  Uovtixöjv,  so  wird 
auch  Athenaeus  vjio  IJovrixöjv  geschrieben  haben. '^)  Am  lehrreichsten  ist 
das  Corpus  glossariorum  latinorum;  denn  viele]  dieser  spätlateinischen 
Glossare  wirtschaften  mit  dem  gleichen  Wortschatz,  und  ungefähr  auf 
jeder  Seite   kann  [man   die   barbarischen  Verschreibungen   des  einen   mit 

*)  a.  a.  0.  S.  16.  I  dum  trahit  tnare. 

2)  Dies   ist   in   Dittme:yers  Ausgabe  i  »)  Vgl.  De  halieuticis  p.  137 — 154. 

nicht   bemerkt.     Es   ist   das  Scholion   zu  |  *)  De  halieut.  p.  75. 

Juvenal  4,  43,  das  auf  den  Pontes  Bezug  ^)  Vgl.  De  halieut.  p.  182. 

hat,  zu  vergleichen:  ülicmwi  rheuma  qtiae-  \ 


38  Kritik  und  Hermeneutik. 

Hilfe  eines  der  übrigen  korrigieren.  Als  musterhaftes  Beispiel  sei  liier 
noch  Mommsens  Ausgabe  des  Solinus  genannt,  der  zur  Kontrolle  des 
Textes  die  Quellenstellen  aus  Plinius  und  Mela  notierte  und  überdies 
zeigte,!)  Avie  des  Plinius  Text  selbst  mit  Hilfe  des  Solin  zu  emendieren  ist. 
bei  Hierzu  kommen  nun  noch  die  Imitationen  bei  den  Dichtern.    Denn 

^^  wenn  ein  Dichter  einen  andern  nachahmt,  so  können  Avir  Aviederum,  avo 
die  Lesung  SchAvierigkeiten  bereitet,  mit  Hilfe  der  Beobachtung  solcher 
Imitationen  eine  Entscheidimg  treffen,  und  es  muß  Pflicht  jeder  kritischen 
Ausgabe  sein,  auch  die  Imitationen  mit  vorzuführen.  0.  Ribbecks  erste 
Vergilausgabe  ging  damit  rühmlich  A^oran.  Freilich  ist  dem  subjektiven 
Ermessen  hier  breiter  Spielraum  gegeben  und  die  Grenze  ZAAäschen  zu- 
fälligem Anldang  und  beAvußter  Nachahmung  oft  scliAver  zu  ziehen.  2) 
Centone  Voran  stehen  dabei  die  eigentlichen  Centone,  Avie  der  X^iotog  ndoxojv, 
ein  Cento  aus  Euripides,  der  Cento  nuptialis  des  i^uson  und  die  Nummern 
11 — 20  der  Anthologia  latina  (darunter  Hosidius  Geta's  Medea);  ferner 
Anthol.  Pal.  9,  381  und  382  nach  Homer;  so  aber  auch  schon  der  alte 
homerische  Hymnus  auf  Aphrodite.  3) 
Imitation  Di  OSO  Centonc   sind   so   gut   Avie   Zitatensammlungen   aus   Euripides, 

aus  Vergil  und  Homer.  Daneben  steht  sodann  die  freie  Nachahmung 
der  eigentlichen  Dichter.  Für  sie  könnten  hier  scliließHch  sämtliche  alten 
Autoren  aufgezählt  Averden;  denn  im  Grunde  beruht  ja  die  ganze  Ent- 
Avicklung  der  antiken  Poesie  auf  solcher  Imitation  (schon  innerhalb  des 
Homer  selbst).  In  Adelen  Fällen  Avar  sie  auch  parodistisch,  \Ade  bei  den 
Komikern,*)  und  diese  Parodien  geben  dann  gelegentlich  Avieder  Hilfe. 
Bei  Aeschylos  Ag.  113  AAdrd  das  xal  ysQi  aus  Aristophanes'  Fröschen  1288 
entnommen.  Übrigens  parodierten  auch  die  Philosophen,  avo  sie  spotten, 
in  lustiger  Weise  ihre  Dichter.  Auf  Arkesilaos,  den  Eklektiker,  Avurde 
der  Vers  gemacht:  jiQooße  TTXdrov,  om&ev  Uvqqwv,  jueooog  Aiodojgog  (Diog. 
La.  4,  33).  Der  Cyniker  Diogenes  verspottete  den,  der  reichlich  opsonia 
einkaufte,  mit  dem  Vers  (hxvjuoQog  di]  juoi,  rexog,  eooeai  oV  äyogäCsig  (nach 
^  95),  setzte  also  äyogaCeig  für  äyogeveig  ein  (Diog.  La.  6,  53). 

Aber  auch  in  der  Prosalitteratui'  ist  auf  stilistische  Imitation  zu 
achten;  so  ahmt  Prokopius  in  dem  Grade  den  Thukydides  nach,  daß 
sich  daraus  Adelleicht  auf  die  Beschaffenheit  seines  Thukydidestextes 
Schlüsse  ziehen  lassen. 

Der  Nutzen  solcher  Beobachtungen  sei  endlich  noch  durch  ein  nam- 
haftes Beispiel  illustriert.  Gleich  an  der  SchAvelle  der  Aeneis  Vergils  strau- 
cheln AAdr  über  eine  Variante.     Aen.  1,  2  lautet: 

Italiam  fato  profugus  Laviniaque  venit  Litora. 
SerAdus  merkt  dazu  an:  Lavlnaque  legendum  est,  und  Lavina  gibt  Avirklich 
der  cod.  Eomanus  Vergils,  und  auch  im  Mediceus  ist  das  l  getilgt.    Denn 
durch  dies  i  Avird   der  Vers   zerstört,    da    an    Synizese    des    ia    nicht    zu 


1^  2.  Ausgabe  Berlin  1895,  S.  IX  f.  j   nerem  Homerico,  Dissert.  phil.  Hai.  Bd.  15 

2)  Imitationen  sammelten  für  die  rö-  j    (1903). 

mische  Litteratur  besonders  Zingerle  und  |  *)  Vgl.  z.  B.  W.  Scherrans,  De  poet. 

Hosius.  i    com.  Atticorum  studiis  Homericis,  Königs- 

3)  Vgl.  H.  Trüber,  De  h;>Tnno  in  Ve-  '   berg  1893. 


I.  Die  Textgrimdlegung.     7.  Entlehnungen;  8.  Stichometrisches.  39 

glauben  ist.  Yergil  kennt  solche  Synizese  im  Versinnern  nicht.  So  be- 
stätigt denn  schon  Properz  II  34  64  die  Fordemng  des  Servius,  wo  er 
von  Vergil  sagt:  Qui  nunc  Äeneae  Troiani  suscitat  arma  lactaque  -Lavinis 
moenia  IHoribus:  eine  deutliche  Anspielung  auf  den  Anfang  der  Aeneis. 
Properz  kannte  damals,  als  er  die  Elegie  II  34  dichtete,  vom  Yergilwerk 
gewiß  nur  Entwürfe,  noch  kein  ediertes  Exemplar;  auch  da  aber  stand 
also  schon  Lavinaque.  Denn  daß  bei  Properz  etwa  Lavinis  durch  Kon- 
traktion für  Laviniis  eintrat,  ist  durch  den  Sprachgebrauch  dieses  Dichters 
ausgeschlossen.  Es  gab  also  ein  Nomen  Lavinus,  das  sich  zu  Lavinium 
verhielt  wie  Umher  zu  Urnbriay  Uns  zu  Ilium,  und  auch  Juvenal  schrieb 
darum  12,  71,  wo  er  von  Roms  Urgeschichte  redet,  Lavino.  Eine  auf- 
fälUge  Analogie  bietet  auch  das  subigit  omne{m)  Loucanam  der  Inschrift 
des  Scipio  Barbatus;  aus  Yersnot  ist  hier  Loucanam  für  Loucaniam  ein- 
getreten. ^)  Wir  haben  also  bei  Yergil  Lavinaque  venit  in  den  Text  zu 
nehmen. 

Bequemer  hegt  die  Sache  in  anderen  Fällen.  So  sahen  Avir  oben 
iß.  22),  daß  bei  Juvenal  lY  67  die  Lesung  sagina  durch  die  Imitation  in 
Cyprians  Heptateuch  gesichert  wird.  Bei  Properz  r\"  8,  15  heißt  es  sinnlos 
von  der  kutschierenden  C^Titliia: 

Huc  mea  detonsis  avecta  est  Cj^nthia  ab  annis. 
Statt  ab  annis  ist  equis  zu  fordern.  Beroaldus  stellte  mannis  her,  und 
dies  bestätigt  der  Nachahmer  Ovid  Am.  2,  16,  49.2)  Ebenso  wird  bei 
Ovid  selbst  Trist.  I  1,  90  gegen  den  Codex  Florentinus  die  Lesung  Icariis 
nomina  fecit  aquis  durch  Auson.  Epist.  19,  p.  180,  33  Schenkl:  Icario  qui 
fecit  nomina  ponto  gesichert. 

8.  Stichometrische  Angaben. 

Zu  manchen  Schriftwerken,  auch  Prosawerken,  wird  mis  die  Stichen-  sticho- 
zahl,  also  die  Summe  der  Zeilen,  die  das  Werk  enthält,  aus  dem  Alter- 
tum sorgHch  überhefert,  so  bei  den  Reden  des  Demosthenes ;  oder  es 
steht  gar  eine  Zeilenzählung  am  Hand  des  Manuskriptes.  Es  ist  klar, 
daß  wir  alsdann  an  diesen  Zalilen  die  Integrität  des  erhaltenen  Textes 
messen  können.  Bei  Demosthenes  ist  es  die  Frage,  ob  die  in  die 
Staatsreden  eingelegten  vofxot  echt  und  ursprüngUch  zugehörig  sind. 
Blaß  aber  zeigte,  daß  die  stichometrischen  Zahlen  dies  widerlegen. s) 
In  Piatos  Kratylos  stehen  in  gewissen  Abständen  Zahlensummen  am 
Rand;  Schanz  zeigte,  daß  danach  ein  Abschnitt  von  zehn  Zeilen  Um- 
fang im  Platotext  unecht  sein  muß.'*)  Marginalstichometrie  findet  sich 
\n  elf  ach    in    den  Herkulanensischen   RoUen.^)     So   stehen   am  Rande    des 

*)  Vgl.  H.  Bergfeld,  De  versu  Satur-       ihr  Vorhandensein  voraus ;  s.  Christ,  Abh. 
nio.  Marburg  1909,  S.  43  u.  57.  i   bayr.  Akad.  1882  S.  192  ff.  Uebrigens  Dre- 


«)  Die  Korruptel  AB  ANNIS  aus  MAN- 
NIS weist  eher  auf  Kapitalschrift  alf?  auf 
Unziale. 

3)  BLASS,  Ehein.  Mus.  24  S.  531  f.; 
Wortmann,  Marburg  1877.  In  den  Privat- 
reden steht  es  anders;  z.  B.  in  der  Eede 
gegen    Neaera    setzen    die    Stichenzahlen 


RUP,  Philol.  Suppl.  24  S.  223 :  auch  H.  BüR- 
MANN,  Rhein.  Mus.  32  S.  353  ff. 

4)  Hermes  16  S.  309  f.  Vgl.  sonst  noch 
Fuhr,  Rhein.  Mus.  37  S.468:  Blass,  Archiv 
für  Papyrusforschung  1906  S.  480. 

5)  Vgl-  !>•  Basst  in  Rivista  di  filol.  37 
S.  321  ff. 


40  Kritik  und  Hermeneutik. 

Herkulanensischen  Philodempapyrus  Tiegl  oixovojuiag  immer  im  Abstand 
von  je  180  Zeilen  Buchstaben  gesetzt.  Der  Herausgeber  Chr.  Jensen 
konnte,  da  diese  Buchstaben  mit  jz  anheben,  mit  co  endigen,  danach 
genauer  den  Umfang  des  verlorenen  Anfangs  der  Rolle,  der  die  Buch- 
staben von  a  bis  o'  umfaßte,  berechnen;  es  ist  von  ihr  nur  etwa  ein 
Viertel  erhalten.  Asconius  zitiert  sogar  Stellen  aus  Ciceros  Rede  pro 
Milone  genau  mit  Angabe  der  Zeilenzahlen.  Aus  diesen  Zeilenzahlen 
folgt  aber  unweigerlich,  daß  der  Anfang  dieser  Cicerorede  damals  etwas 
umfangreicher  gewesen  sein  muß,  als  er  heute  vorliegt;  in  §  2  sind  etwa 
acht  Zeilen  ausgefallen,  i)  Daß  neuere  Herausgeber  dieser  Cicerorede 
diese  Beobachtung  nicht  berücksichtigen,  kann  ich  nur  aus  der  Scheu 
erklären,  die  manche  noch  heute  so  äußerlichen  Argumenten  gegenüber 
empfinden.  Aber  ein  stichometrischer  Vermerk  ist  ein  Dokument  von 
ebenso  zwingender  Natur  wie  das  Mitei  oder  vacat  in  den  mittelalter- 
lichen Handschriften. 


')  Ant.  Buchwesen  S.  199. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik. 

Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik  betrifft  die  Einzelauslegung  der 
Schriftwerke  von  Wort  zu  Wort.  Wir  haben  im  vorigen  Abschnitt  die  Hilfs- 
mittel, Handschriften,  Exzerpte,  Zitate  und  Imitationen,  durch  die  zunächst 
ein  möglichst  zuverlässig  beglaubigter  Text  gewonnen  Avird,  aufgezeigt. 
Die  egju)]yeia  oder  Auslegung  und  Kommentierung,  über  die  wir  jetzt 
handeln,  setzt  die  Herstellung  und  Klarstellung  dieses  beglaubigien  Textes 
voraus.  Zwei  Aufgaben  aber  sind  ihr  selbst  gestellt:  sie  gibt  erstens  eine 
sprachlich  formale  Erk'lärung,  zweitens  eine  Erklärung  des  Sachinhalts. 

A.  Formale  Auslegung  nach  Grammatik  und  Stil. 

Das  Fragen  nach  dem  rein  Sprachlichen  geht  notwendigerweise  voran,  ^'^er- 
insofern  ja  überhaupt  erst  die  Bedeutung  der  Wörter  festgestellt  werden 
muß.  Damit  verbindet  sich  dann  alsbald  die  weitere  Pflicht,  den  Sprach- 
gebrauch des  vorliegenden  Schriftstellers  mit  dem  herrschenden  Usus 
durch  Yergieichung  festzustellen.  Die  formale  Interpretation  fängt  also 
mit  dem  AVortverständnis,  mit  der  Übersetzung  an.  Jedoch  gehe  ich, 
indem  ich  liierüber  handle,  auf  eine  Besprechung  moderner  Klassikei*- 
übersetzungen,  die  mir  für  die  Auffassung  der  Geschichte  des  deutschen 
Geschmacks  lehrreicher  scheinen  als  füi'  die  Interpretation  der  alten 
Texte,  nicht  ein.  Als  Übersetzer  sei  hier  nur  Fr.  Bücheier  erwähnt; 
denn  indem  mis  Bücheier  die  schwer  verschatteten  umbri sehen  Tafeln 
lateinisch  vertieiie,  gelang  es  ihm,  uns  in  den  Zusammenhang  des  Inhalts 
dieser  Ritualvorschriften  auf  das  geschickteste  einzuführen,  imd  seine 
Übersetzung  selbst  vertritt  an  vielen  Stellen  den  Kommentar.  So  hatte 
auch  seine  lateinische  Übersetzung  des  damals  neu  erschienenen  Herondas, 
so  auch  die  des  Gesetzes  von  Gortyn  propädeutischen  Wert.  In  diesem 
Sinne  nenne  ich  auch  noch  die  beigegebenen  Übersetzungen  in  H.  Diels' 
Vorsokratikerfragmenten  und  in  W.  Schmidts  Ausgabe  des  Hero.  Auch 
Rebers  Vitruv-,  E.  Schellers  Celsusübersetzung  sind  nennenswerte  Hilfs- 
mittel. Das  Haupthilfsmittel  zum  Übersetzen  nun  aber  ist  die  Lexiko- 
graphie, die  die  Wortformen  und  die  Wortbedeutimgen  feststellt.  Mit 
ihr  sei  hier  begonnen. 

Es  gilt  in  einem  Satz  wie  ävöga  jnoi  evvejie  Movoa  oder  arma  vlrumquc 
f-ano  nicht  nur  die  Bedeutung  dieser  drei  oder  vier  Wörter,  sondern  auch     wort- 
die  syntaktische  Bedeutung  ihrer  Endungen,  ihrer  Flexion  oder  Abwand-  Bedeutung 
lung  zu  verstehen.     FoiTnenlehre  und  Lexikographie,   ja  schließlich  auch 
die  Syntax  begründeten  dereinst  schon  die  Griechen,   indem   sie  mit  in- 
tensivstem Eifer  ihre  Nationaldichter  traktierten  und  zu  verstehen  suchten. 


42  Kritik  und  Hermeneutik; 

So  entstand  also  auch  die  Lexikographie;  aber  sie  war  ursprünglich  nicht 
ZAveisprachig,  sondern  Griechisch  wurde  mit  Griechisch  erklärt.  Zu  sel- 
tenen Worten  im  Homer  oder  im  Aeschylus  schrieb  man  sich  ein  er- 
klärendes övofia  xvgiov  an  den  Rand  oder  zwischen  die  Zeilen;  dabei 
leitete  sich  die  Dunkelheit  der  Wörter  oft  aus  dem  Umstand  her,  daß  sie 
•  vom  Dichter  aus  irgendeinem  Dialekt  herübergenommen  Avaren,  und  die 
Erldärer  mußten  nun  die  Dialekte  vergleichen,  und  ein  Dialekt  erklärte 
den  anderen.  Diese  Erklärungen  wurden  dann  ausgehoben  und  gesammelt 
und  nahmen  die  Form  von  Verzeichnissen  an,  die  man  alphabetisch 
Glossare  ordnete.  Es  entstanden  Glossare  zu  einzelnen  Autoren  (Didjmos  ist  hier 
Hauptname),  dann  aber  auch  zusammenfassende  Wortthesauren,  von  denen 
wir  oben  vS.  33  die  Avichtigsten  unter  den  erhaltenen  aufgezählt  haben. 
Auch  Vocabularien  von  Dialekten  Avurden  gemacht,  z.  B.  A^on  Seleukos,i) 
A'on  Aristophanes  von  Byzanz,^)  endlich  aber  auch  nach  sachlichen  Ge- 
sichtspimkten  der  Wortschatz  rubriziert,  Gefäßnamen,  Tiernamen  u.  a.  zu- 
sammengestellt. Ebenso  sammelte  man  die  Namen  der  Winde,  die  termini 
technici  für  Unterhaltungsspiele  (Sueton)  u.  s.  f. 

Mit  diesen  A^orAviegend  griechischen  Arbeiten  konkurrierten  bald  auch 
entsprechende  lateinische.  Auch  die  Römer  aber  erklärten  das  Latein 
zunächst  nur  einsprachig  mit  Latein.  Endlich  kamen  dann  aber  im  Dienst 
desselben  Römers  und  des  zweisprachigen  Kaiserreichs  auch  die  unent- 
behrlichen bilinguen  Glossare  auf;  schon  aus  dem  Jahr  207  n.  Chr.  be- 
sitzen wir  ein  solches  bilingues  Schidbuch;»)  die  graecolatina  begannen. 
Schulmeister  lieferten  das;  im  Notfall  aber  half  auch  jeder  sich  selber. 
Dafür  ist  ein  hübsches  Beispiel  ein  in  Ägypten  gefundenes  Papyrus- 
blatt, auf  dem  sich  irgendein  Reisender  oder  ein  in  Ägypten  zeitweilig 
stationierter  römischer  Soldat  die  nötigsten  griechischen  Vokabeln,  die  für 
den  Gasthausverkehr  ausreichten,  mit  XJbersetzung,  so  gut  er  es  verstand, 
aufnotiert  hat:  binu  (vinum)  Avird  da  mit  enari  {olvägi)  übersetzt,  bile  (vile) 
mit  ntele  {evTe^sg),  laba  manos  (laA-a  manus)  mit  nibson  ceras  u.  s.  f.*) 
BiJinguen  Bilingue  Inschriften,  die  denselben  Text  sowohl  griechisch  wie  latei- 

nisch geben,  kennen  AA^ir  schon  aus  vorchristlicher  Zeit:  z.  B.  CIL.  I  587. 
Die  großartigste  Inschrift  dieser  Art  ist  das  Moniimentum  Ancyranum. 
Dann  aber  trat  dies  Verfahren  auch  in  den  Dienst  des  christlichen  Kirchen- 
lebens ;  denn  die  lateinischen  Bibelübersetzungen,  die  man  mit  dem  Namen 
der  Itala  zusammenfaßt,  Avaren  ursprünglich  augenscheinlich  A^ielfach  inter- 
lineare Versionen,  die,  dem  griechischen  heiligen  Text  folgend,  die  Wort- 
folge ängstlich  beibehielten  und  nicht  nach  dem  Sinn  übersetzten,  sondern 
sklaA^isch  AVort  init  Wort  und  Kasus  mit  Kasus,  so  gut  es  ging,  Avieder- 
gaben.  So  barbarisch  sich  dies  liest,  so  erscheint  dies  Verfahren  doch 
bei  einem  Text,  avo  jedes  Wort  heilig  ist,  natürlich;  zur  Veranschau- 
lichung können  uns  ZAveisprachige  Bibelhandschriften  dienen,  die  A\dr  aus 


')  Siehe  M.Schmidt,  Philol. 8  S. 436 ff.  ler   in   Fleckeis.  Jbb.  1875    S.  309.     Ein 

2)  z.  B.  Aaxoivixal  yX&oaat.                ■  anderes   solches    Glossar   auf   Papyrus   s. 

3)  Dersog.  Dositheusmagister;  s.  Corp.  Kenyox,    Grreek  papA^ri    of  the  Brit.  Mus. 
gloss.  lat.  III  S.  56  f.  I   II  S.  322. 


)  Siehe  Corp.  gloss.  II  fin.  und  Buche- 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung. 


48 


Lexik 


dem  Mittelalter  besitzen,    wo  zwischen  den  griechischen  Zeilen  die  latei- 
nischen Zeilen  stehen,  i) 

Das  zweisprachige  Glossar  war  es  nun,  dem  die  Zukunft  gehörte,  und 
ich  habe  hier  schließlich  nur  noch  auf  die  großen  Lexika  hinzuw^eisen,  die 
dem  Sammelfleiß  der  neueren  Zeiten  verdankt  Averden,  wie  der  Thesaurus 
gi'aecae  linguae  des  H.  Stephanus  (3.  Ausgabe  von  den  Dindorfs,  Paris 
1831 — 65),  Avie  der  lateinische  des  Aegidius  Forcellini  (herausgegeben  von 
De-Yit  1858 — 87),  sowie  des  J.  M.  Gesner;  auch  F.  Corradini  sei  genannt; 
dazu  die  trefflichen  Handlexika  von  Passow,  von  Georges;^)  für  das 
mittelalterliche  Latein  und  Griechisch  Du  Gange:  Glossarium  ad  scriptores 
mediae  et  infimae  latinitatis  (herausgegeben  von  Henschel,  Paris  1840 — 50); 
desselben  Glossarium  ad  scriptores  mediae  et  infimae  graecitatis,  Leiden 
1688  (2  Bde).  Aber  sie  alle  befriedigen  wie  die  antiken  Glossare  doch 
nur  das  primitive  Bedürfnis  des  minder  geübten  Lesers  alter  Texte,  der 
nur  die  Wortbedeutungen  selbst  sowie  Angaben  über  übliche  Konstruktions- 
Aveisen  und  Wortverbindungen  finden  will.  Wir  aber  haben  mehr  und  Aufgabe 
anderes  nötig.  Wir  brauchen,  statt  der  Zusammenfassung  des  Sprach- 
materials in  solchen  Sammelwerken,  vielmehr  Sonderung  und  Unterschei- 
dung. Denn  Avir  haben  unserer  Betrachtung  die  folgenden  Gesichtspunkte 
zugrunde  zu  legen.     Der  Interpret  muß  sich  gegenwärtig  halten: 

1.  Die  Wortbedeutungen  sind  verschieden  in  den  verschiedenen 
Zeiten  oder  Sprachperioden. 

2.  Der  Dialekt  A^erändert  die  Sprache. 

3.  Der  Sprachschatz  ist  ein  verschiedener  in  den  verschiedenen  Litte- 
raturgattungen :  anders  im  Epos  als  in  der  Lyi'ik,  Avieder  anders  in  der 
Prosa  u.  s.  f. 

4.  Dazu  tritt  akzidentell,  und  das  ist  das  Interessanteste,  der  Einfluß 
der  einzelnen  Persönlichkeit  auf  die  Sprache.     Le  stile,  c'est  l'homme. 

Mit  Freuden  war  daher  der  neue,  von  fünf  deutschen  Akademien 
herausgegebene,  umfassende  Thesam'us  linguae  latinae  zu  begrüßen,  der 
seit  dem  Jahre  1900  erscheint  und  von  Wolf f lins  Archiv  für  lateinische 
Lexikographie  Bd.  I — XY  vorbereitet  wurde.  Dieses  gewaltige  Werk») 
A\''ird  zum  Av^enigsten  unsere  erste  Forderung  erfüllen;  denn  es  ist  histo- 
risch angelegt  und  unternimmt  es,  für  jedes  lateinische  Wort  mit  reich- 
lichen Belegstellen  seine  Geschichte  nachzuweisen.  Daß  Avir  für  d^s 
Griechische  auf  ein  entsprechendes  monumentales  Werk  A^orerst  nicht 
hoffen  dürfen,*)  ist  ein  schAverer  Nachteil. 

Für  den,   der  ein  solches  Lexikon  arbeitet,  muß  das  Prinzip  gelten,  Thesaums 
möglichst  treu  sämtliche  in  den  Handschriften  überlieferten  Wörter  zu  ver- 
zeichnen und  auch  da,  avo  sie  Schwierigkeiten  zu  bieten  scheinen,  nicht  einfach 
A^on  ihnen  abzusehen  und  statt  ihrer  konjekturale  Lesungen  zu  verzeichnen. 


linguae  lat. 


*)  Evangelien  in  St.  Gallen,  Stiftsbibl. 
N.  48  saec.  TX;  Psalmen  in  Cues  a.d.  Mosel 
saec.  IX — X:  vgl.  F.  Steffens,  Latein. 
Paläographie,  2.  Aufl.,  II  Taf.  57. 

2)  Von  beiden,  Passow  und  Georges, 
beginnen  jetzt  eben  Neuausgaben  zu  er- 


scheinen. 

')  ?]ine  „Epitome"  daraus  will  uns 
F.  Vollmer  geben. 

*)  Siehe  K.  Krumbacher  in  Inter- 
nationale Wochenschrift  für  Wissenschaft, 
Kunst  und  Technik  1909,  29.  Mai. 


44  Kritik  und  Hermeneutik. 

Andernfalls  entsteht  die  Gefahr,  daß  das  Lexikon  über  den  antiken  Wort- 
schatz ungenügend  Auskunft  gibt.  Ich  muß  bemerken,  daß  auch  der 
große  lateinische  Thesaurus,  von  dem  ich  soeben  sprach,  dieser  an- 
gedeuteten Gefahr  nicht  ganz  entgangen  zu  sein  scheint.  So  vermisse 
ich  in  ihm  (und  auch  bei  Vollmer  in  der  „Epitome")  das  Adjektiv  ahic- 
tinus.  Der  Codex  Salmasianus  der  Anthologia  latina  überliefert  uns  nämlich 
das  Epigramm,  Nr.  259: 

Abietine  calix,  inensi«  decor  ante  ^)  paternis, 
Ante  manus  medici  quam  bene  sanus  eras. 

Hier  ist  ein  calix  ahietinus,  ein  Becher  aus  Tannenholz,  erAvähnt.  Gil)t 
das  Anstoß?  Man  druckt  statt  dessen  Arretine^)  AVarmn?  Hölzerne 
Becher  in  Bauern  wirtschaften  sind  doch  bekannt;  pocula  fagina,  aus 
Buchenholz,  besitzt  der  Menalcas  bei  Vergil  Ecl.  3,  36;  dieselben  kennt 
TibuU  1,  10,  8;  auch  Plinius  bist.  nat.  16,  185.  Mehr  über  Holzgefäße 
geben  die  Anmerkungen  zu  Theokrit  1,  27  (xioovßiov);  dazu  Kratinos  fr.  74. 
Das  Adjektiv  abietinus  aber  ist  von  dbies  wie  arietinus  von  aries  voll- 
ständig korrekt  gebildet;  auch  qiierelmifi  von  quercus  ist  zu  vergleichen. 
Und  die  Messung  im  Verse?  Die  Buchstabengruppe  ahi-  bildet  hier  zu- 
nächst eine  Länge  in  Hebung  ganz  so  wie  bei  Properz  3,  19,  12:  Indnif 
ahiegnae  coniua  falsa  bovis;  das  e  in  abietinus  aber  steht  hier  gleichfalls 
als  Länge;  denn  wir  haben  es  mit  einem  Verseschmied  der  späteren 
Kaiserzeit,  nicht  vor  dem  3.  Jahrhundert,  zu  tun,  und  es  entsprechen 
diesem  gelängten  Vokal  solche  Messungen  wie  ariete  Anth.  lat.  247,  17: 
Non  ariete  gravi  eqs.  durchaus.  Somit  ist  es  geboten,  ahietimis  in  den 
Wortschatz  des  Latein  mit  aufzunehmen. 

Nun  aber  ist  es  mit  solchen  Thesauren,  die  die  Sprache  erschöpfend 
registrieren,  trotzdem  noch  nicht  getan.  Denn  sie  können  unserer  dritten 
Forderung  kaum,  unserer  vierten  nie  genügen,  und  Avas  wir  fordern  und 
brauchen,  sind  vielmehr  und  vor  allem  erschöpfende  Speziallexika  zu 
sämtlichen  Autoren.  Erst  Avenn  die  nebeneinander  stehen,  läßt  sich 
richtig  arbeiten. 

Bevor  wir  indes  die  gestellten  Forderungen  näher  erörtern,  gilt  es 
zu  erinnern,  daß  der  Begriff  „Wort"  selbst  mitunter  ein  schwankender 
ist,  sodann  aber  auf  diejenigen  Wörter  hinzuweisen,  die  wir  Homonyme 
und  Synonyme  nennen.  Die  Homonyme  sind  es,  die  den  Exegeten  oft 
das  Verständnis  erscliAveren. 

1.  Das  Wort. 

Die  Wortbedeutung  wird  durch  die  Vergleichung  vieler  Stellen 
festgestellt;  so  machte  es  schon  Aristarch.  Ist  dies  nicht  möghch  und 
handelt  es  sich  um  ganz  selten  vorkommende  Wörter,  archaische  Wortver- 
bindungen oder  äna^  elgrjjueva,  so  müssen  zufällige  Umstände  heKen,  den 
Wortsinn  zu  ermitteln.  3)    Was  ist  homerisches  äyoorcp  in  der  Verbindung 


')  So  Scaliger  ;  decorate  die  Hs.  j  Mantua  dazu  kommen,  Becher  aus  Arezzo 

2)  Arretine  wäre  auch  der  Sache  nach  \  zu  besitzen? 

unglaublich;    denn    es    handelt    sich    um  '  ^)  Ueber  seltene  Ausdrücke  des  Bau- 

Vergils  Yater.     Wie    soll    der   Bauer   bei  wesens  s.  Ernst  Fabricius,   Commenta- 


IL  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung. 


45 


eAf  yalav  äyooTcp'l  Was  ist  yvxrog  ä/uoXycol  jiiegoTieg  är^gamoil  Was  ist 
das  salaputium  bei  Catull?  Wir  können  nur  raten,  dies  und  das  ver- 
muten, aber  keine  sichere  Übersetzimg  geben. 

Was  verstehen  wir  aber  unter  Wort?  Zum  A\'oii:  gehört  als  inte-  •^«^«''sots 
grierender  Bestandteil  allemal  auch  die  veränderliche  Flexionsendung; 
nicht  so  unbedingt  galt  dasselbe  von  den  Praefixen  und  den  ersten 
Bestandteilen  einer  Wortkomposition.  Wenn  Aeschylus  schreibt,  Prome- 
theus 665:  oacpmg  imoxijJiTovoa  y.ai  jnvi%i\iierr]^  so  scheint  das  im-  be- 
weghch;  denn  es  ist  auch  zu  jiiv&ovjU€V7]  zu  ergänzen,  also  emjuvd^ov/uevr] 
zu  verstehen.  1)  Ganz  ebenso  steht  es  mit  x^ristoph.  Acharn.  78:  xara- 
fpayelv  xe  xai  mely,  ähnlich  Em'ip.  Heracl.  1056:  äjiohi  jiohv,  äno  de  Tiarega 
(statt  äjioXel  de).  So  löst  der  Altlateiner  noch  vos  ohsecro  in  oh  vos  sacro 
auf,  und  in  der  Verfallszeit  verbreitet  sich  die  Rekomposition,  die  aus  coii- 
cludo  wieder  ein  condaudo  macht.  Bei  Herodot  7,  25  ff.  ist  es  fragHch,  ob 
wir  Xevxov  Urov  oder  XevxoXivov  (so  dreimal  im  Genetiv)  lesen  sollen.  2) 
Nea  Ttohg  Avaren  zwei  Wörter,  die  erst  in  Neajto?dTr]g  definitiv  verwuchsen. 
fCbenso  stand  es  mit  cotti  die,  einem  doppelten  Lokativ,  der  danach 
ein  cottidianus  zuließ.  Aus  cor  dolet  wurde  ein  cordoUum,  worin  cor  also 
Nominativ  ist.  3)  So  verwuchs  si  vis  zu  sis,  Quinti  puer  zu  Quintipor, 
und  dies  Quintipor  ging  dann  sogar  weiter  in  die  sogenannte  dritte  Dekli- 
nation über.  Die  izagd^eoig  geht  also  in  die  ovv^eoig  über,  wie  es  das 
Etymologicum  Magnum  uns  sagt,  p.  649,  14:  jzakjujiXayx^evrag  ist  die  Syn- 
thesis,  jzdXiv  Jilayx&svrag  die  jiagd&eoig,  und  der  Gelehrte  schAvankt  auch 
in  diesem  Fall,  Avie  er  schreiben  soll.  Verbreitet  war  (auch  noch  im 
Mittelalter)  die  Neigiing,  die  Praepositionen  mit  dem  folgenden  Nomen 
eng  zu  A'erbinden,  und  man  schrieb  dequa  AA'ie  denuo  (aus  de  novo)  in 
•  'inem  Wort;  daher  cicmnobis  AAde  nobiscum  und  AA^eiter  assimiliert  cunnobis; 
so  assimiliert  auch  cod.  P  im  Plautus  impetaso  Amph.  143,  siippetaso  ib. 
145;  annos  für  ad  nos  ib.  256  u.  s.  f.  Es  ist  zunächst  fraglich,  Avie  in 
solchen  Fällen  der  Autor  selbst  schiieb ;  AA^er  sich  aber  solcher  griechischer 
Original  Schreibungen  Avie  ey^egol  statt  er  /e^ö/,  Tr]/i  juev  statt  ri^v  tiiev,  Jiegi 
TÖjLi  ßojjuöv,  TÖvde  toju  jiaiöjva  u.  ä.  erinnert,*)  Avird  nicht  mehr  zAv^eifeln, 
daß  derartiges  auch  auf  die  Idiographa  der  Autoren  zurückgehen  kann. 
So  ist  auch  zu  erAvägen,  ob  nicht,  Avie  dmn  taxat,  auch  sei  licet,  vide  licet 
und  i  licet  als  je  zwei  Wörter  sich  hielten;  denn  sei,  vide  und  i  sind  hier 
sicher  Imperative. 0)  Daß  iusiurandum  für  manche  Römer  noch  als  zwei 
Wörter  galt,  zeigt  jedenfalls  Horaz  sat.  11  3,  179 

praeterea  ne  nos  titillet  gloria  iure 

iurando  obstringam.^) 

Das  sind  also  die  Fälle,  avo  die  Wortgrenzen  für  den  Sprechenden  imd 
auch  für  den  Schreibenden  sich  leicht  verloren. 

tiones  epigraphicae  de  architectura  graeca, 
Berlin  1881. 

^)  R.  Rehme,  De  Graecorum  oratione 
obliqua,  Marburg  1906,  S.  28. 

2)  W.  Schulze,  Kuhns  Zeitschr.  1909 
S.  188. 

3)  Mehr  der  Art  Potroavsky  in  Idg. 
Forsch.  25  S.  101  f. 


'•)  Siehe  z.  B.  W.  Schulze,  Quaestiones 
epicae  S.  222;  Blass,  Aussprache  des 
Grriechischen^  S.  123;  Wilamoavitz,  Nord- 
ionische Steine,  1909,  S.  41  und  sonst  überall 
Ähnliches. 

^)  Siehe  Catalepton  S.  82  f. 

«)  Dies  sei  gegen  W.  Christ,  Metrik^ 
S.  104  bemerkt. 


46 


Kritik  und  Hermeneutik. 


2.  Lehnwörter. 

Lehnwörter  sind  in  vielen  Fällen  als  solche  leicht  zu  erkennen. 
Wert  für  Es  sci  liier  nur  kurz  daran  erinnert,  daß  sie  für  die  Kulturbeeinflussung 
ges^hte  "^on  Volk  zu  Volk  ein  wichtiges  und  unzweideutiges  Merkmal  und  Er- 
kennungszeichen sind.  An  ihnen  erkennt  man  den  Einfluß  der  Griechen, 
der  Punier,  der  Etrusker,  der  Samniten,  endlich  auch  der  Gallier  auf 
Rom ;  1)  man  erkennt  an  ihnen  ebenso  den  Einfluß  der  Phönizier 
und  Perser,  später  den  der  Römer  auf  die  Griechen. 2)  Wie  stark,  der 
griechische  Orient  im  2. — 6.  Jahrh.  n.  Chr.  vom  Latein  beeinflußt,  ja, 
unterjocht  wurde,  kann  man  aus  L.  Halms  treffhchen  Arbeiten  ersehen.  3) 
Was  wir  heute  über  die  Geschichte  der  Haustiere  und  Kulturpflanzen  im 
Altertum  lesen,  beruht  zu  einem  guten  Teil  auf  der  Beobachtung  der 
Lehnw^örter.  Als  Beispiel  vergleiche  man  die  Gescliichte  der  Katze,  wie 
sie  neuerdings  0.  Keller  gegeben  hat.*)  Hier  begnüge  ich  mich,  das 
Wort  sapo,  „Seife",  herauszugreifen.  Denn  daß  das  Vorkommen  der  Seife  ein 
wichtiges  Symptom  der  Volkskultur,  wird  niemand  bestreiten,  sajjo  steht 
zuerst  mn  das  Jahr  70  n.  Chr.  bei  Plinius  als  gallisches  Haarfärbemittel; 
auch  das  Wort  selbst  war  gallisch.  Martial  zeigt  dann,  daß  auch  die 
Römer  den  sapo  als  solches  Färbemittel  alsbald  in  Gebrauch  nahmen;  im 
2.  Jahrhundert  ist  6  odjicov  dann  auch  schon  ein  griechisches  Wort  ge- 
woi'den  (z.  B.  bei  Aretaeus)  und  es  dient  jetzt  als  Waschmittel,  jigog  ro 
lafjLTiQvvai  ro  jtqoocojiov.  So  ist  denn  auch  der  Neugrieche  stolz,  daß  er 
das  Wort  oajiovvi  besitzt. &) 
Purismus  Das  Vermeiden    der    Lehn-    oder    FremdAvörter    nun    aber    ist   eine 

Tugend;  wir  nennen  sie  Purismus;  dieser  Purismus  ergab  sich  bei 
dem  Reichtum  des  nationalen  Wortschatzes  für  den  griechischen  Schrift- 
steller fast  von  selbst;  in  der  römischen  Litteratur  wurde  er  ein  wich- 
tiges Motiv  zur  alhnählichen  Veredelung  der  Sprache,  und  als  römische 
Klassiker  gelten  im  Grunde  nur  solche  Autoren,  die  ilm.  pflegen,  also 
noch  nicht  Plautus  und  Lukrez,  w^ohl  aber  Cicero  und  Vergil  und  ihres- 
gleichen. Daß  diese  Sprachreinheit  des  ser7no  purus  als  Ideal  galt,  sagt 
uns  Cicero  ausdrücklich;  Cicero  half  vor  allem  es  durchzusetzen;  er  ent- 
schuldigt sich,  w^o  immer  er  ein  griecliisches  Wort  einführt;  ja,  dies 
Prinzip  bestand  schon  in  Ciceros  Jugendzeit  und  schon  bei  dem  Autor 
ad  Herennium.  Aber  auch  für  die  Dichter  galt  es.  Auch  Vergil  erwähnt 
im  Catalepton  c.  7,  3  die  praecepta,  die  ihm  ein  Wort  wie  pothos  (jzodog) 
anzuwenden  verbieten. 

Wie  aber  schrieb  der  Römer  seine  Lehnwörter?  mit  griechischen  oder 
mit   lateinischen   Lettern?     Wie    schrieb    er,    w^enn   er   griecliisch   zitierte 


1)  Siehe  z.  B,  Weise  im  Ehein.  Mus. 
38  S.  540  ff. 

2)  Vgl.  A.  Müller  in  Bezzenbergers 
Beitr.  I  S.  273  ff.;  E.  Eies,  Quae  res  a 
gentibus  semiticis  eqs.,  Breslau  1890. 
Aegyptisches  s.  Kuhns  Ztschr.  41  S.  127  ff. 
Uebrigens  O.  Schrader,  Sprachverglei- 
chung und  Urgeschichte 3  S.  76  ff. 

3)  Ludwig  Hahn,  Eom  und  Eomanis- 


mus  im  griechischen  Osten,  Leipz.  1906. 
Dazu:  Sprachenkampf  im  römischen  Eeich, 
Philologus  1907  S.  677  ff. 

^)  Arch.  Jahrbuch  1908  S.  40  ff.  Vgl. 
übrigens  desselben  Geschichte  der  antiken 
Tierwelt  Bd.  I,  Leipz.  1909. 

^)  Vgl.  M.  Triandaphyllidis  ,  Die 
Lehnwörter  der  mittelgriechischen  Vulgär- 
litteratur,  Straßburg  1909,  S.  172. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  47 

oder  griecliische  Redefloskeln  dazwischen  warf?  Für  den  Texteditor  ist  Griechi- 
dies  eine  wichtige  Frage,  aber  mit  der  größten  Sorglosigkeit  geht  man  latsThSt 
ihr  aus  dem  Wege  und  druckt  im  Cicero  oder  Seneca  alles  Griechische 
schlankweg  in  griechischer  Schrift.  Sieht  man  dann  in  den  Hss.  nach, 
so  findet  man  vielfach,  wennschon  keineswegs  bei  allen  Autoren,  daß  die 
Wörter  dort  vielmehr  lateinisch  transkribiert  überliefert  stehen,  und  das 
letztere  ist  sicher  oft  das  Echte  und  Originale  geAvesen.  Jeder  Editor  hat 
in  dieser  Beziehung  zunächst  die  Gewohnheit  seines  Autors  festzustellen. 
Schon  solches  Glossar  wie  das  S.  42  erwähnte  zeigt,  was  Gewohnheit  war. 
Daher  auch  in  den  Buchtiteln  Clerumenoe,  nicht  Kkrjgovjuevoi,  Catalepfoii, 
nicht  yMTa  Xetitov.  Ganz  ebenso  also  auch  im  Text  selbst  bei  Yergil  Catal. 
IIb  4  min  und  spin,  nicht  fjuv  und  ocplv^  ib. VII 2  pothos,  nicht  7i6§og,  Seneca 
epist.  45, 10  pseudomenon,^)  Cicero  de  nat.  deor.  1,  18  pronoeam,  28  Stephanen, 
30  asomaton,  Corn.  Nepos  Milt.  6  poecüe  u.  ä.  m.,  wo  zu  ändern  jeder  Anlaß 
fehlt.  Anders  steht  es,  wenn  ganze  griechische  Sätze  eingelegt  werden, 
anders  hielt  es  auch  Ausonius  in  seinen  makarronischen  Poesien.  2)  Man 
prüfe  daraufliin  auch  den  Frontotext,  der  in  besonders  alten  Pergamenten 
überliefert  ist  und  uns  viel  eingelegte  griechische  Sätze  in  griecliischer 
Schrift  bringt.  Einzel  werte  aber  wie  de  mea  prothymia  p.  26  (Naber) 
werden  lateinisch  geschrieben;  p.  30  pausan  facio;  p.  28  durcheinander: 
0  argutiae,  0  Jcharite.'<,  0  äoxrjoig.  Ja,  so  wie  Ausonius  lateinische  Worte 
griechisch  flektiert  und  vinoio  bonoio  schreibt  (Epist.  12,  13),  so  bildete- 
Fronto,  wie  ich  überzeugt  bin,  von  Plautus  ein  Plautinotatos\  s.p.  156,1, 
wo  überliefert  ist:  eloqnentiam  .  .  .  [siibvertendam  censeo  radicitus,  immo 
vero  Plaut'mo  trato  verbo,  exradicitus  (vgl.  Plautus  Most.  1112);  Fronto 
schrieb  in  lateinischer  Schrift:    immo  vero  Plautinotato  verbo  exradicitus.^) 

3.  Ober  Homonyme  und  Synonyme. 

Synonyma  nennen  wir  zAvei  Wörter,  die  dieselbe  Vorstellung  aus- Synonymik 
drücken,  wie  fores  und  porta,  jivkai  und  dvQai,  ßiovv  und  t^r.  Indes  wird  eine 
feinere  Interpretation  zumeist  dahin  gelangen,  die  ursprüngliche  Bedeutungs- 
verschiedenheit solcher  Wörter  aufzudecken,  und  schon  die  Griechen  be- 
gannen damit.  Im  Interesse  der  Philosophie  und  der  Logik  ging  schon  der 
Sophist  Prodikos  diesen  Unterscliieden  nach ;  Sokrates  lernte  dies  von  ihm ; 
ein  erstes  Beispiel  steht  vielleicht  in  Aristophanes'  Fröschen  1153  ff.,  wo  dem 
Aeschylus  das  fjy.o)  xal  xatsQ/ajuai  wegen  des  ölg  ravrdv  emeiv  zum  VorAVurf 
gemacht,  dann  aber  der  Vorwurf  widerlegt  wird:  denn  yjxoj  bedeute  im  all- 
emeinen heimkehren,  xaTeQxofiai  „ich  komme  aus  der  Verbannung  zurück".'^) 
Freilich  wird  schon  dem  Sophokles  die  feine  Unterscheidung  eym  TTaXaiorarog 


*)  V^l.  Henses  i^inm, 

2)  Vgl.  zur  Sache  W.  Niesciimidt, 
Quatenus  in  scriptura  Romani  litteris 
graecis  usi  sint,  Marburg  1918. 

')  Ueber  lateinische  Wörter  mit  grie- 
chischen Suffixen  s.  Weise,  Philol.  47  S.  45. 
Joh.  A'ahJen  sicherte  einst  bei  Varro  im 
Gerontodidascalos  frg.  197  B.  das  hybride 


Partizip  empaedatuH  (zu  s/ijiaiozog),   indem       (6  Teile). 


er  auf  das  von  ev&sog  abgeleitete  entheatus 
bei  Martial  12,  57,  li  verwies;  s.  Vahlen, 
Ges.  philol.  Schriften  Bd.  I  (1911)  S.  528. 
■*)  Vgl.  F.  G.Wiehe,  De  vestigiis  syno- 
nymicae  artis  apud  Graecos,  Hauniae  1856: 
J.  H.  H.  Schmidt,  Synonj-mik  der  griech. 
Sprache,  1876  ff.,  4  Bde.;  L.  Döderlein, 
Lat.  Synonyme  und  Etymologien,  1826  ff. 


48  Kritik  und  Hermeneutik, 

sijjLi,  ov  de  jiQeoßvxarog  zugeschrieben;  \)  doch  weiß  man  nie,  Avie  zuverlässig 
derartig  kolportierte  Aussprüche  sind.  Weiter  ist  fores  {ßvQai)  die  zwei- 
flügelige Haustür,  ]f)orta  das  Durchgangstor,  Stadttor  (zu  portus,  jiögog), 
ebenso  mdai  das  große  Tor,  Stadttor  (zu  jioXog  „Angel"?  so  G.  Curtius). 
Verbindet  Homer  ßrj  ihm,  ßrj  l'juev  und  ßdox'  Wi,  so  wird  dies  nur  ver- 
ständlich, Avenn  in  der  Grundbedeutung  sich  ßaiveiv  und  levai  ergänzten. 
äoTv  ist  örtlich  die  Stadt  oder  die  befestigte  Burg,  dagegen  nohq  (zu 
TiolXoi)  „die  Gesellschaft  vieler".  So  braucht  auch  das  Vulgärlatein  civitas 
für  „Stadt"  {ciU  frz.),  und  Nonius  bemerkt  darum  p.  429, 5  M. :  inter  urbem 
et  civitatem  hoc  inter  est:  urhs  est  aedificia,  civitas  incolae.  In  allen  diesen 
Fällen  ist  also  auf  die  Etymologie  zurückzugehen ;  das  stv^uov  ist  die  Wort- 
vvurzel  und  zugleich  die  Bedeutungswurzel,  Avir  sagen  besser  der  Wort- 
keim und  Bedeutungskeim,  der  den  ursprünglich  „wahren"  Wortsinn 
enthält.  Dem  nachzugelien  helfen  uns  heute  unsere  etymologischen 
Wörterbücher,  die  die  Sprachvergleichung  zur  Hilfe  rufen.  2)  Oft  aber  ge- 
hören die  Synonyma  verschiedenen  Sprachscliichten  oder  Dialekten  an,  Avie 
viog,  Ivig,  xeXmQ  „der  Sohn",  äöeXcpog,  xaoiyvrjrog  „der  Bruder"  neben  (pgarrjg 
„Geschlechtsgenosse".  So  steht  im  luRtein  popina  „die  Küche"  neben  culma, 
u.  ä.  m. ;  denn  es  ist  glaublich,  daß  popina  dialektisches  LehnAvort  war. 
Homonyme.  Größere  Interpretationsschwierigkeiten  bringt,  AAde  gesagt,  die  Homo- 
nymität.  Homonyma  sind  Wörter  oder  Silbenkomplexe,  die  in  zAA'ei 
oder  mehreren  Bedeutungen  auftreten.  Wenn  AA'ir  //elog  lesen,  so  kann 
nur  der  Zusammenhang  verraten,  ob  Glied  oder  ob  Lied  gemeint  ist;  ob 
Avir  ovxovv  oder  ovxovv  zu  akzentuieren  haben,  entscheidet  der  Sinn;  der 
Nominativ  frons  ist  „Laub"  und  „Stirn";  hellum  kann  auch  „das  Hübsche" 
bedeuten  {omnia  hella  Catull  3,  14);  fiicas  Biene  und  rote  Farbe;  desero 
„ich  verlasse"  oder  „ich  säe  ins  Land"  (Varro  r.  rust.  1,  23,  6).  Ein 
Examinator  kann  in  dieser  Hinsicht  manchmal  Erstaunliches  erleben. 
miindus  victus  kann  „die  besiegte  Welt"  bedeuten,  aber  auch  „die  saubere 
Lebensführung".  AVerden  nun  bei  Horaz  Epist.  I  4,  10  f.  die  Lebensgüter 
aufgezählt : 


atia  fama  valetudo  contingat  abunde 


et  mundus  victus,  non  deficiente  cnimina, 
SO  Avill  es  das  Unglück,  daß  man  die  Übersetzung:  „und  die  besiegte 
Welt"  za  hören  bekommt,  tu  canis  schreibt  Properz  II  34,  77  und  ver- 
steht darunter  „du  singst".  Der  Prüfling  aber  übersetzt  fröhlich  „du 
Hund".  GcAAdß,  das  kann  es  auch  heißen.  Ein  schneller  Überblick  über 
den  Zusammenhang  muß  vor  solchem  Irrtum  retten. 
Wortwitz  Homonymität   ist   also  Doppelsinnigkeit,    und   sie   ist    die  Quelle   des 

AVortwitzes  oder  Kalauers,  und  ist  dies  ausgiebig  auch  schon  im  Alter- 
timfi  gcAvesen.  Denn  mit  jedem  AVortwitz  Avird  dem  Hörer  eine  Exegese 
auferlegt,  deren  doppelsinniges  Ergebnis  ihn  überrascht  und  zum  Lachen 
reizt.     Hier  hat  also    eine  Geschichte    des  Witzes   einzusetzen.  3)     Behebt 

^)  Plutarch  Nikias  15.  ;  Lat.  etym.  Wörterbuch,    Heidelberg  1906, 

2)  Vgl.  z.  B.  G.  Curtius,    Grundzüge  j  2.  Aufl.  1909. 

der  griech.  Etymologie,    5.  Aufl.,    Leipzig  j  ^)  Vgl.  z.  B.  Döderlein,  Oeffentliche 

1879;  Prellavitz,  Etym.  Wörterbuch  der  |  Eeden  S. 292 ff.;  Holzixger,  De  verborum 

griech.  Sprache,  Gröttingen  1905 ;  A.Walde,  I 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  49 

waren  Kontroversien  wie  folgende  es  soll  eine  avkrjxQig  verkauft  werden; 
ist  nun  damit  eine  Flötenspielerin  gemeint?  oder  dreimal  ein  Platz  oder 
Gutshof  (aMr)  rgig)"?  Es  kommt  zum  Prozeß,  weil  ein  Toter  in  seinem 
Testament  verfügt  hat  corpus  suum  poni  in  culto  loco;  denn  die  Erben 
behaupten,  es  sei  mcidto  loco  zu  verstehen,  was  für  sie  ja  freilich  viel 
billiger  und  bequemer  ist.  Oder  im  Testament  steht,  es  soll  erhalten  rä 
äya&d  TTm^ra  Äecov,  aber  Avieder  behauptet  jemand,  das  sei  falsch  inter- 
pretiert; es  sei  vielmehr  rd  äya&ä  IlavTaXecov  zu  lesen.  Wer  soll  nun 
entscheiden,  ob  Leon  oder  Pantaleon  der  Erbe  ist?  Derartige  Fälle  ver- 
deutlichen uns  beiläufig  das  Schriftwesen  jener  Zeiten  und  die  mangelnde 
AVorttrennung  selbst  in  den  Urkunden.  Diogenes  von  Sinope  sieht  auf 
einem  Bild  zwei  schlecht  gemalte  Centauren  und  fragt:  welcher  ist  nun 
der  yeiQCDv'^.  wobei  ^yit  Xiqcov  verstehen  sollen,  beiläufig  ein  Beweis,  daß 
man  schon  damals  nicht  ;^£/^a)v,  sondern  xiqwv  sprach.  Der  Cynismus 
liebte  solche  Witze.  Man  fragt  den  Antisthenes,  was  zum  Unterricht 
nötig  sei,  und  er  antwortet:  ßißXagiov  xaivov  xal  ygacpeiov  xaivov  xal  Jiiva- 
xidiov  xaivov,  wo  wir  statt  xaivov  jedesmal  xal  vov  verstehen  sollen.  „Yer- 
stand"  ist  also  beim  Unterricht  dreimal  nulig.')  Die  Einwohner  von  Lao- 
dicea  schlenmien  gern;  daher  scherzt  PHijIus:  die  Laudiceni  sind  qui 
lauclant  cenam  ep.  2,  14,  5.  In  der  Ilias  steht  Z  143:  äooov  W  a>g  xev 
&äooov  oH&Qov  7i€iQa&'  Txrjai,  und  das  wird  bei  Strabo  p.  614  witzig  auf 
die  Stadt  ''Aooog  bezogen:  ^Aooov  Wi.  Oviol  versclimäht  nicht,  eine  Dame 
Füria  mit  einer  fiiria  gleichzusetzen,  tesles  sind  die  Hoden,  aber  auch 
die  Zeugen,  und  beliebt  war  daher  in  Rom  der  Witz  vom  sine  testibus 
amare;  vgl.  Martial  1,  33,  4.  Jemand  hat  einen  Sprachfeliler  und  lautiert 
immer  P  statt  T;  daher  die  Zote  in  den  Priapeen  c.  7:  nam  te  pe  dico 
semper,  wo  wir  te  pedico  verstehen  sollen.  Feiner  das  Spiel  mit  ius  „das 
Recht"  und  ius  „die  Sauce".  Der  .ehemalige  Koch,  der  jetzt  höchster 
Justizbeamter  geworden  ist,  heißt  bei  Claudian  Eutrop.  II  347  prudens 
inovendi  iuris;  er  besitzt  also  die  iuris  prudentia,  aber  im  Umrühren  der 
Sauce;  ganz  ebenso  heißt  bei  Martial  7,  51,  5  ein  Jurist  iure  madens;  aber 
schon  Varro  de  r.  rust.  3,  17  bezeugt  die  Wendung  pisces  in  ius  vocantur; 
und  nicht]  anders  sind  die  iura  siluri  bei  Lucilius  54  Mx.  zu  deuten.  2) 
Lehrreicher  sind  die  Silbenspiele,  die  uns  Cicero  De  oratore  II  249  aus 
dem  Munde  des  jüngeren  Scipio  tiberliefert.  Von  einem  Naevius  sagte 
Scipio:  quid  hoc  Naevio  ignavius?  Dies  ergibt  einen  zwingenden  Schluß 
auf  die  voll  diphthongische;  Aussprache  des  ae\  denn  der  Anldang  an 
ignavius  kommt  nur  zum  Vorschein,  wenn  man  nicht  „Nävius",  sondern 
mit  zweigipfeHgem  ae  „Naevius"  spricht.  Zu  einem  anderen,  der  durch 
Bocksgestank,  hircus,  ihm  lästig  war,  sagte  Scipio:  video  me  a  te  circum 
veniri.     Auch   diese  Stelle  ist  für  die  Lautlehre  von  Belang;    denn,    wie 

lusu  apud  Aristophanem,  Wien  1876;  j  235— 289 ;  Quintilian  VII  9,  2  ff.  und  VIII 
WÖLFFLiN  in  Sitz.ber.  bayer.  Akad.  1881 
8.24;  E.Arndt,  De  ridiculi  doctrina,  1905; 
P.  FaulmCller,  Die  rednerische  Venven- 
dung  des  Witzes  und  der  Satire  bei 
Cicero,  Erlangen  1906.  Zusammenstel- 
lungen im  Altertum  bei  Cicero  De  or.  II 

Handbucli  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl 


2,  13;  Macrob.  Sat.  Buch  II. 

^)  Vgl.  übrigens  C.  Wachsmuth,  Cor- 
pusculum  poesis  epicae  ludibundae  II 
S.  71  f. 

*)  Zwei  politische  Satiren  des  alten 
Rom  S.  75  u.  126. 


50  Kritik  und  Hermeneutik. 

die  Erkläfer  längst  erkannt  haben,  sollte  hier  das  circum  an  hircum  an- 
klingen; also  war  für  Scipio  und  Cicero  das  h  in  hircum  ein  stark  ver- 
nehmbarer Guttural.  1)  Auch  ein  so  verständiges  Buch  wie  Niedermanns 
Historische  Lautlehre  des  Lateinischen  referiert  hierüber  ganz  falsch  und 
spricht  davon,  daß  anlautendes  h  im  Latein  sehr  schwach  gewesen;  ich 
habe  dagegen  nachgewiesen,  daß  Catull  im  carm.  84  nicht  nur  das  unechte 
h  in  hinsidiae,  sondern  auch  das  regelrechte  lateinische  h  im  Anlaut  horri- 
hile  nennt,  und  Scjireibungen  beigebracht  wie  Plaut.  Amph.  429  implevit 
cyrneam  (=  hirnemn);  so  dort  Nonius;  dann  aber  auch  Plaut.  Merc.  272: 
ego  illum  circum  castrari  volo  mit  Allitteration,  wo  also  circum  statt  hircutn, 
ganz  so  wie  das  circum  im  Diktum  des  Scipio;  nicht  der  Ambrosianus, 
sondern  der  cod.  Yetus  gibt  liier  das  Richtige.  Umgekehrt  steht  hareo 
statt  careo  Most.  500;  Lucil.  1155  Mx.  hrysizon  f.  chrysizon;  Lucil.  71 
h(i)rodyfi  f.  chirodyti;  Plaut.  Trin.  963  cheus  f.  heus;  Cure.  238  cliirae  f. 
hirae.  Das  war  altes  Volkslatein,  und  es  taucht  im  Spätlatein  Avieder 
auf:  im  Glossar  des  Placidus  steht  unter  h  geordnet  haus  f.  chaos,  vechi- 
cula  bei  Priscian  u.  ä.  m.^) 

Doch  ich  breche  ab ;  denn  wenn  es  mir  bisher  nicht  gelang,  die  Acht- 
samkeit unserer  Grammatiker  auf  diese  Dinge  der  Lautlehre  zu  lenken, 
so  wird  es  mir  an  dieser  Stelle  wohl  noch  weniger  gelingen;  und  ich 
habe  über  den  lateinischen  Spiritus  den  Witz  vergessen.  Ich  handelte 
von  Witz  und  Silbenspiel. 

Wir  könnten  fortfahren:  Kaiser  Claudius  Avar  in  Gallien  geboren, 
also  Oallus\  gallus  ist  aber  auch  der  Hahn;  daher  wendet  Seneca  auf  ihn 
höhnend  das  Sprichwort  an:  gallum  in  suo  sterquiUno  plurimum  posse 
(Apotheos.  7).  Doch  sei  vielmehr  noch  auf  solche  Fälle  hingewiesen,  wo 
nicht  eigentlich  die  Lachlust  geweckt  werden  soll,  sondern  nur  in  dis- 
Doppeisinn, Ureter  Weise  ein  Nebensinn  durchschimmert.  Wie  oft  empfinden  wir  da, 
"^^  ^  "  ^®  wo  der  Name  Roma  steht,  daß  dem  Autor  dabei  die  Vorstellung  der  Kraft, 
QWjurjy  gegenw^ärtig  war!  Denn  dies  ist  die  Etymologie  des  Namens,  an 
die  das  Altertum  glaubte.  3)  Wenn  die  Frösche  bei  Aristophanes  singen 
(Vers  245),  daß  sie  an  sonnigen  Tagen  dui'ch  das  Riedgras  springen: 

fxäXkov  jusv  ovv 
(p&ey^6fieai&\  si  dr)  Jior'  ev- 
rjXloig  EV  a/Liegaioiv 
rjldixeo^a  dia  xvjieiQOfv 
xal  q)Xsco  x^^^QO^tsg  MÖfjg 

Jlo)MXolv^ßoiOl    /LI  also  IT, 

SO  versteht  man  dies  nicht,  wenn  man  den  Doppelsinn  von  jusXeoiv  nicht 
wahrnimmt;  denn  es  sind  damit  zwar  Melodien  des  Liedes  gemeint;  da 
diese  jueXr]  jedoch  „viel  tauchend"  {nblvxoXv juißa)  heißen,  so  sind  zugleich 
darunter  die  Glieder  des  Tiers  verstanden.  Ganz  so  bedeuten  auch  xcbXa 
die  körperhchen  „Glieder"  und  zugleich  die  Satzgheder,  die  Melodieteile. 
Wenn  also  Properz  in  bezug  auf  einen  Nachahmer  des  Aeschylus  schreibt 
2,  34,  42: 


1)  Siehe  Der  Hiat  bei  Plautus  S.40ff.    j  gesammelt  in  dem  Programm:  De  Eomae 

2)  Siehe  a.  a.  0.  I   urbis  nomine. 

3)  Ich  habe  hierfür  zahlreiche  Belege    | 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  51 

Desine  et  Aeschyleo  componere  verba  cothurno, 
Desine  et  ad  molles  membra  resolve  choros, 

so  gellt  componete  verba  auf  die  gewaltigen  Wortkomposita,  die  Aeschylus 
bildete,  memhra  aber  bedeutet  gleichzeitig  die  „Glieder"  des  Tanzenden 
und  die  Melodieteile,  xcbXa,  des  Cliorgesanges.  Die  Parcae  klingen  an  parcus 
„sparsam"  an.  Bei  Seneca  aber  spinnen  die  Parzen  Apotheos.  cap.  4  den 
Lebensfaden  Neros,  und  Apoll  redet  ihnen  zu,  daß  sie  den  Faden  mög- 
lichst lang  spinnen,  mit  den  "Worten  ne  demite  Parcae.  Auch  hier  schimmert 
der  Doppelsinn  durch:  „nehmt  von  der  Wolle  nichts  weg,  als  wäret  ihr 
geizig"  (parcae):  ne  parcae  sitis  nee  demite. 

Daß  die  Amphibolie  gern  ins  Obszöne  geht,  ersahen  wir  schon  aus 
den  Priapeen.  So  waren  die  amphiboliae  vor  allem  auch  eine  SpeziaUtät 
der  Atellane,  wie  Quintilian  uns  sagt.,  VI  3,  47.  Die  erstaunlichste 
Leistung  ist  in  dieser  Hinsicht  vielleicht  der  Cento  nuptialis  des 
Ausonius.  AndersAVO  verrät  sich  der  niederträchtige  Doppelsinn  erst 
allmählich  wie  bei  Claudian  in  Eutrop.  I  358  ff.  und  in  Vergils  Cata- 
lepton  13  Vers  24 — 26.  Auch  die  Griechen  standen  hierin  nicht  zurück; 
ich  erinnere  an  die  oavga  bei  Straten  Anthol.  Pal.  XII  3,5  und  Y  241,  1; 
an  Diogenes  von  Sinope,  der  das  homerische  ev  dögv  jifjie  (O  95) 
obszön  verwendete  (Diog.  Laert.  6,  53)  oder  an  das  Spottgedicht  auf  den 
Grammatiker  Menander  Anthol.  Pal.  XI  139.  Einer  der  unanständipfsten 
Dichter  war  Laevius,  der  lyricus  poeta,  von  dem  ich  das  frg.  4  (Bährens) 
liierher  setze: 

[te]  Andromacha  per  ludum  manu 

lascivola  ac  tenellula 

capiti  meo  trepidans  libens 

insolita  plexit  munera. 

E.  Bährens  hat  dies  anscheinend  nicht  verstanden;  das  zeigen  seine  so- 
genannten Korrekturen.  Das  te  tilgt«  Bücheier.  Wer  hier  spricht,  ist, 
kurz  gesagt,  der  penis  des  Hektor.  Nicht  umsonst  führt  Ausonius  grade 
den  Laevius  als   Entlastungszeugen  für  seinen  Cento  nuptialis  an. 

Hiervon  genug.  Doch  seien  noch  einige  Fälle  angefülirt,  wo  der 
Interpret  zaudert,  wie  er  übersetzen  soll.  Bei  Horaz  Od.  2, 18, 14  steht 
das  satis  beatus  unicis  Sabinis.  Hier  wollte  Mad^^ag  satis  mit  „Saaten" 
übersetzen.  Jeder  wird  dies  ablehnen;  aber  äußerlich  betrachtet  ist  die 
Möglichkeit  zuzugestehen.  Hör.  Od.  1,  7,  17  f.  heißt  es:  sie  tu  sapiens 
finire  memento  tristitiam  vitaeque  lahores  moUi,  Plance,  mero.  Ist  hier 
moUi  Ablativ?  oder  Imperativ  zu  mollirel  Letzteres  scheint  besser; 
denn  man  kann  wohl  schwerlich  die  Mühen  mit  Wein  beendigen  {finire), 
aber  man  kann  sie  durch  ihn  lindern.  Bei  Cicero  ad  Att.  15,  3,  1  lesen 
wir:  praesertim  cum  Marcelliim  scribas  aliosque  discedere.  Was  ist  hier 
scribasl  Maßgebende  Gelehrte  verstehen  es  als  „die  Schreiber". i)  Aber 
dann  fehlt  ein  verbum  finitum,  und  in  Wirklichkeit  kann  es  nur  kon- 
junktivisch heißen:  „du  schreibst". 2) 


')  MoMMSEN,"  Staatsrecht  HI  S.  1016; 
KuBiTSCHEK   bei    Pauly-Wissowa,   RE.  I 

S.  288. 


»)  So  Arthur  Stein,  Die  Protokolle 
des  röm.  Senats,  Prag  1904,  S.  21. 


52  Kritik  und  Hermeneutik.  , 

Bei  Horaz,  Ars  poet.  139,  steht  der  bekannte  Satz :  Parturiunt  montes, 
nascetur  ridiculus  mus.  Ist  liier  montes  Alikusativ?  So  verstand  aller- 
dings schon  Hieron jmus  adv.  Rufinum  HI  3  die  Stelle.  Daß  Horaz  selbst 
jedoch  den  Nominativ  meinte,  zeigt  das  griecliische  Vorbild  cödivev  ooog, 
eha  juvv  äjiEiexev.  Eine  viel  erörterte  Schwierigkeit  bietet  uns  endlich 
Minucins  Fehx  14, 1,  wo  es  vom  Christen  Octavius  heißt:  Etquid  ad  liaeCy 
ait,  audet  Octavius,  homo  Plautinae  prosapiae,  ut  pistorum  praecipuus,  ita 
postremus  phüosopkorum?  Octavius  ist  also  zwar  postremus  philosopJioniyn, 
aber  pistorum  praecipuus.  Was  heißt  hier  pistorum"^  Da  ihm  an  dieser 
Stelle  zugleich  eine  plautinische  Natur  (prosapia)  zugeschrieben  wird,  so 
sollen  wir  augenscheinlich  daran  denken,  daß  Plautus  Müller,  pistor,  Avar. 
Aber  das  genügt  nicht  zum  Verständnis  der  Antithese  pistorum  und  philo- 
sophorum,  die  vielmehr  statt  des  ersteren  Wortes  ein  Christianorum  er- 
warten läßt.  Also  haben  diejenigen  recht,  die  ansetzten,  daß  liier  eine 
absichthche  Amphibolie  vorliegt  und  zugleich  auch  an  Jiioroi,  die  Gläu- 
bigen, gedacht  ist.i)  Es  ist  also  eine  Kühnheit  in  der  Identifizierung 
griechischer  und  lateinischer  Vokabeln  anzuerkennen,  die  wir  auf  ganz 
anderem  Litteraturgebiet,  z.  B.  auch  in  den  Priapeen  c.  68,  antreffen. 

Absichtlicher  Doppelsinn:  dieser  kann  sich  aber  auch  auf  dem  Gebiet 
der  Syntax  bewegen,  und  dies  erinnert  uns  schließlich  auch  noch  an  die 
Orakel  des  Altertums.  Bei  diesen  Orakeln  war  Doppelsinn  Pflicht,  und 
die  Kunst  der  Exegese  hat  sich  grade  an  ihnen  von  früli  an  geübt. 
Schon  Herodot  bringt  uns  die  Belege.  Das  platteste  Beispiel  aber  steht 
wohl  [in  Ennius'  Annalen  Vers  186  V.,  wo  dem  Aeaciden  Pjrrhus,  der 
gegen  E-om  kämpfen  will,  ge weissagt  wird: 

aio  te,  Aeacida,  Romanos  vincere  posse. 
Es   kommt  hier    eben   darauf   an,    was    das  Subjekt   im  Accusativus  cum 
infinitivo  sein  soll;   macht  man  Romanos  zum  Subjekt,    so  wird  Pyrrhus 
besiegt;  ist  te  Subjekt,  so  siegt  er.    Ein  grammatischer  Witz!  eine  Spiegel- 
fechterei!    Der  Orakelspender  ist  auf  aUe  FäUe  gedeckt. 
Parono-  ^^^  Auscliluß  au  dic  Homonymik   sei   auch   noch  ein  Wort  über  das 

Silbenspiel  der  Paronomasie  gesagt.  Gewisse  Autoren  suchten  solche 
Assonanzen,  und  es  ist  also  PfHcht  des  Auslegers,  der  die  Intentionen 
seines  Schriftstellers  verstehen  wiU,  auch  hierauf  acht  zu  geben.  Eine 
maßgebende  Stelle  hierfür  ist  Piatos  Symposion  p.  185  C,  avo  nach  der 
Hede,  die  dort  Pausanias  gehalten,  die  Worte  stehen  Uavoaviov  de  nav- 
öajuevov  mit  augenfälligstem  Anklang  und  mit  dem  Zusatz :  diödoxovoi  ydg 
jue  i'oa  Xeyeiv  omcool  oi  oo(poL  Gewisse  Autoren  befürworteten  also  das 
loa  XeysiVy  und  so  spielt  denn  auch  Plato  öfter  in  dieser  Weise,  Avie  im 
Phaedrus  p.  230  A  mit  dem  Namen  Tvcpmv  und  dem  Verb  smTvqpeo^m. 
Sophokles  findet  im  Namen  des  „Aias"  den  Anklang  an  die  Wehklage 
alälj  und  in  der  Antigene  Vers  794  sagt  der  Chor,  als  die  Streitszene 
zAvischen  Kreon  und  Haimon  eben  zu  Ende  gegangen,  zum  Liebesgott: 
ov  xal  rode  veipcog  ävÖQcbv  ivvaijuov  s'xeig  ragdiag,  wo  uns  ivvaijuov  an  den 
Namen  Äijucov  selbst  erinnern  soll. 

1)  Diese   SteUe   scheint  mir  von  A.    1   Bonn  1909,  nicht  glücklich  beurteilt. 
Elter,   Prolegomeha  zu  Minucius  Felix,    | 


masie 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  53 

In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  der  Titel  ^AnoMwoig  der 
Seneca,  der  tiber  einer  Satire  steht,  in  der  das  Gegenteil  der  Apotheose 
stattfindet.!)  Kaiser  Claudius  ist  von  Agrippina  als  Gott  konsekriert 
worden.  Juvenal  erinnert  6,  622  an  die  gleichen  Vorgänge,  und  der 
Scholiast  merkt  dazu  an:  apotheosin  deridet.  Daher  also  der  Titel.  Aber  der 
Inhalt  der  Apotheose  geht  in  Wirklichkeit  dahin,  daß  Claudius  aus  dem 
Himmel  gestoßen  wird;  binnen  drei  Tagen  soll  er  den  Olymp  verlassen 
(cap.  11);  aber  auch  auf  Erden  duldet  ihn  keiner;  die  Menschen  woUen  ihn 
/ahovreg  evqprjfiovvteg  ixjiejujieiv  döjucov  (cap.  4)  und  alle  sind  laeti  hilares,  als 
er  aus  Rom  auf  den  BegTäbnisplatz  hinausgetragen  wird  (cap.  12);  und  das 
geht  noch -weiter :  in  der  Unterwelt  soll  Claudius  erst  Sklave  des  CaligTÜa  sein ; 
aber  Cahgula  will  ihn  nicht  und  gibt  ihn  an  Aeacus  weiter,  der  ihn  auch 
wieder  von  ;sich  stößt.  Er  ist  also  überall  der  Nichtbegehrte,  6  jui]  jzo^ov- 
jLterog,  6  dji6&7]Tog,  kein  äjio&eovjLieyog,  und  in  der  ironischen  Aufschrift 
äjio&Ecootg  klingt  ominös  das  Wort  no^eiv  mit  Alpha  privativum  an.  Natür- 
lich hat  Seneca  das  Wort  nicht  etymologisch  von  jio&ko  abgeleitet,  aber 
er  hörte  den  Anklang,  so  wie  wir  ihn  hören.  Ganz  dasselbe  Alpha  pri- 
vativum fand  man,  und  zwar  im  Ernst,  in  dem  Namen  Apolls;  denn  wir 
lesen,  daß  ^AtioXXcdv  nach  Auffassung  der  Mysterienlehre  (^uvoTixeög)  „den 
einen  Gott''  bedeute:  6  elg  eori  &e6g,  weil  er  „nach  der  Negation  der  vielen" 
benannt  sei:  xard  oxeQrjoiv  rcbv  noXXcbv  voovjuevog  (so  Clemens  Alexandr. 
Strom.  1, 164, 3).  Also  d-jioXXd)v.  Und  wenn  der  alte  Gorgias,  der  Liebhaber 
der  Paronomasien,  in  seinem  Epitaphios  fr.  5  (Sauppe)  von  den  Gestorbenen 
sagte:  ror/agovv  avxiöv  djto^avövrcov  6  jto&og  ov  ovvajie&avev,  so  hörte 
auch  er  in  djio&avovrcov  einen  Anklang  an  jto&og  mit  Alpha  privativum.*) 
Endlich  erwäline  ich  dazu  noch  das  Adjektiv  djio&eorog  (Callimach.  frg.  302), 
das  man  geradezu  von  jzoüeoj  ableitete. 3) 

4.  Die  Veränderung  der  Wortbedeutung. 

Der  Grundsatz  ist  selbstverständlich,  daß  man  jedes  Wort  in  der  fililiesten  Griechi- 
Zeit  seines  Vorkommens  zuerst  aufsuchen  muß.  Dies  erhob  einst  schon  Ari- 
starch  zum  Prinzip,  indem  er  durchzuführen  suchte,  Homer  nur  aus  Homer 
zu  erklären ;  denn  er  sah,  daß  das  spätere  Griechisch  die  nämlichen  AVörter 
oftmals  in  veränderter,  nuancierter  Bedeutung  brauchte.  (pQaCeiy  heißt  bei 
Homer  noch  nicht  dicere,  sondern  indicare ;  jud^aiga  nicht  Schwert,  sondern 
Messer;  oc7)ua  nur  „die  Leiche";  ygacpeiv  nur  „ritzen";  jidliv  nicht  „Avieder", 
sondera  „zuiiick";  rdxa  nicht  „vielleicht",  sondern  „bald";  xegdioTog  „der 
Schlauste "."*)  vygdg  heißt  bei  ihm  nur  „naß";  erst  in  den  jungen  home- 
nschen  Hymnen  heißt  es  „schmachtend"  (18,  33);  dann  nennt  Plato  im 
Symposion  den  Eros  vygdg  xö  eidog  „geschmeidig"  u.  ä.  m.&) 

Bekannt  ist,  daß  Homer  den  Artikel  noch  kaum  kennt;  6  iind  ^  haben 
für  ihn  noch  den  Wert  von  Demonstrativen.  Aber  auch  die  Adverbien 
auf  -(og  sind  bei  ihm  noch  recht  selten  und  Avenig  ausgebildet;  sie  sind  etwas 


sches 


M  De  Senecae  apocoloeyntosi  et  apo-  meri  interprete,  Straßburg  1893,  S.  79. 

theosi,  Marburg  1888/89  S.  VIII.  1            *)  Siehe  LEmis,  De  Aristarchi  studiis 

2)  Vgl.  G.  Thiele,  Hermes  36  S.  231.  Homericis. 

3)  Vgl.  F.  V.  Jan,  De  Oallimacho  Ho-  &)  Vgl.  Böckh,  Pindar  I  2  S.  227  ff. 


54  Kritik  und  Hermeneutik. 

häufiger  in  der  Odyssee  als  in  der  Ilias ;  erst  die  Odyssee  bringt  einmal  KaXoyg 
(ß  63).  In  den  ältesten  Teilen  Homers  heißt  äyogeveiv  nur  „auf  dem  Markt- 
platz {äyoQu)  sprechen",  also  „öffentlich  reden" ;  erst  hernach  verflacht  sich 
diese  Bedeutung,  i)  fiegog  „der  Teil"  ist  dem  Homer  noch  unbekannt,  u.  s.f. 
Nichts  aber  ist  sittengeschichtlich  wertvoller  als  in  der  Sprache  die 
Entwicklung  der  etliischen  Begriffe  zu  verfolgen,  wie  dies  Leop.  Schmidt, 
Ethik  der  alten  Griechen  I  S.  289  ff.,  freilich  in  etwas  schwerfälliger  Dar- 
stellimg,  getan.  Es  handelt  sich  um  die  Terminologie  des  Guten  und 
Schlechten.  Abstrakte  Wörter  wie  dixmoovvrj,  ävÖQeia  kennt  Homer  noch 
nicht.  Der  Gottesfürchtige  heißt  ihm  gelegentlich  §eovdrjg,  aber  der  evoeßrjg 
ist  ihm  noch  fremd,  fremd  auch  der  ßelriorog,  der  xoo/uog  und  juhgiog. 
XQrjoTÖg  steht  erst  in  der  Batrachomachie.  dgerri  ist  bei  Homer  noch  jed- 
weder Vorzug,  also  bei  Frauen  die  Schönheit,  und  erst  in  den  jüngsten 
Teilen  der  Odyssee  erhält  dget}]  die  eigentlich  moralische  Wertung.  2) 

Lehrreiche  Beispiele  für  den  Wandel  der  Anschauungen  gibt  auch 
die  Geschichte  der  Wörter  oo(piorijg  und  sI'qmv:  oo(piGri]g  ursprünglicli  der 
kundige  Lehrer*,  speziell  Weisheitslehrer,  hernach  durch  die  Sokratiker 
zum  Prahler  und  Charlatan  gestempelt,  dann  in  der  Kaiserzeit  als  Berufs- 
bezeichnung des  Rhetors  rehabilitiert;  eigcov  eigentlich  der  hinterhaltige, 
feige  Selbstverkleinerer  voll  innerem  Hochmut,  hernach  zum  Träger 
sokratisch-platonischer  Ironie,  in  der  wir  die  Blüte  feinsten  attischen 
Geistes  erblicken,  umgewandelt  und  geadelt.  3) 
Lateini-  Aucli  für  den  lateinischen  Sprachgebrauch  läßt  sich  Ähnliches  dartun, 

sches  wennschon  der  Zeitabstand  von  Plautus  zu  Cicero,  der  nur  etwas  über 
hundert  Jahre  beträgt,  zu  gering  ist,  als  daß  wir  für  ihn  einen  zahlreichen 
Wandel  der  Wortbedeutungen  erAvarten  könnten ;  bonus  ist  dvenus,  eigent- 
lich der  Zuverlässige  und  Besitzende;*)  optimus  ist  opitumus,  eigentlich 
also  der  Helfer  (zu  ops),  luppiter  optimus  maximus  eigentlich  der  größte 
Helfer,  im  Vergleich  nämlich  zu  den  loves  anderer  Städte,  carus  heißt 
„teuer"  und  seit  Ciceros  Zeit  erst  „lieb".  In  besonderer  Weise  entwickelt 
sich  der  urhaniis,  der  zunächst  den  Großstädter,  dann  den  Witzbold  be- 
deutet, s)  sodann  das  Wort  amicus^  das  allmählich  entwertet  wm-de;  denn 
da  der  kaiserliche  Hof  seine  Hofschranzen  amici  nannte,  nannten  auch 
die  sonstigen  großen  Herren  ihre  Klienten  ebenso,  ß)  und  die  amicitia 
verlor  die  Gegenseitigkeit,  die  zu  ihrem  Wesen  gehört.  Die  augusteischen 
Dichter  nannten  ihre  Geliebte  domina;  das  kam  aber  gleichfalls  erst  seit 
der  Knechtung  Roms  unter  Octavian  auf;  seitdem  der  Bürger  über  sich 
einen  dominus  erträgt,  kann  er  auch  seine  Geliebte  zu  seiner  Herrin  oder 
Königin,  zur  domina  oder  Donna  erheben.  CatuU  aber  kennt  diesen 
Sprachgebrauch  noch  nicht,    vielmehr   ist   bei  ihm  der  Liebhaber  der  do- 


1)  Vgl.  Jon.  Berger,  De  Iliadis  et 
Odysseae  partibus  recentioribus,  Marburg 
1908,  S.  52  (eine  Arbeit,  deren  Hauptergeb- 
nisse man  ablehnen  mag,  die  aber  viele  nütz- 


31  S.  387  f. ;  von  demselben :  Alazon,  ein 
Beitrag  zur  antiken  Ethologie,  1882 ;  Kolax 
1883;  Agroikos  1885. 

■*)  Siehe  Sprach  man  avrum  S.  70  f. 


liehe  sprachliche  Beobachtungen  enthält),  j  ^)  Siehe  Lutsch,  Creceliusbuch  S.  80. 

2)  Vgl.  J.  Ludwig,  Quae  fuerit  vocis  \  ^)  W.  Rüdiger,  Quibuscumvirisfuerit 
ägsrt]  vis  ac  natura,  Leipz.  1906.  j  Statio   poetae  usus,   Marburg  1887,    S.  20 

3)  Ueber  sI'qwv  O.  Ribbeck,  Rhein.  Mus.  |  u.  35  f. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  55 

minus  (45,  14),  luid  wer  etwa  Catiill  68  B  68  isque  domum  nobis  isque  dedit 
dominam  auf  die  Geliebte  des  Dichters  deutet,  bringt  sich  um  das  Ver- 
ständnis des  ganzen  Gedichtes.  Es  kann  da  nur  die  Hausbesitzerin  ge- 
meint sein,  die  zum  Eendezvous  der  Liebenden  ihr  Haus  öffnete,  i)  ele- 
menhnn  ist  eigentlich  der  Nährstoff,  alimentum,  dann  physikalisch  der 
Bestandteil  des  Körperaufbaus,  dann  litteransch  der  Bestandteil  des  Wort- 
körpers, der  Buchstabe 2)  u.  s.  f. 

Eine  umfassende  Behandlung  solcher  semasiologischer  Entwicklungen 
gab  einst  Döderlkin,  „Lateinische  Synonyme  und  Etymologien".  F.  Heer- 
DEGEX,  Untersuchungen  zur  lateinischen  Semasiologie  I  (Erlangen  1875), 
gibt  die  Geschiclite  des  Yerbum  ontre. 

5.  Einfluß  des  Dialekts. 

Von  dialektischer  Beeinflussung  der  römischen  Litteratursprache  läßt  Latein 
sich  nicht  viel  reden;  denn  die  wenigen  Lehnwörter,  die  aus  italischen 
Dialekten  stammen,  kommen  hier  doch  nicht  in  Betracht.  3)  Der  eine 
lateinische  Dialekt  hat  vielmehr  damals  Italien  und  dann  den  Okzident 
erobert.  Ja,  aucli  bei  der  gewaltigen  räumlichen  Ausdehnung  des  Latein 
in  der  Kaiserzeit  können  Avir  von  Entwicklung  lokaler  Sprachverschieden- 
heiten, wie  sie  die  Entstehung  der  romanischen  Sprachen  voraussetzt,  in 
der  Litteratur  wenig  verspüren.  Die  Versuche,  ein  afrikanisches  Latein, 
dann  auch  ein  gallisches  neben  dem  zentralen  italischen  Latein  in  der 
Litteratur  nachzuweisen,  sind  vorläufig  mißlungen  und  die  Symptome  zer- 
fließen uns  unter  den  Händen.-*)  Auch  was  wir  von  einer  römischen 
Soldatensprache  hören,  &)  ist  schließlich  kein  Dialekt. 

An  die  Stelle  dialektischer  Differenzen  tritt  in  Rom  dagegen  von  Piattiatoin 
Anfang  an  der  Gegensatz  von  Plattlatein  und  Hochlatein.  ZAvischen 
beiden  steht  vermittelnd  die  Konversationssprache  des  Großstädters,  wie 
sie  in  Ciceros  Briefen  uns  vorliegt.  Den  Anteil  festzustellen,  den  seit 
Plautus  die  einzelnen  Autoren  am  Plattlatein  nehmen,  ist  ein  Haupt- 
merkmal für  ihre  richtige  Würdigung.  Erstorben  ist  es  nie;  die  Bauern- 
gespräche bei  Petron  zeigen  es  in  herrlicher  Blüte,  ebenso  die  Wandkritze- 
leien (Graffiti)  Pompejis,  in  denen  Avir  sogar  schon  solche  ScliAvächungen 
des  Auslauts  antreffen,  wie  sie  im  Romanischen  herrschend  Avurden:  quis- 
quis  ama  valia,  peria  qui  noscit  amare.^)  Vor  allem  seit  dem  2.  Jahr- 
himdert  bricht  das  Volkslatein  Avieder  mächtig  hervor. 

Das  Plautinische  Altlatein  ist  also  Volkslatein.  Der  Komiker  hat  es 
mit  dichterischer  Genialität  gemodelt.  Volkslatein  ist  aber  nicht  immer 
auch    Altlatein,    und    bei    Plautus    findet    sich    eine    Menge    spraclilicher 


')  Xg\.  Rhein.  Mus.  59  S.  430  u.  442.  i  ergibt  z.  B.  A.  Carnoy,  T.e  latin  d'Espagiic, 

'')  Siehe  Archiv  f.  Lexik.  XV  S.  153  ff .  |  Brüssel  1906,  2.  Aufl. 

^Qgan  H.  DiELS  Elementum.  I  ')  Siehe  J.  G.  Kempf,    Sermonis   ca- 

ä)   Pränestinisches :    A.  Ernout,    Le  '  strensis  reliquiae,  Fleckeis.  Suppl.  Bd.  26. 

parier  de  Preneste  d'aprös  les  inscriptions,  j  ^)   Carm.  epigr.  946 :    noscit    ist   wohl 

Paris  1905  (Mem.  de  la  soc.  de  linguisti-  I  nicht    f.  nescit    verschrieben;    sondern    es 

quo).     Manches  Irrige   bei  Ernoust,   Les  |  scheint  non  seit  gemeint,   non  seire  f.  nes- 

elements  dialectaux  (Collection  lingu.III),  j  cire  ist  plautinisch,  also  Volkslatein. 

*)  Kroll,  Rhein.  Mus.  52, 569  f.  Wenig  i 


56 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Griecli. 
Dialekte 


Attisch 


Koiii6 


Phänomene,  die  bald  nach  ihm  für  immer  untergingen :  ?wer/  und  ted, 
postidea,  postilla,  gratiis  f.  gratis,  obiurigo,  daniint,  perdiilnt  u.  s.  f.  u.  s.  f. 
Charakteristisch  für  das  Altlatein  ist  auch  der  Indikativ  in  cum-Sätzen 
und  solchen  E/elativsätzen,  in  denen  später  die  sogenannte  „consecutio 
temporum"  sich  entwickelt  hat;  so  lesen  wir  vldeas,  mercedis  quid  tibi  est 
aecum  dari,  Bacch.  29,  vide  num  moratur  Most.  614  und  scio  quid  ago 
Bacch.  78.1)  Natürlich  wurde  das  noch  parataktisch  empfunden.  Die 
Hypotaxis  ist  hier  noch  in  ihrer  Entstehung. 

Diese  Bemerkungen  aber  führen  zur  Betrachtung  der  Sprachgeschichte 
und  ihrer  Perioden,  die  nicht  dieses  Ortes,  sondern  Aufgabe  der  Grammatik  ist. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Uniformität  des  Latein  steht  der  Dialekt- 
reichtum des  Griechischen. 

Die  griechischen  Dialekte  sind  in  ihrer  reinen  lokalen  Färbung  durch 
die  Inschriften  mehr  und  mehr  bekannt  geworden.  2)  Um  so  deutlicher 
ist  die  Erkenntnis,  daß  diese  Dialekte  in  der  Litteratur  nur  in  seltenen 
Fällen  rein  zur  Anwendung  kamen.  3)  Die  Reste  des  Epicharm  und 
Sophron  geben  uns  echtes  sizilisches  Dorisch,  die  Korinnas  reines  Böotiscli, 
Anakreon  reines  Ionisch.'*)  Die  attische  Komödie  läßt  gelegenthch  Per- 
sonen auftreten,  die  urwüchsig  und  ziemlich  echt  lakonisch,  böotisch, 
megarisch  reden.  0)  Die  lesbische  Lyrik  dagegen,  Sappho  voran,  dichtete 
nicht  ganz  rein  äolisch,  sondern  die  Einflüsse  der  epischen  Sprache  auf 
sie  sind  unverkennbar. 6)  Denselben  Einfluß  erfuhr  schon  Archilochos. 
Herodot  schreibt  ein  künstliches  Ionisch;  und  die  Tragiker  Athens 
wagten  in  ihren  Dialogpai*tien  nicht  mit  der  Tradition  zu  brechen,  sondern 
untermischten  ihr  Attisch  vor  allem  mit  jonischen  Bestandteilen.')  Und 
zwar  verfuliren  sie  so  in  Rücksicht  auf  ihr  Publikum.  Denn  ein  Aeschylus 
dichtete  nicht  nur  für  Athen,  sondern  für  die  weitere  griechische  Welt, 
und  die  Tragödie  wurde  an  den  großen  Dionysien  gespielt,  zu  denen 
auch  die  auswärtigen  Griechen  zusammenströmten.  Erst  in  der  attischen 
Komödie,  deren  Gesprächston  sich  der  Prosa  nähert,  stellt  sich  das  Attische 
reiner  dar,  dann  bei  den  Prosaautoren  selbst  seit  Gorgias.  Dies  Attische 
war  der  zur  Rolle  einer  herrschenden  Landessprache  prädestinierte  Dia- 
lekt, der  der  „Keine"  den  Boden  bereitete.  Doch  Avagt  auch  Thukydides 
noch  nicht  das  echt  attische  t  in  Jigärroj,  i^dkarra  einzuführen  und  joni- 
siert  in  diesem  Punkte  wie  die  Tragödie.  Erst  nach  ihm,  seit  Lysias, 
zeigt  sich  das  Attisch  in  seiner  uneingeschränkten  Natur. 

Zur  eigentlichen  Weltsprache  wurde  statt  des  Attischen  schließlich 
die  Koine.  Ihr  erster  großer  Vertreter  ist  für  uns  Polybius.  Prüft  man 
an  ihm  und  an  verwandten  Autoren  die  xoivi],  so  ergibt  sich,  daß  dieser 


*)  Vgl.  Lorenz  zu  Mosteil.  142. 

2)  Vgl.  E.  Meister,  Die  griech.  Dia- 
lekte, 1882—1889.  O.  HoFFMANX  unter 
gleichem  Titel  1891—1898.  A.  Thumb, 
Handbuch  der  griech.  Dialekte,  1909. 

3)  Vgl.  E.  Zarncke,  Die  Entstehung 
der  griech.  Litteratursprachen,  Leipz.  1890. 

*)  Vgl.  V.  WiLAMOWiTZ,  Die  Text- 
geschichte der  griechischen  Lyriker  S.  22 


u.  44  ff. 

5)  Siehe  Aristoph.  Acharn.  729  ff.: 
Lysistr.  81  ff . ;  980  ff.:  1076  ff.,  und  vgl. 
V.  AViLAMOwiTZ  a.  a.  O.  S.  98  f. 

6)  W.  Schulze,  Gott.  gel.  Anz.  1897 
S.  883  f. 

■>)  Vgl.  DiELS,  Rhein.  Mus.  56  S.  29  ff. : 
W.  Aly,  De  Aeschjdi  copia  A-erborum, 
Berl.  1906. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  57 

Dialekt  ein  Mischdialekt,  d.  h.  ein  vornehmlich  mit  starken  jonischen 
Elementen  durchsetztes  Attisch  ist.  Daher  Vokabeln  wie  xaToxt'j,  xgea- 
qpaydvy  xoivoXoyia,  gäyi?  (y, Bergrücken"),  daher  auch  eine  Reihe  von  scheinbar 
poetischen  Vokabeln,  die  vor  der  Koine  sich  schon  in  der  Tragödie  finden, 
wie  äXexToyg,  der  Halm  im  Neuen  Testament,  XaUaip,  ödrjyelr,  ßaordCeiv. 
Auch  die  Tragödie  hatte  sie  dereinst  dem  Ionischen  entnommen,  i)  Der 
Dialog  der  Tragödie  ist  ein  Vorläufer  der  Koine. 

Was  die  Dichtkunst  anlangt,  so  gilt  im  allgemeinen  der  Satz,  daß  an 
bestimmten  Versmaßen  oder  Dichtungsarten  ein  bestimmter  Dialekt  haftet 
(s.  Aristoteles  Ehetor.  p.  1404  xA.  29).  Herodas  dichtet  jonisch,  Aveil  eben  der 
Hipponacteus,  den  er  braucht,  dies  fordert.  Sonst  aber  war  doch  Mischung  Mischung 
beliebt.  Die  eigentlich  getragene  Poesie  der  Griechen  hat  den  reinen  p^esie 
Sprachtypus  stets  vermieden.  Es  gab  keine  attische  Lyrik.  Selbst  Sparta 
hat  niclit  daran  gedacht,  von  den  Sängern,  die  ihm  dienten,  lakonische 
Gesänge  zu  fordern;  sondern  T^^rtäus  schrieb  episch,  Alkman,  der  z.  B. 
lakonisches  oiö<;  f.  ß^eög  setzt,  mischte  doch  Episches  in  das  Dorisch. 
Und  dies  Prinzip  der  Dialektmischung  beherrscht  in  verscliiedener  Weise 
auch  Pindar,  die  Chorgesänge  der  Tragödie  und  alles  Verwandte.  *)  Warum 
das?  Diese  große  Poesie  Avollte  allgemeinverständlich  international,  oder 
besser,  panhellenisch  sein.  Das  Dichten  war  ein  fortgesetzter  sprachlicher 
Kompromiß. 

So  hat  denn  auch  Theokrit  zwar  vereinzelt  Alohxä  gearbeitet,  in 
seinen  Bouxokixd  aber,  dcogldi  öialexxcp  (Avie  Suidas  sie  charakterisiert),  doch 
wiederum  überall  episches  Sprachgut,  d.  h.  jonisch-äolisches,  ja,  auch  nicht- 
ej)ische  Aeolismen  in  das  Dorische  eingemischt. 

Und  dies  führt  auf  Homer  selbst.  Auch  seine  Sprache  ist  gemischt.  Homer 
Und  auch  das  ist  ursprünglich  und  echt  und  gehörte  gewiß  von  vorn- 
herein zum  Wesen  des  epischen  Vortrags.  Die  HA^pothese,  die  ansetzt, 
die  Ilias,  ja,  auch  die  Odyssee  sei  dei-maleinst  reines  Aeolisch  gewesen, 
ist  um  so  bedenklicher,  da  der  Versuch  einer  Rückdichtung  mißlungen 
scheint.»)  Vielmehr  lehrt  die  Gesamtsprachgeschichte  der  griechischen 
Poesie  es  verstehen,  ja,  sie  ergibt  es  als  Forderung,  daß  auch  schon  die 
alten  epischen  Erzähler  die  reine  Dialektdichtung  vermieden.  Denn  aUe 
Dialektdichtung  ist  Ideinbürgerlich.  Den  wandernden  Aöden  lag  es  fern, 
ihren  Vortrag  lediglich  auf  äolisch  redende  Fürs.tenhöfe  zu  beschränken; 
und  auch  diese  Fürsten  selbst  waren  keine  Bauern  und  gemß  niemals 
so  borniert,  nur  äolisch  zu  verstehen.*) 

')  A.  Thumb,  Die  griechische  Sprache  ;           *)    Die    Annahme,    daß    in    Smjrna, 

im  Zeitalter  des  Hellenismus,   Straßburg  Erythrä  und  Umgegend   ein  äolisch-joni- 

1901,  S.  213  u.  217  f.  scher  Mischdialekt  gesproclien  wurde,  ist 

'-)  H.  Schultz,   De    elocutionis  Pin-  nach  dem  Gesagten,  wie  ich  meine,  zum 

daricae     colore     epico,    Göttingen    1905;  Verständnis  des  Homer  unnötig.    Vgl.  O. 

übrigens  Wilamowitz  a.  a.  O.  S.  47  f.  Hoffmanx,   Geschichte    der   griechischen 

3)  Trotz  Bechtel  (bei  C.Robert)  und  Sprache,  Sammlung  Göschen  Nr.  111  S.  74. 

Haxs  Berger,  De  lliadis  et  Odj^ssiae  parti-  Wenn    die    dort   gefundenen   Inschriften 

bus    recentioribus,    Marburg    1908.     Am  einen   solchen   Mischdialekt   wirklich   er- 

meisten  werden  diese  Hypotliesen  durch  weisen,   so   ist   dies   gewiß   willkommen, 

das   abenteuerliche   Buch    A.  Ficks,    Die  Wer  ihn  aber  aus  Homer  selbst  erschließen 

Entstelmng  der  Odyssee,  Göttingen  1910,  ;    will,   müßte  auch   aus  den  jonisierenden 

diskreditiert.             "  :   Dialogpartien    des    Aeschylus    schließen. 


58  Kritik  und  Hermeneutik. 

Text-  Den  modernen  Textkritiker  bringen  nun  aber  Texte  mit  gemischtem 

kritisches  j)ialekt  oft  in  Verlegenheit.  Wenn  die  Hss.  selbst  so  schwanken  wie 
bei  Theokrit,  sollen  wir  bei  diesem  Dichter  1,  12  Teide  oder  rfjde,  sollen 
wir  5,  30  xotde,  15,  2  amfj,  15,  34  dagegen  amdv  lesen  oder  herstellen? 
Wenn  eine  Hs.  so  inkonsequent  ist  Avie  der  Lam-entianus  des  Sophokles, 
der  z.  B.  Aiax  172  eXacprjßoliaig,  Track.  214  ela(paß6lov  gibt,  sollen  wir 
etAva  gegen  ihn  den  dorischen  YokaUsmus  durchführen?  Oed.  Rex  475 
steht  (pYjfia.  Sollen  Avir  (pdua  schreiben?  Für  diese  Dinge  hat  uns  die 
Kenntnisnahme  des  Bacchylidespapyrus  einige  Zurückhaltung  gelehit. 
Denn  auch  er  ist  sclion  ebenso  inkonsequent,  und  er  gibt  Bacchyl.  2,  1 
und  sonst  just  ebenso  (prii^ia,  nicht  (pdua.  Soph.  Electra  1277  stellte  Din- 
dorf  äöovdv  her,  ohne  Nötigimg;  denn  ßacchylides  hat  ddimrovg,  aber  da- 
neben fjdvg.^)  Vielleicht  beobachtete  der  Dichter  bei  dem  scheinbar  will- 
kürlichen AVechsel  der  Formen  Gesetze  des  Wohllautes,  die  Avir  nicht  mehr 
nachempfinden  können.  An  rem  tu  am  interroga  sagt  der  Grammatiker 
Probus  bei  Gellius  13,  21,  1  in  bezug  auf  A^ergilisches  urhes  und  urhis\ 
der  Dichtei-  hatte  eigenhändig  bald  dieses,  bald  jenes  gesetzt.  Warum? 
Andererseits  kann  es  nicht  zAveifelhaft  sein,  daß  wir  in  den  zwei 
großen  Sapphogedichten,  die  die  Rhetoren  Dionysius  A^on  Halikarnaß  und 
Pseudo-Longin  uns  geben,  das  Aohsche  gegen  ihr  Zeugnis  strenger  durch- 
zuführen haben;  denn  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  diese  Texte  in  den 
Handschriften  der  Zeit  des  Augustus  stark  vom  Gemeingriecliisch  durchsetzt 
Avaren.  Pseudo-Longin  modernisiert  so  auch  das  Jonisch,  avo  er  den  Herodot 
zitiert  p.  143  imd  153;  2)  ja,  schon  Aristophanes  hat,  avo  er  Stesichoros- 
A^erse  bringt,  im  Frieden  774  ff.  die  überlieferten  strengen  dorischen 
Formen  abgeändert.  Ebenso  ist  das  Jonisch  im  Aites  Theokrits  nach 
dem  Vermerk  der  Überschrift  ^Idöi  öialexrco  auch  da,  avo  die  Hss.  Avider- 
streben,  durchzuführen.  Die  Soloni'este,  die  Avir  in  des  Aristoteles  \4&?]vaio)i> 
'  TioXizeia  lesen,  geben  gel.  attisches  ä,  avo  wir  jonisches   r]   erAvarten,  auch 

dies  vielleicht  eine  Veruntreuung  des  Dialektischen  durch  den  Schreiber. 
Auch  das  Jonisch  des  Herodot  und  Hippokrates  ist  in  den  Handschriften 
dieser  Autoren  durch  jüngere  Überarbeitung  und  Akkommodation  an  das 
Attische  entstellt;  entstellt  auch  die  Sätze  der  altjonischen  Philosophen, 
die  uns  die  Aristoteleskommentatoren  zitieren.  3) 

6.  Einfluß  der  Litteraturgattung. 

Schon  aus  dem  soeben  Vorgetragenen  erhellt  zur  Genüge,  daß  der 
Sprachcharakter  eines  Werkes  jedesmal  vom  ZAveck  des  Autors,  d.  h. 
mit  andern  Worten  a  on  der  Litteratm'gattung  abhängt,  der  er  sich  Avidmet, 
und  es  ist  kaum  nötig,  hierbei  zu  A^erAveilen.  SoAveit  es  sich  um  poetische 
Werke  handelt,  kann  man  auch  sagen:  Die  Sprache  ist  abhängig  A^om 
Versmaß. 

daß    zu    des    Aeschylus    Zeit    in    Athen  '^)  Vgl.  Stemplinger,  Das  Plagiat  in 

solch  Jonisches  Attisch  gesprochen  wurde,  i  der  griechischen  Litteratur  S.  248. 

Aeschylus  war  Kunstdichter,  und  Homer  |  ^)  Siehe    Simplicius    ed.  H.  Diels    1 

auch.  I  S.  IX. 


)  Siehe  übrigens  v.Wilamoan^tz  a.  a.  0. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  59 

Zunächst  rein  äußerlich  im  Wortschatz;  denn  der  daktylische  Yers 
ei-fordei-te  eben  daktylisch  fallende  Vokabeln,  so  A\'ie  der  Trimeter  jam- 
bische. Wichtiger  aber  noch  ist  die  Stimmungslage,  die  sich  mit  jedem 
Versmaß  ändert. 

Der  Trochäus    bildet   den   eigentlichen  Schnellvers,    und   Avenn   der  Trochäen 
C'hor  an  zu  rennen  fängt,  brauclit  er  ihn,  wie  bei  Aristophanes  Acli.  204: 

Tf)dE  JTäg  k'jiov  MoiXE  xai  lov  ävöga  jtvt'Oävov. 

Aber  iXidv  Trochäus  diente  auch  dem  yeköiov,  dem  Spaß  und  ülk,  der  nicht 
t^föyog  ist. 

Dagegen  ist  der  Jambus,  das  iafißeXov,  der  eigentliche  Si)rechvers,  lamben 
von  dem  Aristoteles  sagt,i)  er  eigne  sich  für  den  Dialog  des  Theater- 
stücks, weil  man  im  täglichen  Leben  geradezu  in  Jamben  spreche.  Wo 
immer  also  la/ißeTa  auftreten,  haben  wir,  ähnlich  wie  auch  in  den  Trochäen, 
ganz  vorAviegend  realistischen  Sprechton,  und  so  ist  der  Jambus  von 
vomlierein  auch  der  Vers  der  Insulte  oder  des  ifoyog.^)  Allerdings  wissen 
die  Tragiker  im  Jambus  doch  auch  erhaben  zu  sprechen,  und  eine  epische 
Wucht  erliält  er  in  den  ergreifenden  Botenberichten,  in  denen  Euripides 
sich  als  Meister  zeigi. 

Der  Hexameter  gibt  Erzählung,  aber  ihm  ist  eigentümlich,  daß  er  Hexameter 
stets  nur  getragene  Erzählung  gibt,  die  sich  einer  überwirklichen  Sprache 
bedient;  und  das  Blülien  der  breitgebauten,  Avohlklingenden  und  die 
Anschauung  belebenden  Epitheta  ist  dabei  Hauptmerkmal.  Der  epische 
Yers  idealisiert  und  wahrt  eine  erhabene  UnAvdrklichkeit  des  Ausdrucks, 
wie  in  den  Schmuckwörtern,  so  in  der  Wortkomposition  überhaupt.  Dieser 
e[)ische  vStil  geht  von  Homer  bis  Nonnos.  Um  so  reizvoller  war  es  für 
den  antiken  Leser,  wenn  derselbe  Hexameter  nun  trotzdem  einmal  rea- 
listisch Avurde,  skeptischen  Ton  anschlug  und  sich  in  den  Dienst  des 
Mimus  stellte,  Avie  in  Theokrits  15.  Gedicht,  in  den  Komödien  des  E,hinton, 
A'or  allem  in  der  römischen  Satire.  Und  hier  ist  denn  in  der  Tat  Wort- 
schatz und  Charakter  radikal  A^erändert. 

Eine  Veredlung  oder  Steigerung  des  Redetons  strebt  auch  die  grie- 
chische Lyrik  oder  Melik  an.  Aber  sie  zeigt  sich  in  diesem  Streben  MeUk 
ungleichmäßig,  und  eben  in  dieser  Ungleichmäßigkeit  verrät  sich  AA^eder 
der  Einfluß  des  Versmaßes  auf  die  Sprache.  Denn  avo  die  Metra  so 
kurzgliedrig  und  schlicht  sind  aa^c  in  Sapphos  Aedvxe  fiev  ä  oeMvva  \  y.al 
rjh]iadeg,  jueoai  de  \  vvxreg  xtX.,  da  AA'ird  sogleich  auch  die  Sprache  schlicht 
mid  meidet  den  Aufputz  der  Epitheta,  den  die  Chorlyrik  großen  Stiles 
bringt  imd  der  z.  B.  in  den  Daktylo-Epitriten  zu  Hause  ist.  Älinlich 
steht  es  mit  den  Dochmien;  sie  sind  zu  pulsierend  erregt  und  meiden 
darum  gleiclifalls  den  Pomp  der  SchmuckAv^örter.  Dies  ist  die  Sprache  der 
Dochmien :  (pQaCe  Srj  ri  (prjg ;  tov  divayfj  qnXov  jhijtiot  ig  ahiav  en  ä(pavei  Xoycp 
ö'  ärifiov  ßaXFiv,  oder:  äcpiXog  öri  jivjiiaTov  ö?Mijuav,  (poovqoiv  et  tdvd'  e/M,  avo 
kein  Wort  im  Dienst  der  erregten  Erörterung  überflüssig  (Oed.  Rex  655  ff.). 

Die  Grammatiker  und  Musiker  des  Altertmns  selbst  Avußten  den 
Charakter  der  Versmaße  zu  bestimmen;    so    sagen   sie  uns  u.  a.,    daß  die 

')  Poetik  cap.  4,  8.  v£^l.  Philol.  LXTTT  8.  455. 

2)  Der  Jambus  als  pes  citus  ist  jung: 


60 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Elegie 


Prosa 


Daktylo-Epitriten  den  hesychastischen  Charakter  tragen.  Dalier  nun  eben 
der  feierliche  Redeschmuck  daktylo-epitritischer  Strophen,  wie  z.  B.  in  der 
Parodos  des  Aiax  Yers  172  ff.  mit  der  ravQOJioka  Aiög  "ÄQTejuig  und  dem 
'/aXxo^öjgai  "Evvdhog.  Man  könnte  zweifeln,  ob  dieser  breite  und  wuch- 
tende Ton  an  dieser  Stelle  der  Tragödie  die  Stimmung  richtig  ausdrückt. 
Denn  der  Chor  zeigt  auch  schon  Avährend  der  Parodos  ernstliche  Sorge 
und  eine  gewisse  Erregung  um  das  Schicksal  des  Aiax.  Aber  dies  Gefühl 
soll  erst  im  Verlauf  des  Dramas  sich  steigern  und  voll  entfalten,  und 
Sophokles  handelte  weise,  wenn  er  mit  der  hes^^chastischen  Stimmung 
begann. 

In  gewaltigem  Kontrast  zu  dieser  Parodos  des  Aiax  steht  die  zur 
Alkestis.  Da  ist  alles  Angst  und  Bangen  um  die  edle  Frau:  ist  sie  schon  tot 
oder  nicht?  Jamben,  auch  Glykoneen  und  Daktylen  reden  da  die  knappste, 
ja,  eine  fast  geschäftsmäßige  Sprache.  „Hört  jemand  ein  Ächzen  oder 
Händeschlagen  im  Haus  oder  ein  Seufzen,  als  wäre  es  schon  geschehen? 
Nein!  An  der  Haustür  ist  auch  kein  Diener'' :  so  schlicht  lautet  die  erste 
Strophe  Vers  86  f.,  um  nur  in  ihrer  Schlußzeile  et  yäg  /Lieraxvjuiog  ärag  cb 
Ilaiav  cpaveirjg  plötzlich  zu  der  üblichen  Verwegenheit  des  Ausdrucks  sich 
zu  erheben;  und  ganz  so  realistisch  geht  die  Gegenstrophe;  aber  auch 
ihre  Schlußwendung  Vers  103  schlägt  wieder  ebenso  kühn  empor;  die 
yeiQ  veoXaia  ist  da  noch  exaltierter  als  das  voraufgehende  jueraxvfuog  ärag. 

Das  elegische  Distichon  aber  ist  nur  ein  Ableger  der  hexametrischen 
Kunst  und  die  elegische  Sprache  deshalb  auch  nach  der  epischen  zu  be- 
urteilen, und  zwar  so  gut  in  Rom  wie  in  Hellas.  ^)  Indem  der  Hexameter 
sich  mit  dem  Pentameter  vermählte,  wurde  die  Elegie  die  Tochter  und 
nächste  Deszendentin  des  Epos.  AVie  Mimnermos  sprachlich  von  Homer 
beeinflußt  ist,  so  war  Pro})erz  geneigt,  sich  dem  Einfluß  seines  großen 
Zeitgenossen  Vergil  auszusetzen.^)  Aber  auch  die  Elegie  hat  dabei,  wie 
der  epische  Vers,  verschiedene  Stilarten  durchgemacht:  man  vergleiche 
nur  Ovid  mit  Kallinos,  das  Ende  mit  dem  Anfang  der  Entwicklung.  Auf 
alle  Fälle  aber  ist  es  sinnlos  und  eine  Verkennung  des  Wesens,  wenn 
neuerdings  jemand  versucht,  uns  das  elegische  Distichon  durch  den  Ver- 
gleich bayrischer  Schnadahüpfeln  nahe  zu  bringen,  ja,  Distichen  in  solche 
Schnadahüpfeln  zu  übersetzen.»)  Das  ist,  als  gäbe  man  uns  Kohl  und 
Rüben  statt  des  Lorbeers  und  der  bacchischen  Traube. 

Blicken  wir  auf  die  Prosa,  so  hat  sie  vom  „gradezu",  vom  „grade 
darauf  los  reden"  ihren  Namen  (proversa,  provorsa).  Sie  steht  also  zu 
jeder  bewegteren  Gefühlsäußerung  ursprünglich  in  Gegensatz,  und  in  der 
Sprache    der  Gesetzestafeln   und   der  Lehrbücher   gibt  sie  sich  am  natür- 


*)  Ygl.F.WEiGEL,  Quaest.  de  elegiaco 
sermone  eqs.,  Dissert.  Vindob.  IIT,  1891, 
vS.  109  ff. ;  N.  EiEDY,  Solonis  elocutio  qua- 
tenus  pendeat  ab  exemplo  Homeri,  Mün- 
chen 1903  u.  1904;  dazu  Berl.  phil.  W.schr. 
1905  S.  1428.  Inwieweit  auch  einmal  ein 
Abschnitt  im  Homer  von  der  Elegie  be- 
einflußt worden  ist.  (s.  D.  Mülder,  Homer 
und  die  altionische  Elegie,   Hannover  u. 


Berlin  1906),  kommt  hier  nicht  in  Betracht. 

2)  Vgl.  H.  Hollstein,  De  Properti 
monobibli  sermone  et  de  tempore,  quo 
scripta  sit,  Marburg  1911. 

3)  Stowasser,  Griechische  Schnada- 
hüpfeln, Wien  1903.  Feinsinniger  sind  die 
Versuche  Eskuches  (Hellenisches  Lachen, 
Hannover  1911),  antike  Distichen  in  deut- 
schen Eeimversen  wiederzugeben. 


n.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung. 


61 


lichsten.  Eben  dalün  gehört  aber  auch  die  ke^ig  elgojuevrj  der  primitiven 
altjonischen  Historiographen,  die  man  die  Logographen  nennt.  Aber  auch 
die  Prosa  belebte  sich  zum  Kunstwerk.  Sie  rundete  ihre  Sätze  ab  und  Griech. 
bildete  in  Nachahmung  der  lyrischen  Versifikation  „Perioden",  die  sich  ^^^^^^^^^ 
aus  „Kola"  zusammensetzten,  und  begann  obendrein  auch  den  poetischen 
Sprachausdruck  zu  kopieren,  zunächst  in  der  tastenden  und  geschmack- 
losen Weise,  von  der  uns  die  yvjieg  eui^wxoi  rdcpoi  des  Gorgias  ein  typisches 
Beispiel  sind.  Für  alles  das  geben  die  Reste  der  Ethika  des  Demokrit 
interessante  Belege.  Im  Gegensatz  hierzu  war  es  endlich  das  große 
Werk  der  klassischen  attischen  Rednerkunst,  eine  wirkUch  stilreine  Kunst- 
prosa zu  schaffen,  d.  h.  der  Kunstprosa  ihren  eigenen  Stil  zu  sichern, 
der  dabei  in  verschiedenen  Charakteren  auftreten  kann,  anders  im  Lysias, 
anders  im  Isokrates.  Die  klassische  Prosa  hat  seitdem  ihren  eigenen,  von 
der  Poesie  verschiedenen  Wortschatz ;  sie  hat  eine  eigene  Rhythmik,  die 
den  Dichtern  fremd.  Ihre  Kraft  und  ihre  Mannigfaltigkeit  offenbart  sie 
in  den  Redefiguren  und  den  Tropen. 

Die  r()mische  Prosa  hatte  es  leicjiter  als  die  der  Griechen.  Ihr  ge-  Rom.  Prosa 
nügte  es,  die  verschiedenen  Stilarten,  die  die  Griechen  ausgebildet,  lern- 
eifrig zu  übernehmen.  Die  größte  Stilreinheit  zeigt  die  römische  Prosa 
in  Cicero  und  Caesar.  Dann  aber  änderte  sie  unter  dem  Einfluß  der 
nachklassischen  griechischen  Rhetorik  ihr  Wesen,  und  die  Entwicklung 
ging  dahin,  daß  die  Schriftsteller  Roms,  Livius  voran,  sich  von  der  Phraseo- 
logie und  von  der  poetischen  Syntax  der  augusteischen  Dichter  beein- 
flussen ließen.  Ich  nenne  aus  ihrer  Reihe  hier  nur  Apuleius,  den  Afrikaner, 
dessen  Sprache  mit  besonderer  Liebe,  aber  doch  bisher  immer  noch  in  zu 
einseitiger  Weise  untersucht  worden  ist;  denn  man  hat  sie  vorwiegend 
nur  auf  Yolkslatein  und  Altlatein  hin  ins  Auge  gefaßt;  das  Hauptmerkmal 
ist  aber,  daß  Apuleius  in  der  Syntax  i)  und  vielfach  auch  im  Wortschatz 
der  Fortsetzer  jener  silbernen  Latinität  ist,  die  aus  dem  Usus  der  Dichter- 
sprache ihr  Wesen  zog.  Gleich  im  Einleitungskapitel  braucht  er  das  Ad- 
jektiv Ephyraeus  nach  Ovid  und  Lucan,  verbindet  advena  mit  dem  Genitiv 
wie  Statins  Theb.  8,  555,  sagt  veniam  praefatus  wie  Statins  Achill.  2,  53 
pacem  praefatus,  im  cap.  2  emergere  mit  dem  Akkusativ  des  Orts  wie 
Vergil  erumpere  nubem,  schreibt  sititor  novitatis  nach  dem  sltitor  aquae 
bei  Martial  12,  3,  12  u.  a.  m. 

Wichtiger  als  diese  nachciceronische  Prosa  sind  aber  die  augusteis  chen  Augustei- 
Dichter  selbst;  denn  nichts  kann  den  Satz,  daß  das  Versmaß  die  Sprache  Dichter 
gestaltet,  so  bequem  veranschaulichen  als  sie.  Dies  ist  vollständig  über- 
zeugend schon  in  dem  alten  Buch  von  Köne,  Sprache  der  römischen 
Epiker,  Münster  1840,  dargelegt.  2)  Der  daktylische  Vers  war  es,  der  es 
einem  Vergil  und  den  andern  Daktylikern  unmöglich  machte,  Worte  wie 
hellicosuSj  hospitalis,  nuptiae,  iudicamus,  insulae,  fortiores,  Adverbien  wde 
prospere  überhaupt  zuzulassen.  Siculus  sind  drei  Kürzen;  in  Siciliam 
war  man  gezwungen,  die  erste  zu  längen;    das  e  in  Macedo  konnte  man 


')  Wenig  gibt  J.  v.  Geisau,  De  Apulei 
syntaxi  etc.,  Münster  1912. 

2)  Vgl.  Bednara,  De  sermone  dacty- 


licorum  lat.,  Leipz.  1906;  ders.  in  Archiv 
f.  Lex.  XV. 


62 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Homer 


kurz  belassen,  in  Macedoniam  mußte  man  es  dehnen.  Ebenso  ist  es  durch- 
sichtig, weshalb  die  Feminina  certa  dies,  dura  silex  bevorzugt  Avurden. 
Ein  praemium,  otium  widerstrebte;  man  half  sich  mit  dem  „poetischen'' 
Plm-al  otia,  praemia,  den  die  Not  erzeugte;  den  gleichen  Dienst  leisteten 
die  Neutra  carbasa,  Tartara,  Pergama  trotz  carbasus,  Tartarus,  JJeQyajuog. 
Daher  auch  circlos,  frigdaria.  Der  ganze  Genetiv  der  Partizipien  aman- 
tium,  volentium  mußte  Avegf allen;  amantum  tritt  dafür  ein.  reliqui  war 
noch  im  1.  Jahrh.  v.  Chr.  viersilbig  i^elicui;  daher  vermied  man  das  Wort; 
kein  augusteischer  Dichter  braucht  es.\)  gratulari  gab  keinen  Daktylus; 
man  sagte  gratari;  „erziehen"  hieß  edücare;  im  gleichen  Sinne  mußte  nun 
educere  aushelfen.  So  Avird  monstruosus  zu  monstrosus;  audiendi  ging 
nicht  an,  also  Avurde  auch  die  Syntax  A^erändert,  und  Vergil  konstruiert 
amor  audirl  (Aen.  II  11);  v^gl.  natus  tolerare  lahores  u.  a.  invidetur  mihi 
ging  ebenfalls  nicht;  Horaz  verschmäht  es  deshalb  nicht,  invideor  zu 
schreiben.  Im  Dienst  des  Daktylus  sind  dann  aber  auch  alle  jene  neuen 
Wortbildungen  auf  -fer  und  -ger  gemacht,  die  unter  den  SchmuckAA^örtern 
in  dieser  römischen  Poesie  einen  so  breiten  Raum  einnehmen. 

Die  kühnen  Veränderungen,  die  Avir  die  römischen  Dichter  vornehmen 
sahen,  haben  nun  aber  ihr  Vorbild  in  der  homerischen  Sprache  gehabt, 
die  im  Verse  der  Alexandriner,  eines  Kallimachus  und  Apollonius  Rhodius, 
AA^eiterlebte,  und  dies  dürfen  wir  zu  ihrer  Rechtfertigung  nicht  A^ergessen. 
Denn  es  ist  Tatsache,  daß  auch  Homer  und  seine  Nachahmer  sich  ge- 
zAVungen  sahen,  in  vielen  Fällen  AAde  in  den  folgenden,  die  ich  zufälHg 
auslese,  2)  die  natürliche  Kürze  in  Hebung  AAdder  den  Usus  gradeswegs 
zu  längen;  ich  meine  Eigennamen  Avie  ngiajuidrjg  und  ^vXaxiörjg  und 
Wörter  wie  ä&dvaTog,  änoveeo&ai,  äjiodujojuai,  övrajuevoto,  d^vyaregeg,  xvdveog, 
weiter  £«A»/Ao?;j^a,  sogar  ovßooia  mit  gelängter  di-itter  Silbe  Ä  679,  ^  101 ;  Aveiter 
ovrojua  und  die  Präposition  eiv,  die  in  dieser  Schreibung  und  Messung 
statt  iv  immer  nur  in  Hebung  und  immer  vor  Vokal  vorkommt.  3)  Ja, 
auch  das  choriambische  Italiam  und  Siciliam  der  Römer  hat  bei  Kalli- 
machus in  'halb]  und  bei  Theokrit  in  ZixeUöag  seine  Analogie. 
Mimetische  ^{^  Sagten  in  weitester  Fassung,  der  Sprachcharakter  eines  Werkes 

weise  sci  jedesmal  durch  seinen  ZAveck  bedingt.  Für  diesen  Satz  ist  Plato  das 
glänzendste  Beispiel.  Plato  hat  den  gCAvandten  Dialogstil,  den  er  sich 
ausgebildet  hatte,  lange  Zeit  beibehalten  und  durchgeführt.  Aber  er  Avar 
dabei  imstande,  ihn  zugleich  nach  der  Eigenart  des  Sprechers,  den  er 
redend  einfülirt,  zu  A^erändern,  und  persifliert  also  bald  den  Lj^sias,  den 
Prodikos,  bald  die  Gorgianer,  indem  er  ihre  Manier  nachahmt,  oder  er 
bringt  uns  die  Wichtigtuerei  des  Protagoras  zur  Anschauung,  Avenn  er 
diesen  Sophisten  im  gleichnamigen  Dialog  seinen  soziologischen  Vortrag 
halbAvegs  mit  logographisch-naiA^en,  halbwegs  mit  dichterischen  Wendungen 


1)  Man  sieht  also,  was  man  \^on  der 
Vermutung  zu  halten  hat  (A.  Gandiglio 
in  Atene  e  Roma  XIV  S.  346),  bei  Cic. 
de  fin.  IV  72  A^erberge  sich  in  den  Worten 
Aristoteles  reliquique  Piatonis  alumni  ein 
Hexameterrest,  der  \'ielleicht  aus  Lucilius 


stamme.    In  Ciceros  und  des  Lucilius  Zeit 
Avar  relicuus  A^iersilbig. 

2)  Siehe  W.  Schulze,  Quaestiones  epi- 
cae,  Gütersloh  1892. 

3)  Siehe  Schulze  S.  216  f. 


n.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  63 

spicken  läßt,  Protag.  p.  320  ff. ;  naiv  das  sorgliche  Wiederaufnehmen  des- 
selben AVoites,  besonders  stai'k  bei  vejueiv  {jisigäTai  abzog  veijuai,  veijuavrog  . 
d'  sjLiov,  €(pt]  .  .  .  xai  ovtwg  jieioag  ve/biei,  vejuwv  de  xrL);  poetisch  das  yfjg 
h'vÖov,  äXXt]Xoq^&oQu7)v  diacfwydg  enriQxeoe,  Jiobg  rag  ex  Aiog  ojgag  (aus  Odyssee 
24,  344),  imodcüv  rd  juev  önkalg  xä  de  degjiiaoiv,  öhyoyoviav  jigooi]yje,  xXejirei 
{rigojutj&evg)  rrjv  evrexvov  ooq?lav  ovv  Jivgl^)  und  xXetpag  rijv  ejuTivgov  xexvrjv. 
Dazu  gorgianischer  Gleichklang  ixavoXg  juev  .  .  .  dvvaxolg  de  und  xoojuoi 
xe  xai  öeojnoi  Dazu  ferner  das  Metrische,  im  altmodischen  Sinn,  ganze 
Yersausschnitte,  z.  B.: 

Dimeter:         yV^  evSov  ix  yfjg  xai  Jivgög  ... 

veficov  de  xoXg  f/sv  lo/vv 

ävev  rdxovg  jtQoofjjixev  .  .  . 
Trimeter:       sfUj/aväTO  di'va/iuv  eig  ocoTt]gtav 
4  Bakchen:    ejisiöi]  ö'äysiv  avza  Jigog  qjwg  E^Xkov 
Daktylen:       äX/Mg  i^sjioQcCsv  .  .  . 

—  im  Jidvrag,  s'qpT]  6  Zevg, 

xai  Jtdvtsg  fiexexdvccov. 

Endlich  am  Schluß  des  Ganzen  drei  ausgewachsene,  nm-  durch  ein  kleineres 
Kolon  unterbrochene  Glykoneen: 

xai  vofiov  ye  &kg  Jiag'  ijnov 

ZOV  fXT]   övvdfisvov 
aldovg  xai  öixtjg  fiers/etv 
xxeivEiv  ojg  vöoov  jioAecog. 

Das  ist  nicht  Zufall  und  gemahnt  ernstlich  an  den  Stil  Demokrits.*)  Es 
läßt  sich  zwar  nicht  behaupten,  daß  Plato  die  Einzelwendungen,  die  ich 
hel•^^orhob,  getreu  aus  einer  der  Schriften  des  Protagoras,  etwa  der  Uok- 
xela,^)  entnommen  habe,  Avohl  aber,  daß  sich  dieser  Sophist  dort  sehr 
ähnlich   auszudrücken  beliebt  haben  muß. 

Der  Interpret,  der  von  Plato  z.  B.  den  Phaedrus  oder  das  S;^Tnposion 
liest,  hat  darum  überall  auf  das  wechselnde  Kolorit  der  Rede,  auf  ihren 
mimetischen  Zweck  acht  zu  geben.  Schon  liieraus  ergibt  sich  die  Tat- 
sache,   daß   es  dem  Genie  gegeben  ist,  verschiedene  Stilarten  auszuüben. 

Der  Satz  aber,    daß   die  Sprache  von  der  Litteraturgattung  abhängt,     Wech- 
führt    uns   noch   einmal   zu   den   Römern   liinüber.      Denn   ist   nicht   der   art  eines 
Horaz  der  Satiren  nach  Wortschatz  iind  Wurf  der  Rede  ein  total  anderer     Autors 
als   der  Horaz   der  Odenpoesie?     In   beiden  Fällen   redet   gewissermaßen 
die  Litteraturgattung  statt  seiner.     Sie   zwingt   dem  Dichter   die  Sprache 
auf.    Ganz  so  erklärt  siöh  aber  auch  der  Unterschied  des  Tons  in  Catulls 
Werken.     Man  höre  etwa  Worte  aus  seinem  Parzengesang  (64,  323): 
O  decus  eximium  magnis  virtutibus  augens 
Emathiac  tutamen  opis,  clarissime  nato 

und  daneben  seine  Hendecasy Ilaben : 

Pedicabo  ego  vos  et  irrumabo 
Aureli  pathice  et  cinaede  Furi. 

')  ai'v   bei   Plato   nur  30 mal,   fiszd  c.    i  ')  Der  Schrifttitel  des  Protagoras  Ttegl 

gen.  510 mal;  s.  Th.  Lina,  De  praepositio-   |  x^g  iv  dgxfi  xaxaoxdoecog  bei  Diogenes  Laer- 

num  usu  Platonico,  Marburg  1889,  p.  32.    i  tius  ist  vielleicht  im  Hinblick  auf  den  be- 

')  Siehe  P.  Natorp,  Demokrits  Etliika,  ;  sprochenen  Platoabschnitt  zurecht  ge- 
Anhang,                                                               i  macht,  also  unzuverlässig. 


64 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Auch  CatuU  ist  ein  zweispracliiger  Dichter.  ^)  Und  ebenso  steht  es  mit 
Petron  (man  denl^e  anPetrons  Bellimi  civile);  ebenso  vor  allem  mit  Tacitus. 
Wie  viel  DruckerscliAvärze  hat  man  nicht  einst  vergeudet,  um  zu  beweisen, 
der  Dialogus  de  oratoribus  könne  nicht  von  Tacitus  sein;  so  auffällig 
kontrastiert  dieser  wundervoll  breitflüssige  Dialog  in  der  Tat  mit  der 
knappen,  gepreßten  Art  der  Historien  und  Annalen  desselben  Autors. 
Aber  man  hat  vergessen,  daß  die  Gattung  des  Dialogs  bei  den  Römern 
damals  eben  ihre  traditionelle  Sprache  besaß,  dies  war  ausschließlich  die 
ciceronische,  so  noch  bei  Minucius  Felix,  und  daß  ebenso  damals  für  die 
Büstorien  als  maßgebend  die  Sallustische  Form  galt,  wie  Martial  14,  191 
bezeugt.  Tacitus  war  unfrei  in  beiden  Fällen;  er  gehorchte  nur  der 
Tradition  und  dem  Zeitgeschmack,  wenn  er  im  Dienst  des  einen  Zwecks 
Ciceronianer,  im  Dienst  des  anderen  Sallustianer  war. 

7.  Individuelles. 

Gruppen  Wir  haben  den  Ausspruch  gCAvagt,  daß  in  manchen  Fällen  gewisser- 

f^^^'  maßen  die  Dichtungsgattung  statt  des  Dichters  die  Sprache  erzeugt.  Und 
Autoren  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  es  Gruppen  von  gleichartigen  Autoren 
gibt,  die  man  als  eine  Litteraturmasse  zusammenfassen  kann.  Dies  gilt 
z.  B.  von  den  Resten  der  mittleren  und  neueren  griechischen  Komödie 
(Amphis,  Eubulos;  Posidipp,  Philippides,  Euphron),  dies  gilt  von  den  Pal- 
liaten  des  Naevius  und  Plautus;  sodann  von  den  sogenannten  novi  poetae 
E/Oms,  Calvus,  Cinna,  zu  denen  Catull  gehörte.  Denn  wenn  wir  z.  B.  die 
Fragmente  des  Calvus  einsehen,  merken  wir,  daß,  was  uns  bei  Catull  als 
hochoriginell  erschien,  in  vielen  Punkten  doch  diesen  jungen  Größen 
gemeinsam  war.  Auch  von  den  alten  jonischen  Logographen,  auch  von 
den  alten  griecliischen  Elegikern  kann  man  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
dasselbe  sagen,  resp.  vermuten.  Wenn  Stücke  des  Selon,  des  Mimnermus 
eingeschaltet  im  Theognis  stehen,  so  werden  die  wenigsten  Kenner  einen 
erheblichen  Stilunterscliied  wahrnehmen,  und  der  Hersteller  der  Theognis- 
sammlung  nahm  ihn  sicher  nicht  wahr.  AVeiter  die  zahllosen  Epi- 
grammendichter, die  in  der  Palatinischen  Anthologie  vor  uns  stehn  und 
ihr  Eigentum  mischen:  eine  mühsame  und  liebevolle  Obsorvation  gehört 
dazu,  um  aus  dieser  Schar  einzelne  Individualitäten  wie  Mnesalkas  von 
Sikyon,  Leonidas  von  Tarent,  Asklepiades  von  Samos,  Antipater  von  Sidon 
herauszuheben. 

In  solchen  Fällen  kann  also  der  Interpret,  wo  sprachliche  Schwierig- 
keiten vorUegen,  den  einen  Vertreter  der  Gruppe  nach  dem  anderen  be- 
urteilen und  sagen:  dies  und  das  ist  Sprachgebrauch  der  Komödie  oder 
des  Epos  oder  der  Elegie,  wonach  wir  unsere  Imtische  Entscheidung  zu 
treffen  haben. 

Doch  es  gibt  überragende  Größen,  die  vielmehr  für  sich  stehn  und 
die  —  wie  Homer  (oben  S.  52)  —  womögHch  nur  aus  sich  selbst  zu  er- 
klären sind.  Es  sind  die  Männer,  die  die  griechische  Sprache  ganz  neu 
geprägt  haben :  Herodot  und  Thukydides,  jeder  in  seiner  Art  ohne  seines- 
gleichen.     Ebenso    Plato,    Xenophon,    deren    Gegensatz    sich    später    im 

1)  Vgl.  Süss,  Oatulliana,  Erlangen  1876. 


Individuali- 
täten 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  65 

Plutarch  vmd  Arrian  wiederholt,  u.  s.  f.  Mögen  liinter  Thukydides,  hinter 
Antiphon  iind  L^^sias  Theoretiker  der  Rhetorik  wie  Gorgias  und  Thrasy- 
machus  stehen,  mag  Cicero  von  der  rhodischen  Rednerschule  gelernt 
haben  —  Aver  wird  bestreiten,  daß  hier  in  sich  geschlossene,  überragende 
stilistische  Individualitäten  vor  uns  stehen,  die  es  wagen,  Wörter  und 
Wortverbindungen  so  zu  wählen,  daß  alles  ganz  neu  und  alles  ganz 
eigen  scheint?  Und  was  ist  großartiger  als  die  Idealschöpfung  der 
äschyleischen  Sprache?  was  interessanter  als  die  klug  .berechnete  Natür- 
lichkeit des  Ausdrucks,  mit  der  die  räsonnierende  Tragödie  des  Euripides 
den  Aeschylus  überwindet? 

Schon  die  Alten  selbst  haben  diese  großen  Individualitäten  erkannt, 
jeden  füi*  sich  genommen  imd  in  kurzen  Foraieln  zu  charakterisieren 
versucht ;  dies  sehen  wir  bei  Dionys  von  Halicarnaß  De  vett.  Script,  cen- 
sura  und  QuintiKan  X  1.  Danach  zeiclinet  Aeschylus  Avie  Pindar  die 
fieyaXoTTQijieia,  der  Prunk  der  Rede,  aus;  Aeschylus  ist  ferner  7ioir]Ti]g 
idiojv  örojndjMv,  Euripides  dagegen  ovte  vipr]l6g  ome  jur]v  liTog.  Von  den 
Historikern  aber  heißt  es  z.  B.:  ev  juevroi  xoig  fj^ixoTg  Tigazei  "Hgodoiog,  ev 
de  Tolg  jia^rjTixolg  6  Oovxvöiöijg,  Thukydides  hat  die  gayjurj  und  den  rovog, 
das  yla)oo)]jnarixdv  xal  jzeQieQyov,  Herodot  die  ;ca^<?,  die  jiei&oj  und  das 
ungezAAungen  Natürliche,  amocpveg  äßaodviorov. 

Für  Livius,  den  Historiker,  sind  in  einer  Reihe  tüchtiger  Arbeiten 
die  Merkmale  seiner  lierA^orragenden  schriftstellerischen  Eigenart  ge- 
sammelt Avorden.i)  LiAdus  vermochte,  obwohl  Ciceros  Verehrer,  doch 
das  Latein  Avesentlich  neu  zu  gestalten;  es  geschah  vielfach  nach  grie- 
chischem Vorbild  (Gräcismus):  so  substantiviert  er  die  Adjektiva,  als 
hätten  AA^ir  den  griechischen  Artikel  hinzuzudenken:  Romana  „die  Rö- 
merin", medium  diei  aa^c  t6  jueoov.  Der  Grieche  konnte  verbinden  ?/  ^^ 
Boiioriag  eig  Maxsöoviav  ööög,  so  nun  auch  Livius:  iter  ex  Boeotia  in 
Macedoniam;  er  begünstigte  alii  f.  ceteri,  Yg\.  ol  äUoi.  Übrigens  aber 
borgt  Livius  auch  gern  von  den  Dichtern;  vergilisch  ist  das  fragende 
en  umquam  bei  ihm  (z.B.  IV  3,  10);  das  ^tc.  perosus  in  aktivischer  Funk- 
tion (III  34,  8);  horret  animus  mit  folgendem  InfinitiA^  (26,  24,  8);  super- 
vacuus  statt  supervacaneus  u.  s.  f.  Zur  Semasiologie  gehört  das  adorare 
in  der  Bedeutung  „verehren",  das  von  Vergil  aufgebracht,  von  Livius  über- 
nommen Avurde;  zum  Phraseologischen  z.  B.  das  fit  via  vi  LiA^IV38,  4; 
das  inter  spem  metnmque,  das  zuerst  bei  Liv.  VIII 13,  17  und  Verg.  Aen. 
I  218  steht,  hernach  bei  Tacitus,  u.  s.  f. 

Doch  genug.  Das  Gesagte  zeigt  hinlänglich,  daß  es  berechtigt  AA^ar,  Speziai- 
Avenn  wir  im  Voraufgehenden  erschöpfende  Speziallexika  für  sämtKche 
Autoren  als  Idealforderung  hinstellten.  Auch  entsprechen  dieser  Forderung 
schon  eine  Reihe  schöner  Arbeiten  Avie  Bonitz'  musterhafter  Aristoteles- 
index, sodann  aber  das  Lexikon  zu  Homer  ed.  Ebeling,  die  Lexika  zu 
Ciceros   Reden   und   zu  Ciceros   philosophischen   Schriften   von   Merguet, 


lexika 


^)  VgL.L.  Kühnast,  Die  Hauptpunkte  gebrauch  des  L.,  Leipz.  1894;  S.  G.  Stacey, 

der  Livianischen  Syntax«,   Berl.  1872;   O.  Archiv.  Lex.  X  S.  17ff.;  nUi  --^  ccterl  übri- 

RiEMANN,  Etudes  sur  la  langue  de  T.  L.',  gens  gel.  schon  die  Komiker;  vgl.V.VAC- 

Paris   1884;    A.  M.  A.  Schmidt,    Sprach-  |   caro,  ahi  =  ceteri,  Palermo  1889. 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  5 


ßß  Kritik  und  Hermeneutik. 

das  zu  Tacitus  von  Gerber  und  Greef,  Joh.  Rumpels  Lexika  zu  Pindar 
und  zu  Tlieokrit,  und  manches  Weitere.  Dringendstes  Bedüi'fnis  ist  das 
Gleiche  für  Plato,  für  Ovid  sowie  für  Plautus;  aber  auch  für  diese  Desi- 
derien  naht  langsam  die  Erfüllung,  i)  Dazu  kommen  dann  solche  Werke 
wie  Eiemanns  Etudes  sur  la  langue  de  Tite  Live,  2)  Drägers  Tacitus- 
syntax;  Constans,  De  sermone  Sallustiano,  besser  S.  L.  Fighiera,  La 
lingua  e  la  grammatica  di  C.  Sallustio  Crispo  u.  a.  m.  Yor  allem  ist  hier 
noch  rühmend  Willi.  Schmid,  Der  Atticismus  (Stuttgart  1887 — 96)  zu 
nennen,  ein  Werk,  das  zur  Charakteristik  Dio's,  Lucians,  der  Philostrate 
und  anderer  glänzender  Autoren  der  Kaiserzeit  Grundlegendes  bringt.. 
Füi*  das  Neue  Testament  haben  wir  Winer-Schmiedel,  Grammatik  des 
neutestamentlichen  Sprachidioms;  F.  Blaß,  Grammatik  des  neutestament- 
lichen  Griechisch ;  L.  Rademacher,  Neutestamentliche  Grammatik,  und  eine 
Fülle  anregender  Untersuchungen.^)  Aber  es  gibt  noch  lange  nicht  genug 
derartiger  zusammenfassender  Werke.  Wer  bringt  uns  eine  Syntax  des 
älteren  Plinius?  des  Seneca? 

Daß  solche  Studien   und  Thesauren   auch  den  Zwecken  der  höheren 

Kritik  und  Hermeneutik  dienen,   wird    sich   später  zeigen.     Hier  sei  nur 

noch  betont,    daß  uns  die  Beobachtung  des  Sprachgebrauches  gegebenen 

Beachtung  Falles    die   Pflicht   der   Emendation   auferlegt;    so    setzt   Plautus  z.  B.  zu 

Gebrauchs  slmiUs  HUT  den  Genetiv,  und  darum  stellte  Ritschi  Plaut.  Men.  1089  neqiie 

bei  der    lactcst  lacü,  cvede  mihi,  usqiiam  mnilius  statt  des  Dativs  mit  Recht  ladis 

Textkritik 

her;  daß  es  aber  vor  allem  verfehlt  ist,  in  einen  Autor  durch  Konjektur 
Wörter  aufzunehmen,  die  nachweislich  seinem  Sprachschatz  fremd,  die  er 
also  entweder  nicht  kannte  oder  die  er  verschmäht  hat.  Usener  Avollte 
einst  bei  Horaz  Ars  poet.  253: 

Syllaba  longa  brevi  subiecta  vocatur  iambus, 
pes  citus:  unde  etiam  trimetris  adcrescere  iussit 
nomen  iambeis  .  .  . 
momen  statt  nomen  einsetzen.     Aber  Horaz   kennt  das  Lukrezische  Wort 
momen  nicht  mehr,-^)  und  das  ÜberHeferte,  so  schwierig  es  aussieht,  muß 
■  und  kann  hinlänglich  erklärt  werden :  weil  der  Iambus  der  schnelle  Fuß 
ist,    „deshalb   hat   er   auch   gewollt    {iussit),    daß    den    jambischen    Zeilen 
{iambeis)   der  Name  Trimeter   anwachse"  {trimetris  durch  Attraktion   statt 
trimetroriim),    durch  -welchen    Namen    nämlich    zum    Ausdruck    gebracht 
wird,    daß    die    sechs  Füße  des  Verses  nm-  drei  Takte  sind  mit  nur  drei 
Haupthebungen:  also  ein  Schnellvers,  ein  Vers  des  jjes  citus.  In  anderer 
Fassung:  pes  iambicus,   quia   citus  est,  propterea  iambeis   accrescere  iussit 
nomen  trimetrorum,  quo  scilicet  nomine  exprimitur  senarium  tarn  citum  esse 
versum  ut  non  nisi  tres  in  elationibus  ictus  habeat. 
Bei  Lukrez  steht  V  1112: 

nam  facies  multum  valuit  viresque  vigebant. 

')  Vgl.G.LoDGE,LexiconPlautianum,    j   Dazu  nützlich  E.  Mayser,  Grammatik  der 


Auch  -  ein   Vocabularium    iurisprudentiae 
Romanae  hat  zu  erscheinen  begonnen. 

2)  Siehe  oben  S.  65. 

3)  z.  B.  A.  Dbissmann,  Bibelstudien, 
Marburg  1895  und  Neue  Bibelstudien  1897 ; 
„Licht  von  Osten",  Tübingen  1908. 


grie eh.  Papyri  aus  derPtolemäerzeit,  Leipz. 
1906. 

•')  Dem  Terentianus  Maurus  kann  man 
es  eher  zusprechen :  Ries,  De  Terent.  Mauri 
aetate  S.  33. 


1 


IL  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  67 

Daß  Lachmann  hier  statt  vigebant^  das  schon  im  Vers  1107  sich  findet, 
vigorque  schrieb,  bleibt  bedenklich,  da  das  Wort  vigor  im  Latein  erst  bei 
Vergil  und  Livius  auftaucht.  Besser  Faber  vigentes.  In  Plautus'  Mil. 
glor.  8  heißt  es  vom  Schwert,  mit  Korruptel: 

quae  misere  gcstit*  f  rat  rem  facere  ex  hostibus. 
Es  ist  wiederum  verfehlt,  wenn  hier  die  Editoren  stragem  einsetzen.  Denn 
strages  ist  kein  plautinisches  Wort  und  dem  Altlatein  fremd.  Wahrschein- 
licher ist  fartim  (oder  farfitm)  zu  lesen,  i)  Mit  gleichem  Unrecht  duldet 
man  bei  Aristophanes  Acham.  3  jenes  ipaiijmaxooioydQyaQa,  wo,  wie  man 
sieht,  mit  i^'ajujuaxöoio-  ein  Zahlwort  imitiert  wird.  Aristophanes  (und 
die  Komödie)  kennt  jedoch  Kardinalzahlen  als  ersten  Bestandteil  von 
Komposita  gar  nicht,  und  nach  deutlichen  Spuren  der  Überlieferung 
selbst  ist  A^ielmehr  ym/ijnax6oia  ydgyaQa  getrennt  zu  drucken.  Ebendort 
im  Vers  4  wird  gefragt:  (peg'  l'da)  ri  Ö'  fjo&rjv;  Hier  gibt  das  winzige  (5' 
Anstoß,  das  bei  Aristophanes  auf  ein  (peg'  idco  sonst  nie  folgt,  also  zu 
tilgen  ist.  Wir  müssen  uns  darum  wohl  entschließen,  drj  zu  lesen,  das 
lüer  Synaloephe  resp.  Krasis  erfuhr,  eine  nicht  unzulässige  Annahme.  2) 
Mit  Unrecht  wird  dagegen  Acharn.  197  em  ^=  ejieoTi  vermutet.  Ein  solches 
em  ist  nur  homerisch.  3) 

Besonders  grausam  ist  die  neuere  Kritik  mit  dem  spätgriechischen  Musaeu» 
Dichter  M US aeus  und  seiner  schönen  Erzählung  vonHero  und  Leander  um- 
gegangen. Seitdem  feststeht,  daß  dieser  Musaeus  nicht  nur  im  Metrischen 
Nonnianer  ist,  sondern  auch  phraseologisch  aus  Nonnos  sehr  vieles  her- 
übemahm,  kapriziert  man  sich  darauf,  überall,  avo  er  einmal  von  seinem 
Vorbild  sich  abzuweichen  erlaubt,  den  Text  zu  ändern  und  eine  direkt 
aus  Nonnos  bezogene  Wendung  einzuflicken,  als  ob  Nonnos  gradezu  der 
Verfasser  des  Gedichtes  Aväre  oder  zwei  Dichter  gradezu  als  identische 
Personen  behandelt  werden  düi-ften.  Schon  Dilthey,  besonders  aber 
L.  Schwabe  hat  dies  schematische  Verfahren  übertrieben.  Wir  brauchen 
eine  Neuausgabe*)  und  einen  gereinigten  echten  Musaeustext,  der  getreuer 
den  Zeugnissen  der  Handschriften  folgt.  Im  Vers  18  heißt  es  z.  B. 
von  Eros: 

eva  ^vvETjxsv  oiorov 
t]i&eov  (pks^ag  xal  Jiaodevcn', 

wo  ^vverjxev  „nicht  nonnisch",  ja,  ein  ganz  neugeprägtes  Wort  ist.  Musaeus 
hat,  weil  er  dessen  bedurfte,  sich  gestattet,  dies  Wort  im  Sinne  von 
„simul  misit"  neu  zu  prägen ;  d.  h.  Eros  schickte  „gleichzeitig"  den  einen 
Pfeil  gegen  Hero  und  gegen  Leander;  wobei  das  ^vv  die  Gleichzeitig- 
keit ganz  ebenso  ausdrückt,  wie  wir  im  Vers  14  desselben  Gedichtes 
lesen:  fjLiav  ovvdeiöe  teXevxiqv.  Auch  hier  drückt  das  ovv  das  Gleichzeitige 
aus:  besinge  zugleich  den  einen  Tod  von  zweien.  Daher  ist  im  Vers  17 
für  das  koirupte  ävä  xo^a  rnaivMv  auch,  wie  ich  nicht  zweifle,  äjua  rdl« 
Tiraivojv  herzustellen.    Femer  ist  dem  Musaeus  zu  belassen  Vers  145  ÖQxia 


*)  Siehe  Rhein.  Mus.  Bd.  52  Supplem.  '^)  Siehe  H.  Weber,    Aristophanische 

S.  184.     Dies    war    auch    Lambins    Vor-       Studien  1908  S.  5  f. 
schJag,  der  auf  des  Turnebus  Hs.  zuriTck-  ^)  ibid.  S.  59. 

gehen  könnte.  j  *)  Ludwich   hat  sie  uns  versprochen. 

5* 


ßg  Kritik  und  Hermeneutik. 

mard,  193  und  315  rjxVf  l'^ß  ot  juoi,  101  sWu^ev  öjicojidg,  so  im  Aorist, 
weil  nämlich  im  Yers  105  äjiexgvipev  ömojtrjv  entspricht,  u.  a.  m.  Alles 
das  ist  „nicht  nonnisch",  aber  es  schützt  sich  gegenseitig.  So  gehört 
auch  das  (pdro  juv^ov  Yers  73  dem  Musaeus,  aber  es  ist  dem  Nonnos 
fremd;  ebenso  Yers  11  ovvegn^og,  14  all'  äye,  21  jiroUedgov,  22  jieQixal- 
Xeeg,  26  ährjxV'^^  27  elohi  Jiov,  30  dioTQe(peg  aljua,  70  öjuodejuviog.  Wenn 
man  in  all  diesen  Fällen  nichts  ändert,  Avarum  in  den  vorherigen?  Ja, 
auch  metrisch  geht  Musaeus  gelegentlich  seinen  eigenen  Weg;  er  duldet 
den  Hiat  im  Yers  38  und  schreibt  Yers  41  dAA'  ovo'  Sg,  dazu  ro  tiqwxov 
Yers  243  u.  a.  Der  Philologe  soll  die  Autoren  nicht  gleichmachen,  son- 
dern unterscheiden  lernen, 
vergii  Eine  besondere  Bewandtnis  hat  es  mit  dem  Text  desYergil.   Er  ist 

durch  alte  Membranen  und  durch  Grammatikerzeugnisse  so  sicher  gestellt, 
daß  man  sich  zehnmal  besinnen  muß,  bevor  man  etAvas  an  ihm  ändert. 
Hier  seien  ein  paar  Stellen  aus  diesem  Dichter  kurz  vorgeführt,  an  denen 
mit  Unrecht  die  handschriftliche  Überlieferung  A^on  unseren  Editoren 
preisgegeben  Avird,  Aveil  sie  das  Sprachliche  meines  Erachtens  nicht  richtig 
aufgefaßt  haben.     Aen.  I  667  f.  sagt  Yenus  zu  Amor: 

frater  ut  Aeneas  pelago  tuus  omnia  circum 
litora  iacteturque  odiis  Iiinonis  acerbae, 
nota  tibi. 

Man  tilgt  das  que,  das  A^on  allen  alten  Hss.,  auch  A^on  Nonius,  auch  von 
SerAius  bezeugt  Avird.  SerA^ius  bemerkte  kritisch:  vacat  que,  d.  h.  das 
que  ist  hier  überflüssig.  Aber  es  stand  auch  für  ihn  da,  und  es  ist  auch 
selbstverständlich  richtig.  Es  ist  nur  ein  nicht  ganz  ungeAvöhnliches  Hyper- 
baton eingetreten.  Aeneas  Avird  vom  Meer,  pelago,  „und"  A^om  Haß  der 
Juno  umgetrieben:  pelago  iactatur  odiisque  lunonis.  Wer  für  diese  Inversion 
des  que  Beispiele  braucht,  findet  sie  bei  E.  Herr,  De  Aetnae  carm.  sermone 
S.  8  ff.,  z.  B.  Horaz  Sat.  II  3,  157  furtis  pereamque  rapinis  statt  furtis  rapi- 
nisqiie  peream.     So  auch  hier:  pelago  iacteturque  odiis. 

Anders    luid    scliAV'ieriger    steht    es    mit   dem   gleichfalls    sicher   be- 
zeugten  que  bei  Yergil,   Aen.  6,  254,    das   zu   gcAvaltsameren   Eingriffen 

den  Anlaß  gab: 

tum  Stj^gio  regi  nocturnas  incohat  aras 
et  solida  imponit  taurorum  viscera  flammis 
pingue  superque  oleum  fundens, 

Avo  Wagner  superne  statt  superque,  Ribbeck  gar  eine  Lücke  ansetzte. 
Dagegen  halte  ich  grade  dieses  que  für  besonders  AvertA^oU.  Es  steht  hier 
einer  der  seltenen  Belege  vor  uns  für  den  Gebrauch  des  que,  den  AA^ir 
aus  hodieque  kennen;  que  steht  einfach  für  quoque.  So  schon  meque  für 
me  quoque  bei  Catull  102,  3;  minder  sicher  das  vosque  Catull  31,  13;  aber 
auch,  Avas  Avir  in  der  Maecenaselegie  I  8  antreffen: 

non  oblita  tarnen  sed  repetitque  senes, 
erklärt  sich  nur  so.   Auch  hier  ist  que  =  quoque,  Avie  Middendorf  erkannte,  i) 


')   Julius  Middendorf,   Elegiae    in    1    abundierendes  qiie  auch  Skutsch,  Glotta 
Maecenatem,  Marburg  1912,  S.24f.  Ueber    I    III  S.  352. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  69 

Viel  zwingender  scheint  bei  Yergil  Aen.  12,  541: 
nee  misero  clipei  mora  profuit  aeris 
die  Änderung  aerei  für  aens\  man  vergleiche  z.  B.  Aen.  7,  609.  Aber  es 
mnß  doch  auffallen,  daß  Silius  Italicus  5,  319  mit  aerisque  moras  die  voi^ 
liegende  Yergilstelle  nachahmt.  Auch  mißfiele  in  clipei  aerei  die  gleiche 
Tennination  in  beiden  Worten.  Wir  dürfen  also  vielleicht  aeris  als  Appo- 
sition zu  clipei  fassen;  vgl.  Aen.  5,  359  clipenm  Didymaonis  artes.  Denn 
nes  ist  y,Schutzwaffe" ;  vgl.  das  aes  triplex  des  Horaz  u.  a.  Und  wieder 
geben  die  Maecenaselegien  eine  treffende  Analogie,  die  I  37  in  den  Worten 

marmora  Maeonii  vincent  monumenta  libelli, 
marmora   statt    marmorea   als   Apposition    zu    monumenta  bieten;    weitere 
Analogien  sind  von  Middendorf  zusammengestellt,  i) 

8.  Metrisch-Prosodisches;  Rhythmik  der  Prosarede. 

Wer  Dichter  interpretieren  wdll,  muß  auch  die  Verstechnik,  deren  sie 
sich  bedienen,  beurteilen  können,  und  er  ist  auf  das  Studium  der  Metrik 
zu  verweisen.  An  dieser  Stelle  muß  ich  mich  begnügen,  ein  paar  Hin- 
weise zu  geben. 

Wer  sich  mit  den  Resten  der  Epen  des  Livius  Andronicus  und  des  Dreisciiritt 
Naevius    befaßt,    muß    den    alten    Bauern vers    der    Römer,    den    ver'sus  satumier 
Saturnius,  skandieren  können,  für  den  man  als  Mustervers: 

Malüm  dabunt  Metelli  |  Naevio  poetae 
anzuführen  pflegt.  Der  Vers  hat  sechs  Hebungen,  wie  der  Hexameter;  ist 
auch  keine  metrische  Einheit,  sondern  zerfällt  in  zwei  Kola.  Es  gilt  dabei 
von  der  Theorie,  Avonach  der  Saturnier  aus  einem  prähistorischen  Acht- 
lieber herv^orgegangen  sein  soll,  gründlich  abzusehen.  Denn  Avir  wissen, 
daß  die  römischen  Ackerbrüder  ihn  im  Dreischritt  stampften,  tripoda- 
vernnt;  die  Dreihebigkeit  jedes  Kolons  gehört  also  zum  Wesen  des  Verses. '^) 

Ebenso  steht  es  nun  aber  auch  mit  den  Galliamben,  deren  Schema  Dreischritt 

der  Vers  gibt:  Gaiii^bus 

Super  alta  vectus  Attis  i  celeri  rate  maria. 

Auch  dies  ist  ein  Stiches  zu  zwei  Kola,  welche  Kola  man  als  jonische 
Dimeter  betrachtet,  da  das  vorliegende  Schema  des  ersten  der  beiden 
Kola  1.  ^^--^-.^-^  auf  die  Grundform  2.  ^^-^  —  -^^--,  die 
dasselbe  Quantum  von  Silben  in  anderer  Gruppierung  enthält,  zurück- 
geführt wird.  Trotzdem  steht  fest,  daß  auch  dies  Kolon  im  Dreischritt 
getanzt  Avm-de ;  denn  der  Attis  des  Catull  63,  26  redet  ausdrücldich  von  den 
tripudia,  die  er  ausführt.  Der  Tänzer  hat  hier  also  nicht  etwa  einen  zweimal  , 
sechszeitigen  Zweitakt  oder  jonischen  Dimeter,  d.  h.  zwei  jonische  Metra 
lierausgehört,  sondern  die  Form  1  war  die  herrschende  Form  und  die 
Form  2  nur  eine  gelegentliche  anaklastische  Umbildung,  bei  der  sich 
gleichwohl,  wie  wir  das  von  unserem  Walzer  wissen,  der  Dreischritt  bei- 
behalten ließ.  Es  ist  also,  wie  dies  Catullzeugnis  ergibt,  verkehrt,  d.  h. 
eine  Umkehrung  des  Tatsächlichen,  wenn  man  mit  den  Metrikern  des 
Altertums  die  Galliamben  aus  dem  jonischen  Fuß  ^  ^  -  -  ableitet.    Man 

')  a.  a.  O.  S.  38.  I  nio,  Marburg  1909,  S.  55  f. 

2)  Vgl.  H.  Bergfeld,  De  versu  Satur- 


70  Kritik  und  Hermeneutik. 

Jonicus  tanze  einmal  zwei  Joniker  als  Tripudimn  und  sehe,  was  dabei  heraus- 
sekundar  j^^j^-^j^^^^  j^qj.  qy^j^q  Halbvers  War  in  Praxi  vielmehr  ein  katalektischer 
jambischer  Dimeter,  dreihebig  und  mit  obligatem  Pyrrhichius  im  Auftakt, 
Avelcher  Dimeter  nur  gelegentlich  in  reizvoller  Weise  in  den  „jonischen" 
Dimeter  mnschlug.  Zu  Recht  besteht  also,  wie  Catull  bezeugt,  die  Be- 
zeiclinung  gallischer  Jamben,  GaUiamhi,  die  die  jambische  Skansion  durch- 
aus voraussetzt  und  die  schon  Martial  2,  86,  5  kennt  (vgl.  Quintilian  9,  4,  6). 
Ebenso  ist  dann  aber  auch  der  Sotadeus  ein  trochäischer  Vers.    Der 

r  jonische  Fuß  ist  überall,  wo  er  nicht  in  Systemen  auftritt,  das  Sekun- 

däre, nicht  das  Primäre.  Er  ist  ein  Popanz,  der  uns  foppt;  man  hat  diesen 
Versfuß,  und  zAvar  schon  früh,  auch  dem  Glykoneus,  auch  den  Daktylo- 
Epitriten  zugrunde  gelegt.    Aber  nirgends  ist  das  Silbenschema  -.  -  _  _ 

oder ^  ^   in   obligater  Wiederholung,  d.  h.  so,  daß  es  den  Silbenfall 

des  Verses  bestimmend  beeinflußt,  vorhanden.  Auch  der  erste  Urglykoneus 
hat  ihn  so  nicht  gezeigt.  Der  Gh'koneus  ist  also  von  den  Dichtern  keines- 
wegs aus  dem  Jonikus,  sondern  der  Jonikus  ist  nachträglich  von  den  Theo- 
retikern aus  dem  Gl3'koneus  und  auch  noch  aus  anderen  Taktreihen  ab- 
geleitet worden:  eine  Theorie,  die  uns  nicht  ernstlicher  beschäftigen  sollte, 
weil  sie  in  Wirklichkeit  nichts  erklärt. 
Satumier  Der  Satur nie r  aber  Avar  bcsondcrs  vielgestaltig,  ein  Poly Schematismus, 

der  ein  einheitlich  herrschendes  Gesetz  schwer  erkennen  läßt.  Besonders 
bemerkensAvert  und  lehn^eich  ist,  daß  der  Vers  auch  kurze  Schlußsilben 
in  Hebung  zuläßt,  Avie  z.  B.: 

honos  famfi  A'irtüsque  glöria  atque  ingenium. 

Hexameter,  Wer  sodauu  einen  Hexameter  AA'ie: 

Mfjvir  aeiös  'dga  IlijXtjiddsoj  'A/jÄtjog 

liest,  AAdrd  sich  darüber  unterrichten,  AAde  der  Hiat  zwischen  den  ZAvei 
letzten  Wörtern  sich  erklärt,  der  oftmals  durch  den  Verlust  eines  an- 
lautenden HalbA'okals  (Digamma)  entstand,  oft  aber  auch  eben  nichts 
weiter  als  Licenz  ist,  A^ergleichbar  der  Langmessung  kurzer  Silben  in 
Hebung:  das  Hinzutreten  einer  leeren  Mora.  Grade  vor  Eigennamen i) 
und  nach  der  Hebung  (aa^c  hier  vor  ^A/jlrjog)  AA^ar  solcher  Hiat  beliebt. 
Doch  gibt  uns  Homer  auch  al  de  xe  ey§a,  i^ojov  fjiev  oe  e'ksmov,  d.  h.  Hiat 
in  der  Senkung  und  A^or  der  Hebung.  Verlorenes  Digamma  aber  deckte 
bei  Homer  nicht  nur  den  offenen  Zusammenstoß  der  Vokale,  sondern 
machte  auch  Position"  daher  nicht  nur  £  106  rcbv  ävögcov  o'i  äojv,  wo 
äoTv  =  FdoTv,  sondern  auch  W  298  [jLeya  ydg  oi  eöcoxev,  aa'^o  ol  =  Foi.'^) 
Cäsuren  Es  gilt  jcdocli  im  liomerisclien  Vorsc  auch  auf  die  Cäsur  zu  achten, 

durch  die  er,  aa^c  der  Saturnius,  in  zwei  Kola  zerlegt  AA'ird.  Denn  auch 
der  Hexameter  ist  kein  Kolon,  sondern  ein  orixog,  d.  h.  eine  zAA'eigiiedrige 
Periode.  Tatsächlich  zerfällt  er  ganz  vorAAdegend  in  ZAA^ei  Kola,  und  die 
Cäsur  im  dritten  Fuß  ist  daher  unerläßlich.  Nur  zur  Beseitigung  der 
Monotonie  AA'erden  solche  scheinbar  dreigliedrige  Verse  wie: 

ovx  äyadov  :i:olvxoioa  virj,  slg  xoioavog  sorco 

1)  Siehe  Der  Hiat  beiPlautus  S.  328  ff.    :    tel,  Homerisclie  Studien  (Ber.  der  Wiener 

2)  Genaueres  gibt  u.  a.  C.  J.  A.  Hoff-   j    Akad.Bd.76u.78).  üebersichtlich  Kühner- 
mann, Quaestiones  Homericae ;  bes.  Har-       Blass,  Ausfuhr!,  Grammatik  I  S.  190  ff. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  71 

eingestreut,  in  welchen  im  Stil  der  älteren  Verskunst  die  beiden  Kola 
durch  Synapliie,  die  ja  auch  bei  andern  Fußgeschlechtem  zulässig  war, 
verbunden  sind.  Daneben  steht  eine  Zerlegung  des  Hexameters  in  Tetra- 
])odie  und  Dipodie  mit  Hilfe  der  sog.  bukolischen  Cäsur.  Doch  gibt  in 
diesem  Falle  die  Tetrapodie  den  obligaten  und  also  wesentlichen  Ein- 
schnitt im  dritten  Fuß  nicht  auf. 

Während  der  lateinische  Hexameter  aus  Gründen  der  Woi*tbetonungi) 
die  sog.  männlichen  Einschnitte,  also  die  Penthemimeres  im  dritten  Fuß 
durchaus  bevorzugt,  wie  nach  Arma  virumque  cano,  ist  dagegen  im  Grie- 
chischen vielmehr  der  Einschnitt  „nach  dem  dritten  Trochäus",  der  hinter 
(h'dga  jnoi  ewene  Movoa  einschneidet,  der  eigentlich  naturgemäße,  und  nur 
aus  dem  Triebe  nach  Abwechselung  wurde  er  oft  um  eine  More  ver- 
schoben, Avie  auch  die  erste  Hälfte  des  versus  Satumius  bald  mit  der 
Senkung,  wie  in  consöl  censör  aidilis^  bald  mit  der  Hebung,  wie  in  hec 
cepit  C6rsicd{fn),  endet.  Daher  also  auch  jenes  Kolon  jnfjviv  äeide  §ed  neben 
dem  volleren  eVi!^'  äXkoi  juev  ndvxeg. 

Auch  auf  die  Gesetze  der  Wortstellung  im  epischen  Yers  gilt  es  acht  Gram- 
zu  geben,  die  besonders  das  Substantiv  mit  seinem  Epitheton  anbetreffen.  Reim 
Ich  denke  an  Fälle  wie  Odyssee  a  207: 

ei  Si]  i§  avxoTo  zooog  Jidig  elg  'Odvofjog. 

Hier  sehen  wir  Substantiv  und  Epitheton,  'OSvofjog  und  avxoio,  auf  die 
beiden  Stellen,  die  die  Kola  abschließen,  verteilt,  wofür  mir  der  Ausdruck 
„grammatischer  Reim"  geeig-net  scheint.  Homer  hat  diesen  grammatischen 
Reim  noch  selten,  häufiger  wird  er  schon  bei  Callimachus  und  Theokrit, 
ganz  obligat  für  die  römischen  Dichter  seit  Catull,  nach  Art  des  Verses: 

Cj'nthia  prima  suis  miserum  me  cepit  ocellis, 
und  herrscht  seitdem  bis  zu  Nonnos'  Zeit  als  ein  charakteristischer  Schmuck 
d-er  epischen  Zeile. 2)  Aber  nicht  nur  als  ein  Schmuck;  es  zeigt  sich 
darin  zugleich,  wie  bewußt  den  Dichtern  die  Gliederung  des  Verses  war, 
dessen  Organismus  in  zwei  ungefähr  gleiche  Teile  zerfiel.  Es  galt,  die 
Teile  des  Hexameters  durch  Klang  und  grammatische  Struktur  sinnfällig 
und  logisch  zusammenzubinden. 

Dies  wird  weiter  durch  die  Analogie  des  Pentameters  bestätigt,  dessen 
beide  Hälften  gleichfalls  und  in  noch  augenfälligerer  Weise  durch  den 
grammatischen  Reim  zusammengehalten  zu  werden  pflegen. 

Daß  die  Cäsur  im  Hexameter  nicht  selten  einen  Hiat  zudeckt  soAvie  otfeno 
Langmessung  geschlossener  kurzer  Silben  in  Hebimg  entschuldigt,  ist  be-  in^Hebung 
kannt  genug  und  braucht  nicht  belegt  zu  werden.  Selten  dagegen  ist 
offene  kurze  Schlußsilbe  imstande,  eine  Hebung  zu  füllen.  Hierfür 
kommen,  wenn  wir  von  der  Kopula  re  und  que  in  Hebung  absehen,  im 
griechischen  Epos  die  Dative  auf  i  wie  mokei  in  Betracht,  deren  gelängtes  i 
doch  nie  in  Senkungen  angetroffen  wird; 3)  dazu  hymn.  Homer.  1,  31 : 

vtjoog  X    AXyiva  vavatx?^m]  z'  Evßota. 

Für  das  Latein  gebe  ich  folgende  Stellensammlung,*)  und  zwar  aus  dem 

')  Vgl.  ad  hexametr.  lat.  S.  7.  |   S.  229  ff. 

2)  a.  a.  O.  S.  50  ff .  *)  Und  zwar  vollständiger  als  in  meinem 

2)  W.  Schulze,    Quaestiones   epicae    [   Catalepton  S.  llOf.  Auch  Lac hmaxn,  Lu- 


72  Kritik  und  Hermeneutik. 

Grunde,  weil  unsere  Editoren  auf  diese  Licenz  immer  noch  zu  wenig 
acht  geben  und  den  Text,  wo  er  völlig  intakt  ist,  abändern;  so  neuer- 
dings auch  Vollmer  in  seiner  Appendix  Yergiliana. 

Ennius  Annal.  147:  Et  densis  aquila  pennis  obnixa  volabat. 

Oarm.  epigraph.  331, 3  ed.  Bücheier  (sortes):  De  incerto  certa  ne  fiant  si  sapis  caveas. 

De  vero  falsa  ne  fiant  iudice  falso. 
Plautusepigramm  b.  Gell.  1,  24:  Scaena  est  deserta,  dein  risus  ludus  iocusque. 
Catalepton  9,  60:  Oynthius  et  Musa,  Bacchus  et  Aglaie. 
Vergil  Aen.  3,  464:  Dona  dehinc  auro  gravia  sectoque  elephanto. 
Vergil  Aen.  12,  648:  Sancta  ad  vos  anima  |  atque  istius  inscia  culpae. 
Properz  2,  13,  25:  Sat  mea  sit  magna  si  tres  sint  pompa  libelli. 
Properz  2,29,39:  Dixit  et  opposita  propellens  savia  nostra.*) 
Properz  4,  5,  64:  Per  tenues  ossa  sunt  numerata  cutes. 
Tibull  1,  7,  61:  Te  canit  agricola  magna  cum  venerit  urbe. 
Ovid  Amor.  3,  7,  55:  Sed  puto  non  blanda,  non  optima  perdidit  in  me. 
Ciris  189:  Credere  quam  tanto  scelere  damnare  puellam.*) 
Maecenaselegie  1,  139:  Nestoris  annosa  vicisses  saecula  si  me. 
Aetna  6:  Seu  tibi  Dodona  potior,  tecumque  faventes. 
Martial  Spect.  28,  10:  Dive,  id  Caesarea  praestitit  unda  tibi. 
Juvenal  10,  54:  Ergo  supervacua  (aut  perniciosa  petuntur).') 
Maximian  1,  95:  Nigra  supercilia,  frons  libera,  lumina  clara. 
(Properz  3,  11,  46:  Iura  dare  statuas  inter  et  arma  Mari.) 

Aus  der  Zeit  Maximians  und  in  der  Anthologia  latina  finden  sich  übrigens 
noch  mehr  Beispiele  der  gleichen  Beschaffenheit. 

Es  betrifft  diese  Dehnung  also  vorzüglich  den  kurzen  a- Vokal,  und 
dieselbe  Licenz  herrschte,  wie  wir  S.  70  sahen,  auch  im  Satumischen  Verse 
(z.  B.  auch  Gnaivöd  patr6  iirognaUis)\  ja,  sie  läßt  sich  ebenso  auch  bei 
Plautus  beobachten,  der  fac^  im  Persa  398  vor  dem  Einschnitt  als  Jambus 
setzt;  vgl.  auch  Asin.  199;  Cure.  602;  Epid.  498;  Men.  921;  Pseud.  563.-*) 
Um  so  sicherer  ist  an  den  mitgeteilten  Schreibungen  festzuhalten. 
Meiische  AVendcu  wir   uns   hiernach   zu   den  Chorgesängen  der  Tragödie  und 

zur  meli sehen  Dichtung  überhaupt.  In  diesen  Gesangsstücken  gilt  es 
nicht  nur  die  rhythmische  Beschaffenheit  der  Kola  selbst  festzustellen, 
ob  wir  synkopierte  Trochäen,  Dochmien  oder  fuxrd,  Glykoneen  oder 
Enoplien  u.  s.  f.  vorfinden,  sondern  auch  ein  Verständnis  dafür  zu  ge- 
winnen, warmn  innerhalb  derselben  Strophe  sich  grade  Dochmien  mit 
Jamben  und  Cretici,  warum  sich  Daktylen  mit  Epitriten  vereinigen,  und 
ähnliches  mehr.  Bei  der  Betrachtung  der  Glykoneen,  der  Hendekasyllaben 
oder  gar  der  Daktylo-Epitriten  erheben  sich  aber  eine  Fülle  von  Kontro- 
versen, die  die  metrische  Theorie  angehen  und  hier  natürlich  keine  irgend- 
wie erschöpfende  Erörterung  finden  können.  Zur  Umgestaltung  und  Be- 
richtigung der  metrischen  Theorie  haben  neuerdings  v.  Wilamowitz,  Leo 
und  0.  Schröder  lebhafte  Anregungen  gegeben.  Vieles  von  den  Auf- 
stellungen und  Grundanschauungen  0.  Schröders,  wie  er  sie  vornehmlich 
in   seinen    „Vorarbeiten   zur   griechischen  Versgeschichte"    dargelegt  hat, 


Metren 


krez  S.  76  und  E.BiCKEL  in  der  „Einleitung  i  ^)  Ciris  57  unsicher. 

in  die  Altertumswissenschaft"  I  S.  242  ist  |  ^)  Dieser  Vers  hat  seine  Analogie  in 

zu  vergleichen.  i  der  zitierten  Vergilstelle  12,  648. 

')  Hier   ist,   wie   man   jetzt   erkennt,  !  *)  Hierüber  H.  Jacobsohn,  Quaestio- 

nostra  zu  halten ;  opposita  geht  auf  Cynthia.  |  nes  Plautinae,  Göttingen  1904. 


IL  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  73 

läßt  sich,  wie  ich  überzeugt  bin,  nicht  aufrecht  erhalten.  Meine  prinzipiell 
abweichende  Auffassung  kann  ich  indes  nicht  hier  begründen  und  be- 
gnüge mich,  einige  Tatsachen  herauszugreifen  und  vorzuführen,  die  zu 
beachten  hat,  wer  Gedichte  auslegt. 

Im  melischen  Gedicht  herrscht  innerhalb  einer  sog.  „Periode"  strenge  synapiüe 
Synaphie,  und  die  Glykoneen  wachsen  wie  in 

EvijTJToi',  ^ive,  zäade  /m- 

Qag  i'xov  za  xodxiaza  yäg  ejiavka  .  .  . 

^afii^ovoa  fiödior'  drj- 

6(bv  xk<^Qcüg  vjto  ßäoaaig 

gelegentlich  ohne  Worttrennung  zusammen.  Die  äolische  Lyrik  ist  darin 
nicht  so  streng,  insbesondere  folgen  die  Hendekasyllabi  in  der  sapphischen 
und  alcäischen  Stroplie  nicht  diesem  Gesetz,  sondern  lassen  am  Zeilen- 
schluß Hiat  und  sj'llaba  anceps  zu.  Dies  erklärt  sich  z.  T.  daraus,  daß  sie 
nicht  Kolon,  sondern  Stichos  sind,  d.  h.  jeder  alcäische  Hendekasy Ilabus 
besteht  aus  zwei  Kola,  die  häufig  sogar  durch  Cäsur  v^oneinander  getrennt 
sind;  doch  ist  dies  letztere  niclit  notwendig.  Es  ist  eine  elementare  Er-  Alcäische 
kenntnis,  die  aber  mancher,  wie  ich  bemerke,  sich  nicht  l;)eAvußt  hält,  daß  ^^^^  ^^ 
die  alcäische  Strophe  sechsgiiedrig  ist: 

1.  ov  /QTj  xdxocai 

2.  ^flOV    SJllTQEJirjV 

3.  Jigoxorpofisv  ydg 

4.  ovSkv  dod/usvoi, 

5.  c5  Bvxxi,  q:dQ,uaxov  ö'äoioxov 

6.  olvov  evsiHafxivoiQ  fxedvodrjv. 

Die  kunstvolle  und  doch  so  klare  Harmonie  in  der  Gruppierung  und  Aus- 
dehnung dieser  sechs  Kola  Avahrzunehmen,  ist  ein  Genuß.  Kolon  1,  3 
und  5  sind  jambisch,  Kolon  2,  4  und  6  sind  juixrd,  und  zwar  solche  juixrd, 
die  gleicherweise  mit  dem  Daktylus  anheben.  Kolon  5^—  ^--^--^  -- 
ist  nur  die  Erweiterung  und  Steigerung  des  ersten  Kolons  ^  -  .^  -  ^  , 
Kolon  6— v^--^--^--ist  nur  die  Erweiterung  und  Steigerung 
des  zweiten  -.  w  ^  _  v^  _  .  Daher  hebt  Kolon  5  wie  1  mit  Auftakt,  Kolon  6 
dagegen  wie  2  mit  der  Hebung  an.  Endlich  enthalten  Kolon  1  und  3 
zusammengenommen  ungefähr  so  viel  Zeiten,  wie  Kolon  5  für  sich 
allein,  Kolon  2  und  4  zusammen  ungefähr  so  Adel  Zeiten  Avie  Kolon  6 
allein ;  mit  anderen  Worten :  die  beiden  Sclilußzeilen  sind  die  gesteigerte 
Repetition  der  ersten  beiden,  das  c5  Byx^i  (pdgjuaxoy  d'ägioTov  olvov 
iveixcijuevoig  jue§voür]v  rhythmisch  die  Dublierung  des  ov  xQh  ^<i^oioi 
^vjuov  emTQejzrjv,  und  diese  Proportionen  im  Aufbau  des  Ganzen  wirken 
auf  das  Gefühl  des  Lesenden  Avunderbar  Avohltuend,  ob  man  sie  be- 
wußt wahrnimmt  oder  nicht  und  ob  man  Alcäus  selbst  oder  Horaz  oder 
Hölderlin  liest. 

Besonders  uneingeschränkt  gilt  das  Gesagte  A^on  Horaz  und  seiner 
alcäischen  Strophe.  Wer  auch  bei  Horaz  den  alcäischen  Elfsilbner  mit 
der  üblichen  Silbenscliiebung  aus  dem  jonischen  Schema  ableitet,  lehrt 
uns  dadurch  den  Dichter  und  seine  Versifikation  goAA^ß  nicht  ver- 
stehen. Horaz  zeigt  vielmehr  durch  seine  strengen  Cäsuren  an,  daß 
er    die    Strophe    tatsächlich    nur    in    der    oben    angegebenen    Einteilung 


74 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Catull 


Daktylo- 
Epitriton 


rhythmisiei-t  hat.  Das  ist  so  klar,  wie  wenn  man  eine  Melodie  von  den 
Noten  abliest. 

Ebenso  steht  es  auch  mit  dem  Asclepiadeus.  Die  strenge  Durch- 
führung der  Mittelcäsur  im  Asclepiadeus  zeigt  unerbittlich  an,  daß  Horaz 
die  Ableitung  desselben  aus  dem  Jonikus,  wenn  er  sie  überhaupt  kannte, 
schroff  abgelehnt  hat  —  denn  bei  solcher  Ableitung  war  der  Einschnitt 
sinnlos  —  und  daß  er  den  Vers  vielmehr  als  eine  Variation  des  dakty- 
lischen Pentameters  aufgefaßt  wissen  wollte.  Jeder  Dichter  bestimmt 
das  Wesen  seines  Verses  durch  die  Cäsur. 

Der  Dekasyllabus,  mit  dem  die  alcäische  Strophe  abschließt,  hat 
übrigens  auch  noch  sonst  als  Strophenabschluß  gedient;  so  im  triadischen 
Strophenbau  des  Alkman: 

TWV    VJTOJieXQtdlCOV    ÖVSIQCOV. 

Auffällig  ist  das  Verhalten  Catulls.  Daß  Catull,  wo  er  Glykoneen 
und  Pherekrateen  verbindet,  nämlich  in  den  Gedichten  34  und  61,  und 
so  auch  in  der  Mittelstelle  des  Priapeus  in  c.  17  jeden  Hiat  und  syllaba 
anceps  meidet,  beruht  auf  alter  Tradition.  Aber  er  übertrug  dies  auch 
auf  die  sapphische  Strophe,  c.  51  und  11,  während  Sappho  selbst  und 
ebenso  hernach  Horaz  in  der  sapphischen  Strophe  von  der  Synaphie  ab- 
sah. Ihn  muß  eine  Theorie  beeinflußt  haben,  die  sonst,  soviel  ich  weiß, 
keine  Spinaen  hinterlassen  hat. 

An  das  Gesagte  schließt  sich  die  Beobachtung  der  Daktylo-Epi- 
triten,    deren   epitritisches   Glied   vorzugsweise   ein   fünf  silbiges   Schema 

zeigt:  — -  ^ ,  naturgemäß  an.    Als  Beispiel  diene  der  Sophoklesvers, 

Ajax  175: 

WQfiaos  Tiavbd  |  fwvg  im  ßovg  äyelaiag. 

Die  Pindarscholien  zeigen  uns,  daß  es  im  Altertum  Grammatiker  gab, 
die  solche  Zeilen  vom  Joniker  ableiten  Avollten.  Dagegen  steht  fest  und 
ist  insbesondere  von  F.  Leo^)  überzeugend  dargelegt,  daß  die  Tragiker 
von  dieser  Auffassung  gar  nichts  gewußt  haben  können.  Es  ist  aber 
unmöglich,  daß  ein  so  großer  Musiker  wie  Sophokles  sich  über  die  rhyth- 
mische Behandlung  und  Auffassung  seiner  Versmaße  im  unklaren  soUte 
befunden  haben.  Also  haben  wir  zu  fragen,  wie  wir  die  zitierte  Zeile 
als  Interpreten  des  Sophokles  im  Sinne  des  Sophokles  beurteilen  soUen. 
Und  da  liegt  es  am  nächsten,  sie  als  eine  Amplifikation  des  alcäischen 
Hendekasyllabus  aufzufassen;  denn  die  fünf  silbige  Gruppe  djg^uaos  jiavdd- 
kommt  dem  ersten  Gliede  jenes  Hendekasyllabus  gleich,  und  das  ist  das 
Wichtigste;  die  Dakt^den  -//ovc  enl  ßövg  äyeXalag  ersetzen  dagegen  das 
zweite  Glied.     Man  denke  sich,  daß  die  obige  Zeile  so  verliefe: 

ojQf^taos  Jiavöd^uovg  em  ßovg  rgexcov, 

und  die  Verwandtschaft  springt  in  die  Augen.  Die  Zeile  hebt  also  mit 
einer  jambischen  Penthemimeres  an,  deren  erste  und  diitte  Senkung  stets 
als  Länge  behandelt  werden;  und  diese  durchgängige  Beschwerung  der 
beiden  Senkungen  hat  nichts  Auffälliges ;  denn  dasselbe  Verfahren  Avurde 


»)  Neue  Jahrbb.  IX  (1902)  S.  158  f. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  75 

hernach  ja  auch  auf  den  alcäischen  Hendekasyllabus  selbst,  von  dem  wir 
ausgingen,  übertragen: 

lustum  et  tenacem  ]  propositi  virum, 
und  es  war  ohne  Frage  die  Lehre  griechischer  Musiktheoretiker,  die  den 
Horaz  zu  diesem  Verfahren,  das  mit  dem  des  Sophokles  übereinstimmt, 
zwang.  AVeshalb  aber  Sophokles  und  die  sonstigen  älteren  griecliischen 
Meliker  ihrerseits  in  ihren  Daktylo-Epitriten  das  Schema  der  Penthemimeres 
^  -  -  -  ->  in  die  Form  _  _  ^  _  _  umwandelten,  erklärt  sich  gleichfalls 
leicht;  denn  wir  wissen,  daß  den  Daktylo-Epitriten  der  hesychastische 
Charakter,  d.  h.  die  beruliigte  Stimmung  zukam,  die  in  langsamerem  Tempo 
gemäclilich  oder  auch  gravitätisch  einhergeht.  Dieser  Charakter  wurde 
eben  durch  die  beschwerten  Senkungen  zum  Ausdruck  gebracht;  er  wurde 
durch  sie  erzwungen. 

Wenden  wir  uns  zum  jambischen  Trimeter.  Er  herrscht  im  Dialog  Trimeter 
der  Tragödie.  In  diesem  Dialog  den  Jambus  ^  -  in  drei  Kürzen  ^  ^  w 
aufzulösen  oder  gar  durch  den  Anapäst  -----  zu  ersetzen,  sind  Freiheiten, 
die  die  starrere  Kunst  des  Aeschylus  noch  selten  zuließ;  Euripides  ist 
darin  der  Freieste,  am  freiesten  in  seinem  Kyklops,  weil  dies  Satyrspiel 
der  Komödie  am  nächsten  steht. 

Denn  die  Komödie  war  es,  die  es  vornehmlich,  liebte,  die  Sprache  in  der 
im  Gehege  des  Verses  fast  übermütig  frei  sich  ergehen  zu  lassen  und  ^^^ 
das  eintönige  „kui'z  lang,  kurz  lang"  möglichst  zu  umgehen.  Wir  können 
ganz  Avohl  damit  die  Variabilität  unseres  deutschen  Knittelverses  vergleichen, 
der  ^^ie  ein  Vagabund  einherschlendert,  gelegentlich  sich  aber  auch  zu 
feierlichem  Ausdruck  raffen  kann.  Daher  wurde  der  Dialog  der  Komödie 
von  den  Alten  selbst  gradezu  mit  der  Prosa,  der  oratio  soluta,  gleich- 
gesetzt, i)  Wer  indes  genauer  zusieht,  nimmt  wahr,  daß  der  lose  Fall  der 
Silben  im  Trimeter  des  Aristophanes,  wie  der  folgende: 

dl'  vÖQOQOoag  ßogeav  emxr}or]oag  [iiyav 

und  aberhunderte  andere  ihn  zeigen,  keineswegs  aus  Flüchtigkeit  der 
Arbeit  sich  erlclärt;  \'ielmehr  waltet  bei  ihm  die  feinste  Nüancierung;  der 
scheinbare  Mangel  an  Kunst  ist  vielmehr  der  Gipfel  der  Kunst,  und  je 
nach  der  Stimmung,  die  er  ausdrückt,  wechselt  und  schillert  die  Be- 
schaffenheit dieses  Verses.  Die  „komischen"  Trimeter  mit  Anapäst  und 
Tribrachys  sind  bei  Aristophanes  nur  just  ebenso  häufig  Avie  die  „tragi- 
schen" und  wie  die  streng  tragischen,  die  indissoluti,  die  überhaupt  jeder 
Auflösung  einer  Länge  entbehren.  Die  letzteren  benutzt  Aristophanes 
entweder  zu  malerischen  Zwecken,  wie  der  rein  jambische  Vers  Acharn.  203: 

eyoj  de  (psv^Of^ai  ye  xovg  'A/agveag 

eine  Szene  abschüeßt,  indem  der  Sprecher  davonrennt,  2)  oder  da,  wo  er 
feierlich  redet  oder  doch  den  tragischen  Sprechton  parodiert.  Man  be- 
trachte nur  z.  B.  die  Stelle  Acharn.  885  ff.,  wo  Dikäopolis  glücklich  den 
böotischen  Aal  erhandelt  hat: 

885  CO  (fiXxdzr)  av  xai  tioJmi  jio&oi'fisvr], 
ij?Meg  Tio&Eivi]  fi€v  zgvycpöixwg  x^Q^^> 

*)  Vgl.  Cicero  Orator  67.  j  ')  lieber  diesen  Vers  oben  S.  25. 


76  Kritik  und  Hermeneutik. 

(piXrj  de  Mogv^co'  öfxweg,  i^eveyxars 
Ttjv  ioxdgav  [xoi  öevqo  xai  rrjv  gaiida. 
axexpaoße  Jiaideg  xrjv  aQiozTjv  k'y/skvv, 
890  rjxovoav  exrcp  f^iöXig  erst  Jio&ovfievtjv. 

JiQOoeiTTax'  avTTjv  cb  xexv  ,  ävdgaxag  8'  eyo) 
vfMV  Jiage^co  rfjgös  xrjg  ^ivrjg  xdQ'^^- 
aU.'  €aq?sg'  avxtjv  firjde  yäg  ßavcov  jtoxs 
aov  jfWßfV  el'fjv  ivxexsvxhcofj£vr]g. 

In  diesen  zehn  Versen,  die  eine  scherzhafte  Feierlichkeit  zur  Schau  tragen, 
sind  überhaupt  nur  zwei  Auflösungen.  Auf  das  sog.  Porsonsche  Gesetz 
wird  dabei  aber  nicht  Rücksicht  genommen  (s.  v.  889).  Noch  feierlicher 
die  Verse,  die  dem  Ritus  dienen,  Ach.  258  f. : 

CO  Eav&la,  ocptov  ö'  ioxiv  ogd^og  exxeog 
6  (poJlog  i^omo&s  xfjg  xavrjcpogov 

u.  a.  m.  Viele  Beobachtungen  der  Art  hat  R.  Klaueri)  gesammelt.  Und 
dies  setzte  sich  in  der  neueren  Komödie  und  bei  Menander  fort,  ja,  auch 
bei  Plautus.  Auch  Plautus  baut  z.  B.  da,  wo  er  drohen,  wo  er  schwören 
läßt,  w^o  er  besonders  Gewichtiges  vorträgi,  wo  er  eine  Szene  eröffnet 
oder  schließt,  ungemein  oft  so  reine  Verse  wie  Mercator  272  f. : 

Profecto  ego  illum  hircum  castrari  volo 

Ruri  qui  nobis  exhibet  negotium. 
Die  Mitteilung  über  einen  Todesfall  lautet  Men.  36: 

Paucis  diebus  post  Tarenti  emörtuost.  ^ 

Die  Asinaria  fängt  an,  Vers  1: 

Sicüt  tuom  vis  ünicum  gnatum  tuae 
und  schließt  (trochäisch)  Vers  946  f. : 

Nunc  si  voltis  deprecari  huic  seni  ne  väpulet 
Remur  impeträri  posse  plausum  si  clarüm  datis. 

In  p^leicher  Weise  schließt  eine  Szene  in  der  Casina  Vers  351  f.  u.s.f.  u.s.f. 
Ungefähr  ein  Drittel  aller  Senare  des  Plautus  sind  frei  von  Auflösungen 
und  Anapästen.  2) 
Meidung  Docli  icli   lassc   das  Metrische   jetzt   hinter   mir.     Die  Dichter   haben 

nicht  nur  ihre  Verse  sorgfältig  gemessen,  sie  haben  auch  auf  Euphonie 
des  Silbenklangs  acht  gegeben.  Dem  Wolilklang  diente  vor  allem  das 
Homoeoteleuton  innerhalb  des  Stiches  oder  der  grammatische  Reim,  über 
den  ich  S.  71  gesprochen.  Vermieden  Avurde  dagegen  der  Reim,  der 
unsere  moderne  Poesie  beherrscht,  gleichlautende  Abschlüsse  zweier  be- 
nachbarter ^ilen.     Wenn  Catull  c.  57  schreibt: 

Pulchre  convenit  improbis  cinaedis 

Mamurrae  pathicoque  Caesarique. 

Nee  mirum:  maeulae  pares  utrisque, 
SO  könnte  man  sich  w^undem,  weshalb  er  hier  nicht  iitrique  schrieb.     Er 
tat  es  nicht,  weil  utrique  auf  Caesarique  gereimt  hätte. 
Alliteration  Zur  Euphonio  gchöit  ferner  das  Parhomoeon,  die  Alliteration,  die  wir 

bei  den  Griechen  nicht  selten,  energischer  aber  bei  den  Römern  die  Wörter 
im  Verse  aneinander  binden  sehen,  und  zwar  von  Plautus  bis  zu  Claudian 


^)  De  Aristophanis  trimetrorum  com-   j    riorum  iambicorum  compositione  artificio- 
positione  artificiosiore,  Marburg  1905.  i   siore,  Marburg  1910. 

2)  Vgl.  0.  Wengatz,  De  Plauti  sena-   | 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung. 


77 


und   weiter.     Es   ist   dies   dieselbe  Alliteration,   die    auch   im   Sprichwort 
blühte   wie  fabriim  caedere  cum  ferias  fullonem,    und   in  Redensarten  wie 
gerrae  germanae,   xaieiv  xai   xotiteiv,    tempus  terere.^)     Für   die  Alliteration 
im  Yerse  geben  die  alten  Grammatiker  den  schrecklichen  Mustervers: 
Machina  multa  minax  molitur  maxima  muris 

(Diomedes  p.  447,  3  K.).     Herrlich  dagegen  Naevius: 

Libera  lingua  loquemur  ludis  Liberalibus. 
Das   ist  AVucht   und  Energie   und   frisches  Leben.     Besonders   gern   tritt 
die  AUiteration   in  der  zweiten  Hälfte   des  Hexameters   auf,    ist   häufiger 
bei   den   älteren   römischen   Dichtern   (Ennius    und  Plautus)    als   bei   den 
späteren  (wie  Lucan)  und  auch  schon  im  alten  Saturnier  anzutreffen. 

Neben  dem  Parhomoion,  das  nur  den  Anfangsbuchstaben  betrifft,  steht  Parechese 
das  vollere  imd  wirkungsvollere  Parhomoion  oder  die  Parechese,  die  durch 
Wiederholung  ganzer  Anfangssilben  die  Begriffe  bindet,  Avie  in  dem  super- 
bus  et  superfluens  des  Catull  29,  6;  impudice  et  improhande  in  Yergils 
Catal.  13,  9,  eine  Parechese,  die  ins  Lachhafte  gezogen  wird  in  dem  Epi- 
gi*amm,  Anthol.  Pal.  6,  217: 

2(boog  xai  Scoaco  ocoi/jQta  torö'  ävedtjxav, 

2(x)oog  fiev  ocoßsig,  2!cooa)  d'  ori  Hwoog  eoMÜrj. 

Homer  hat  das  so  rätselhafte  Adverb  djirjhyecog,  zu  dem  es  kein  Adjektiv 
gleicher  Stammform  gibt,  nui*  gebildet,  um  es  mit  äjioeijiev  zu  verbinden; 
denn  es  kommt  nur  in  dieser  Verbindung  vor.  Auch  dies  hat  der  Trieb 
zm-  Parechese  bewirkt. 

Ganze  Kommata  oder  Wortgruppen  aber  werden  durch  die  Anapher 
gebunden,  und  sie  wird  bei  den  Dichtern  aus  ihrer  schhchteren  Form 
zur  Klanganapher  entwickelt.  Die  Klanganapher  ist  als  Yersschmuck  zu- 
erst von  den  Alexandrinern,  besonders  in  den  Hirtengedichten  des  Theokrit 
und  seiner  Nachfolger  ausgebildet,  2)  dann  von  Catull  und  seinen  Freunden, 
demnächst  von  Yergil  bei  den  Römern  zur  Herrschaft  gebracht  worden. 
Ich  meine  Formationen  wie: 

Bion  1,  77:  gatve  de  fj,iv  ^vqioioiv  aXsiq?aoi,  gaive  /.wgoioiv. 

Moschos  4,  1:  rJQaro  IJav  'Axöjg  rag  ysixovog,  tJQaro  ö'A^rd). 

Philodem,  Anthol.  Pal.  5,  24:  old'  ort  jiäo  xgrj/nvov  rs^uvco  jiogov,  oid'  ozi  qijitu). 

Und  so 

Tibull  1,4,  17:  Longa  dies  homini  docuit  parere  leones. 

Longa  dies  molli  saxa  peredit  aqua. 
Properz  1,  1,  29:  Feite  per  extremas  gentes  et  feite  pei  undas. 
Maitial  3,  89:  Uteie  lactucis  et  mollibus  uteie  mal  vis. 
Piopeiz  2,  3,  44:  Uiet  et  eoos,  uiet  et  hespeiios, 

eine  Anapher  mehrsilbiger  und  sinntragender  Wörter,  die  den  Yers  in 
Wohlklang  wiegt. ») 

Aber  die  Dichter  lernten  allmählich  auch,  daß  es  nicht  schön  ist,  den  Meidung 
Vers  mit  lauter  kleinen  Wörtern  anzufüllen.  Man  vergleiche  Homer  Wörter 
mit  Nonnos: 


Klang- 
anaphe 


^)  Reiche  Sammlungen  bei  O.  Keller, 
Giammatische  Aufsätze,  Leipz.  1895;  dazu 
WöLFFLTX,  Aichiv  f.  Lex.  IX  S.  567  f., 
XIII  S.  584  und  XIV  S.  515  ff. 

2)  Auch  in  den  neugefundenen  Resten 


des  Callimachus  tiitt  sie  heivoi. 

^)  Uebei  die  Entwicklung  diesei  Ep- 
anaphoia  und  ihie  veischiedenen  Foimen 
s.R.WÖBBEKiNG,  De  anaphoiae  apud  poetas 
latinos  usu,  Maibuig  1910,  bes.  S.  48  ff. 


78 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Mono- 
syllaba 


Kako- 
phonien 


Sigmatis- 
mus 


Odvss.  19,  492  f. :  rexvov  sfiov  ::ioi6v  os  k'jiog  cfvysv  SQXog  odövrcor  ... 
£^o)  6'  (hg  öre  xig  oxeger]  Xi&og  rjh  oiörjQog- 

cilko    08    TOI    EQEO),    OV    6'    EVI    (pQEOt    ßdkho    oFjOCV. 

Nonnos  25,  43  f. :  ÜEQOEvg  (bxvjiEddog  ixov(pioE  ovußoka  vixrjg  .  .  . 
alfMxXEri  Qo&dfuyyi  xanxQQVta  Xsixpava  xoQorjg. 

Solch  homerischer  Yers  besteht  aus  8 — 10,  der  des  Nonnos  nur  aus 
5  Wörtern;  auch  bemerke  man,  daß  bei  Nonnos  im  Vers  43  der  Umfang 
der  einzelnen  Wörter  fast  planvoll  wechselt;  denn  dieser  Yers  ist  in  zwei 
zweisilbige  Wörter  eingeschlossen,  dazwischen  steht  ein  fünf-,  ein  vier- 
und  ein  dreisilbiges.  Derartiges  ist  bei  den  Späten  öfters  wahrzunehmen. 
Bei  den  Römern  bildete  noch  Ennius  solche  Yerse  wie: 

Ann.  76:  Ast  hie  quem  nunc  tu  tarn  torviter  increpuisti. 
Ann.  431 :  Si  luci,  si  nox,  si  mox,  si  iam  data  sit  frux. 

Ähnlich  auch  noch  Lukrez: 

2,  184:  Nunc  locus  est  ut  opinor  in  liis  illud  quocjue  rebus. 
Wie   anders   schon  Catull   und   dann  Yergil!     Sowohl   die  Arielen  Ideinen 
AVörter  fallen   in  der  entwickelteren  Kunstdichtung  Aveg   als  auch  ein  so 
garstiger  Yersschluß  mit  drei  zweisilbigen  Wörtern  Avie  ilhid  quoque  rebus 
oder  gar  mit  einem  fünfsilbigen  Wort  wie  increpuenmt. 

Daher  also  die  Flucht  A^or  einsilbigen  Wörtern.  Besonders  Prä- 
positionen AA^erden  im  Yerse  unbeliebt;  Formen  A^on  ose  ausgelassen. 
Yergil  rückt  freilich  Monos^^llaba  grade  gern  an  die  betonteste  Stelle  des 
Hexameters,  unmittelbar  vor  die  Pentliemimeres,  Avie: 

Et  pecudes  secum  et  |  monstrata  pericviJa  (hicat. 
Es  scheint,  daß  er,  um  AbAvechselung  für  das  Ohr  zu  erzeugen,  die  Schärfe 
der  obligaten  und  immer  Aviederkehrenden  Cäsur  in   solchen  Yersen   hat 
lindern  Avollen.     Aber   seine  Nachfolger   haben   dies   mehr  imd  mehr  ab- 
geschafft, i) 

Das  Streben  nach  Wohlklang  ist  immer  zugleich  ein  Yermeiden  A'on 
Kakophonien,  die  sich  in  der  Gruppierung  der  Wörter  nur  zu  leicht  ein- 
stellen. Yor  allem  vermied  man  jeden  A^ersehentlichen  Anldang  an  Un- 
anständiges und  Obszönes;  daher  Avird  die  Yerbindung  cum  nos  und 
cum  nohis  YQYp'6n.i,  AA'Cil  sie  an  cunnus  anklang;  2)  dies  ist  xaxejuq)aTov  oder 
aioxQoXoyia.  Mit  Recht  tadelt  SerAäus  die  Silbenfolge  in  Dorica  castra  bei 
Yergil  Aen.  2,  27  (u.  6,  88);  daher  gibt  Aen.  2,462  der  Codex  F  Achaia 
castra.  Überhaupt  aber  AAdrd  gelehrt,  ne  ultima  syllaba  prioris  verbi  eadem 
Sit  quae  prima  posterioris  (Rhetor.  lat.  min.  ed.  Halm  p.  127). 

Dazu  kommt  das  Augenmerk,  denselben  Konsonanten  an  den  Woi*t- 
schlüssen  nicht  allzusehr  zu  häufen,  das  Yermeiden  des  Mytazismus  und 
des  Polysigma.3)  Das  letztere  nennen  Avir  auch  Sigmatismus.  Yergil 
schrieb  Aen.  9,  49: 

Inprovisus  adest,  maculis  quem  Thracius  albis, 
wozu  SerAdus  anmerkt:  huiusmodi  versus  pesslmi  sunt.     Dieser  Yergih'ers 
ist  fast  so  schlimm  Avie  die  in  den  Mäcenaselegien  1,  18  u.  27;  2,  33.     In 


1)  Siehe  O.  Braum,  De  monosvllabis 
ante  caesuras  hexametri  latini  collocatis, 
Marburg  1906. 


2)  A^gl.  Ehein.  Mus.  51  S.  96 :  F.  Scholl, 
Archiv  f.  Lex.  II  S.  124. 

*)  Vgl.  Martianus  ('apolla  p.  474.    - 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung. 


79 


der  Tat  sehen  wir  die  Dichter  dem  gehäuften  Schluß-s  sonst  möglichst 
aus  dem  AVege  gehen. i)     So  schrieb  Sophokles  im. Ajax  172: 

rj  gd  OS   Tat'oojiöXa  Atog  "Agistitg, 

WO  der  Usus  eigenthch  Tavgojiokog  verlangte;  aber  das  Sigma  störte. 
s'fipulae  pflegt  bei  den  Dichtern  sonst  im  Plural  zu  stehen.  Man  hat  sich 
deshalb  gewundert,*)  weshalb  Lukrez  5,  606  segetes  stipularnque  videmus 
imd  Yergil  Georg.  1,  85 : 

Atque  levem  stipulam  crepitantibus  urere  flammis 
\orzog.  Die  Erklärung  aber  ist  dui-ch  das  Gesagte  gegeben.  Ebendaher 
( )vid  Alet.  8,  538:  imst  cinerem  cineres  haudo^.  Ebendaher  Yergil  Ecl.  3,1 
rtfiion  pecii.'i  statt  cuins  peciis  (s.  Servius  z.  St.).  Daher  konnte  auch  Vergil 
Aeu.  4,427  cinerem  dem  cineres  vorziehen,  w^ennschon  er  sonst  den  Singular 
rfHcrcm  nur  vor  Vokal  braucht.     Sicher  erklärt  sich  so  auch  Aen.  3,  123: 

Hoste  vacare  domum  sedesque  astare  relictas, 
^^•()  Avir  die  Lesung  domus  ablehnen.     Nicht  anders  11,  464: 

Duc,  alt,  et  Rutulos:  equitem  Messapus  in  armis,- 
so,  equitem,  nicht  equitea.     Endlich  10,  819: 

Implevitque  sinum  sangiiis;  tum  vita  per  auras. 
Auch  liier  haben  wir  keinen  Anlaß,  die  Variante  simis  zu  bevorzugen. ») 
Es  scheint,  daß  Horaz  weniger  empfindlich  war,  wenn  er  seine  zweite 
Ode  mit  lam  satis  ferris  nivis  atque  dirae  grandinis  begann,  vgl.  auch 
Od.  2, 18, 14,  und  an  den  Maiiris  iaculis  Od.  1,  22,  2  ist  ganz  gewiß  nichts 
zu  ändern.    Doch  umging  auch  Horaz  den  Mißklang,  avo  er  konnte,  und   Mytazis 

schrieb  Od.  1,  26,  1: 

Musis  amicus  tristitiam  et  metus 

Tradam  protervis  in  mare  Creticum 

Portare  ventis. 
p]r  mied  hier  den  Mytazismus  und  schrieb  nicht  metum,  wodurch  über- 
dies ein  unliebsamer  Reim  entstanden  wäre  (vgl.  oben  S.  76). 

Es  ließe  sich  hier  noch  über  manches  andere  reden,  das  uns  den 
Feinsinn  der  Dichter  verrät,  so  z.  B.  darüber,  daß  im  Hexameter  zu 
malerischem  Zweck  bald  die  Daktylen,  bald  die  Spondeen  gehäuft 
wurden.  Wenn  der  Dichter  des  Culex  Vers  35  schrieb: 
Mollia  sed  tenui  pede  currite  carmina;  versus, 
so  wollte  er  das  tenui  pede  eurrere  im  Verse  selbst  malen. •^)  Wie  uns  die 
( )dyssee  /  593  f.  die  Sisyi)husarbeit  mit  dem  nämlichen  KunstgTiff  sinn- 
fällig verdeutlicht,  ist  allgemein  bekannt  und  schon  von  den  Alten  selbst 
liervorgehoben  worden. 0)  Doch  genug  dieser  Andeutungen.  Es  ist  Zeit, 
uns  anderen  Dingen  zuzuwenden,  und  es  folgt  zunächst  ein  Wort  über 
Silbenmessung  und  Prosodie. 

Wohl  in  keinem  Punkt  unterscheidet  sich  das  Latein  so  auffällig  vom  veriinde- 
Griecliischen  wie  in  der  Veränderung  der  Prosodie.  Allerdings  hat  auch  pr^go^ien 


Male- 
risches 


^)  Ueber  Sigmatismus  Lohkck,  raiul. 
diss.  I  i?  4. 

2)  P.  Maas,  Archiv  f.  Lex.  12  S.  518. 

')  Von  M.  Unterharnscheidt,  De 
veterum  in  Aeneide  coniecturis,  Münster 
1911,  8.  38,  nicht  richtig  beurteilt.   lieber 


l>iopeiz  2,  1),  44  oben  S.  23. 

4)  Vgl.  Do  haliouticis  S.48;  Ad  histo- 
riam  hexametri  lat.  S.  42. 

^)  Vgl.  nochNoRDEX,  Vergil,  VI.  Buch 
S.  403;  meine  Olaudianansgabe  S.  CCXV. 


8Q  Kritik  und  Hermeneutik. 

im  Yulgärgriechisclieii  (Koine)  etwa  seit  dem  Beginn  der  christlichen  Ära 
eine  Verwirrung  und  Ausgleichung  von  Längen  und  Kürzen  Boden  ge- 
wonnen, i)  auf  die  Verskunst  der  Kunstdichter  aber  gewann  dies  keinen 
Einfluß,  und  das  (x>  Homers  blieb  wandellos  auch  noch  für  Agathias  eine 
Länge.  Wie  anders  das  Latein!  Nichts  verrät  die  wuchtige  Kraft  des 
Wortakzents  im  Latein,  der  sich  vom  Griechischen  spezifisch  unterschied, 
so  deutlich  wie  die  Tatsache,  daß  Plautus  noch  cogor,  cogär,  cogät,  cogeret, 
venit  (Perfect),  fecens  mißt,  ebenso  sustinet,  iurät,  ponebät,  ebenso  uxör, 
stultiör  u.  s.  f.,  und  daß  alle  diese  alten  echten  Längen  in  den  Termina- 
tionen  im  Lauf  von  hundert  Jahren  verloren  gingen.  Zunächst  war  es 
das  „Jambenkürzungsgesetz",  das  solche  Entwertung  der  Endsilben  Avie 
in  petö,  volö,  loqiiör  brachte.  Dies  wirkte  langsam  dahin,  daß  die 
augusteischen  Dichter  vereinzelt  auch  in  nicht  jambischen  Wörtern  wie 
ergo,  nemo,  Naso,  laudo,  dixero,  caedito  das  o  kürzen,  vor  allem  in  nescio, 
sobald  es  mit  qiiis  verwuchs.  Dann  folgen  ambo,  octö,  bei  Seneca  sogar 
auch  die  Gerundien  laudandö  vincendö. 

Dies  betraf  aber  nur  die  Endsilben.  In  anderen  Silben  wirkte  um- 
gekehrt die  nachplautinische  Zeit  konservierend,  und  während  Plautus 
prokLitische  Wörter  wie  ille,  nempe,  unde  za  Pjrrhichien  kürzte,  2)  stellte 
liier  die  klassische  Ära  die  echten  Längen  wieder  her;  auch  in  enimvero, 
voluntatem,  per  annonam  und  ähnlichen  Silbengruppen,  die  des  Plautus 
Zeit  als  lonici  a  minore  behandelte,  maß  man  später  die  unbetonte  zweite 
Silbe  wieder  sorglich  als  Länge.  Der  Hexameter  erforderte  (im  Gegen- 
satz zmn  Bühnenverse)  eine  schärfere  Meßkunst;  er  hat  seit  Ennius  dieser 
konservativen  Tendenz  zum  Sieg  verholfen. 

Wie  hernach  im  Spätlatein  dennoch  die  Quantitäten  entwertet  wurden, 
zeigt  —  mit  Absehung  von  Commodian  —  vielleicht  nichts  so  gut  als 
Cyprians  Heptateuch.^)  Es  kommt  darin  die  vulgäre  Aussprache  zum 
Durchbruch,  die  für  den  Grammatiker  wichtiger  ist  als  alle  Klassizität, 
und  wir  brauchen  daher  für  alle  diese  Spätlinge  sorgliche  Register  ihrer 
Verssünden.  Besonders  schlimm  erging  es  auch  den  griechischen  Lehn- 
wörtern. Während  in  einigen  Fällen  der  griechische  Akzent  dehnend 
wirkte  (so  mißt  schon  Ovid  Bi^Udtjg  als  Molossus ;  in  den  Haheutica  erhält 
jtojLmlXog  lange  zweite  Silbe,  und  Prudentius  mißt  gar  chärisma,  cyäneus),^) 
so  trägt  umgekehrt  der  lateinische  Akzent  die  Schuld,  wenn  uns  seit  dem 
3.  Jahrhundert  heröes,  Meander,  enigmata,  Lacedaemön,  Daraus  und  ähn- 
liche Kürzungen  mehr  begegnen.  0) 

Zu  dieser  Entwicklung  bietet  nun  aber  auch  das  Griechische  doch 
eine  gewisse  Analogie  in  der  Geschichte  des  griechischen  Hexameters  seit 
der  Ptolemäerzeit,  für  die  einst  G.  Hermann  in  seinen  Orphica  die  Grund- 
lage schuf.  Es  regte  sich  doch  auch  liier  der  Einfluß  des  Gefülils,  daß 
gewisse  unbetonte  Längen   nicht  mehr   imstande    seien    als   volle  Längen 

')  Thumb,    Die    griechische    Sprache  turmetris  in  Heptateuchum,  Marburg  1892. 

S.  143  u.  172.  j           ^)  Vgl.  auch  A.  Suxdermeyer,  De  re 

2^   Dies   habe    ich   gegen   Skutsch   er-  metrica  et  rythm.  Mart.  Oapellae  S.  80. 

wiesen    Ehein.  Mus.  52    Ergänzungsheft  j           ^^  Siehe  Khein.  Mus. 40  S.  523;  H.Eies, 

S.  170  f.  und  51  S.  240  ff.  De  Terentiani  Mauri  aetate  S.  53  f.    Sogar 

3)  Siehe H.Best,  De  Cj-priani quae  f erun-  |    in  Ps.Ovid.  Halieut.  46  anthias  als  Daktylus. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     A.  Formale  Auslegung.  81 

im  A\^ert  von  zwei  Moren  zu  gelten.  Man  kam  dahin,  keine  kurze  End- 
silben mehr  in  Hebung,  keine  lange  Endsilben  mehr  in  Senkung  zu 
brauchen.!)  Diese  feinftililigere  Kunst  gipfelt  in  Nonnos,  dem  neuen 
Homer,  dem  Verfasser  der  Dionysiaka  im  5.  Jahrh.  n.  Chr.  Es  wurden 
also  z.  B.  nun  spondeische  Wortschlüsse  (oder  AVörter)  im  zweiten  Vers- 
fuß (wie  veio^L  yait]g  xeiro)  und  ebenso  auch  im  vierten  Fuß  (wie  dat- 
<foo)y  TgiToyereia)  verpönt.  Ja,  Nonnos  kann  keine  positionslange  Kürzen 
mehr  in  Hebung  setzen  (wie  in  äkXd  orgecperai),  weil  sie  zu  schwach  sind, 
nicht  einmal  ein  ai  oder  oi  (wie  in  äXoed  re  xgfjval  re).  Muta  cmn  liquida 
macht  zwar  bei  ihm  stets  Position,  aber  nm-  in  den  Hebungen  wird  dies 
zugelassen;  in  jiaTQÖg  ist  die  erste  Silbe  nur  lang,  wenn  sie  in  Hebung 
steht  und  also  der  Iktus  des  Verses  mit  zu  Hilfe  kommt.  Endlich  dulden 
Nonnos  und  die  Seinen  auch  kein  Proparoxytonon  mehr  am  Hexameter- 
schluß, also  kein  jiroUe&gov  enegoev.  Die  Kraft  des  AVortakzentes  hatte 
sich  merkhch  gesteigert;  seine  Gewalt  würde  hier  die  Em^hythmie  des  Vers- 
schlusses zerstört  haben.  2)  Den  nämlichen  Grund  hat  es,  daß  schon  die 
Hipponakteischen  Verse  des  Babrios  nm-  solche  Wörter,  die  den  Akzent 
auf  der  vorletzten  Silbe  haben,  am  Versscliluß  dulden.  3) 

Nm-  die  Volkspoesie  des  späten  Griechentums,  nicht  seine  Kunstpoesie 
zeigte  einen  ähnlichen  Verfall  der  Silbenwerte,  wie  wir  ihn  am  Spätlatein 
beobachteten.  Dafür  zitiere  ich  noch  einen  von  R.  Wünsch  behandelten 
Zauberpapyrus  mit  folgenden  choliambischen  Versen: 

äva^  fiäxao  ä&dvaroi'   TaQxdoov  o?cfjjizoa 


ov  T    'Eqivvo)V  fidotcyag  ev^>6q)0vg  QijOOEig 

xa  IJsgoscpovTjg  lextga  oäg  (poevag  leo.-rsi  y.zL 

Man  sieht  hier  judxag  als  Jambus   und   in  Ilegoecpovi]   das  Omikron   im.ter 
dem  Wortakzent  gelängt.^) 

Endlich  noch  ein  Wort  zur  Rhetorik.  Der  wichtigste  Teil  der  Prosastii 
Rlietorik,  der  jiegl  )J^sa)g  handelt,  kann  als  Stilistik,  als  Lehre  von  der 
künstlerischen  Behandlung  der  Rede  und  des  Satzbaus  bezeichnet  werden, 
eine  Theorie,  die  im  Altertum,  vornehmlich  seit  des  Perildes  Zeit,  mit  größter 
Subtihtät  und  immensem  Fleiß  begründet,  ausgebildet  und  schulmäßig 
betrieben  wurde,  nachdem  große  Dichter  und  schon  Homer  selbst  längst 
genialisch  alles  Wichtigste  in  praxi  vorweggenommen  hatten.  Auch  dies 
ist  also  eine  Aufgabe  des  modernen  Interpreten,  überall  auf  das  Ebenmaß 
im  Satzbau,  Antithesen,  Anapher,  auf  Metaphern,  auf  Litotes  und  wie  die 
Figuren  und  Tropen  sonst  noch  heißen,  acht  zu  geben,  die  Asianer,  wie 
Apuleius,  am  kurzgliederigen  saloppen  Satzbau,  an  den  Antithesen  mit 
Silbengleichklang  zu  erkennen,  überhaupt  und  insbesondere  bei  den  Autoren 


')  Vgl.  Is.  HiLBERG,  Prinzip  der  Silben- 
wägiing. 

0  Vgl.  z.  B.  A.  Ludwich,  Beiträge  zur 
Kritik  des  Nonnos,  1873. 

3)  O.  Crusius,  Leipz.  Studien  II  (1879). 
An  einen  Einfluß  des  Latein  ist  hier  auch 
sonst  schwer  zu  glauben;  und  dieselbe 
Neigung  zeigt  übrigens  schon  Herondas, 


bei  dem  nur  10  Verse  unter  je  100  mit 
einem  Wort  schließen,  das  den  Akzent 
auf  der  ultima  hat. 

4)  Siehe  Berl.  phil.  W.schr.  1912  S.  5, 
wo  Wünsch  am  Schluß  des  6.  Verses  x^Qll^ 
liest,  während  doch  diese  Choliamben  am 
Versschluß  den  Akzent  auf  der  ultima 
nicht  dulden. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  6 


82  Kritik  und  Hermeneutik. 

der  späteren  Zeiten  zu  verfolgen,  wieweit  ihi-e  Praxis  der  Schule,  aus  der 
sie  hervorgingen,  entspricht.  Beim  Autor  Ttegi  vipovg  hat  sich  zeigen 
lassen,  wie  er  die  Vorschriften  über  die  Ausdrucksmittel  des  Erhabenen, 
die  er  gibt,  in  seinem  eigenen  Stil  wirldich  selbst  glänzend  befolgt,  i) 
Deutlicher  noch  und  sehr  ausführlich  läßt  sich  dasselbe  für  Cicero  fest- 
stellen, dank  seinen  Lehrschriften.  2)  Dasselbe  Avüi-de  sich  ohne  Zweifel 
auch  schon  für  Isokrates  ergeben,  wenn  wir  seine  Texvrj  oder  Teyvai^  seine 
echte  Lehrschrift  noch  besäßen.  3)  Als  ein  dringendes  Bedürfnis  mag  hier 
die  Herstellung  eines  erschöpfenden  Lexikons  der  zahlreichen  Termini  der 
Rhetorik,  deren  sich  Cicero  und  Dionys  von  Halikarnaß  bedienen,  be- 
zeichnet Averden.*)  AVer  alsdann  mit  diesem  Lexikon  die  Terminologie 
der  Schrift  jieqI  vt^fovg  verghche,  Avürde  aus  den  Unterschieden  die  Theorie 
des  E/hetors  Theodoros  von  Gadara  erschheßen  können. 
Prosa-  2ur  Stihsierung  der  Prosa  gehört  aber  auch  die  E/hythmik,  und  auf 

die  Beobachtung  der  Prosarhythmen  ist  von  unseren  Gelehrten  in  letzter 
Zeit  viel  Studium  verwandt  worden.  Die  Rhetoren  selbst,  z.  B.  Cicero 
Or.  168  ff.  geben  uns  darüber  Auskimft.  Und  zwar  wurden  in  der  Prosa 
die  Versfüße  des  yevog  ioov  und  ölttIclolov  verpönt,  bevorzugt  der  Paeon, 
Jeder  Satz  wird  hier  also,  wie  im  Chorlied  oder  in  der  Monodie,  als 
„Periode"  behandelt  und  zerfällt  in  xwXa,  jedes  Kolon,  so  variabel  es  ist,, 
wird  durch  seinen  Rhythmus,  vornehmlich  durch  seine  Klausel  kenntlich  ge- 
macht und  abgehoben.  Die  beliebteste  Form  der  clausula  war  —  w  _  _  -  ,  die 
jedoch  ErweiteiTmgen  erfahren  kann  wie  —  ^  _  _  ^  ^  oder  _  w  _  _  w  _  -.. , 
Dazu  kommen  Auflösungen  wie  _  w  ^  w.  _  -  (esse  videatur)  u.  a.  m.  Die 
Klauseln  waren  also  eine  Literpunktion  für  das  Ohr.  Die  Durchführmig' 
dieser  Beobachtungen  ist  auf  griechischem  Gebiet  0)  schwieriger  als  im 
Latein,  und  Blaß'  wiederholte  Bemühungen  für  die  PhA^thmik  des  De- 
mosthenes  und  Isokrates  eraiüden  leider  mehr,  als  daß  sie  Ergebnisse 
sicherten.  Eine  wesentliche  Förderung  hat  hier  erst  C.Zander  gebracht. «) 
Im  Latein  aber  hat  sich  die  Herrschaft  der  Klausel,  gegen  die  sich  noch 
Ciceros  und  Vergils  Zeitgenossen*^)  sträuben,  immer  mehr  ausgebreitet, 
so  daß  im  4.  Jahrh.  n.  Chr.  selbst  die  Lehr-  und  Schulschriftsteller,  selbst 
ein  Palladius,  selbst  die  Scholiasten,  sich  bemühen,  sie  durchzuführen : «) 
eine  Zwangsjacke  der  freien  Rede. 


1)  JoH.  Freytag,    De   anonj^mi   tieqI   \   gyrikos^  Eatibor  1908. 
r"i/;(w?sublimigenere  dicendi,  Marburg  1897.  .    _     .      .      . 

2)  Vgl.  z.  B.  F.  EoHDE,  Cicero  quae 
de  inventione  praecepit  quatenus  secutus 
sit  in  orat.  generis  iudicialis,  Königsberg 
1903. 

')  Siehe  L.  Spengel,  Sway.  xexvwv 
S.  154  ff. ;  F.  BLASS,  Att.  Beredsamkeit  II 
S.  104  f. 

4)  Eine  Vorarbeit  gab  kürzlich  P. 
Geigexmüller,  Quaestiones  Dionysianae 
de  vocabulis  artis  criticae,  Leipz.  1908 


6)  Eurhythmia  vel  compositio  rhyth- 
mica  prosae  antiquae,  I,  Leipzig  1910. 

^)  Siehe  Vergils  Catalepton  S.  59. 

8)  Klotz,  Archiv  f.  Lex.  XV  S.  515  f. 
schien  es  bemerkenswert,  daß  in  den 
Statiusscholien  sich  die  Klauseln  finden. 
Ihm  scheint  entgangen  zu  sein,  daß  dies 
in  Serväus'  Vergilkommentar,  in  den  Bo- 
bienser  Ciceroscholien,  auch  in  den  Juvenal- 
scholien  oft  ebenso  steht.  Ich  zitiere  aus 
Servius  zu  Aen.  1,  73 :  solent  enim  reges 


)  Siehe  bes.  F.  Blass,  Die  Rhythmen      dare  nomen  uxoris.  —  „nw"  brevem  posuit, 


der  attischen  Kunstprosa:  Isokr.,  De- 
mosth.  Plato,  Leipz,  1901.  Dazu  K.  Müx- 
scher,  Die  Rhythmen  in  Isokrates'  Pane- 


Gum  naturaJiter  longa  sit.  —  „nubo"-  enim 
Wide  habet  originem  longa  est.  —  sacerdos 
dicatus   est   numini.     Zu    1,77:    licet    mihi 


n.  Der  niedere  Teil  der  Henneneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


88 


J.  C.  Schmitt,  der  Herausgeber  des  Palladius  (bei  Teubner  1898),  hat  Paiiadius 
nichts  liiervon  bemerkt.  AVir  brauchen  eine  Neuausgabe  des  Palladius, 
die  den  Handschriften  folgt,  in  denen  sich  die  Klauseln  erhalten  haben. 
Daraus  ergeben  sich  dann  weiter  Folgerungen  für  den  Sprachgebrauch; 
denn  um  die  Klausel  zu  gewinnen,  schrieb  Palladius  z.  B.  p.  33, 18  Schm. 
ad  über  herharum  (f.  ad  ubertatem);  p.  62,  23  florere  consuerunt  (f.  con- 
sueverunt);  vor  allem  setzt  er,  wo  er  Vorschriften  gibt,  das  Präsens  und 
das  Futur  willkürlich  durcheinander:  p.  79, 18  deponis  hoc  seruans  {depones 
liätte  die  Klausel  zerstört);  ebenso  p.  186,  16  mellis  admisces,  p.  187,  17 
st'xtarium  misces,  p.  78,  21  disponhnus,  p.  173,  14  lupinus  coUigitur,  um- 
gekehrt }).  179,  13  expandemus  in  sole.  Diese  Beispiele  verteidigen  sich 
gegenseitig,  und  das  folgende  kann  dienen  sie  zu  erläutern;  p.  86, 5  will 
Palladius  sagen,  daß  Weinreben,  zu  früh  beschnitten,  zu  schwache  Wur- 
zeln haben  „und  plötzlich  eingehen";  dafür  schrieb  der  Autor  aber  „und 
plötzlich  eingegangen  sind":  si  recidas,  plerumque  infirmas  habent  radices 
et  simul  repente  perierimt;  ein  pereunt  hätte  wiederum  die  Klausel  nicht 
ergeben;  danim  mußte  das  Perfekt  aushelfen. i) 


Kom- 
mentar 


B.  Historische  Interpretation  und  Sactierklärung. 

Die  natürliche  Form  der  Sacherklärung  ist  der  Kommentar;  im  Alter- 
tum vjiofivYjjLia,  commentum,  com^nentarms  {-um).  Die  Kommentare  des  Alter- 
tums waren  selbständige  Bücher,  die  den  zu  erklärenden  Text  nicht  mit 
enthielten ;  2)  doch  wm-den  sie  in  Privatabschrift  schon  damals  nach  Be- 
lieben ausgezogen  und  als  erklärende  Notizen  oder  Schoben  in  abgekürzter 
Form  am  Rand  des  betreffenden  Textes  eingetragen.  Des  Scaurus  Kom- 
mentar zu  Horaz  umfaßte  zehn  Bücher,  jedes  Buch  beschäftigte  sich  mit 
je  einem  der  zehn  Horazbücher ;  3)  der  des  Macrobius  zmn  Somnium  Sci- 
pionis  zerfällt  in  2  Bücher  (der  Cicerotext  selbst  felilte);  Proklos  zu 
Piatos  Staat  in  4  Bücher;  Porphyrios  zu  Aristoteles  Kategorien  7  Bücher; 
Origenes  zum  Johannes  gar  32  Bücher;-*)  Hieronymus  zu  Isaias  18  Bücher, 
von  denen  der  Adressatin  jedes  einzeln  überreicht  wird,  u.  s.  f. 

Musterkommentare    der   neueren   Philologie   und   Avahre    Fundgruben   Beispiel 
für  gelehrtes  Wissen  waren: 

J.  J.  ScaHger   zu  Manilius'  Astronomica  (Paris  1579;   Heidelberg  1590; 
Leiden  1600); 

D.  Lambinus  zu  Horaz  (Lugd.  1561  und  öfter,  zuletzt  Coblenz  1829); 

J.  Casaubonus  zu  Athenaeus  (1597),  Theophrast,  Charaktere  1592;  Sueton 
(1595); 

J.  Lipsius  zu  Tacitus  (1574  und  sonst); 

Cl.  Sahnasius  zu  Solin  (1629); 

Perizonius  zu  Aelian,  var.  histor.,  1701 ; 


inplere  quae  praecipis  \  sed  nefas  est  non 
inplere  qiiae  iusseris  u.  s.  f.  lieber  die 
Bobienser  Ciceroscholien  K.  Strauss, 
Progr.  Landau  1910. 

^)  Diese  Beobachtungen  helfen  auch 
sonst;  vgl.  L.  Havet,  Manuel  de  critique 
verbale  (1911)  S.  11;  22;  38  u.  weiter. 


*)  Siehe  A.  Schi  mrick,  Observationes 
ad  rem  librariam  pertinentes,  Marburg  1909, 
S.  67  ff. 

3)  Siehe  Zangemeister,  Rhein.  Mus. 
38  S.  199  u.  40  S.  480. 

*)  ed.  E.  Preuschen,  Leipz.  1903. 


6* 


84  Kritik  und  Hermeneutik. 

T.  Hemsterhuis  zu  Aristopli.  Plutos  (1744)  und  J.  M.  Gesner  zu  Claudian 

(1759); 
eil.  G.  Heyne  zu  Vergil  (zuerst  1775)  und  zu  Apollodor  (1782;   iterum 

1802). 
Praktisch,  wennschon  an  Original  wert  viel  geringer,  die  lateinischen  Dichter- 
ausgaben cum  notis  variorum  von  P.  Burmann  und  J.  F.  Gronovius  (Stat. 
Silvae).  Die  berühmten  englischen  Kommentatoren  R.  Bentley  (Horaz), 
P.  Elmsle}^  und  E..  Person  (zu  den  griechischen  Tragikern)  sowie  der  Ovid 
des  N.  Heinsius  dienten  dagegen  der  Sacherklärung  wenig,  sondern  sprach- 
lich-metrischen Observationen  und  textkritischen  Erörterungen;  und  auf 
gleichem  Boden  steht  noch  das  Fundamental  werk  K.  Lachmanns,  sein 
Lukrez. 

In  neuerer  Zeit  haben  die  Engländer  in  einigen  musterhaften  Kom- 
mentaren der  Sacherklärung  gedient,  wie  J.  E.  B.  Mayor  zum  Juvenal 
(1886 — 88),  H.  A.  J.  Munro  zu  Lukrez  (zuerst  1873).  Auch  in  der  jetzt 
bei  Teubner  in  Leipzig  erscheinenden  „Sammlung  Avissenschaftlicher  Kom- 
mentare" finden  sich  Arbeiten,  die  das  Verständnis  erheblich  förderten, 
wie  Kaibels  Elektra,  Nordens  sechstes  Buch  der  Aeneis.  Dazu  kommt 
der  Pausanias  von  H.  Hitzig  und  H.  Blümner.  Unbefriedigt  dagegen  läßt 
mich  nur  allzu  oft  der  von  vielen  gelobte  Horaz  von  A.  Kießling,  und 
sein  Neueditor  war  zu  pietätvoll,  um  das  AVerk  in  dem  Grade  um- 
zugestalten, wie  wir  es  brauchen. 

Die  älteren  Arbeiten,  die  ich  nannte,  Avie  die  des  Casaubonus,  Avareri 
noch  oft  ungleichmäßig  und  mit  gelehrten  Exkursen  zu  sehr  belastet. 
Heute  besitzen  wir  Nachsclilagewerke  wie  die  griechischen  Altertümer 
von  C.  F.  Hermann,  die  römischen  von  Marquardt-Mommsen ,  und  der 
moderne  Kommentator  kann  also  durch  Hinweis  auf  sie  seine  Arbeit 
wesentlich  entlasten.  Gleichwohl  hat  es  sich  L.  Friedländer  in  seinem 
Martial  und  Juvenal  mitunter  gar  zu  leicht  gemacht,  der,  avo  Avir  er- 
klärendes Material  beigebracht  sehen  möchten,  kurzAveg  auf  seine  „Sitten- 
geschichte" A'erAveist.  Er  speist  mit  seinem  Haupt Averk  auch  noch  die 
NebenAA^erke. 

Aber  auch  die  Einleitung  des  Kommentars  ist  zur  Sacherklärung 
heranzuziehen.  In  ihr  erAvarten  Avir  Angaben  über  das  Leben  des  Autors 
und  eine  Darstellung  der  Zeitzustände  zu  finden,  in  denen  das  betreffende 
AVerk  entstanden  ist. 

1.  Biographisches. 

Dramatiker  Natürlich  muß  man   den  Autor  kennen,    den   man  liest.     Gleich aa'oIiI 

ist  diese  Kenntnis  nicht  überall  A'on  gleicher  Wichtigkeit.  Ob  Shakespeare 
AA'irklich  Shakespeare  AA^ar  oder  ein  anderer,  ist  eine  interessante  Frage; 
aber  AA^ie  man  sie  auch  beantAvortet,  die  gOAvaltigen  Dramen  selbst,  die 
seinen  Namen  tragen,  ihr  universaler  Eindruck,  ihr  tragisches  Verständnis, 
die  Wirkung  ihrer  Kulturbilder  und  Menschenbilder  Avird  dadurch  doch 
nicht  AvesentHch  A^erändert.  Es  ist  allerdings  nicht  unAvichtig  zu  Avissen, 
daß  Aeschylus  zeitweilig  in  Sizilien  lebte;  nur  so  Avird  A^erständHch, 
daß  er  Ahvalai  dichtete,  soaa^c  auch  die  Anspielung  auf  den  Aetnaausbruch 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


85 


;m  Prometheus  383  f.,  die  einen  Zeitbezug  auf  das  Jahr  478  v.  Chr.  er- 
gibt. Ebenso  ist  es  allerdings  nötig  zu  wissen,  daß  Euripides  nach 
Makedonien  ging;  daher  sein  makedonisches  Königsdrama  Archelaos,  daher 
seine  Bacchae.  Augenscheinlich  liaben  aber  sowohl  Aeschylus  wie  Euri- 
pides auch  am  politischen  Leben  ihrer  Heimatstadt  lebhaftesten  Anteil 
genommen:  man  denke  nur  an  die  Perser  und  Eumeniden;  des  Euripides 
Andromache  schämnt  von  Spartanerhaß,  wie  gleich  die  Anfangszeit  des 
peloponnesischen  Krieges  ihn  eingab,  über.  Doch  überUefert  uns  von 
dieser  politischen  Anteilnahme  die  Biographie  dieser  Dichter  freilich  nichts; 
sie  läßt  uns  gi-ade  für  das  AVichtigste  im  Stich,  i)  Wir  können  nur  Schlüsse 
aus  den  Dichtwerken  selber  ziehen. 

Noch  mehr  tritt  das  Persönliche  aber  in  der  neueren  Komödie  zurück. 
Wer  Menander  oder  Ter enz  war,  was  er  persönlich  erlebt  hat,  ist  zum 
Verständnis  der  Andria  eigentlich  vollständig  gleichgültig.^)  Und  dasselbe 
gilt  von  den  späten  Dichtern  des  griechischen  Romans,  Jamblichos 
(BaßvAcoviaxd),  Xenophon  Ephesius  (Habrokomes  und  Antheia),  Helio- 
doros  (Al&iomxd),  mit  denen  sich  E.  Rohdes  bekanntes  Buch  befaßt.  Auch 
in  Senecas  Tragödien  sind  die  Stellen  gering,  am3  wir  einen  Zeitbezug 
auf  das  Hofleben  Neros  zu  erkennen  glauben.  AVer  freilich  auf  die  Tiraden 
gegen  den  Jähzorn  und  vor  allem  gegen  Tyrannei  und  den  Mißbrauch 
der  Königsgewalt  acht  gibt,  von  denen  diese  Tragödien  strotzen,  wird 
doch  überall  lebhaft  an  Kaiser  Nero  erinnert,  an  den  Seneca  auch  seine 
Schrift  De  dementia  schrieb.  Einmal  scheint  eine  Beziehung  auf  Senecas 
eigene  Person  vorzuliegen,  im  Oedipus  v.  687  ff. ;  diese  Verse,  die  Kreons 
Stellung  im  Staate  Thebens  schildern,  sind  zwar  dem  Sophokles  Oed.  Rex 
590  ff.  nachgedichtet;  aber  sie  passen  auf  die  Stellung,  die  Seneca,  der 
Staatsmann,  seit  dem  Jahre  54  in  Rom  einnalim,  in  dem  Grade,  daß  jeder 
sie  auf  ihn  deuten  mußte.  Es  ist  nicht  Zufall,  daß  er  sie  treu  aus 
Sophokles  übernahm.^) 

Sehr  Avichtig  Avird  aber  das  Personale  sogleich  bei  Werken  aktuellen  Lyriker 
Inhaltes,  d.  i.  bei  solchen,  die  sich  dem  Charakter  des  Gelegenheitsgedichtes 
nähern.  Da  die  ZAveifel,  die  E.  SchAvartz  gegen  die  Echtheit  des  Nach- 
lasses des  Tyrtaeus  erhob,  beseitigt  sind,*)  Avird  um  so  klarer,  daß  man 
sich  zum  Verständnis  der  Tyrtaeusgedichte  die  ganz  besonderen  Umstände, 
in  denen  sich  der  kriegerische  Dichter  befand,  vor  allem  seine  eigentüm- 
liche Stelhmg  im  spartanischen  Heere  deutlich  machen  muß.  Ebenso 
waren  Solons  politische  Elegien  nichts  als  ein  Ausfluß  seiner  staats- 
männischen Tätigkeit,  also  seines  ßiog;  auch  die  Verse  des  Alkaeus 
strotzten  A^on  eigenem  Erleben;  und  eine  so  singulare  Erscheinung  Avie 
die  Mädchenliebe,  von  der  Sapphos  Lieder  erglühten,  wird  nur  dem 
begreiflich,  dem  es  gehngt,  oline  alle  falsche  Idealisierung,  aber  auch  unter 
HinAA^egräumung  alles  schändlichen  Klatsches,  den  schon  die  Alten  über 
Sappho  brachten,  sich  die  Stellung  dieser  Dichterin  und  Gesanglehrerin  im 


*)  Was  Satyros  gab,  sind  nur  Kom- 
binationen. 

*)  Daß  Terenz  in  der  Andria  auf  seine 
eigene  Freilassung  anspielt,  ist  ganz  un- 
wahrscheinlich; s.  F.  Scholl,  Sitz.Ber.  d. 


Heidelberger  ^Vkad.  1912  N.  7  S.  6. 

')  Genaueres  in  Neue  Jahrb.  27  S.  349  ff. 

■*)  ScHWARTZ  im  Hermes  34  S.  427  ff. ; 
dagegen  Wilamowitz,  Textgesch.  d.  grie- 
chischen Lyriker  (Abh.  Gott.  GW.  S.97ff.). 


u.  a. 


8ß  Kritik  und  Hermeneutik. 

Kultdienst  der  Aphrodite  und  im  Kreise  ihrer  jungen  Schülerinnen  zu 
vergegenwärtigen.  Die  feinen  attischen  Yasenbilder,  die  uns  Sappho  im 
Kreis  ihrer  Schülerinnen  zeigen, i)  sind  noch  als  Huldigungen  gedacht; 
erst  etwa  hundert  Jahre  später  haben  die  Athener  in  ihren  Komödien 
Sappho  zum  Gegenstand  ihrer  Spässe  und  sündigen  Erfindungen  gemacht. 
Proporz  Wichtig  siud  die  biographischen  Fragen  aber  auch  für  einen  Liebes- 

dichter wie  Properz.  Wir  wissen  von  ihm  nichts,  was  er  uns  nicht  selbst 
sagt,  und  erführen  gewiß  gern  mehr  über  ihn  und  seine  Cvnthia.  Damit, 
daß  (nach  Apuleius)  Cvnthia  in  Wirklichkeit  Hostia  hieß,  ist  nichts  ge- 
wonnen. Man  hüte  sich  nun  aber,  alles,  was  Properz  von  ihr  beiläufig 
mitteilt  (Alter,  AVohnungsangabe  u.  ä.  m.),  wörtlich  zu  nehmen.  Das  wäre 
geschmacklos.  Poeten  sind  zum  Glück  keine  Biographen  ihrer  Geliebten; 
sie  sind  auch  keine  Arate,  die  im  Krankenjournal  nur  Tatsachen  buchen. 
Wer  wüßte  etwas  über  Goethes  Friederike,  wenn  er  nur  des  jungen  Dich- 
ters Verse  hätte?  Ja,  mit  Cynthia  ist  vielleicht  nicht  einmal  immer  ein 
und  dieselbe  Person  gemeint.  Ihr  Idealbild  kann  aus  mehreren  Figuren 
der  Wirklichkeit  zusammengeflossen  sein.  Jedenfalls  kann  jetzt  als  aus- 
gemacht gelten,  2)  daß  des  Properz  Liebespoesien  sich  durch  16  Jahre  (von 
40 — 24)  hinziehen.  Handelt  es  sich  da  wirklich  notwendigerweise  immer 
um  dieselbe  Dame?  C^mthia  wäre  ja  schließlich  eine  alte  Person  geworden 
und  die  dauerhafte  Schwärmerei  des  Dichters  der  Lächerlichkeit  verfallen. 
Uns  muß  genügen,  daß  Cynthia  der  Deckname  für  die  Geliebte  oder  die 
Geliebten  des  Properz  ist.  Um  so  falscher  wäre  es  nun  aber,  anzunehmen, 
daß  seine  zündenden  Verse  nur  nach  allerlei  griechischen  Mustern  her- 
gestellt, nur  Behandlungen  überlieferter  Themen  sind  und  ohne  eigenstes 
persönliches  Erleben  zustande  kamen.  Wer  das  glaubt,  verdient  nicht, 
sie  zu  lesen.  Die  Madonna  ist  tausendmal  gemalt  worden;  das  Thema 
ist  auch  da  immer  dasselbe,  das  innere  Erlebnis  des  Künstlers  immer  neu. 
Aber  es  ist  auch  heute  noch  in  aller  feineren  Erotik  das  Natürliche,  daß 
sie  nur  andeutet,  also  ihre  Erlebnisse  verallgemeinert,  resp.  das  Selbst- 
erlebte in  solche  Motive  zu  Ideiden  sucht,  die  füi-  viele  andere  mitgelten 
können.  Daher  ist  es  in  allen  solchen  Fällen  schwierig,  das  Biographische 
aus  dem  Typischen  auszusondern. 

Viel  unpersönlicher  als  Properz  ist  dagegen  Tibull,  der  mitunter 
gleichsam  Abhandlungen  dichtet;  und  auch  zum  Verständnis  des  Epi- 
grammatikers Marti al  genügt  es  im  Grunde,  über  die  bettelhafte  Lebens- 
stellung dieses  Dichters  unterrichtet  zu  sein,  der  als  Klient  mit  seinen 
hübschen  Spässen  auf  den  Beifall  der  Vornehmen  Jagd  macht,  und  wir 
vermissen  es  nicht  allzusehr,  daß  wir  seine  Biographie  nicht  besitzen. 
Natürlich  kommt  es  zum  Verständnis  einzelner  Stellen  bei  ihm  darauf  an, 
festzustellen,  ob  er  wirklich  arm  oder  ob  er  Gutsbesitzer  war,  wo  seine 
Wohnung  lag  u.  ä. 
Cicero  Ganz  anders  wieder  Cicero.     Seine  AVerke    sind   mit  seinem  Leben 

und  sein  Leben  ist  weiter  mit  der  poHtischen  Zeitgeschichte  des  1.  Jahrh. 


1)  Siehe  Die  Buchrolle  in  der  Kunst   !  ^)   Siehe  H.  Hollstein,  De  monobibli 

S.  147;   vgl.  noch   Abh.  d.  sächs.  GW.  III    |   Prop.  sermone  eqs.,  Marburg  1911,  S.  70  f. 
(1861)  Tai.  I.  I 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


87 


v.  Chr.  auf  das  engste  verflochten.  Seine  vielbändigen  Schriften  selbst 
sind  seine  Biographie. 

Und  ganz  ebenso  steht  es  mit  Seneca.  Es  ist  verfehlt,  ja  lächer- 
lich, diesen  Mann,  der  seine  Zeit  mehr  beherrscht  hat  als  Cicero  die  seine, 
nm-  einfach  als  stoischen  Schulschriftsteller  abzutun.  So  Avie  Ciceros 
Schrift  De  republica  ein  politisches  Tagesereignis  war,  das  lange  nach- 
Avirkte  —  denn  darin  war  als  ideale  Staatsform  die  gemäßigte  Monarchie 
nachgewiesen,  und  sie  hat  erst  Pompejus,  dann  Octavian  angeregt,  sie  zu 
verwirklichen  und  Roms  Staatsleben  danach  zu  reformieren  ^)  — ,  so  Avaren 
auch  Senecas  Schriften  Handlungen,  mit  denen  er  seine  Zeit  beeinflußte: 
erst  De  ira  im  Jahre  41 ;  der  Kaiser  selbst  hat  auf  diese  Schrift  mit  einem 
Edikt  reagiert,  und  Seneca  wird  hernach  in  Anknüpfung  daran  Lehrer 
des  Knaben  Nero ;  aber  erst,  als  Seneca  die  Regierung  zu  leiten  beginnt, 
seit  dem  Jahre  54,  schreibt  er  seine  Hauptwerke,  die  darum  noch  aktueller 
wai*en,  De  dementia,  um  die  Herrschsucht  des  Nero  zu  zügeln.  De  bene- 
ficiis  über  soziale  Hilfe,  De  vita  beata  zur  Rechtfertigung  seiner  eigenen 
Position,  De  matrimonio  als  Neumotivierung  der  Ehegesetzgebung  des 
Augustus,  De  superstitione  zmn  Zweck  der  Läuterung  des  gottesdienst- 
lichen Rituals.  2)  Besonders  beim  Lesen  der  Schrift  De  beneficiis  muß 
man  sich  klar  halten,  daß  der  mächtigste  Mann  im  Reich  und  Stellvertreter 
des  Kaisers,  auf  dessen  persönliches  Auftreten  alles  sah,  diese  Mahnungen 
und  Ratschläge  über  Wohltun  und  werktätige  Hilfe  ins  Publikum  warf: 
ein  neues  ethisches  Programm,  das  daher  auch  mächtig  eingewirkt  zu 
haben  scheint,  auf  die  Kaiser  selbst,  von  Titus  an,  und  auf  die  humane 
Neugestaltung  des  römischen  Rechts  unter  den  großen  Juristen. 

Wir  könnten  fortfahren:  in  bescheidenen  Grenzen  gilt  auch  vom 
jüngeren  Plinius  dasselbe  Avie  von  Cicero;  und  der  Dichter  CatuU  AAdrd 
für  uns  dadurch  hochinteressant,  daß  Avir  z.  T.  den  Sclileier  seiner  Pseudo- 
nyme zu  lüften  vennögen.  Seine  hübschen  und  sprühenden  kleinen  Sachen 
erhalten  dadurch  Greifbarkeit,  leibhaftiges  Leben. 

So  ist  es,  Aveiter,  für  das  Verständnis  des  Herodot  Avichtig,  daß  Avir 
von  den  Reisen,  die  er  machte,  und  von  seinem  Verhältnis  zu  Athen  doch 
einiges,  AS'enn  auch  nur  Andeutendes  erfahren.  Xenophons  Geschicht- 
schreibung, Avie  sie  vor  allem  in  seinen  Hellenika  vorliegt,  kann  nicht 
richtig  beurteilt  und  als  Quelle  verAvertet  Averden,  AA'enn  man  nicht  Aveiß, 
daß  Xenophon  durch  seinen  Lebensgang  zum  la?ecoviCo)v,  zum  einseitigen 
Spartanerfreund  geworden  Avar.  a^  Arnim  hat  uns  das  Leben  des  Redners 
oder  Sophisten  Dio  A^on  Prusa  aufgehellt;  AAde  erhellt  das  zugleich  die 
Lektüre  seiner  Reden!  Noch  individueller  als  Dio  ist  aber  der  Rhetor 
Aristides  mit  seinen  legol  Xoyoi.  Nur  Aver  sich  den  ßiog,  vor  allem  die 
Krankheitsgeschichte  dieses  Epileptikers  klar  gemacht  hat,  kann  die  eigen- 
artigen „heiligen"  Schriften  und  den  inbiünstigen  Asklepioskultus  dieses 
Mannes  verstehen. 


Seneca 


weitere 
Beispiele 


')  Diese  praktische  Bedeutung  der 
Ciceroschrift  ist  von  Ferrero  gebührend 
hervorgehoben  worden. 


2)  Genaueres  hierüber  s.  Preuß.  Jahr- 
bücher Bd.  144  S.  282  ff.;  Neue  Jahrb.  27 
S.  347  f.  und  596  f. 


gg  Kritik  und  Hermeneutik. 

Homer  Und  HoHier?  Wir  müssen  hervorheben,  daß  auch  für  Homer  selbst 

sich  die  Frage  nach  seiner  Person,  auf  die  sieben  Geburtsstädte  einst  An- 
spruch erhoben,  als  nützlich  erwiesen  hat.  Denn  eben  diese  scharfe 
Fragestellung  hat  hervorragende  Forscher  zu  dem  Ergebnis  geführt,  dem 
man  sich  schwer  entziehen  kann,  daß  die  Person  Homers  nichts  ist  als 
Konstruktion,  eine  Idealfigur,  ein  Sammelbegriff,  hinter  dem  eine  Sänger- 
zunft, resp.  eine  gewisse  Anzahl  von  zünftigen  Dichtern  sich  verbirgt, 
die  den  anfangs  enger  umgrenzten  Erzählungsstoff  der  Ilias  formten,  ilm 
erweiterten  und  durch  Einlagen  und  Anhänge  ausdehnten  und  sinnvoll 
abrundeten  und  die  femer  einen  bestimmten  Stil  der  epischen  Darstellungs- 
weise ausgebildet  hatten,  den  sie  festzuhalten,  zugleich  aber  mannigfach 
zu  bereichern  und  zu  steigern  verstanden.  Man  kann  empfinden,  daß  in 
verschiedenen  Rhapsodien,  wie  in  der  Diomedesaristie  oder  in  der  Toten- 
klage des  Schlußbuches  der  Ilias,  sich  sogar  verschiedene  dichtende  In- 
dividualitäten deutlicher  abheben,  i)  Vor  allem  spricht  aus  der  Odyssee  ein 
anderes  Menschenalter  als  aus  dem  Grundbestand  der  Ilias.  Die  Person 
Homers,  die  diese  Zeitalter  in  sich  barg,  ist  selbst  ein  Gedicht. 

Ich  A^ermisse  da,  avo  man  diese  Fragen  erörtert,  eine  ausreichende 
Behandlung  des  Namens  „Homer",  die  doch  unerläßlich,  ja,  wie  ich  meine, 
für  das  Verständnis  der  Sache  grundlegend  ist.  Denn  alles  andere  mag 
in  der  Homerbiographie  erdichtet  sein ;  der  Name  ist  alt ;  er  ist  der  älteste 
Zeuge  für  den,  der  Ihas  und  Odyssee  gedichtet  haben  soll.  Was  also 
besagt  er?  was  bedeutet  er?  öjn-rjgog  (zu  dgagioxco)  kann  nur  passivische 
Bedeutung  haben  und  nur  „der  Zusammengefügte"  oder  „der  Mitangefügte" 
heißen.  Denn  das  Aktivum  würde  oxytoniert  6jur]oög  lauten  müssen  wie 
vavjirjyög  u.  ähnl.*)  Daher  heißt  öjurjQog  im  gemeinen  Leben  erstlich  die 
Geisel,  weil  sie  vom  Sieger  mitgeschleppt  wird;  daher  heißt  öjH}]gog 
zweitens  der  Blinde;  denn  der  Bhnde  läßt  sich  führen,  naQaxoXov&n;^) 
6 jLLTjQelv  ist  äxoXov^Eiv;^)  der  Bünde  ist  stets  an  seinen  Führer  „angefügt", 
und  zwar  so,  daß  er  zur  Sicherheit  einen  halben  Schritt  hinter  dem  Knaben 
schreitet,  an  dessen  Arm  oder  Gewand  er  sich  festhält.  So  kann  man 
ihn  noch  heute  auf  den  Märkten  im  Süden  sehen,  so  sah  man  ihn  im 
Mittelalter,  so  im  Altertum.  Das  Bild  ist  typisch.  Die  Homerviten,  die 
imter  Herodots  und  Plutarchs  Namen  stehen,  bezeugen  einstimmig  und 
ausdrücklich,  daß  in  jonischer  Sprache  und  speziell  in  Kyme  öjutjgoi  die 
Blinden  hießen;  und  zwar  wird  uns  das  Wort  da  so  im  Plural  gegeben. 
Die  Blinden  traten  also  als  eine  Gruppe  von  Menschen  auf;  und  daß  der 
Verfasser  der  Ilias  und  Odyssee  den  Namen  "Oiu7]gog  deshalb  erliielt,  Aveil 
er  erblindete,    darüber  sind  sich  die  Viten  gleichfalls  einig.  0)     Somit  hat 


')  Vgl.  0.  Crusius,  Sitz.Ber.  d.  bayer. 
Akad.  1905  S.  331  f. 

2)  Vgl.  G.  CüRTiüS,   De   nomine   Ho- 
meri,  Kiel  1855. 

3)  Wie  der  jTtwyög  in  Xenophons  Sytci- 
posion  8,  23. 

4)  Odyssee  ji  468;  Theopomp  frg.  318 


wissen,  wie  Homer,  bevor  er  erblindete, 
geheißen,  und  man  erzählte,  daß  und 
warum  er  MsXrjOLyevi^g  hieß.  Dieser  Name 
ist  Dichtung;  das  verrät  schon  sein  dak- 
tylischer Silbenfall,  der  offenkundig  für 
einen  Hexameter  ersonnen  ist,  z.  B.: 
eilii  MeXrjoiyhrjg  Koid^töog  viog  ojutjgoc. 


Müller.  I    Daß  MsX^otysvrjg  nun  vom  Flußnamen  MeXr^g 

5)  Natürlich   wollte    man    dann   auch    |   gar  nicht   abgeleitet  sein   kann,    ist  klar. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


89 


es  bei  den  Joniem  eine  Gruppe  oder  Zunft  der  Blinden,  i)  ojlhjqoi^  ge- 
geben, ganz  so,  wie  im  deutschen  Mittelalter  „die  Blinden"  eine  Zunft 
oder  doch  einen  bestimmten  Berufsstand  bildeten,  und  zwar  als  Sänger 
auf  den  Märkten.  Im  Titurel  lieißt  es:  „so  singent  uns  die  blinden", 
auch  bei  Hennan  von  Fritschelar  erscheinen  sie  so;  insbesondere  wird 
der  blinde  Friese  Bernlef  als  Sänger  epischer  Lieder  genannt.  Dieselben 
blinden  Berufssänger  aber  treten  uns  auch  bei  den  Serben  entgegen; ''') 
und  das  ist  begreiflich ;  denn  solche  Leute  haben  Zeit  zu  innerer  Samm- 
lung, zeichnen  sich  durch  Gedächtnisschärfe  aus  und  eignen  sich  zum 
Erzähler  vor  allen  anderen.  Daher  ist  nun  auch  Demodokos  im  homerischen 
Epos  ein  blinder  Aöde  und  wird  ebendoii:  vom  thrakischen  Sänger  Tha- 
myris  erzählt,  daß  er  geblendet  wurde.  Kurzum:  die  "Blinden  als  Berufs- 
sänger sind  in  der  einen  Figur  des  Homer  zusammengefaßt;  und  Avenn 
also  der  Verfasser  des  Apollohymnus  v.  172  von  sich  selber  aussagt,  er 
sei  Tvcpkog  ävi]o,  so  wdll  er  sich  damit  ausdrücklich  als  o/AjjQog  bezeichnen, 
tl.  h.  nicht  als  den  „Homer",  aber  als  einen  der  o/a]oo(.'^) 

Man  sieht  aber  die  Konse(|uenzen.  Demodokos  bei  Homer  ist  blind, 
aber  er  trägt  doch  berufsmäßig  seine  Gesänge,  die  dem  Publikum  neu 
sind,  vor;  also  dichtete  man  noch  ohne  Schrift;  diese  Vorstellung  herrscht 
da  unzweifelhaft.  Und  Homer  selbst  heißt  der  Blinde ;  also  hat  er  gleich- 
falls noch  ohne  Buch  gedichtet.  Vor  allem  gilt  dasselbe  auch  noch  vom 
A'erf asser  des  Apollohymnus:  er  w^ar  Tvq)kdg  dvTJg.  Wer  nicht  sehen  kann, 
schreibt  auch  nicht.  Zu  der  nämlichen  Schlußfolgerung  Averden  Avir  auch 
durch  Beobachtungen  des  BucliAvesens  angeleitet.'^) 

Das  Altertum  ist  mit  biographischen  Mitteilungen  sonst  oft  unendlich  Antike 
karg,  und  grade  da,  avo  es  reichlicher  gibt,  haben  AA'ir  oft  Grund,  miß-  ^°«^^p^'*^ 
trauisch  zu  sein.  Besonders  günstig  liegt  die  Sache  bei  einigen  römisclien 
Dichtern,  Terenz,  Horaz,  Vergil,  Persius,  Lucan.  Man  findet  dies  und 
anderes  erfreuliche  biographische  Material  bei  Sueton  ed.  Reif f erscheid, 
A'om  Jahre  1860.  Sehr  viel  mangelhafter  sind  die  Nachrichten  über  die 
römischen  Prosaiker,  AA'ie  Tacitus.  Von  Curtius  Rufus,  A'on  Justin  AA'isseil 
wir  nichts,  kaum  die  Zeit.  Auch  über  den  Grammatiker  und  Dichter 
Terentianus  Maurus  läßt  sich  schlechterdings  nichts  sagen;  seine  Zeit  Avird 
neuerdings  ganz  irrig  ins  2.  Jahrhundert  hinaufgerückt;  Lachmann  hatte 
recht,    der  ihn  dem  3.  Jahrhundert  zuaa^cs.^)     Auch   für  die  griechischen 


aber  den  Alten  genügte  schon  der  An- 
klang an  diesen,  während  Jener  Name  in 
Wirklichkeit  nur  von  /.is/^tv  kommen  kann, 
wozu  er  sich  genau  so  verhcält  wie  Zoyoi- 
yhTjg  zu  omCsiv-  Auch  MsXyoavdgog,  Mekrjoa- 
yöoag,  MeXtjouijicx;  liaben  doch  geAviß  nichts 
mit  dem  Pluß  MsXrjg  zu  tun.  Wollten 
Avir  in  ihm  mit  E.  Maass  (Neue  Jahrbb. 
lUll)  das  Fest  der  MeXt)oia  erkennen,  so 
würde  man  MeXrjoioyevrjg  nach  Analogie  \'on 
iixaioysvTjg  erwarten  und  die  Kürze  des  i, 
'lie  in  der  dritten  Silbe  doch  A'-orzuliegen 
scheint,  wäre  keinesfalls  erklärt. 

')  Vgl.  Chrtst-Schmid,  Geschichte  d. 
griechischen  Litteratur  I  S.  26. 


')  Vgl.  WiLH.  Grimm,  Die  deutsclie 
Heldensage,  3.  Aufl.,   1889,   S.  194  u.  426. 

')  Was  ich  hier  A'ortrago,  war  einst 
der  Inhalt  einer  These  meiner  Doktor- 
schrift A'om  Jahre  1876,  eine  Aufstellung, 
der  damals  Usener  sein  Interesse  schenkte. 

4)  Die  Buchrolle  in  der  Kunst  S.  211 
u.  338.  Ich  Averde  im  ersten  Abschnitt 
des  in  diesem  Bande  von  mir  behandelten 
„Buchwesens"  auf  diese  eben  auch  für  die 
Geschichte  der  Schrift  und  des  Buches 
w'ichtige  Frage  zurückkommen. 

^)  Siehe  jetzt  H.  Eies,  De  Terentiani 
Mauri  aetate,  Marburg  1912. 


90  Kritik  und  Hermeneutik. 

Schriftsteller  der  Kaiserzeit  haben  Avir  oft  nur  versprengte  Notizen  bei 
Suidas.  Wie  gern  wüßten  wir  z.  B.  Genaueres  über  das  Leben  eines 
Lucian  von  Samosata! 

Besonders  eifrig  plaudert  das  griechische  Altertum  über  seine  längst 
gestorbenen  Klassiker,  Sophokles,  Thukjdides,  besonders  Homer.  A.  Wester- 
mann, BioyQOLcpoi  (1845)  hat  über  sie  alles  Wesentliche  zusammen  ab- 
gedruckt. Der  Bios  des  Thukydides  steht  unter  des  Markellinos  Namen, 
der  umfangreichste  Homers  gar  unter  dem  des  Herodot.  Dazu  kommt 
noch  der  reiche  Agon  des  Homer  und  Hesiod,  der  zwar  jung,  aber  einen 
Kerninhalt  von  beträchtlichem  Alter  birgi.  Im  übrigen  fließen  alle  Nach- 
richten und  Schilderungen,  die  wir  da  erhalten,  aus  auffallend  späten 
Quellen.  Die  Zeit  vor  Aristoteles  war  noch  gleichsam  stumm  und  inter- 
essierte sich  nicht  für  die  litterarische  Biographie.  Ganz  ausnahmsAveise 
ist  es  geschehen,  daß  der  Dichter  Ion  in  seinem  Eeisebuch  einmal  über 
seinen  Kollegen  Sopliokles  plauderte.  Daß  wir  jene  feine  Szene,  in  der 
da  Sophokles  bei  einem  Trinkgelage  auftritt,  für  authentisch  halten  dürfen, 
ist  ein  köstlicher  Besitz. 

Das  Meiste,  was  sonst  erzählt  wird,  ist  von  den  Peripatetikern,  die 
sich,  durch  Aristoteles  angeregt,  mit  Litteraturgeschichte  zu  beschäftigen 
begannen  und  den  Mangel  an  positiven  Nachrichten  zu  ersetzen  trach- 
teten, anekdotenhaft  ersonnen,  i)  Daß  das  achte  Buch  des  Thukjdides 
von  Xenophon  oder  von  des  Thukj^dides  Tochter  unfertig  herausgegeben, 
daß  Antiphon  der  Lehrmeister  desselben  Historikers  gewesen,  ist  nichts 
als  Kombination,  die  wir  ablehnen.  Athenäus  weiß,  daß  Euripides  eine 
große  Bibliothek  besaß;  aber  das  hat  man  nur  aus  der  Welt-  und  Weis- 
heitskunde seiner  Tragödien  erschlossen;  wie  sehr  man  dessen  Stücke 
auf  biographisch  Verwendbares  aushorchte,  zeigt  der  neugefundene 
Satvros.^)  Aelian  erzählt,  daß  Sokrates  nur  ins  Theater  ging,  wenn 
Stücke  des  Euripides  gespielt  wurden.  Das  ist  so  nett  erfunden  wie 
die  Fabeln  von  der  Xantliippe  und  der  Bigamie  des  Sokrates.  Ganz 
ebenso  steht  es  dann  aber  auch  mit  der  Figur  des  Aesop,  und  daß 
Chrono-  Sokratcs  äsopisch  gedichtet  haben  soll.  3)  Aber  auch  die  chronologischen 
Ansätze,  die  uns  die  Alten,  insbesondere  Apollodor,  für  ihre  Schrift- 
steller geben,  vornehmlich  Ansätze  synchronistischer  Art,  waren  nicht 
so,  wie  er  sie  darbietet,  überliefert;  sie  beruhen  auf  Schlußfolgerungen, 
die  man  nachträglich  aus  den  Werken  zog;  es  sind  Schlußfolgerungen, 
die  oftmals  das  Richtige  trafen,  aber  sie  unterliegen  unserer  Kritik. 
Nur  die  didaskalischen  Notizen,  d.  h.  Auf  führ  ungsnotizen ,  die  be- 
sonders das  attische  Drama  anbetreffen  und  offiziellen  Archiven  ent- 
stammen, geben  wirklich  chronologische  Sicherheit.'*)  Daher  wissen  wir, 
daß  Aeschylus'  erster  dramatischer  Sieg  Ol.  73,  4  ^  484  v.  Chr.  fällt,  der 
des  Euripides  in  das  Jahr  441  u.  ä.  m.     Derartiges  ist  auch   in  inschrift- 

1)  Einen  gesunden  Stoß  im  Sinne  der  :  Byzant.Litteraturgesch.2S.897;  vgl.HAUS- 
Skepsis  gab  dereinst  v.  Wilamowitz  im  I  rath  bei  Pauly-Wissowa,  EE.^T  S.  ITllff. 
Hermes  XII  S.  326  ff.  i  u.  1734.    Betreffs  Sokrates  s.  Diog.  Laert. 

2)  Oxyrhynch.  Pap.  IX  Nr.  1176.  i  II  42. 

3)  Es  entstand  schließlich  ein  voU-  |  *)  Siehe  E.  Eeisch  bei  Pauly-Wissowa, 
ständiger   Aesoproman ;    s.  Krumbacher,  EE.  V  S.  391. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


91 


liehen    Urkunden    aufbewahrt  ;i)    Avertvolle   Notizen    sind   in   das  Marmor 
Parium  übergegangen.  2) 

Günstig  steht  es  mit  den  wenigen  Nachrichten,  die  wir  über  Plautus 
und  Naevius  besitzen.  Yarro  war  augenscheinHch  in  der  Lage,  für  sein 
Werk  De  poetis  zuverlässige  Berichte  aufzutreiben,  und  die  gegen  sie 
geäußerte  Skepsis  ist  durchaus  unberechtigt.  3)  Ganz  anders  sind  dagegen 
die  Mitteilungen  über  den  Satiriker  Juvenal  beschaffen;  sie  tragen  den  Juvenai 
Stempel  ungeschickter,  ja,  kindischer  Erfindung  an  der  Stirn.  In  drei- 
zehn Fassungen  besitzen  wir  Juvenals  Yita;  die  jüngste,  in  einer  Hand- 
schrift des  15.  Jahrhunderts,  weiß  uns  z.  B.  genau  sein  Geburtsjahr  (55 
n.  Chr.)  und  die  Namen  seiner  Eltern  zu  geben. 4)  Schon  in  den  Viten 
ältester  Fassung  aber  steht  die  bekannte  Fabel  von  Juvenals  Exil.  Erst  im 
4.  Jahrhundert  begann  ein  intensives  Studium  dieses  Dichters.  Damals 
versah  man  ihn  mit  den  Schollen,  die  wir  besitzen;  man  brauchte  dazu 
auch  eine  Yita,  und  man  erfand,  wo  man  nichts  wußte.  Woher,  frug 
man,  Juvenals  Grimm  gegen  Kaiser  Domitian?  Er  muß  unter  dem  Kaiser 
gelitten  haben.  Also  muß  der  Kaiser  ihn  verbannt  haben.  Man  las  ja 
im  Sueton  und  Tacitus,  daß  von  Domitian  so  viele  Philosophen  und 
Dichter  in  derselben  Weise  mißhandelt  worden  Avaren.  Freilich  erwähnt 
Juvenal  selbst  davon  nichts ;  aber  die  über  den  Günstling  Paris  handelnde 
Invektive  in  der  siebten  Satire  v.  90  f.  ließ  sich  für  diese  Erfindung  be- 
nutzen. Diese  wenigen  Zeilen  über  Paris,  so  fingierte  man,  gab  Juvenal 
anfangs  und  vor  dem  Jahr  83  separat  heraus;  und  sie  gaben  dem  Kaiser 
Anlaß  zum  Zorn.  Aber  vor  dem  Jahr  83  dichtete  Juvenal  nachweislich 
noch  gar  nicht;  denn  Martial  kennt  zu  jener  Zeit  den  Juvenal  noch  nicht 
als  Dichter.  Überhaupt  aber  ist  klar,  daß  die  Stelle  YII  90  f.  nur  für 
den  Zusammenhang,  in  dem  sie  steht,  gedichtet  ist.  Dann  sagen  die 
Yiten  noch  genauer,  Juvenal  sei  in  die  ägyptische  Hoasis  oder  zu  den 
Scotti  verbannt  worden;  das  erstere  ist  durch  Satire  XY,  das  letztere 
durch  lY  fin.  angeregt. 0) 

Und  nun  endlich  die  Charaktere  der  großen  Autoren.  Daß  Aeschj-  Charakte- 
lus  eine  herbe  und  trotzige  Natur,  daß  Euripides  ein  Weiberhasser,  der- 
artige Charakteristiken  sind  wiederum  nicht  authentisch,  sondern  im 
ersteren  Fall  einfach  aus  dem  Typus  der  äschyleischen  Tragödien  selbst 
abstrahiert,  im  zweiten  Fall  hämischer  Klatsch,  den  die  Feinde  des  Euri- 
pides in  Athen  aufbrachten,  Aristophanes  voran.  Denn  Euripides  Avar  in 
Wirklichkeit   ein  Yerherrlicher   des  AYeibes.^)     Nur   die  Charakteristiken, 


ristikon 


1)  Siehe  Ad.  Wilhelm,  Urkunden  dra- 
matischer Aufführungen  in  Athen  (Sonder- 
schriften des  österr.  Instit.  Bd.  YI),  Wien 
1906. 

2)  So  auch  jene  Angabe  über  des 
Aeschylus  und  Euripides  ersten  Sieg;  s. 
F.  Jacoby,  Das  Marmor  Parium,  Berlin 
1904. 

^)  Sowie  auch  die  gegen  die  Nach- 
richt von  der  dramatischen  „Satura"  Alt- 
Roms  geäußerten  Zweifel  sich  m.  E.  leicht 
als  hinfällig  erweisen  lassen. 


•*)  Siehe  Dürr,  Das  Leben  Juvenals, 
Ulm  1888. 

^)  Die  Yiten  benutzten  dabei  sogar 
den  Wortlaut  der  Satiren;  Yita  I:  Paris 
poetam  semenstribus  militiolis  emitavit; 
Yita  II:  Paridem  semestrihus  tumentem, 
beides  nach  Satire  \^[I  89:  ille  et  militiae 
multis  largitus  (vulgo  largitur)  lionorem 
se^nenstri  vatum  digitos  circumligat  atiro. 

*)  Siehe  I.  Bruxs,  Yorträge  und  Auf- 
sätze (1905)  S.  155  ff. 


92  Kritik  und  Hermeneutik. 

die  Aristoplianes  nach  des  Euripides  Tod  in  seinen  Fröschen  von  den 
genannten  beiden  großen  Dichtern  entwirft,  sind  für  uns  AvertvolL  Denn 
in  dem  unterweltlichen  Gericht  der  Frösche  wird,  soweit  es  die  starke 
Subjektivität  des  Aristophanes  zuläßt,  Wahrheit  angestrebt,  eine  Würdigung 
versucht,  und  die  platten  Erfindungen  sind  zurückgedrängt. 
Anonyma  Der  ungünstigstc  Fall   ist  endlich,    daß  sogar  der  Name   des  Autors 

unbekannt.  Verschmerzen  läßt  sich  das  immerhin,  wenn  es  sich  z.  B.  um 
Pseudo-Aristoteles  Jicgl  xoajiwv,  um  die  Pseudo-Quintilianischen  Dekla- 
mationen oder  gar  um  Gedichte  der  Anthologia  latina  handelt.  Bedauerns- 
Averter,  daß  für  den  Verfasser  der  Astronomica  der  Name  Manilius  so 
schlecht  bezeugt  ist ;  i)  um  so  weniger  läßt  sich  über  seine  Person  aus- 
machen. Besonders  schlimm  aber  steht  es  mit  der  Schrift  vom  Staat 
der  Athener,  die  fälschlich  unter  Xenophons  Namen  steht:  eine  Tendenz- 
schrift, mitten  aus  dem  ersten  Decennium  des  peloponnesischen  Kriegs 
geschrieben.  Die  Polemik,  die  da  in  vornehmer  Weise  ein  athenischer 
Oligarch  gegen  die  bisher  siegreiche  Demokratie  seiner  Vaterstadt  ausübt, 
würde  für  uns  erst  ganz  verständlich,  wenn  wir  den  Mann  kennten,  der 
mit  solchen  Gedanken  mitten  unter  den  Bürgern  steht.  Auch  die  hoch- 
bedeutende Schrift  über  das  Erhabene,  die  aus  der  Zeit  vor  Nero, 
vielleicht  aus  der  Regierungszeit  des  Tiberius  stammt,  verdiente  es,  daß 
wir  ihren  Verfasser  mit  Namen  nennen  könnten,  und  auch  den  Verfasser 
des  Gedichtes  Aetna,  einer  Versifizierung  der  vulkanistischen  Theorie 
des  Posidonius  von  durchaus  ernsthaft  wissenschaftlicher  Haltung,  aus  der 
Jugendzeit  des  Plinius,  wüßten  wir  gern. 

Ganz  besonders  steht  es  mit  dem  Homerus  latinus,  der  neuerdings 
mit  Silius  Italiens  in  Zusammenhang  gebracht  wurde.  Es  handelt  sich 
um  eine  verkürzte  Ilias  von  etwa  nur  1000  Hexametern  aus  Neros  Zeit. 
Man  hat  da  ein  Akrostichon  entdeckt.  Die  Anfangs-  und  Schlußverse 
des  Werkchens  beginnen  mit  folgenden  Wörtern: 

1  Iram  1063  Sed 

Tristi.a  Calliope 
Atque                                                                                          .      1065  Quam 

Latrantum  lamque 

5  Illorum  Pieridum 

Conficiebat  Sanctaque 

Ex  quo  pertulerant  (oder  Pertulerant  ex  quo)  Ipsa 

Sceptiger  1070  Tuque 
Quis  deus                                                                                                                          , 
10  Latonae 
Infestam 

Das  Akrostichon  ergab  Italice  sqli  und  scqipslt,  was  so  nicht  brauchbar; 
setzt  man  in  v.  7  u.  1065  Verschreibung  an,  so  ließe  sich  zunächst  Itali- 
cus  und  scripsit  herstellen.  Man  hat  das  Akrostichon  aber  auch  dahin  zu 
korrigieren  versucht,  daß  sich  in  v.  1 — 11  Italici  Sili  ergab;  alsdann  sind 
eben  v.  7  u.  9  zu  ändern.     Die   richtige  Evidenz   fehlt   jedoch,  2)   und   an 


Akrosticha 


')  Siehe  E.  Ellis,  Noctes  Manilianae    |   besondere  über  v.  1065  (Sitz.Ber.  d.  bayer. 

S.  217  ff.  I   Akad.  1909  Stück  9  S.  13),  überzeugen  nicht. 

2)   F.  Vollmers   Ausführungen,    ins-   :    Das  Verfahren   ließe  sich   schon  dadurch 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.  93 

Silius  Italiens,    den  Diehter   des  Bellum  Punicum,    läßt   sich   hier  keines- 
falls denken.») 

Günstiger  steht  es  mit  einem  anderen  Akrostichon.  Bei  Müller, 
Geograph,  graeci  min.  I  S.  238  findet  man  eine  'Avay^aq)i]  ^EXlddog  in  jam- 
bischen Memorialversen,  deren  Inhalt  man  früher  auf  Dikaearch  zurück- 
führen wollte.  Lehrs  (Ehein.  Mus.  2  S.  354)  entdeckte  in  ihnen  ein  Akro- 
stichon, das  den  Namen  eines  Atovvoiog  KaXh(pd)VTog  gibt.  Damit  ist  freilich 
wieder  nichts  weiter  als  ein  Name  gewonnen.  Besser  machte  es  Dionysios, 
der  Perieg-et,  der  im  Inneren  seines  Gedichtes  die  zwei  Akrosticha  Aio- 
rroiov  Txbv  evTog  0dQov  und  em  'AÖQiavov  bietet, 2)  Avorin  also  wenigstens 
auch  noch  eine  Ortsanzeige,  ja,  auch  eine  Datierung  gegeben  ist. 

2.  Zeitumstände. 

Mit  der  Kenntnis  seines  Verfassers  ist  ein  Litteraturwerk  für  uns  Zeit- 
zugieich  schon  mehr  oder  weniger  genau  datiert.  Es  folgt  nun  die  Aveitere  '"^^^^'^" 
Pflicht,  sich  die  Zeitumstände,  unter  denen  das  Werk  entstand,  zu  ver- 
deutlichen. Dies  kommt  aber  natürlich  nicht  für  alle  Werke  gleich  in 
Frage.  Für  die  Pflanzengeschichte  des  Dioskurides  oder  des  Theophrast 
scheint  dies  ziemlich  gleichgültig;  ebenso  auch  für  Plinius' Naturgeschichte, 
des  Festus  Lexikon,  rhetorische  Fachschriften  Avie  des  Dionys  oder 
Menander.  So  kommt  es,  daß  man  für  den  Zeitansatz  der  mechanischen 
Schriften  des  Heron  noch  immer  um  Jahrhunderte  auseinandergeht ;  3)  daß 
man  auf  den  Versuch  A^erf allen  konnte,  die  Architectura  des  Vitruv  aus 
des  Augustus  Zeit,  der  sie  angehört,  in  das  3.  bis  4.  Jahrh.  n.  Chr.  hinab- 
zurücken. Es  ist  Gabe  des  Zufalls,  wenn  uns  ein  solches  Werk  aa^o  das 
genannte  des  Theophrast  einmal  genau  datiert  wird,  dadurch,  daß  der  Ver- 
fasser bei  den  Feigen  erwähnt,  es  sei  vor  kurzem  unter  dem  Archon  Niko- 
doros  —  d.  i.  314  y.  Chr.  -—  ein  gutes  Feig-enjahr  gewesen. 

An  Werke  geographisch-topographischen  Inhalts  knüpft  sich  die  Frage,  Autopsie 
ob  die  Verfasser  selbst  gereist  sind  und  die  Stätten,  die  sie  schildern, 
selbst  gesehen  haben;  für  Strabo  ist  der  Sachverhalt  klar,  denn  er  ent- 
schuldigt sich  selbst,  daß  er  so  wenig  Länder  selbst  gesehen;  bei  der  Be- 
schreibung Griechenlands,  die  Pausanias  gibt,  scheint  die  Sache  dagegen 
günstiger  zu  liegen. 4) 

.    Kommen  Avir   zu  aktuelleren  Sachen.     Je    aktueller   ein  SchriftAA^erk,     Demo- 
Gedicht,  Rede  oder  Pamphlet,  je  dringender  Avird  die  Frage  nach  seiner 
Abfassungszeit.     So  gleich  die  Philippika    und  sonstigen  Staatsreden  des 
Demos thenes;    sie    sind   eine   Hauptquelle   für   die   Kenntnis    der   Zeit- 
geschichte der  dunklen  Jahre  351 — 339  v.  Chr.,  die  mit  ihi;er  Hilfe  einst 

ironisieren,    daß    im  Homerus  latinus  die    I  corum    dictionem,    Marburg    1890;    dazu 

Anfangsworte  v.  468 — 471 :  i  Eskuche,  Ehein.  Mus.  45  S.  254. 

Fertur  j  '^)  Siehe  Leue  imPhilologus42S.175f. 

Et  I  ^)  E.  Meier,  De  Heronis  aetate,  Leipz. 

Caelestemque  i  1905    und    dazu   A.  A.  Björxbo   in   Berl. 

Icta  phil.  W.schr.  1907  S.  322  f. 
das  Akrostichon  fcei  ergeben.  Hier  waltet  *)  Siehe  Strabo  p.  117f.  und  B.  Niese, 

Zufall.  !  Ehein.  Mus.  32   S.  267  ff.  und   Hermes  13 

')    Siehe    Altenburg,    Observat.    in   i  S.  42;  zu  Pausanias  zuletzt  EuG. Petersen, 

Italici  Iliadis  latinae  et  Silii  Italici  Puni-   !  Ehein.  Mus.  64  S.  481  ff. 


94  Kritik  und  Hermeneutik. 

Arnold  Schäfer  „Demosthenes  und  seine  Zeit"  gegeben  hat.  Die  Unter- 
suchung wird  aber  dadui^ch  erschwert,  daß  sich  Zweifel  regen,  ob  diese 
Reden  wirklich  so,  wie  sie  vorliegen,  gehalten,  ob  sie  nachträglich  redi- 
giert sind,  und  diese  Fragen  ruhen  nicht,  i) 

Briefe  Ebenso  aktuell  war  die  Briefhtteratur;  denn  jeder  Brief  wird  immer 

aus  dem  Moment  heraus  geschrieben;  daher  das  Bestreben,  für  Ciceros 
Briefe  nicht  nur  das  Jahr,  sondern  Monat  und  Tag  zu  bestimmen,  was 
wiederum  nur  durch  genaue  Vergegenwärtigung  der  Zeitumstände  mög- 
lich ist;  darum  hat  sich  neuerdings  vornehmlich  AV.  Sternkopf  verdient 
gemacht;  2)  um  Plinius'  Briefe  Mommsen  und  Asbach.3) 

Aristo-  Und   nun   die   politische   Poesie,    voran    die    alte   aristophanische 

Komödie:  Augenblickspoesie  größten  Stils,  phantastische  Spiegelungen  der 
Yolksstimmung  in  Athen  zur  Zeit  des  großen  Krieges.  Die  Acharner  fallen 
425  dicht  vor  die  Zeit  der  Einnahme  Sphakterias;  daraus  erklärt  sich, 
daß  sie  noch  Frieden  mit  Sparta  fordern;  die  „Ritter"  sind  nach  diesem 
Waffenerfolge  aufgeführt,  und  sie  reden  deshalb  nicht  mehr  vom  Frieden. 
Der  „Frieden"  selbst  ist  dann  im  März  421  präparativ  für  den  wirklichen 
Friedensschluß.  In  den  „Vögeln"  wird,  im  März  414,  die  Glücksreise  in 
das  Wunderreich  der  Vögel  gemacht;  darin  spiegelt  sich  in  drolliger 
Verzerrung  die  verliängnisvoll  überspannte  Unternehmungslust  der  Athener, 
als  eben  die  tollkühne  Expedition  nach  Sizilien  bevorstand.  Natürlich 
bieten  nun  dieselben  Komödien  uns  überdies  eine  Fülle  unbekannter 
Personalien  und  Zeitanspielungen,  die  aufzuldären  schon  die  antiken 
Schoben  sich  bemühen;  der  Lampenhändler  Hyperbolos  ist  z.  B.  fast  nur 
aus  der  Komödie  bekannt.  Wenn  aber  Aristophanes  gar  in  seinen 
Acharnern  v.  514  ff.  die  Ursachen  des  peloponnesischen  Krieges  in  einer 
Weise  darlegt,  die  einen  Thukydides  ad  absurdum  fülirt,  so  hätte  man 
das  nicht  ernst  nehmen  sollen. 

Pindar  Reicli  au  Personalbezügen  ist  auch  Pin  dar.   Es  handelt  sich  bei  ihm 

besonders  darum,  die  Adressaten  seiner  Enkomien  und  ihre  Zeit  zu  be- 
stimmen; der  Dichter  deutet  überall  nur  an;  auch  hierfür  bieten  die  alten 
Schollen  Hilfe.^^) 

Achthundert  Jahre  später  als  Aristophanes  dichtet  Claudian.  Auch 
Claudian  ist  ein  politischer  Gelegenheitsdichter,  und  er  ist  für  die  Zeit 
Stilichos  und  die  Geschichte  der  Jahre  395 — 404  die  wichtigste  Quelle, 
denn  er  war  das  offiziöse  publizistische  Organ  des  Hofs.  Claudians  Inter- 
pretation ist  also  überall  ein  unmittelbares  Erleben  der  Zeitgeschichte, 
und  die  Zeitgeschichte,  Avie  ich  sie  nach  ihm  gegeben  habe,^)  vertritt 
demgemäß  einen  Kommentar  zu  diesem  Dichter.  Die  Datierung  der 
Sclilachten  bei  PoUentia  und  Verona  (a.  402  und  403),  in  denen  Stilicho  den 


Claudian 


^)  Siehe   z.  B.  C.  Fritsch,    Demosth.  ;  •*)  Auch  ein  Papj^rus,  der  Zeitansätze 

or.  VIII.  IX.  X  quomodo  inter  se  conexae  j  für    Olj^mpiasieger    enthält ;     s.   Egbert, 

sint,  Bremen  1908.  I  Hermes  35  S.  181  ff.  und  Lipsius  in  Ber. 

•')  Quaest.  chronolog.,  Marburg  1884;  i  sächs.  GW.  52  S.  1  ff. 

derselbe,  Progr.  von  Dortmund,   Hermes  j  ^)  Claudianausgabe    S.  XXIV  ff.   und 

Bd.  39  u.  40  und  sonst.  i  XLVII  ff. 


)  Hermes  Bd.  III;  Rhein.  Mus.  36  S.  38  ff. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.  9ö 

Alarich  besiegte,  läßt  sich  nur  durch  scharfe  Interpretation  der  Gedichte 
de  hello  Gothico  und  de  VI  consulatu  Honorii  geAvinnen.  Zeitlos  und 
ohne  chronologische  Indizien  ist  dagegen  Claudians  Epos  vom  „Raub  der 
Proserpina".  Doch  ist  es  mir  gelungen,  auch  dies  AVerk  zu  datieren.  Denn 
sein  Vorwort  richtet  sich  an  einen  Florentinus,  der  uns  aus  Symmachus' 
Briefen  bekannt  ist.  Jenes  Epos  hatte  zimi  Ziel,  den.  Segen  der  Ceres, 
den  Kornbau,  zu  preisen;  Florentinus  aber  hat  in  den  Jahren  395 — 397 
als  Stadtpräfekt  durch  umsichtig  geleitete  Kornzufuhren  von  Rom  die 
Hungersnot  abgewendet.  Im  Jahr  397  verlor  der  Mann  sein  Amt;  vor 
o97  muß  ihm  das  Ceres  werk  gewidmet  sein. 

Der  alten  griechischen  Komödie  entspricht  aber  auf  dem  Gebiete  der  ^^^^^'^ 
römischen  Litteratur  in  Wirklichkeit  vielmehr  die  Satire,  und  das  Vor- 
getragene gilt  also  mutatis  mutandis  auch  von  ihr.  Doch  hat  sich  diese 
Satire  in  ihren  Hauptvertretern  Horaz  und  Persius  vom  politischen  Leben 
abgewandt;  Juvenal  Avagt  nur  die  Zeit  des  Domitian,  die  schon  hinter 
ihm  liegt,  rückblickend  zu  geißeln;  und  so  sind  es  nur  die  Reste  des 
Lucilius,  die  Apotheosis  Senecas  und  Claudians  Satire  in  Entropium,  die 
den  Einfluß  des  großen  öffentlichen  Lebens  verraten  und  eine  eingehende 
historische  Analyse  erfordern.  Nichts  subtiler  und  nichts  interessanter, 
als  aus  den  dürftigen  Zeilenresten  des  Lucilius  die  politischen  Zeitbilder, 
die  er  darbot,  zu  rekonstruieren  wie  die  Erzählung  A^om  Numantinischen 
Krieg.  1)  Besäßen  AA^r  diesen  dreistesten  der  Satiriker  noch,  er  AA'ürde  für 
rms  als  liistorische  Quelle   gcAA^ß    so  ergiebig   sein  können   AAie  Claudian. 

Jedes  Werk  aus  seiner  Zeit  heraus  zu  begreifen:  dieser  Grundsatz  Kleinere 
ist  bei  Werken  geringen  Umf angs  allerdings  mitunter  schAA^er  zu  befolgen, 
und  die  Exegese  nähert  sich  oft  erst  allmählich  der  Lösung  dieser  Auf- 
gabe. Daß  die  Horazode  I  2  lam  satis  terris  gegen  Ende  des  Jahres  28 
A\  Chr.,  unmittelbar  A^or  der  definitiven  Einrichtung  des  kaiserlichen  Prin- 
zipats, abgefaßt  sei,  ergibt  sich  sicher  aus  ihrem  Schlußteil;  Avie  damit 
die  Schilderung  der  TiberüberscliAvemmung  bei  Cäsars  Tod  und  die  Schlacht 
A^on  Philippi  für  den  Dichter  zusammenhängt,  hat,  soviel  ich  sehe,  noch 
niemand  genügend  erklärt.  Das  Enkomion  elg  Ilrolejudiov  des  Theokrit 
(N".  17)  betrachtet  die  Arsinoe,  die  Gemahlin  des  Königs  Ptolemäus  Phila- 
delphos,  noch  als  lebend,  die  nach  AusAv^eis  der  Mendes-Stele  im  Jahre 
271  auf  270  y.  Chr.  gestorben  ist;  auf  den  erfolgreichen  Krieg,  den  der 
König  mit  Syrien  führte  und  für  den  die  Zeit  um  das  Jahr  274  jetzt 
ermittelt  ist,  AAdrd  ferner  von  Theokrit  so,  als  Aväre  er  eben  zu  Ende  ge- 
führt, zurückgeblickt  und  in  v.  86  ff.  seine  Ergebnisse  mitgeteilt.  Daraus 
ergibt  sich  endlich,  nach  langem  Hin-  und  Herforschen,  mit  Sicherheit 
eine   Abfassung   des   Lobgedichtes   zwischen   den   Jahren  273   auf  271.=^) 

Und  Vergils   Äderte   Ecloge?   eins  der   eigenartigsten   Probleme!    das 
Gedicht,    das  den  Heiden   den  Welterlöser  A^erkündet:   suyget  gens  aiirea 


>)  Siehe  Zwei   politische  Satiren  des*  1  ^)  Vgl.  v.  Prott,  Rhein.  Mus.  53  S. 464 

alten  Rom  (1889)  S.  89ff.;  anderes  bei  C.  j  bis  475;  Gerckb  in  Bursians  Jahresber. 
<  'iCHORius,  Untersuchungen  zu  Lucilius,  i  Bd.  124  S.  482.  Wegweisend  war  hierfür 
Berlin  1908;  vgl.  auch  Kappelmacher,  I  Büchelers  Aufsatz  Rhein. Mus. 30  S. 55 ff.: 
Wiener  Studien  31  (1909)  S.  82  ff.  |   dazu  Kopp  ibid.  39  S.  210. 


Dialoge 


90  Kritik  und  Hermeneutik. 

mundo;  nova  progenles  caelo  demitütiir;  cara  deiim  suholes  u.  s.  f.  Wie  soll 
man  das  verstehen?  wie  war  solche  Verkündigang  im  voraugusteischen 
Rom,  im  Jahr  40  v.  Chr.  möglich?  Avie  war  die  Idee  möglich,  daß,  da 
der  Staat  in  Not,  das  Heil  der  Zukunft  an  die  Geburt  eines  Knaben  ge- 
knüpft ist,  der  Himmelsrecht  haben  wird?  Nur  wer  die  religiösen  Stim- 
mungen jener  Zeit,  nur  wer  zugleich  die  Personen,  an  die  sich  die  poli- 
tischen Hoffnungen  damals  knüpften,  genau  kennt,  kann  diese  Frage  zu 
beantworten  und  das  Gedicht  zu  erklären  versuchen.  Diese  Erkläruno- 
ist  schließlich  sehr  trivial.  Man  kann  und  darf  nicht  urteilen,  ohne  die 
nächste  Parallele  heranzuziehen,  die  uns  Martial  VI  3  darbietet.  Das  Ge- 
dicht lautet  mit  deutlichen  Anklängen  an  Yergil: 

Nascere  Dardanio  promissum  nonien  lulo. 

Vera  deum  suboles,  nascere  magne  puer: 
Cui  pater  aeternas  post  saecula  tradat  habenas 

Quique  regas  orbem  cum  seniore  senex. 
Ipsa  tibi  niveo  trabet  aurea  pollice  fila 

Et  totam  Phrixi  luha  nebit  ovem. 

Dies  Gedicht  bezieht  sich  auf  die  Schwangerschaft  der  Kaiserin  Domitia. 
Domitian  erwartete  von  ihr  einen  Sohn,  und  die  Hoffnungen,  die  sich 
an  diesen  Erwarteten  knüpften,  kommen  hier  zum  Ausdruck.  Aber  es 
ist  in  Wirklichkeit  kein  Sohn  geboren  worden,  und  die  Wünsche  des 
Hofdichters  Avaren  vergeblich.  Ganz  ebenso  muß  aucli  Octavian  im  Jahre 
40  V.  Chr.  von  seiner  Gattin  Scribonia  einen  Sohn  und  Erben  erhofft 
haben.  Die  Analogie  des  Martialgedichtes  zwingt  dazu,  dies  anzusetzen. 
Yon  dem  erhofften  Erben  Octavians  sollte,  nach  der  enthusiastischen  Weis- 
sagung Yergils,  d.  h.  gemäß  der  damaligen  Yolksstimmung  in  Rom,  das 
Glück  aller  Zukunft  abhängen.  Es  war  ganz  natürlich,  daß  der  Dichter 
solchen  Stimmungen  Ausdruck  lieh.  Aber  auch  diese  Hoffnung  täuschte. 
Es  wurde  nur  eine  Tochter,  Julia,  geboren.  Scribonia  wurde  von  Octavian 
verstoßen.  Yergils  Weissagung  hat  sich  ebensoAvenig  erfüllt  wie  die 
Martials.i) 

Komplizierter  ist  die  Lösung  der  Aufgabe  der  Datierung,  von  der 
Avir  handeln,  endlich  in  der  Dialoglitteratur;  denn  für  die  Dialoge  ist 
allemal  die  Zeit  ihrer  Abfassung  A^on  der  Zeit,  in  der  die  Szene  des  Dia- 
logs spielt,  sorglich  zu  unterscheiden.  In  Tacitus'  Dialog  De  oratoribus 
ist  die  Szene  anscheinend  in  die  Anfangszeit  der  Regierung  des  Yespasian 
Axrlegt ;  der  Dialog  selbst  kann  aber  sehr  aa^oIiI  erheblich  später  abgefaßt 
sein.  Ciceros  Bücher  De  finibus  entstanden  im  Jahre  45;  ihre  Szene 
spielt  aber  im  Jahre  50,  und  AA'enn  dort  also  der  Philosoph  Siron  als  in 
Eom  auAA'esend  bezeichnet  AA'ird,  so  betrifft  dies  das  Jahr  50,  und  AA'ir 
erkennen,  daß  Yergil,  Sirons  Schüler,  ihn  dort  schon  so  früh  hat  kennen 
lernen  können.  Yor  allem  nun  Plato;  auch  er  datiert  seine  sämtlichen 
Gespräche  pflichtgemäß  zurück,  nämlich  in  die  Zeit,  da  Sokrates  noch 
lebte;    sie  AA^aren   also   nicht   nur   philosophische,    sondern  geAvissermaßen 

*)  Diese  Erklärung  pflege  ich,  seit  ;  um  so  sicherer;  sie  lag  gleichsam  in  der 
ich  Martial  interpretiere,  A'orzutragen.  Ich  j  Luft.  Vgl.  auch  J.  E.  Ohurch  in  Uni- 
freue mich,  daß  auf  sie  auch  andere,  wie  |  versit}^  of  Ne\^ada  studies  Bd.  I  (1908) 
Skutsch,  verfallen  sind,  und  halte  sie  für  |  Nr,  2. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.  97 

auch  historische  Studien;  dabei  aber  laufen  dem  Plato  Versehen  mit  unter, 
imd  wälirend  sein  Symposion  etwa  im  Jahre  401  spielt,  findet  sich  in 
ihm  p.  393  doch  eine  Hindeutung  auf  das  Jahr  385;  wir  verzeihen  ihm 
diese  Nachlässigkeit  gern;  denn  damit  ist  uns  ein  terminus  post  quem  für 
die  Zeit  der  Abfassung  der  herrlichen  Schrift  gegeben.  Nicht  so  gllnstig 
steht  es  mit  Piatos  Protagoras,  dessen  Handlung  ins  Jahr  432  verlegt  ist, 
während  auf  p.  327  eine  Komödie  des  Pherekrates  als  neu  erwähnt  wird, 
die  erst  im  Jahre  420  erschien;  etwas  weiter  hinab,  vielleicht  bis  410 
oder  408  führt  die  Erwähnimg  des  Orthagoras,  des  Lehrers  des  Epami- 
nondas,  auf  p.  318.  Daß  indes  keine  der  Schriften  Piatos  vor  399  an- 
gesetzt werden  darf,  steht  mir  fest.i)  Wann  also,  d.  h.  wie  bald  nach 
399  der  Dialog  Protagoras  selbst  entstand,  veiTät  er  nicht  selbst,  und  es 
kann  nur  aus  anderen  Merkmalen,  die  der  philosophischen  und  sprach- 
lichen Analyse  angehören,  erschlossen  werden. 

3.  Textauslegung. 

Es  folgt  die  eigentliche  Textauslegung  und  Einzelerklärung  litterari- 
scher Werke  von  Zeile  zu  Zeile,  die  die  Fonn  des  sog.  Kommentars  an- 
nimmt; dieser  Kommentar  kann  als  Fußnoten  unter  dem  Text,  er  kann 
zusammenhängend  hinter  dem  Text  abgedruckt  werden.  Je  reicher  er 
ist,  desto  mehr  ist  die  letztere  Anordnung  zu  empfehlen.  Andernfalls 
erleben  wir  es  nur  zu  oft,  daß  oben  auf  der  Seite  nur  eine  einzige  Text- 
zeile wie  ein  melancholisches  Fettauge  auf  der  undurchsichtigen  Suppe 
der  Anmerkungen  schwimmt.  Ich  nenne  keine  Beispiele.  Im  übrigen 
ist  hier  weniger  zu  monieren. 

Denn  daß  es  leichte  und  schwere  Autoren  gibt,  versteht  sich.   Manche       Die 
wie  Xenophon  oder  Lucian  oder  Ovids  Amores  lesen  sich  glatt   und  f ür  g^^^^*^^^^" 


Ver- 


den Geübteren   in  langen  Abschnitten   ohne  jede  Nachhilfe,    andere   sind  sdiiedene 
undurchdringlich  wie  ein  Dornendickicht   und  wollen  es  sein:    ich  denke    rungen; 
z.  B.  an  die  fürchterliche  Alexandra  des  Lykophron,  auch  an  Ovids  Ibis,  überblick 
die  den  Leser   durch   die  Fülle   des  nur  angedeuteten  Stoffs  gradezu  er- 
drücken.    Bei    den  Alten   führte   der   Philosoph  Heraklit    den   Beinamen 
d  oxoTEivog    (Ps.Aristotel.  de   mundo  5;    Cicero   de   divin.  2,  133  u.  sonst); 
es  war  schwer,  ihn  auszulegen. 

Natürlich  ist  aber  auch  bei  den  schwereren  Autoren  nicht  immer  die 
gleiche  Gelehrsamkeit  erforderlich.  Die  sog.  Privataltertümer  kommen  für 
den  in  Frage,  der  etwa  Statins'  Silv^ae,  den  Petron,  den  Herondas,  die 
Adoniazusen  des  Theokrit  traktiert.  In  den  Kreis  der  religiösen  und  gottes- 
dienstlichen Dinge  führt  uns  die  Hymnenlitteratur  (orphische  Hymnen, 
Hymnen  des  Kallimachos),  Aeschylus'  Eumeniden,  Yergils  Aeneis  BuchVI, 
die  Fasti  Ovids  oder  gar  die  Litteratur  des  Hermes  trismegistos  —  man 
lese  Eeitzensteins  Poimandres  —  und  jener  phantastische  Papyrustext, 
den  Dieterich  als  Mithrasliturgie  ausgelegt.  Die  Kenntnis  der  sog.  Staats- 
altertümer  erfordern  politische  Redner  wie  Demosthenes   und  Aeschines, 


>)  Anders  denkt  Const.  Ritter,  Piaton I  (1910)  S.  269  f. 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.     I,  'ö.    3.  Aufi 


98 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Homer  u. 
die  prä- 
histori- 
schen 
Funde 


Kenntnis  der  Jurisprudenz  sowohl  viele  der  Gerichtsreden  Athens  i)  als 
auch  solche  Eeden  Ciceros  Avie  pro  Quinctio  und  pro  Caecina.  Dazu 
dienen  dann  die  Schriften  der  römischen  Juristen  selbst !  Aber  auch  diese 
bedürfen  der  Erklärung.  Als  Kaiser  Justinian  mit  Hilfe  des  Tribonian 
zwischen  den  Jahren  528 — 533  n.  Chr.  das  Recht  neu  kodifizierte,  verbot 
er  doch,  daß  zu  den  Digesten,  Novellen  etc.  Kommentare  geschrieben 
würden  (s.  codex  Justin.  1,  17),  er  gestattete  nur  erläuternde  Paraphrasen 
(egur]vsiai  eig  jiMtog),  und  erst  im  weiteren  IVIittelalter  begannen  in  Italien 
die  „Glossatoren"  ihre  Tätigkeit  zu  den  Institutionen  Justinians,  w^ie  zu 
den  Novellen  (Julian),  wodurch  dann  das  sog.  Corpus  iuris  für  Westeuropa 
erschlossen  worden  ist. 

Wer  den  Arat  oder  des  Manilius  Astronomika  richtig  lesen  will,  tut 
zur  Einführung  gut,  sich  einmal  durch  Bolls  Sphaera  hindurchzuarbeiten.''^) 
Vergils  schönstes  Werk,  die  Georgica,  legt  uns  der  am  besten  aus,  der 
Norditalien  kennt  und  vor  allem  selbst  Landwirtschaft  getrieben  hat :  ein 
kösthcher  Besitz  ist  da  immer  noch  unseres  alten  J.  H.  Voß  echte  Land- 
luft atmender  Kommentar.  Des  Ausonius'  MoseUa  Hest  man  am  besten 
auf  einer  Moselreise.  Nur  ein  Archäologe  kann  uns  den  Pausanias  (vgL 
bes.  Jahn-Michaelis,  Descriptio  arcis  Athenarum),  nur  ein  Archäologe  uns 
die  Kunstgeschichte  in  des  Plinius  letzten  Büchern  (vgl.  H.  Brunn,  Gesch. 
der  gTiechischen  Künstler)  befriedigend  erklären.  Für  Ovids  Fasti  ist  es 
u.  a.  nötig,  über  das  römische  Jahr  und  seine  Einteilung  sich  zu  unter- 
richten.»)  Zur  Einführung  in  desselben  Plinius  Naturgeschichtsbücher 
kann  auch  heute  noch  Urhchs'  Chrestomathia  Pliniana  dienen.  Auf  diesen 
naturwissenschaftlichen  Gebieten  aber  wäre  noch  unendlich  viel  zu  tun. 
Ein  Muster  gab  Sudhaus,  der  der  Erklärung  des  Gedichtes  Aetna  des 
Posidonius  Theorie  vom  Vulkanismus  zugrunde  legte.  Zum  Verständnis 
der  Pseudo-Ovidischen  Halieutica  galt  es,  sämtliche  dort  aufgezälilten  Fisch- 
sorten festzustellen.*)  Für  die  Poliorketika  kommen  die  modernen  Studien 
über  römisches  Geschützwesen  zur  Hilfe.  Für  Galen  und  die  Medizin 
lese  man  Ilbergs  Aufsätze,  u.  s.  f. 

Andere  Schriften  des  Altertums  lassen  sich  als  Memorialbücher  zur 
Litteraturgeschichte  lesen  und  erfordern  dementsprechende  Vorstudien; 
so  Ciceros  Brutus,  das  zweite  Buch  der  Tristien  Ovids,  das  Schriftchen 
des  Dionys  von  Halikarnaß,  das  man  rcbv  äoyaicov  xoioig  betitelt,  und 
Quintilians  Buch  X  cap.  1.  Wertvoll,  wennschon  kurz  gefaßt,  G.  Bern- 
hardys  Kommentar  zum  Suidas,  eine  Fundgrube  für  Litteraturgeschichte. 

Sehr  interessant  hat  sich  in  der  neuesten  Zeit  die  Homererklärung 
entwickelt.  Von  Homer  und  Hesiod  kennen  wir  keine  Zeitgenossen:  sie 
sind   uns   einzige  Quelle   für   ihre  Zeit;    daher   können   sie   auch  nur  aus 


1)  Siehe  Meier  und  Schömanx,  At- 
tischer Prozeß,  ed.  Lipsius  1883  u.  1887; 
danach  J.  H.  Lipsius,  „Das  attische  Eecht 
und  Rechtsverfahren",  Leipz.  1905. 

2)  Auch  Breiters  Kommentar  gibt 
für  Manilius  Hilfe;  für  Arat  sei  auf  E. 
MAASS'großeSammlung^Commentariorum 
in    Aratum    reliquiae"  (Berlin  1898)    ver- 


wiesen. 

3)  VgL  die  Kaiendarien  im  Corpus 
inscr.  lat.  Bd.  I ;  übrigens  H.  Peter,  Aus- 
gabe der  Fasti  Ovids;  Idelers  Chrono- 
logie;   MoMMSENS    römische   Chronologie. 

4)  De  halieuticis  p.  106 ;  dazu  G.  Schmid, 
Phüolog.  Suppl.  XI  S.  253  ff. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.  99 

sich  selbst  erklärt  werden,  und  das  Herbeischaffen  antiquarischen  Materials 
aus  den  späteren  griechischen  Autoren  wäre  vom  Übel;  diesen  Grundsatz 
setzte  schon  Aristarch  durch.  Das  Ergebnis  für  Homer  waren  deshalb 
"\dele  äjiooiai,  für  die  die  Ivoig  sich  nicht  finden  AvoUte.  Plötzliche  Hilfe 
brachten  nach  zwei  Jahrtausenden  Schliemanns  Ausgrabungen  und  was 
auf  sie  folgte,  das  Wiederauferstehen  des  prähomerischen  Zeitalters  und 
der  sog.  ägäischen  Kultur  am  Ende  unseres  19.  Jahrhunderts:  die  Grabungen 
in  Troja,  Tiryns,  Mykenae,  Kreta.  Jetzt  erläutern  Bildwerke  das  alte 
Epos.  Ein  Taubenbecher,  ähnlich  dem  des  Nestor,  hat  sich  gefunden 
(allerdings  nur  zweihenkelig),  der  Helm  aus  Eberzähnen  in  der  Dolonie; 
Lampen  dagegen  nicht,  und  auch  Homer  kennt  noch  keine  Lampen.  Daß 
die  Bilder  auf  dem  Schild  des  Achill  nicht  als  Reliefs,  sondern  als  ein- 
gelegie  Metallarbeit  zu  denken  sind,  das  zeigt  die  mvkenische  Dolchldinge. 
Überhaupt  aber  kennen  wir  jetzt  durch  Anschauung  den  homerischen 
Schild  älteren  Stils  (den  karischen),  der  so  groß  ist,  daß  man  unter  ihm 
Avie  in  einer  Hütte  schläft,  kennen  ferner  jetzt  den  homerischen  Streit- 
wagen und  begreifen,  daß  dieser  Wagen  nur  Transportmittel  für  die 
Könige  war,  die  in  der  Last  der  Waffen  nicht  marschieren  konnten.  Weil 
Ajax  keinen  Streitwagen  hat,  daher  ist  er  nur  defensiv  tätig.  Dies  und 
mehr,  eine  Fülle  des  Anregenden,  findet  man  bei  Eeichel,  Homerische 
Waffen,  2.  Aufl.,  Wien  1901.  Aber  auch  die  Einrichtung  der  Wohnräume 
des  A^orhomerischen  Zeitalters  A'om  Zelt  des  Achill  in  Q  bis  zum  Palast 
des  Odysseus  sind  jetzt  aufgeklärt,  eine  Parataxe  von  Stuben  und  Hallen, 
wie  Tiryns  sie  zeigt;  hierüber  Ferd.  Noack,  Homerische  Paläste,  Leipzig 
1903.     Derselbe:  Ovalhaus  und  Palast  in  Kreta,  Leipzig  1910. i) 

So  steht  es  im  Homer.  Wie  anders  das  Heldenepos  Eoms,  Yergils  ^ergü 
Aeneis!  ein  Spätling,  der  sich  noch  einmal  nach  Troja  verirrt,  Avie 
AA^enn  unser  Jordan  noch  einmal  die  alten  Nibelungen  singt.  Die  Schil- 
derung der  heroischen  Zeit  hat  Yergil  natürlich  nur  durch  Buchlektüre 
gCAA^onnen,  er,  der  mit  Recht  circa  sacra  doctissimus  hieß,  und  auch  nur 
mit  Hilfe  der  nämhchen  Belesenheit  kann  zu  ihm  ein  angemessener  Kom- 
mentar, zu  dem  schon  das  Altertum  selbst  den  Grund  legte,  gCAVonnen 
werden. 

Aber   auch,    um    die   Zuverlässigkeit   der   antiken   Geschichtschreiber      Orts- 
nachzuprüfen,  hat  sich  ein  neues  Hilfsmittel  gefunden.   Was  die  erAvähnten  scMaSlt- 
Ausgrabungen  für  Homer,  das  leistet  die  Bereisung  der  antiken  Schlacht-     ^^^^^^ 
felder,    aa^c  kundige  Gelehrte    sie  heute  ausführen,    für  die  Kontrolle  der 
Schlachtberichte   eines   Diodor,    Caesar,   LiAdus   und   Tacitus.      Denn   daß 
gerade  in  den  stilisierten  Schlachtenschilderungen  dieser  Autoren  Adelfach 
eine  feste  Schablone  herrscht,  also  der  AA^rkliche  Hergang  der  Ereignisse 
A^erwischt  und  verdunkelt  wird,   empfindet  man  leicht.     Es  sei  dafür  be- 
sonders  auf  die  Arbeiten  J.  Kromayers  A^erAviesen:    Antike  Schlachtfelder 
in  Griechenland,    3  Bände,    Berlin  1902 — 12;    dazu  als  Korrektiv  H.  Del- 
brück, Gescliichte  der  Kriegskunst,  Bd.  I,  Berlin  1900,  und  „Die  Schlacht 
bei  Cannä",  Histor.  Zeitschr.  109  S.  481  ff.    Aber  auch  unsere  Ägyptologen 

^)  Auch   sonst   konzentriert   sich  die    i    Das  Floß  der  Odyssee,  sein  Bau  und  sein 
Untersuchung;  ich  zitiere  noch E.  Assmann,    \    phönikischer  Ursprung,  Berlin  1904. 

7* 


100 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Ägyptisch- 
Assyri- 
sches 


Geschil- 
derte Per- 
sönlich- 
keiten 


bei  den 
Historikern 


und  Assyriologen  helfen.  Yon  ihnen  wird  jetzt  Herodot  mit  seinen  Be- 
schreibungen Ägyptens  und  des  Orients  sorgHch  kontroUiert,  und  es  ist 
für  ihn  eine  neue  und  ungemein  lehrreiche  Kommentierung  entstanden,  i) 

Wir  sind  aber  noch  nicht  am  Ende.  Denn  die  alten  Autoren  führen 
uns  nicht  nur  Sachen,  nicht  nur  Zustände  und  Erlebnisse,  sie  führen  uns 
auch  Personen  vor,  und  der  Leser  hat  somit  auch  auf  die  Schilderung 
von  Persönlichkeiten  zu  achten.  Doch  greift  dies  schon  in  das  Gebiet 
der  höheren  Hermeneutik  hinüber.  Es  betrifft  erstlich  Figuren  der  Sage, 
wie  Homer  sie  meisterhaft  liingestellt  hat;  sein  Vorbild  hat  späterhin 
stets  gegolten;  die  Tragödie  hat  den  Figurenschatz  Homers  insbesondere 
durch  Erfindung  von  großen  Frauencharakteren  herrlich  bereichert.  2)  Die 
Untersuchung  betrifft  aber  zweitens  auch  die  Schilderung  historischer 
Personen,  und  für  diese  Fragen  ist  das  Buch  von  Ivo  Bruns,  Das  lit- 
terarische Porträt  der  Griechen  (1896),  wegweisend  geworden. 

Pindar  war  noch  unfähig,  die  Kämpfer  und  Sieger,  die  er  lobt, 
menschlich  zu  charakterisieren.  Diese  Kunst  hebt  mit  der  alten  Komödie 
an;  neben  ihr  her  geht  alsbald  auch  die  Geschichtschreibung,  die  das- 
selbe versucht;  es  folgen  sodann  Plato  und  Xenophon,  deren  feine 
Kunst  sich  wetteifernd  an  der  Figur  des  Sokrates  übt.  Yon  da  über- 
nimmt die  cynische  Satire  diese  Kunst,  die  wir  in  Lucians  Peregrin 
und  Alexandres  goAvaliren;  und  so  geht  sie  zur  Satire  der  Eömei 
weiter:  ich  denke  an  Senecas  Claudiussatire,  Juvenals  Nr.  4,  an  den 
Eutropius  des  Claudian.  Bei  den  Historikern  aber  besteht  eine  zwei- 
fache Methode ,  indem  sie  entweder  wie  Herodot  und  Polyb  die 
Menschen  direkt  oder  aber  wie  Thukydides  und  Tacitus  sie  indirekt 
schildern;  Thukydides  beschreibt  z.  B.  den  Kleon  nicht  selbst,  sondern 
nur  den  Eindruck,  den  er  auf  andere  macht.  Dies  Verfahren  ist  vor- 
sichtiger ;  das  direkte  Verfahren  aber  wurde  von  der  Biographie  adoptiert, 
von  Plutarch  zum  höchsten  ausgebildet,  bis  zum  Lächerlichen  verflacht 
in  den  späten  Kaiserbiographien  mit  ihren  ganz  äußerlichen  Signalements; 
und  diese  nun  traditionell  gewordenen  Steckbrief  artigen  Beschreibungen 
der  Personen  setzten  sich  dann  auch  späterhin  in  den  byzantinischen 
Chroniken,  setzten  sich  auch  im  Roman  vom  trojanischen  Kriege  fort.») 
Ich  gebe  eine  Probe  aus  Daretis  Phrygii  De  excidio  Troiae  liistoria  cap.  12: 
fuerunt  aiitem  (Castor  et  Pollux)  alter  alteri  similis,  capillo  flavo  oculis 
magnis  facie  piira,  hene  figurati  corpore  deducto.  Helenam  similem  Ulis, 
formosam  animi  simplicis  blandam,  cruribiis  optimis,  notam  inter  diio  supercilia 
habentem,  ore  pusillo.  Prlamum  Troianorum  regem  vultu  pulchro,  ^nagniim, 
voce  suavi,  aquiUno  corpore;  und  so  geht  es  weiter:  Aeneam  ruf  um  qua- 
dratum,   facundum   affabilem,    fortem   cum   consilio,  pium  vemistum,    oculis 


»)  Herodotos  1. 1 — III  with  notes,  von 
A.  H.  Sayce,  1883;  Buch  IV— VI  von  B. 
W.  Macan,  1895;  Buch  II  von  Wiede- 
MANN,  1890. 

2)  Vgl.  übrigens  H.  Steinmann,  De 
artis  poeticae  veteris  parte  quae  est  jieqI 
rj&iöv,  Göttingen  1907. 

8)   Vgl.    J.  Fürst,    Die    litterarische 


Porträtmanier  u.  s.  f.,  Leipz.  1903  (Philol.  61). 
Kleine  tiefliegende  Augen  bedeuteten 
einen  Bösewicht;  so  beschaffen  war  auch 
der  Mann,  der  dem  Kaiser  Hadrian  nach 
dem  Leben  stand :  derartiges  nahm  Pole- 
mon  in  seine  Schrift  über  Physiognomik 
auf:  s.  A.  v.  Premerstein  in  Klio,  S.Bei- 
heft, Leipz.  1908. 


11.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        1()1 

lidaribus  et  nigris,  und  ins  Unendliche.  Von  Achill  heißt  es  z.  B.  noch, 
daß  er  capiUo  myrteo;  von  Nestor:  7iaso  obunco  longo.  Derartige  Beschrei- 
bungen waren  gradezu  Anweisungen  für  den  Hersteller  von  Bilderbüchern, 
der  die  Historien  illustrierte,  i) 

Fraglich  ist  nun,  um  vom  Sagenhaften  zur  eigentlichen  Historie  Giaub- 
zurückzukehren,  Avie  ^^el  historische  Glaubwürdigkeit  der  Satire,  die  uns  ^"^"def 
oft  Personenschilderungen  gibt,  zukommt.  Mit  der  Satire  eng  ver-  invektiven 
schwistert  ist  aber  auch  die  Prozeßrede  und  Demegorie  der  Alten,  die 
den  Gegner  um  jeden  Preis  verunglimpft.  In  den  Privatreden  des 
Demosthenes  wird  zu  diesem  Zweck  offenbar  oft  auf  das  gröblichste  ge- 
logen. Wir  werden  solche  Personalien  demnach  mit  annähernd  derselben 
Vorsicht  aufnehmen  müssen  wie  das  Bild,  das  uns  Aristophanes  in  den 
Wolken  von  Sokrates  zeichnet.  Es  sind  Fratzen,  Zerrbilder;  die  Schrift- 
gattung, der  ipöyog  selbst  hat  sie  erzeugt.  Das  ist  sicher.  Aber  sie  fanden 
trotzdem  Glauben.  Die  Wolken  des  Aristophanes  haben  in  Wirklichkeit 
das  Ansehen  des  Sokrates  bei  seinen  Mitbürgern  auf  das  schwerste  ge- 
schädigt. Ebenso  steht  es  z.  B.  auch  mit  dem  Caesar-  und  Mamurraskandal, 
den  uns  Catull  auftischt;  wir  werden  ihn  heute  nicht  wörtlich  für  ernst 
nehmen;  ebenso  vorsichtig  muß  man  dann  aber  auch  beurteilen,  was 
Cicero  voll  Gift  und  Geifer  in  der  zAveiten  Philippica  über  M.  Antonius 
aussagt;  Cicero  hat  diese  Rede  nie  mündlich  zu  halten  gewagt.  Sie  war 
nichts  als  Satire  (weshalb  auch  Juvenal  ihr  Bewunderer  ist),  steht  also 
mit  den  sonstigen  Satiren  auf  gleichem  Niveau  und  kann  also  auch  nicht 
mehr  Glauben  für  sich  beanspruchen  als  jedes  andere  Pamphlet  gleichen 
Kalibers.  Das  Andenken  des  Antonius  ist  litterarisch  benachteiligt  wie 
das   kaum  eines  anderen  Römers. 

Besondere  Achtsamkeit  ist  endlich  da  geboten,  wo  sich  die  Vermutung  Pseudo- 
auf  drängt,  daß  die  eingeführten  Personen  eine  allegorisch -symbolische  ^^^^ 
Auslegung  verlangen.  Dafür  ist  der  sonderbare  Gottesmann  und  Schnell- 
läufer Amphitheos,  Aristoph.  Acharn.  47  ff.,  ein  hübsches  Beispiel,  unter 
dem  sich  durchsichtig  genug  Hermogenes,  des  Kallias  Bruder,  verbirgt.  2) 
Also  ein  Pseudonym.  Eine  weitgehende  Allegorie  dieser  Art  wird  für 
des  Kratinos  Dionysalexandros  vermutet,  s)  Das  schönste  Beispiel  aber 
für  diesen  litterarischen  Mummenschanz  sind  die  Thalysia  Theokrits  (Id.VH), 
wo  unter  den  Namen  von  Hirten  und  Wanderern  sich  Hauptgrößen 
der  alexandrini sehen  Dichtkunst  zusammenfinden,  begrüßen  und  Kompli- 
mente sagen:  ein  wertvoller  Einblick  in  das  litterarische  Treiben  jener 
für  uns  so  arg  verhüllten  Zeit. 

Daß  auch  an  andere  Theokrits tücke,  daß  auch  an  die  Hirtengedichte 
Vergils  die  gleichen  Vennutungen  herangetragen  worden  sind,  ist  bekannt. 
Doch  ist  hier  Zurückhaltung  geboten.  Nur  in  Ecl.  9  und  5  versteckt  sich 
unter  Menalcas  sicher  Vergil ;  dies  hat  der  Dichter  selbst  deutlich  gemacht. 
Im  übrigen  wäre  noch  am  glaublichsten,  daß  Vergil  unter  dem  sterbenden 


^)  Vgl.  Krumbacher,  Gesch.  d.  byzan-  \   phanes   und   die  historische  Kritik,    1873, 

tinischen  Litteratur*  S.  220;  Die  Buchrolle  S.  697  f. 

in  der  Kunst  S.  307  f.  ^)  G.  Thieme,  Quaest.  comic.  ad  Peri- 

2)  Siehe  H.  Müller-StrCbtng,  Aristo-  |    dem  pertinent.,  Leipz.  1908. 


102  Kritik  und  Hermeneutik. 

und  zum  Gott  erhobenen  Daplinis  in  Ecl.  5  wirkKch,  wie  das  Altertum 
es  behauptet,  die  Apotheose  Caesars  gegeben  habe.  Uns  mag  solches 
Yersteckenspielen  sehr  unpoetisch,  ja  albern  erscheinen;  aber  wir  müssen 
bedenlvcn,  daß  seit  Homer  der  Monarch  als  „Hirte"  der  Völker  galt  und 
daß  es  eben  Hirten  sind,  die  bei  Yergil  singen.  Für  sie  Avar  auch  Caesar 
Hirt,  und  Daphnis  konnte  wirklich  das  Sinnbild  seiner  Vergöttlichung  sein. 
Wenn  Ser\äus  oder  seine  Quellen  dagegen  in  dem  alten  Tityrus  Ecl.  1  den 
jungen  Vergil  und  gar  daselbst  1, 29  unter  der  verlassenen  Galatea  die  Stadt 
Mantua,  unter  Amaryllis  Rom,  wenn  er  2, 1  unter  Corydon  Vergil,  unter 
Alexis  Octavian  erkannte  u.  a.  m.,  so  staunen  wir  und  zucken  die  Achseln, 
inter-  Zuiu  Schluß  soieu   noch  einige  Ratschläge    für   den  Interpreten  hin- 

^on^TO-"  zugefügt,  die  ziemlich  selbstverständlich  erscheinen,  doch  aber,  wo  bei 
verser  (Jer  Einzelauslcgung  sich  ScliAvierigkeiten  ergeben,  mitunter  nur  zu  leicht 
vernachlässigt  werden.  Das  Vorbild  eines  geistvollen  und  feinfühligen 
Interpreten  war  besonders  Bücheler^in  seinen  Programmen  und  verstreuten 
Aufsätzen  (bes.  im  Rheinischen  Museum);  Muster  der  Sorgfalt  gab  Joh. 
Valen  in  seinen  Opuscula  academica.  Unser  Hauptgrundsatz  muß  sein, 
daß  wir  jede  Stelle  natürlich  und  schlicht  erklären  und  dem  Sprach- 
gebrauch gemäß  von  der  nächsten  Woi-tbedeutung  ausgehen.     Wie  viele 

Horaz  Od.  Kontrovcrscn  hat  nicht  der  Horazvers  Od.  4,  8,  17 
'  '  Non  incendia  Carthaginis  inpiae 

hervorgerufen!  Denn  dort  ist  anscheinend  vom  älteren  Scipio  die  Rede, 
der  doch  aber  Karthago  nicht  verbrannt  hat.  Man  hat  sich  also  dahin 
geflüchtet,  incendia  auf  die  Verbrennung  der  kaithagischen  Flotte  zu  be- 
ziehen. Allein  dies  ist  Künstelei  und  ist  ganz  unmöglich;  der  Genetiv 
navium  Aväre  nicht  zu  entbehren.  Man  muß  also  den  Vers  entweder  als 
unecht  tilgen  oder  nach  einer  anderen  Auskunft  für  ihn  suchen. 

Horaz  Od.  Horaz  teilt  in  der  Ode  II,  1  mit,  daß  Asinius  Pollio  ein  Geschichtswerk 

über  den  zweiten  Büi'gerkrieg  auszuarbeiten  im  Begriff  ist,  und  schreibt  v.  21 : 

Audire  magnos  iam  videor  duces. 
Er  glaubt  die  großen  Feldherrn  Caesar  und  Pompeius  schon  zu  hören? 
Nicht  „zu  hören",  sondern  „zu  sehen"  müßte  es  heißen;  daher  Bentley 
und  schon  andere  vor  Bentlej'  vldere  statt  audire  forderten,  was  aber  doch 
schon  metrisch  anstößig  wäre.  Hanow  AvoUte  gar:  anüre  magnos  iam  video 
duces •  Aber  diese  Gelehrten  bedachten  nicht,  daß  alles  Lesen  und  so  auch 
das  Lesen  von  Geschichtsbüchern  im  Altertum  durch  den  Lesediener  und, 
Avenn  er  felilte,  doch  auf  alle  FäUe  laut  geschah.  Keine  Stelle  ist  zur  Ver- 
anschaulichung dieser  Tatsache  so  instruktiv  wie  eben  die  vorhegende,  i) 

Horaz  Od.  \^  cinor  allbekannten  Stelle  der  Oden,  1,  12,  45,  heißt  es  ferner: 

crescit  occulto  veliit  arbor  aevo 
fama  Marceni(s). 
Hier  grassierte  eine  Zeitlang  die  Konjektur  arvo  für  aevo.    Kießling  ver- 
stand occulto  aevo  als  nähere  Bestimmung  zu  arhor:  also  ein  Baum,  dessen 
Zukunft  noch  verhüllt  ist.    In  Wirklichkeit  aber  ist  dies  occulto  aevo  Zeit- 
bestimmung zu  crescit  \  der  Marcellerruhm  Avächst  (Avie  der  Baum)  in  einer 

^)  Ueber  das  Vorlesen  s.  „Die  Buch-  '  dvayiwonjg  ibid.  S.  171  f. 
rolle  in  der  Kunst"  S.  146  ff.,   durch  den  | 


2, 1, 21 


1, 12, 45 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        103 

Zeitdauer,  die  zugleich  der  Yergangenlieit  und  Zukunft  angehört  und  die 
deslialb  unbestimmbar  ist.  Diese  Interpretation  ist  die  des  Altertums;  denn 
der  Kirchenschriftsteller  Eufinus  sagt  in  seiner  Apologie  (Bd.  21  S.  581  M.) 
vom  heranwachsenden  Knaben:  parviilus  crescit  et  occulto  aevo  in  petfectam 
adolescit  aetatem\  eine  deutliche  Reminiszenz;  auch  hier  gehört  das  occulto 
aevo  zumYerbum.i)   Und  mit  dem  aevo  Od,  2,  2,  5  steht  es  nicht  anders. 

In  Tacitus  Dialop-  wird  c.  17  auf  die  römischen  Kaiser,  die  bisher  Tadt.Diai. 
regiert  haben,  zurückgebHckt  und  hinzugefügt:  ac  sextam  tarn  felicis  huius 
pr'inäpatus  stationem  qua  Vespasianus  rempuhlicam  fovet.  Man  hat  danach 
die  Zeit  des  Gespräches,  das  Tacitus  schildert,  genau  ins  sechste  Jahr 
der  Regierung  Vespasians  (sextam  stationem)  datieren  zu  können  geglaubt. 
Aber  man  hat  dabei  nicht  die  Wortbedeutung  von  statio  erwogen:  statio 
heißt  nie  „Jahr".  Steiner  hat  2)  längst  richtig  gesehen,  daß  das  Wort 
nur  die  Regierung  selbst  bezeichnen  kann;  statio  heißt  in  Wirklichkeit 
imperkim;  dies  lehrt  Lucan  1,45;  Plin.  panegyr.  7  u.  86;  3)  und  Vespasians 
Regierung  war  in  der  Tat  (wenn  wir  vom  Interregnum  des  Dreikaiser- 
jahrs absehen)  die  sechste.  Das  Jahr  des  Gesprächs  selbst  wird  uns  dem- 
nach hier  von  Tacitus  nicht  genauer  mitgeteilt. 

Cicero  schreibt  an  seinen  Verleger  Atticus  XIII  12,2:  Ligarianam  cic.  ad  Att 
praeclare  vendidisti:  posthac  quid  quid  scripsero,  tibi  praeconium  de  f er  am,  '  "' 
Avas  jeder  zunächst  dahin  verstehen  wird,  daß  Atticus  Ciceros  Rede  pro 
Ligario  außerordentlich  gut  verkauft,  in  vielen  Exemplaren  abgesetzt  hat 
und  daß  ihm  nun  Cicero  deshalb  den  Verlag  seiner  künftigen  Schriften 
dauernd  überträgt.  Nach  L.  Hänny  dagegen  „Schriftsteller  und  Buch- 
händler in  Rom",  1884,  S.  53,  soll  vendere  hier  bildlich  gemeint  sein  und 
„empfehlen"  (venditare)  bedeuten,  wofür  nur  Horaz  Epist.  2,  1,  75  an- 
gezogen Avird,  eine  durchaus  unstatthafte  Annahme.  Denn  es  fehlt  erstlich 
jedes  Anzeichen  dafür,  daß  Cicero  an  jener  Stelle  tropisch  reden  wiU;  die 
obigen  Worte  stehen  in  dem  Brief  als  ganz  einfache  geschäftliche  Mit- 
teilung hingeworfen  ohne  jeden  weiteren  Zusatz  oder  auch  vorbereitende 
Worte,  die  eine  bildhche  Auslegung  erleichtern  würden.  Dazu  kommt 
nun  noch,  daß  vendere  in  diesem  übertragenen  Sinn  im  ganzen  Cicero 
sonst  nirgends  vorkommt.  Es  ist  also  ausgeschlossen,  das  Wort  anders 
als  ,, verkaufen"  zu  übersetzen.  Und  dazu  stimmt  praeconium;  denn  da- 
mit ist  die  Tätigkeit  des  Marktschreiers,  praeco,  bezeichnet,  d.  i.  des  Handels- 
helfers,  der  berufsmäßig  bei  Auktionen  und  öffentlichen  Verkäufen  assi- 
stierte; und  das  Adverb  praeclare,  das  Cicero  zu  vendidisti  hinzusetzt,  ist 
ebenfalls  ein  Ausdruck  der  Handelssprache;  denn  ganz  so  lesen  wir  Cic. 
pro  Rose.  com.  34:  praeclare  negotium  gessit  Boscius:  fundum  fructuosissi- 
mum  abstulit.  Die  obige  Stelle  kommt  also  dauernd  für  denjenigen  in 
Betracht,  der  untersucht,  ob  die  Autoren  im  Altertum  am  Verkauf  ihrer 
Schriften  selbst  mitinteressiert  waren.*) 

')  Hieraul"  ist  von  Weymann  mit  Eecht  !  ^)  Progr.  von   Kreuznach  1863   S.  17. 

hingewiesen   worden:    Compte    rendu  du  |  ^)  Auch    Sx^artian,    Helius  1,  1;    irrig 

quatrieme  congres  scientifique  internatio-  Gudeman,  Borl.  philolAV.schr.  1909  S.  1038; 

nal  des  catholiques,  Fribourg  (Suisse)  1898  I  Neue  Jahrb.  15  S.  661. 

S.o.  I  4)  Wenn  wir   ad  Att.  12,  19,  2  lesen: 


104  Kritik  und  Hermeneutik. 

juvenai  Staunen  erweckt,    Avas  wir   beim  Juvenal  7,  130    über  den  Tongilius 

lesen:  magno  cum  rhinocerote  lavari  \  qui  solet  et  vexat  lutulenta  halnea 
turha.  Der  Mann  geht,  um  Aufsehen  zu  erregen,  mit  einem  gezähmten 
Rhinozeros  ins  öffentliche  Bad.  Man  hat  das  durchaus  nicht  glauben 
wollen,  und  es  herrscht  hier,  soviel  ich  sehe,  die  Auslegung:  cum  rhino- 
cerote bedeute  „mit  einem  Salbgefäß,  das  aus  dem  Rhinozeroshorn  her- 
gestellt sei"  (vgi.Martial  14, 52f.).  Dem  widersprach  aber  schon  Bücheier 
dereinst  in  seinen  Seminarübungen.  Denn  diese  Erklärung  ist  nicht  nur 
künsthch,  sie  wird  auch  der  Präposition  cimi  nicht  gerecht,  die  keines- 
wegs das  Werkzeug  einführen  kann,  sondern  nur  den  Begleiter;  lavor 
cum  servo  kann  z.  B.  nicht  heißen:  „ich  bade  mit  Hilfe  des  Dieners", 
sondern  nur:  „in  seiner  Gesellschaft".  Außerdem  aber  steht  lutulenta 
turha  im  Text;  dies  auf  die  Dienerschaft,  die  den  Tongilius  umgibt,  zu 
deuten,  hat  wieder  gar  keine  Wahrscheinlichkeit;  denn  wie  kann  die 
Dienerschaft  eines  vornehm  auftretenden  Mannes  von  Schmutz  bedeckt 
sein  {lutulenta)!  Das  Tier  ist  es,  was  den  Kot  macht,  ob  wir  nun  turha 
mit  „Aufruhr"  oder  mit  „Schar"  übersetzen;  letzteres  würde  besagen, 
daß  der  Mann  noch  mehr  Bestien  mit  sich  schleppt.  Zur  Veranschau- 
lichung der  abenteuerlichen  Tierliebhaberei  der  römischen  Kaiserzeit  (man 
denke  auch  an  die  Rhinozerosse  und  Hippopotami  des  Kaisers  Elagabal, 
Lampridius  c.  28)  kann  also  diese  Juvenalstelle  mit  Recht  benutzt  werden,  i) 

Toren/,  Y\xY  die  Freimdscliaft  des  Naevius  und  Plautus  und  für  das  altrömische 

Enn.  25 

Theaterwesen  ist  nichts  so  lehrreich  wie  der  Vers  des  Terenz,  Eun.  prol.  25 : 

Colacem  esse  Naevi  et  Plauti  veterem  fabulam. 
Hieraus  hat  man  allgemein  entnommen,  daß  sowohl  Naevius  als  Plautus 
ein  Lustspiel  Colax  gleichen  Titels  geschrieben  haben,  was  schon  an  sich 
höchst  befremdlich  ist  imd  überdies  deshalb  Anstoß  gibt,  weil  Plautus 
sonst  griechische  Titel  für  seine  Dramen  nicht  zu  wählen  pflegte.  Nein! 
Das  ist  ungenau  interpretiert.  Terenz  bezeugt  uns  hier,  der  Colax  sei 
ein  altes  Stück  des  Naevius  und  des  Plautus,  d.  h.  beide  waren  die  gemein- 
samen Verfasser  des  einen  Stücks.  Sonst  müßten  Avir  eben  lesen  Colaces 
veteres  fabulas  oder  aber  einfach  et  Naevi  et  Plauti.  Das  ist  ßehr  klar,  und 
ebenso  klar  ist  das  Folgende.  Im  Colax  des  Vorbildes  Menander  kamen  ein 
Parasit  und  ein  Miles  vor  (ib.  v.  30  f.);  die  nämlichen  beiden  Rollen  enthielt 
aber  auch  der  Colax  Naevi  et  Plauti  (v.  26).  Diese  Tatsache  führt  auf  dasselbe : 
der  Colax  der  beiden  kann  nur  ein  Stück  gewesen  sein. 2)  Man  wundre 
sich   über   solches   Zusammendichten   im   Stil   der   Moser   und   Schönthan 


Ligarimuim,  ut  vUleo,  praelare  aiwtoritas  tua  !  ad  Att.  12,  20,  2:  est  enim  pervolgata :  trotz- 
commendamt,  so  heißt  das,  daß  Atticus  1  dem  hatte  Atticus  noch  Exemplare  genug 
die  Eede  dadurch,    daß   er   sie    in  seinen    '    auf  Vorrat,    um    eine    nachträgliche   Kor- 


Verlag  nahm,  auch  beim  vornehmen  Publi- 
kum Eoms  durch  seine  Autorität  oder 
durch    das    Ansehen,    das    er    in    diesen 


rektur  im  Text  vorzunehmen :  ib.  12, 44, 8. 
^)  Kulturgeschichte  Roms  S.  86. 
2)  Der    Gnatho    in    Terenz'    Eunuch 


Dingen  genoß,  empfahl.    Bei  commendavit  sollte,    beiläufig,   nach   Menanders  Kolax 

fehlt  wohlgemerkt    der   Dativ:    damit   ist  gedichtet  sein;    die  Reste  des  Menander- 

angezeigt,  daß  die  Rede  von  Atticus  nur  1  Stückes  aber,    Oxj^rhynch.  Pap.  III  Nr.  17 

ins  Allgemeine  und  nicht  etwa  bestimmten  \  bis  26,  bestätigen*^das  nicht;  vgl.  H.  Siess, 

Personen  empfohlen  wurde.  Daß  sie  schon  !  Wiener  Stud.  29  (1907)  S.  89. 

in  vielen  Exemplaren  verbreitet  war,  sagt  | 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        105 

nicht;   dasselbe   ist  uns  auch  von  attischen  Komikern  bekannt,  und  auch 
an  Terenz'  Stücken  sollten  ja  andre  mitgeschrieben  haben,  i) 

Streitpunkt    ist,    ob    Terenz    im    Heautontimorumenos    seine  Vorlage     Terenz 
einfach   übersetzt    hat   oder   ob    er   mehrere  Vorlagen   zusammenarbeitete, 
kontaminierte.     Die   Entscheidung   hierüber   hängt    vom  Verständnis    der 
Prolog^^erse  4  f.  ab : 

Ex  Integra  Graeca  integram  comoediam 
5  hodie  sum  actunis  Heauton  timorumenon, 

duplex  quae  ex  argumento  facta  est  simplici.'*) 
Diejenigen,  die  auf  Grund  des  v.  6  an  eine  Kontamination  glauben,  er- 
klären integra  im  y.  4  als  „noch  von  keinem  andern  benutzt,  unberührt". 
Das  geht  jedocli  nicht  an.  Denn  in  Wirklichkeit  ist  integer  grade  der 
speziellste  Gegensatz  zu  contajnlnatus ;  dies  lehrt  die  wichtige  Stelle  Ciceros 
Top.  18:  ut  ayiteponantur  integra  contaminatis.  Was  integrum  ist,  ist  also 
nicht  contaminatum.  Demnach  handelt  es  sich  bei  Terenz  um  ein  Stück, 
(las  durch  keine  fremden  Zutaten  beschmutzt  ist;  3)  ein  solches  will  er  jetzt 
aufführen.  Hieraus  folgt  dann  weiter,  daß  wir  den  v.  6  ganz  anders,  als 
die  meisten  es  tun,  deuten  müssen.  Es  handelt  sich  um  die  Bedeutung 
von  duplex.  In  der  Tat  heißt  duplex  ja  nie  soviel  wie  mixtus,  difieQii)g 
oder  hifariam  compositus;  es  heißt  nur  das,  was  gradezu  doppelt  ist,  eine 
Bezeichnung,  die  auf  solche  kontaminierten  Stücke  wie  die  Andria  des 
Terenz  doch  keinesAvegs  passen  würde.  Schon  die  Schollen  im  cod.  Bem- 
binus  verstehen  duplex  richtig  als  graeca  et  latina;  Terenz  sagt:  aus  einem 
Stück  sind  jetzt  zwei  geworden,  nämlich  die  griechische  Vorlage  und  die 
lateinische  Übertragung;  das  argumentum  selber  ist  zwar  simplex,  ein 
einziges,  geblieben,  aus  ihm  sind  aber  nun  duae  fahulae  sive  fahula  duplex 
geworden.  Das  Terenzstück  ist  ein  Duplikat.*)  Man  Avertete  im  Altertum 
auch  eine  vollendet  gute  Übersetzung  als  eine  selbständige  dichterische 
Leistung. 5)     Das  Menanderstück  existierte  nun  also  zweimal. 

Dringend  zu  Avünschen  ist  es  auch,  daß  man  sich  über  die  Einleitungs-  Apuiej. 
Worte  der  Metamorphosen  des  Apuleius  einigt,  avo  der  Verfasser  seine  "^"  '  ' 
„bunten  Geschichten"  als  Spielart  Milesischer  NoA^ellen  hinstellt,  II:  At 
ego  tibi  sermone  isto  Milesio  varias  fahulas  conseram.  Was  neuerdings 
R.  Reitzenstein  „Das  Märchen  von  Amor  und  PsA^che"  S.  52  hierüber  sagt, 
befriedigt  noch  nicht,  da  er  sich  mit  der  Auskunft  begnügt,  sermone  heiße 
liier  „Plauderton"  und  der  „mündliche  Stil"  (?)  der  Milesia  Averde  damit 
angedeutet.  Apuleius  redet  hier,  Avenn  man  mit  römischem  Ohr  zuhört, 
A'iel  deutlicher.  Zunächst  ist  die  etymologische  Figur  sermone  conserere 
augenfällig,  und  wir  treffen  sie  auch  sonst  häufig  an:  sermonem  serere 
sagt  Plautus,  sermone  serere  aliquid  verbinden  Vergil  und  LiA^ius.  Speziell 
aber  hat  Apuleius  den  Anklang  an  Vergils  multa  inter  sese  vario  sermone 
serebant,  Aen.  6, 160  gesucht.     Hier   vertritt  bei  Vergil   mit  dichterischer 

')  Vgl.  meine    Römische    Litteratur-  •*)  Die  Einheitlichkeit   der  Handlung 

geschichte,  2.  Aufl.,  S.  38.  ist  dargelegt  von  O.  Köhler,    De  Heau- 

2)  Die  Variante  duplici  im  cod.  Bern-      tontimorumeni  Terentianae  compositione, 

hinus  zerstört  das  Versmaß.  j   Leipz.  1908. 

5)    eontaminare    ist    „mischen" ;    denn  j  ^)  Vgl.  Stemplinger,  Das  Plagiat  etc. 

alles  Mischen  galt  als  cornimpere,  (fSsigeiv;  '    S.  210  f. 

vgl.  ().  Jahn,  Persius  S.  136.  | 


106  Kritik  und  Hermeneutik. 

ümbiegung  das  vario  ein  varia,  und  der  Sinn  ist:  multa  et  varia  inter  se 
sermone  serebant.  Das  Wort  sermo  aber  heißt  hier  „Gespräch",  und  das 
ist  das  Wichtigste.  Denn  ebenso  steht  es  bei  Apuleius;  das  erhärtet 
schon  das  Präfix  con  in  conseram.  Denn  wir  haben  Servius  zu  Aen.  4,  277 
zu  vergleichen,  der  uns  lehrt:  sermo  est  consertio  et  confabulatio  duorum 
vel  plurium.  Hier  steht  somit  das  Substantiv  consertio,  das  dem  conseram 
des  Apuleius  entspricht;  ebenso  braucht  auch  Curtius  Rufus  8,  12,  9  das 
conserere  sermonem.  Also  sagt  Apuleius,  genau  genommen,  folgendes: 
„ich  werde  bunte  Geschichten  in  Gesprächsform  vortragen  lassen  {con- 
seram) und  ZAvar  in  Milesischer  Gesprächsform  {sermone  Milesio,  das  ist: 
confahulatione  Milesiay^:  wozu  der  Inhalt  seines  Abenteuerromans  vor- 
trefflich stimmt.  Denn  er  ist  Icherzählung,  also  Gespräch.  Alle  Ich- 
erzählung ist  sermo.  Und  dazu  kommen  die  vielfacli  eingeführten  Per- 
sonen, die  auch  ihrerseits  Geschichten  erzählen. 

ovid.  Trist.  Dieselben  Milesia  des  Aristides  betrifft  eine  Ovidstelle,  und  auch  sie 

"'    '      Avird,  soviel  ich  sehe,  allgemein  falsch  übersetzt,  Trist.  2,  413 : 

lunxit  Aristides  Milesia  crimina  secum, 
Pulsus  Aristides  ncc  tarnen  urbe  siiast. 
Hier  haben  soAvohl  Lucas  wie  Reitzenstein  (a.  a.  0.  S.  63)  das  secum  in  dem 
Sinne  von  „unter  sich"  verstanden.  Aristides  stellte  also  die  crimina  seiner 
Stadt  Milet  zusammen!  Das  ist  aber,  wenn  ich  nicht  irre,  kein  Latein;  i) 
man  sagt  absolut  nie  iangere  legiones  secum  u.  a.  für  inter  se.  secum  kann 
nur  auf  das  Subjekt  des  Satzes,  also  auf  Aristides  selbst  Bezug  haben, 
und  der  Sinn  ist  demnach  zweifellos:  Aristides  vereinigte,  verknüpfte  die 
Milesischen  Schändlichkeiten  mit  seiner  eigenen  Person;  er  machte  sie  zu 
Icherzählungen,  secmn  iunxit  ist  =  sibi  iimxit.  Die  Konstruktion  ist  keine 
andere  als  bei  Cicero  divin.  2,  149  imd  Plin.  epist.  10,  11  {iungere  cum). 
Ovid  sagt  Metam.  8,  29  iuncta  cum  viribus  ars;  Cicero,  de  fato  36  causa 
cum  exitu  iunctior,  u.  ä.  m.  Außerdem  wolle  man  Lucan  2,  94  Lihycas 
sibi  coUigit  iras  vergleichen,  wo  das  Commentum  Bernense  erklärt :  Romanis 
scilicet  coUegit  inimicos  secum  Äfros.     Dies  secum  ist  deutlich. 

Ovid.  Trist.  Schwierip:er  ist,  was  Ovid  in   den  Tristien  2,  443    über  Sisenna,   den 

Übersetzer  desselben  Aristides,  aussagt: 

Vertit  Aristidem  Sisenna  nee  obfuit  illi 
historiae  turpis  insemisse  iocos. 
Hier  fragt  es  sich,  was  inserere  bedeutet.  H.  Lucas  verstand  in  seinem 
Aristidesauf satz,  2)  Sisenna  habe  in  eine  Rahmenerzählung  {historiä)  schhmme 
Spaße  eingeschaltet.  Reitzenstein  (S.  64)  versteht  dagegen  unter  historiä 
richtiger  das  Werk  des  Sisenna  über  römische  Geschichte,  das  mit  jener 
Aristidesübersetzung  selbst  nichts  zu  tun  hatte.  Das  anzunehmen  ist  not- 
Avendig;  denn  jenes  Geschichtswerk  war  eben  allen  geläufig,  und  wo  wir 
von  Sisennas  historiä  lesen,  kann  nur  eben  sein  HauptAverk  gemeint 
sein.  ZAvischen  die  Arbeit  der  Niederschrift  des  großen  Historienwerkes 
hat  nun  nach  Reitzenstein  Sisenna  die  Übersetzung  der  ioci  des  Aristides 
„eingeschoben".    Aber  auch  das  geht  nicht  an;  das  ist  desperat  und  mehr 

')  Bei  Thielmann   über  Eeeiprocum,    \   Ähnliches,  auch  nicht  Sil.  Ital.  14,  141. 
Archiv  f.  Lex.  VII  S.  380  f.  finde  ich  nichts    |  ■')  Piniol.  66  S.  16  f. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation. 


107 


als  künstlich  interpretiert;  denn  nicht  vom  inserere  der  einen  Arbeitszeit 
in  die  andere  steht  etwas  da,  sondern  nur  von  den  loci  selbst,  die  der 
historiae  inseruntiir.  Sollen  wir  also  an  dem  Sinn  verzweifeln?  Doch 
nicht.  Denn  inserere  kann  auch  „gleichstellen"  heißen,  und  das  muß  liier 
zutreffen.  So  sagt  Horaz:  qiiodsi  me  lyricis  vatibus  inseres  und  ganz  ent- 
sprechend Statins  Silv.  5,  5,  72:  (pueriim)  inserui  vitae,  d.h.  vivis.  Mit  ernst- 
hafter Geschichtsschreibung,  historiae,  stellte  also  der  Historiker  Sisenna 
die  lasterhafte  Aristidesübersetzimg  gleich:  iocos  inseruit.  Er  muß  auch 
in  dieser  Übersetzung  parodistisch  den  Ton  des  Historikers  angeschlagen 
haben.  ^) 

Wenden  wir  uns  aber  endlicli  zu  anderen,  edleren  Autoren.  Man 
muß  sich  wundern,  daß  in  einem  so  abgesungenen  Liede  wie  dem  Sopho- 
kleischen  EvijiJiov  ^ere  Ta?(5€  x^Q^^  noch  immer  ein  unverständliches  Wort 
ist,  und  zwar  gleich  in  der  ersten  Strophe,  wo  wir  hören,  daß  Gott 
Dion3^sos  im  schattigen  und  wandlosen  Haine  wandelt,  Oed.  Col.  678  f. : 

i'v    6  ßa^c^ico- 
zag  dsi  Aiowoog  sijßaxevei 
■&saTg  d/ii(piJTolaJv  rt&tp'aig. 

Der  Gott  ist  nicht  ohne  Thiasos;  seine  Ammen,  die  Nymphen  sind  mn 
ihn;  sie  sind  die  äiKpinoloL.  Wie  sollen  wir  dann  aber  das  Partizip  äj.i(piJiol(bv 
übersetzen?  Man  sagt:  „verkehrend  mit  seinen  göttlichen  Nährerinnen". 
Aber  das  heißt  es  nicht.  Das  Verbum  äjuq)iJiokelv  wird  (wie  auch  djuq?i7colevco) 
stets  nur  von  Dienenden  gebraucht:  „sich  mit  etAvas  dienend  oder  helfend 
zu  tun  machen",  und  das  paßt  in  keinem  Fall  auf  den  Gott.  Mir  ging  zuerst 
ein  Licht  auf,  als  mir  das  lateinische  crucians  einfiel,  w^as  den  Gekreuzigten 
bedeutet  (Fronte  p.  220,6  N.):  crucians  =  cruciatus,  das  Partizip  des  Präsens- 
stammes passivisch.  Auch  ferens  brauchen  die  Römer  so:  Mars  ferens,  der 
aufgehende  Marsplanet,  ävaq)eQ6iuFvog,  Macrob.  4,  5,  2;  ebenso  ara  ferens 
bei  Manilius.2)  Ganz  ebenso  ist  nun  hier  zu  postulieren,  daß  äjucpuiokcbv 
])assi\'isch  gemeint  ist  und  war  äjLi^mo?Mvjbievog  rii^vaig  verstehen  sollen. 
Und  daß  dies  möglich,  verrät  Sophokles  auch  noch  sonst;  denn  im  Oed. 
Rex  485  steht  das  sonderbare  äjzocpdoxovra,  was,  wenn  man  genauer  zu- 
sieht, das  bedeutet,  was  bestritten  odei"  verneint  wird :  also  äjTocpaoxo/neva. 
Und  nun  sehe  ich,  daß  auch  der  Vers  des  Oed.  Col.  1604,  wo  es  von  dem 
Leichnam  des  Entschlafenen  heißt: 

e:jEi  ÖS  JiavTog  siys  Sgcbitog  {ßoinp', 

f)go)}'Toc;  statt  dgcüjuerov  bietet  und  daß  eben  dies  von  Radermacher  3)  richtig 
festgestellt  ist.  Ebenso  ist  dann  der  y^jga  orj^ualvcov,  Oed.  Col.  704,  König 
Archidamos,  der  yrjga  orj/iairo/bLevog.  Also  gilt  auch  von  Dionys  in  unserm 
Chorlied,  daß  er  immer  noch  von  den  göttlichen  Nymphen  „gew^artet  ward". 


Sophocl. 

Oed.  Col. 

678  f. 


')  Dieselbe  Schrift  Reitzensteins  ent- 
hält auch  sonst  Fehlinterpretationen.  So 
versteht  er  S.  70  die  Worte  des  Properz 
3^  20,  28  Caput  historiae  praehere  als  „ein 
Kapitel  für  eine  Geschichtssammlung  lie- 
fern" ;  antike  historiae  zerfallen  aber  meines 
Wissens  nie  in  capita,  und  es  ist  klar,  daß 
Caput  hier  das  Wesen,  die  Rechtsperson, 
die  bürgerliche  Ehre  eines  Menschen  be- 


deutet und  daß  jene  Wendung  so  gesagt 
ist  wie :  caput  offerre  leto  Lukrez  3, 1054 ; 
certamen  capitis  et  famae  Oic.  offic.  1,  38; 
capita  vovere  Oic.  de  fin.  5,  64. 

2)  Siehe  Hans  Müller,  Arch.  f.  Lex. 
12  S.  463.   Auch  Nepos  4,  5  hat  dies  ferens. 

3)  Ausgabe  des  Oed.  Col.,  9.  Auflage, 
1909. 


1Q8  Kritik  und  Hermeneutik. 

Hiernach  bespreche  ich  ein  paar  andere  Stellen  aus  Sophokles,  und 
zwar  solche,  wo  die  Ausleger  ihn  tadeln  zu  müssen  glauben.  AVenn  jemand 
ein  Dichter  war,  so  war  es  Sophokles;  trotzdem  soll  er  da,  wo  er  Herodot 
nachahmt,  ganz  banausisch  verfahren  sein.  Sophokles  soll  die  Herodot- 
stellen  beidemal  ungeschickt  verwandt  haben.  Haben  die  Ausleger  recht, 
so  hätte  Sophokles  nicht  gedichtet,  sondern  blöde  Flickarbeit  geliefert. 
Sophoci.    Es   handelt   sich    zunächst  um  die  berühmten  Verse  der  'Antiphone  905  ff. 

Antig.905ff.      ,         ,  ,       V       „  ,       .       ,     r  ,  v  ,         v  11       J'  1      U    1 

ov  yag  nor  ovr  av  ei  rexv  o)v  fii]T)]Q  ecpvv  xtL,  die  uns  alleraings  kalt  be- 
rühren und  den  Effekt  ihrer  großen  Ahschiedsrede  zu  vernichten  scheinen. 
Antigone  hat  den  Bruder  Poh^nikes  bestattet.  Das  ist  ihr  Verbrechen 
und  ihr  Rulim.  In  ergreifender  Weise  hat  sie  sich  gerechtfertigt,  und 
wir  empfinden  voll  mit.  Dann  aber  hören  wir  das  eigenartige  Räsonnement : 
„Wäre  es  mein  eigen  Kind  gCAvesen  oder  mein  Gatte,  so  hätte  ich  das 
Wagnis  nicht  auf  mich  genommen;  aber  mein  Bruder  war  mir  mehr,  als 
Gatte  und  Kind  sein  könnten.  Denn  Gatte  und  Kind  ließen  sich  viel- 
leicht im  Lauf  des  Lebens  noch  einmal  ersetzen;  unersetzlich  aber  ist  ein 
Bruder  da,  avo  beide  Eltern  tot  sind."  Dieselbe  Argumentation  lesen  Avir 
und  las  Sophokles  selbst  schon  bei  Herodot  3,  119,  der  sie  in  einer  ähn- 
lichen Situation  verwendete ;  im  Munde  der  Heldin  aber  stört  den  modernen 
Leser  diese  nüchterne  Erwägung.  Also  Flickarbeit?  Gewiß  nicht.  Nicht 
weniger  kalt  und  frostig  berührt  es  uns  doch  auch  z.  B.,  wenn  in  des 
Aeschylus'  Emneniden  die  Fragen,  ob  Gattenmord  schlimmer  als  Mutter- 
mord, und  gar,  ob  ein  Kind  durch  den  Hergang  der  Zeugung  seiner 
Mutter  näher  als  dem  Vater  steht,  Erörterung  finden;  und  doch  gipfelt 
die  Tragödie  der  Emneniden,  d.  h.  die  Behandlung  der  Schuldfrage,  die 
sie  uns  vorfülirt,  in  diesen  sophistischen  Klügeleien.  Auch  die  Sophokles- 
stelle lehrt  uns  dasselbe;  sie  lehrt  uns,  wie  anders  die  Antike  empfand 
als  wir.  Der  wahre  Interpret  hat  die  Pflicht,  sich  in  das  Empfindungs- 
leben der  fernen  Vergangenheit  und  der  südländischen  Völker  hinein- 
zudenken; denn  Sophokles  dichtete  nicht  für  Weimar  oder  Berlin,  sondern 
für  seine  Griechen.  Es  handelt  sich  um  die  Geschwisterliebe,  die  den 
antiken  Menschen  allerdings  ganz  anders  und  viel  naiver,  mächtiger  ans 
Herz  faßte  als  uns.  Das  lehrt  erstlich  schon  die  Übereinstinnnung  zwischen 
Herodot  und  Sophokles;  denn  man  wird  doch  nicht  glauben,  daß  der 
Dichter  die  Worte  des  Herodot  nur  abschrieb,  ohne  selbst  sie  für  ein 
packendes  Argument  zu  halten.^)  Wer  denkt  nicht  gleich,  wo  es  sich 
um  Bruderliebe  handelt,  an  den  Teuker  im  Ajax,  der  für  die  Bestattung 
des  mißachteten  Bruders  mit  aller  Aufopferung  kämpft?  oder  gar  an  die 
jauchzende  Freude,  die  Avundervoll  losbricht,  wo  bei  Euripides  Orest  und 
Iphigenie  sich  wiederfinden?    Ein  inbrünstiges  Frohlocken!    Solche  Töne 


^)  P.  CoRSSEN,  Die  Antigone  des  So-  \   gesetzt,    dai3    Polynikes    noch    lebe.     Ich 

phokles,  Berlin  1898,   der  die  Unechtheit  |   kann   von   solcher  Hoffnung    in    den    be- 

der  Sophoklesverse  behauptete,  legt  dabei  sprochenen  Versen  durchaus  nichts  finden, 

die  Schlußfolgerung  zugrunde,  wenn  Anti-  Viel  richtiger  urteilte  G.  Kaibel,  De  So- 

gone  hier  ausspreche,  nur  ein  Bruder  sei  phoclis    Antigona,    Göttingen    1897.     Ich 

für  eine  Elternlose  unersetzlich,  so  hoffe  möchte    glauben,    daß    für    den,    der   den 

sie   also   noch  Polynikes  wiederzubekom-  obigen    Betrachtungen    Eaum    gibt,    sich 

men;    damit  werde    also    von  ihr  voraus-  |    solche  Spitzfindigkeiten  in  nichts  verlieren. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        109 

hat  kein  nordiscli  deutsches  Gemüt  J)  Auch  an  Sappho  mid  ihr  Sorgen  um 
ihren  Bruder  sei  erinnert;  in  ihren  Gedichten  legte  Sappho  diese  Empfin- 
dungen nieder.  Das  ist  wieder  ganz  eigenartig.  Dann  denke  man  an 
die  Gracchen.  Auch  das  waren  Jünghnge  griechischen  Geistes.  Tiberius 
Gracchus  ist  umgekommen;  die  Mutter  CorneHa  ist  Witwe;  der  jüngere 
Bruder  Gajus  aber  —  so  schildert  es  uns  Plutarch  —  lebt  ganz  nur  in 
dem  Verstorbenen;  er  sieht  den  Bruder  im  Traum,  der  ihm  sagt:  „unser 
Leben  und  Sterben  ist  eins."  Zehn  Jahre  vergehen;  den  Bruder  zu 
rächen  bleibt  der  Inhalt  seines  Lebens,  und  wenn  Gajus  vor  dem  Volk  von 
seinem  Tiberius  spricht,  stürzen  ihm  die  Tränen  und  der  Schmerz  er- 
schüttert ihn  vollständig.  Ganz  ebenso  auch  Catull.  Catulls  Bruder  starb 
in  Troja.  Xie  will  der  Dichter  aufhören  um  ihn  zu  weinen,  sein  ganzes 
Familienhaus  ist  mit  diesem  Bruder  vernichtet;  viermal  und  an  ganz  un- 
erwarteter Stelle^)  bricht  in  seinen  Gedichten  die  wortreiche  Klage  los, 
eindringlich,  schmerzdurchdrungen,  in  einer  naiven  Kraft  des  Ausdrucks, 
die  im  höchsten  Grade  rührend  wirkt.  Ich  frage  wieder:  wo  findet  man 
Ahnliches  in  moderner  Dichtkunst?  Daher  aber  auch  der  Ruhm  des 
Proculejus  bei  Horaz  Od.  II  2,  5 : 

vivet  extento  Proculeius  aevo 

notus  in  fratres  animi  paterni 

(also  auch  hier  vaterlose  Brüder)  und  jener  Lamia  in  Horaz'  Episteln  1 14,  6, 
der  so  scliAver  um  seinen  Bruder  trauert  {insolabüiter),  daß  Horaz  in  Rom 
um  seinetwillen  zurückbleiben  muß.  Und  um  dieselbe  Trauer  handelt  es 
sich  auch  in  Senecas  Consolatio  ad  Polybium.  Das  ist  auch  da,  wie  alles 
Voraufgehende  zeigt,  durchaus  ernst  zu  nehmen.  Der  Bruder  starb  auch 
hier,  und  Seneca  sagt  cap.  2,  wenn  das  Unglück  dem  Polyb  etAvas  anhaben 
wollte,  so  konnte  es  ihn  nur  in  seinem  Bruder  treffen. 

So  also  auch  Antigone.  Die  Geschwisterliebe  ist  hier  Leidenschaft. 
Ihr  heißes  Gefühl  für  Polynikes  allein  war  es,  Avas  sie  zu  ihrer  kühnen 
Handlung  trieb.  Ihr  Verstand  sucht  für  dies  überwältigende  Gefühl  nach 
einem  Grund,  und  sie  findet  ihn  und  spricht  ihn  in  den  zitierten  AVorten 
so  logisch  scharf  und  so  nüchtern  aus,  wde  es  griechische  Art  ist. 

Ebenso  unberechtigt  scheint  mir  nun  aber  auch  der  Anstoß,  den  man  Sophoci. 
im  Oedipus  Coloneus  an  den  Versen  337 — 345  nahm,  wo  der  Titelheld  ^337  ff^'" 
nach  Herodot  II  35  ausführt,  daß  bei  den  Ägyptern  die  Söhne  zu  Haus 
oder  unterm  Dach  sitzen,  während  die  Töchter  im  Freien  arbeiten.  Sophokles 
soll  diese  Lesefrucht  aus  Herodot  wieder  in  unpassender  Weise  in  seinen 
Dialog  eingeflickt  haben  (so  Bruhn,  Antigone  S.  36  f.),  während  ich  statt 
dessen  darin  ein  anerkennenswertes  Geschick  des  Dichters  sehe;  und  hier 
gibt  schon  eine  genauere  Betrachtung  des  Zusammenhangs  die  Aufklärung. 
Denn  es  handelt  sich  in  den  angeführten  Versen  nur  um  die  Alternative, 
ob  jemand  sich  dem  Sonnenbrand  aussetzt  oder  unterm  Dach  {xaru  orsyag) 
Schutz  sucht  und  findet.  Die  Brüder  Eteokles  und  Polynikes  aber  leben 
in  der  Tat  der  Sonne  nicht  ausgesetzt  in  der  Stadt  oder  in  ihrem  Zelt- 
lager, xard  oreyag.     Oedipus  dagegen  irrt  ohne  solchen  Schutz  durch  die 

')    Bei   Goethe    ist   die    Erkennungs-   1  *)  Hierzu  vgl.  De  Catulli  ad  Mallium 

Szene  viel  schwächer  und  wirkungsloser.    |    epistula,  Marburg  1890,  S.  XVIII. 


110 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Länder,  und  seine  Töchter  haben  es  nicht  besser  als  er;  denn  Antigene 
geleitet  ihn,  und  auch  Ismene  sucht  den  Vater  nachträglich  auf  und  findet 
ihn  eben  jetzt  auf  Kolonos.  Die  Mädchen  sind  also  beide  schutzlos,  ohne 
Dach,  wie  er.  Entrüstet  sagt  daher  Oedipus  allerdings  von  seinen  Söhnen, 
daß  sie  müßig  zu  Haus  sitzen  (oixovgovoivjj  insofern  sie  nämlich  ihre 
hilflose  Schwester  nicht  begleiten;  Ismene  hat  nur  einen  Sklaven  auf  ihrer 
Wanderung  mit  (v.  334).  „Deine  Brüder  hätten  dich  begleiten  müssen", 
sagt  Oedipus  unwillig  zu  ihr;  „sie  sind  kräftig  genug,  die  Mühe  auf  sich 
zu  nehmen.  Wo  sind  sie?"  (v.  335).  Darauf  gibt  Ismene  zunächst  aus- 
weichende AiitAvort:  „Sie  sind  eben,  wo  sie  sind.  Aber  mit  ihnen  steht 
es  sclilimm."  Die  letzteren  Worte  deivd  räv  xeivoig  rd  vvv  überhört  nun 
Oedipus  in  seinem  Zorn,  er  kann  ihre  Bedeutsamkeit  nicht  ahnen  und 
bricht  darmn  los:  „0  die  AVeichlichen,  die  zu  Haus  sitzen  wie  die  Ägypter 
und  den  ScliAvestern  die  Mühe  überlassen."  Daß  Polynikes  und  Eteokles 
eben  jetzt  den  Bruderkrieg  vorbereiten,  Aveiß  der  Vater  ja  noch  gar  nicht; 
der  Tadel,  den  er  gegen  sie  richtet,  war  also  nach  seiner  Kenntnis  der 
Verhältnisse  durchaus  zutreffend,  und  jeder  Anstoß  fehlt.  Denn  auch 
die  rasche  Zomesaufwallung  des  Oedipus  selbst,  die  Ismene  zunäclist 
daran  hindert,  ihm  den  Sachverhalt  mitzuteilen,  ist  psychologisch  völlig 
Avahr  und  schön. 
Tibuii2,5,47  Ganz  anders  liegen  anderswo  die  Schwierigkeiten.   Nehmen  wir  Tibull 

II  5,47.    Da  weissagt  die  Sibylle: 

Ecce  mihi  kicent  RutuUs  incendia  castris; 
lam  tibi  praedico,  barbare  Turne,  necem. 

Was  ist  das  für  ein  Brand  des  Rutulischen  Lagers,  Rutulis  incendia  castrisl 
Vergil  erzählt  davon  nichts ;  auch  andere  nicht.  Daher  hat  man  hier  an  den 
Brand  von  Ardea  gedacht  (Ovid  Met.  14, 572  f.);  aber  Ardea  ist  kein  „Lager". 
Wir  stehen  daher  zunächst  ratlos,  i)  Aber  Tibull  setzte  offenbar  voraus, 
daß  Aeneas,  nachdem  er  den  Turnus  erlegt  und  damit  allen  Widerstand  der 
eingeborenen  Italer  gebrochen,  eben  auch  sofort  noch  des  Turnus  Lager 
in  Brand  steckte.  Vergils  Aeneis  brach  vor  dieser  Verbrennung  des  Lagers 
ab,  deren  Schilderung  den  kraftvollen  Schluß  des  Epos  nur  abgeschwächt 
haben  würde;  aber  sie  war  für  jeden,  der  den  Kriegsbrauch  kannte,  etwas 
ganz  Selbstverständliches.  Vielleicht  verlohnt  es,  in  diesem  Zusammen- 
hang auf  das  späte  thematische  Gedicht  Turne  in  te  suprema  salus,  AnthoL 
lat.  244,  hinzuweisen,  avo  Aeneas  der  reine  Flammenheld  geworden  ist; 
aus  seinen  Augen  fährt  blitzend  das  Feuerschwert,  und  weil  auch  Troja 
verbrannte,  kämpft  er,  um  Troja  zu  rächen,  nur  noch  mit  der  Fackel. 
Sophoci.  Solch    ein  Feuermann   ist   auch   Kapaneus,    einer   der    Sieben   gegen 

Antig.127  ff.  rpj^g^gj^^    Über  Kapaneus,  der  aber  nicht  mit  Namen  genannt  wird,  handeln 
in  Sophokles'  Antigene  die  Anapäste  v.  127  ff. : 

Zsvg  yäo  fxsyaJ.tjg  yXcooorjg  y.ö^ovg 
vjieosyßaiQei  xai  aq)ag  ioidwv 
7io).Xfp  QsvuaTi  jigooviooo/iisvovg 


\)  Die  verschiedenen  Meinungen  venti- 
liert neuerdings  ein  Aufsatz  in  den  Uni- 
versity    of    California   publications  Bd.  II 


N.  9  S.  210,   wo    die   unmögliche  Lesung 
rutilis  statt  RiituUs  empfohlen  wird. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        Hl 

130  yovaov  xava/Jjg  v.isgö.yrac; 
.^a/a<J)  oiJixel  .ivol  ßaÄßtöcov 
eji'  äxocov  ^öt} 
vixr}v  Öq/icovt'  d/aAa^a«. 

Im  V.  130  liat  der  Mediceus  vjieoojzriagj  eine  alte  Hand  aber  setzte  imeQomag 
darüber.  Man  hat  imeQOJiXiaig  konjiziert;  das  Avürde  „kriegerischer  Über- 
iiiiit''  bedeuten.  Aber  davon  könnte  der  Genitiv  xaraxfjg  nicht  abhängen, 
und  die  Konjektm*  ist  mindestens  überflüssig.  AVir  lesen  deshalb  vjieQOJixag. 
Zeus  ist  hier  eingeführt ;  er  blitzt  den  Kapaneus  nieder,  als  ein  Verächter 
der  '/Qvoov  xavayj).  Dabei  bedeutet  xavayj]  jedes  erregiere  Geräusch,  liier 
(las  Feldgeschrei.  Was  aber  ist  xQvoovl  Das  ist  die  Frage,  die  ich  nirgend 
richtig  beantwoi-tet  gefunden  habe.  Oder  sollen  wir  „das  Gerassel  des 
(^oldes"  verstehen,  unter  der  Annahme,  daß  Kapaneus  goldene  Waffen 
trug?  So  Bruhn.  Aber  das  ist  falsch;  denn  in  v.  143  steht  ausdrücklich, 
daß  die  A\^aff  en  erzen,  Jidyxakxa,  waren.  Die  Lösung  gibt  hier  Aeschylus,  und 
wir  erkennen,  daß  Sophokles  voraussetzte,  daß  seines  großen  Vorgängers 
Werke  in  aller  Gedächtnis  lebten.  Es  handelt  sich  hier  um  die  Wappen- 
Ivunde,  die  Heraldik  der  Griechen.^)  Auch  der  Adler  und  der  Drache, 
die  bei  Sophokles  in  Vers  112  f.  derselben  Antigene  miteinander  kämpfen, 
sind  als  Wappentiere  gedacht.  Vom  Kapaneus  sagi  nun  aber  Aeschylus 
in  den  Septem  434,  daß  auf  seinem  Schilde  mit  goldenen  Buchstaben 
stand:  Jigijoco  nohv.  Genauer  war  ein  Mann  auf  dem  Schild  sl^  nvQcpoQog 
dargestellt,  ygvooig  de  (pcovel  ygä/ifiaoiv  jtoijooj  irohy,  wogegen  dort  Eteokles 
im  V.  443  auf  Zeus  vertraut:  Zeus  werde  gegen  ihn  seinen  Blitz  schicken. 
Also  ist  Zeus  bei  Sophokles  des  Goldes  und  des  Goldgetöses,  der  ygvoov 
y.avayj],  Verächter  in  dem  Sinne,  daß  ilin  das  auf  dem  Schild  in  goldenen 
Lettern  strahlende  Feldgeschrei  7iqi)ocd  jioXiv  unerschüttert  ließ.  Die  Lesung 
vjieQOJijag  aber  wird  noch  durch  die  Entsprechung  des  viregejira  in  v.  113 
empfohlen.  Ebenso  entspricht  in  diesem  Chorgesang  das  xoivov  v.  147 
«lem  xoivcp  im  v.  161  (am  Schluß  des  Systems  ß).  Das  sind  musikalische 
Stichworte,  wie  man  sie  auch  bei  Pindar  findet. 

Auffällig  ist,  was  Livius  9,40  von  den  Oskern  erzählt,  daß  sie  näm-  Livms9,40 
lieh  als  Bewaffnung  im  Kriege  spongia,  „Schwämme",  trugen,  und  zwar 
statt  des  Panzers.  Wie  ist  das  möglich?  liegt  hier  eine  Fabelei  oder  gar 
eine  Verschreibung  vor?  Durch  die  Vergleichung  von  Aristoteles  bist. 
anim.  5,  16  aber  wird  die  befremdliche  Sache  einigermaßen  aufgeklärt,  wo- 
nach man,  um  den  Druck  zu  lindern,  wirklich  Schwämme  unter  die  Metall- 
rüstungen legte.  Man  muß  annehmen,  daß  die  Bezeichnung  „SchAvamm" 
infolgedessen  auf  die  Rüstung  selbst  übergegangen  ist,  2)  etwa  so,  wie  wir 
sagen  „vom  Leder  ziehn",  und  mit  Leder  den  Gegenstand  meinen,  der 
aus  ihm  gefertigt  ist. 

Bisweilen  helfen  nun  aber  keine  solchen  Parallelstellen,  nützt  auch  Aristoph. 
kein  noch  so  sorgliches  Überlegen,  und  erst  die  xlrchäologen  bringen  uns  gg  ff^  ' 
Hilfe.     Bei  Aristophanes  Ekkles.  89  f.  reden  die  Frauen  seltsame  Worte: 


')  Vgl.  P.  ScHERZL,    Die   griechisch-   i  2)  Siehe    F.  Weege   im   Jahrbuch   d. 

römische  Heraldik,    in  Xaoioxrjoia    für  Th.    !    arch.  Instit.  24  (1909)  S.  148. 
Korsch,  Moskau  1896,  S.  341. 


112  Kritik  und  Hermeneutik. 

ovHovv  y.a).a.  y'  av  .-rd&oifiev  si  ji/JjQrjg  xvy^oi 
6  öfji.iog  MV,  xojieid'  vjxsQßalvovoä  rig 
avaßaXXofievr]  dsi^sie  ror   ^ooftioiov. 

Hier  verstand  man  das  vjieQßaiveiv  bisher  notgedrungen  vom  über  die  Bänke 
klettern  der  Frauen.  Aber  der  Zusammenhang  bleibt  unldar.  Denn  es 
war  vorher  von  Krempeln,  ^aiveiv,  die  Rede.  Also  ist  auch  hier  ein  Wort 
der  Wollarbeit  gemeint.  Yasenbilder  aber  zeigen,  daß  die  ^alvovoa  bei 
der  Arbeit  ihren  Hock  bis  ans  Knie  zurückzuwerfen  pflegte  und  dann  mit 
dem  rechten  Fuß  hoch  auftrat,  um  an  der  nackten  Wade  den  Faden  zu 
reiben.  Daher  also  jenes  ävaßaXlofievr]  vjieQßaivovoaA)  In  dieser  hand- 
werksmäßigen und  höchst  profanen  Beschäftigung  zeigen  sich  die  zur 
Ekklesie  versammelten  Weiber. 
Eurip.  In  Euripides'  Alkestis  365  will  Admet  seine  sterbende  Frau  in  einem 

lu  607      Zedernsarg  beisetzen,  und  hofft  sogar  in  demselben  einst  mit  ihr  vereint 
zu  ruhen: 

Ev  xaiaiv  avtaig  yaQ  fi    ejiiaxrmxo  xsdgotg 
ool  Tovode  ^eXvai  xxX. 

Hier  kann  also  an  eine  Verbrennung  der  Leichname  nicht  gedacht  sein. 
Damit  scheint  aber  v.  607  unvereinbar: 

VEXin'   flh    tjdf]    .  .  . 

q^igm^oiv  ägdtjv  sig  xacpov  re  xai  jivgdv. 

Denn  hier  ist  der  Scheiterhaufen,  zu  dem  man  Alkestis  trägt,  ausdrück- 
lich erwähnt.  Dörpfeld  aber  setzt  neuerdings  an,  daß  bei  den  Griechen 
in  jenen  Zeiten  die  Leichen  nicht  ganz  verbrannt,  sondern  nur  gebrannt 
und  dann  doch  „beerdigt",  also  eventuell  auch  in  Sarkophagen  beigesetzt 
Avorden  sind.  Diese  freilich  nicht  unbedenkliche  oder  nur  partiell  gül- 
tige Hypothese  würde  an  der  Alkestisstelle  eine  wichtige  Stütze  finden, 
und  der  störende  Widerspruch  wäre  damit  hinweggeräumt.  2)  Ja,  man 
kann  sagen,  das  von  Dörpfeld  angesetzte  Yerfahren  muß  in  gewissen 
Grenzen  jedenfalls  vorgekommen  sein,  da  Euripides  es  hier  voraussetzt. 
Thukyd.  Auch  das  Verständnis  der  Thukydidesworte  II  15,  3  f.,    die  die  jzökg 

Athens,  wie  sie  vor  Theseus  war,  anbetreffen,  ist  durch  Dörpfeld  und 
seine  Grabungen  modifiziert  worden,  und  der  Befund  der  letzteren  scheint 
mit  ihnen  nicht  in  ernstlichem  Widerspruch  zu  stehsn.  Es  handelt  sich 
vor  allem  um  die  Worte:  rö  de  jzgo  tovtov  (rov  0r]OEO)g)  f]  dKQOJiolig  >/ 
vvv  ovoa  jzokig  rjv  xai  rö  vn  avrrjv  Jigog  vörov  /idhora  xeroaiiaevov'  rex- 
jiu']Qiov  de'  rd  yaQ  legä  er  ainfj  rrj  äxgojiolei  (xä  ägyaioxara  rfjg  re  Uohddogy 
xai  ällcov  ßecov  eori  xai  rd  e^co  Jigög  touto  t6  juegog  xfjg  jiöXecog  fiäkXov 
l'dgvxai  xxL  Der  Autor  sagt  also:  „Die  jetzige  Akropolis  war  ursprünglich 
die  alte  (jedenfalls  damals  auch  schon  befestigte)  3)  jzöXig  gewesen,  wobei 
beiläufig  der  Abhang  des  Burghügels  besonders  nach  Süden  mit  ein- 
zurechnen  ist."     Dieser   letztere  Zusatz    xai   x6    vji    avxrjv   hinkt    deutlich 


1)  Siehe  A.Wilhelm  in  Oesterr.  Jahres-  !  durch  0.  Eouge,  „Bestattungssitten ",  Neue 

hefte  1909  S.  81  ff.  ■  Jbb.  1910   I   S.  785  ff.   stark   erschüttert: 

'■^)  Siehe   L.  Marxens,    Alkestis-  von  i  gegen  Rouge  wendet  sich  wieder  Dörp- 

Euripides,  Duisburg  1909,  S.  11,  nach  W.  |  feld  in  den  Neuen  Jbb.  1912. 

Dörpfeld  in  Melanges  Nicole  1905;   die  |  ^)  Vgl.  A.  Köster,   Das   Pelargikon, 

Aufstellung    Dörpfelds     scheint     freilich  ;  Straßburg  1909. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        113 

nach,  das  zeigt  seine  Stellung,  und  ist  nur  zur  Vervollständigung  liin- 
zugesetzt;  die  These,  die  er  im  folgenden  beAveisen  will,  ist  für  Thukj- 
dides  nur  die  Gleichung:  dxQOJiohg  =  Jiöhg.  Daher  ist  es  nun  auch 
durchaus  nicht  nötig,  daß  alle  Bauten  und  rojioi,  die  Thukydides  im  Ver- 
lauf als  rexfi/jQiov  für  seine  These  aufzählt,  im  Süden,  jigog  vorov,  des 
Berges  gelegen  haben  müssen.  In  den  Worten  Jigog  tovto  tö  juegog  rfjg 
noXeojg  aber  ist  mit  juegog  klärlich  dieselbe  Akropolis  (nebst  Abhang)  ge- 
meint, mit  dem  Genitiv  rfjg  jidkecog  dagegen  die  Stadt,  wie  sie  zu  des 
Thukydides  Zeit  war;  wir  sollen  rrjg  vvv  nöleojg  verstehen.  Somit  sind 
Stalils  wiederholt  vorgetragene  Bedenken  i)  doch  vielleicht  gegenstandslos, 
und  die  Thukydidesstelle  widerstrebt  den  Veränderungen  in  der  Topo- 
graphie Athens,  insbesondere  der  Ansetzung  der  Enneakrunosquelle,  nicht, 
die  sich  aus  den  neueren  Grabungen  ergeben  haben. 

Im  folgenden  Fall  ist  die  Sachlage  schon  schwieriger.  Für  die  Lage  Aristoph. 
der  Pnyx  Athens  ist  besonders  in  den  letzten  Zeiten  Chandlers  Ansatz 
zur  Herrschaft  gelangt.  Als  Pnyx  gilt  danach  das  hochgelegene,  ursprüng- 
lich auch  hochummauerte  große  Halbrund  mit  Altar  und  Bema  im  Westen 
der  Stadt  und  in  der  Nähe  des  Areopags.  Befremdend  wirkt  dabei  erst- 
lich, daß  innerhalb  dieser  Ummauerung  das  Terrain  stark  fällt  und  daß 
das  Bema  sich  nicht  unten,  sondern  oben  in  der  Höhe  befindet,  was 
akustisch  für  den  Redner,  der  dort  stand,  das  ungünstigste  Avar;  man 
nimmt  an,  daß  dies  Fallen  dereinst  durch  Aufschüttungen  gelindert  war. 
Die  lebendigste  Einfühnmg  in  diesen  Versammlungsraum  geben  nun  des 
Aristophanes  Acharner,  wo  Avir  sehen:  das  Volk  Avird  vom  Markt  her 
mittels  des  oyoiviov  /ne/LidrM^ueyov  auf  die  Pnyx  getrieben  (v.  22),  eine 
Prozedur,  die  sich  bei  den  doch  immer  großen  Entfernungen  zAvischen 
dyood  und  Jivv^  schAA^er  vorstellen  läßt;  und  dies  ist  schon  das  zAA^eite 
Bedenken.  Dann  Avird  im  selben  Stück  zur  Eröffnung  der  Sitzung  das 
Eintreffen  der  etwa  fünfzig  Prytanen,  die  den  Vorsitz  führen,  erAvaiiet, 
und  da  heißt  es  \'.  24  f. : 

sira  d'  Moriovvrai  ttcD?  öoy.sT^ 
s/.dövTsg  oJjJjloioi  jteqI  jigcozov  ^vlov 
äßgoi  y.axaQOEOvxsg. 

Hier  handelt  es  sich  um  das  Wort  xaraooeovreg.  Denn  dies  tropische 
„Herabfheßen"  besagt  zAveifellos,  daß  die  Leute,  die  da  kommen  oder 
gekommen  sind,  von  oben  nach  unten  strömen.  Ihr  Ausgangspunkt 
liegt  hoch,  ihr  Ziel  niedrig.  Dadurch  Avird  dann  aber  anscheinend  die 
Chandlersche  Pnyx  gradezu  unmöglich  gemacht;  denn  der  athenische 
Markt  mit  der  Tholos  lag  ja  viel  tiefer  als  jene,  und  Avenn  die  Prytanen 
von  dort  kamen,  so  mußten  sie  in  die  Höhe  und  ZAvar  tüchtig  hinan- 
steigen. Also  kein  xataggelv.  Hiergegen  könnte  man  einAA^enden,  daß 
das  Terrain,  das  als  Pnyx  gilt,  ummauert  Avar  und  daß  der  Eingang  sich 
in  seinem  oberen  Abschluß  befand. 2)  Diese  Wahrnehmimg  Avürde  aller- 
dings  eine  Hilfe   geben;   die   Männer   traten  in   diesen   oberen  Eingang, 


')  Rhein.  Mus.  50  S.  566;  51  S.  306; 
A'gl.  auch  A.  Malinin,  ZavgI  Streitfragen 
der  Topographie  \'on  Athen,   Wien  1^1. 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl 


2)  Siehe  Judeich,  Topogr.  A^on  Athen, 
S.  350. 


114  Kritik  und  Hermeneutik. 

befanden  sich  also  zunächst  hoch  und  strömten  nun  innerhalb  des  Yei- 
sammlungsraums  um  die  Wette  nach  unten,  wo  ihre  Bänke  gestanden 
haben  müssen.  Die  Aufschüttungen  in  dem  Halbrund  könnten  demnach 
aber  nicht  hoch  gewesen  sein.  Alles  dies  ist  indes  jetzt  durch  die  nevien 
Grabungen  in  Frage  gestellt,  die  ergeben,  daß  das  Mauerwerk  der  „Pnyx" 
erst  aus  dem  Ende  des  4.  Jahrhunderts,  also  aus  einer  Zeit  stannnt,  in 
der  die  Volksversammlungen  Athens  ausschließlich  nur  im  Theater  statt- 
fanden. 1) 

dvaßaivsiv  Es  kommen  aber  auch-  schwerere  Unstimmigkeiten,  ja,  Fälle  vor,  wo 

unsere  Texte  den  Ergebnissen  archäologischer  oder  baugeschichtlicher 
Untersuchungen  gradezu  Aviderstreiten,  und  man  täuscht  sich  selbst,  wenn 
man  versucht,  diese  Differenzen  durch  laxe  Interpretation  beiseite  zu 
schaffen.  Als  Regel  muß  gelten:  man  erkläre  zunächst  jede  Stelle  best- 
möglichst aus  ihr  selber.  Das  eben  besprochene  xaraggelv  erinnert  uns 
an  das  xaraßaiveiv  und  ävaßalveiv  im  griechischen  Theater.  Die  Gelehrten,, 
die  da  ansetzen,  daß  die  Schauspieler  dereinst  nur  unten  in  der  Orchestra 
mit  dem  Chor  zusammen  aufgetreten  seien,  müssen  jene  Verben  in  dem 
Sinne  Avegdeuten,  daß  etwa  wie  in  unserem  „Auftreten"  der  Sinn  des 
Präfixes  xaid  und  ävd  verblaßt  sei.  Allein  dies  geht  nicht  an,  und  das 
ävaßalveiv  ist  etwas  ganz  anderes  als  unser  „Auftreten".  Denn  dm  be- 
deutet in  solchen  Kompositionen  stets  „in  die  Höhe",  Avas  bei  dem  „auf" 
in  „auftreten"  nicht  der  Fall  ist.  ävaßalveiv  heißt  eben  nicht  „auf  etAvas 
treten",  sondern  immer  nur  „etwas  ersteigen,  zu  etwas  hinansteigen",  und 
jene  Ausflucht  erAveist  sich  darum  als  unmöglich.  So  lesen  AAdr  denn  auch 
ävaßalveiv  im  rov  öxQlßavxa  „auf  den  Bock  steigen"  bei  Plato  Symp.  p.  194B. 
Das  Verbmn  war  technisches  Speziahvort  für  das  Sichaufstellen  dessen, 
der  vor  großem  Publikum  einen  Kunstvortrag  halten  aaüI,  und  kann  nicht 
bald  so,  bald  so  übersetzt  Averden.    Eine  der  mißdeuteten  Stellen  sei  vor- 

Aristoph.  geführt.  In  denVespen  des  Aristophanes  ist  Pliilokleon  mit  dem  großen 
^^^'  "  vorgebundenen  Phallos  aus  Leder  nach  Art  der  Plilyaken  ausstaffiert  und 
sagt  im  V.  1342  ausgelassen  zur  Flötenspielerin,  die  jedenfalls  in  der 
Orchestra  steht,  ävdßaive  öevgo.  Nach  Eeisch  steht  Philokieon  nun  neben 
ihr  auf  gleichem  Niveau,  und  der  Sinn  des  ävdßaive  soll  obszön  sein. 
Aber  derselbe  Philoldeon  sagt  gleich  darauf:  rf]  x^toi  laßojuevrj  rovöl  rov 
oxoivlov:  sie  soll  also  seinen  Phallos  aus  Leder  anfassen.  Auch  das  ist 
gCAviß  obszön  genug,  schließt  aber  jene  andere  Handlung,  die  Eeisch  an- 
setzt, aus;  denn  Avie  soll  die  Person  im  selben  iVugenblick  das  „Besteigen" 
des  Mannes  und  das  Anfassen  des  Phallos  ausführen  ?  Nie  aber  ist  überdies 
die  Komödie,  nie  selbst  das  Phlyakenspiel  soAv^eit  gegangen,  den  coitus  A'on 
Mann  und  Weib  öffentlich  im  Theater  vorzuführen,  imd  nun  gar  so,  daß 
dabei  das  Weib,  nicht  der  Mann  das  ävaßalveiv  oder  emßalveiv  ausführt. 
Dazu  kommt  endlich  noch  das  devgo,  das  im  Drama  unendlich  häufig, 
doch  stets  nur  „hierher",  nicht  aber  „auf  mich"  bedeutet.  Die  einzig 
angänghche  Interpretation  bleibt  also:  „komm  hierher  herauf",  und  diesem 
ävdßaive    entspricht    alsdann    das    xaraßateov    y.  1514    desselben    Stücks. 


i)  Siehe  E.  Drerup  in  Wochenschrift  f.  klass.  Phil.  Bd.  28  (1911)  S.  50. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        115 

Die  Schwierigkeiten,  die  liieraus  eventuell  entstehen,  müssen  Avir  hin- 
nehmen, an  dem  Sinn  läßt  sich  nicht  rühren. 

Älinhch  steht  es  mit  Em-ipides'  Electra  v.  489  ff.  Da  nähert  sich  der  Eurip. 
alte  Pädagog  dem  hochgelegenen  Haus  Electras  und  sagt:  „Welchen  steilen  439 ff.' 
Zugang  zum  Haus  hat  sie!" 

(og  TTQooßaoiv  rcövd'  og&iav  oi'xcov  sj^ei 
490  gvoM  yeQOvzt  Kpde  JiQOoßrjvai  Jiodi. 

ojLicog  dk  JTQog  ye  zovg  (pilovg  i^shtzsov 
diJT/S]V  äxav&av  xai  jia/.igoojiov  yört', 

WO  jToooßaoig  ÖQÜia  wie  ödog  ÖQ&ia  bei  Xenophon  Anab.  I  2,  21  gesagt 
ist.  Auch  hier  scheint  also  kein  Entkommen,  wenn  man  nicht  für  diese 
Handlung  einen  erhöhten  Sprechraum  annimmt ;  aber  Reisch  meint  doch :  1) 
„Die  Yerse  sind  sehr  wohl  verständlich,  wenn  sie  sich  nur  auf  den  Weg 
beziehen,  den  der  Greis,  als  er  durch  die  Parodos  eintritt,  schon  zurück- 
gelegt hat."  Also  auf  den  Weg,  den  der  Greis,  als  er  dem  Publikum 
noch  unsichtbar  war,  zurückgelegt  hatte,  sollen  die  Yerse  zurückblicken. 
Auch  das  ist  ohne  Zweifel  falsch  interpretiert.  Denn  der  Hergang  gliedert 
sich  folgendermaßen: 

1.  Auftreten  des  Alten. 

2.  Er  fragt:  avo  ist  Electra  zu  finden?  v.  487. 

3.  Er  bemerkt:  Avie  steil  ist  der  Aufstieg!  v.  489. 

4.  Er  bescliließt :  dennoch  {ö^cog)  muß  ich  mein  eingebogenes  Rückgrat 
und  krummes  Knie  geschmeidig  machen,  also  hinansteigen,  v.  491. 

5.  Da  gcAvalirt  er  Electra  selbst:  „0  Kind,  ich  sehe  dich  bei  deinem 
Hause";  ^r  ist  also  oben  angelangt,  v. 493. 

Dies  Verzeichnis  lehrt,  daß  Nr.  3  vor  den  Augen  der  Zuschauer  Avährend 
des  Steigens  selbst  gesprochen  Avird;  denn  erstlich  AA^äre  es  sonst  nicht 
natlü'Uch,  daß  Nr.  3  in  dieser  Weise  auf  2  folgt;  zAveitens  und  A^or  allem 
ist  Nr.  4  mit  3  auf  das  engste  dm^ch  das  o/ico?  a^ erknüpf t,  in  dem  Sinne : 
obgleich  der  Zugang  so  steil,  aa^II  ich  mir  doch  Mülie  geben,  meinen 
Körper  zu  A^erjüngen.  Er  gibt  sich  also  im  Vers  491  vor  den  Augen  des 
Publikums  Mühe  zu  steigen,  befindet  sich  da  auch  auf  der  im  \.  489 
erwähnten  jzgooßaoig  ögOia. 

Solche  Stellen  beweisen,  daß  in  Athen  wenigstens  bisweilen  auf  einem 
doppelten  NiA^eau  gespielt  Avorden  ist;  und  zAvar  haben  sich  nacliAveislich 
sowolil  die  Schauspieler  wie  die  Chorleute  auf  beiden  Niveaus  beAvegt. 
Dies  näher  auszuführen  oder  gar  die  baulichen  Befunde  antiker  Theater 
damit  zu  A^ergleichen,  ist  nicht  dieses  Ortes. 

Man  darf  nicht  ermüden,  die  goAvonnene  Auslegung  solcher  Stellen, 
die  eine  größere  TragAveite  haben,  immer  wieder  nachzuprüfen.  So  ist 
es,  und  zAvar  immer  noch  nicht  ausreichend,  vor  allem  mit  dem  eoriv  ovv 
xQaycodia  xrL,  der  berühmten  Definition  der  Tragödie  in  Aristoteles'  Poetik 
cap.  6  geschehen.  Doch  ich  gehe  hierauf  nicht  ein. 2)  Denn  es  gilt  noch  an 
anderes  zu  erinnern;  so  zunächst,  daß  es  Stellen  gibt,  die  gleichsam  frei. 


')  DöRPFELD  und  Eeisch,  Das  griech. 
Theater  S.  188. 

■■*)  Gewiß   ab/AÜehnen  F.  Knoke,    Be- 


griff der  Tragödie  nach  Aristoteles,  Berlin 
1906. 


8* 


116  Kritik  und  Hermeneutik. 

Ironie  d.  li.  ihrem  Wortlaut  entgegengesetzt,  interpretiert  sein  wollen.  Ich  meine 
das  Ironische.!)  Daß  lobende  Epitheta  wie  egregiiis  auch  zum  Hohn 
gebraucht  werden  können,  empfindet  jeder,  wenn  er  bei  Cicero  liest  illa 
praeclara  et  egregia  mater  oder  virum  Optimum  Metellum  (Catil.  1,  19).  2) 
Und  zwar  sind  solche  Stellen  meistens  unzAveideutig.  Wo  sie  dies  nicht 
sind,  würde  den  Autor  der  Tadel  treffen,  entweder  daß  er  sich  ungeschickt 
ausdrückt  oder  daß  er  seine  Meinung  absichthch  verhüUt.  Den  Catull 
aber  kann  dieser  Tadel  keinesfalls  treffen,  wenn  er  den  Cicero  c.  49  an- 
redet: disertissime  Romuli  nepotum  eqs.;  denn  er  fügt  dort  über  sich  selbst 
hinzu:  „Ich  bin  in  dem  Grade  der  schlechteste  Dichter,  in  dem  du  der 
beste  der  E-edner  bist."  Wer  kann  danach  die  Ironie  verkennen?  Man 
hat  gesagt,  Catull  kenne  sonst  diesen  Tropus  nicht.  Aber  er  schreibt 
doch  78,  3  Gallus  homo  est  hellus  und  c.  47,  2  nennt  er  den  unsauberen 
Piso  Biso  munduSf  wo  wir  lesen: 

Porci  et  Socration,  duae  sinistrae 

Pisonis,  Scabies  famesque,  mundi. 

Hier  hoißt  Piso  mundus  in  der  Weise,  wie  Cicero  mundi  elegantes  ver- 
bindet, de  fin.  2,  23;  aber  immundus  sollen  wir  verstehen;  denn  den  hier 
erAvälinten  Piso  nennt  derselbe  Cicero  den  schmutzigsten  aller  Menschen : 
coemim,  lutum^  sordes^  sordidissime,  maialis,  ex  hara  pvoductus  (in  Pison. 
19 — 20). 3)  —  Daß  dagegen  Theognis  v.  1135  f.,  wo  er  die  elmg  preist: 

'Ehcig  ev  dv9Q(bnoig  fwvPrj  &sdg  ea&Xrj  evsaxiv, 
alXoi  d'   Ovlviuiovö'  EXJiQoXiJioyneg  eßav  xxL 

ironisch  rede,  wie  Leopold  Schmidt  annahm,'*)  dafür  vermisse  ich  jede 
Andeutung.  # 

Antipiiiasis  Der  Irouic,    die  ein  Ausfluß  kritischer  Stimmung  ist,    steht  übrigens 

die  Antiphrasis  zur  Seite,   zu   der   der  Redende  da,   wo    es   sich  um  Be- 
gütigung   eines    gefährlichen    Wesens    handelt,    seine    Zuflucht    nimmt, 
sowie   der   ungastliche  Pontos  ev^eivog   hieß   und   die   drohenden  Erinyen 
„Eumeniden". 
Wissens-  Ein  Weiteres  Gesetz   für   den  Interpreten   muß  sein,    daß    er    seinem 

Autoren  Autor  uiclit  mehr  Einsicht  und  Kenntnisse  zutraue,  als  er  gehabt 
haben  kann.  Dabei  ist  freilich  die  Abgrenzung  und  richtige  Schätzung 
oft  schwer.  Man  hat  z.  B.  behauptet,  daß  der  Farbensinn  der  Alten,  vor 
allem  des  Homer,  noch  unentwickelt  war.^)  Waren  sie  blaubhnd?  Auf 
alle  Fälle  sind  die  Farbenangaben,  die  wir  erhalten,  mitunter  seltsam  und 
nicht  leicht  wiederzugeben.  Das  hebt  vom  juMag  olvog  und  dem  Avein- 
farbenen  Meer  an  und  geht  bis  zum  roten  Mond,  der  luna  ruhens  des 
Horaz.*5)   Und  was  bedeutete  die  i](og  Qododdxrvlog'l '^)   Hierhergehörtauch 


*)  lieber  Ironie  z.  B.  Cicero  de  or.  II 
269  ff. 

2)  Ueber    egregius    als    Beispiel    der 
ironia  bei  Yergil  s.  Servius  zu  Aen.  4,  93 ; 
6,  520.     Auch  Cic.  pro  Ligar.  1  diente  als    I   born  1888 
Beispiel:  s.  Aquila  Romanus  7:  Mart.  Ca- 
pella  5,  523. 

3)  A^gl.  Piniol.  63  S.  462  f. 
^)  Griech.  Ethik  II  S.  70. 
^)  Vgl.  z.  B.  H.  Schulz  in  Neue  Jahrbb. 


1911  S.  11  ff. 

6)  Ueber  letzteren  s.  Catalepton  S.  28. 
Uebrigens  Veckexstedt,  Farbenbezeich- 
nungen  der  griechischen  Epiker,  Pader- 
1888. 

')  Hierüber  Feinsinniges  bei  E.  Anding 
in  den  Mitteilungen  der  Vereinigung  von 
Freunden  der  Astronomie  und  kosmischen 
Physik  XXI  (1911)  N.  7. 


1 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.       117 

die  vielbehandelte  Frage  nach  den  geographischen  Kenntnissen  Homers.  Geographie 
Alle  Märchenplätze  der  Odyssee  sind  im  Altertum  früh  im  Westmeer 
genau  lokalisiert  worden.  Daher  ist  Strabos  Geographie  zum  Teil  auf 
einem  Kommentar  zu  Homer  aufgebaut.  Bei  Plinius  nat.  hist.  13,  69  wird 
erwogen,  daß  Homer  zwar  Ägypten  erwähne,  nicht  aber  das  Delta,  und 
daraus  gradezu  gefolgert,  das  Delta  habe  noch  nicht  existiert.  So  ist 
man  auch  neuerdings,  seit  Scliliemanns  Troja,  wiederum  darauf  erpicht, 
alle  Ortsbeschreibungen  des  alten  Epos  möglichst  genau  zu  nehmen  und 
die  dichterische  Freiheit,  die  mit  Zeit  und  Raum  spielt,  in  ihm  möglichst 
wenig  gelten  zu  lassen.  Darauf  fußt  jetzt  auch  Dörpfelds  Leukas-Ithaka- 
Hypothese,  die  zu  einer  eindringenden  Textauslegung  der  Odyssee  an- 
regen kann,  aber  doch  gewiß  irrig  ist.  Leukas  ist  durch  einen  Erdstrang 
mit  dem  Festland  verbunden;  anders  Ithaka.  Daß  das  Ithaka  Homers 
eine  wirkUche  Insel  war,  beweist  grade  die  Frage,  die  Telemach  an  den 
Gastfreund  richtet:  „Du  bist  doch  nicht  etwa  zu  Fuß  nach  Ithaka  ge- 
kommen": ov  aev  yoLQ  rl  oe  jzeCov  diofiat  sv&dö'  ixeo&ai  (1, 173;  vgl.  11,  158). 
Dörpfeld  verstand  diese  Worte  buchstäblich.  Aber  sie  sind  ironisch;  sie 
geben  ein  ädvvarov.  Das  beweist  die  Iliasstelle  15,  505,  wo  sie  in  ironischem 
Sinn  offenkundig  stehen.  Telemach,  der  jene  Worte  spricht,  ahnt  dunkel, 
daß  der  Gastfreund  ein  überirdisches  Wesen  ist.  Ithaka  war  also  zu  Fuß 
nicht  zu  erreichen.  1) 

Dabei  gibt  nun  aber  die  Schilderung  der  Insel  Ithaka  selbst  Anstoß, 
die  wir  in  der  Odyssee  lesen.  Es  sind  die  Verse  i  23  u.  25,  da  die  Worte 
jiokXal  und  yßafiaXrj  daselbst  in  unlösbarem  Widerspruch  zu  der  Schilderung 
in  den  umstehenden  Zeilen  stehen.  Ob  hier  Athetese  geboten'^)  oder 
anders  zu  helfen  ist,  jedenfalls  kann  niemand,  der  nach  der  Lage  des 
homerischen  Ithaka  fragi,  urteilen,  bevor  er  nicht  diese  Textschwierigkeit 
überwunden  hat. 

Endlich  die  Frage:  konnte  sich  ein  Autor  auch  irren?  und  inwieweit 
sind  offenkundige  Irrtümer  im  Text  stehen  zu  lassen  und  hinzunehmen? 

Bei  dieser  Feststellung  erinnei't  sich  jeder  zunächst  an  den  dormitans  Gedanken- 
Homerus,  an  die  Widersprüche,  die  die  Ilias  bietet,  an  die  mangelhafte  ^^^^"'^^^^^^ 
Chi-onologie  in  den  Irrfahrten  des  Aeneas  bei  Yergil.  Im  fünften  Buch 
der  Ilias  stirbt  z.  B.  der  paphlagonische  König  Pylaimenes  v.  576  ff.,  im 
dreizehnten  Buch  v.  658  lebt  er  Avieder.  Derartige  Nachlässigkeiten  in 
der  Komposition  führen  sogleich  zu  Fragen  der  höheren  Kritik  weiter. 
Indes  ist  der  Fall  gar  nicht  selten,  daß  auch  modernen  Dichtern  solche 
Versehen  wider  Willen  unterlaufen,  und  Avir  müssen  lernen,  tolerant  zu  sein. 
Solche  Irrtümer  aus  Modernen  bringt  z.  B.  Rümelin,  Reden  und  Aufsätze 
S.386;  auch  W.Schmid  in  Christs  griechischer  Litteraturgeschichte,  5.  Aufl., 
I  S.  46.  Wenn  ich  hier  auf  meine  eigenen  poetischen  Arbeiten  exempli- 
fizieren darf,  an  die  zu  denken  mir  in  diesem  Zusammenhang  allerdings 
nahehegt,  so  ist  es  mir  nicht  besser  gegangen,  als  ich  meinen  „König 
Agis"  schrieb.  Ich  habe  das  Stück  langsam  und  gewiß  nicht  planlos  ge- 
schneben;  trotzdem  findet  sich  im  vierten  Akt  ein  Irrtum  in  der  Zeitfolge, 

*)  Vgl.  Griechische  Erinnerungen  eines   1  *)  Siehe  C.  Robert,  Hermes  34  S.  630. 

Reisenden  S.  229  ff. 


118  Kritik  und  Hermeneutik. 

da  die  dort  erwälinte  Tierhetze  erst  heute,  dann  gestern  geschehen  sein 
soll.  Auch  in  meiner  „Silvesternacht"  steht  es  ähnlich  mit  dem  angesagten 
Duell.  Die  meisten  Leser  werden  dies  freilich  kaum  wahrnehmen.  Man 
wird  aber  begreifen,  daß  ich  nicht  viel  darauf  gebe,  wenn  in  Plautus' 
Pseudolus  die  Zeitangaben  sich  widersprechen  und  es  bald  cras  (v.  60 
u.  82)  bald  hodie  heißt  (373 ;  623).  Daß  dies  Plautusstück  etwa  überarbeitet 
oder  gar  aus  zwei  Vorlagen  entstanden,!)  kann  ich  daraus  nicht  schließen. 
Ähnhchen  Anstoß  gab  das  hodie  Terenz  Eun.  234. 
Irrtümer  j^h  rcdc  liicr  vielmehr   von   anderen  Irrtümern.     Daß  Horaz   in   der 

der 

Autoren  Odc  4,8  V.  17  dcu  jüngeren  Scipio  mit  dem  älteren  zusammenwirft,  scheint 
bei  seinem  Bildungsstand  unmöglich  (s.  oben  S.  102);  ebenso  unmöglich, 
anzunehmen,  daß  Tacitus  Dial.  17  fin.  die  Redner  Messala  und  Asinius 
Pollio  in  bezug  auf  ihr  Todesjahr  gradezu  verwechselt  habe,  und  man  ist 
geneigt,  hier  zu  emendieren.  Denn  es  gilt  in  solchen  Fällen  zu  imter- 
scheiden.  Viel  begreiflicher  ist  es,  wenn  einmal  Thukydides  III  4,  5  in 
bezug  auf  die  Lage  des  lesbischen  Vorgebirges  Malea  irrt  2)  oder  Tacitus 
im  Agricola  14  die  Inseln  Man  und  Anglesey  verwechselt.  Auch  die 
historischen  Schnitzer  in  der  dritten  Rede  des  Andokides  jiegl  Tfjg  jigds 
Äaxedaijuovlovg  elQrjVYjg  darf  man  als  Eilfertigkeiten  hinnehmen.  3)  Claudian 
macht  den  Prätor  Laevinus  zum  Konsul  (bell.  Pollent.  395),  offenbar  des- 
halb, weil  in  seiner  Zeit  die  Prätur  nichts  mehr  bedeutete;  im  bellum 
Gildonium  91  verwechselt  Claudian  Syphax  mit  Hannibal.  Ahnliche  Ver- 
sehen sammelte  aus  den  Historikern  U.  Köhler,  Qua  ratione  Livio  usi  sint 
liistorici  p.  21 — 40.  Ein  anderer  Irrtum  steht  in  Pseudo-Lucians  ^'Egcoreg 
c.  13 ;  da  heißt  es,  des  Praxiteles  Aphrodite  auf  Kjiidos  sei  aus  parischem 
Marmor.  Sie  war  aber  aus  pentelischem  Marmor  gearbeitet.  Daher  hat 
man  die  betreffenden  Worte  für  unecht  erklärt.-^)  Wenn  aber  diese  ''Eganeg 
Avirklich  erst  im  3.  oder  4.  Jahrhundert  geschrieben  sind,  so  wird  man 
meines  Erachtens  den  Irrtum  ruhig  hinnehmen  können. 

Auch  folgende  Nachlässigkeiten  nehmen  wir  ruhig  hin,  aber  es  ver- 
lohnt Avenigstens,  sie  zu  bemerken.  Die  Grammatiker  unterschieden  die 
Sprachfehler  des  barbarismus  vom  metaplasmus  und  soloecismus.  Martial 
aber  nennt  es  6,  17  fälschlich  einen  barbarismus,  Avenn  Cinna  seinen 
Namen  in  Cinnamus  verändert.  Dies  wäre  nur  allenfalls  ein  metaplasmus. 
Ahnlich  steht  es,  wenn  Ausonius  Epigramm  73,  4  darin  einen  soUcismiis 
erblickt,  daß  ein  Mann  sich  AuxiUum  im  Neutrum  benennt. 

Nachsicht  ist  auch  da  geboten,  wo  späte  Autoren  einmal  falsch 
zitieren.  Plutarch  sagt  von  dem  Sophokleischen  Loblied  auf  Kolonos,  es 
sei  die  Parodos  des  Oedipus  Col. :  ein  Gedächtnisfehler.  Bei  den  Schohasten 
laufen  dann  bei  Zitaten  Avirklich  falsche  Herkunftsangaben  mit  unter,  s)  so 
wie  auch  Ausonius  am  Schluß  seines  Cento  nuptiaHs  XXVIII  4, 6  den  Vers : 

lasciva  est  nobis  pagina,  vita  ptoba  est 
als  Eigentum  des  Plinius  zitiert;  er  gehört  aber  dem  Martial  I  4,  8. 

1)  Ygl.  Berl.  phil.  W.schr.  1910  S.  870.  ^)  Siehe  E.  Bloch,  De  Pseudo-Luciani 

2)  Stahls  Interpunktion  leuchtet  hier   !    amoribus,  Straßburg  1907,  nach  Blümner. 
nicht  ein.  '")  Vgl.  Stemplinger,  Das  Plagiat  in 

^)  Siehe  F.  Blass,  Att.  Beredsamkeit       der  griechischen  Literatur  S.  244. 
I  S.  329  f. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        119 

Besonders  nachsichtig  Averden  wir  in  Dingen  der  Naturgeschichte 
sein.  0\äds  astronomische  Kenntnisse  waren  nicht  groß,  und  bei  der 
Schilderung  der  Himmelfahrt  des  Phaethon  zählt  er  die  Sternbilder  offenbar 
recht  flüchtig  auf  (Metam.  II).  i)  Auch  Ovids  Fasti  enthalten  astronomische 
Intümer  und  Flüchtigkeiten.  2)  Horaz  redet  Epist.  1,  7,  29  vom  Fuchs, 
der  in  der  Kornkiste  zu  sitzen  und  sich  rund  zu  fressen  pflege.  Bentlev 
wollte  hier  diesen  kornfressenden  Fuchs  wegkorrigieren;  aber  grade  in 
antiken  Tierfabeln  finden  sich  öfter  solche  Fehler.  3)  Auffallender,  daß 
in  Horaz  Oden  I  2,  10  die  zahmen  Tauben  auf  einer  Ulme  sitzen,  noch 
mehr,  daß  bei  Vergil  Ecl.  2,  9  die  Eidechsen  in  der  Mittagshitze  sich  in 
den  Dornen  verbergen.  Yergil  mußte  in  jedem  Fall  wissen,  daß  dies 
falsch,  daß  diese  Tiere  grade  alsdann  sichtbar  werden  und  sich  im  Halb- 
schlaf auf  den  Mauern  sonnen.  Es  bleibt  nichts  übrig,  als  anzunehmen, 
daß  Vergil  eine  Hyperbel  geben  mll:  „es  ist  so  heiß,  daß  sogar  diese 
Eidechsen  wider  ihre  Gewohnheit  sich  nicht  zeigen,  während  ich,  Corydon, 
doch  umirre,  weil  die  Liebe  mich  treibt."  Daher  wiederholt  auch  die 
Oopa  V.  28  mit  dem  Ausdruck  des  Erstaunens  vere  (d.  h.  „es  ist  wirklich 
so")  dieselbe  Wendung.*)  Nun  aber  Plinius;  er  teilt  uns  nat.  bist.  12,  7 
über  die  Platane  mit:  alias  fuisse  in  Italia  ac  nommatim  Hispania  apud 
auctores  invenifur.  Hier  zeigt  nominatim,  daß  Plinius  einen  Namen  geben 
Avill,  und  es  ist  ohne  Zweifel  spaniam  statt  Hispania  zu  lesen.  Denn 
Plinius  folgt  hier  dem  Theophrast  bist.  pl.  4,  5,  6 :  onaviav  de  xai  ev  ''liaUq 
jido}].  Theophrast  sagt  also,  die  Platane  ist  in  Italien  selten,  ojravia, 
Plinius  macht  daraus :  der  Baum  heißt  in  Italien  spania.  Irren  ist  menschlich. 

Vor  allem  beim  Übersetzen.  Beim  Brand  Roms  unter  Nero,  sagt  Cassius 
Dio62, 17, 2,  seien  vfjooi  abgebrannt;  er  hat  insulae,  Quartiere,  falsch  ver- 
standerj.5)  Noch  scherzhafter  der  IiTtum  in  den  lateinischen  Glossaren,  den 
G.Löwe  (Prodromusp.133)  nachwies.  Im  Corp.gloss.II  569,24  steht  erklärt: 

babylonicum :  sine  aspiratione. 
Diese  fabelhafte  Erklärung  ist  aus  folgender  YerAvechslung  hervorgegangen: 
hahißonicum  ist  ein  asiatisches  Kleidungsstück  und  war  ursprünglich  mit 
i^nlr]  erklärt;  denn  \pdr}  {otoXyj)  bedeutete  eben  ein  babylonisch-persisches 
Gewand. "  Der  Glossator  dagegen,  der  dies  %h17}  ins  Latein  umzusetzen 
hatte,  nahm  es  als  sine  aspiratione,  das  ist  Spiritus  lenis. 

Sollen  wir  aber  auch  solchen  Unsinn  hinnehmen,  wie  wenn  Cicero 
von  AYassertieren,  ranae  marinae,  die  sich  am  Meeresgrund  befinden,  aus- 
sagt: sie  bewegen  sich  in  der  Nähe  des  Wassers,  moveri  prope  aquam 
(de  nat.  deor.  2, 125)?  Hat  auch  er  seine  Quelle  nur  in  lächerlicher  Weise 
mißverstanden?     Hier  scheint  mir  doch  ein  Eingriff  immer  noch  nötig. «) 


*)  JüL.  HüPKENS  Interpretationsver- 
such (Die  Fahrt  des  Pliaethon,  Emden  1899) 
ist  scharfsinnig,  aber  verfehlt:  das  gleiche 


Venusinae  S.  98  ff.    Irrig  F.  Kühl,  Rhein. 

Mus.  67  S.  159. 

^)  Hiermit  erledigt  sich,  was  man  hier- 
muß von  desselben  Schrift  „Die  Ent-  |  über  bei  F.  Kepplbr,  Ueber  Copa,  Leipz. 
stehung  der  Phaenomena  des  Eudoxos-  |  1908,  S.82  ausgeführt  findet,  spineta  kön- 
Aratos",  Emden  1905,  gelten;  s.  Boll,  nen  bei  Vergil  natürlich  dornumwachsene 
Berl.  philol.  W.schr.  1908  S.  1298.  |   Mauern  bedeuten. 

2)  Härder,  Astrolog.  Bemerkungen  zu    |  •^)  Gercke,  Neue  Jahrbb.  22  S.  204. 
den  röm.  Dichtern,  Berlin  1893.                     i  «)  Siehe  De  Halieuticis  p.  90. 

3)  Dies   zeigte   schon  Jacobs,   Lect.   j 


120  Kritik  und  Hermeneutik. 

Und  die  hundert  Füße  der  Nereiden?  Auch  sie  Idingen  bizarr,  aber  mit 
ihnen  steht  es  zum  Glück  anders.   Sophokles  singt  Oed. Col.  719  vom  Schiff: 

dgwoxei  rwv  exazojujiödcov 
Nfjg/jöcov  dxoXovdog. 

Auch  an  diesem  exaroi^moöwv  nahm  man  Anstoß,  imd  Gleditsch  setzte  dafür 
exaxov  xogäv.  Denn  bei  Properz  und  O^dd  werden  zwar  hundert  Nereus- 
töchter  gezählt :  centum  Xereo  genitore puellae,  aber  doch  nicht  hundert  Füße, 
Uns  genügt  dagegen,  daß  es  bei  Hesiod  Theog.  264  just  fünfzig  Nereiden 
sind.  Man  zähle  nach:  fünfzig  Nereiden  ergeben  hundert  Füße.  Die 
Rechnung  stimmt.  Der  Dichter  täuschte  sich  nicht.  Der  Text  ist  gesichert,  i) 
Eine  andere  Frage  ist  freilich,  ob  wir  solche  Rechnung  auch  poetisch 
finden.  Auf  alle  Fälle  aber  ist  sie  naiv,  und  solche  Naivität  entspricht  gewiß 
dem  Tenor  der  altgriechischen  Muse.  Ebenso  naiv  verfulir  ja  auch  Hesiod 
selbst,  der  a.  a.  0.  erst  die  sämtlichen  Namen  der  Meerfrauen  katalogisiert 
und  sie  dann  addiert  und  sagt:  dies  sind  fünfzig.  Man  sehe  auch 
das  xQOLTog  iooipvxov  =  diiiwxov  in  des  Aeschylus  Agamemnon  1469  darauf 
an.  2)  Noch  naiver,  oder  sollen  wir  sagen  ungeschickter,  ist  es,  wenn  es 
bei  Catull  63,  75  von  der  Rede  eines  Sterblichen  heißt,  daß  sie  zu  „beiden 
Ohren"  nicht  eines  Gottes,  sondern  „der  Götter"  gelangt:  geminas  deoriim 
ad  auris.  Zwei  Ohren  paßten  doch  nui'  für  einen  Gott.  Zählen  wir  zAvölf 
Götter,  so  wäre  hier  im  Stil  des  Sophokles  von  vieinindzwanzig  Ohren  zu 
reden  gewesen.  AVir  sollen  natürhch  „je  zwei"  verstehen.  In  diesen 
Zusammenliang  gehört  aber  auch  die  Catullstelle  51,  11.  Es  handelt  sich 
imi  das  berühmte,  aus  Sappho  übersetzte  Gedicht,  wo  wir  mit  den  Hand- 
schriften folgendermaßen  lesen: 

lingua  sed  torpet,  tenuis  sub  artus 

flamma  demanat,  sonitu  suopte 

tintinant  aures,  gemina  teguntur 
lumina  nocte. 
Die  beiden  Augen  werden  hier  also  mit  „zweifacher"  Nacht  bedeckt;  näm- 
lich für  jedes  Auge  ist  eine  da.    Man  sehe  auf  Sophokles,  um  das  zu  A'ei- 
stehen,  und  alle  Korrekturen  sind  überflüssig.  3) 
Zahlen-  Die  Besprechung   dieser  Stellen  führt  mich  schließlich  noch  auf  das 

Rätsel  des  Altertums  und  das  absichtHche  Verstecken  eines  Wortes. 
Zunächst  ein  Spiel  mit  Zahlen.  In  der  Johannesapokalypse  wird  Kaiser 
Neros  Name  verschwiegen;  wir  sollen  ihn  erraten,  Avenn  es  13,  18  vom 
zweihörnigen  Tiere  heißt:  Söe  fj  oo(pia  eoriv  6  e/cov  vovv  yjrjcpiodTOj  rov 
äQt§ij,6v  xov  &rjoiov  ägi&judg  ydg  ävd^Q(I)7iov  eori,  xal  6  ägiß^judg  avrov  e^a- 
xöoioi  e^Yjxovxa  e^.  Die  Summe  666  ergibt  in  hebräischen  Zahlzeichen 
den  Namen  Neros  (Kmoag  Negcoi').  Im  Bamabasbrief  werden  die  318  Mann, 
die  Moses  beschneidet,  auf  den  Namenszug  Christi  gedeutet:  I H  und  T 
(=  300):  das  T  sei  das  Kreuz.  Auch  im  Pseudo-CaUisthenes  1 33  stehen  Verse 
des  Sarapis,  in  denen  der  Gott  seinen  Namen  mittels  Zahlen  umschreibt. 
Sollte  nicht  auch  etwas  Ähnliches  zugrunde  liegen,  w^enn  Theokrit  17,  82  ff. 


rätsei 


*)  Man  setze  übrigens  als  Xominativ 
nicht  Exazof^ijiovg,  sondern  epiaröfxjioöog  an; 
vgl.  homerisches  sy.aröyxeiQog ;  daher  stehen 
auch  in  der  Antigene  140  der  Korrektur 


öe^io/stQog  keine  Bedenken  entgegen. 

^)    Nach    Petersens    Erklärung    im 
Ehein.  Mus.  66  S.  35. 

3)  M.  Haupt  irrte  hier,  Opusc.  I  S.  106. 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik,     B.  Historische  Interpretation.        121 

uns  sonderbarerweise  sagt,  daß  Ptolemaeus  über  33333  Städte  herrscht?  \) 
Zum  Dank  für  die  Feier  seines  70.  Geburtstages  gab  Bücheier  ein  Muster- 
beispiel feiner  Interpretationskunst  und  Rätsellösung  zum  besten:  s.  Rhein. 
Mus.  61  S.  307  f.  Auf  Nero,  den  Muttermörder,  gingen  die  Worte  um: 
veoiprjcpov  Negcov  lÖiav  firpega  änexxeive  (Suet.  Ner.  39).  Die  Schriftzeichen 
des  Namens  Nsgcov  ergeben,  als  Zahlen  gelesen,  die  Summe  1005,  die 
Buchstaben  in  den  Worten  idiav  jurjrega  äjiexreivE  gleichfalls  1005.  Der 
Sinn  ist  also:  hier  ist  ein  neues  io6tprjq?ov,  denn  Neros  Name  bezeichnet 
arithmetisch  den  Muttermörder. 

Im  übriofen  ist  es  nicht  dieses  Ortes,   die  antike  Rätsellitteratur  vor-     Rätsei 
zuführen,    an  der  sich  der  Menschenwitz    des  Altertums  übte   und   heute 
noch  wenigstens  der  Philologen witz  üben  kann.  2)     Die  Subtileren   unter- 
schieden zwei  Arten,  das  aiviyjna  und  den  yolcpog.^)    Das  erstere  rechneten 
die  Rhetoren  zur  Allegorie,  und  seine  Darstellungsart  kam  auf  das  hinaus, 
was  man  Periphrasis  nennt ;  d.  h.  es  wird,  wie  in  der  Turandot,  eine  Be- 
schreibung oder  Umschreibung  des  Gegenstandes  gegeben,  und  wir  sollen 
erraten,  was  gemeint  ist.    Sogar  die  Tragödie  brachte  das.    In  des  Pacuvius 
Antiope  Avill  Amphion  von  seiner  Schildkrötenleier  reden   und   sagt  statt 
dessen  geheimnisvoll,  um  sich  als  Dichter  zu  markieren: 
quadrupes  tardigrada  agrestis  humilis  aspera 
capite  brevi,  cervice  anguina,  aspectu  truci 
eviscerata,  inanima  cum  aniEaali  sono. 
Die  Bürger  sagen  darauf:  non  hiteUegimus;    worauf  Amphion  mit  einem 
Wort   die  Lösung   gibt:    testudo,    und  Cicero,'')   der   uns    das   ausschreibt, 
dazu    ausruft:    „Konntest   du   das   nicht   gleich    sagen,    o   Saitenspieler?'* 
Sonst  verweise    ich  hier   nur   auf  die  yglcpoi   bei  Athenaeus  X  c.  69 — 89 
und   auf   die  Aenigmata    des   Symphosius,    Anthol.  lat.  286.     Symphosius 
gibt  da  in  den  Überschriften  selbst  die  Rätsellösung  (vgl.  oben  S.  13). 

Bisweilen  greifen  aber  auch  Volldichter  wie  Properz  und  Yergil  zum 
(h-iphos,  und  rücken  dem  Philologen  die  Aufgabe  näher,  sich  mit  solchen 
Spitzfindigkeiten  und  Yersteckenspielen  zu  beschäftigen.  Mag  man  sagen, 
solche  Fälle  zu  Avürdigen,  gehöre  schon  nicht  mehr  zu  den  Aufgaben 
der  „niederen  Exegese" ;  wir  müßten  sie  für  die  „höhere"  aufsparen.  Das 
Thema,  das  vom  Rätsel  handelt,  verführt  uns,  sie  gleich  hier  mit  abzumachen. 

Abstrus  und  schwierig  bleibt  das  Yergilgedicht  im  Catalepton  Nr.  12,     veigii 
welches  in  dreimal  drei  Versen  lautet: 

Süperbe  Noctuine,  putidum  caput, 
Datur  tibi  puella,  quam  petis,  datur. 
Datur,  süperbe  Noctuine,  quam  petis. 

Sed  o  süperbe  Noctuine,  non  vides 
5  Duas  habere  filias  Atilium, 

Duas,  et  hanc  et  alteram,  tibi  dari? 

')  UioP^/iaTog  ergibt,   wenn  man  das  Ä  2.  xVufl.,  Berlin  1912.     Ceber    das  Rätsel- 

=  80 (XX)  rechnet,    die   Zahl  30776,   cpdd-  \   buch   der  Kleobulina  O.  Crusius,    Philol. 

f^f/.ffoc,  das/  als  30  gezählt,  l::i50:  ßaodsvg  \   55  S.  3.    Uebrigens  machte  Klearchus  im 

i)FÖg  1122;  zusammen  33248.  Altertum  eine  Sammlung  unter  dem  Titel 

2)  Siehe  W.  Schultz,  Rätsel  aus  dem  I   jtsgl  yoicpcov. 


Catal.  IL 


hellenistischen  Kulturkreis,  gesammelt 
und  bearbeitet,  Leipzig  1909;  K.  Ohlert, 
Kätsel  ujid  Rätselspiele  der  alten  Griechen, 


3)  Siehe  R.  Volkmann,   Rhetorik   der 
Griechen  und  Römer^  S.  431  f. 

4)  De  divin.  2,  133. 


122  Kritik  und  Hermeneutik. 

Adeste  nunc,  adeste:  ducit  ut  decet 
Superbus  ecce  Noctuinus  hirneam. 
Thalassio,  thalassio,  thalassio! 

AVer  mir  eine  bessere  Aufklärung  bringt,  als  ich  sie  gefunden,  dem  will 
ich  großen  Dank  wissen.  Inzwischen  verstehe  ich  so:  Noctuin  macht 
Hochzeit  und  ist  stolz  auf  seinen  Erfolg  (superbus).  Der  Dichter  steht 
mit  dem  Volk  auf  der  Gasse,  wo  man  fescenninische  Spaße  treibt,  und 
ruft:  Noctuin  erhält  die  Tochter  des  Atilius  zur  Ehe;  er  hat  die  eine 
schon  heimgeführt;  aber  Atilius  hat  zwei  Töchter,  und  er  bekommt  sie 
beide.  „Jetzt  gebt  acht,"  v.  7:  „jetzt  führt  er  die  ZAveite  heim,"  also  ein 
zweiter  Hochzeitszug,  „und  es  ist  das  Trinkgefäß,  die  hirnea,  die  er  in 
sein  Haus  schleppt."  Atilius  muß  Inhaber  einer  Töpferei  gewesen  sein,i) 
und  das  Ganze  ist  ein  Töpferwitz.  Es  war  ganz  gang  und  gäbe,  daß  der 
Töpfer  Vater  des  Gefäßes,  daß  das  Gefäß  Tochter  des  Töpfers  hieß. 2) 
Es  steckt  dann  der  Sinn  dahinter,  daß  Noctuin  trunksüchtig  ist;  vielleicht 
liebte  aber  auch  seine  Braut,  die  wirkliche  Atiliustochter,  das  Trinken. 
Mir  fällt  dabei  das  Martialgedicht  6,  27  ein,  wo  es  sich  um  Vater  und 
Tochter  handelt.  Martial  ermahnt  den  Vater,  seinen  alten  Falerner  docli 
ja  selbst  auszutrinken  und  nicht  für  seine  Tochter  aufzusparen;  für  die 
Tochter  genüge,  daß  sie  frischen  Most  trinke,  und  mit  dem  Most  soll  sie 
alt  werden. 
Catuu  55  Sehr  viel  durchsichtiger   sind  die  zwei  Cameriusgedichte  des  Catull, 

nsß'^  c.  55  u.  58b, 3)  die  den  Leser  auf  das  harmloseste  foppen.  Unsere  Er- 
klärer sind  freilich  immer  noch  nicht  dahintergekommen,  und  Catull  würde 
über  sie  staunen.  In  dem  einen  Stück  heißt  es  ungefähr:  „Bitte,  Freund, 
zeige  mir  an,  wenn's  beliebt,  wo  du  steckst?  Ich  suchte  in  allen  Gegenden 
der  Stadt,  wo  viel  Weiber  anzutreffen  sind,  nach  dir.  Schließlich  packte 
ich  eine  von  ihnen:  Gebt  mir  den  Camerius  heraus!  Die  Frauenzimmer 
antworteten:  Nimm  dir  den  nackten  doch!  hier  in  unseren  rosigen  Brüsten 
steckt  er!  Willst  du  ihn  mit  dir  schleppen,  so  mußt  du  die  Kräfte  des 
Hercules  haben;  so  schAver  ist  er!"  Was  war  nun  dieser  Camerius? 
Die  Herausgeber  versichern  kurzweg:  ein  Freund  des  Catull!  Das  ist 
rührend.  Ein  ausgewachsener  Freund,  der  nackt  herumläuft?  Der  wäre 
auch  im  alten  Rom  wie  bei  uns  polizeilich  verboten  gewesen!  und  ein 
Freund,  der  gar  in  den  rosigen  Brüsten  steckt?  Wie  viel  Raum  ist  denn 
zwischen  den  Brüsten?  Es  wird  gestattet  sein,  sich  dies  zu  überlegen. 
Größer  als  ein  Fuß  kann  dieser  Camerius  bestenfalls  nicht  gewesen  sein ; 
sonst  hatte  er  da  keinen  Platz.  Aber  die  rosigen  Brüste  {roseae  papillae) 
könnten  noch  etwas  ganz  anderes  sein;  sie  könnten  auch  Rosenknospen 
bedeuten.*)  Dann  waren  die  Weiber,  die  da  sprechen,  Blumenverkäufe- 
rinnen, und  Camerius  war  noch  viel  winziger;  er  saß  in  den  Knospen, 
wie  der  kleine  Amor  in  den  Anacreonteen  es  tut.  Catull  könnte  von 
seinen  Interpreten   in   der  Tat   etwas   mehr   muntere   Phantasie   und    vor 

')  Siehe  Ehein.  Mus.  65  S.  347  f.  wieder   die   Stillosigkeit,    beide    Gedichte 

'^)  Zu  den  andern  Orts  beigebrachten  \  in  eins  zu  verbinden. 

Belegen  füge  ich  Antiphanes  II  31  K.  und  \  *)  Diese  Annahme  wird  dadurch  nahe- 

Anthol.  lat.  481  hinzu.  |  gelegt,  daß  in  papülis  doch  wohl  schwer- 

^)  Friedrich  begeht  in  seiner  Ausgabe  |  lieh  für  inter  papiUas  stehen  kann. 


f> 


II.  Der  niedere  Teil  der  Hermeneutik.     B.  Historische  Interpretation.        123 

illein  genauere  Kenntnis  des  antiken  Lebens  verlangen.  Man  muß  wissen, 
daß  man  sich  Spielkinder,  pueri  minuti,  die  nackt  herumliefen,  in  den 
Häusern  hielt;  sie  hießen  mit  festem  Terminus  ol  yv/ivoL^)  Die  Liebe  zu 
den  Putten  herrschte  durchaus  nicht  nur  in  den  BildAverken,  sondern 
auch  im  Leben.  Nun  lieben  es  die  Dichter,  die  Kleinheit  auch  noch 
abenteuerlich  zu  übertreiben,  so  wie  es  der  Epigrammatiker  Lukillos  mit 
seinem  fieyas  Ev/irjxiog  tut,  der  unter  einem  Essignäpfchen  eingeschlafen 
ist  (Anthol.  Pal.  XI  105,  wo  auch  noch  mehr  Spaße  dieser  Art).  Deshalb 
sagt  Catull  im  zweiten  Cameriusgedicht  58b:  „gib  mir  die  Flügel  der 
Winde,  daß  ich  dich  finden  kann;  indem  ich  dich  suchte  (quapritando), 
bin  ich  zu  Tod  ermüdet."  Der  Kleine  hat  sich  also  in  irgendeinen  Winkel 
versteckt;  der  Dichter  verfolgt  nicht  etwa  den  Fliehenden,  sondern  er 
sucht  den  Versteckten ;  andernfalls  stünde  nicht  qiiaeritando,  sondern  per- 
scqurndo. 

Besonders  anmutig  hat  aber  Properz  sich  desselben  rätselnden  Scherzes  Properz 
bedient,  wenn  er  uns  c.  II  29a  folgende  Szene  schildert:  „Als  ich  gestern 
nacht  trunken  durch  die  Straßen  schweifte,  überfiel  mich  ein  Schwärm 
von  kleinen  Knaben  {jyueri,  furha  minuta  v.  3),  die  nackt  waren  {uudi 
fiierant  v.  7)  und  Pfeile  und  Fackeln  trugen,  und  ein  besonders  dreister 
(lascivior)  sprach:  „Dieser  ist's!  bindet  ihn  und  schleppt  ihn  nach  Haus, 
zu  seiner  Geliebten,  die  zornig  ist.  Sie  hat  ihn  uns  überwiesen  {locavit).''' 
Was  sind  das  für  Knaben?  Das  sollen,  meint  man,  Avirkliche  Liebesgötter 
gewesen  sein.  0  Wunder!  Jeder  Römer  würde  über  diese  Erklärung  ge- 
lacht haben.  Es  sind  dieselben  yvfivoi,  von  denen  ich  sprach  und  die 
jeder  kannte.  Besonders  elegante  Frauen  hielten  sich  solche  und  staffierten 
sie  gern  als  Amoretten  aus.  Sie  fliegen  ja  auch  nicht,  sie  laufen  nur  auf 
der  Gasse  einher  und  haben  den  Auftrag,  den  unhäuslichen  Dichter  heim- 
zuholen. 2) 

Rätselnde  Gedichte  ganz  desselben  Stils  sind  z.  B.  auch  in  der  Pala- 
tinischen Anthologie  Yir  421  die  Grabschrift  über  einen  Beflügelten  mit 
Jagdspieß  und  ebenda  VII  427:   „Rate,  wer  hier  begraben  ist"  u.  s.  f. 

Arg  aber  ist  es,  und  damit  will  ich  schließen,  daß  die  Fragen,  mit  Vergii  EcI. 
denen  die  Hirten  bei  Vergil  Ecl.  3,  104  f.  sich  unterhalten,  „in  welchen 
Ländern  ist  der  Himmel  nur  drei  Ellen  breit?",  „in  welchen  Ländern 
wachsen  Blumen,  die  Königsnamen  eingeschrieben  auf  ihren  Blättern 
tragen?"  immer  noch  nicht  beantwortet  sind.  Was  Servius  dazu  vor- 
bringt, befriedigt  durchaus  nicht,  und  in  Wirklichkeit  kann  auch  kein 
Mensch,  auch  kein  Philologe,  s)  kann  nur  ein  Gott  die  Antwort  finden.  So 
dachte  wenigstens  Vergil  selbst,  wenn  er  sagt:  et  eris  mihi  magnus  Apollo.'^) 

^)  Vgl,  De   amoriim   in   arte   antiqua  S.  1289  f. 

simuJacris  et  de  pueris  minutis,  Marburg-  ^)  Vgl.  z.  B.  Wright  in  Class.  Eeview 

1892:     dazu    Deutsche    Eundschau    1893  i    1901  S.  258. 

S.  1^70  f.  (Wer  kauft  Liebesgötter).    Blüm-  !           ■*)  Ungelöst  ist  auch  das  jiegicpsQÖ^ievov 

xp:R,Dieröm.Privataltertümer,  weiß  davon  |   von  den  fünf  Männern  auf  zehn  Schiffen 

nichts!  u.  s.  f.,  Athen,  p.  457  B. 


)   Vgl.  Berliner   philol.  W.schr.  1898 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes. 

Der  Text  ist  nach  den  besten  Quellen  festgestellt.  Derselbe  ist  danach 
auch  interpretatorisch  durchgearbeitet  worden.  Aber  diese  Interpretation 
ist  ab  und  an  auf  unlösbare  SchAvierigkeiten  gestoßen.  Es  gibt  Stellen, 
die  wir  nicht  verstehen.  Es  sind  die  cruces  interpretum.  Der  Anstoß 
kann  sachlich,  kann  auch  nur  rein  logisch,  er  kann  grammatisch,  er  kann 
stilistisch  sein.  Sollen  wir  uns  bei  dem  „non  liquet"  beruhigen?  Wir 
folgern  vielmehr:  die  Stelle  ist  korrupt,  und  es  ergibt  sich  eine  weitere 
Pflicht  des  Lesers,  vor  allem  des  Editors:  die  Feststellung  der  Text- 
schäden vind  der  Versuch,  sie  zu  beseitigen.  Dieser  Versuch  ist  Sache  der 
Divination. 
Un-  Freilich   gibt   es  Fälle,    wo   der  Editor   sich   zurückhalten  muß.     In- 

^^Texte^^  Schriften,  Papyrusurkunden  wollen  Avir  im  Originaltext  mit  all  seinen 
Fehlern  abgedruckt  haben.  Dasselbe  gilt  von  Texten,  die  im  Verdacht 
der  Fälschung  stehen,  Avie  z.  B.  den  Versen  der  pseudo-emipideischen 
Danae.i)  Aber  auch  bei  einem  Text  A^on  solcher  Wichtigkeit  Avie  Festus, 
der  überdies  nur  in  einer  Handschrift  A^orliegt,  billigen  Avir  dies  Verfahren, 
das  einst  0.  Müller  innehielt.  Nicht  anders  beim  Corpus  glossariorum 
latinorum,  in  Avelchem  Sammeldruck  die  Glossarien,  Avie  sie  sind,  neben- 
einander stehen  und  sich  mit  ihren  Fehlern  gegenseitig  kontrollieren. 
Aber  auch  bei  Plautus  ist  Zurückhaltung  geboten,  da  es  bei  ihm,  ins- 
besondere in  den  Cantica,  in  unendlich  vielen  Fällen  so  scliAver  ist,  die 
Hand  des  Autors  Aviederherzustellen,  und  die  kleine  Plautusausgabe  von 
Götz  und  Scholl,  die  sich  mit  Konsequenz  befleißigt,  die  Überlieferung 
erkennbar  A^orzulegen,  war  daher  besonders  AAdllkommen. 

Konjektur  jjj^  übrigen  hat  die  Konjektur  den  Textschaden  zu  beseitigen.    Das 

Konjektm^enmachen  ist  ein  Nachdichten,  es  ist  Kunst  und  Avie  jede  Kunst 
A^or  allem  Sache  des  Talents,  sodann  aber  auch  Sache  der  Übung  und 
eines  erst  allmählich  reifenden  Taktes.  Voraussetzung  ist  dabei  die 
Kenntnis  der  Paläographie.  Es  gibt  Genies  der  Konjektur  Avie  N.  Heinsius, 
Bentley,  Bücheier;  Ariele  aber  hat  ihre  Begabung  A'erführt,  und  sie  änderten 
den  Text  aus  elegantem  Trieb  und  purem  Wohlgefallen.  Es  ist  ja  hübsch 
und  vergnüglich,  mit  leichter  Hand  einen  Autor  zu  A-erschönem  oder  um 
eine  Pointe  zu  bereichern.  Aber  in  solchen  Fällen  korrigiert  man  eben 
dem  Autor  selbst  sein  Konzept;  als  Motiv  zum  Ändern  des  Textes  ge- 
nügt der  Umstand  nicht,  daß  uns  der  Wortlaut  nicht  gefällt.  Es  ist  viel- 
mehr dreierlei  zu  leisten:  1.  der  zAvingende  NacliAA'eis,  daß  das  Über- 
lieferte unrichtig  und  in  keiner  Weise  zu  rechtfertigen  ist.     Hierin  kann 

^)  Nauck,  Fragm.  trag.  p.  714  f. ;  Wünsch,  Ehein.  Mus.  51  S.  188  f. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  125 

man  sicli  schließlich  sehr  wohl  einigen.  2.  Der  NacliAveis,  welcher  Sinn 
an  Stelle  des  Verderbten  erfordert  wird;  auch  liierin  ist  meistens  eine 
Kinigung  noch  möglich.  3.  Die  Konjektur  selbst;  sie  bleibt  sehr  oft  nur 
ein  Versuch,  für  den  postulierten  Sinn  das  originale  Wort  zu  finden. 

Das  geistreiche  Konjizieren  war  von  jeher  und  bis  in  meine  Jugend- 
zeit hinein  das  Lieblingskind  der  Philologie.  Wenn  uns  Th.  Bergk  den 
Sophokles  interpretierte,  tat  er  eigentlich  nichts  als  das.  Man  sollte 
glauben,  daß,  seitdem  unsere  Wissenschaft  sich  darauf  besonnen  hat,  daß 
sie  A'or  allem  Kulturgeschichte  ist,  ein  derartiger  morbus  ausgestorben 
sei.  Doch  erlag  noch  Emil  Bährens  ganz  diesem  Triebe,  und  er  hat  uns 
viele  Texte  verdorben  (Catull,  Properz,  fragmenta  poetarum  lat. ;  Tacitus' 
Dialog),  und  van  der  Vliet  machte  es  in  seinem  Apuleius  nicht  besser 
als  er.  Heutzutage  sind  es  Housman  in  England  und  Senger  in  Peters- 
l)urg,  die  uns  durch  ihr  rasches  Verfahren  die  Texte  gefährden.  Das 
Folgende  mag  als  eine  Anleitung  in  der  Kunst  des  Emendierens  insofern 
aufgefaßt  werden,  als  darin  einer  Pflicht  und  Aufgabe  besonders  nach- 
gegangen werden  soll.  Dies  ist  die  Pflicht,  bei  jeder  Textänderung  den 
Irrtum,  der  vorliegt,  zu  erklären  und  auf  eine  Ursache  zurückzuführen.  Je 
nach  der  Art  der  Korruptel  ist  die  Heilung  des  Schadens  leicht  oder  schwerer. 

Nützlich  Avaren  hierfür  z.  B.  C.  G.  Cobets  Variae  lectiones  (Leiden  1854, 
erweitert  1873)  und  Xovae  lectiones  (Leiden  1858),  in  denen  griechische 
Texte  behandelt  sind;  füi'  das  Lateinische  Carl  Heraeus,  Studia  critica  in 
Mediceos  Taciti  Codices,  Marburg  1846,  und  W.  Heraeus,  Quaestiones  criticae 
de  codicibus  Livianis,  Berlin  1885;  Karl  Fuchs,  Kritische  Studien  zum 
Pandektentexte ,  Leipzig  1867;  besonders  L.  Havet,  Manuel  de  critique 
verbale  appliquee  aux  textes  latins,  Paris  1911,  S.  119  ff. 

Ich  gebe  also  im  Folgenden  ein  Verzeichnis  von  Korruptelen  mit  den 
zugehörigen  Emendationen,  in  Beispielen,  die  vom  Leichteren  zum  Schwie- 
rigeren ansteigen.  Es  sind  dazu  möglichst  sichere  Beispiele  gewählt,  und 
eine  eingehende  Begründung   wird    in   den  seltensten  Fällen   nötig    sein. 

1.  Wort-  und  Silbentrennung. 

Den  antiken  Texten  fehlt  vielfach  die  Worttrennung,  es  war  scriptura  scriptur  i 
continua.  Daher  jene  Scherze  der  Alten,  über  die  oben  S.  49  gehandelt  wurde,  ^°^*^""'* 
wo  man  schwankte,  ob  mh'Ta  Äeojv  oder  IlavTalecov,  ob  in  culto  loco  oder 
incuHo  loco  gelesen  werden  sollte.  Dann  aber  irrten  sich  die  alten  Gram- 
matiker selbst;  so  wollte  Donat  in  Vergils  Aeneis  2,  798  exüio  in  ex  lUo 
zerlegen,  Servius  aber  hebt  tadelnd  hervor,  daß  dadurch  ein  metrischer 
Schnitzer  entstehe.  So  wird  nun  emendiert  (ich  stelle  links  die  Korruptel, 
reclits  die  ^Verbesserung) : 

PJaut.  Asin,  264 r  atriensh  anneae]  atriensi  Smcreae. 
Titinius  v.  81 :  tibi  ncgo]  tihin  ego  (corr.  Bücheier). 
A'olleius  2,  84:   7iam   deiUius   exemplis   uitae  naxuta  Dolahella  (transät)]   nam  DdJius 

cxempU  sui  temix  nt  a  Dolehella  (transiit),  corr.  Lipsius. 
Niimenius  bei  Athen,  p.  287  C:  y  ßaifj  ?tagTöi]  fjßair/  nagTÖt  (correxi). 
Athen,  p.  558  B:  wg  xä  tioDä  y    etoi  xavrr]g\  ojot    ajia)J.ayeToi  zavtrjg,  corr.  Dobree. 
Horaz  üd.  2,  11,  23:    ma füret  incomptum  Lacaemie    more  comam    religata  noclum]  hier 

ist  einfach  in  comptum  herzustellen;  Bentlcy  irrte. 


126 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Eigen- 
namen 


Gelegentlich  muß  die  Korrektur  eines  Buchstabens  nachhelfen;  Ovid 
Trist.  1, 11,  31:  adether{e)a  perme]  adsueta  rapinae,  corr.  M.  Haupt;  vielleicht 
auch  Catull  64,  309,  von  der  Haartracht  der  Parzen:  at  roseo  niveae  resi- 
debant  vertice  vittae]  atro  sed  niveae  residebant  vertice  vittcie;  doch  ist  mir 
diese  Änderung  unsicher  geworden.^) 

Im  Griechischen  ist  durch  Mißdeutung  der  Krasis  viel  versehen 
worden.  Im  Lucian  wird  öfter  rd  juu  statt  Tajiid  überliefert,  rd  xeivov  statt 
rdxeivov,  woraus  also  auf  den  Gebrauch  von  xelvog  im  Lucian  nicht  ge- 
schlossen Averden  kann.  Bei  Plato  findet  sich  xelvog  nur  oder  fast  nur 
nach  einem  ij.^)  xd  mr/jdeta  i.  Tdmrrjdeia  steht  Athen,  p.  614  C;  das  rd 
wurde  als  bloßer  Artikel  abgesondert.  Daher  steht  im  Lexikon  des  Hesych 
mrijuia  unter  11  als  Lemma,  aus  rd  emrljuiaj  bei  demselben  steht  unter  N 
gar  raxioviTov  (sie),  das  als  Küchengewürze,  aQTVjuara,  erklärt  wird:  es  ist 
rd  ex  Tov  vixQov  gemeint;  corr.  Pierson. 

FälschHch  steht  Aristophanes  Eccles.  405: 

avTÖg  ye  yLevr    ov  (päoxsv  i^udnov  k'xslv. 

Das  Gegenteil  wird  vom  Sinn  erfordert;  es  ist  juevroi  ecpaoxer,  mit  Krasis 
juevTov(paoxe  zu  lesen  (corrector  ignotus).^) 

Hierher  gehört  denn  auch  das  wichtige,  aber  sinnlose  cdte  delata  in 
Ennius'  Annalen  366.  Das  soU  „hocherhoben"  heißen.  Schon  0.  Müller 
erkannte  darin  alted  elata:  einer  der  seltenen  Belege  für  das  sog.  Ablativ-rf 
in  der  römischen  Buchlitteratur. 

2.  Eigennamen. 

Jeder  Eingriff  wird  auch  da  vermieden,  wenn  wir  ein  Wort  als  Eigen- 
namen auffassen  oder  eventuell  die  Auffassung  als  Eigennamen  verwerfen. 
Fälschlich  hat  Plinius,  wde  wir  sahen  (S.  119),  das  onaviav  bei  Theophrast 
hist.  plant.  4,  5,  6  für  einen  Namen  dei'  Platane  gehalten.  Fälschlich 
druckte  man  bei  Horaz  Sat.  1,  5,  52: 

Sarmenti  scurrae  pugnam  Messique  Cicirri 
Musa  velim  memores; 
es  ist  cicirri  zu  lesen;  denn  Messius  trat  als  xixig^jog,  in  der  E/olle  des 
oskischen  Pulcinella  oder  des  Hähnchens  auf  (s.  Hesych  s.  v.),  sowie 
Sarmentus  als  scurra^)  Horaz  wagte  es,  Vesper  statt  Hesperus  als  Namen 
des  Abendsterns  zu  verwenden;  nirgends  aber  ist  das  fürVergil  nachweis- 
bar, und  überall  ist  bei  ihm  vesper  mit  kleiner  Initiale  zu  drucken ;  ebenso 
bei  Catull  c.  62,  I.0)  Dagegen  nun  Seneca  Apotheos.  11,  vom  Kaiser 
Claudius:  occidit  socerum  Crassum,  frugi  hominem,  tarn  similem  eqs.]  lies 
Crassum  Frugi,  hominem  tmn  similem:  s.  Bücheier.  Doryphoros  hieß  der 
Minister  a  libelhs  des  Nero;  es  ist  also,  wie  bei  Dio  Cass.  61,5,  so  auch 
im  Auszug  des  Xiphilinos  doQV(p6Qq)  als  Name  zu  fassen,  ß)    Derartiges  ist 


1)  Siehe  Ehein.  Mus.  59  S.  423.  Durch 
den  Einfluß  von  Ciris  122  müßte  hier  die 
Korruptel  entstanden  sein.  Die  über- 
lieferte Lesung  ließe  sich  aber  auch  mit 
Luxorius  298, 1  ed.  Eiese  verteidigen,  wo 
es  heißt:  Rutilo  decens  capillo  \  roseoque 
crine  ephebus  \  spado  regius  mitellam  \  capiti 
suo  locavit. 


2)  Siehe  M.  Schaxz,  Plato  II  p.  \L 

3)  Anderes  gibt  A.  Brinkmann,  Ehein. 
Mus.  67  S.  611  ff. 

*)  Siehe  Dieterich,  Pulcinella  S.  94 
u.  244. 

5)  Siehe  Ehein.  Mus.  59  S.  409. 

ß)  In  griechischen  Hss.  pflegt  ein 
Eigenname    durch   eine  Linie   über   dem- 


III.  Die  emendatip  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  127 

natürlich  längst  berichtigt.  Bei  Menander  fr.  223  v.  1  korrigierte  Gesner 
K(jdT(üy  aus  xgaxdn'.  Die  Einwohner  von  Ai^wv))  in  Attika  waren  als 
Spötter  bekannt;  daher  ist  bei  Xenophon  Hellen.  2,  4,  26  statt  e^o)  veö)v 
richtig  Al^covecov  hergestellt.  So  ist  m.  E.  auch  bei  Krates  in  den  Theria, 
fVg.  15  K.  diä  Tov  Tiauoviov  in  diä  rov  Uaicoviov  zu  verändern;  Paionios  war 
Architekt;  es  handelt  sich  dort  aber  um  die  Konstruktion  einer  hohen, 
auf  Säulen  über  das  Land  geführten  Wasserleitimg,  die  in  der  Tat  einen 
ersten  Baumeister  erfordert,  i)  Nikolaos  von  Damaskos  erzählt  bei  Athen, 
p.  153  F,  daß  die  Römer  Gladiatorenkämpfe  gaben  naQo.  tvqolvvcdv  naga- 
Aaßöyreg  xö  eß'og,  wo  schon  Musurus  Tiagä  TvQQtjvcbv  verbesserte.  Bei  Theo- 
krit  singt  der  Hirt  8,  53  von  wvoeta  xäkavTa,  und  man  stellt  ohne  Be- 
lenken KgoLoeia  rdkavra  her. 
Leicht  ist  auch 

3.  die  Veränderung  der  Akzente. 

Denn  Akzentzeichen  wurden  in  den  antiken  Texten  entweder  gar  Akzent  u. 
nicht  oder  inkonsequent  und  nachlässig  gesetzt.  2)  In  Menanders  Epitre-  ^^"  "^ 
pontes  575  (Körte)  kann  das  ETTITAMON  als  im  ydjuov,  es  kann  als  emyajuov 
gelesen  Averclen;  der  Zusammenhang  muß  entscheiden.  Xenoph.  Memor. 
2,  7,  8  steht  das  Präsens  vjiojueveiVy  es  wird  aber  das  Futur,  also  imo^uevElv 
erfordert.  Xen.  Sympos.  2,  29  steht  rama  jidoxeiv  ä  xal  äXXoL,  der  Sinn 
erfordert  xamd.'^)  Schol.  Iliad.  B  111,  über  jueyag,  das  bei  Homer  zwei  Be- 
deutungen hat:  TOTE  de  avrö]  lies  röre  de  av  ro  (Lehrs,  Aristarch^  S.  17). 
Menander  fr.  62  Kock  noiei  der  Codex]  der  Imperativ  noiei  ist  nötig  (corr. 
Dalecampius).  Aristoph.  Pax  214  steht  dmoet  dixav,  dort  wird  aber  dorisch 
uesprochen,  also  dcooei.  Bei  Athenaeus  p.  75  D  steht:  Avögoricov  .  .  .  yeri] 
ovxoyv  rdöe  dvayod(pei,  es  handelt  sich  aber  nicht  um  Feigen,  sondern  um 
Feigenbäume,  daher  ist  ovxöjv  zu  schreiben  (Schweighäuser). 

Bei  Elisionen  wurde  der  Apostroph  gesetzt;  so  auch  im  Menander; 
gelegentlich  dabei  aber  der  Einfluß  der  Aspirierung  vernaclilässigt,  z.  B. 
Epitrep.  24  jiga^O^evT  Iv  rji  001,  ein  Verfahren,  das  sich  wiederum  von 
selbst  korrigiert. 

4.  Berichtigung  der  Interpunktion. 

Die  Interpunktion,  ori^eiv,  oTiyjmjy  das  Setzen  des  Punktes,  auch  der  inter- 
rraoaygacpri,  des  interductus,  war  schon  in  antiken  Texten  ausgebildet.  Die 
I^apyrusfunde  haben  uns  darüber  trefflich  unterrichtet.  Lehrreich  ist  auch 
die  sorgliche  Punktierung  in  den  alten  Yergilhandschriften.*)  Der  Heraus- 
geber eines  jeden  Textes  hat  sich  um  die  überheferte  Interpunktion  zu 
k'ümmern,  ob  der  Text  auch  nur  in  jüngeren  Handschriften  vorliegt.  Ich 
liabe  dies  in  meiner  Claudianausgabe  mitunter  mit  Nutzen  getan ;  danach 

selben  gekennzeichnet  zu  sein:  Cobet,  j  A'aticana  Proben  genommen.  Diese  Inter- 
Xov.  ]ect.  S.  530  f.  punktion  drückt  die  Gliederung  der  Eede 

^)  Vgl.  Elpides  S.  102  f.  ;   in  „commata"  aus,  worüber  Corpus  glossar. 

-)  Vgl.  z.  B.  A.  Körte,  Menandrea  ;  lat.  V  9,  17,  Isidor  Orig.  1,  19,  3:  praeclsiis 
p.  IX  f.  sensus   comma    dicitur   ut  apud   VergiUnin 

3)  Vgl.  Menander  Epitrep.  477.  arma    vinimque   cano    eqs.     Vgl.  übrigens 

*)  Ich   habe    im    Jahre   1900   auf    der   |   Kauer,  Wiener  Stud.  22  S.  59  f. 


punktion 


128  Kritik  und  Hermeneutik. 

ist  z.  B.  Nupt.  Honor.  136  der  Satzschluß  nach  exploratores  'peJagi  ge- 
wonnen, i)  Aber  natürlich  konnte  darin  schon  das  Altertum  irren.  So 
will  Servius  bei  Vergil  Buc.  3,  7  interpungiert  wissen: 

Parcius.    Ista  viris  tarnen  obicienda  memento: 
Aen.  6, 199  interpungierten  viele  irrig  hinter  pascentes  (s.  Servius),  und  zu 
Buc.  1,  28,  wo  es  vom  Bart  des  Tityrus  heißt: 

Candidior  postquam  tondenti  barba  cadebat 
bemerkt  Servius  gar :  mutanda  dist'mcüo ;  man  wollte  im  Tityrus  den  Yergil 
erblicken,   Yergil  Avar  aber   für   eine  harha  candidior  noch  zu  jung;   also 
soll  candidior  zu  Uhertas,  welches  Wort  im  voraufgehenden  Verse  steht,  ge- 
hören.    In  der  Ilias  E  297  f.  teilte  man,  toll  genug,    hinter  änogovoe  ab: 

Aiveiag  6'  ouiogovoe '  ovv  aajiiÖi  Sovgi  re  juaxgoj 
ösi'oag  //?/  Jicög  oi  igvoaiaro  vexgov  'Axaioi 
a.f.iqpi  6'  äg'  avtcb  ßaive, 

SO  daß  das  öe  im  zweiten  Satz  die  14.  Stelle  einnahm.  2) 

Daß   die   Interpunktion   irgendwo    auf   die   Originalhand   des   Autors 

selbst  zurückgehe,  können  war  nicht  sagen.    Wir  haben  also  freieste  Hand, 

liier  selbst  zu  entscheiden. s)     Vor  allem  können  da,    avo   es    sich  um  die 

^''^t"i^^'-,  Abtrennung    der   Kola   im    Satz    handelt,    Irrtümer    entstehen.     Aristoph. 

Acliarn.  69  f.,  wo  der  Gesandte  erzählt,  teilt  man  sinnAvidrig: 

xai  fifJT    hgv/öfiso&a  jraga  Kavoxgiov 
:i£Öicn'  *)  oöoiJikavoTnteg  eoxtjvrj^ievoi, 
i(p'  a.g(.iafia^(bv  fialdaxcög  xaraxsijusvoi, 
ajio)J.vix€VOi. 

d.  h.:  die  Gesandten  wurden  geschunden,  indem  sie  durch  die  Ebene 
unter  Zelten  umirrten!  Aber  wer  kann  unter  Zelten  umirren,  herum- 
scliAveifen?  odoinlavovvTeg  toxrjvrjuevoi  ist  falsch  verbunden.  Man  inter- 
pungiere : 

jiaga  Kavozgiov 
jTsdiov  6ÖoiJT?.avoi'VTsg,  ioxrjvrj/iisvoi 
£(p'  dgiuajua^<m',  jua)Maxcog  xataxei/usvoi, 

und  es  ist  dabei   zu  erinnern,    daß    die   persischen  Reisewagen   eben   ein 
Zeltdach  hatten,    was   uns  Aristophanes   hier   so   anschaulich  Avie  möglich 
macht,  ö) 
cir.  nat.  Bei  Cicoro  de  nat.  deor.  1,  20   korrigiert   man   überflüssigerweise    so: 

ckor.  1.20  ^^y^^^Q^^  ^^yQ  g^  vestra  est,  Lucili,  (^eademy,  eadem  requiro,  quae  paulo  ante : 
miuistros  machinas  eqs.  Dies  doppelte  eadem  ist  aber  garstig,  und  AA-ir 
brauchen  es  nicht;  sondern  es  ist  einfach  abzuteilen:  pronoea  vero  si  vestra 
est,  Lucili,  eadem,  requiro  quae  paulo  ante;  d.h.  „ist,  Lucilius,  eure  stoische 


^)  Vgl.  auch  meine  Praefatio  zum  Cod.    \   herausgab,    haben   wir    eine  Menge    sinn- 
Neapolitanus  des  Properz  p.  XXIX.  loser    Stellen    stillscliweigend    durch   Be- 

2)  Siehe  L.  Friedläxder,    Xicanoris    \    richtigung  der  Interpunktion  geheilt. 

.1. 7L  oriy/Lifjg  S.  44.  |  '')  Unsichere  Lesung;    man   erwartet 

3)  So    auch   bei   Originaldrucken    der   I   jioxafxov. 

Eenaissancezeit.   Im  Hermann  Schotten,    !  ^)  Vgl.  Aesch.  Pers.  1001 :   den   Aus- 

Ludus    Martins    (ein    Drama    über     den   |   führungen  HuGO  Webers,  Aristophanische 
Bauernkrieg  des  Jahres  1525),  den  Schrö-    j    Studien,  zu  dieser  Stelle  kann  ich  nur  z.T. 
der  im  Marburger  Universitätsprogramm       beipflichten, 
des  Jahres  1902  unter  meiner  Mitwirkung   | 


1 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  129 

Pronoia  dieselbe  wie  die  Piatos,  so  fordere  ich,  was  ich  vorhin  beim  Plato 
forderte."     Eine  alte  Streitfrage  geht  um  Horaz  Od.  1,  12,  20:  Horaz  od. 

Proximos  illi  tarnen  occupavit  1,11,1 

Pallas  honores 

Proeliis  aiidax.  Neque  te  silebo, 

Liber  eqs. 

Su  schreiben  die  einen.  Andere  Avollen  den  Punkt  vielmehr  hinter  honores 
gesetzt  sehen,  so  daß  audax  zu  Liber  gehört.  Und  das  ist  zweifellos 
richtig;  denn  Pallas  heißt  nie  midax;  wohl  aber  ist  Bacchus,  der  Besieger 
der  Inder  und  der  Giganten,  audax,  „sobald  er  sich  in  der  Schlacht  be- 
wegt"; wir  haben  „audax  si  in  proeliis  versatur"  zu  verstehen.  Horaz 
Od.  1,  11,  1  sind  drei  Interpunktionen  möglich:  Tu  ne  quaesieris  scire 
{nefas)  quem  mihi  eqs.  oder  Tu  ne  quaesieris  {scire  nefas)  quem  mihi  eqs. 
oder  Tu  ne  quaesieris!  Scire  nefas  quem  mihi,  quem  tibi  finem  di  dederint; 
und  die  letzte  ist  die  einzig  sprachgemäße.  Denn  es  ist  vollkommen  un- 
natürlich, scire  durch  Parenthese  von  seinem  benachbarten  Objekt  zu 
trennen;  quaerere  aber  kann  in  lebhafter  Rede  durchaus  ohne  Objekt 
stehen  wie  das  quid  quaeris?  bei  Cicero  ad  fam.7,  3,  2;  ebenso  quid  quaeris? 
Hör.  Epist.  1, 10,  8 ;  auch  Terenz  Andr.  90  sei  verglichen.  Ganz  so  auch  hier. 

Niemand  scheint  die  Plautusstelle  Capt.  846  verstanden  zu  haben,  wo     Plaut, 
der  Koch  zmn  Herrn  sag-t:  Capt.846 

iüben  an  non  iubes  astitui  anlas,  patinas  elui, 
laridum  atque  epulas  foveri  foculis  ferventibus? 

Hier  ist  schon  die  Yerbindung  laridum  foveri,  „Schinken  wärmen",  sonder- 
bar, die  Zusammenstellung  laridum  atque  epulas  aber  sicher  verkehrt;  denn 
Schinken  ist  nichts  anderes  als  Eßgerichte,  epulae,  diese  können  also  nicht 
als  Zusatz  zum  laridum  hinzutreten.     Plautus  meinte  es  vielmehr  so: 

iuben  an  non  inbes  astitui  anlas  patinas,  elui 
laridum  atque  epulas  foveri? 

denn  der  Schinken  muß,  wie  jede  Hausfrau  weiß,  vorher  gewässert  werden 
(elui),  ehe  man  ihn  aufs  Feuer  bringt. 

Catull  gibt  uns  im  carm.  54  folgende  Zeilen :  Catuii  54 

Othonis  Caput  oppido  est  pusillum, 

Neri,  Rustice,  semilauta  crura, 

subtile  et  leve  peditum  Libonis. 

si  non  omnia  displicere  vellem 

tibi  et  Sufficio  seni  recocto. 

Dies  ist  wiederum  sinnlos,  aber  der  Sinn  sofort  hergestellt,  wenn  man 
im  V.  4  interpungiert : 

si  non  omnia:  displicere  vellem 

tibi  et  Sufficio  seni  recocto, 

wobei  si  non  omnia  elliptisch  für  si  non  omnia  sunt  oder  essent  steht: 
„wenn  das  alles  nicht  wahr  ist,  will  ich  dir  und  dem  Sufficius  mißfallen." 
Dies  hat  auch  noch  Friedrich  nicht  begriffen.  1)  Lucrez  TL  1017  si  non 
omnia  sunt  ist  zu  vergleichen. 

^)  Friedrich  schreibt  auch  noch  fälsch-  '  Silbe  hat;  vgl.  W.  Schulze,  Eigennamen, 
\'\q\\  Fuficio  statt  Sufficio;  er  hätte  wissen  j  S.  239  u.  518.  Sufficio  behalte  ich  bei,  in- 
können,  d&QFuficius  langes  i  in  der  zweiten   |   dem  ich  den  Namen  Cornifidus  vergleiche. 

Handbuch  der  klass.  Altertiimswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  9 


130 


Kritik  und  Hermeneutik. 


catuii  5  Bei  demselben  CatuU  5,  4   liest  man  den  weisheitsvollen  Satz :    „Die 

Sonne  kann  täglich  untergehn  und  wiederkommen" : 

soles  occidere  et  redire  possunt. 
Das  „kann"    aber   gibt  m.  E.  ernstlichen   Anstoß,    und   für  possunt   wäre 
vielmehr  solent  zu  erwarten.    Denn  es  ist  die  Regel,  daß  die  Sonne  unter- 
geht.    Also  hat  Catull  vielmehr  so  interpungiert : 

soles  occidere  et  redire  possunt 
nobis ; 

d.  h.  für  uns  Sterbhche  kann  Sonnenuntergang  und  -aufgang  sich  wieder- 
holen. Er  kann  es,  wenn  nämlich  das  Schicksal  es  uns  gönnt;  er  kann 
es  auch  nicht. 


Personen- 


6.  Verteilung  der  Worte  an  die  Personen  des  Dialogs. 

Im  Gespräch  des  Dramas  den  Wechsel  der  Personen  durch  die  Anfangs- 
im  Dialog  buchstabon  ihrer  Namen  anzuzeigen,  ist  erst  in  der  römischen  Kaiserzeit 
des  Drama  durchgedrungen.^)  Vorher  begnügte  man  sich,  wie  es  der  papyrene  Menander 
zeigt,  meistens  damit,  den  Wechsel  mit  einem  bloßen  Strich  oder  Doppel- 
punkt anzudeuten.'^)  Dabei  waren  aber  natürlich  unendliche  Irrungen  und 
Auslassungen  möglich,  wir  haben  im  Drama  freie  Hand,  und  man  macht 
mit  Grund  im  Plautus  und  überall  von  dieser  Freiheit,  die  Reden  zu  ver- 
teilen, zuversichtlich  Gebrauch.  Man  lese  jedes  Drama  so,  als  ob  die 
Personenzeichen  fehlten,  und  stelle  nach  dem  Sinn  sie  sich  selber  her. 
Das  gilt  vor  allem  von  Plautus.  In  der  Tragödie  sind  solche  Schwan- 
kungen seltener;  doch  sagt  uns  z.  B.  der  Scholiast  zu  Euripides  Medea  759, 
daß  man  schwankte,  ob  hier  der  Chor  oder  ob  Medea  spreche.  In  der 
Komödie  hingegen  sind  solche  Unsicherheiten  häufig,  weil  in  der  Komödie 
der  Yers  öfters  gebrochen  wii'd.  Steht  mitten  in  der  Pede  ein  rl  cprjg; 
oder  XL  ovv;,  so  ist  klar,  daß  hier  ein  anderer  spricht  (z.  B.  Sosipatros 
frg.  1,  12;  Lynkeus  fr.  1).     Ein  Fragment  Menanders  beginnt  (249  Kock): 

Mövifiög  reg  r/r  äv&gcojiog,  w   fPilcov,  oocpog, 
döo^ötegog  /ningq)  ö\  6  xrjv  iirjQav  fyoiv, 
jir'jQag  fiav  ovv  rgeig. 

Es  ist  aber  wiederum  klar,  daß  fiev  ovv  dem  Antwortenden  gehört;  also 
muß,  wie  Cobet  nov.  lect.  S.  93  sah,  eingeteilt  werden: 

A.  Mövi/Liög  Tig  fjv  äv&gcojiog,  <o   ^ilcov,  ooq?6g, 
ddo^öregog  ^ixqcö  d\     B.  6  t7]v  Jtrjoav  s/o)v; 
A.  JiTjQag  ftsv  ovv  igsTg  xik. 

Bei  Nikomachos  (ibid.  Bd.  III  S.  386  fr.  1)  sagt  der  gemietete  Koch  zu 
dem,  der  ihn  in  Dienst  genommen  hat:  „Du  bist  zwar  liebenswürdig,  aber 
du  bist  nachlässig  gewesen": 

vJioÖELXVVEig  juev  rj&og  dorsTov  Jidvv 

xai  JCQäov,  oXiycoQOv  de  jTejioi?]xdg  xi  Jicog. 


^)  Im  cod.  Laurentianus  des  Aeschylus 
und  Sophokles  sind  diese  Personenbezeich- 
nungen keineswegs  alle  von  erster  Hand, 
oft  ist  der  Personenwechsel  gar  nicht  be- 
zeichnet, oft  findet  sich  in  ihm  auch  noch 


die    antike    Paragraphos,    die   Eedeschluß 
anzeigt;  s.  Soph.  Elektra  ed.  Kaibel  S.  1. 
2)  Vgl.  W.  Schubart,   Das  Buch  bei 
den  G-riechen  und  Römern,  S.  78. 


ni.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  131 

Dies  Schlußwort   nrng   ist   überflüssig;    es   ist   ncbg   als  Zwischenfrage  ab- 
zutrennen:  „wieso?",  worauf  dann  die  Antwort  folgt: 

Ev  rfj  rsxw  xiveg  kafxev  ovx  i^rjraxag. 

Auch  das  schwere  Kratinosf ragment  74  kann  hierfür  angeführt  werden  u.  a.  m. 
In   Senecas  Tragödien   sind   Personenzeichen   überlief ert ;  i)   wenn   es 
dort  aber  Phoen.  650  f.  sinnlos  heißt  (locaste  spricht): 
iam  numeres  licet 

fratrem  inter  illos  (sc.  reges). 

Et.  numero  et  est  tanti  mihi 

cum  regibus  iacere  et  urbi  (lies  te  turbae)  exulum 

ascribo, 

so  kann  nur  Polynices,   nicht  Eteocles  das  numero  sprechen;   das  et  aber 

ist    sinnlos,     numeret    herzustellen    geht   nicht    an,    weil   Eteocles    seinen 

Bruder  im  Folgenden  in   zw^eiter  Person  anredet.     Also  ist  herzustellen: 

Pol.  numero.    Et.  <me>  est  tanti  mihi 

cum  regibus  iacere;  te  turbae  exulum 

ascribo. 
In  jenem  et  verbirgt  sich  eben  das  Personenzeichen;    me  entspricht   dem 
folgenden  te,   das  wiederum   zu  et  entstellt  wurde. 2)     Auch  weiterhin  ist 
daselbst  die  Rollenverteilung  vollständig  in  Unordnung. 

Derartige  Emendationen   sind   weiter   eventuell   auch  in  solchen  dia-  Außerhalb 
logischen  Schriften  wie  den  Platonischen,  auch  im  Theokrit  sind  sie  g^.  ^^^*  1^^^™^^» 
legentlich  vorzunehmen.    Im  Idyll  VIII  des  Theokrit  gilt  es,  die  Strophen 
auf  Daphnis  und  Menalkas  richtig  zu  verteilen.    In  den  Adoniazusen  v.  13 
schwankt  die  Überlieferung  zwischen  ov  Xeyao  äjKpvv  und  ov  keyei  äncpvv. 
Je  nachdem  man  liest,  spricht  Praxinoa  oder  Gorgo  den  v.  13.     Auch  in 
der  Satire,    im  Brief    wird   oft   ein  Zwischenredner   ohne  jedes  cprjoi  oder     Satire 
hiquit  eingefülirt,^)  und  es  ist  wichtig,  dies  im  Text  deutlich  zu  machen, 
wie  bei  Juvenal  7,  105  „sed  genus  ignavum'^  eqs.,  aber  auch  7,  124  „Aemilio 
dahitur  qiiantiim  licet,  et  melius  nos  egimus'^ ,  Worte,  die  der  Winkeladvokat 
selbst  spricht,    von   dessen  wirtschaftHcher  Lage   vorher  bei  Juvenal   die 
Rede  war.   Bei  Catull  c.  67  wird  die  janua  aufgefordert,  über  die  Interna 
des  Hauses  zu  berichten,  und  ihre  Rede  setzt  v.  9  ohne  jede  Einführung 
ein;   ebenso  die  Rede   der  Indignatio   in  Horaz  Epode  5,  11;    ebenso  das 
Selbstgespräch  des  Aeneas  bei  Yergil  Aen.  II  577;  und  auch  im  Sperlings- 
gedicht c.  II  des  Catull  steht  es  gewiß  nicht  anders. *)     Ob    auch   in   der 
Copa?   in  der  Archytasode?     Man   hat  geglaubt,    daß   in   der  Copa   nach      Copa 
den  ersten  einführenden  Zeilen  das  Schenkmädchen,  die  copa,  selbst  rede. 
Aber  aus  dem  Gedichttitel  folgt  das  nicht,  der  nur  dem  ersten  Yerse  des 
Gedichts    entnommen   ist,    und    es  scheint  untunlich;    denn   das  Mädchen 
tanzt  da  einen  wilden  Kastagnettentanz,  und  dabei  kann  sie  nicht  sprechen. 
Und  wer  ist  es,    der  bei  Horaz  Ode  I  28   den  Archytas   anredet?     Nicht  Horaz  oa. 
etwa  Horaz  selbst,   der  in  diesem  Gedicht  gestorben   zu  sein   fingierte,  0)      ^'"^ 
sondern  die  umirrende  Seele  irgendeines  Ertrunkenen,  der  da  unbestattet 

')  Für  das  römische  Drama  vgl.  bes.   !   Stil  der  paulinischen  Predigt,    Göttingen 
Havet,  Manuel  S.  398  ff.  j   1910,  S.  10. 

•')  Rhein.  Mus.  34  S.  523.  |  ")  Vgl.  Philologus  63  S.  428. 

^)  Ueber  den  Ausfall  des  (prjoi  in  der   ;  ^)   So    Stowasser  ,    Zeitschr.   österr. 

cynischen  Diatribe  vgl.  R.  Bultmann,  Der   |   Gymnas.  1891  S.  193. 

9* 


132  Kritik  und  Hermeneutik. 

geblieben,  iind  der  anfangs  an  den  Archytas,  hernach,  v.  23,  an  den 
vor  üb  erfahrenden  Schiffer  sich  wendet.  Man  vergleiche,  um  das  zu  ver- 
stehen, Properz  I  21.  i)  Das  Gedicht  ist  eines  der  verzwicktesten  des 
Horaz  und,  sagen  wir  es  nur  ruhig,  unter  dem  Zorn  der  Musen  ent- 
standen. Aber  ein  Zusammenhang  ist  da;  der  Begriff  des  pulvis  exiguus 
(v.  3)  bildet  ihn:  „zur  Bestattung  eines  Archytas  hat  pulvis  exiguus  ge- 
nügt; ich  verlange  für  mich  jetzt  auch  nicht  mehr"  (v.  23  u.  36).  Das 
Ganze  ist  also,  wie  das  zitierte  Properzgedicht ,  die  einheitliche  Pede 
einer  umbra,  der  jede  orientierende  Einführungsformel  fehlt. 

Ich  füge   endhch   noch  zwei  Beispiele   hinzu,    wo   durch  Einführung 
Prop.  2, 4, 24  von  Anführungszeichen  geholfen  werden  kann.    In  dem  Properzvers  2,4,24 

Sic  est  incautum  quicquid  habetur  „amor" 
gibt  das  Neutrum  incautum  und  quicquid  Anstoß,  da  amor  maskulin  ist. 
Also  ist  dies  amor  in  Anführungszeichen  zu  setzen  und  bedeutet  „ich 
werde  gehebt".  Plinius  teilt  in  der  Naturgeschichte  17,  239  über  den 
Andro-  ^^zt  Audrokydos  in  Anlaß  des  raphanus  folgendes  mit:  hinc  sumpsit  Andro- 
cydes  medicinam  contra  ebrietates  raphanum  f  mandatur  (Variante  mandi) 
praecipiens.  Wie  ist  hier  die  Corruptel  zu  heilen?  Mayhoff  wollte  raphanmn 
manducari  lesen ;  2)  viel  leichter  aber  scheint  mir  die  Emendation:  „raphanum 
mandatis" praecipiens  oder,  noch  besser  und  einfacher:  „raphanus  mandatur''- 
praecipiens,  d.h.  „indem  er  vorschrieb :  Ihr  sollt  raphanus  kauen".  Plinius 
gibt  die  Äußerungen  dieses  Androkydes  auch  noch  sonst  in  direkter  Pede.^) 

Dies   Beispiel   leitet   uns   nun   zu   den    eigentlichen  Yerschreibungen 
hinüber.     Unter  ihnen  steht  voran  die 

7.  Verkennung  von  Zahlzeichen. 

Zahl-  Im  Codex  Galeanus  des  Lexikons  des  Photios  steht  auf  der  ersten  Seite 

die  sinnlose  Notiz:  exoijui]ß^i]  6  öovXog  xov  -^eov  Nixi^rag  äeSgog  xal  dvordQiog  6 
kvxvog,^)  es  ist  aber  jigcoroeögog  und  jiQcorovordQiog  gemeint  (Cobet).  Demosth» 
Androt.  p.  590  steht  ovo  f]jueQag,  wo  wir  d'  ^juegag  fordern.  Beim  Livius 
10,31,4  steht  coctis  statt  trecentis,  hervorgegangen  aus  CCCt^s-^b^  Uyeiv  statt 
A'  ETEi  bei  Galen  (Diels,  Doxogr.  S.  12).  Josephus  gibt  die  Zeilenzahl  seiner 
Archäologie  am  Schluß  des  Buchs  XX  auf  el  juvQidÖEg  oxixcov  an;  es  sind 
aber  nur  50000;  also  ist  e  statt  e^  zu  schreiben. ß)  Anderes  gibt  Klotz, 
Rhein.  Mus.  66  S.  159.  Bedauerlich  ist  es,  wenn  bei  Datierungsfragen 
häufigere  Änderungen  der  Überheferung  nötig  werden,  wie  in  der  So- 
phoklesvita: xal'ħ7]vatoi  d' avröv  ^ß''  (corr.  ve)  hcbv  ovra  orgarrjydv  eIIovto 
jiQO  Tcbv  IlEXoTiovvrjOiaxöjv  eteolv  r  (corr.  §')  ev  tm  Jigog  "Avaiovg  TioXEincp. 

8.  Vertauschung  ähnlicher  Buchstaben^) 

Hier  öffnet  sich  für  die  Beispielgebung  ein  unendliches  Feld.    Doch 
muß   ich  mich   mit  w^enigen  Bemerkungen   begnügen.     Uralte  Verschrei- 

1)  Vgl.  H.  Hollstein,    De   Properti   !  *)  Phot.  ed.  Naber  S.  3  Anm. 

monobiblo  S.70;  auch  Berl.  philol.W.schr.    j  °)  Aehnliches  mehr  bei  W.  Herabus 


1898  S.  1289. 

2)  Aehnlich  Corssex,  Ehein.  Mus.  67 
S.  244. 

3)  Siehe  Corssen  a.  a.  O. 


a.  a.  O. 

6)  Buchwesen  S.  203  f. 

7)  Vgl.  bes.  Havet,  Manuel  S.  158  ff. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  133 

bungen  im  Homertext  anzusetzen,  Avird  durch  die  Tatsache  ausgeschlossen,  Frühe  Um- 
daß  Ilias  und  Odyssee  ursprünglich  nur  mündlich  tradiert  waren.  Denn  ^^gnecii.  " 
der  Wahn,  daß  Homer  schrieb  und  in  Büchern  dichtete,  wie  es  der  Agon  "^^^^^ 
Hom.  et  Hes.  und  die  SibylHnen  III  425  allerdings  von  ihm  voraussetzen, 
ist  unlialtbar.i)  Es  ist  fraglich,  ob  sich  im  Homer  Corruptelen  auf  nach- 
trägliche Übertragung  aus  einem  primitiveren  Alphabet  zurücMühren 
lassen.*)  Wohl  aber  trifft  dies  für  andere  archaische  Dichter  zu.  Die 
einschneidende  Neuerung  des  Euklidischen  Alphabets  vom  Jahre  404 — 403 
verlang-te  damals  eine  Umschrift  vieler  Texte.  Früher  hatte  O  nicht 
nur  o,  sondern  auch  ov  und  (o  bedeutet.  In  solcher  primitiven  Funktion 
aber  sehen  wir  es  noch  jetzt  bei  Pindar  Nem.  10,  62  Ävyxevg  i'dev  fiuevog, 
wo  ijuevog  Objekt  sein  muß;  es  bedeutet  also,  wie  schon  der  alte  Didymos 
erkannte,  7]fi€vovg.  In  den  Texten  der  lesbischen  Dichter  war  das  alte 
Digamma  häufig,  aber  es  wurde  hernach  verkannt  und  vornelimlich  mit 
Gamma  vertauscht.  Daher  bei  Alkman  yedev  für  fe&ev.  Hesych  hat 
yejitjLiara,  das  IjuaTia  bedeutet;  Ygl.  vestes,  und  bei  Sappho  fr.  28  steht  sogar 
TFinfjv,  während  die  Dichterin  feijrrjv  geschrieben  hatte. 

So  blieb  nun  die  Möglichkeit  der  Irrung  auch  im  Gebrauch  der  spä-  Majuskel 
teren  Alphabete  bei  unausbleiblicher  Ähnlichkeit  gewisser  Buchstaben- 
formen unendhch.  In  der  lateinischen  Majuskel  sahen  sich  z.  B.  A  und  X 
älmlich,  und  daher  wird  im  Livius  öfters  ea  statt  ex,  auch  dua  für  dux 
u.  ä.  m.  überliefert.  Wenn  die  beste  Handschrift  im  Juvenal  7,  80  saleno 
für  den  Namen  Salejo  gibt,  so  erklärt  sich  dies  aus  Majuskelschrift: 
SALENO  entstand  aus  SALEIIO,  indem  man  die  beiden  i-Striche  zu  N 
verband;  denn  es  ist  bekannt,  daß  im  Latein  der  Konsonant  j  inter- 
vokaHsch  massenhaft  mit  Doppelung  des  i  geschrieben  wurde :  maüor  u.  ä. 
Plautus  Persa  173  ist  quis  überliefert  und  ovis  zu  schreiben;  corr.  Bergk. 
OVIS  wurde  zu  QYIS  verlesen.  Bei  Theognis  299  steht  ovdelg  di]  (pilog 
fhat,  Avo  Sauppe  und  Bergk  mit  Evidenz  ovÖ8lg  hj  herstellten;  es  wurde 
A  mit  A  vertauscht.  Im  Lexikon  des  Photios  steht  Na^iav&og  statt  Na^ia 
AuJog,  der  Wetzstein;  es  Avurde  AI  mit  A^  verwechselt.  Hesych  schreibt 
fvTjkoia,  wo  EV7id§Eia  gemeint  ist;  er  las  EYIIAOIA  statt  EYIIAOIA.  In 
Aristoteles'  Rhetorik  lesen  wir  zweimal  irrtümliches  'Hgodixog  für  ITqo- 
diy,og,^)  TiXelovg  statt  'HXeiovg  Polyb  4,36,6. 

Je  nach  den  A^erschiedenen  Schriftgattimgen  in  Majuskel  und  Minuskel,  Sonstiges 
kursiv  oder  nicht  kursiv,  Avaren  natürlich  die  Arten  der  Irrungen  ver- 
schieden, und  aus  ihrer  Natur  läßt  sich  daher  oftmals,  Avie  AAdr  schon 
S.  18  sahen,  mit  Sicherheit  die  Schriftgattung  und  so  approximativ  auch 
das  Alter  des  verlorenen  Archetyps  der  Handschriften  bestimmen.  Das 
Nähere  hierüber  aber  ist  der  Paläographie  zu  entnehmen.    Doch  sei,  bevor 


•)  Siehe  die  Buchrolle    in  der  Kunst  ■  frühesten  Exemplaren  kann  eIv  für  ev,  fxsi- 

S.  211;    \^or   allem  B.  Niese,    Homerische  !  lavi  für  fiekavi,   doidt/oöeigog   für   doL^odsgog 

Poesie  S.  9.  Vgl.  oben  S.  89.  Die  abweichen-  j  u.a.  gestanden  haben.     Anders  Kühner- 

den    Ausführungen    bei    Christ -Schmid,  Blass,  Griech.  Grammatik  I  S.  169 f.   Vgl. 

Gesch.  der  griechischen  Literatur  I  S.  69  i  auch    Wackerxagel    in     Bezzenbergers 

überzeugen  mich  nicht.  '  Beitr.  IV  S.  259;   Thumb,   Handbuch   der 

2)  Siehe  Niese  S.  9  Note  1 ;  W.  Schulze,  !  griech.  Dialekte  S.  320. 

Quaest.  epicae    S.  153,  1.     Schon    in    den  ;  »)  p.  1361  A  5  und  1400  B  19. 


134  Kritik  und  Hermeneutik. 

ich  mich  zu  anderem  wende,  noch  hervorgehoben,  daß  natürhch  nur  zu 
oft  auch  da  leichte,  aber  sinnstörende  Yerschreibungen  stattfinden,  wo 
von  einer  täuschenden  Ähnlichkeit  der  Buchstabenzeichen  nicht  einmal 
eigentHch  geredet  werden  kann.  Das  kann  man  schon  aus  dem  Bakchylides- 
papyrus  ersehen,  wo  der  Schreiber  erster  Hand  15,  56  ovvöixov  statt  ovvoixov 
schrieb;  weiter  etwa  aus  Strabo,  p.  389,  wo  rdv  'Avlav  xakovjuevov  jzora^udv 
steht,  aber  rov^igvav  gelesen  werden  muß.i)  Grade  hier  ließen  sich  natür- 
lich noch  eine  Fülle  von  Leseversehen  anreihen:  so,  daß  die  Schreiber 
oai^QÖv  und  oajiQÖv  verwechselten.  2)  Bei  Theokrit  9,  10  korrigierte  Mei- 
neke  änäoag  evident  in  äjtcooag.  Bei  Theokrit  23,  14  steht  (pevye  Ö'  äno 
XQ(og  vßgiv  rä  jiioQq^a  TTegixeijuevog ',  elegant  konjizierte  Ahrens  6  tiqIv  für 
vßQiv.  Ich  bringe  noch  zAvei  Sophoklesstellen.  Im  Oedipus  Coloneus  367 
sagt  Ismene  zum  Vater  in  betreff  ihrer  Brüder: 

jiQiv  fih>  yoLQ  avtdig  ^v  sgig  Kgeovii  re 
d'QOVOvg  iäo&ai  /urjöe  XQ^^'^^^^*^''  ^oXiv, 

WO,  wie  alle  zugestehen,  eoig  sinnlos ;  es  ist  Avohl  aus  v.  372  eingedrungen ; 
rJQeoev  konjizierte  Bergk  für  rjv  egig,  andere  anderes.  Ich  ziehe  fjv  ^efxig 
zu  schreiben  vor.  Im  Oedipus  Rex  fragt  der  König  v.  1031  den  greisen 
Boten,  der  ihm  erzählt,  wie  er  ihn  einst  als  ausgesetzten  Knaben  ge- 
rettet hatte: 

xi  <5'  äXyog  toxorz'  tv  xaiQoTq  (u  la/xßdveig; 

WO  xaigoig  schon  metrisch  falsch  ist,  die  Variante  xaxolg  dem  Sinn  durch- 
aus nicht  genügt  und  m.  E.  zu  lesen  ist: 

71  S'  äkyog  loyovt'  dyxdXaig  fis  A.afißdveig ; 

Ich  setze  an,  daß  nach  verbreiteter  Schreibweise  in  der  Vorlage  ävxdkaig  stand. 

9.  Der  Einfluß  der  Aussprache. 3) 

Diktat  Ebenso  oft  wie  auf  das  Auge,    sind  die  Versehen  auch  auf  das  Ohr 

zurückzuführen.  Man  schrieb  nach  Diktat,-*)  und  wir  haben  den  Aus- 
spruch des  Dositheus  bei  Keil,  Grammat.  lat.  VII  376,  8  voranzustellen: 
emendatio  est  corredio  erronim  qui  per  scripturam  dicüonemve  fiunt.  Also 
auch  jjer  dictionem.  H.  Hagen  gab  in  seinem  „Gradus  ad  criticen",  Leipz. 
1879,  als  Anleitung  zur  Kunst  des  Emendierens  nichts  weiter  als  Ver- 
zeichnisse von  Vers  ehr  eibungen  aus  Berner  Handschriften,  so  z.  B. :  i  mit  a 
verw'^echselt :  apostita  f.  apostata  usw.  usw.,  womit  nichts  anzufangen  ist. 
Aussprache  Er  gab  auf  den  Unterschied,  den  Avir  hier  machen,  gar  nicht  acht,  lareatus 
f.  laureatus  soll  Verschreibung  sein;  es  wirkte  hier  aber  die  veränderte 
Aussprache,  denn  man  sprach  asculto  f.  ausculto,  Ägustus  f.  Augustus, 
arum  f.  aurum  u.  ä.  in  vielen  Fällen.  Ebenso  steht  es  mit  acerbus  f.  acer- 
uus ;  denn  daß  man  ferhuit  f.  f ervuit,  Avella  f.  Abella  sprach,  ist  eine  alte 
Sache;  ähnlich  auch  mit  dehellum  f.  duellum;  man  sprach  devellum,  wie 
helleuato  f.  helluato  Vergil  Catal.  13, 11  u.  s.  f.  Weil  cautus  nicht  so,  wie 
wir  es  gewohnt  sind,  sondern  cavtus  ausgesprochen  wurde,  deshalb  drang 


im  Volks- 
latein 


^)  E.  Hiller,   Eratosthen.  carm.  rell.    i   aber  manches  Unsichere 


p.  16. 

2)  Vgl. Neue  Jahrbb.XIXS.707Anm.2. 

3)  Vgl.  Havet,  Manuel  S.  252  ff.,  wo 


■*)  Darüber   weiterhin    im    Abriß    des 
antiken  Buchwesens. 


n 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  135 

eaptiis  f.  cautus  ein,  z.  B.  Seneca  Thyest.  486;  corr.  Madvig.  Der  griechische 
Buchstabe  Mßda  (byzantinisch  Idfißöa)  heißt  im  karolingischen  Latein  lauta, 
d.  i.  lavta.  ^)  h  klang  vulgär  stark  guttural  (oben  S.  50) ;  daher  las  Nonius  cyrnea 
f.  hirnea  im  Plautus;  Fronto  selbst  schrieb  ohne  Zweifel  catahannae  f .  cata- 
channae  \).  155,  imd  so  steht  noch  calchehi.<!  für  haliaeetus  in  der  Ciris  204. 
Musterhaft  sind  für  diese  Dinge  großenteils  die  Ausführungen  von  Ihm ;  2) 
grundlegend  immer  noch  das  Werk  von  H.  Schuchardt:  Der  VocaHsmus 
desYulgärlateins,  Leipz.  1866—68.3)  Helm,  Apuleius  Florida,  1910,  S.  XLIIIff. 
irrt,  wenn  er  den  Labdacismus  in  celebrum  f.  cerebrum,  und  umgekehrtes 
ingruviem  f.  ingluviem  einfach  mit  solchen  Yerschreibungen  wie  lacfa  f. 
laeta,  alium  f.  altum  gleichsetzt.  Denn  auch  hier  wirkte  die  Aussprache. 
Wieder  anders  steht  es  mit  confartae  f.  confertae;  dies  ist  Rekomposition 
(oben  S.  45)  und  nicht  Verschreibung. 

Es  gilt  also,  um  diese  Dinge  richtig  zu  beurteilen,  die  Geschichte  der 
Rechtschreibung  des  Spätlateins  und  die  Schwankungen  in  der  Aussprache 
der  klassischen  Sprachen  zu  kennen.  Hier  nur  Aviederum  ein  paar  Bei- 
spiele, ae  und  e  fielen  zusammen,  und  der  Dativ  placidae  war  daher 
vom  Adverb  placide  nicht  mehr  zu  unterscheiden.  Daher  aber  auch  Liv. 
21,  63,  7  conscieni'ms  praetorum  mißverständlich  für  conscienfia  spretorum; 
bei  Afranius  v.  187  erkannte  Bücheier  exs  aeno,  wo  die  Handschriften  ex 
seno.  Falsche  Aspiration  war  ferner  jahrhundertelang  in  aller  Munde, 
\ind  man  las  conhibere  f.  conivere,  hörnen  f.  omen;  honus  „die  Bürde"  fiel 
mit  honos  „die  Würde"  zusammen,  hahitus  mit  avitus,  aveo  mit  habeo,  und 
für  Cumis  liest  man  dann  weiter  gar  irrig  cum  Jus  etc.  etc.*)  aut  für  haud 
ist  aber  schon  für  die  antike  Zeit  sicher  belegbar  und  also  unter  Um- 
ständen beizubehalten.  So  ist,  um  auf  anderes  zu  kommen,  auch  der 
Dativ  qui  f.  cui  zum  mindesten  schon  für  den  Anfang  des  4.  Jahrhunderts 
garantiert,  also  in  den  Digesten,  wo  er  hundertfach  steht,  im  Text  zu 
belassen;  Tribonians  Schreibbureau  selbst  hat  so  geschrieben;  auch  der 
Dichter  Optanianus  Porfj^rius  schrieb  so  quivis  statt  cuivis  in  seinem 
Paneg3'ricus  auf  Constantin  eigenhändig.-'') 

Es  ist  ferner  Volkslatein,  wenn  wir  vocare  i.  vacare,  vocivus  L  vacivus,^) 
wenn  Avir  parabsis  f.  paropsis  (Servierschüssel),  Maesoleum  f.  Mausoleum, 
offerre  f.  auferre  and  ohlatio  f.  ablatio  als  Übersetzung  von  äfpaige^aa 
lesen.**)  Von  Verschreibung  kann  in  allen  solchen  Fällen  nicht  geredet 
werden,  und  es  gilt  nur  festzustellen,  ob  auch  der  betreffende  Autor 
selbst  schon  so  lautierte.  Für  Xerxes  schrieben  die  Römer  gern  Xerses, 
und  wir  müssen  uns  gewöhnen,  das  in  den  Text  zu  nehmen,  so  bei 
Properz  II  1,  22  und  so  überall.^)     gufa   Avurde   schon    früh  Avie  güla  ge- 

^)   Siehe    Crönert,    Memoria    graeca  Aspiration  8. 145  ff.;  156  ff. ;  250  ff. 

Hercul.  S.  73  Anm.,  Nestle  in  Berl.  phil.  |  ^)  Siehe  Catalepton  S.50f.;  aber  schon 

W.schr.  1912  S.  832.  |  auf    einer   Inschrift    des    1.  Jahrh.  findet 

2)  Sueton  Bd.  I  S.  XXX  ff.  |  sich    der    Dativ   qui,    Bücheler,    Carm. 

')  Auch  in  meinen  Arbeiten  „Sprach  s  cpigr.  1060,  5. 
man  avrum",  Rhein.  Mus.  52,  Ergänzungs-  ^)    Bücheler,   Fleckeis.  Jahrbb.  1863 

heft,  und  „Der  Hiat  bei  Plautus  und  die  '•  S.  78. 

lat.  Aspiration",  Marburg  1901,  sind  viele  |  ')  Sprach  man  avnim  S.  66;  67;  168; 

derartige  Erscheinungen  besprochen.  '  139;  158,  3. 

■*)  Der  Hiat  bei  Plautus  und  die  lat.  '  ^)  Siehe  meine  praefatio   zu  Properz' 


136 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Archai- 
sches 


sprochen,  und  die  häufige  Schreibung  gyla  bringt  dies  treffend  zum  Aus- 
druck; das  ist  antik  (oben  S.  23) ;  ebenso  ist  lympha^  Thyle,  Sylla,  libyrnis, 
wo  es  überliefert  steht,  zu  belassen. 

Die  augusteische  Zeit  begünstigte  noch  ein  servos  oder  parvos  im 
Nominativ  statt  servus,  parvus;  es  darf  also  bei  Horaz  z.  B.  Epod.  6,  2 
ignavos  gegen  die  Handschriften  hergestellt  werden;  vgl.  ebenda  fulvos  v.  5. 
Noch  unbedingter  aber  ist  bei  Catull  aequom  62,  61  und  Calvos  53,  3  aus 
den  Handschriften  anzunehmen. 

Was  die  Kontraktion  von  Vokalen  betrifft,  so  ist  ein  derunt  f. 
deerunt,  derat  f.  deerat,  wo  immer  es  steht,  beizubehalten;  denn  man  sprach 
in  der  guten  Zeit  nur  so  (ebenso  praesse  =  praeesse).  Auch  ein  proelis 
f.  proeliis  ist  nichts  Seltenes ;  das  Monumentum  Ancjranum  zeigt,  daß  man 
auch  in  den  sorgfältigsten  Originaltextniederschriften  wirklich  so  schrieb, 
w^ennschon  die  Dichter  nur  ganz  ausnahmsweise  eine  solche  Messimg  zu- 
ließen. Daher  darf  nun  aber  beispielshalber  auch,  Avie  ich  meine,  bei 
Plautus  Mil.  92  is  dendicido  est  quaqiia  incedit  omnibus,  wo  der  Nominativ 
is  Anstoß  gibt,  ohne  Bedenken  ein  iis  im  Dativ  verstanden  werden.  Frei- 
lich hat  die  Orthographie  einen  Dativ  is  sonst  nur  selten  zugelassen,  und 
H.  Peter,  stellte  diese  Schreibung  in  den  Scriptores  liistoriae  Augustae  mit 
Unrecht  durchgängig  gegen  die  Handschriften,  die  da  Ins  bieten,  her.  Viel- 
mehr wurden  schon  seit  dem  Beginn  der  Kaiserzeit  gewisse  Formen  der 
Pronomina  kic  und  is,  besonders  der  Abi.  Dativ  his  und  eis  unter  sich  ver- 
Avechselt,  und  man  ediert  also  mit  Recht  z.  B.  bei  Plinius  nat.  bist.  I  9,  68  f. : 
de  his  qnae  tertiam  natiiram  habent,  de  his  quae  silicea  testa  cludimtur  u.  ä., 
Avo  AAir  eigentlich  de  eis  quae  fordern.  >)  Daher  also  auch  Tacit.  ann.  11,11: 
is  dedit  ludos  saecidares  hisque  intentius  adfiii[t],  avo  Jiisque  statt  iisque. 
Dies  his  ist  auch  in  den  Scriptores  hist.  Augustae  Avieder  herzustellen. 

In  bezug  auf  gyla  „die  Kehle"  aber  sei  noch  eine  Aveitere  Bemerkung- 
eingeschaltet.  Ich  habe  anderen  Orts  ^)  nachgOAviesen,  daß  zu  allen  Zeiten, 
vom  osldschen  diumpais  (=  lymphis)  bis  zum  mittelalterische?!  aventiure 
die  Neigung  bestand,  den  ü-Laut  grapliisch  als  ui  oder  iu  AAdederzugeben, 
und  daß  man  vor  allem  auch  oft  guila  für  gyla  schrieb.  Ich  habe  aber 
nicht  gOAVußt,  daß  dies  ui  auch  als  Diphthong  zweigipfelig,  ja,  sogar 
zAveisilbig  gesprochen  Avorden  ist.  Dies  letztere  aber  beAveist  das  Gedicht 
des  Luxorius  auf  einen  trunksüchtigen  Priester,  Anthol.  lat.  303,  1 : 

Quo  festinus  abis  guila  inpellente,  sacerdos? 
Wer  gegen  die  Handschriften  gula  di'uckt,  bringt  eine  Kürze  in  Senkung. 

Endlich  sind  aber  auch  archaische  Schreibungen,  avo  sie  auftauchen, 
geA\dß  möglichst  zu  konservieren,  Avie  gnatus  f.  natus  bei  Properz  und  im 
Catalepton^)  oder  ein  dedici  statt  didici  (Plant.  Poen.  554);  denn  die  Ee- 
duplikationssilbe  hatte  ursprünglich  e  wie  in  memini.  prosa  (oratio)  ge- 
hört zu  prorsiis,  provorsus;  avo  also  prorsa  noch  Avirklich  überliefert  steht, 


Codex  Neapolitanus  p.  XXII  und  A^or 
allem  P.  Kretschmer  in  Zeitschr.  f.  vergl. 
Sprachforschung  N.  F.  XVII  S.  142  f. 

1)  Siehe  H.  Ziegel,  De  is  et  hie  pro- 
nominibus  quatenus  confusa  sint,  Marburg 


1897,   und  H.  Stengel,    De   lulii  A^alerii 
usu  pronominum,   Marburg  1909,    S.  31  f. 

2)  „Sprach     man     aA^rum",     Anhang 
S.  175  ff. 

3)  Catalepton  9,  44;  Properz  2,  7,  17. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  137 

niiil5  man  es  in  den  Text  setzen,  i)  So  schont  man  auch  das  flictu  statt 
(ulflidu  beiYergil  Aen.  9,  667,  das  woeri  Aen.  10, 144  und  sollte  auch  das 
//(9ro5  schonen,  Aen.  12, 605;  nicht  aber  das  loedere  i.  ludere  bei  Catull 
17, 1,  weil  es  seinem  Sprachtypus  nicht  entspricht. 

Viel  besser  als  für  die  lateinischen,  sind  wir  für  die  griechischen  veränderte 
Textniederschriften  des  Altertums  über  den  Einfluß  der  Aussprache  auf  aTs^Grie-^ 
lie  Schrift  unterrichtet.  Und  zwar  durch  die  Papyri.  Das  hebt  mit  dem  einsehen 
).  Jahrh.  v.  Chr.  an.  Man  kann  sich  darüber  bei  Fr.  Blaß,  Über  die  Aus- 
sprache des  Griechischen  (3.  Aufl.  1888),  vorzüglich  bei  W.  Crönert,  Memoria 
L!,raeca  Herculanensis,  Leipz.  1903,  oder  im  Notfall  schon  in  irgendeiner 
Ausgabe,  die  einen  Papyrustext  Aviedergibt,  bequem  Auskunft  holen. 
Sehr  alt  ist  noeiv  für  Tioielv  (Schwund  des  i,  wenn  im  Wort  kein  o-Yokal 
folgte),  etwa  gleich  alt  aucli  die  Auslassung  des  iota  mutum  (im  Dativ  Sgl.) ; 
alt  das  Zusammenfallen  von  et  und  l.  Daher  herrscht  also  in  den  Hand- 
schriften ''Axadrjjiua  statt  'Axadrjjueia,  cpdovixog  wird  durch  die  Analogie  von 
(fiAO)'Fiy.}]g  zu  (fdöreixog,^^)  man  druckt  xaduQeiog  für  das  xadagiog  der  Hand- 
schriften, ävöosia,  aber  ävavÖQia,^)  etc.  So  dringt  dann  aber  auch  umgekehrt 
^'OoFwig  i/'OoiQig,  keuioorgdriov  f.  hjiooxQaxiov  ein.-*)  yivojuai  f.  yiyvo^iai  schrieb 
vielleicht  schon  Theophrast;  daß  aber  CalHmachus  dafür  schon  yelrofim  ein- 
treten ließ  (fragm.  adesp.  290),  ist  nicht  glaublich.  Falsch  ist  auch,  wenn 
man  den  Centaur  XeIqcov  und  den  Epikureer,  Yergils  Lehrer,  Zeiocov 
schreibt;  die  Orthographie  Xigojv,  2iqcov  ist  garantiert.  Der  Itacismus 
wirkte  aber  weiter,  auch  yj  wurde  zu  l,  und  für  den  Dichter  0diTäg  von 
Kos  drang  die  Schreibung  ^drjTäg  vor,  so  daß  sie  bis  heute  irrtümlich 
heiTSchte.^)  Sehr  früh  wurden  auch  Christus  und  die  Christen  Kgrioxog 
Xoi]OTiavoi  genannt;  auch  die  Römer  schrieben  Chrestus  {impulsore  Chresto 
Sueton),  ja,  diese  weitverbreitete  Schreibung  scheint  gradezu  die  ursprüng- 
lichere gewesen  zu  sein.^)  Im  Lexikon  des  Photios  steht  ferner  äeideg  f. 
fh]deg  falsch  eingereiht;^)  in  Hesychs  Lexikon  ßorgoidia  f.  ßorgvdia  und 
umgekehrt  evdvdCei  f.  evdoidCsi,  auch  dies  das  Ergebnis  derselben  itacistischen 
Aussprache.  8)  Früh  traten  auch  Kontraktionen  ein,  wie  rajueiov,  xajLuov 
aus  raiuelov,  'Yyia  f.  'Yyieia  —  entsprechend  Nemaeus  f.  Nemeaeus,  Piraeus 
f.  Piraeeus  bei  den  Römern  — ,  und  wenn  bei  Demosthenes  p.  59,  15 
hioixelv  steht,  so  ist  es  kein  Wagnis,  dioixisiv  dafür  aus  Nebenhandschriften 
aufzunehmen.  Etwas  später  fiel  dann  aber  auch  ai  mit  e  zusammen,  was 
zunächst  bei  folgendem  Yokal  {IJeigaimcog  f.  Ileigaikog  im  Aristotelespapyrus) 
begann;  aber  im  zweiten  Timotheosbrief  des  Paulus  steht  doch  auch  schon 
f/  F^ovrjg  f.  qmivoXrjg  (cf.  Corp.  gloss.  lat.).   Später  wird  derartiges  allgemein, 

^)  WÖLFFLIN,  Archiv  f.  Lex.  XI  S,  8.  !  der  Christen   selbst  durch  Cliristiani  ver- 

2)  Vgl.  M.  Schanz,  Plato  VI  p.  VII.  j  drängt    worden     sei.      Die    betreffenden 

^)  Schanz  VII  p.  VIII.  \  Stellen  in  der  Apostelgeschichte  müssen 

^)  Vgl.  F.  Blass,  Grammatik  des  neu-  |  alsdann  Anstoß  geben. 

testamentl.  Griechisch^  S.  9.  |  ^)  ed.  Reitzenstein  S.  36. 

^)  Siehe  Crönert,  Hermes  37  S.  220  f.  |  »^  Und  dies  drang  auch  ins  Lateinische; 

^)  Nach AnsichtGERCKES, Neue  Jahrbb.  |  daher  wird  Mysia  und  Moesio  verwechselt; 

22   8.  200  ff.,    war    XgrjoTfk    ursprünglich  ;  daher  steht  Phroenichus  bei  Priscian  (Gr. 

Spottname,    mit    dem    die    Nichtchristen  :  lat.  III  173,  4  K.) ;    sogar   cytus   für  coetus 

(Christus  bezeichneten;  danach  auch  Chrc-  |  lesen  wir,  s.  Bährens,  Poet.  lat.  min.  III 

fftkini,  das  erst  später  unter  dem  EinfluJ3  i  p.  173  v.  22. 


138  Kritik  und  Hermeneutik. 

also  xevög  und  xaivög,  iregovg  und  exaiQovg  ständig  verwechselt.  Daher  auch 
das  ne  car  f.  vai  ydg  bei  Plautus  Bacch.  1162.  Theokrit  23, 16  ist  evi  xal  über- 
liefert und  f]vei)ie  zu  lesen.  Ebenso  elegant  wie  überzeugend  emendierte  ferner 
Dobree  im  Komikerfragment  bei  Athenaeus  p.  431 C  den  Schluß  der  Zeile 

mvsi  x6  XoLJiöv,  rovg  Xoyiofwvg  ös^aijui 

folgendermaßen:  robg  Xoyiojuovg  d'  e^ejueL  Wer  trinkt,  spuckt  den  Verstand 
aus,  ein  Erbrechen  des  Verstandes.  Aeschyl.  Choeph.  449  steht  absurdes 
XaiQovoa  yoov,  was  derselbe  Dobree  in  x^ovoa  yoov  verbesserte,  und  wirk- 
Hch  scheint  im  Mediceus  erst  x^Qovoa  (sie)  dagestanden  zu  haben.  Auf 
solchem  AVege  entstehen  die  sinnwidrigsten  Verschreibungen !  fih'ei  statt 
.  /laivei  bei  Menander  fr.  69  K.  (corr.  Heringa)  u.  s.  f. 
Eine  Wirkung  der  Aussprache  ist  auch  die 

10.  Elision  vokalischer  Endungen  in  der  Schrift. 

Elision  im  So  sclion  auf  der  saturnischen  Inschrift,  carm.  epigr.  4, 1  asper  afleicfa] 

Latein  £^  aspere  afflicta.  Daß  diese  ex^hxpig  auf  Aussprache  beruht  und  man 
den  verschliffenen  Vokal  nicht  hörte,  zeigt  Fronto,  der  p.  57,  4  N.  octavidus 
aus  octavo  idus  macht,  und  bestätigt  Servius  zu  Aen.  I  3  miiltum  ille] 
multiUe  conlisio  est.  Vgl.^Wmaete  Corp.gloss.IV459;  tanto cius  i^idi.TV  1%1, 
Weitere  Beispiele: 

Plautus  Pseud.  242  placidis]  Hes  placide  is  (corr.  Camerarius).') 

Afranius  v.  300:  simid  et]  lies  simida  et  (corr.  Gulielmius). 
ib.        V.  357 :  det  et]  lies  de  te  et,  corr.  Scaliger. 

Statius  Silv.  IV8,  26:  sed  iuveni]   se  et  iuveni  (corr.  Lundström,    Quaest.  Papinianae, 
Upsala  1893). 

Vergil  Catalept.  11«  3:  sinistre  tante]  siiiistra  et  ante,  corr.  Hand. 

Catull  116,  1:  veiiante]  veni  ante,  correxi. 

Catull  80,  8:  ületemulso]  üia  et  ernidso. 

Ovid  am.  1,  10,  9:  errant  ut]  errantem  iit,  correxi.') 

Plautus  Most.  629  in  P:  credit  audio]  credit  um  audio. 
Aber  die  Verderbnis  griff  dann  gelegentUch  weiter,  und  es  wui^de  die  ver- 
schliffene  Endung  in  den  Handschriften  durch  Konjektur  falsch  ergänzt. 
Dies  ist  m.  E.  bei  Properz  2,10,11  Siirge  anima  ex  humili  mm  carmine  ge- 
schehen; denn  der  Dichter  kann  seinen  Geist  nicht  als  anima  anreden; 
er  muß  anime  geschrieben  haben.  3)  Ebenso  steht  es  Ciris  397:  Uli  etiam] 
lies  illam  etiam;  corr.  Heinsius. 

Wird  dagegen  bei  Plautus  frustres  f.  frustra  es  u.  ä.  m.  überliefert,  so 
liegt  keine  Elision  vor,  sondern  der  scheinbare  Diphthong  ae  in  frustraes 
WTirde  nach  dem  Herkommen  zu  e  vereinfacht ;  4)  so  auch  preco  i.pro  equOy 
proequo  bei  Plautus  Bacch.  72 ;  denn  auch  der  Diphthong  oe  wurde  regel- 
recht zu  e.  Plautinisches  fädlest  {=  facilis  est)  aber  ist  gewiß  nicht  aus 
facilis  est,  sondern  aus  facil  est  hervorgegangen,  und  auch  hier  kann  also 
von  EUsion  nicht  geredet  Averden ;  die  Handschriften  aber  setzen  in  diesen 
Fällen  verständnislos  facile  est  ein,  so  wie  sie  prodest  zu  prode  est 
machen  u.  ä.^)  und  schon  der  Dichter  Luxorius  32,  36  (Riese)  so  prode  est 

1)  Nicht  richtig  Havet,  Manuel  S.  220.    I  *)  Siehe   O.  Brinkmann,   De    copulae 

2)  Siehe  De  halieuticis  S.  193.     Mehr   |   est  aphaeresi,  Marburg  1906,  S.  11. 
Beispiele  Catalepton  S.  27  f.  u.  183.  I  s)  Siehe  Brinkmann  a.  a.  0. ;  med  esse 

*)  Siehe  praefatio  zum  Codex  Neapoli-   !   wird  zu  me  deesse  Plaut.  Amph.  435;  prode 


tanus  p.  XL VII.  |   amhulare  Ter.  Ad.  766. 


a 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  139 

schrieb.  Schön  um  das  Jahr  400  n.  Chr.  herrschte  jenes  facile  est  in  den 
Plautusmanuskripten,  und  daher  schrieb  damals  auch  Martianus  Capeila 
j).  129,  25  omnis  igifiir  voluptas  utile  est  und  p.  129,  52  nochmals  denselben 
Satz;  p.  125,  30  omnis  homo  risihile  est;  das  ist  natürlich  bei  ihm  un- 
beanstandet zu  lassen.  Er  zeigt  uns,  daß  hier  nicht  Zufall,  sondern  be- 
wußter Mißbrauch  waltet. 

Im  Griechischen  hatte  das  Unterdrücken  elidierter  Endvokale  in  der   '"^.  ^7^*^" 

.  .  cniscnen 

Schrift  eine  viel  größere  Ausdehnung,  und  es  trat  die  Apostrophierung 
ein;  was  bei  den  Griechen  die  Regel,  war  bei  den  Römern  die  Ausnahme. 
Auch  im  Griechischen  aber  konnte  dies  zu  Irrungen  Anlaß  geben.  Aeschyl. 
Choeph.  489  steht  äveg  juoi  jiolteq  statt  äveg  juoi  Jiaxeo'  und  in  einem  Frag- . 
ment  des  Ephippos,  Athen,  p.  642  E,  unmögliches  Tgayriuata  §rjy.e,  avo 
TQay}]iua&'  i]xe  zu  lesen  ist;  corr.  Porson. 

11.  Falsche  Auflösung  von  Compendien.») 

Eine  pfewisse  o:eschlossene  Zahl  von  Abkürzuneen  ist  alt,  so  ÄNOC,     Com- 

-  ^  ^  ^  ^  .  ^  '  '     pendien 

äNOY  für  ävdgcojiog,  äv&QMjrov.  Auch  sie  aber  konnten  zu  Irrtümern 
Anlaß  geben,  so  z.  B.  ANÖC  zu  AAAOC  verlesen  werden.  Daher  das 
falsche  äXlco  yevei  bei  Plato  Hipp,  maior  p.  289  A:  lies  ävO^Qcbjimv  yevei 
(corr.  Bekker);  ähnhch  Ps.Lucian  De  astrol.  c.  10,  vom  Orpheus,  den  die 
Tiere  umgaben:  afjKpl  de  jaiv  i^cpa  juvgla  eoTrjxev  ev  olg  xal  äv&Qcojzog]  lies 
äjToog  statt  äv&ga)jzog.^)  Im  Lateinischen  kann  FR  praetor,  es  kann  populi 
Romani  bedeuten.  In  den  Digesten  steht  I  2, 1  jenes  prius  überliefert, 
wofür  nach  Mommsens  genialem  Vorschlag  populi  Romani  ius  zu  lesen. 
Die  falsche  Benennung  M.  Accius  Plautus  ist  aus  Maccius  Plautus,  der 
Laelius  bei  Cicero  Gr.  230,  dem  CoeHus  Antipater  seine  Historien  gewidmet 
haben  soll,  aus  L.  Aelius  entstanden.  3)  So  muß  sich  auch  erklären,  daß 
bei  Horaz  Od.  1,  7,  22 

tarnen  uda  Lyaeo 
Tempora  populea  fertur  vinxisse  Corona 
in  die  dritte  Handschriftenldasse  ter  für  tarnen  eindrang".  Bei  Yerpil, 
Catalept.  9,  1  steht  ignita  für  incognita;  dies  ist  aus  icgnita  zu  erklären. 
Denn  nichts  ist  zudem  häufiger  als  Nichtschreibung  des  Nasals,  der  durch 
den  Strich  über  voraufgehendem  Yokal  ersetzt  mrd ;  daher  Quintilian  8,  6,  35 
Aegialeo  paret  at  pater]  Hes  parentat  pater;  umgekehrt  Li v.  44, 45,  9  semper 
secuti]  lies  se  persecuti  (corr.  Madvig).  Afranius  v.  200  incendit]  lies  incedit 
(corr.  Lipsius). 

Speziell  war  es  die  Methode  der  Tachygraphen  (notani),  die  Wörter 
durch  eine  nota,  d.  h.  besonders  durch  ihren  Anfangsbuchstaben  aus- 
zudrücken.*)    Dieselbe   Methode   herrscht  in  einer  Reihe   von   typischen 


1)  Siehe  F.  J.  Bast,  Oommentatio  pa- 
laeographica,  1811;  O.Lehmann,  Die  tachy- 
^raphischen  Abkürzungen  der  griech.Hss., 
Leipz.  1880;  Schepps,  ed.  Priscillian  im 
( /orp.  ecclesiast,  lat.Vindobon.  XVIII  praef. 
S.  13  f. ;  L.  Traube,  Das  Alter  des  Eomanus 
des  Vergil,  in  Strena  Helbigiana  1900, 
8.  311,  und  Noraina  sacra,  München  1907; 
M.  Prou,    Manuel    de   paleogr.,    3.  Aufl., 


S.  113  ff.;  Havet  a.  a.  0.  S.  177  ff. 

*)  LaienurteU  über  büdende  Kunst 
S.  34. 

»)  Siehe  F.  Marx,  Studia  Lucil.  1882 
S.  96;  dagegen  Sieglin,  Beii.  phil.W.schr. 
1883  S.  1450. 

■*)  Vgl.  Isidor  Orig.  I  21;  Sueton  ed. 
Reiff.  S.  135 ;  über  die  notae  iuris  Gram- 
matici  lat.  ed.  Keil  IV  S.  271. 


140 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Fällen  auch  auf  den  Inschriften,  die  mit  dem  Raum  zu  sparen  suchten; 
und  Cicero  zeigt  uns  De  or.  II  240  u.  280  in  ein  paar  lustigen  Beispielen, 
wie  sich  die  Römer  schon  in  der  Zeit  der  Republik  in  Wandanschriften 
oder  in  ihren  Geschäftsbüchern  (tabulae)  desselben  Verfahrens  bedienten, 
das  dann  zu  allerlei  falschen  Lesungen  Anlaß  gab.  So  hatte  Rutilius  die 
Buchstaben  Ä.  F.  P.  H.  in  dem  Sinne  ante  factum,  post  reJatum  verwendet ; 
sein  Ankläger  Aemilius  Scaurus  aber  interpretiert  es  als  actum  fide  Publi 
Rutüi;  dann  machte  gar  ein  Witzbold  daraus:  Aemilius  fecit,  plectitur 
Rutilius.  Sehr  alt  ist  vor  allem  S.D.  =  salutem  dicit,  S.V.B.E.  V.  =  si  vales 
benest,  ego  valeo. 

12.  Haplographie  und  Dittographie. 

^"^^  Aus""  Zunächst  Ausfälle,  die  durch  Ähnhchkeit  benachbarter  Wörter,  Silben 

lassung    oder  Buchstaben  veranlaßt  wurden.     Das  Primitivste  ist  hier  Schreibung 

*^^Bii'^h*^^  einfacher  Konsonanz  für  Doppelkonsonanz,    l  statt  U  u.  ä.;    im  Catulltext 

Stäben     und   im  Text  der  Rhetorik  ad  Herennium   ist    dies   gradezu  Regel,    d.  h. 

absichtliche  Schreibmanier.  Sporadisch  begegnet  dasselbe  natürlich  überall: 

Martial  9,  41  pelice  (von  paelex)  f.  pellice  (von  pellicere) ;    Tacit.  ann.  3,  18 

Victoria   sacrari  f.  victorias   sacrari.     Plautus   geminierte   noch   gar   nicht; 

daher  drangen  in  seinen  Text  nun  auch  falsche  Geminationen  ein,  Cure.  470 : 

Qui  periurum  convenire  volt  hominem,  *mitto  in  cömitium; 
es  ist  ito  für  mitto  herzustellen;  corr.  Gruter. 

So  nun  auch  Ausfall  ähnlicher  Silben:  Pausanias  1,  35,  8  ov  öevöqov 
f.  ovdh  devögov,  und  umgekehrt  Doppelung  derselben  Silben,  Theokrit 
21,  58  moTsvoaoa]  lies  morevoa  (Reiske).  Bei  Turpilius  v.  192  steht  de  me 
meres;  lies  demeres.  Bei  Plinius  n.  bist.  32, 148  steht  der  Fischname  lepris; 
es  ist  lelepris  herzustellen  nach  Hesych.  Schließlich  fällt  so  auch  ein 
ganzes  Wort  aus;  Plaut.  Cas.  600  gibt  der  Palimpsest: 

tuam  arcessituram  esse  üxorem  uxorem  meam; 
in  den  Pf älzer  Handschriften  fehlt  das  eine  uxorem.'^)  Die  Dittographie  nähert 
sich  der  Interpolation,  wenn  wir  in  der  Aristotelesvita  p. 401  Westerm. lesen: 

.T£o<  ßaodei'ag  syga^'ev  sv  hi  fiOvoßißXco, 

wo  EVi  ZU  tilgen  ist.  Im  Tibull-Lygdamus  quält  uns  der  Vers  III  6,  3 
Aufer  et  ipse  meum  pariter  medicando  dolorem,  wo  besonders  das  medicando 
unmöglich;  die  erste  Silbe  von  dolorem  ist  hier  eben  doppelt  geschrieben. 
Ein  uralter  Lesefehler  der  Art  betrifft  Xenophon  De  rep.  Lacedaem. 
3,  5  aidf]juoveoT8oovg  d'  äv  amovg  fjyi]oaTO  nal  avröjv  rcbv  ev  Tolg  öcp&aljuolg 
TiaQ&evmv:  „du  würdest  sie  für  schamhafter  halten  als  die  Jungfrauen  in 
den  Augen."  jzaQ&evoi  soll  hier  für  xogm  eingetreten  sein,  und  xögai  sind 
das  Augenweiß.  Mit  gerechter  Entrüstung  fällt  der  geschmackvolle  Ver- 
fasser der  Lehrschrift  Tlegl  viffovg  c.  4,  4  über  diesen  Tropus  her,  den 
gleichwohl  im  2.  Jahrh.  n.  Chr.  der  Arzt  Aretaeus  De  caus.  morb.  1,  7 
wiederholt  hat.  Xenophon  selbst  hatte  dagegen,  wie  seine  Handschriften 
zeigen,  rcbv  iv  loTg  §aXdjuoig  jiaQ^evmv  geschrieben.  Hier  ist  der  Sinn 
vortrefflich,  und  niemand  wird  für  {^aMjuoig  etwa  wirklich  d(pd^aXjuoig  ein- 
setzen wollen.  TOIC  SAAAMOIC  war  also  dittographisch  zu  TOIC  0^6 AA 


»)  Aehnliche  Fälle  bei  0.  Jahn,  Persius  S.  CLXXXIX. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  141 

MOIC  entstellt;  die  eingedrungenen  Buchstaben  0<P  repetierten  das  vorauf - 
gehende  OIC. 

Noch  immer  unverbessert  erscheint  im  Oedipus  Rex  des  Sophokles, 
wo  es  V.  1505  heißt:  /jly}  ocpe  Tiagiöi]?  nrcDxäg  dvdvÖQovg,  das  jtaQidrjg  mit 
gelängter  erster  Silbe.  Der  geblendete  Oedipus  redet  hier  und  empfiehlt 
dem  Ki'eon  seine  schutzlosen  beiden  Töchter.  Hier  schrieb  nach  meiner 
Überzeugung  Sophokles  jzaQaXiTirjg,  und  die  Buchstaben  AÄ  sind  hinter 
AP  in  der  Grundhandschrift  fortgefallen,  worauf  die  Notkorrektur  jiagldfjg 
sich  einstellte.  Dies  also  kein  Beispiel  für  Doppelsetzung,  sondern  für 
Weglassung  ähnlicher  Buchstaben. 

13.  Verstellung  von  Buchstaben  im  Wort. 

Leicht   ist   die  Vertauschunp-   von   fidmina   und  flmnmcL    certus  und     ß"<^^^" 

Ti'i  11  1-  -1  •  OTT  11'    Stäben  um- 

rretus,  dergleichen  zu  belegen  hier  nicht  nötig,     bo  steht  denn  auch  bei    gestellt 
Seneca  Herc.Oet.  1319  iam  fracta,  iam  satiata,  wo  zu  lesen  ist:  iam  farcta, 
iam  satiata  (nach  Cic.  Tusc.  2,24  farta  et  satiata;  correxi).  Ahnhcli  Caecilius 
225  R.  siibfraginafam]  lies  suhfarcinatam ;  corr.  Mercier.    Bei  Properz  heißt 
es  4,  3,  51  im  cod.  N: 

Nam  milii  quo  Poenis  te  purpura  fulgeat  ostris 
Cr^'stallusque  meas  ornet  aquosa  manus? 

Für  das  sinnlose  te  empfehle  ich  den  Editoren  einfach  et  zu  schreiben, 
so  daß  et  und  que  sich  entsprechen,  und  alles  ist  gut.  Ganz  ebenso  steht 
(Vi  für  icl  geschrieben  bei  Plautus  Most.  305  (in  CD). 

14.  Auslassung  oder  Zufügung  eines  Buchstabens. 

Hier   sind   Fälle   gemeint   wie    exemplo   für   extemplo  u.  ä.     Bei   dem   Sonstige 
Ivomiker  Plato  im  Laios  I  618  Kock  steht  o  jueUayQog,  wo  Meineke  6  jukv   ctun^en 
Aeaygog  korrigierte;  Aeschyl.  Choeph.  797  rig  äv  statt  xrioov.    Ähnlich  bei    um  nur 
</ic.  ad  fam.  3,  11,  4  perite   statt  per  te;   Tac.  Ann.  6,  30   visitare   statt  vi ^'^»"tabe^n  ^ 
stare;    No\äus   61  R.  perorem   statt   spero   rem;    Afranius   221    ambit:    Hes 
amahit;  Jul.  Valerius  p.  11,  19  K.  Uberasse  für  librasse  u.  ä.  m.    Bei  Tlieo- 
krit  18,  18  steht  fj^ui&eoig ;  Bücheier  sah,  daß  der  Sinn  liier  fji§eoig  erfordert. 
Bei    Quintilian   schwankt  8,  6,  10    die   Überlieferung   zwischen   ferro   non 
fato   und  ferro   an  fato  (sc.  murus  occidit);    Bücheier   erkannte,    daß   die 
Frageform  beizubehalten,  aber  ferron  an  fato  zu  lesen  ist. 
Bei  Horaz  liest  man,  Carm.  I  16,  5  ff . : 

5  Non  Dindymene,  non  aclytis  quatit 
Mentem  sacerdotum  incola  Pj-thius, 
Non  Liber  aeque,  non  acuta 

Sic  geminant  Corybantes  aera,  • 

Tristes  ut  irae. 
Hier  ist  das  sie  im  v.  8  falsch ;  es  muß  sl  heißen.    Bentley  stellte  si  her, 
und   diese  Verbesserung   hat   in  den  Handschriften  nachträglich   dürftige 
Bestätigung  gefunden. 

CatuUs  Carmen  111  lautet: 

Aufilena,  viro  contentam  vivere  solo 

nuptamm  laus  est  laudibus  eximiis; 
Sed  cuivis  quamvis  potius  succumbere  par  est 
quam  matrem  fratres  ex  patnio  parere, 


chimgen 


142  Kritik  und  Hermeneutik. 

WO  die  zweite  Zeile  offenbar  korrupt,  aber  nur  ein  n  ausgefallen  ist. 
E.  Bährens  hat  hier  das  Richtige  gefunden;  wir  müssen  lesen: 

nuptarum  laus  est  laudibus  ex  nimiis. 
Durchaus  desperat  klingt  in  den  Mäcenaselegien  die  Zeile  2,  33,  die  den 
Kaiser  Augustus  anredet: 

Cum  deus  in  terris  divis  insignis  avitis. 
Der  Dichter  Avill  sagen:    „wenn  du  in  den  Himmel   und  zu  deinen  gött- 
lichen Ahnen  erhöht  bist."     Sehr  schön  schrieb  Vollmer: 

Cum  deus  intereris  divis  insignis  avitis. 

15.  Angleichung. 

Anglei-  Lciclit  geschieht  es,  daß  ein  Schreiber,  weil  der  Klang  ihm  noch  im 

Gedächtnis  liegt,  ein  Wort,  das  er  eben  geschrieben  hat,  noch  einmal 
wieder  bringt,  oder  auch  nur,  daß  die  Kasusendung  des  vorigen  Wortes 
von  ihm  unwillkürlich  auf  das  folgende  Wort  übertragen  wird.  So  las 
schon  Yarro  im  Plautus  Miles  24  fälschlich  insane  hene  für  insanmn  hene. 
So  steht  bei  Athenaeus  p.  6  B  r]öoval  jioXXal  jueiCovgy  wo  klärlich  tzoIXcü 
juei^ovg  zu  fordern  ist  (corr.  Musuros);  bei  Tacitus  Ann.  1,44  adver sos  eos 
für  adversus  eos  und  3,  43  nohilissimarum  Galliarum  für  nohilissimam  Gal- 
liarum.  Bei  Thukydides  1,  74  fin.  im  Vaticanus  Jigooe^cjü^rjoe  für  jigoe^d)- 
QrjOBy  weil  kurz  vorher  jiQooexciiQyjoav  voraufging ;  bei  Aeschylus  Choeph.  403 
Tzaga  tcov  JigoTegcov  cpi'^ijuevajv  statt  nQoxeQov  q)di/ievMv.  Bei  Xenophon  Mem. 
1,  2,  48  XaiQEXQdxi]!;  xal  '^EQfAoxQa.TYjQ^  wo  Xenophon  ''Egjuo'yEvrjg  geschrieben 
hatte.  Zu  diesem  Versehen  steht  im  Gegensatz  das  andere  bei  Eubulos 
II  206  Kock  V.  2 :  ^PdoxQanjg  xal  <^iXoxTr]Trjg,  da  hier  umgekehrt  der  Dichter, 
wie  der  Zusammenhang  zeigt,  zweimal  denselben  Namen  nennen  wollte 
imd  sonach  0doxQäTr]g  xal  ^doxQarrjg  herzustellen  ist  (corr.  Turnebus). 
Bei  Valerius  Maximus  steht  VI  9,  14:  iam  C.  Marius  maximae  fortunae 
luctatione;  man  lese  mit  Stangi:  imn  C.  Marius  maximus  fortunae  luctaüoneA) 
In  Dichtertexten  passierte  es  leicht,  daß  der  Schreiber  abirrte  und 
das  Anfangs  wort  der  nächstfolgenden  Zeile  vorwegnahm  und  falsch  ein- 
setzte.    So  steht  es  bei  Properz  4,  10,  27 

Et  Veios  veteres  et  vos  tum  regna  fuistis 
Et  vestro  posita  est  aurea  sella  foro, 

Avo  das  erste  Et  sinnlos;  es  drang  aus  der  folgenden  Zeile  ein.    Ahnlich 

Properz  2,  4,  2  f . : 

Aerius  ut  moriar  venerit  alter  amor. 

Ac  veluti  primo  taurus  detractat  aratrum, 

w^o  wieder  das  ac  sinnlos  und  aus  der  voraufgehenden  Zeile  eingeschleppt 
ist.  In  solchen  Fällen  bleibt  die  Emendation  natürlich  ganz  unsicher. 
Eine  ähnliche  Abirrung  ist  es,  w^enn  es  bei  dem  Komiker  Athenion  fr.  1 
(III  S.  369  ed.  Kock)  v.  15  u.  16  heißt: 

sfiJieiQiav  XIV    eXaßov  dgxv^  ysvonsvrjg 

im  Tileiov  [tiv]  rjv^ov  rrjv  j-iaysiQixijv  re/vrjv, 

Avo  das  ZAveite  riv'  aus  dem  vorigen  Vers  repetiert  ist  (corr.  Meineke). 


1)  Siehe  Berl.  phü.  W.schr.  Bd.  32  S.  1493. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  143 

Aber  auch  ganze  AVoi-tgruppen  werden  gelegentlich  vom  Schreiber 
iiTig  aus  der  benachbarten  Zeile  herübergenommen  und  verdrängen  so 
den  echten  Text,  ^vie  im  Culex  26  f.: 

Sancte  pucr,  tibi  namque  canit  non  pagina  bellum 

Triste  lovis  ponitque  canit  non  pagina  bellum. 

Eine  Korrektur  ist  in  solchem  Falle  erst  recht  unmöglich.  Ähnlich  steht 
es  auch  Plaut.  Trin.  564  im  cod.  Vetus.  Properz  wiederholt  sich  einmal 
in  seltsamer  Weise:  4, 10,  42  u.  66.  Dieser  Fall  bedarf  noch  der  Erörterung; 
\'ieUeicht  hat  Properz  wirklich  selbst  so  geschrieben.  Bei  Plinius  hist. 
nat.  14,  58  steht,  was  der  Arzt  Androkydes  Alexander  dem  Großen  riet: 
rinum  poturus,  rex^  memento  hihere  te  sangumem  terrae,  cicuta  hominis 
enenum  est,  cicutae  vinum.  So  irrtümlich  die  beste  Handschrift.  Das 
erste  cicuta  ist  hier  unter  dem  Einfluß  des  nachfolgenden  cicutae  ent- 
standen. Die  übrigen  Handschriften,  die  statt  dessen  sicut  oder  sicuti 
bieten,  haben  das  Richtige  erhalten;  der  Arzt  sagte:  sicuti  hominis  venenum 
est  finita,  et  vinumA) 

Anders  liegt,  die  Sache  wieder,  wenn  die  Ähnlichkeit  der  Endung  in 
zwei  benachbai-ten  Worten  an  einer  Stelle  Ausfall  bewirkt,  wie  bei  Jul. 
Valerius  p.  153,  10  K. :  tantumque  quis  nostrum  honore  dives  est,  quantum 
(■icatricibus  insignitior\  hier  ist  quisque  statt  quis  zu  lesen  notwendig;  corr. 
H,  Stengel.  2)  Dies  Beispiel  aber  ist  so  beschaffen,  daß  es  uns  zur  Be- 
sprechung der  x\usfälle  und  Textlücken  weiterführt.  Zuvor  aber  ein  Wort 
über  die 

16.  Cruces. 

Desparate  Lesungen,  die  man  im  Text  mit  dem  Kreuzzeichen  "j*  kennt-  Cruces 
lieh  macht  und  als  cruces  interpretum  bezeichnet,  finden  sich  besonders  in 
solchen  Texten,  deren  Abschriften  von  gänzlich  unAvissenden  und  meist 
auch  späten  Schreibern  hergestellt  sind.  Eine  sichere  Emendation  scheint 
l)ei  ihnen  ausgeschlossen.  Ich  erinnere  an  das  /urj  (pavlog  bei  Theokrit 
12,  87,  an  das  Fischergedicht  'ÄlieX';,  Theokrit  'Nr.  21,  um  dessen  Text  es 
besonders  schhmm  steht ;  an  das  mysteriöse  teuen  bei  Catull  64,  344,  wo- 
für man  campi  liest;  an  das  hi  dii  uen,  ib.  66,59;  an  das  trostlose  hunc 
Gallie  timet  et  Britannie  bei  Catull  29,  20,  das  einen  jambischen  Senar 
mit  reinen  Senkungen  bedeuten  soll.  AVas  ist  das  nQooojioioia  in  chartam 
als  Überschrift  zum  35.  Epigramm  des  Ausonius?  Es  handelt  sich  in  dem 
Epigramm  um  eine  Personifikation  des  Buchs,  und  vielleicht  darf  man 
also  jigogwTiojioua  in  chartam  lesen.  An  solchen  Kreuzen  sind  besonders 
die  Glossare  reich.  Was  ist  fleminum  uestem  in  qua  sanguis  amhulando 
in  pedes  fluit  (Placidus,  Corp.  gloss.Y  21,  37)?  Was  ist  dr]Toi  vvxoqol  und 
das  übrige  Corp.  gloss.  H  22,40?  was  ist  frustra  dictionum  ib.  Y  278,  69? 
Was  ist  für  den  wahnschaffenen  'Emxöyxvkog  im  Tzetzesscholion,  das  von 
der  Homerredaktion  des  Pisistratos  erzählt,  einzusetzen ?3)  u.a.m.  Weiteres 
der  Art  anzufüliren  ist  unergiebig,  und  ich  gehe  weiter. 

1)  Nicht  glücklich  behandelt  CoRSSEN,  !           ^)  De  Jul.  Valerii  usu   pronominum, 

Rhein.  Mus.  67  S.  246   diese   Stelle.     Der  Marburg  1909,  p.  68. 

Genitiv   hominis    steht    bei    venenum   wie  =*)  Siehe  Kaibel,  Comic,  graec.fragm.il 

tropisches  venenum  urhis  bei  Livius.  p.  20  ff. 


144 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Plantus 


17.  Lücken  im  Text. 

Ausfälle  Ich  rede  hier  von  dem,    Avas  unsere  Neulateiner   mit   dem    schauder- 

haften Wort  lacunae  bezeichnen,  laciinae  sind  Lagunen,  Lachen  und 
Pfützen,  omissio,  defectio,  damnum  wäre  das  Richtige.  Entweder  kann  nun 
der  Ausfall,  um  den  es  sich  hier  handelt,  ein  einzelnes  Wort  oder  eine 
ganze  Yerszeile  oder  endlich  einen  größeren  Abschnitt  anbetreffen.  Immer 
aber  ist  es  für  den,  der  ihn  ansetzt,  geboten,  seine  Entstehung  auf  einen 
Anlaß  zurüclizuführen,  und  diese  Erklärung  ist  allemal  aus  der  Ähnlich- 
keit benachbarter  Wörter,  aus  dem  Abirren  auf  ein  ähnliches  Schriftbild 
Tac.  Diai.  8  j^gp^uleiten.  Tacit.  Dial.  cap.  8:  Eprium  .  .  .  et  Crispum  Vibium  .  .  .  non 
minus  (nominatosy  esse  in  extremis  partihus  terrarum  quam  Capuae;  ib. 
cap.  15:  neminem  hoc  tempore  (^paremy  oratorem  esse  contenderes  antiquis; 
so  ist  m.  E.  in  diesen  beiden  Fällen  zu  ergänzen :  nominatos  sah  dem  jioti 
minus,  parem  dem  Wortscliluß  von  tempore  gleich ;  daher  der  Ausfall.  Dies 
also  sind  Fälle,  die  mit  der  unter  12  behandelten  Haplographie  überein- 
kommen. 

Yerfehlt  dagegen  das  geschäftige  Flickverfahren,  das  lange  Zeit  in 
der  Plautuskritik  herrschte,  wo  man  jeden  Hiat  rasch  durch  irgendein 
eingeschobenes,  meist  ganz  bedeutungsloses,  wertloses  Wort  beseitigte. 
C.  F.  W.  Müller  hielt  an  dieser  verzweifelten  Methode  bis  zuletzt  fest. 
Wir  wissen  jetzt,  daß  die  Hiate  im  Plautus  echt  und  grade  die  wertvollsten 
Zeugen  sind  für  die  Natur  des  alten  Yolkslatein.  Im  Persa  843  stehen 
die  Anapäste:  Graphice  \  hunc  völo  ludificari  und  müssen  so  bleiben.  Wer 
Nunc  gräphice  hunc  völo  ludificari  schreibt,  macht  uns  nicht  plausibel,  wie 
das  nunc  grade  vor  gräphice  hat  fortfallen  können 
Sache  in  aberhundert  Fällen. 

Die  AhnUchkeit  der  Silben  hat  aber  auch  den  Ausfall  ganzer  Yerse 
veranlaßt.  In  Handschriften  des  Homerus  latinus  fehlt  z.  B.  der  Yers  92 ; 
denn  er  beginnt  mit  dem  Wort  Turpiter,  der  folgende  Yers  mit  Iiippiter. 
In  Ps.Ovids  Halieut.  begannen  die  Yerse  45  u.  46  ursprünglich  etwa  so: 
Amplius  OS  hämo  vorat  und  Änthias  his  tergo;  daß  einer  der  Yerse  fort- 
fiel, ist  bei  dieser  Älinlichkeit  begreiflich.  Danach  läßt  sich  dann  auch 
der  fehlende  Catullvers  68 B  47  ergänzen;  er  muß,  wie  der  folgende,  mit 
Notescat  begonnen  haben,')  u.  ä.  m. 

Das  Ansetzen  von  Lücken  dieser  Art  ist  nun  zwar  wieder  ein  be- 
quemes Mittel,  um  über  Schwierigkeiten  hinwegzukommen,  und  man  hat 
dabei  außerdem  noch  das  angenehme  Gefühl,  keinen  überlieferten  Buch- 
staben abändern  zu  müssen.  Wer  aber  diese  Ansätze  so  häuft,  wie  von 
YoUmer  neuerdings  im  Ciristext  geschehen,  bringt  sich  um  alle  Plausi- 
bihtät.  Solch  Yerfahren  widerlegt  sich  selbst.  Ähnlich  ging  dereinst 
E.  Bährens  im  Properz  vor,  ein  Zerfetzen  des  Textes,  gegen  das  mein  Auf- 
satz im  Ehein.  Mus.  38  S.  197  ff.  sich  richtete.  2)  Es  muß  als  Regel  gelten, 
daß  niemandLücken  ansetzen  darf,  der  nicht  genau  zu  präzisieren 
weiß,  was  dagestanden  haben  muß,  Aver  nicht  eine  vollständige  Er- 


Ganze 

Verse 


Und   so    liegt   die 


1)  Siehe  Ehein.  Mus.  59  S.  428. 

^)  Vgl.  auch  A.  Ludwich,  Homerischer 


Hymnenbau,  Leipz.  1908,  S.  30  ff. 


^ 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes. 


145 


gänzung  des  angeblich  Fehlenden  in  Vorschlag  bringen  kann.  Diese  pflegi 
dann  mitunter  sehr  unecht  auszufallen.  Der  Charakter  der  Poesien  leidet 
durch  solche  Einschaltungen  oft  nur  allzusehr;  die  schöne,  oft  gewaltige 
Piägnanz  der  Sprache  geht  verloren.  Viel  lieber  glaube  ich  da  an  irgend- 
welche geringe  Verschreibungen,  durch  deren  Beseitigung  sich  der  Zu- 
sammenhang herstellen  läßt,  oder  es  läßt  sich  eventuell  auch,  wie  im 
Properz,  durch  Versumstellung  helfen.     Ciris  407  f.  ruft  die  Heldin:  eins  408  u. 

Vos  ego,  vos  adoo  venti  testabor  et  undae, 

Vos  o  *numantina  si  qui  de  gente  venitis, 

Cernitis  .  .  . 
Hier  genügt  es  ^^ollständig,  für  das  als  korrupt  erkannte  numantina  ein 
iifanti  herzustellen;  durch  nichts  ist  dagegen  angezeigt,  daß  ein  Vers 
it'iilt.  Daß  mutare  reflexivisch  „sich  verändern,  sich  verwandeln"  heißen 
kann,  ist  bekannt;  mit  der  gens  mutans  ist  also  das  im  v.  198  erwähnte 
Geschlecht  der  Dauliades  gemeint  und  unmißverständlich  angezeigt.  Einen 
metrischen  Schnitzer  enthält  der  Cirisvers  477: 

Aeginamque  simul  salutiferamque  Seriphon. 
Sollen  wir  aber  deshalb  zu  der  gewaltsamen  Annahme  greifen,  nach  shnid 
seien  zwei  ganze  Halbverse  ausgefallen?  i)  Es  ist  vielmehr  längst  erkannt, 
daß  semenüferamque  zu  lesen;  ja,  diese  Lesung  taucht  schon  in  den  Hand- 
schriften auf;  denn  die  sonst  dürre  Insel  Seriphos  konnte  nur  von  der 
l^flanze  osgicpog  ihren  Namen  haben,  und  daher  heißt  sie  sementifera;  jeden- 
falls ist  Kratinos  fr.  211  nolvßmTov  novriav  ZeQi(pov  zu  vergleichen.  2)  Noch 
ein  Prosabeispiel.  Das  Verb  um  finitum  fehlt  in  dem  Satz  bei  Theophrast 
Charakt.  4,  11:  xal  et  x6  ägorgov  (sc.  ö  äygoixog)  e^Qrjoey  fj  x6q)ivov  7)  öqe- 
rravov  iq  &vXaxov,  rama  xfjg  vvxTog  *  *  xaTO,  äygvjiviav  ävajuijuvrjoxöjuevog. 
Auch  hier  glaube  ich  jedoch  wieder  an  keinen  Ausfall  und  setze  statt 
dessen  das  (manelv  des  Casaubonus  für  das  ganz  überflüssige  xavxa  ein; 
also:  xal  ei  xö  ägoxQov  exQ7]0£v  t]  xocpivov  i]  ÖQenavov  ff  d^vXaxov,  djiaixeiv^) 
7//S   vvxxög  xaxd  äygvjiviav  dvajuijuvrjoxojuevog. 

Es  gibt  Autoren  wie  Horaz  und  Persius,  in  denen  uns  keine  einzige  Feststei- 
Zeile  fehlt.  Bei  anderen  sind  es  bisweilen  schon  äußerliche  Umstände,  ^Lü?kln^ 
die  erweisen,  daß  etwas  weggefallen.  So  dienen  stichometrische  Angaben 
zur  Kontrolle  der  Vollständigkeit,  und  sie  ergeben  z.  B.,  daß  der  Anfang 
\  on  Cicero  pro  Milone  verstümmelt  ist  (oben  S.  40).  Vergils  Catalepton 
Xr.  X  enthält  25  Verse;  das  Gedicht  ist  aber  genaue  Nachdichtung  nach 
dem  Phaselus  Catulls,  Nr.  IV,  der  27  Verse  hat,  und  wirldich  bestätigt 
die  genaue  Betrachtung  des  Inhalts  die  naheliegende  Vermutung,  daß  bei 
Vergil  zwei  Verse  weggefallen  sind.  Die  Responsion  ist  es,  die  im  Hirten- 
t 'dicht  des  Calpurnius  Nr.  IV  anzeigt,  daß  im  Wechselgesang  hinter  v.  96 
tiinf  Averse  ausfielen,  in  denen  Amyntas  über  Apollo  sang.  Daß  des 
Ausonius  Bissula  unvollständig,  folgt  aus  der  Bezeichnung  über,  die  Auson 
iiwendet.*)     Bisweilen   bezeugen    die   Handschriften    selbst   den   Ausfall 


^)  Der  Fall   liegt  genau   ebenso  wie 
i'i    Catull   64,  368,   wo    mit    metrischem 
"^(•hnitzer  überliefert  ist: 

Vita  Polyxcnia  madescent  caede  sepulcra. 

M  an  liest  deshalb  madefient  oder  mitescent. 


2)  Vgl.  De  halieuticis  p.  46  und  Rhein. 
Mus.  63  S.  40. 

')  Aucli  xoavyäoai,  y.oä^ai,  könnte  hier 
stehen. 

*)  Siehe  Buchwesen  S.304;  M.Krämp^r, 
Res  libraria  cadentis  antiquitatis  p.  21, 1. 


Handbiicli  der  klass.  Altertumswissenschaft.     T,  3.     3.  Aufl. 


10 


146 


Kritik  und  Hermeneutik. 


wie  im  Tacitusdialog  cap.  34.  In  UeQl  vt^jovg  cap.  11  wird  der  Text  unter- 
brochen durch  Ausfall  eines  Doppelblattes  der  Handschrift.  Plinius  be- 
nutzt in  seiner  Naturgeschichte  direkt  oder  indirekt  die  Tiergeschichte 
des  Aristoteles;  wer  beide  Texte  genau  vergleicht,  merkt  bisweilen,  daß 
der  griechische  verkürzt  vorliegt;  u.  a.  m. 

Eine  sichere  Handhabe   gibt  ferner   die  metrische  Entsprechung   der 

Strophen  und  Antistrophen  in  der  griechischen  ChorWrik.    Betrachten  wir 

Sophoci.   einmal   eine   bekannte  Sophoklesstelle.     In  der  Antigene  v.  100  ff.  hören 

Antig.  100  ff.      .       T  A  p 

Avir  den  Anrui: 

dxzlg  aeUov  xo  xak- 
kiarov  EJnajivXfp  qcavh 
Gt'jßa  tiJöv  Tiootegcov  qpdog, 
sqpdvdrjg  jrot'  co  ;fßt'ö£as' 
dfiegag  ßkiqpagov,  AiQxai- 
105  cov  vjieg  geedgcov  f^ioXovoa 
f  Tov  kevxaojtiv  'Aoyöüsr 
(föjxa  ßdvza  Jiavoayia 
ffvydöa  Tigööoo/nov  d^vri.po) 
xnf]oaaa  yaXivw. 

Hier  widerstreben  dem  v.  105  in  der  Gegenstrophe,  v.  120,  zunächst  die 
Silben:  -vai  xai  oteqpdvMjua  jivQywv,  und  man  setzt  also  in  diesem  v.  120 
re  xai  statt  xal.  Dem  v.  106  entspricht  sodann  in  der  Gegenstrophe  der 
V.  121,  der  so  lautet:  Tievxdev^'  "Hcpaiotov  eXeXv.  Also  fehlt  wieder  eine 
Silbe  im  v.  106.  Diese  Silbe  ist  herzustellen;  überdies  aber  abundiert  für 
den  Sinn  das  ßdvxa  im  v.  107  neben  (pvydöa  jiqoöqo^iov,  und  wir  gelangen 
zu  der  Annahme,  daß  Sophokles  wirksamer  Tidvxa  schrieb;  also: 

TOV  ?^vxaojTiv  'Agyoysvfj 
(pwxa  Jidvxa  Jiavoayia  xxX.^) 

Darauf  folgen  die  epirrhematischen  Anapäste,  v.  110  ff.: 

110  ov  iq)'  riixsxega  yä  Ilolvveixrjq 

dgdeig  vsixecov  i^  dfi(pd6ya>v 

(tjyays'  HsTvog  d'y  o^ea  xka^cov 

aisrog  €ig  yäv  (hg  vjiegsjrxa, 

ksvxfjg  x^dvog  jixegvyi  oxeyarog, 
115  JToAAwv  //£«?'  ojiXcov 

^vv  ^'  cjTJToxöfioig  xogv&Eooiv. 

Diesen  Anapästen  sollten  offenbar  die  Anapäste  genau  entsprechen,  mit 
denen  die  Antistrophe  v.  126  ff.  fortgesetzt  wird.  Daraus  folgt  aber  zu- 
nächst, daß  der  v.  113  zu  atexog  cbg  yäv  imeQejiTa  verkürzt  werden  muß;| 
denn  ihm  entspricht  mit  nicht  zufälligem  Silbenanklang  der  v.  130 :  ;f^iJao< 
xavaxrjg  vjisQOJitag.^)  Dieselbe  Vergieichung  macht  dann  aber  auch  um- 
gekehrt für  V.  112  eine  Ergänzung  nötig,  wie  ich  sie  nach  Nauck  in  dei 
Text  eingesetzt  habe.  Es  ist  ein  halber  Dimeter,  der  dort  in  den  Hand- 
schriften fehlt.  Und  auch  der  Sinn  führt  bestätigend •  auf  dasselbe;  denn 
Sophokles  will  hier,  v.  112,  sagen:  Polyneikes  wurde  durch  reixt]  zum 
wirklichen  jioXvveixrjg  und  holte  den  Feind  ins  Land.  Eigennamen  werden 
im  Chorlied  sonst  gern  vermieden;  auch  Kapaneus'  Name  fehlt  im  weiteren 


1)  Vgl.  Theokrit  22,  142,  wo  jidneg 
überliefert  und  ßdvxeg  zu  lesen;  corr. 
Boissonade. 


«)  Vgl.  oben  S.  111.  lieber  solche  „Sticli- 
worte"  oder  Anklänge  in  Strophe  und 
Gregenstrophe  s.  unten. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes. 


147 


Verlauf  dieses  Gesanges.  Nur  uiri  des  AV'oi-tspiels  Avillen  steht  also  Iloh- 
reixfjg  im  v.  110.  So  leitet  der  Dichter  auch  des  Aiax  Namen  von  ald^sir 
lier  (Ajax  432).  Zu  diesem  Nominativ  IloXvvelxrjg  aber  fehlt  nun  ein 
Pi'ädikat  wie  das  eingesetzte  ijyayF.  Die  Einschaltung  kann  also  für  an- 
nähernd sicher  gelten. 

Wie  viele  Operationen  dieser  Art  hat  auszuführen,  wer  die  Tragiker 
liest!  Es  gilt  entweder  überschüssige  Silben  zu  streichen  oder  fehlende 
zu  ergänzen.  Neuerdings  ist  von  S.  Sudhaus  in  feinsinniger  Weise  auch 
an  die  metrisch  so  schwer  anzuordnenden  Cantica  des  Plautus  die  Hypo- 
these herangetragen  w^orden,  daß  sie,  in  Responsion  nach  einem  „Stollen- 
gesetz" gebaut,  in  Teile  gleichen  Umfangs  zerfallen,  Teile,  die  zwar  nicht 
gleiches  Versmaß,  wohl  aber  eine  abgezählt  gleiche  Anzahl  von  Hebungen 
oder  Takten  enthalten.  Die  Durchführung  dieser  Aufstellung  maclit  indes 
wieder  manche  Nachhilfe  der  angegebenen  Art  nötig;  auch  erwecken 
manche  Messungen  und  Taktzählungen  Bedenken;  vor  allem  vermissen 
wir  einen  Nachweis  darüber,  w^elchen  musikalischen  Zweck  die  Ent- 
sprechung von  Stollen  so  gewaltigen  Umfangs,  ^vie  Sudhaus  sie  ansetzt, 
haben  sollte,  und  ich  bekenne,  nicht  überzeugt  zu  sein.i) 

Die  größte  Vorsicht  ist  endlich  denen  gegenüber  geboten,  die  in 
y.ara  mixov  gedichteten  Partien  genaue  Entsprechungen  gleich  langer  Vers- 
LCi'upf)en  zu  erkennen  glaubten  —  so  liebt  Euripides  in  der  Tat  Q^joeig 
gleichen  Umfangs  zu  je  zehn  oder  zwölf  Zeilen  2)  —  und,  w'O  solche  sich 
nicht  durchführen  ließen,  mit  dem  Ansatz  von  Textlücken  nachhalfen. 
Ich  erinnere  nur  an  F.  Ritschis  Analj^se  der  Reden  in  Aeschylus'  Septem. 
Sogar  im  Tibull  und  Properz  haben  diese  Zahlenmystiker  gewütet,  s)  Ich 
Ivomme  später  hierauf  zurücls:. 


Plautus' 
Cantica 


18.  Umstellungen. 

\\'ir  unterscheiden  Umstellungen  von  Worten,  von  Zeilen,  von  größeren    umstei- 
'L'extabschnitten.    Ein  einzelnes  Wort  umzustellen,  ist  noch  das  Leichteste, *)  innerhalb 
und  das  wird  zunächst  mit  Evidenz  bei  Dichtertexten  ausgeführt,   wo  es   f^er  Zeiie 
gilt,  das  verdorbene  Versmaß  zu  heilen.     Eurip.  Orest  505  steht: 

avTog  xaxkov  iytveto  f^itjXEga  xtarcor. 

Ein  Trimeter  entsteht  aber  erst,  wenn  wir  (mit  Person)  /^//re^'  h/evETo 
y.ravmv  lesen.  Bei  Catull  1,8  erfordert  der  Vers:  Quare  habe  tibi,  wo  die 
Codices:  Quare  tibi  habe  geben.  Auch  innerhalb  des  Plautus  ist  dies  Ver- 
fahren erlaubt  und  i-echt  plausibel,  um  unlesbare  Verse  einzurenken.  Nur 
ist  von  ihm  zu  oft  und  zu  leichtherzig  Gebrauch  gemacht  worden.  Steht 
Plaut.  Merc.  709  vde  miserae  mi,  so  haben  Avir  nicht  nötig  väe  mi  miserae 
lierzustellen,  obschon  sich  dies  glatter  liest;  denn  miserae  mi  ist  wie  ein 
Wort    und    wird    durch    einen  Wortakzent    beherrscht.      Der    berühmte 


*)  Gleich  Aul.  126  ergänzt  Sudhaus 
(S.  8)  unrichtig  ein  vel\  vgl.  W.  Kohl- 
MANX,  ])o  vol  imperativo;  irrige  Messungen, 
weil  der  Hiat  ausgeschlossen  wird,  z.  B. 
S.  130.  Abk^hncnd  auch  F.  Leo,  Göttinger 
i-el.  Anz.  1911   S.  66  ff. 

2)  Vahlp:n,  Opuscula  academ.  T  S.  368. 


^)  Das  Unglaublichste  an  Zahlenniystik 
hat  neuerdings  A.  Fick  an  den  Urtext  der 
Odyssee  herangetragen :  Die  Entstehungder 
Odyssee,  Göttingen  1910;  vgl.  oben  S.  57. 

*)  Vgl.  G.  Hermann,  De  emendationi- 
bus  per  transpositionem  verborum,  ( )pusc. 
111  8.  98  f. 

10* 


148 


Kritik  und  Hermeneutik. 


I 


Terenzvevs  Ad.  470  persuasit  nox  nmor  uiiiiim  adnlesceiftia  gab  einst  des- 
lialb  Anstoß,  weil  im  dritten  Fuß  gegen  die  Gewohnheit  ein  jambisches 
Wort  steht.  Wer  fühlt  aber  nicht,  wie  sehr  durch  die  Umschiebung 
amor  persuasit  nox  v'nium  adidescimtia  (0.  l^rugmann)  die  Wucht  dieses 
Satzes  leidet? 

Auch  im  Hexameter  sind  Umstellungen  nichts  Seltenes;  besonders 
im  vierten  Fuß  der  römischen  Epiker;  die  Stellung  picnus  cum  languet 
amator  wurde  vorgezogen;  die  Handschriften  aber  ordnen  niclit  selten 
nach  dem  Schema  cum  plenus  languet  amator.^)   Vergil  schrieb  Aen.  1,883: 

Erramus  vento  Imc  vastis  et  fliictibus  acti, 
er  hätte  freiUch  ebensogut  et  vastis  statt  vastis  et  schreiben  können;  aber 
er  bevorzugte  in  solchen  Fällen  den  Gegenakzent  im  Yerse  imd  erreichte 
ihn  eben   durch  die  Inversion   des  et.     So   haben   hier   dann   aber   schon  « 
alte  Vergilhandschriften  das  naheliegende  et  vastis  hergestellt.   Aber  auch  f 
an   anderen   Stellen    des   Hexameters    finden    sich   natürlich   gelegentlicli 
ScliAvankungen  in  der  Wortstellung,   sogar  mit  metrischem  Schnitzer  Avie 
bei  Theokrit  27,  47.     Bei  Juvenal  8, 148  trat  dann  Corruptel  liinzu. 

Seltener  ist  die  Notwendigkeit  A'on  Wortum Stellungen  natürlich  in 
der  Prosa  nachweisbar.  Liest  man  Xenoph.  Oekon.  7,  16  ä  re  ol  }%oi 
e(pvodv  OF  dvvcxoßai  xm  6  voitog  ovvfJTaiyEj,  so  steht  das  re  am  falschen 
Ort,  und  wir  erwarten:  «  oT  re  ßeol  xtX.  (so  Cobet,  vielleicht  doch  nicht 
ganz  zAvingend);  bei  Seneca  Apotheos.  10:  Cyllenius  illum  trahit  ad  inferos. 
(I  caelo.  unde  negaiit  redire  quemquam  ist  vielmehr  a  caelo  ad  inferos 
luide  eqs.  zu  fordern.  Bei  den  gepflegteren  griechischen  Prosaikern  seit 
Isokrates,  ja  vielleicht  schon  A^or  ihm,  Avurde  bekanntlich  der  Hiat  ver- 
mieden. Wo  also  bei  solchen  Autoren,  Avie  Aristides,  Dio,  Philostrat 
trotzdem  Hiat  A^orliegt,  kann  eventuell  durch  Umstelhmg  abgeholfen 
Averden.2)  Ein  ähnliches  Kriterium  geben  uns  auch  die  Satzklauseln  mit 
ihrem  obligaten  Creticus.  Im  Palladius  ist  da  der  codex  Erfurtensis  E 
der  Sünder,  der  z.  B.  p.  64, 28  (ed.  Schmitt)  mense  nouembri  dispones, 
p.  65, 7  trima  transferri  dehet  bietet,  Avährend  die  besser  garantierte  Lesung 
nouembri  mense  dispones  und  dehet  trima  transferri  den  erforderlichen 
Creticus  AA'irküch  gibt. 

Verso  und  j)aß  auch  dem  oft  krausen  Zusammenhang  der  Elegien   des  Properz 

Text-      dmx4i  Umstellung  A'on  Distichen  bisAA'eilen  giüclvlich   aufgeholfen  Averden 

abschnitte  j^^n^    habe  ich  oben  angedeutet.     Aber  auch  durch  Versetzunp-   erößerer 

umgestellt  '  ....  . 

Abschnitte  um  eine  oder  etliche  Seiten  sind  unsere  Autoren  ohne  Zweifel 
ab  und  zu  entstellt,  Versetzungen,  die  sich  entAveder  aus  Blattversetzungen 
in  der  Vorlage  oder  daraus  erklären,  daß  der  Schreiber  beim  Kopieren 
just  um  eine  oder  mehrere  Seiten  abirrte.  Dies  letztere  trifft  z.  B.  für 
ÜAdd  zu;  s.  oben  S.  19.  Die  Hypothese  der  Blattversetzung  ist  z.  B. 
von  Mommsen  einst  für  Ciceros  Buch  ad  fam.  Buch  lY  in  überzeugender 
Weise  aufgestellt,  s)  Solche  Hypothesen  sind  A^erführerisch,  Avenn  sie  auf- 
tauchen,   und  sie  können  gelegentlich  auch  arg   in   die  Irre  führen.     Icli 


')  Siehe  Ad  hexametr.  lat.  S.  19;  schon 

(  'IjXTNGham,  Anhnadvers.Horatianae  p.34  ff. 

2)  Tni  alJ^omoiiion  hiorzvi  BEXSET.f:R, 


De  hiatu  in  scriptoribu«  graecis,  Fribergae, 
1841. 

3)  V,i>h  Stern  KOPF,  Hermes  40  S.lff. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  149 

(lenke  an  Tibnll  I  8  sowie  an  Havets  Phädrusausgabe. i)  Auch  mit  des 
Koraz  Ars  poetica,  in  der  man  den  lucidus  ordo  vermißte,  sind  Hofman- 
Peerlkamp,  Ribbeck  u.  a.  übel  mngespningen ;  Problem  bleiben  liier  nm* 
die  Zeilen  136—152.2) 

Die  meisten  der  bisher  besprochenen  Textschäden  sind  solche,  die 
sich  unwillkürlich  eingestellt  haben.  Es  folgt  jetzt  die  Besprechung  der 
Interpolationen,  d.  h.  derjenigen  Schäden,  die  durch  die  absichtliche 
Sucht  des  Schreibers,  zu  ändern  und  zu  korrigieren,  entstanden  sind; 
schon  einige  der  unter  12,  13,  14,  15  u.  17  besprochenen  Fälle  nähern  sich 
(lieser  Art  der  Textentstellung,  der  durch  Emendation  weit  schwerer  bei- 
zukommen ist.  Wir  unterscheiden  aber  Avieder  im  Verlauf  verschiedene 
Arten  derselben. 

Dies  Verwerfen  des  als  unecht  Erkannten  nennt  die  antike  Gram- 
matik ädFreir,  die  „Athetese",  wie  sie  schon  Aristarch  im  Homer  aus- 
o-eiiht  hat. 3) 

19.  Modernisierung  der  Sprache. 

Es  ist  für  den,  der  einen  altmodischen  Autor  eigenhändig  kopiert, 
'  rwas  NatürHches,  in  den  Text  Wörter  und  Wortformen  seiner  eigenen 
^prachgewohnheit  hineinzutragen,  und  auch  dies  geschieht  oft  noch  ganz 
unwillkürhch,  wennschon  es  nicht  von  Gewissenhaftigkeit  zeugt.  So 
modernisieren  wir  bei  der  Benutzung  der  heiligen  Schriften  unAvillkürhch 
•  las  Luthersche  Bibeldeutsch.  Es  ist  schon  darauf  hingewiesen,  wie  bei- 
spielshalber das  Aeolisch  der  Sappho  bei  den  griechischen  Rhetoren,  die 
sie  zitieren,  verunstaltet  ist  (S.  58);  wie  bei  den  Ti-agikern  seltene  und 
^chwei-  verständliche  Wörter  erhabenen  Stils  durch  Glosseme  verdrängt 
wurden  (S.  33);  Avie  das  Jonisch  des  Herodot  nach  einer  Schablone,  die 
erst  in  der  Zeit  des  Gelehrtentums  entstand,  plauA^oll  abgeändert  ist.'*) 
Unsere  Textesrezension  ist  also  in  solchen  Fällen  ein  stetes  AbAA^ehren 
postumer  und  modernisierender  Einflüsse.  Ebenso  hat  aber  auch  auf  die 
Texte  der  Klassiker  der  attischen  Prosa  das  Griechisch  der  späten  Koine  Attisch 
und  der  Byzantinerzeit  vielfach  entstellend  eingeAvirkt.  Cobet  lehrte,  daß  Byzantiner 
(in  Futur  mit  «V  nicht  attisch;  bei  Thukyd.  5,  15  yyövrsg  vvv  jnäXlov  ai>  ^'^^t^teiit 
ri'ÖF^ofierovg  sei  demnach  die  Aoristform  herzustellen,  ebenso  Plato  Apol. 
|).  30  B:  d)g  e/iov  ovx  äv  jion)oovTog.^)  Dies  hat  sich  jedoch  als  nicht  durch- 
führbar enviesen,«)  wie  auch  der  seltene  Aorist  eßUooa  (vgl.  hh%  ßtoyoag) 
sich  aus  den  Attikern  nicht  ganz  entfernen  läßt.  In  der  Tat  aber  brachten 
die  BA'zantiner,  soAA'ie  sie  die  Krasis  falsch  auflösten  (oben  S.  126),  auch 
unattische  Fonnen  in  den  Text  wie  (fdahaTog  f.  (pUrarog,  setzten  oida/uev 
f.  i'oiifv,'*)  xehi\uuTa  f.  y.fhvojiiara,  stellten  das  Verbum  in  den  Plural,  Avenn 
las  Subjekt  neutr.  plur.,  s.  Xenoph.  Laced.  civit.  1,  5  egQoyjueveoTFQa  de 
]lyvFodai   Fi    n  ftlaTnoiFv    (so;    lies  ßXdaroi),    schrieben    fvqfs  f.  i]VQFg^)    und 

")  V^l.  llAVET,  Manuel  S.  196.  e)  Vgl.  gleich  Plat.  Apol.  p.  290:  tj<h] 

-)  \'gl.  A.Dip:terich,  PulcinellaS.2921'.  «r  ...  dtacf^aQ/jaoiiai.  Uebrigens  W.  Schmid, 

3)  Vgl.  A.Römer,  Aristarchs  Atlietescn,  Der  Atticismus  I  S.  245;  111  83:  IV  76  u.DO. 

Leipzig  1912.  '')  Auffällig  das  oldainev  bei  Antiphon. 

•»)  Oben    8.58;    vgl.  W.  Alv,    Rhein.  »)  z.  B.  Plato  Phaedr.  p.  275  Aß:  vgl. 

Mus.  64  S.  591  ff.  KChner-Blass  I  2  S.  11. 
•■')  Novae  lect.  p.  694. 


150  Kritik  und  Hermeneutik. 

änderten  die  Optative  auf  -06; v  in  solche  auf  -oijui  um;  vgl.  Plato  Phaedr. 
274  F,  wo  Stobaeus  doxoh],  die  Handscliriften  doxoi  geben,  und  Xenoph. 
Oecon.  20,  25:  öjrmg  exoi  6  ri  Jtoiol  (lies  noioirj).  Auch  an  die  Stadtgöttin 
Pallas  sei  erinnert;  sie  heißt  bei  den  attischen  Eednern  f]  &s6g,  und,  wo 
man  ^  {^sd  liest,  ist  dies  wiederum  Änderung  späterer  Hand. 

Modernisierungen  ganz  gleicher  Art  sind  es  auch,  wenn  Plautus  an 
Alt-  Yerssclilüssen  evenat  schrieb  und  die  Handschriften  dafür  eveniat  geben. 
Wort-  Für  Genitive  Avie  preti  und  Tati  treten  in  den  Handschriften  pretii  und 
enSteut  ^^^^^  (Prop.  4,  2,  52)  auch  gegen  das  Versmaß  ein;  ebenso  gratis  f.  altlat. 
gratils.  Ein  erepsti  verstand  man  nicht  und  schrieb  dafüi*  einfach  eripis 
oder  eripis  te  (Pompon.  70  R. ;  corr.  Bücheier) ;  Plautus  schrieb  Amph.  554 
tnatJm  {^=  tuo  more);  die  Handschriften  geben  statt  dessen  in  aufem: 
ebenso  ging  es  mit  processe  Turpil.  137,  wofür  fehlerhaft  bei  Nonius  prod- 
esse  steht  (corr.  Gifanius);  ebenso  mit  misti  {—  misisti)  bei  Catull  14,  14; 
ebenso  mit  tuor  und  deposisse  in  Vergils  Catalept.  2  a,  5  u.  10,  16,  wofür  die 
Schreiber  gegen  das  Metrum  das  geläufige  tueor  und  deposuisse  einsetzten. 
dein  f.  deinde  Avar  im  Spätlatein  vielen  fremd  geworden;  daher  erscheint 
bei  Catull  5,  8  ff.  dreimal  deinde  in  den  Handschriften,  avo  dein  durch  das 
Versmaß  geboten  ist;i)  daher  bei  ÖAdd  Met.  14, 215  morique,  avo  der 
Dichter  moriri  zu  setzen  gewagt  hatte;  daher  bei  Plautus  Cure.  748  luce 
clara,  wo  der  Dichter  selbst  lud  claro  schrieb.  Bei  Caesar  Bell.  Gall.  7,  7 
gibt  eine  Handschriftenklasse  konsequent  den  acc.  Xarhonam  von  Narbo, 
Einfluß  des  ciuc  VulgärbilduQg  nach  Anconam,  und  ebenso  steht  dann  auch  Mara- 
uld^i^Ht-  ^^^ö^*^^^^  bei  Sulpicius  Severus.  Etwa  seit  dem  3.  Jahrh.  n.  Chr.  lebte  man 
lateins  des  Glaubens,  die  Pronominalform  istaec  sei  aus  ista  liaec  hervorgegangen, 
und  daher  erscheint  nun  dies  seltsame  ista  haec  auch  AA^rldich  in  solchen 
Texten  wie  Mart.  Capella,  Script,  bist.  Augustae,  Jul.  Valerius  u.  a.^)  Der 
früheste  mir  bekannte  Beleg  steht  bei  Apuleius  met.  1,  2.  Zahlreich  sind 
hierfür  auch  bei  Sidonius  Apollinaris  die  Belege,  3)  aber  die  Editoren  haben 
sie  da  blindlings  sämtlich  Avegkorrigiert.  Dies  selbe  ista  haec  Avurde  nun 
aber  auch  in  den  Plautustext  hineingetragen,  und  im  Plautus  sind  solche 
Schreibungen  natürlich  ebenso  unecht,  wie  sie  im  Sidonius  und  Julius 
Valerius  echt  sind.  Es  verrät  sich  darin  die  nämliche  tiftelig  etymologi- 
sierende Schreibmanier  der  Spätzeit,  die  auch  sonst  überall  grassiert  und 
ein  conrigere  f.  corrigere,  superlectiUs  f.  supellectilis  (Eutrop.  3,  23,  2),  ein 
Conlatinus  und  Avas  derartige  Rekompositionen  mehr  sind,  unbedenldich 
in  die  Texte  brachte.  Daneben  solche  Albernlieiten  AA'ie  nihil  hominus 
f.  nihilo  minus ;^)  prodesse  wurde  zu  prode  esse  distrahiert  (oben  S.  138), 
und    so    entstand   ein  Adj.  prodes  (siim  tibi  prodes).^)     Bei   Horaz    Avar   in 

dem  Verse  Od.  1,  12,  31 

et  minax  quod  sie  voluere  ponto, 

wie    der    Horazerklärer    Porphyrie    lehrt,    schon    im    3.  Jahrhundert    die 

Lesung  eingedrungen : 

et  minax  quia  sie  A^oluere  ponto, 

1)  Siehe  Ehein.  Mus.  51  S.  268.  ^)  epist.  l,4fm.;  1,5,9: 1,8.  2,10,4u.s.f. 

2)  Der  Hiat  bei  Plautus  S.  133  f.;  H.  -i)  DerHiat  bei  Plautus  S.  248  f.  u.  269. 
Ste:ngel,  De  Julii  Valerii  usu  pronomi-  .  &)  G.  Thiele,  Der  lat.  Aesop  des  Ro- 
num,  Marburg  1909,  S.  47  f.  1   mulus,  Heidelberg  1910,  S.  11. 


Die 
ariante 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  151 

also  scheinbar  eine  Verhunzung  des  sapphischen  Verses ;  dies  erklärt  sich 
aber  daraus,  daß  quia  im  Späthitein  und  grade  im  3.  Jahrhundert  bei 
'Terentianus  Maurus  als  Monosyllabum  und  als  eine  einzige  lange  Silbe 
l;  erechnet  Avurde . ' ) 

20.  Doppellesungen  im  Text. 

Hiermit  beginnt  das  eigentliche  Gebiet  der  falschen  Korrekturen,  die 
nicht  nur  den  echten  originalen  Sprachausdruck,  sondern  zumeist  auch  dringt 
den  Sinn  störend  verändern.  Bei  Gellius  4,  13  wird  von  Demokrit  zitiert  den  Text 
rrf^^gi  Aoificbv  fj  XoyixaJv  xavwv;  dies  fehlt  jedoch  in  den  Handschriften,  steht 
nur  in  den  alten  Drucken,  ij  Xoyix&v  ist  auf  alle  Fälle  Doppellesung  und 
unbrauchbare  Variante  zu  Aoijuwv.  Bei  Herodot  2,  94  heißt  es  von  den 
Ägyptern:  ojteiqovoi  t«  oilhxvjigia  ravTa,  rä  ev^EXlrjoi  avrojuara  äyQia  q)vexai. 
Niemand  kann  verkennen,  daß  hier  äyQia  Variante  und  als  solche  zu  tilgen 
ist  (del.  Valckenaer).  Ähnlich  Herodot  7,  220,  wo  es  von  Pythia  heißt : 
l'yovra  ygu  Aeyovra  d)de,  wo  Schweighäuser  das  leyovra  als  Zusatz  zu  exovxa 
tilgte.  In  der  Poetik  des  Aristoteles  9, 11  steht:  Tavra  de  yivexai  xal  /udkora 
xa\  uäkkov,  örav  yepijrai  Jiagd  rrjv  do^av  di'  äXXr]Xa.  Die  Doppelschreibung 
Hegt  hier  auf  der  Hand;  xal  judXiora  ist  neben  xal  juäXXov  unerträglich  und 
zu    beseitigen.     Bei    Livius  45, 29,  1    ist    das    seltsame    Macedonisum    aus 

um 
Macedonis,  d.  h.  aus  der  AusAvahl  der  Lesungen  Macedonis  und  Macedonum 
liervorgegangen.2)  Bei  Petron  47,  4  hat  Trimalchio  einen  crepitus  ventris 
von  sich  gegeben  und  fordert  seine  Gäste  zui-  Nachahmung  auf:  itaque 
>v  quis  vestrum  voluerit  siia  re  [causa]  facere,  non  est  quod  illum  pudeatur; 
das  causa  sollte  das  sua  re  (=:  seinerseits)  erläutern.  Derselbe  Trimalchio 
will  sagen,  daß  er  vierzehn  Jahre  seinem  Herrn  als  Buhlknabe  gedient, 
ib.  75, 11 :  tarnen  ad  delicias  [femina]  ipsimi  [domini]  annos  quattuordecim 
fui:  der  Schreiber  wollte  wieder  verdeutlichen,  daß  ipsimus  den  dominus 
und  daß  das  ad  delicias  esse  soviel  wie  ein  feminam  esse  bedeutet.  Hier- 
lier  gehört  m.  E.  auch,  was  P  in  Plautus  Miles  24  bietet: 

nisi  unum  epytir  [aut  apud  illa]  estur  i[e]nsane  bene. 
Denn   das    aut  apud  Uta   ist  nichts   als  Variante    zu  dem  unverstandenen 

/u/tir.     Ursprünglich  stand  also  in  P: 

Nisi  unum  epitj^nim  estur  insane  bene, 
und  das  ist  dieselbe  Lesung,  die  auch  Varro  hatte  (oben  S.  142).  Ganz 
t'l)enso  führt  aut  die  Variante  ein  bei  Seneca,  Apotheosis  9:  ex  his  qui 
uoovgij^  xagjzdv  edovoiv  [aut  ex  his  quos  alit  i^eiöcoQog  ägovQa];  und  auch 
rlieser  Zusatz  ist  alt;  er  stammt  aus  einer  Zeit,  als  man  noch  den  Homer 
im  Gedächtnis  trug.  Sehr  ähnlich  beschaffen  auch  noch  das  lehrreiche 
rx'is})]«'!  in  der  Anthologia  latina  286,27,  wo  der  „Schlüssel"  von  sich  sagt: 

Virtutos  niagnas  de  viribus  affero  parv'is; 
der  cod.  Salmasianus  aber  gibt  Virtutes  magnas  deuiribus  diuitibus  adoffero 
paruis,    wo   jeder   die  Dittogi-aphie    erkennt;    außerdem   ist  dann  noch  in 

loffero  eine  Doppellesimg  in  den  Text  gedrungen. 


(if 


^)  Siehe  H.Ries,  De  Terentiani  Mauri    {  ^)  Siehe  W.  Heraeus  a.  a.  O. 

>tate,  Marburg  1912,  S.  52.  | 


152  Kritik  und  Hermeneutik. 

21.  Emendationsversuche  der  Schreiber  (jtaQaSioQd'cbaeLg), 

Fehlkor-  Hcroclot    erzählt   8,  58    von   Periander    und    seinem   Sohn:    to   tqitov 

der       Uegiavögog   xijgvxa   jTejujiei  ßovXöjusvog    avrdg  juh  ig  Kegxvgav  fjxeiv,    exelvoy 

Sc]ireiJ)er  ^^  ^g  KoQivßov  njzixöjUEvov  öidöoxov  yiveo&ai  Tfjg  Tvoavviöog.  Hier  ist  in  den 
Handschriften  zu  exnvov  de  noch  ein  exehve  hinzugesetzt,  um  die  Kon- 
struktion zu  erleichtem  (del.  Cobet).  Noch  deutlicher  ist  dies  Verfahren 
ib.  8,  60:  rare  jLiev  fjmwg  [jigög]  röv  Kogiväiov  ä^aeitparo,  avo  der  Schreibei' 
den  bloßen  Alvkusativ  nicht  deutlich  genug  fand  (corr.  Krüger),  oder  bei 
Cicero  nat.  deor.  2,  126,  wo  dicunt  interpoliert  ist,  um  einen  accusativus 
cum  inf.  zu  stützen.  Auch  Plautus  Most.  878  paßt  hierher,  wo  die  Hand- 
schriften cedo  nt  hiham  „gib  mir  zu  trinken".  Das  Versmaß  aber  ver- 
rät, daß  das  }(f  unecht;  der  Interpolator  wollte  den  Konjunktiv  mit  nf 
stützen. 

Diese  Paradiorthosen  sind  verwandt  mit  dem  Eindringen  von  Glos- 
semen, Avofür  schon  in  anderem  Zusammenhang  S.  82  f.  Beispiele  gegeben 
sind.  Doch  ist  den  dort  vorgefühi-ten  Glossemen  eigen,  daß  sie  die 
richtige  Lesung  ganz  verdrängten. 

So  sind  denn  auch  solche  Beispiele  hierher  zu  rechnen,  wo  d»  r 
Schreiber  eine  Corruptel  selbst  bemerkte  und  sie  inter  scribendum  zu 
korrigieren  versuchte,  was  dann  aber  zumeist  mißlang.  Plaut.  Aul.  424 
Avar  aequom  craf  zu  aequo  merat  entstellt;  P  machte  dann  Aveiter  verball- 
hornend aequo  mcreat  daraus.  Derartiges  findet  sich  äußerst  häufig,  i) 
Und  auch  eine  interessante  Cicerostelle  möchte  ich  dafür  anführen,  die 
Cic.  ad  fam.  Dieterich  auf  zuklären  versucht  hat.  2)  Cicero  schreibt  an  Paetus,  adfam.9,l(), 
'  *  über  Gastereien,  üppige  und  sparsame,  und  braucht  da,  wo  er  von  der 
Einladung  zu  einer  frugalen  Mahlzeit  reden  Avill,  die  unverständlichen 
Worte:  quod  xi  perseveras  me  ad  matris  tnae  cenam  revocarc,  feram  id 
qHoqiir.  Was  soll  da  die  Mutter  des  Paetus?  Eine  Aufklärung  gibt  vielleiclit 
Athenaeus,  der  p.  44  D  A^on  dem  Thebaner  Matris  erzählt,  der  ein  Vege- 
tarianer  und  Muster  von  frugalster  Diät  gewesen.  Also  schrieb  Cicero 
Avohl  Aäelmehr:  quod  si  perseveras  me  ad  Matris  tui  cenam  revocare;^)  mit 
tili  ist  gesagt,  daß  dieser  Matris  das  Ideal  des  Paetus  Avar;  die  Hand- 
schriftenschreiber aber  änderten  tui  in  tuae,  Aveil  sie  nicht  begriffen,  daß 
)fiatris  Eigenname  sei,  und  dem  Cicero  den  Fehler  ersparen  Avollten,  maier 
als  Maskulin  zu  brauchen. 

Sehr  häufig  ist  die  Sachlage  aber  auch  einfach  die,  daß  ein  kühner 
poetischer  Ausdnick  A^om  Schreiber  nicht  A^erstanden  wurde,  der  dann 
km'zerhand  und  ohne  Bedenken  einen  naheliegenden  [)latteren  dafür  ein- 
setzte. Die  sogenannten  interpolierten  Handschriften  aller  Autoren  geben 
dafür    Beispiele    ungefähr    auf    jeder    Seite.      Hier    sei    eine    Stelle    des 

Augustin  Augustinus   herausgegriffen,    der  Confess.  IV  4,  7  von    der   amicitia   sagt : 

^YV^ri  '^'^^^  tarnen  dulcis  erat  nobis,  cocta  fervore  parilium  studiorum,  avo  das  Wort 
cocta  durch  fervore  erklärt  AA'ird:  die  Freundschaft  Avurde  warm  gehalten 
durch  das  Feuer  gemeinsamer  Interessen.  Etliche  Handschriften  aber 
haben  dafür  coacta  eingesetzt. 

')  Plaut.  Most.  303    operam    nusquam ;  2^   [^  vStrona  Helbigiana  8.  49. 

(lic^s  wiu-de  in  P  zu  opera  inaiuis  quam.  ')  Der  «^en.Jffl^m  hat  seine  Anal  ooioii. 


t 


Ovid 

Heroid. 

!).  80  f. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  153 

22.  Ausfüllung  von  Lücken. 

Weiter  o-ehören  auch   die   falsch  aus"efülken  Lücken  hierher,    Avofür    t^nochte 

...  .  Vorse 

zunächst  Catulls  c.  65  als  Beispiel  diene.  Dort  fehlt  der  v.  9  in  den  guten 
Handschriften,  und  der  cod.  Datanus  gibt  dafür  einen  Füllvers,  der  klär- 
ch  unecht;  kein  Verständiger  kann  ihn  in  den  Text  aufnehmen,  und 
e  wirkliche  Bülfe  fehlt.  Besonders  kompliziert  ist  der  Fall  in  Ovids 
eroiden  9, 80  f.,  wo  der  beste  Pariser  Codex  uns  folgende  drei  Penta- 
meter hintereinander  bietet: 

Praevalidae  fusos  comminuere  maniis. 
Ante  pedes  dominae  pertimuisse  minas, 
Factaque  narrabas  dissimulanda  tibi. 

Der  mittlere  A^ers  muß  also  ursprünglich  einmal  ein  Hexameter  gewesen 
sein,  imd  in  der  Tat  stehen  die  AVorte  domhiac  pert'nnui.^se  minas  sch(m 
l)enso  im  voraufgehenden  v.  74  und  sind  hier  von  dort  irrtümlich  ein- 
gedmngen;  woraus  folgi:,  daß  der  mittlere  Vers  bei  Ovid  ursprünglicli 
etwa  so  gelautet  hatte: 

Ante  pedes  dominae  potuisti  serve  iacere. 
Die   jüngeren   Handschriften   hielten   nmi    aber   für    nötig,    da   jene    drei 
Pentameter  so  nicht  nebeneinander  stehen  bleiben  konnten,  zwischen  sie 
zwei  Hexameter  einzuschieben,  und  so  geben  sie  uns  den  interj)olatorisch 
erweiterten  Text: 

80         Praevalidae  fnsos  comminuere  manus. 
Crederis  infelix  scuticae  tremefactns  habenis 

Ante  pedes  dominae  pertimuisse  minas; 
Eximiis  pompis  inmania  semina  lau  dum 
Fataque  narrabas  dissimulanda  tibi. 
Jeder  sieht,  daß  diese  beiden  Hexameter  nicht  von  Ovid  selbst  herrühren 
können.      Ich   freue   mich,    für   diese   Darlegung    des    Sachverhalts!)    die 
Zustiiimiung  der  Herausgeber  gefunden  zu  haben. 

23.  Buchtitel  gefälscht. 

Ich   rede   hier   nicht  von   der   Fälschimg   des  Autornamens,    sondern 
des  Sachtitels. 2)     Solche  Fälschungen   geschahen   aber   im   antiken  Buch- 
verkehr schon  früh,  wde  denn  der  Titel  „Musen"  für  Herodots  neun  Bücher 
rrst   eingeführt   Avorden   sein  kann,   als   die   unechte  Buchteilung  aufkam. 
Übrigens  betreffen  solche  Titelveränderungen  zumeist  das  Drama.    Ersthch      Titoi- 
wurden  zum  ZAveck  der  AViederauffühningen  der  Komödien  die  Titel  ver-  n^ngen  ^ej 
ändert,  um  das  Publikum  anzulocken,  wie  die  Mostellaria  des  Plautus  als    Theater- 
Phasma,  die  Bacchides  als  Chrysahis,  die  Cistellaria  als  Syrus  erschienen 
sind    und   zitiert   werden.     Sodann   gilt   als  Regel,    daß    alle  Dramentitel 
immer  nur  aus  je  einem  A^^ort  bestanden;  im  Miles  gloriosus  ist  das  AVort 
niilc^  sicher  unecht ;  nicht  anders  bei  den  Griechen,  und  in  Oidmovg  rrgayrog, 
IjijioAvTog  xalvjiTo/iEvog  sind  die  Epitheta  zum  Eigennamen  erst  nachträglich 
und  nicht  von  den  Dichtem  selbst  zur  Unterscheidung  von  anderen  gleich- 

1)  Vgl.  Göttinger  gel.  Anz.  1882  8.  847.  Scliaden  gekommen;  solche  kopflose  Rolle 

'^)  In  den   meisten   neueren  PapjTus-  hieß  djioojiaofia,  und  man  fand  solche  auch 

fluiden    sind  die  ersten  Blätter,    die    den  in    antiken    Bibliotheken:    s.  Schol.  Arist. 

Titel  trugen,  abgerissen  oder  sonstwie  zu  Xubes  906. 


154  Kritik  und  Hermeneutik. 

namigen  Stücken  beliebt  worden,  i)  Nicht  besser  scheint  es  mit  des  x\eschylus 
Jiovvoov  rQoq)ai  zu  stehen;  vgl.  den  von  Dikaearch  gefälschten  Titel  AiavTo<; 
ßdvarog.  Endlich  war  in  allen  mit  /J  verbundenen  Doppeltiteln  jedesmal 
nur  einer  von  beiden  ursprünglich,  wie  in  Aeschylus'  ^^ejiieXr]  ?;  vSqo(p6qoi.^) 
Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  den  Doppeltiteln  der  Dialoge  Piatos.  3) 
Daher  ist  es  von  Wichtigkeit  zu  Avissen,  wie  die  Doppeltitel  der  Satiren 
und  Logistorici  Yarros  in  der  Buchrolle  angebracht  waren:  der  eine  Titel 
stand  vorn  im  Buch,  der  andere  am  Schluß  der  Rolle.'*) 
in  der  Im   übrigen   folgen  wir  natürlich  nach  Möglichkeit  dem  Zeugnis  der 

Litt"Stnr  Handschriften.  Cato  schrieb  also  de  agri  cultiira,  nicht  de  re  rusfica,  Cicero 
schrieb  rhetorica  oder  rhetorici,  nicht  de  inventione,  derselbe  auch  de  deormn 
natura,  welche  Titelform  uns  die  Handschriften  geben,  die  überdies  durch 
die  Analogie  des  Lukreztitels  De  reriim  natura  gesichert  wird;  Avenn 
Cicero  selbst  innerlialb  der  betreffenden  Schrift  gelegentlich  von  de  natura 
deorum  redet,  so  tut  er  das,  weil  die  Repetition  der  Silbe  de  in  de  deorum 
seinem  Ohr  mißfiel.  Etwas  anderes  ist  eben  der  Wortgebrauch  in  wohl- 
gesetzter E/cde,  etwas  anderes  der  geschäftsmäßige  Buchtitel.  Auch  die 
Bucliauf Schrift  monohihlos  für  das  sog.  erste  Buch  des  Properz  ist  echt.^) 
Und  Lucans  Epos?  Man  zaudert  und  schwankt,  ob  De  hello  civili  oder 
ob  Pharmlia  die  besser  verbürgte  Benennung  ist.  Die  Handschriften 
geben  die  erstere;  Lucan  selbst  redet  dagegen  von  seiner  Fharsalia,  wo 
er  sein  Werk  meint.  Die  Sache  wird  hier  folgendermaßen  liegen.  Lucan 
selbst  edierte  nur  die  ersten  drei  Bücher  seines  Epos,  und  es  ist  wahr- 
scheinlich, daß  er  sie  Pharsalia  betitelt  hatte.  Als  aber  nach  seinem  ge- 
Avaltsamen  Tode  das  immer  noch  unfertige  Gesamtwerk  in  zehn  Büchern 
erschien,  wählte  der  unbekannte  Herausgeber  den  Titel,  den  die  Hand- 
schriften bezeugen.  Bisweilen  trennen  sich  die  Handschriftenklassen  wie 
bei  Claudian  De  hello  Gothico  oder  De  hello  Pollentino.  Ich  möchte  jetzt 
die  erstere  Bezeichnung  bevorzugen.  Für  die  doch  mit  Unrecht  so- 
genannte „Apocolocyntosis"  Senecas  garantiert  uns  die  beste  Handschrift 
die  Aufschrift  'Ajio&ewotg  per  satiram,  die  interpolierten  geben  statt 
dessen  ludus  de  morte  Claudii.  Bei  Ausonius  hat  die  Handschrift  un- 
recht, die  zu  dem  Epigramm  Nr.  2  den  Spezialtitel  commendatio  codicis 
gibt.ö)  Die  übrigen  Handschriften  bezeugen,  daß  Ausonius  hier  einen 
Titel  für  unnötig  hielt.  Auch  bei  Sidonius  Apollinaris  schwankt  die  Über- 
lieferung zum  Carmen  III;  der  sinngemäße  und  charakteristische  Titel 
Editio  ad  lihrum  ist  hier  aus  den  besten  Handschriften  in  den  Text  zu 
nehmen.')  Auch  bei  Theokrit  weichen  die  Handschriften  oft  voneinander 
ab  und  erwecken  Zweifel  (oben  S.  13);  doch  kann  ich  hierbei  nicht  ver- 
Aveilen. 

Titel  frag-  Yor  allem  bei  fragmentiert  erhaltenen  Gedichtwerken  haben  sich  die 

mentiertor 

Werke  

1)  W.  HiPPEXSTiEL,    De   Graec.  trag.  S.  238. 
fabularura  nominibus,   Marburg  1884:    im  *)  Siehe  ebenda  S.  128,  1. 

gleichen   Sinn    G.  Jachmann,   De  Aristo-  '">)  Khein.  Mus.  64  S.  393. 

telis  didascaliis,  Göttingen  1909,  S.  36.  «)  Siehe   Max  Krämer,   Ees   libraria 


2)  Hippenstiel  a.  a.  O.  S.  34.  cadentis  antiquitatis  S.  22. 

3)  Vgl.  Die  Bnchrolle    in    der   Kunst  ')  ibid.  S.  49;  oben  S.  11. 


3 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  155 

lihrarii  mehrfach  erlaubt,  die  Buchaiifschrift  eigenmächtig  zu  ändern  und 
auf  den  Inhalt  des  voi'liegenden  Werkteils  einzurichten.  Das  Vorwoil  zu 
einem  Gedicht  über  die  Seefische  ist  uns  unter  dem  Titel  Ponticon.  im 
Anhang  des  Solin  erhalten  ;i)  ich  halte  den  Titel  für  echt,  denn  die  Avert- 
\( »listen  Fische  kamen  tatsächlich  aus  dem  Pontes; 2)  in  einer  Pariser  Hand- 
schrift abei"  lautet  die  Überschrift:  uersus  peracti  operis;  diese  gibt  nur  den 
I  nhalt  des  erhaltenen  Vorworts  wieder.  Plinius  zitiert  unter  des  Ovid  Namen 
Ha/icufica;  der  Titel  besagt,  daß  das  Werk  vom  Fangen  der  Fische  handeln 
sollte;  die  Handschriften  geben  statt  dessen  de  piscibus  et  feriSy  da  das 
erlialtene  Fragment  nur  Fische  und  sonstige  Tiere  aufzählt,  aber  den 
ischfang  selbst  nicht  behandelt.  Ovid  schrieb,  wie  er  selbst  bezeugt, 
e  medicamine  fonnae-,  das  erhaltene  Bruchstück  setzt  im  Titel  faciei  für 
onnae  ein,  und  zwar  aus  ganz  ähnlichem  Grande.  Für  desselben  heroides 
ist  eben  dieser  Titel  heroides  als  echt  garantiert.  3)  Warum  die  Hand- 
schriften ihn  änderten,  ist  durchsichtig.*) 


24.  Falsche  Initialen. 

Die  Initialen  läßt  die  erste  Hand  oft  ungeschrieben,  und  der  Rubrikator  initialen 
ergänzt  sie  dann  bisweilen  falsch.  Dies  ist  z.  B.  in  der  Haupthandschrift  N 
(k'S  Properz  geschehen,  wo  wir  daher  sinnlos  I  15,  2  Fac  für  Hac  und 
11  28,  2  lam  für  Tmn  lesen;  massenhafter  in  einem  Laurentianus  der 
Parallela  sacra  des  Joh.  Damascenus,^)  wo  Tgvyeg  für  ^Qvyeg,  ^oXcov  für 
Zohov  u.  s.  f.  Ich  glaube  auch  noch  immer,  daß  den  Halieutica  Ps.Ovids 
die  Initiale  felilt,  imd  daß  sie  mit  Praecepif,  nicht  mit  Äccepit  anfingen. 
Theokrits  Uaidixä  aloXiKa  fangen  mit  xai  an;  es  ist  aber  aldl  zu  lesen. 

25.  Einschaltung  erklärender  Notizen. 

Der  Trieb  der  Verdeutlichung  beherrscht  den  Schreiber  oder  Leser.  Erklärende 
Das  äußert  sich  im  Kleinen  Avie  im  Großen.  Zunächst  im  Kleinen;  damit  poutionen 
man  den  nachfolgenden  Yokativ  erkenne,  schaltete  er  in  dem  Menander- 
fraginent  109  ed.  Kock  v.  1  die  Exklamation  co  ein,  dui*ch  die  aber  dei" 
jambische  Vers  zerstört  Avird.  So  nun  auch  erklärende  Notizen,  die  einen 
\'()llen  Satz  bilden;  diese  Notizen  standen  zunächst  am  Rand  der  be- 
tieff enden  Handschrift  und  sind  dann  bisAv^eilen  in  den  Text  gedrungen; 
so  in  Piatos  Hippias  maior  p.  283  A  die  Bemerkung  jr^Qt  'Ava^ayogov  Uyerai, 
in  Plinius'  Briefen  7,  17,  11,  avo  von  dem  damals  berülimten  Tragiker  Pom- 
ponius  die  Rede  ist:  hlc  scriptor  tragoedianim  und  in  Eutrops  BreAdarium  6,  9 
regnumTigranis  [qui  Armeniis  imperabat];  dies  letztere  tilgte  Duncker;  demi 
bei  Eutrop  ging  schon  eine  ähnliche  Mitteilung  A^oraus.  Auch  bei  Cicero 
ist  im  Orator  108:  ipsa  enim  illa  [pro  Roscio]  iuvenHis  redimdantia  das  pro 
Iloscio  anstößig  und  schwer  verdächtig.  Herodot  erzählt  I  181  A^on  dem 
riesigen  jivQyog  in  Babylon  und  von  den  Ruheplätzen,  die  da  für  den 
Hesteiger  desselben   in  halber  Höhe  angebracht  sind:   jueoovvri  de  xov  rrjg 


')  Siehe  E.  Bährexs,  Poetae  lat.  nii-  ^)  A'gl.  des  Pliüoclioros  ovvaywytj  {jaou- 

noresin  S.172;  Solin  ed.  Mommsen^  S. 234.  öo)v  tjxoi  ITvüayogsi'cov  yvvaiy.wv  (Suidas). 

2)  Anders  Büchki-kh,  Ehein.  Mus.  51  *)  Siehe  Buchwesen  S.  379  f. 

S.  325.  5)  Mnemos.  ältere  Folge   II   S.  400  f. 


156  Kritik  und  Hermeneutik. 

dvaßdoiög  eori  xaTayojyy  re  xal  ticdy.oi  äfjinavoTrjQioi,  dazu  ist  die  Erklärung- 
angehängt  h  toToi  xariCovreg  dji^Travorrai  ol  ävaßaivovT8<;,  die  Naber  mit  Recht 
athetisiert  hat.  Aus  demselben  Grunde  ist  aucli  die  concKisio  nach  der 
Scythenrede  bei  Herod.  4,  127  tovto  eoti  rj  äno  ^Lxv&eMv  gfjoig  verdächtig. 
In  Xenophons  Memorabilien  III  5,  4  Avird  die  Geschichte  der  Kämpfe 
Athens  mit  den  Böotern  erzählt;  lesen  wir  da:  'Ai'}r]vaioi  de  oi  jiqoteqov 
[öte  BouoTol  juovoi  eyevovro]  jioQdovvieg  rrjv  Boionlav  (poßovvxai  jui]  Boicotoi 
SrjMocooi  Ti]v  "AjxixrjVy  so  ist  das  Eingeklammerte  ein  mißglückter  Versucli, 
das  voraufgehende  jtöoteqov  näher  zu  erklären  (del.  Cobet  und  Dindorf). 
Aristoteles  zählt  in  der  Poetik  6,  8  f.  sechs  eI'öi]  oder  ueqyj  des  Dramas 
auf:  fwOog,  fj^og^  öidvoia,  M^ig,  ^uEAog  und  öipig.  Zu  den  fj&rj  hat  Aristoteles 
aufzählend  ein  öevteqov^  zur  öidvoia  ein  tqitov,  zur  U^ig  ein  rhagTov  hinzu- 
gesetzt und  fährt  6,  18  fort:  Td)v  öe  Xoijrxbv  [ttevte]  fj  /lEkoTTotla  ^ur/iOTov  tv)v 
flövojudrcov.  Hier  fällt  das  ttevte  aus  der  Konstruktion;  ein  Leser  vermißte 
offenbar  in  der  Aufzählung  ein  TTEjujtTor,  setzte  ein  e  an  den  Rand,  und 
diese  Zahl  drang  als  ttevte  in  den  Text  (del.  Spengel). 

26.  Sachliche  Einschaltungen  zur  weiteren  Belehrung. 

Sachliche  ßci  Horodot  ist  8, 104  eine  Erzählung  über  die  Einwolmer  von  Pedasa 

in  Karlen  eingeschaltet,  die  neben  1,  175  nicht  haltbar  ist.  2,  116  bringt 
Herodot  für  die  Geschichte  von  Paris  und  Helena  ein  Zeugnis  aus  der 
Ilias;  ein  eifriger  Leser  fügte  ebendort  zwei  Zeugnisse  für  dieselbe  Saclie 
aus  der  Odyssee  liinzu,  deren  Unzugehörigkeit  auf  den  ersten  Blick 
einleuchtet.  Auch  in  Ciceros  Schrift  De  inventione  erhebt  sich  häufig 
dieser  Verdacht;  s.  I  12  vi.  13  ed.  Friedrich  und  sonst.     Die   fra])pantesten 

Cäsar  Bell.  Beispiele  aber  gibt  vielleicht  Cäsars  Bellmn  Gallicum.  Gleich  im  Anfang 
steht  zwischen  dem  Schluß  des  Proöms  und  dem  Anfang  der  Erzählung 
die  Einsclialtung  über  die  Helvetier,  I  1,  5 — 7,  die  nicht  einmal  stiKstisch 
gut  anschließt  und  im  Sprachgebrauch  von  Cäsar  abweicht  (s^pectarc  in 
statt  spertare  ad  u.  a.).  I  6,  1  ist  der  geographische  Zusatz  inter  mo?item 
luram  et  ffnmcn  Rhodanum  verkehrt.  Derselbe  Verdacht  trifft  das  ganze 
Kapitel  IV  10  u.  s.  f.i) 

Horazvita  Qft  freilich   fehlt  solchen  Verdächtigungen  die  Evidenz;    so    zAveimal 

in  der  Horazvita  des  Sueton.  Bei  Reifferscheid  im  Sueton  p.  47,  12  f. 
lesen  wir  überHoraz:  ad,  rrs  venereas  intemperantior  tradifur;  [nani  specn/a 
in  cuhiculo  scortans  ita  dicitur  hahuisse  disposita  uf,  quocmnque  yespexisset. 
sibi  imago  coitiis  referretur].  Das  Eingeklammerte  tilgte  einst  Lessing 
nach  dem  Vorgang  des  Dacier  aus  Anstandsgründen.  Aber  solcher  Klatsch 
ist  ganz  im  Stil  des  Sueton,  auch  der  Sprachausdruck,  auch  die  Satz- 
klauseln, und  fraglich  bleibt  nur,  ob  wir  solchen  Klatsch  für  Wahrlieit 
nehmen  soUen.  Ebenda  S.  44,  3  heißt  es  von  des  Horaz  Vater:  patre  uf 
ipse  fradit  lihertino  et  auctionum  coactore  [nf  nero  creditum  est  salsainentario, 
cum  Uli  quidam  in  alter catione  exprohrasset :  quotiens  ego  iiidi  patrem  tuum 
brachio  se  emungentem!].    Das  Eingeklammerte   tilgte  hier  Jani;    denn  die 


^)  Ueber  diese  geographischen  Inter-       überzeugendA.KLOTZ,  Cäsarstudien, r^cMp/. 
polationen  handelt  der  Hauptsache  nach    j    1910,  S.  26  ff. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  157 

(iescliiclite  vom  Schneuzen  mit  dem  Ellenbogen  sei  nach  Bion  gemacht, 
in  dessen  Biographie  dasselbe  steht  (Diog.  La.  YV  46).  Aber  auch  diese 
Ei-findung  übernahm  geAviß  schon  Sueton  selbst;  solches  Schneuzen  galt 
<h(Mi  traditionell  als  Merkmal  des  Freigelassenen,  i) 


*, 


27.  Äußerungen  des  Beifalls  oder  Tadels. 

Ob    das   äbjihi'Ws    in  Xenoph.  Oecon.  10,  8  als  Zustimmungsäußerung 
es  Lesers  mit  Recht  einst  von  Schneider  getilgt  worden  ist,  mag  zweifel- 
ift  scheinen.    Drastisch  ist  die  Euripidesstelle  Orest.  547,  wo  der  Dichter     Eurip. 
;igt   „ohne  Vater  entsteht  kein  Kind":  Oio8t547f. 

<?)'«•?'  öe  Jiazgog  rexror  ovx  dt]  .tot'  är. 

hl   den  Handschriften   folgt    darauf   der  erboste  Vers,    der  das  Recht  der 
Mutter  walirt: 

ärer  de  fitjToog  Ticög,  xadag/ti'  Evgijri'S)]; 

1111(1   noch   einer: 

aj'£?'  ÖS  /iit]Tgög  ovde  av}j.aßrj  rexrov, 

wo  ni'Ä/jifh'j  scherzhaft  an  „Silbe"  anklingt,  aber  die  Empfängnis  bedeutet 

(ZU  ovXka^ißdvEiv).     Lukrez    redet   in   seinem    ersten  Proöm  I  32 — 43   vomLukreziM 

•  Ott  Mars,    der  das  Menschenlos   und  die  Kriege  lenkt  und  der  dann  in     ^^^  *^ 
*  1er  Venus  Schoß  Erholung  findet.    Im  zweiten  Buch  aber  finden  sich  die 
Verse  645 — 650,  die  vielmehr  lehren,   daß  die  Götter  sich  um  Menschen- 

linge  durchaus  nicht  kümmern.  Ein  Kritiker  hat  die  letzteren  Verse  nun 
<iuch  in  das  Buch  I  hinübergetragen,  wo  sie  als  v.  44 — 49  stehen.  Es  gab 
in  der  Tat  kein  besseres  Mittel,  den  schreienden  Widerspruch,  den  sich 
der  Dichter  gegen  seine  eigene  Lehre  gestattet,  ad  oculos  zu  demonstrieren. 
Der  moderne  Editor  aber  tilgt  sie  natürlich  im  1.  Buch.  Denn  Cicero,  der 
erste  Editor,  selbst  kann  sie  da  nicht  schon  eingerückt  haben. '^) 

28.  Antwort  des  Lesers  auf  eine  Frage  im  Text. 

Hierfür  ein  Beispiel  aus  Cicero  De  nat.  deor.  1, 19,  wo  der  Epikureer  Cic  nat. 
den  Weltschöpfungsbericht  Piatos  bekrittelt  und  fragt:  quibus  enim  oculis  ^  ^'  ' 
\animf\  intuen  pofuit  vester  Plato  fabricam  illam  mundi?  Der  Philosoph 
meint:  Plato  war  bei  der  Weltschöpfung  nicht  zugegen,  und  seine  weg- 
werfende Frage  ist:  „mit  was  für  Augen  soll  nun  Plato  den  Schöpfungsakt 
denn  überhaupt  haben  sehen  können?"  Darauf  ist  die  natürliche  Antwort 
'tiimiy  die  der  materialistische  Frager  selbst  nicht  zu  hören  wünscht;  der 
Leser  schrieb  sie  an  den  Rand  oder  zwischen  die  Zeilen,  und  wir  haben 
sie  wieder  zu  beseitigen. 

29.  Resümees. 

Schon  das  oben  S.  156  aus  Herodot  angeführte  tovto  eoji  >y  äno 
l^y.rßFO)v  grjoig  kann  als  Einscliub  eines  Resümees  gelten.  Das  bekannteste 
l>eispiel  dafür  sind  die  Proömien  zu  Xenophons  Anabasis,  die  immer  den  Xenopi 
Inhalt  aller  voraufgehenden  Bücher  neu  zusammenfassen  und  an  deren 
Unechtheit  kein  Zweifel  besteht.     Das  letzte  ist  z.B.  so  g-efaßt:  ooa  iikv 


i. 

Anabasis 


fc)^ 


1)  Vgl.  Lucas,  Philol.  58  S.  622.  S.  574. 

-)  vSiehe  Jac.  Bernays,  Rhein.  Mus.  5    1 


158  Kritik  und  Hermeneutik. 

(Mj  Ev  rfj  ävaßdofi  rov  Kvqov  . .  .  xal  öoa  enel  Kvgog  heXevTrjoey,  ev  rf]  noQda  .  .  . 
xal  öoa  EX  Tov  IJovxov  ne^fj  e^iövrsg  xal  exTrleovreg  sjiolovr  .  .  .,  ev  xo)  JiQoodFv 
löycp  dEÖrjkcDTai.  Dabei  stören  sie  den  Zusammenhang  des  Textes,  denn 
das  EX  Tovrov  ds  YII  1,  2  knüpft  genau  an  die  fj^Eoai  Erna  VI  fin.  an,  das 
äfia  ÖE  rf]  f]fdQO.  II  1,  2  genau  an  xi^v  vvxxa  I  fin. 
^  cic.  nat.  Aucli  an  Cicero  De  nat.  deor.  II  153  sei  hier  erinnert;  man  hat  dem 

,  o.  Q^^gj,^  ^j^  Anlaß  dieser  Stelle  Planlosigkeit  in  der  Anordnung  der  Dar- 
legung des  stoischen  Gottesbeweises  im  zweiten  Buch  De  natura  deorum 
vorgCAVorf en ;  dieser  Eindruck  Avird  aber  nur  durch  die  Worte  erzeugt,  die 
daselbst  einen  Abscliluß  zu  geben  scheinen,  wo  er  nicht  hingehört:  ex 
quo  debet  intellegi  nee  figuram  situmque  membrorum  nee  ingenü  menüsqiie 
vim  effici  potuisse  fortuna.  Tilgt  man  den  Satz,  der  eine  einfache  Rand- 
glosse ist,  so  ist  alles  in  Ordnung.  Gemäß  der  \derteiligen  Disposition  II  3 
will  Cicero  nämlich  erstlich  darlegen  esse  deos\  dies  geschieht  §  4 — 44; 
zweitens  quales  sint  dei;  dies  geschieht  §  45 — 72;  drittens  imnidum  a  diis 
(idministrari)  das  wird  so  absolviert,  daß  zuerst  die  E/egierungsfähigkeit  der 
Götter  §  75 — 80  bewiesen,  dann  die  weise  Einrichtung  des  Weltalls  §  86 — 90 
auf  einen  Urlieber  zurückgeführt,  endlich  die  Herrlichkeit  der  AVeit  selbst 
geschildert  wird,  mit  dem  deutlichen  Abschluß,  132:  sie  undique  omni 
ratione  conelnditur  eqs.  Hierauf  folgt  ganz  korrekt  das  vierte  Thema  dei- 
voraufgeschickten  Disposition:  constdere  deos  rebus  humanh,  aber  in  der 
Weise,  daß  gefragt  Avird:  für  wen  ist  die  Herrlichkeit  der  Welt  da?  Daß 
sie  dem  Menschen  zu  dienen  bestimmt  ist,  wird  erstlich  aus  der  bevor- 
zugten Natur  des  Menschen,  134 — 153,  zweitens  daraus  gefolgert,  daß  die 
Dinge  tatsächlich  geeignet  sind,  ilim  zu  dienen,  154 — 167;  und  diese 
beiden  eng  miteinander  verwachsenen  Folgerungen  unterbricht  nun  störend 
der  oben  zitierte  Satz  des  §  153,  der  ebenso  unecht  ist  wie  im  §  154 
jjrineipio  ipse  mundus  deorum  hominumque  causa  (actus  est  [quaeque  in  eo 
sunt  ea  parata  ad  fruetum  hominum  et  mventa  sind]  der  von  den  Editoren 
eingeklammerte  Zusatz,  i) 

Hierzu  kommt  nun  außerdem  der  unheimliche 

30.  Trieb  zur  Amplifikation, 

Ampii-  2ur  beredteren  AusAveitung  des  vieltraktierten  Mustertextes.  Das  betrifft 
vuigat-  natürlich  nur  vielgelesene  Texte,  Schultexte,  die  von  Lehrern  und  Schü- 
lern tausendfach  durchgekaut  wm^len,  wie  Demosthenes  und  Ciceros  Cati- 
linarien  in  den  Rhetorenschulen,  Plato  in  den  Philosophenschulen.  Die 
uns  vorliegenden  interpolierten  Handschriften  dieser  Autoren  geben  davon 
Zeugnis;  denn  die  interpolatorische  Texterweiterung,  die  in  ihnen  durch- 
geführt ist,  geht  auf  das  Altertum  selbst  zurück  (oben  S.  23  ff. ;  31).  Auch 
der  Apolloniusroman  gehört  hierher,  über  dessen  Textgeschichte  wir  ein 
lehrreiches  Buch  von  El.  Klebs  besitzen;  endlich  auch  die  Glossare,  die  sich 
immerwährend  in  den  Händen  ihrer  Benutzer  verwandeln.  Proben  davon 
vorzuführen  ist  unmöglich.  Statt  dessen  sei  erwähnt,  daß  man  solche 
Textschäden   schon   im  Altertum  besprach.     In   einem   herkulanensischen 


texte  im 
Altertum 


^)  Siolio  Do  halioiiticis  p.  95. 


m 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  159 

Papyrus,  wo  davon  die  Rede  ist,  daß  die  Beseitigung  jedes  Schmerzes 
//  jiavxoc;  rov  äXyovvrog  vTze^aloeoig  nacli  Epicur  das  Ziel  der  Ethik  sei, 
heißt  es:  to  „Jiavrog^^  dielxetm  xard  xd  ävTiyQacpa,  Jigoori^ejuevou  rov  Jiavrog 
yy  TioLV,  iv  öe  xioiv  jut]  jrgooxid'ejueyov '  xaxd  ndvxa  de  xakcbg  exovxa  dvxiygacpa 
yFygajTxai'  fj  xov  dXyovyxog  i^aloeoig.  Also  war  in  der  Epicurformel  sowohl 
(las  Tiavxög  als  auch  das  Präfix  vji-  interpoliert. i) 

Audi  in  den  Lustspielen  des  Plautus  findet  es  sich  nicht  sehen,  daß     s«iuiu- 

—  —  *t)ig1gi'- 

die  wortreichen  Tiraden  der  Sprecher  mit  Einschiebseln,  Yersdoubletten,  inter- 
( TW  eitert  sind,  die  den  schon  einmal  formulierten  Gedanken  noch  einmal  P"^«tion 
ders  ausdrücken  und  aus  verschiedenen  alten  Exemplaren  so  in  den 
s  erhaltenen  Textbestand  zusammengeflossen  sein  müssen.  Solche  Verse 
ind  z.  B.  Eud.  594;  Stich.  84,  157a;  Trin.  582;  Amph.  B85;  Miles  189  f.; 
Most.  286 — 291.  Es  ist  denkbar,  daß  sich  die  Schauspieler  selbst  solclie 
X^arianten  und  Erweiterungen  zurechtmachten.  Denn  auch  bei  den  grie- 
chischen Dramatikern  tritt  uns  dieselbe  Erscheinung  entgegen,  und  hier 
werden  uns  die  vjToxgixal  in  den  Scholien  bisAveilen  ausdrückhch  als  die 
Urheber  der  unechten  Verse  genannt,  vo&evexat  ist  dafür  der  Ausdruck; 
s.Schol.  AjsiX  34:1  {avxooq)ayfj  Jimxoyxa):  xavxa  vo&eveo&ai  q)aoiv  vnoßlrj&evxa 
ngög  oacfrjveiav.  Man  nehme  z.  B.  die  Medeaverse  40 — 43,  in  denen  die 
Trophos  die  ganze  hernach  folgende  tragische  Entscheidung  im  voraus 
mitteilt.  Wer  kann  glauben,  daß  Euripides  selbst  sie  dichtete?  Zu 
Med.  856  sagt  uns  der  Scholiast,  daß  Didymus  die  vnoxQixai  tadelte,  die 
liinter  v.  356  noch  die  Zeile  oiyfj  öofiovg  eioßäo'  iv  eoxQonai  le^og  brachten. 
Nach  demselben  Scholiasten  fehlten  die  Verse  Eur.  Orest.  957 — 959  in 
einigen,  der  Vers  Orest  1394  in  vielen  Handschriften.  Das  Zwiegespräch, 
das  im  selben  Orest  v.  1022 — 1046  zwischen  dem  Titelhelden  und  Elektra 
stattfindet,  ist  distichisch  durchgeführt;  jede  von  beiden  Personen  spricht 
immer  zwei  Zeilen.  Schon  darum  ist  ib.  v.  1022  ff.,  wo  dem  Orest  drei 
Verse  zufallen: 

Ol'   oTy'  dcfsToa  zovg  yvvacxsiovg  yöong 

oTEQ^eig  TO.  XQavdetT' ;  olxroa  juev  zdö  ,  dXX'  o/lkoc 

[(psgsiv  dväyxrj  rag  jiageozcöoag  TV)^ag], 

der  dritte  Vers  schwer  verdächtig.  Der  Scholiast  aber  merkt  zu  dem 
öjuiog  im  v.  1023  an,  daß  es  elliptisch  stehe:  ksiTret  xd  Sei  cpegeiv.  Damit 
ist  bewiesen,  daß  er  die  verdächtige  dritte  Zeile  mit  dem  (pegeir  dvdyx)] 
gar  nicht  las;  sie  fehlte  noch  in  seinem  Exemplar.  Derselbe  fügt  noch 
weiter  hinzu:  xiveg  de  ygdq^ovoiv  oixxgd  jiiev,  dA/'  öjucog  q)ege.  Auch  dies 
iuhi-t  auf  dasselbe. 

So  wie  in  dem  letzten  Beispiel  der  Interpolator  die  elliptische 
Ausdrucks  weise  des  voraufgehenden  Verses  ergänzen  Avollte,  so  steht 
es  auch  bei  Lukrez  IV  229.  Lukrez  lehrt  dort,  daß  die  Sinneswahr-  Lukrez 
nehmung  durch  Loslösung  kleinster  Teilchen  der  Avahrgenommenen 
Gegenstände,  die  unausgesetzt  durcli  die  Luft  uns  zufließen,  zustande 
komme : 

Nee  mora  nee  requies  inter  datur  iilla  fluendi, 

Perpetuo  quoniam  sentimus  et  omnia  semper. 

»)  Siehe  Tii.  GoMPERZ,  Ztschr.  österr.  Gymnas.  1866  S.  692. 


en 


4,  229 


160  Kritik  und  Hermeneutik. 

Ein   Leser    vermißte    zu    omnia    ein   regierendes  Verbiiin    nnd    fügte   die 
schlechte  Zeile  hinzu: 

Oernerc  odorari  licet  et  sentire  sonare. 
Soweit  der  Überblick  über  die  verscliiedenen  Arten  der  Interpolationen, 
denen  zumeist  durch  Ausscheidung,  seltener  durch  Korrektur  abzuhelfen 
ist.  Wo  solche  Interpolationen  größeren  Umfang  annehmen,  wie  am 
Schluß  der  Aulischen  Iphigenie,  greift  ihre  Beurteilung  in  das  Gebiet  der 
höheren  Kritik,  von  der  wir  an  dieser  Stelle  nicht  handeln,  hinüber.  Zum 
Abschluß  sei  nur  noch  an  einige  berühmtere  Beispiele  unechter  Toxt- 
einlagen  erinnert. 

noXvoTixog  Den  Homertext  haben  die  griechischen  Grammatiker  seit  dem  8.  Jahrh. 

°"^  ^"^  n.  Chr.  sorglich  gehütet.  Doch  wurde  daneben  mit  den  Epen  Homers 
in  populären  Buchabschriften  sehr  frei  umgesprungen.  Erwähnt  wird  uns 
die  jzolvanxog  (exdooig),  für  welche  Bezeichnung  man  lange  Zeit  keine 
sichere  Erklärung  hatte,  bis  sich  auf  Papyri  Reste  von  Homerexemplaren 
fanden,  in  denen  sich  planvoll  Zeilen  in  den  feststehenden  Yulgattext 
des  Homer  eingesclioben  finden,  so  daß  auf  etwa  zehn  überlieferte  je 
ein  „ZuA\'achsvers"  kommt,  i)  Eine  solche  exdooig  konnte  mit  Grund  „viel- 
zellig" heißen.  Es  kann  uns  dies  an  das  geschmacklose  Verfahren  jenes 
Pigres  erinnern,  der  gar,  ohne  doch  den  Inhalt  irgendwie  zu  bereichern, 
an  beliebigen  Stellen  Pentameter  in  den  Homertext  einfügte, 
inter-  Bossor  hüteten   die  Schulmänner   die  Aeneis  Yergils,    oder  riclitiger, 

^mVe"gii  dies  Epos  hat  das  lesende  Publikum  nie  in  gleichem  Grade  wie  Homer 
zu  phantastisch  amplifizierender  Beschäftigung  angelockt.  Nur  die  vergili- 
schen  Halbverse  suchte  man  gelegentlich  zu  ei-gänzen.^)  Donat  und  Servius 
sagen,  daß  vor  dem  ersten  fauche  und  voi'  dem  m-ma  vintmque  cano  noch 
die  vier  Yerse  standen: 

nie  ego  qui  quondani  gracili  modulatus  avona  eqs. 
Aber  schon  Varius,  der  erste  Editor,  habe  sie  einst  entfernt.  Wirklicli 
stehen  sie  in  keiner  uns  erhaltenen  Vergilhandschrift  von  erster  Hand. 
Daß  sie  von  Yergil  herrühren  und  Varius  sie  fortließ,  Avird  heute  niemand 
glauben.  Denn  sie  tragen  denselben  Stempel  bewußter  Fälschung  wie 
der  Culex. 

Auch  hinter  Aen.  III  204  gibt  der  Kommentator  drei  unechte  Verse; 
aber  auch  sie  fanden  in  keine  Handschrift  Aufnahme ;  3)  und  dazu  kommt 
noch  die  seltsame  Helenaepisode  von  22  Zeilen  im  zweiten  Buch  der 
Aeneis  v.  567  ff.,  die  in  unseren  guten  Handschriften  Aviedenun  sich  gar 
nicht  vorfindet.  Auch  Servius  kommentiert  sie  nicht,  er  zitiert  sie  nur 
im  Vorwort  zu  Buch  I,  erwähnt  sie  außerdem  zu  II  592;  der  plenior  com- 
mentarius  gibt  ihren  Wortlaut  in  seiner  Anmerkung  zu  II  566,  mit  der  ein- 
führenden Notiz,  Varius  und  Tucca  hätten  sie  vergessen  (ohliti),  Avährend 
sie  nach  Servius  a.  a.  0.   „entfernt,   ausgeschieden  Avorden  sind"  (suhlati). 

')  A.  Ludwich,    Die   Homervulgata,  i  zeigt   die   P^lision   in   slhl  obstat,    die    der 

Leipz.  1898,  S.  140.  l  Zeit   Senecas    sonst    ziemlich   fremd   ist, 

2)  So  Aen.  3,  661;  5,595;   BCcheler,  |  eine  grade  dem  Yergil  eigentümliche  Li- 

Ehe  in.  Mus.  34   S.  623;    wird   bei    Seneca  1  cenz,  \gl.  uhi  ingcns,  Aen.  199;  Eskuchk 

epist.  94,  28    der    vergilische    Hexameter  |  im  Ehein.  Mus.  45  S.  408  u.  386. 

mit  piger  ipse   sihi   obstat   ausgefüllt,    so  '  ^)  Vgl.  Eibbeck,  Prolegomena  S.  273. 


III.  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes. 


161 


Dali  Servius  sie  für  unecht  hielt,  sagt  er  uns  nicht,  aber  er  tadelt 
ihren  Inhalt.  Sicher  ist,  daß  sie  nie  in  einem  antiken  Yergilexemplar 
<ni  der  Stelle  standen,  für  die  sie  berechnet  sind,  kein  römischer  Leser 
hat  sie  jemals  da  gelesen,  wo  wir  sie  lesen,  und  nur  in  Kommentaren 
wurden  sie  weitergeschleppt.  Ich  bin  geneigt,  auch  diese  Verse  für 
iineclit  zu  halten,  wennschon  die  Argumente,  die  sich  geltend  machen 
lassen,  nicht  vollkommen  zwingend  sind.i)  Daß  Vergil  an  der  betreffenden 
Stelle  eine  Heilenaepisode  zu  geben  beabsichtigte,  beweisen  die  Verse  595, 
()()1  f.  Es  wäre  also  anzunehmen,  daß  er  sie  entweder  unausgeführt 
ließ  oder  aber,  daß  er  die  vorläufig  hergestellte  unterdrückt  hatte.  Ein 
1  uterpolator  suchte  nachzuhelfen,  aber  seine  Verse  gelangten  nie  in 
dm  Text. 

Ahnlich  Avie  hier  bei  Vergil  steht  es  mit  den  seltsamen  und  sicher 
sehi'  alten  Versen  Lucili,  quam  sls  mendosiis  teste  Catone  eqs.  am  Anfang 
der  Horazsatire  I  10. 

Ein  Produkt  historischen  Studiums  sind  die  Einschaltungen  der 
Olympiadenangaben  in  Xenophons  Hellenika,  die  von  Xenophon  selbst 
nicht  herrühren  können.  Denn  wdr  wissen,  daß  dem  Datierungsverfahren 
der  Historiographie  zuerst  von  Timaeus  die  Olympiadenrechnung  zugrunde 
gelegt  worden  ist.=^)    Schließlich  sei  dann  noch  an  einen  anderen  Historiker, 


H  ora/ 
Satv.  1,  10 


XtMioph. 
Hellenika 


^)  Das  erranti  v.  570  widerspricht  der 
Ortsangabe  in  v.  458  und  632.  Wären  die 
\'(n-se  echt,  so  müBte  Vergil,  als  er  sie 
-chrieb,  den  Standort  des  Aeneas  sich 
Inders  gedacht  haben,  als  wir  ihn  Jetzt 
im  V.458  vorfinden.  Der  Rettungsversuch 
von  GrERLOFF,  Vindiciae  Vergilianae,  Jena 
um,  genügt  mir  nicht.  Was  den  Text 
selbst  betrifft,  so  ist  das  sceleratas  poenas 
V.  576  unanstößig  (s.  die  Anmerkung  bei 
Dei  TICKE- Jahn)  ;  auch  conitigium  v.  579 
lä[3t  sich  in  dem  Sinn  von  commercium 
quod  Helena  cum  marito  habet  verteidigen ; 
('S  steht  also  nicht  für  coniugem.  Anstößig 
bleibt  dagegen  das  natos  in  v,  579  (Aeneas 
müßte  über  Helenas  Kinder  schlecht  unter- 
richtet sein),  noch  mehr  das  beispiellose 
iiefas  V.  585,  das  sonst  nirgends,  auch  nicht 
( Vitull  68,  89  und  Aen.  8,  688,  von  einer 
l*ersongilt,  und  ebenso  die  merentes poe7iae 
y.  585.  Ferner  wird  im  v.  577  bei  der  Ein- 
führung des  Selbstgesprächs  ein  ein- 
führendes Verbum  im  Sinne  von  inquam 
vormißt.  In  zwei  Fällen  aber  gilt  es  erst 
<lie  Lesung  festzustellen;  denn  sowohl  im 
V.  585  wie  587  wird  willkürlich  und  falsch 
geändert.  wSchreibt  man  dort  nee  habet 
vlctorla  laudem,  so  fehlt  ein  Jiaec;  denn 
Aeneas  spricht  nicht  vom  Sieg  im  all- 
gemeinen, sondern  von  „diesem"  Sieg  über 
das  Weib  Helena.  Das  vermißte  haec  ist 
aber  wirklich  überliefert,  somit  ist  mit  den 
Handschriften  zu  lesen : 

namque  etsi  nullum  memorabile 
nomen 


feminea  in  poona  est,  habet  haec  vic- 
toria  laudem, 

extinxisse  nefas,  tamen;  et  sumpsisso 

merentis 

laudabor    poenas    animumque    explesso 

iuvabit 

ultricis    famae     et    cineres    satiasse 

meorum. 
Das  tarnen  ist  also  weit  nachgestellt,  und 
wir  haben  habet  tamen  haec  victoria  laudem 
zu  verbinden.  Ob  Vergil  selbst  sich  solche 
Wortstellung  gestattete,  steht  dahin;  aber 
dies  ist  ]a  allem  Anschein  nach  nicht 
Vergil.  Sodann  befremdet  zwar  das  ultridH 
famae  am  Schluß  dieser  Zeilen,  allein 
auch  dies  ist  richtig  überliefert.  Denn 
wenn  der  Dichter  hier  explere  mit  dem 
Genitiv  konstruiert,  so  ist  das  zwar  un- 
vergilisch,  aber  es  war  dafür  implere  c.gen. 
{Implentur  Bacchi  carnisque  u.  ä.)  das  Vor- 
bild. Der  Sinn  aber  ist,  daß  Aeneas  seine 
Seele  mit  dem  Euhm  (fama)  genommener 
Eache  erfüllen  und  sättigen  will,  und  das 
sprachliche  Novum  besteht  hier  darin,  daß 
fama  ultrix  für  fama,  ultionis  steht;  aller- 
dings ein  Novum,  aber  nicht  ohne  hin- 
reichende Analogie;  denn  ganz  ebenso 
schreibt  Properz  II  32,  21  fama  pudica  für 
pudicitiae  fama.  Wo  ist  da  der  Unter- 
schied'? Wir  haben  also  nicht  nötig,  hier 
für  den  v.  587  Konjekturen  zu  machen, 
die  sämtlich  schlechter  sind  als  das  Ueber- 
lieferte. 

2)  Siehe  Gr.  Unger,  Die  historischen 
Glosseme  in  Xen.  Hellenika,  Sitz.ber.  d. 
Münchener  Akad.  1882  S.  238. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    1,3.    3.  Aufl. 


11 


162  Kritik  und  Hermeneutik. 

Josephus  an  Joseplms  erinnert,  in  dessen  Jüdischer  Archäologie  18,  8  sich  das 
'  Kapitel  über  Jesus  Christus  findet,  der  gekreuzigt  und  gestorben  und  am 
dritten  Tage  auferstanden.  Dies  Kapitel  war  lange  Zeit  ein  beliebtes 
Zeugnis  zur  Bestätigung  des  Evangelienberichtes.  Die  Unechtheit  ist  aber 
schon  im  18.  Jahrhundert  erkannt  worden  (Richard  Simon  und  Gibbon). 
Die  älteren  Kirchenväter,  denen  die  Stelle  sehr  willkommen  gewesen  wäre, 
machen  von  ihr  nie  Gebrauch;  Eusebius  ist  der  erste,  der  sie  an- 
führt. Daß  die  Stelle  da,  wo  wir  sie  finden,  lose  sitzt,  ja,  den  Zu- 
sammenhang stört  und  aucli  gar  nicht  zur  Art  des  Josephus  paßt,  liegt 
auf  der  Hand. 

„Hat  Jesus  gelebt?*^'  Über  diese  „Frage",  die  in  AVirklichkeit 
keine  Frage  ist,  sind  in  jüngster  Zeit  Debatten  geführt  worden,  die  ich 
für  höchst  überflüssig  halte.  Dabei  hat  Arthur  Drews  die  längst  ab- 
getane Behauptung  Avieder  erneut,  das  wichtigste  Zeugnis  aus  der  Profan - 
Tacit  litteratur,  das  Tacituskapitel  Annal.  15,  44,  das  mit  Nennung  des  Pontius 
Pilatus  von  Christi  Hinrichtung  unter  Kaiser  Tiberius  berichtet,  sei  eine 
Fälschung.  AVarum?  Nur,  weil  es  eben  von  Christus  erzählt.  Es  ist 
mir  unbegreiflich,  wie  ein  Mann,  dem,  wie  dieser  Sachverhalt  ergibt, 
eine  eigentlicli  philologische  Erziehung  fehlt,  es  unternehmen  kann, 
über  den  Textzustand  der  Tacitusschriften  ein  öffentliches  Urteil  ab- 
zugeben. Daß  das  Kapitel  echt,  sieht  wohl  jeder  Kenner;  denn  seine 
Abfassung  zeigte  getreu  jenen  Taciteischen  Stil,  der  nie  hat  imitiert 
werden  können  imd  den  man  im  Altertum  auch  nie  zu  imitieren  vei- 
sucht  hat. 
Grundsätzo  Derartige  Interpolationen  sind  innerhalb  des  Tacitustextes  überhaui)t 

"set/irinV  nirgends  aufzufinden,  und  das  ist  begreiflich;  denn  Tacitus  ist  nachweis- 
^^^^  lieh  nie  Gep'enstand  eines  solchen  Studiums,  das  zu  freien  Einpriffen  und 
Textumgestaltungen  schreitet,  gewesen,  i)  Dies  aber  gibt  uns  schließlich 
Anlaß,  einige  Regeln  aufzustellen,  die  für  die  Ansetzung  von  Athetesen 
ernstlich  in  Betracht  kommen,  Forderungen,  denen  vor  allem  auch  die 
fanatischen  Interpolationsjäger  des  19.  Jalirhunderts  einst  niclit  ent- 
sprochen haben:  ich  denke  an  Hofman  Peerlkamp  und  Lehrs,  die 
den  Horaz,  an  Ribbeck,  der  den  JuAcnal  zerfleischte.  Erstlich  ist  der 
Nachweis  nötig,  daß  der  betreffende  Autor  in  der  Zeit,  in  der  die 
angeblich  unechten  Partien  entstanden  sein  sollen,  auch  wirklich  A^iel 
gelesen  worden  ist;  es  gilt  zu  zeigen,  ob  er  da  viel  zitiert,  imitiert 
wird,  ob  er  Schulautor  Avar.  Das  trifft  schon  sogleich  für  Horaz'  Oden 
nicht  zu.  Daher  sind  auch  Properz,  Tibull,  Sallust^)  so  unerweitert  auf 
uns  gekommen. 

Zweitens  aber  genügt  der  Nachweis  nicht,  daß  ein  AVort  oder  ein 
Satz  oder  ein  Abschnitt  in  den  Zusammenhang,  in  dem  er  sich  befindet, 
entbehrlich  scheint.  Die  Entbehrlichkeit  ist  ein  zu  billiges  Argument. 
Es  muß  hinzukommen  entweder  der  NachAveis  eines  Sinnfehlers  oder 
eines  Sprachfehlers  (so  steht  in  Euripides'  Medea  262  fjv  ey/j^uaro  statt 

^)  E.  Cornelius,  Quomodo  Tacitus  in   j  ^)  Das  falsche  Zitat  bei  Charisius  und 

hominum  memoria  A^ersatus  sit,   Marburg   I    Diomedes    aus    Oatilin.  61,  8    weist    nicht 


1888 ;  Schanz,  Rom.  Litte ratu rgescli .  v:^  489  a.       auf  Interpolat 


lon. 


IIL  Die  emendatio  des  als  grundlegend  erkannten  Textes.  163 

r/}]UF,  SO  stellt  bei  Liicrez  I  454  der  nom.  hitadus  für  „das  Niclit- 
l>erühren'%  Avelches  Wort  nur  ablativiscli  mögiicli)  oder  der  eines  metri- 
hen  Verstoßes  (Eurip.  Ion  1:  vcoroig  orgavor^  spondeisches  Wort  vor 
kretischem;  Iphigen.  Aul.  1580  Anapäst  im  vierten  Fuß  des  Trimeters), 
oder  aber  endlich  der  Erweis,  daß  die  Überlieferung  selbst  schwankt,  so 
daß  die  Kritik  die  Freiheit  hat,  sich  für  die  kürzere  Fassung  zu  ent- 
scheiden und  die  breitere  abzulehnen.  Ich  bin,  beiläufig,  gewiß,  daß  in 
Horaz'  Oden  nicht  eine  einzige  Zeile  unecht,  auch  nicht  einmal  4,  8,  17, 
r  rotz  Bentley  und  allen,  die  auf  Bentley  schwuren.  Die  ganze  Ode  4,  8 
zerbröckelt  ohne  diesen  inkriminierten  Yers.  Doch  kann  dies  hier  nicht 
näher  dargelegt  werden. 

Diese  Erörterungen  haben  uns  indes  hie  und  da  schon  auf  das  Ge- 
biet der  höheren  Kritik  hinübergeführt,  und  ich  werde  sie  später  an  ge- 
eigneter Stelle   wieder  aufzunehmen  haben. 


11 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik. 
A.  Persönlichkeit  und  Werkgattung. 

Ich  liabe  im  Yoraufgelienden  Beispiele  für  die  minutiöse  Arbeit  der 
emendatio  angeführt,  die  die  Pflicht  jedes  Editors  ist.  Denn  diese  Pflicht 
wird  nie  aufhören,  und  die  Zeit  ist  nicht  abzusehen,  avo  etwa  einmal  alle 
Textschäden  sicher  geheilt  uns  vorlägen.  Selbst  im  Persius  bleiben  zweifel- 
hafte Lesungen.  Von  dieser  kleinsten  oder  subtilsten  Aufgabe  führt  uns 
unser  Gegenstand  nunmehr  zu  dem  Größesten  und  Umfassendsten  weiter, 
zu  den  Fragen  der  Auslegung  der  SchriftAverke  im  höheren  Sinne  des 
Worts.  Es  sind  A'ornehmlich  die  Fragen  nach  dem  Plan  der  Werke 
und  der  Dm'chführung  des  Plans,  sodann  nach  den  (Quellen  der  Werke 
und  ihi-en  Vorbildern. 

Bevor  ich  dieser  Aufgabe  indes  nahetrete,  gilt  es,  ein  Wort  über 
den  Einfluß  der  Person  des  Autors  selbst  auf  die  Natur  seines  Werkes 
vorauszuschicken.  Damit  nehme  ich  hier  ergänzend  die  Erörterungen 
Avieder  auf,  die  ich  früher  (S.  64  f.)  über  den  Einfluß  der  schriftstellerischen 
IndiAddualität  auf  die  Sprache  angestellt  habe. 
Früho  Es   ist   notAA^endig   und   im    Ganzen   auch    durchführbar,    jedes  Werk 

kSrorder  einer  bestimmten  Litteraturgattung  zuzuAveisen.  Das  Altertum  selbst  ist 
Litteratur-  uns  mit  dicscr  Klassifikation  A'or angegangen,  und  ihm  verdanken  Avir 
ga  unsen  ^^^^^  Unterscheidungen.  1)  Denn  bei  der  herrlichen  Entfaltung  der  grie- 
chischen Litteratur  hat  sich  sehr  bald  die  Theorie  ihrer  Erzeugnisse  be- 
mächtigt, sie  geordnet,  ihre  Merkmale  festgestellt.  Ganz  alt  sind  die 
Grundunterscheidungen  der  ctt?/,  des  i'a^ußog,  vjuvog,  di§vQajußog,  vofiog  öqükk, 
Paean  u.  a.  Dabei  Avaren  manche  Begriffe,  aa^c  rgaycodia,  y.ojjucpöia,  schon 
zu  des  Aristoteles  Zeit  schAver  zu  deuten.  Man  scliAvankte  über  ihre  Her- 
kunft und  eigentliche  Wortbedeutung.  Gleich  nach  Aristoteles  bereicherte 
sich  dann  die  Terminologie  zusehends;  die  „Elegie",  die  bisher  zumeist 
ejtrj  hieß,  erhielt  definitiA'  ihre  besondere  Bezeichnung,  für  die  verschie- 
densten Arten  der  Melik  AA^urden  je  nach  ihrem  ZAveck  Benennungen: 
vjiOQyrjjLia,  ejii&aläjuiog,  empixot,  eyxoji^ua,  ''Adcovldia,  dacpvrjcpoQiKa  u.  a.  auf- 
gebracht und  die  Ausgaben  der  betreffenden  Dichter  danach  angeordnet. 
In  Wirklichkeit  ist  solche  Schachtelung  des  Schriftbestandes  nacli  Gat- 
tungen natürlich  nicht  scharf  durchzuführen  (gewisse  Spielarten  der  Tra- 
gödie gehen  in  die  Komödie  über,  geAvisse  Hymnen  sind  episch  u.  s.  f.), 
und  das  Scliablonisieren  beeinträchtigt  oft  das  Verständnis,  statt  es  zu 
erleichtern.  Doch  kam  ihm  im  Altertum  die  Tatsache  zur  Hilfe,  daß  die 
A^erschiedenen  Künste  viel  mehr  als  heute  schulmäßig  oder  genossenschaft- 
lich betrieben  wurden.  Wenn  jeder  Meister  seine  Kunst  in  einem  engeren 
*)  Nützlich  sind  solclie  Arbeiten  wie  J.  Kaa'Ser,  De  veterinii  arte  poetica,  Leipz.  1906. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     A.  Persönlichkeit  und  Werkgattung.  165 

Facli  von  seinem  Vorgänger  oder  Kollegen  wie  Plautus  von  Naevius  durch 
persönlichen  Umgang  lernte,  so  begünstig-te  dies  die  Konservierung  des 
Typus  der  Gattungen  bedeutend. 

Ül)er  misere  modernen  Dichter  besitzen  wir  die  zuverlässigsten  Bio-  Persöniirh- 
graphien,  oft  bis  zum  unleidlichsten  Detail,  und  können  ihre  Werke  darum 
(hirchgängig  als  Ausfluß  ihres  persönlichsten  Wesens  verstehen  oder  doch 
zu  A'erstehen  suchen.  Weil  Avir  Lessings  helle,  kluge,  scharfe,  verstandes- 
sichere persönliche  Art  auch  sonst  kennen,  begreifen  wir,  wie  seine  Dramen 
so  ausfallen  mußten,  wie  sie  sind.  So  ändert  sich  Schillers  Kunst  mit 
ilim  selbst.  Goethes  Dichtungen  sind  sublimierte  Produkte  seiner  inneren 
Erlebnisse.  I^licken  wir  auf  die  Antike,  so  sind  wir  eigentlich  nur  bei 
<  'icero  in  der  Lage,  ähnliches  festzustellen,  weil  unsere  biographischen 
\  achrichten  sonst  nicht  ausreichen. 

Ich  rede  hier  nicht  von  der  Autobiographie,  i)  auch  nicht  von  den  Briet  un.i 
Kpistolographen,  die,  wenn  nicht  im  Zweck,  so  doch  in  der  Wirkung  das-  i,iotn?phio 
selbe  Avie  jene  erreichen.  Denn  die  Epistolographie  eines  Plinius  kommt 
der  Selbstbiographie  gleich.  Augustins  Confessionen,  in  denen  der  fromme 
Mann  drang^'oU  das  eigene  Leben  in  überciceronischer  Wortfülle  noch 
einmal  dui'chlebt,  kommen  den  Bekenntnissen  Ciceros  an  Atticus  sehr 
nahe.  Und  eine  solche  Selbstdarstellung  ist  schließlich  auch  nur  eine 
Litteraturgattung  unter  vielen  geworden.  An  dieser  Stelle  richtet  sich 
(k\s  Interesse  vielmehr  darauf,  inwieweit  der  Charakter  und  die  tief  innerste 
Natur  der  Autoren  die  Art  ihrer  Schriftstellerei  beeinflußt  haben.  Wirklich 
|)ersönlicli  genauer  bekannt  sind  uns  außer  Cicero  nur  solche  Männer  wie 
Marc  Aui-el,  Julian  der  Apostat  und  Julius  Cäsar.  Denn  sie  gehören 
der  großen  Geschichte  an,  und  ihre  Schriften  werden  daher  von  uns  ganz 
besonders  mit  Hinblick  auf  den  Autor  selbst  gelesen. 

In  Marc  Au  reis  Monologen   {ek   tavrbv)   besitzen   Avir   ein  Unikum,  Mmk  Axuei 
(las  Lebensbrevier  des  arbeitsamsten  und  gütigsten  Herrschers,  das  er  sich 
selbst  geschrieben,  und  Aver  es  gern  und  zur  eigenen  Seelenstärkung  liest, 
der  Avird  sich  dabei  den  Mann  der  Pflicht,  der  es  geschrieben,  immer  ver- 
gegenAvärtigen.   Das  Buch  ist  A\de  ein  Mensch.  Julians  erhaltene  Schriften     .luiiun 
sind  dagegen  feinsinniges  Mittelgut,  und  man  wird  sie  scliAverlich  je  um 
i lirer  selbst  Avillen  studieren.   Neben  diesen  Ich- Werken  steht  dann  Julius     .luiius 
Cäsar s   klassischer   Kriegsbericht    aus    Gallien,    diplomatisch    zugestutzte     ^'"'^'^i' 
Relationen,    die  um  jeden  Preis   objektiv   scheinen  Avollen   und   jede  Ich- 
Färbung   ablehnen.     Eben   in   diesem   Unpersönlichen    trägt    das   Bellum 
Gallicum  den  Stempel  der  staatsmännischen  Persönlichkeit  seines  großen 
Verfassers.    Der  Werkcharakter  erklärt  sich  ebensosehr  aus  dem  politischen 
Zweck  des  Werks  wie  aus  dem  Naturell  dessen,  der  es  geschrieben. 

Günstigere   Beispiele  sind  Horaz  und  Vergil,  die  wiv  aus  ihren  Viten  Vergü  und 
gleiclifalls   bis   zu.  einem   gcAvissen  Grade   persönlich  kennen.     Doch   das      "'"'^^ 
sind  abgesungene  Dinge.     Vergil  Avird  uns  als  mimosenhaft  scheu,  brav 
imd    keusch,    als   dörfliche   Natur,    dem   die   großstädtische   Reklame   nur 
Pein  schafft,  geschildert,  und  Avir  begreifen,  daß  dieser  A'erzärtelte  Bauer 

M  V.ü:1.  G.  Misch,  Gescliichto  der  Autobiographie,  1,  Leipzig  1907. 


I 


Ißß  Kritik  und  Hermeneutik. 

in  seinen  Büchern  vom  Landbau  sein  Schönstes  schuf.  Die  Georgica 
haben  eine  ganz  persönhche  Note,  und  eben  dadurch  ist  es  möghch  ge- 
worden, daß  in  ihnen  das  vollendetste  Lehrgedicht  vor  uns  steht,  das  die 
Menschheit  besitzt.  Eine  eigentliche  Kunstanalyse  des  Werkes  fehlt  noch 
immer.  Wer  wird  sie  uns  geben?  Horaz,  der  derb  zugreifend  ver- 
ständige, behagliche,  joviale,  umgängliche  Mensch,  ein  Lebenskünstler  aus 
Epikurs  Schule,  der  freimütig,  gradeweg  und  unverfroren  mit  jenen  Män- 
nern der  großen  Welt,  die  Vergil  floh,  A^erkehrte:  so  wird  er  uns  ge- 
schildert, und  so  werden  uns  seine  Satiren  und  Briefe  verständlich.  Die 
Gattung  des  poetischen  Briefes  hat  Horaz  gradezu  kreiert.  Horaz  ist 
Dichter  der  Ansprache  und  des  „Du",  und  seine  meisten  Sachen  sind 
ohne  persönliche  Adresse  nicht  denkbar. 

Aus  dem  Naturell  derselben  Männer  erklärt  sich  dagegen  nicht  das 
Entstehen  der  Aeneis  und  der  Oden,  die  sie  wohl  auch  nie  zu  schreiben 
unternommen  hätten,  wären  nicht  äußere  Ansprüche  an  iln^e  Kunst  lieran- 
getreten.  Der  Patriotismus,  der  litterarische  Ehrgeiz  schob  sie  zu  diesen 
Leistungen  vorwärts,  und  so  sind  wir  nun  Aviederum  imstande,  die  offen- 
kundigen Schwächen  dieser  berülmitesten  Werke  aus  der  Person  ihrer 
Urheber  selbst  abzuleiten.  Ich  meine  den  oft  so  künstlichen,  kühl  be- 
rechneten Schwung  der  Oden,  ich  meine  die  Schwächlichkeit  des  vergib - 
sehen  Heldentums,  das  nichts  fertig  bringt,  als  daß  die  Fata  sich  ei'füllen. 
Vergil,  der  Landmann,  läßt  das  Scliicksal  in  seinem  Epos  wie  das  Saat- 
korn auf  dem  Feld  alhnählich  sich  selbst  ausreifen.  Was  soll  da  noch 
der  MenschenAville?  Kaiser  Augustus  nannte  den  Horaz  in  jocoser  Weise 
pnrissimum  penem  (Sueton  p.  46,  1  R.),  und  an  diesem  Wort  darf  man 
nicht  ändern.  Denn  Horaz  hatte  sich  selbst  in  einer  seiner  beliebtesten  1 
Oden  integer  vitae  scelerisque  purus,  also  purus  genannt;  dies  persifliert  « 
Augustus  mit  jenem  penis  purissimus  und  gibt  dem  Dichter  zu  verstehen, 
daß  trotz  aller  puritas  bei  ihm  eine  gewisse  männliche  Lebensfreude  stai'k 
entwickelt  war.i)  Denn  penis  ist  so  zu  verstehen  wie  Mentida  bei  Catull 
{peni  deditum  esse  Cic.  ad  fam.  9,  22,  2).  Daran  also  muß  denken,  Aver 
die  ethische  Haltung,  den  sittlichen  Adel,  der  die  Oden  trotzdem  aus- 
zeichnet, würdigen  Avill.  Des  Horaz  Zeitgenossen  selbst  schien  diese  Hal- 
tung auffälKg.  Die  Dichtungsgattung  AA^rkte  erziehend  und  reinigend  auf 
den  Dichter. 

Und  Vergils  Catalepton?  Seitdem  Avir  Avissen,  daß  diese  Gedichte 
persönlichster  Note  echt,  sind  sie  für  die  Auffassung  des  Menschen  Yergil 
die  Avichtigste  Quelle.  Denn  aus  der  Jugendzeit  stammen  sie  (es  sind  da 
Nummern  aus  den  Jahren  48 — 45  a^  Chr.,  und  der  Dichter  ist  also  22 
bis  25  Jahre  alt);  für  die  EntAvicklung  jedes  Menschen  ist  aber  immer 
grade  die  Jugendzeit  das  Wichtigste.  Die  Yergihdten  Averden  an  Wert 
dadurch  herabgedrückt,  daß  sie  die  Cataleptonsachen  ignorieren.    Neben- 

')  Ich  trage  diese  Erklärung  allerdings    i  6, 365  neu  aufgetauchte  Textabsclmitt  gel- 

nicht    ohne  Schwanken    A'or;    denn  penin   j  tend  machen,  wo  wir  \.  28  lesen:  purum 

purus  könnte  ja  auch  heißen:  „der  nichts  te  contendo  vlrmn,  d.h.  „du  bist  keine  Thais, 

ist  als  ein  penis".    Für  diese  Auffassung  sondern  niclits  weiter  als  ein  vir", 
ließe  sich  besonders  der  im  Juvenal  hinter 


Schließung 


IV.  Die  höhere  Henneneutik.     A.  Persönlichkeit  und  Werkgattung.  1()7 

säclilicli  ist,  daß  wir  aus  ilinen  lernen,  daß  Yergils  Eltei-n  wolilliabend, 
daß  der  Vater  figulns,  Töpfereibesitzer,  i)  und  daß  der  Dichter  selbst,  iin 
.bilire  49  dÖer  48  von  Cäsar  als  Soldat  angeworben,  sich  für  den  Waffen- 
dienst als  zu  sclnvächlich  erwies; 2)  wichtig  dagegen,  wahrzunehmen,  daß 
auch  dieser  später  so  abgeklärte  Menscli  seine  Flegeljahre  hatte,  daß  er 
im  Train  der  frechen  Jugend  auch  lustige  und  boshafte  Spaße  trieb  (c.  6; 
10;  12),  ja,  tief  in  den  Schmutz  griff,  um  andere  damit  zu  bewerfen  (c.  13), 
bis  in  den  drei  anmutigen  Priapeen,  mit  denen  die  Sammlung  sich  er- 
Tiffnet,  der  ländlich  idyllische  Ton  und  der  Gartenfreund  in  ihm  obsiegt. 

Die  Genien,  die  Avir  besonders  verehren,  sind  die  großen  Archegeten, 
die  Schöpfer  neuer  Gattungen,  die  Eröffner  neuer  Bahnen:  wie  nachVoll- 
<iidung  des  homerischen  Epos  Hesiod  in  den  Werken  und  Tagen  und 
Arcliilochos  in  den  Jamben  endlich  die  große  Tat  wagten,  von  sich  selbst 
zu  reden,  die  Ich-Poesie  zu  eröffnen;  wie  Aeschylus  die  Tragödie  dadurch dorpersön 
schuf,  daß  er  die  bocksmäßig  ausgelassene  Liturgie  der  Dionysien  in  Athen  i'chen 
in  eine  feierlich  heilige  Handlung  umwandelte,  das  prunkvolle  Ögäfm  der 
Eleusinien  auf  sie  übertrug.  3)  Die  meisten  Charakteristiken  der  Autoren 
aber,  die  die  heutige  Litteraturgeschichte  zu  geben  versucht  —  und  auf 
sie  muß  ich  hier  verweisen  —  bewegen  sicli  dabei  im  Kreise.  Denn  die 
Dicliter  sind  uns  tatsächlicli  zu  wenig  bekannt.  Plato  gibt  uns  freilich 
im  „Gastmahl"  von  iVi'isto])lianes  einmal  eine  flüchtige  BlitzlichtaufnaJime 
(sowie  Ion  von  Sophokles):  doch  ist  damit  wenig  gewonnen.  Wir  sind 
im  Grunde  doch  vielmehr  auf  die  Werke  des  Aristophanes  selbst  an- 
ge\\'iesen  und  erschließen,  indem  wir  uns,  wie  gesagt,  im  Kreise  boAvegen, 
aus  den  Werken  den  Charakter  des  Autors,  um  aus  dem  so  erschlossenen 
( 'Iiarakter  dann  Avieder  die  Werke  selbst  abzuleiten.  Das  gilt  von  vielen 
Autoren.  Als  lesensAverte  Versuche  dieser  Art  seien  E.  ScliAvartz'  „Charakter- 
lv<)pfe"*)  genannt,  das  sind  solche  aus  dem  Nachlaß  der  Autoren  selbst 
(iscldossene  Bilder:  Thukydides,  der  illusionslose  Mann  der  Tatsachen; 
Pindar,  der  kunstreichste  der  Sportsänger  und  blaublütige  Aristokrat  u.  s.f. 
.fedenfalls  ist  das  Wesen  dieser  Persönlichkeiten  für  uns  in  ihrem  Werk 
gänzlich  aufgegangen,  und  es  erschöpft  sich  darin,  Avie  die  Dryade  und 
l^)aumseele  im  W^uchs  des  Baumes.  So  stand  es  einst  auch  mit  den 
anderen  starklebigen  Lyrikern  außer  Pindar:  Alcaeus,  Simonides;  sie  gaben 
>ich  lebliaft  persönlicli  selbst  in  ihren  Versen;  ja,  Alkman,  Alcaeus  und 
Sa|)pho  nannten  sicli  darin  sogar  selbst  mit  Namen. 

Es  gibt  für  den  Biographen  freilich  noch  eine  weitere  Auslvunft,  ein 
sinnfälliges  Hilfsmittel,  das  Avir  für  die  Würdigung  des  Persönlichen  be- 
sitzen und  das  im  Voraufgehenden  unerAvähnt  geblieben  ist ;  das  sind  die 
Porträts  oft  höchster  Meisterschaft,  die  uns  die  antike  Plastik  hinterlassen. 5) 
Wie  Adelsagend  ausdrucksA^oll  und  fesselnd  ist  nicht  der  Euripideskopf  in 

^)  Vergebens  ist  diose  Nachricht  neuer-  ^)    Bei    Theokrit,    wie    Scliwartz    ihn 

<lings    in    Zweifel   gezogen    worden.     Sie  ;    gibt,  ist  freilich  von  einem  Charakterkopf 

wird  bestätigt  durch  das  Gedicht  XIT  mit  wenig  zu  erkennen, 

seinem  Töpferwitz;  oben  8.  121  f.  6)  Außer  Berxo Ulli  \^gl.  jetzt  A. He k- 

2)  Siehe  Catalepton  S.  144.  ler,   Die  Bildniskunst  der  Griechen  und 

3)  A.  Dieterich,  Archiv  f.  Religions-  ;   Römer,  Stuttgart  1912. 
Wissenschaft  XI  S.  181  ff. 


Autoren 


Ißg  Kritik  und  Hermeneutik. 

Neapel,  wie  klug  und  sprechend  der  Aesop  in  Villa  Albani,  wie  innerlicli 
wahr  und  fein  die  Deniosthenes,  Menander  und  Posidipp  im  Vatikan! 
Indes  von  der  Anatyse  dieser  Köpfe  auszugehen,  um  gleichsam  aus  dem 
Ausdruck  ihres  Angesichts  Herz  und  Nieren,  Dichten  und  Trachten, 
Sinnen  und  Sorgen  der  Männei-  zu  erschließen,  ist  aus  mehr  als  einem 
Grunde  selbst  für  den  gelernten  Physiognomiker  prekär;  und  icli  kelire 
zu  meinem  Gegenstande  zurück. 
Entwick-  Es  liegt  in  der  menschlichen  Natur,  daß  ein  Autor  sich  nicht  gieicli 

""fnr^n  blcibt,  uud  bei  den  Versuchen,  von  denen  ich  hier  rede,  ist  es  von  be- 
sonderem Wert,  die  Entwicklung  aufzeigen  zu  können,  die  er  in  seinem 
langen  Leben  durchgemacht.  Nach  der  sprachlichen  Seite  hin  ist  das 
^verhältnismäßig  leicht  ausgeführt,  und  eine  Fülle  A^on  Arbeiten  für  Xeno- 
phon,  Plato,  Deniosthenes,  Livius  u.  a.  legt  dies  klar.i)  Interessant  ist 
es,  Avie  sich  einmal  Augustinus  liierüber  äußert.  Er  sagt  im  Prologus 
seiner  im  hohen  Lebensalter  A^erfaßten  Retractationes  §  3  A^on  seinen 
Schriften:  quicumque  ida  lecUiri  sunty  rion  me  imitentnr  errantem,  sed  in 
melius  proficiscentem;  inveniet  fortasse  quomodo  scrihendo  profecerim  quisqiifs 
opnscida  mea  ordhie  quo  scripta  sunt  leger/t.  Auch  Augustin  ist  sich  also 
rückschauend  einer  Entwicklung  nicht  nur  als  Christ,  sondern  auch  als 
Stilist  bewußt,  die  jeder  Leser  seiner  Schriften  soll  bemerken  können; 
dieselbe  ist  in  allen  umfangreicheren  Autoren  nachzuAveisen.  Dies  ist 
daher  die  Stelle,  avo  Avir  eine  Forderung  erneuern  müssen:  die  Forderung 
erschöpfender  Speziallexika  für  sämtliche  Autoren.  Denn  nur  mit  ihier 
Hilfe  ließe  sich  die  Anschauung  einer  StilentAvicklung  Avirklich  gewinnen 
und  deutlich  machen,  die  eine  der  Avichtigsten  A\ifgaben  wissenscliaft- 
licher  Interpretation  ist.  Wie  Adel  Mülie  Avürde  unseren  Piatonikern  er- 
spart, Avären  sie  nicht  noch  immer  auf  Asts  Platolexikon  angcAviesen! 

Für  Plutarcli  und  die  Frage  nach  der  Echtheit  seiner  Schriften  liat 
sich  die  Beobachtung  des  Hiats,  resp.  der  Vermeidung  des  Hiats  als  nütz- 
lich erwiesen.  Das  ist  nur  eine  Kleinigkeit,  die  ich  hiermit  zur  Spraclie 
bringe,  aber  sie  ist  geeignet,  das  Gesagte  zu  erläutern.  Denn  es  steht 
jetzt  fest,  daß  Plutarcli  anfangs  in  der  Zulassung  des  Vokalzusammen- 
stoßes sorgloser  AA^ar  und  erst  allmählich  seine  Kunst  in  dieser  Hinsicht 
A^erfeinerte.  Am  Hiat  sind  also  seine  Jugendschriften  zu  erkennen.  Be- 
sonders sorglich  abgefaßt  sind  z.  B.  die  späten  Schriften  „An  seni  sit 
regenda  res  publica"  und  „De  capienda  ex  inimicis  utilitate" ;  im  Gegen- 
satz dazu  stehen  Jugendarbeiten  AAde  „De  foituna  Romanorum",  „De  Adtioso 
])udore",  „De  esu  carnium".^)  Ähnlich  steht  es  mit  der  Beobachtung  der 
Satzklauseln  bei  Seneca;  auch  sie  zeigen  eine  EntAvicklung  des  Autors. 3) 

Wichtiger  aber  noch  als  die  spracliHche  ist  die  geistig  persönliche 
Entwicklung  der  Autoren.  Daß  des  Pindar  Dichterleben  in  drei  Perioden 
sich  abspielt,  hat  einst  schon  Leop.  Schmidt  mit  unzureichenden  Mitteln 
und  in  zaghafter  AVeise  darzulegen  A'ersucht.     Daß  Thukydides  seinem 


*)  Demosthenes'  Jugendreden  weichen  communibus  notitiis  librum  genuinum  esse 

von    den   späteren   sprachlich   ab.     Siehe  demonstratur,  Marburg  1907. 

BLASS,  Att.  Eedner  ITT  S.  245  f.,  u.  s.  f.  ^)   BouROiERY,    Eevue    de    philol.  84 

2)  Xir].  O.  KoLFHAiJS,    Plutarchi    de  S.  167  f. 


IV.  Die  höhere  Henneneutik.     A.  Persönlichkeit  und  Werkgattung.  Iß9 

Stoff  im  zweiten  Teil  seines  AX^erlvs  ganz  anders  gegenüberstellt  als  im 
ersten,  ist  augenfällig;  er  hatte  inzwischen  den  Fall  Athens  erlebt.  Xeno- 
j)hon  bleibt  sich  als  Doktrinär  erschrecldich  gleich;  aber  ein  Wichtiges, 
seine  Stellung  zu  Athen,  ändert  sich  im  späteren  Verlauf  seines  Lebens ; 
daher  seine  IIoqoi  und  seine  Schriften  über  Reiterdienst,  auch  gewisse 
Kapitel  im  dritten  Buch  der  Memorabilien.  Plato  beginnt  seine  Schrift- 
stellerei  mit  kleineren  Dialogen,  die  in  Aporien  enden;  es  folgen  die 
•großen  Untersuchungen,  die  zur  Ideenlehre  führen;  als  er  alt  Avird,  schließt 
er  den  Kompromiß  der  Forderungen  der  Ideenwelt  und  der  Schein  weit, 
und  der  Forscher  und  Elenktiker  wird  zum  Prediger  und  Offenbarer 
(Timaeus).  Auch  der  Platonische  Dialog  selbst  aber  entwickelt  sich;  denn 
erst  dient  er  der  Verteidigung  des  Sokrates  (Kriton,  Laches),  dann  seiner 
(xlorifizierung  (Symposion) ;  auch  weiterhin  bleibt  Sokrates  der  Träger  der 
l^latonisclien  Gedankenarbeit  (Staat,  Kratylos),  bis  endlich  die  Kunst  des 
Dialogs  ermüdet  und  das  Bild  des  Sokrates  selbst  gleichzeitig  verblaßt 
(Parmenides,  Gesetze). 

Juvenal  beginnt  erst  als  Fünfzig"] ähriger,  Satiren  zu  dichten;  um 
so  achtsamer  sind  seine  Schlußbücher  darauf  anzusehen,  daß  da  ein  Siebzig-, 
Achtzigjähriger  zu  uns  redet.  So  halten  wir  auch  gewisse  Schwächen  im 
l\inathenaikos  desisokrates  dem  inzwischen  neunzigjährigen  Ve;ii'asser  zu- 
gute.^) Minder  ernst  ist  die  Senilität  bei  Martianus  Capella  zu  nehmen, 
der  im  Schlußgedicht  seiner  Nuptiae  Philologiae  et  Mercurii  allerlei  grobe 
metrische  Schnitzer  begeht;  das  ist  nach  der  raffinierten  Weise  dieses 
Skribenten  absichtlich  gemacht,  um  anzudeuten,  daß  er  nun  alt  gCAvorden 
{('((Hpscif,  wie  er  selbst  sagt)  und  seine  Kunst  in  die  Brüche  geht.  2) 

Dagegen  nun  Avieder  Properz;  er  Avird  allmählich  Cynthia-müde,  mid 
der  Charakter  seiner  Elegie  A^erändert  sich  schon  im  dritten  Buch  merk- 
lich; aber  seine  Kunst  steigert  und  bereichert  sich  bis  zum  Ende.  Wie 
endlich  die  großen  Theaterdichter,  A  e  s  c  h y  1  u  s ,  E  u r  i  p  i  d  e  s ,  im  technisch 
Dramaturgischen  und  z.  T.  auch  in  der  Wahl  der  Gegenstände  sich  ent- 
Avickeln,  ist  seit  langem  Gegenstand  sorglicher  Beobachtung.  Ich  erinnere 
an  ü.  A^  WilamoAA'itz'  Analecta  Euripidea.  Das  gleiche  müßte  auch  für 
die  zAAanzig  Komödien  des  Plautus  nachzuAA^eisen  möglich  sein;  eine 
nützliche  Vorarbeit  dazu  ist  H.  Kellermann,  De  Plauto  sui  imitatore, 
Leipz.  1903. 

Für  solche  Untersuchungen  ist  es  besonders  günstig,  wenn  sich  in 
den  Autoren  zahlreichere  SelbstAAdederholungen  A^orfinden;  denn  alsdann 
läßt  sich  bisweilen  erraten,  aa'O  der  Autor  den  Gedanken,  um  den  es  sich 
da  handelt,  zuerst  bringt  und  aa^o  er  ihn  nur  Aviederholt.  Dies  ist  bei 
Plautus  leider  nicht  oft  genug  nachweisbar,  öfter  dagegen  bei  Xenophon, 
und  kein  Schriftsteller  scheint  für  solche  Beobachtungen  geeigneter  als 
dieser.  Denn  Xenophon  legt  seine  kleinen  Weisheiten  auf  das  naivste 
bald  dem  Sokrates  in  den  Sokratesschriften,  bald  dem  Kyros  in  der  Kyro- 
paedie  in  den  Mund.     Besonders  A'erräterisch  sind  die  militärischen  Vor- 

V)  Ein  milderes  Urteil  über  den  Pan-   i  ^)  Vgl.  A.  Sundermeyer,  De  re  metr. 

athenaikos  begründet  ]^.  Wendland  in  den  '  et  rlwthmica  Mart.  ( 'apellae,  Marburg  1910, 
Xachricliten  der  Crött.  GW.  1910  S.  187  ff.       S.  33. 


liclion 


1  70  Kritik  und  Hermeneutik. 

träge,  die  Sokrates  in  Memorab.  Buch  III  hält.  Joh.  Dahmeni)  hat  die 
Stellen  gesammelt,  unter  sich  verglichen  und  den  wahrscheinlichen  Schluß 
gezogen,  daß  Xenophon  zuerst  Memorab.  I  u.  II  schrieb,  dann  die  Kyro- 
])aedie  abfaßte,  erst  danach  das  dritte  und  vierte  Buch  der  Memorabilien 
liinzufügte. 
Zurück-  So  weit  das  Persönliche.     Im  übrigen  bleibt  der  Satz  bestehen,   daß 

Por"ön-^  die  verschiedenen  Litteraturgattungen,  Epos,  Tragödie  u.  s.  f.,  ihre  feste 
Tradition  haben;  die  Gattung  stellt  ihre  Forderungen  an  den  Schriftsteller, 
und  dieser  sucht,  indem  er  konzipiert  und  schafft,  das  Ideal  der  Gattung 
irgendwie  neu  zu  verwirklichen.  Wie  die  Aufgabe  der  Ode  den  Horaz 
über  sich  selbst  hinaushob,  haben  wir  vorhin  gesehen.  Viele  aber  lösen 
die  Aufgabe  auf  eine  bequemere  Art,  indem  sie  sich  begnügen,  ihre  Vor- 
gänger unselbständig  nachzuahmen,  und  an  die  Stelle  des  jtoieXv  tritt  das 
Tiaganoiuv.  Dahin  gehören  viele  Namen  von  Komikern,  Epikern,  Histo- 
rikern (man  halte  etwa  Silius  Italiens  neben  Vergil).  Attische  Redner 
Avie  Lysias  versetzten  sich  ferner  als  loyoyQacpoi  in  die  Person  ihres 
Klienten,  und  der  Klient  sprach  die  Rede,  die  sie  auf  Bestellung  für  ihn 
ausgearbeitet  hatten;  dies  war  Aviederum  eine  starke  Hemmung  des 
IndiA'iduellen.  Und  so  bringt  es  die  Litteraturgattung  endlich  dahin,  daß 
der  Charakter  des  Werkes  zu  dem  des  Verfassers  gradezu  im  Widersprucli 
steht.  Am  Sallust  bemerkte  das  schon  das  Altertum.  Persius  A\^ar  als 
Mensch  mädchenhaft  sanft;  seine  Satiren  sind  bissig  und  scheltend,  als 
hätte  der  Hund  Diogenes  sie  geschrieben.  Insbesondere  aber  ist  dieser 
Gesiclits[)unkt  für  die  lasziA^e  Poesie  Avohl  zu  beachten.  Eine  i)riapiscli 
freche  Gedichtgattimg  bestand;  die  anständigsten  Leute  Avie  Plinius  (Epist. 
4,  4)  gaben  sich  dazu  her,  gelegentlich  einmal  für  sie  einen  Vers  zu 
liefern;  sie  trugen  zeitweilig  die  Maske  des  Jambikers.  So  auch  Apulejus 
(Apolog.  11);  so  Ausonius  im  Cento  nu[)tiahs.  Nur  so  wird  auch  Vergils 
Epode,  Catal.  XIII,  begreiflich.  Und  Catull  c.  16  gab  dazu  das  Motto: 
casUim  esse  decet  poetam  ijjsum.  vers/cidos  nihil  necesse  est.  War  doch 
auch  unser  AVieland  ein  Biedermann  im  Leben,  frivol  in  seinen  Scliriften. 


Ivom 
menta 


B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke. 

Die  höhere  Hermeneutik  Avendet  sich  zur  Analyse  des  Inhalts  der 
Werke.  Es  gilt  den  ZAveck  des  Werkes  zu  erkennen,  und  mit  dem 
Zweck  ist  auch  immer  die  Litteraturgattung,  der  es  angehört,  gegeben. 
Aus  demselben  Zweck  des  Werkes  leitet  sich  Aveiter  der  Plan  oder  die 
Disposition  des  Werldnhalts  ab.  Diese  Disposition  ist  also  je  nach  dem 
ZAveck,  d.  h.  nach  der  Litteraturgattung  A^erschieden.  Wir  steigen  A^om 
Einfachsten  zum  Komplizierten  auf. 

1.  Kommentare. 

Sie  entbehren  der  Disposition,  da  sie  nur  den  Inhalt  des  Textes  ver- 
folgen,  den  sie  erklären.     AVenn  sie  molirere  Bücher  füllen  (oben  S.  83), 

^)  Quaest.  Xenophonteac  et  Antistlieneae,  Marburg-  1897. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.       171 

so  ist  das  keine  l)isj)Osition,  sondern  eine  Rolle  genügte  eben  nicht,  den 
ohne  Absatz  fortlaufenden  erklärenden  Text  aufzunehmen.  Die  Bucli- 
teilung  brachte  hier  keine  stoffliche  Gliederung  zum  Ausdruck.  Zu  unter- 
sclieiden  sind  von  diesen  Kommentaren  die  Marginalscholien,  die  nur 
Auszüge  aus  ihn^n  sind  und  die  Vereinigung  des  zu  erklärenden  Textes 
mit  der  Texterklärung  anstreben. 

Der  Kommentar  kann  aber  auch  die  Form  der  Rede  annehmen.  Dahin 
gehört  das  Hexaemeron  des  Basilius  (nachgeahmt  von  Ambrosius),  neun 
Homilien  oder  Betrachtungen,  in  denen  die  Schöpfungstage  der  Bibel 
naturwissenschaftlich  erläutert  Avei-den.i)  Hier  brachte  der  Zweck  sogleich 
auch  eine  Stoffeinteilung. 

2.  Lexika. 

Das  Ijexikon  (ein  übrigens  unantiker  l^erminus)  gi'uppierte  die  Wörter  T.oxika 
zuuieist  nicht  sachlich,  sondern  in  alphabetischer  Folge  {y.aTa  orotyeiov)^ 
wobei  vorwiegend  nur  der  erste  Anfangsbuchstabe  der  AVörter  wie  beim 
Yerrius  Flaccus  (Festus),  vereinzelt  auch  ihre  sämtlichen  Buchstaben 
(Hesych)  berücksichtigt  wurden.  Verteilte  sich  solches  Lexikon  auf  mehrere 
Büclier,  so  hatte  das  Aviederum  nur  den  äußerlichen  Grund,  daß  eine  ein- 
zelne Rolle  eben  das  Ganze  aufzunehmen  nicht  genügte.  Das  des  Festus 
zerfiel  in  zwanzig  Bücher;  seltener  begann  bei  ihm  mit  dem  Anfang  eines 
neuen  Buchstabens,  Avie  0  und  Q,  ein  neues  Buch,  sondern  die  Buch- 
anfänge  fielen  meist  mitten  in  einen  Buchstaben;  Buch  XIII  begann  mit 
dem  Wort  midus  u.  s.  f. 2)  Eine  Ausnahme  zur  Regel  bietet  die  Com- 
j)endiosa  doctrina  per  litteras  des  Nonius  Marcellus;  denn  hier  ist  der 
Sprachstoff  auf  Sachkapitel  wie  De  proprietate  sermonum,  de  honeste  set 
iiove  dicüs,  de  hidiscretis  generihus  u.  s.  f.  verteilt,  die  Einzelkapitel  da- 
gegen sind  mehrfach  alphabetisch  geordnet.  Dies  ist  der  Hauptsache  nach 
die  Methode,  die  auch  in  Pollux'  Onomastiken,  Suetons  Pratum  und  Ver- 
Avandtem  heiTSchte. 

3.  Varia. 

GcAvisse  Werke,  besonders  Sammehverke,  haben  kein  Ordnungsprinzip  iiawoband 
als  das  der  Unordnung  oder  der  AbAvechselung ;  es  sind  solche,  Avie 
Plutarchs  Zi^ujrooiaxd  oder  des  Gellius  Noctes  Atticae,  bei  Avelchem  Gellius 
\\'ir  zusammenhangslos  hintereinander  lesen:  „A\de  groß  Hercules  gcAvesen"; 
„über  den  Avahren  Stoiker,  nach  Epiktet";  „ob  man  im  Interesse  eines 
Freundes  eine  Schlechtigkeit  begehen  darf" ;  „über  eine  Stelle  in  Cicero 
])ro  Cn.  Plancio"  u.  s.f.  u.  s.f.  Die  Kapitelteilung  mit  Kapitelüberschriften 
ist  in  solchen  AVerken  ausgebildet.  Hieran  reihen  sich  Aelians  Bunte  Ge- 
scliichten  und  überhaupt  die  Litteratur  der  nayrodaTid,  die  Aveite  Aus- 
dehnung hatte.  Ich  nenne  noch  des  Antigonos  Karystios  Iotoqimv  iraga- 
()6to)i'  avvaydiy}).  Ferner  gehören  aber  auch  die  „Vermischten  Gedichte" 
der  Alten  hierher:  Statins'  Sih^en  und  schon  CatuUs  nugae,  das  „A^arium 
Carmen",   das  auch  im  Versmaß  Avechselt.»)     Dabei  herrscht  ])ei  Dichtern 

1)   A'gl.  Paul   Plass,   De    Basüii   et  2)  Vgl.  ed.  ().  Müller  p.  XXXI  f. 

Ainbrosii  excerptis  ad  historiam  animaliuiii  •'')  Siolu^  Voigil  Oataleptoii  S.  124. 

pertinentibus,  Marburg  1905. 


X72  Kritik  und  Hermeneutik. 

Avie  Catull  und  Horaz  in  dem  scheinbaren  Wirrwarr  doch  ein  feineres 
Anordnungs})rinzip,  nach  dem  zu  forschen  von  großem  Interesse  und 
nicht  ergebnislos  ist.i) 

4.  Anthologien  und  Exzerpte. 

Digesta  Ein   frülies    berühmtes   Beispiel   für  „Blütenlesen"  war   der   oTeqaros 

des  Meleagros;  er  ordnete  die  Epigramme,  die  er  aus  verschiedenen 
Autoren  sammelte,  wenn  nicht  durchgängig,  doch  streckenweise  alpha- 
betisch. 2)  Die  große  Palatinische  Anthologie,  die  uns  vorliegt  und  erst 
im  späten  Mittelalter  zustande  kam,  gruppiert  die  Gedichte  statt  dessen 
unter  Sachrubriken,  ^(jonixä,  tjTnvfißia  usw.  \\'elches  das  urs[)rüngliche 
Ordnungsprinzip  der  lateinischen  Anthologie  des  codex  Salmasianus  '^)  war, 
ist  nicht  leicht  zu  ermitteln,  und  es  liegt  auch  Avenig  daran.  Jener  Pala- 
tinischen Anthologie  aber  kommen  prinzipiell  die  Pandekten  Justinians, 
kommt  auch  das  Sammelwerk  des  Oribasios  über  LandAvirtschaft  und  des 
Stobaeus  großes  Florilegium  gleich,  drei  gewaltige  Thesauren  antikei- 
AVeisheit,  die  erst  unter  der  Herrschaft  des  CodexbucliAvesens  entstanden 
sind.  Den  drei  Werken  gemeinsain  ist  die  Anordnung  der  Exzerpte  in 
Ka])iteln  und  unter  Überschriften,  die  nach  einem  durchdachten  SA'stem 
angeordnet  sind.  So  gibt  das  Florilegium  des  Stobaeus  im  Kap.  I  die 
Überschrift  mi  f^eoQ  dfjjuiovgyog  und  bringt  uns  dann  ein  P]uripidesfragment 
über  den  Aether,  der  Zeus  ist,  dann  des  Arat  Proöm,  dann  den  Zeus- 
hymnus des  Kleanthes  etc.;  sein  zweites  Kapitel  gibt  Belegstellen  unter 
der  Überschrift  Tiegl  iTQovoiag,  das  nächste  lautet  negl  dixijg  u.  s.  f.  Ganz 
ebenso  sind  in  Justinians  Digesten  die  Exzerpte  aus  den  römisclien  Juristen 
nicht  nur  auf  fünfzig  Bücher,  sondern  auch  in  den  Büchern  kapitelweise 
übersichtlich  unter  Überschriften  A^erteilt,  I  1  de  iustitia  et  iure;  I  2  rJe 
origine  iur'is\  \^  de  legibus;  14  de  consfitufionibus  principum  u.hA.  Dies 
Verfahren  aber  ist  antik;  denn  nicht  anders  steht  es  schon  mit  Yalei'ius 
Maximus  und  seiner  Anekdotensammlung,  deren  Inhalt  unter  Über- 
schriften A\de  de  religione,  de  prodigiis,  de  somniis,  de  fortitudine,  de  mode- 
ratione  sich  auf  eine  Fülle  A'on  Kapiteln  A^erteilt.  Das  geistige  Verdienst 
und  die  selbständige  Arbeit  besteht  bei  diesen  Sammlern  eigentlich  nur 
in  der  Einteilung,  in  der  getroffenen  AusAvahl  und  in  der  Formulierung 
der  Überschriften. 
Es  folgen 

5.  die  Historiker. 
Drei  Hier  pilt  es  drei  Perioden  zu  unterscJieiden.    Die  ältesten  Histoiiker, 

^d(>r'"   ^^'i^  Herodot,    Thuk^^dides    und  Xenophon,    disponieren   noch   nicht   naeli 
Hitorio-    Büchern,  da  zu  ihrer  Zeit  noch  jede  Buchteilung  fehlte,  sondern  erzählen 
giap  ne    ^^^    großen  Zuge,    AA'ie   der  Stoff   sie   treibt,    Thukvdides   jahrAveise,    nacli 
Sommern    und  Wintern.     Beim    ersten  Aufkommen   der   obligaten  Buch- 
teilung  regte  sich  sodann   der  Trieb,   jedes  Buch   nun   auch    sachlich   zu 
verselbständigen.    Von  Ephoros  lieißt  es  bei  Diodor  5,  1:  tojv  yno  ßißhov 

1)  Für  Catull  s.  Philolog.  63  8.  647  bis   |  ^)  Ant.  Buchwesen  S.  388  f. 

471  und  Ehein.  Mus.  59  8.  448:  für  Horaz"  ^)  8iehe  xVnthol.  lat.  ed.  Eiese  Bd.  I. 

Oden  M.  8chaxz,  Eöm.  Litt.  i<  256. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      178 

Fy.äoTt]v  TTFnobjxe  jiFoieyeiv  xara  yevoc;  rag  nQa^eig.  Ebendeshalb  wurde  es 
bei  den  Historikern  damals,  und  zwar  in  Nachahmmig  der  Lehrschrift- 
stellerei,  auch  zur  herrschenden  Sitte,  jedes  Buch  mit  einem  Proöm  zu 
\ersehen,  durch  das  es  verselbständigt  wurde;  s.  Poljb  und  Diodor.^) 
Späterhin  schreibt  auch  Apjnan  noch  so  xaiä  yevog.  Übrigens  sucht 
Polvbius  von  BuchYII  an  immer  je  zwei  Jahre  in  einem  Buch  abzumachen, 
so  daß  wenigstens  in  gCAvisser  Regelmäßigkeit  Buchschluß  mit  Jahres- 
schluß zusammenfällt.  Etwa  mit  Livius  beginnt  eine  dritte  Periode;  das 
angegebene  Verfahren  wurde  jetzt  größtenteils  Avieder  aufgegeben,  die 
Proömien  der  einzelnen  Bücher  nach  dem  Vorbild  des  Epos  abgeschafft, 
zugleich  aber  jedes  Buch  nach  demselben  Vorbild  des  Epos  wie  eine 
Phapsodie  inhalthch  möglichst  abgerundet  und  kurz  gerafft.  Meister  in 
dieser  neuen  Kunst  der  Erzählung  ist  schließlich  Tacitus,  der  wie  ein 
p4Üker,  nein,  wie  ein  Dramatiker  jedes  Buch  gern  mit  einem  eindrucks- 
vollen Ereignis  abschließt,  Ann.  XI  mit  Messalinas  Tod,  XII  mit  dem 
H'od  des  Claudius,  und  so  oft.  2) 

Zur  Geschichtschreibung  gehört  gewissermaßen  auch  der  griechische  Homan 
Eoman,  insofern  er  die  Form  der  Geschichtserzählung  nachahmt.  Den  Über- 
gang vom  Historienwerk  zum  Roman  vermitteln  die  Heldenbiographien, 
wie  sie  ims  in  der  Kyropädie  des  Xenophon  und  des  Pseudo-Kallisthenes 
.\lexandergeschichte  vorliegen.  Während  aber  diese  Werke  die  Erzählung 
bis  zum  Tod  ihres  Helden  führen,  beschränkt  sich  der  Liebesroman  darauf, 
sein  Geschick  so  weit  zu  verfolgen,  bis  er  mit  der  Geliebten  vereinigt  ist; 
d.h.  er  ist  in  seiner  Konzeption  dramatisch,  sentimental  komödienhaft.  Auch 
an  diesem  Roman  ist  nun  aber  oftmals  dieselbe  Geschicklichkeit  in  der  Ver- 
teilung des  Stoffs,  die  wir  eben  an  Tacitus  hervorhoben,  wahrzunehmen. 
P)esonders  kimstvoll  ist  der  Stoff  in  den  „Ephesischen  Geschichten"  des 
Xenoplion  Ephesius  durch  eine  Rahmenerzählung  zusammengefaßt.  3) 

Auch  von  dem  Satirenw^erk  des  Petron  und  von  des  Apuleius  Meta- 
morphosen könnte  man  hier  reden.-*)  Doch  unterscheiden  sich  beide 
grade  durch  das,  was  ihnen  gemeinsam  ist,  vom  Roman  öder  von  der 
ei-fundenen  Historie;  nämlich  dadurch,  daß  beide  Ich-Erzählung  sind.  Dazu 
kommt,  daß  das  Werk  Petrons  sich  selbst  als  „satura"  charakterisiert  und 
Apuleius  sich  als  Milesischen  Erzähler  ausgibt  (vgl.  oben  S.  105  f.).  Dies 
führt  uns  also  zur  Novelle  und  zur  Menippeischen  Satire  hinüber. 

6.  Die  kleinere  Erzählung  und  die  historische  Kleinarbeit. 

Die  kleinere  Erzählung  kann  den  verschiedensten  Zwecken  dienen  und  Rhapsodie, 
tUilier  auch  vielgestaltig  bald  diesen,  bald  jenen  Gesetzen  gehorchen.    Ich 
erwähne  in  aller  Kürze  1.  die  Rhapsodie,  aus  der  das  große  Epos  erst  ent- 
stand —  die  Batrachomyomachie  ist  ihre  Parodie  — ;  2.  die  Hymnenerzählung 
nach  Art  des  schönen  homerisclien  Demeterhymnus ;  8.  die  gesungene  Ballade 


1)  Genaueres  gibt  E.  Laqueur  im  j  Rahmenerzälihing  in  den  Ephesischen  Ge- 
Hermes 46  S.  161  ff.  I  schichten    des    Xenophon    von    Ephesus, 

2)  Vgl.  Antikes  Buchwesen  S.  137  f.  i  Innsbruck  1909. 

3)  Allerlei  künstliche  Entsprechungen  |  *)  Daß  Petron  eine  schon  vorliandene 
der  Teile  dieser  Erzählung  suciit  O.  Sems-  \  Romanlitteratur  parodiert,  also  voraus- 
SEL  VON  Fleschenberg  nachzuweisen :  Die  setzt,  zeigte  R.  Heinze,  Hermes  34  S.  494  f. 


174  Kritik  und  Hermeneutik. 

(lesBakchylides;  endlicJi  4.  das  alexandrinisclie  Epyllion,  für  dasCallimacluis 
in  der  Hekale  ein  Muster  gab.  Die  Nereusode  des  Horaz,  I  14,  ist  Bal- 
lade und  erklärt  sich  erst  aus  des  Bakclwlides  Vorbild.  Balladen  obszönen 
Inhalts  waren  auch  die  „Oden"  des  Laevius.  Wesentlich  anders  sind 
dann  aber  wieder  solche  bildmäßigen  und  doch  so  dramatisch  erzählten 
Ausschnitte  aus  der  Sage,  wie  des  Moschos  Europa,  in  epischer  Zeile,  und 
wieder  anders  Reposians  Concubitus  Martis  et  Veneris,  Anthol.  lat.  25H: 
eine  glüliend  pathetische  Schilderung,  als  erlebten  wir  eine  Theaterszene. 

Tiorfahoi,  ^\^f   q\qj^   Gebiet   der   Prosalitteratur   aber   unterscheiden   Avir    1.  die 

"Tierfabel  Aesops,  die  erst  in  verhältnismäßig  später  Zeit  sich  in  Verse 
kleidete;  2.  das  Märchen,  sublimiert  in  des  Apuleius  Amor  und  Psyche 
(met.  4,  28  ff.);  8.  die  milesische  Novelle,  die  sich  als  Anekdote  mit 
lasziver  Pointe  bezeichnen  läßt;  Beispiel  die  Matrone  von  Ephesus  bei 
Petron  cap.  111;  4.  die  satirische,  d.  h.  parodistische  Erzählung,  die  ebenso- 
oft mit  feinen  Avie  mit  groben  Mitteln  arbeitet;  für  sie  ist  Senecas  Claudius- 
satire das  glänzendste  Beispiel;  der  Verfasser  tut  so,  als  sei  er  Historiker 
und  wollte  protokollarisch  feststellen,  was  an  dem  und  dem  Tage  in  Rom 
und  im  Himmel  passiert  sei  (volo  memor'mc  f rädere):  eine  Manier  der  Er- 
zählung, die  auf  Menippos  zurückging  und  uns  auch  aus  Lucian,  aus 
Varros  Menippeen  bekannt  ist;  auch  Lucilius  Avar  schon  Aon  ihr  beeinflußt. 
Die  lachhafte  Schreib Aveise  springt  hier  oft  in  den  erhabenen  Ton,  die 
Prosa  in  den  A^ers  über;  ZAveck  aber  ist  nicht  die  Parodie,  sondern  die 
Kritik  an  den  gesellschaftlichen  Verhältnissen;  Ernst  im  Scherz:  gjiovöo- 
yfAoiov.  Zorn  und  Entrüstung  stehn  überall  im  Hintergrund  der  Satirc, 
auch  Avo  sie  zum  Sclnvank  Avird. 
Aiono-  Alles  bisher  Aufgezählte  war  aber  nur  Dichtung  oder  plauA^oUe  Ent- 

stellung gegebener  Tatsachen.  Wichtiger  ist  der  ernsthafte  Tatsachen- 
bericht, erstlich  in  der  Gestalt  der  historischen  Monographie,  wie  sie 
in  Sallusts  Jugurtha  und  Catihnari scher  VerscliAvörung  A^or  uns  steht. 
Dies  sind  gleichsam  Einakter  der  großen  Geschichtschreibung;  ich  habe 
sie  einmal  als  „historische  Tragödien"  bezeichnet,  i)  eine  Auffassung,  die 
dann  A^on  Reitzenstein  ausführlich  begründet  Avorden  ist.^)  Die  Theorie 
für  solche  Monographien  gibt  Cicero  in  seinem  Brief  ad  fam.  5,  12. 

Bioo:rai.iiic  Es  folgt  dic  Biograpliic,  oft  gedrängtester  Form,  aa^c  bei  Cornelius 

Xepos,  die  dann  aber  bei  ihren  lierA^orragendsten  Vertretern  zum  Umfang 
eines  halben,  ja,  eines  ganzen  Buches  sich  ausAvächst.  Eine  Litteratur- 
geschichte,  AA^ie  Avir  sie  haben,  fehlt  im  Altertum;  nur  Ansätze  dazu  gibt 
Cicero  im  Brutus,  OA'id  im  Buch  II  der  Tristien,  und  Serien  A'on  ßioi  Avie 
in  Varros  Werk  De  poetis  traten  an  die  Stelle.  Die  Biographie  hat 
sich  aber  in  zAvei  Typen  entAA'ickelt,^)  dem  Plutarchi sehen  und  dem  Sue- 
tcmischen;  der  erstere  Typus  AAahrt  im  Lebenslauf  die  natürliche  Zeitfolge, 
(Xer  zAveite  schachtelt  Ereignisse  und  Eigenschaften  in  bestimmte  Rubriken. 
Das  reiche  Belegmaterial  für  die  litterarische  Form  der  Biographie  hat 
Leo  geordnet  und  gesichtet.^)    Spielarten  sind  Xenophons  Agesilaos  und 

1)  Eöm.  Littoratur^-oschichtc,  2.  Aufl.,  ^)  Ich  sehe  hier  \^on  der  (halo(i;i8ch(Mi 

S.  70.  ;    Form  des  Sat^-ros  ab. 

-)  Helk^nistische  WinKh'rerzäliluiii^en  ^)  Die  griechisch-römische  Biographie 

S.  87  f.  j    nach    ihrer   Jitterarisclien    Form,    Leipzii;- 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      175 

der  Agiicola  des  Tacitus.  Auch  die  Biographie  aber  kann  satirischen 
Ton  annehmen,  oder:  die  Satire  kann  sich  auch  der  Form  der  Biographie 
bemächtigen;  dafür  geben  Ciceros  zweite  Philippica,  Lucians  Peregrinus 
und  Claudians  Eutrop  brillante  Belege. 

Von  der  Biographie  sondert  sich  dann,  vornehmlicli  im  Verlauf  der  Märtyrcr- 
Kaiserzeit,  die  IMärtyrerlitteratnr  ab,  die  Erzählungen  von  den  exitus  or- 
risontm.  Man  kann  sagen,  daß  diese  Märtyrerlitteratur  schon  mit  Piatos 
Phaedon,  der  uns  das  Sterben  des  Sokrates  schildert,  anhob.  Dann  aber 
nniß  sicli  dafür  eine  feste  Erzählungsform,  mit  krasser  Ausmalung  des 
Schreckliclien  und  stark  betontem  Unwillen  gegen  die  Staatsgewalt,  aus- 
gebildet haben.  Eine  vSammlimg  solcher  Geschichten  in  drei  Büchern, 
('./■ff  US  occlsorum  mit  relegatornm  a  Nerone  gab  es  z.B.  von  C.  Fannius;i) 
und  daraus  haben  sich  auf  natürlichstem  AYege  die  christlichen  Märtyrer- 
akten entwickelt.  2)  Man  darf  dabei  aber  niclit  vergessen,  daß  schon  die 
l^>iograp]iie  selbst  auf  die  Schilderung  der  Sterbeszene  besondere  Sorg- 
falt zu  verwenden  pflegte;  und  das  Interesse  für  die  „ultima  verba"  der 
dargestellten  Persönlichkeit  gehört  nicht  nur  den  Evangelien  an. 

Aber  noch  andere  Gestalten  kann  die  Erzählung  annehmen,  weil  sie  Aictaionic 
noch  anderen  Zwecken  dient.  Dem  Trieb  zur  abenteuerlichen  Phantastik, 
dann  aber  speziell  der  Religion  und  dem  wundersüchtigen  Gläubigen 
dient  die  „  Wundergescliichte",  die  Aretalogie.  Die  dQerakoyia  sucht  eine 
Person  zum  Gott  oder  zum  Propheten  Gottes  zu  erheben;  sie  geht  dabei 
nicht  streng  biographisch  vor,  setzt  an  irgendeinem  Punkt  ein  und  erzählt 
nur  ihre  Avunderbaren  Leistungen  bis  zum  plötzlichen  Ende  und  zur  Ver- 
klärung (vgl.  schon  Terenz  Ad.  535).  Feinsinnig  hat  E,.  Reitzenstein  diesen 
Begriff  bestimmt,  die  Gattung  der  hierher  gehörigen  Litteratur  umgrenzt 
imd  dargestellt. 3)  Der  Ton  dieser  Aretalogien  galt  als  geschwätzig;*) 
denn  sie  waren  für  die  Masse  der  Ungebildeten  bestimmt.  Hierher  ge- 
liört  das  Buch  Jonas,  die  Erzählungen  vom  Apollonius  von  Tyana,  Lucians 
\4h]d})g  ioTooia,  weiter  die  große  litteratur  der  christlichen  Heiligenleben; 
dann  zieht  die  Aretalogie  aber  auch  das  Kleid  der  Dichtkunst  an  und 
steht  vor  uns  in  den  Dionysiaka  des  Nonnos :  dem  Epos  von  den  Wunder- 
taten des  Bacchus  und  seiner  Gottwerdung. 

7.  Lehrschriften. 

Sehen    wir    von    ])roblematischen    Fällen,     den    voralexandrinischen Giiedemn. 
Autoren,  insbesondere  Aristoteles  ab,  so  war  es  in  mehrbücherigen  Lehr-  ^„^1„.hv,V 
Schriften  obligat,  daß  jedes  ]^uch  in  ihnen  sein  besonderes  Proöm  erhalte; 
d.h.  die  Lehrschrift  zerlegt  ihren  Inhalt  stets  in  Sachgruppen,  jede  Gruppe 
zu  einem  Buch,    und  die  Proömien,  die  dabei  oft  plauderlustig  den  Cha- 
rakter  des  Exkurses    annehmen,    liaben   den  Zweck   zu   orientieren,    aber 

1901.    Als  nützlich  darf  auch  die  vorauf-  :    forscliung  I   S.  29  f. 

liogende  Arbeit   von  W.  L.  Schmidt,    De  1  *)  Vgl.  liierüber  bes.  E.  Reitzexsteix 

homanornm    imprimis  Suetonii    arte    bio-       in  Nachrichten    der  Göttinger  CAX.  1904, 

grapliica,    Marburg    1891,    in    Erinnerung       Heft  4,  S.  325  f. 

gebracht  werden.  ^)  Hellenistische Wundererzählungen, 

1)  Plinius  Epist.  5,  5.     Vgl.  noch    die  '    Leipzig  190(). 

•  hei  von  Bauer  besprochenen,  nicht-christ-  ;  *)  garnüc,    l'orphyrio    zu   Horaz    Sat. 

Hellen    Maitvrien    im    Archiv    f.   Papyrus-  \    1,  1,  120. 


]^76  Kritik  und  Hermeneutik. 

auch  der  Ermüdung  zu  wehren,  die  ein  trockener  Lehrgegenstand  leicht 
mit  sich  bringt.  So  steht  es  —  ganz  abgesehen  von  den  dialogischen 
Lehrschriften,  über  die  hernach  —  mit  Cicero  de  inventione,  so  mit  Vitruv, 
Lukrez,  Yarro  de  lingua  latina,  Yergils  Georgica,  Manilius,  Columella  u.  s.  f. : 
immer  jedes  Buch  ein  mit  Vorwort  versehener,  dui'chaus  abgesonderter 
Lernstoff.  Wie  dabei  z.  B.  die  Lukrezproömien  sich  in  feiner  Weise  gegen- 
seitig ergänzen,  ist  von  Sonnenburg  dargelegt;  i)  doch  trifft  dasselbe  auch 
bei  anderen  zu.  2)  Weil  Ovids  Fasti  ganz  ebenso  angelegt  sind,  daher 
gehören  sie  zur  didaktischen  Poesie  iind  nicht  zur  Epik.  Weil  umgekehrt 
der  Ars  poetica  des  Horaz  ein  solches  Proöm  fehlt,  daher  ist  sie  kein 
Lehrgedicht,  und  die  Briefform,  die  Horaz  wählte,  ist  ernst  zu  nehmen. 
Durchsichtig  ist  weiterhin  das  Fachwerk  der  'Disposition  auch  noch  in 
des  PUnius  encyklopädisch  umfassend  aufgebauter  Naturgeschichte,  auch 
noch  bei  Pausanias,  dessen  Topographie  je  eine  Landschaft  in  je  einem 
Buche  zu  absolvieren  sucht.  Dabei  muß  man  bewundern,  wie  es  den 
Verfassern  gelingt,  jeden  Sachteil  dem  E/aumzwange  der  Buchrolle  an- 
zupassen; denn  man  hielt  stets  auf  gleiche  Länge  der  Einzelbücher.  Nur 
den  Cornificius  ad  Herennium  trifft  der  Vorwurf  der  Unsymmetrie,  wemi 
wir  nicht  anzunehmen  haben,  daß  sein  ungefüges  sogenanntes  viertes 
Buch  noch  weiter  in  Bücher  zerfiel,  Avas  die  Buchinskriptionen  in  den 
Handschriften  selbst  nahelegen. 

8.  Redekunst. 

Rhetorik  Li  der  Hcdekunst  ging  von  fi'üli  an  laut  und  deutlich  die  „Rhetorik", 

die  theoretische  Lehre,  neben  der  Praxis  her.  Die  Analyse  einer  Rede 
des  Demosthenes  oder  Cicero  ist  also  an  der  Hand  der  erhaltenen  theo- 
retischen Vorschriften  leicht  zu  geben. »)  Auskunft  gibt  für  die  ältere  Zeit 
Aristoteles'  Rhetorik  und  die  Rhetorik  ad  Alexandinim,  später  Cicero 
selbst,  Dionys,  Quintilian  und  die  Masse  der  sonstigen  Rhetores  graeci 
und  Rhetores  latini  minores,  die  wir  in  Sammeldrucken  lesen.  Auch  noch 
Claudian  baut  seine  Panegyrici  in  Versen  genau  nach  den  Vorschiiften, 
wie  sie  uns  bei  Menander  für  die  Lobrede  vorliegen.*) 
Dis-  Nach   ältester   Auffassung   war   die   Prozeßrede    dreiteilig:    jiqooijuiov, 

äyMpeg,  imloyog,  dann  vierteilig:  jiqooijuiov,  jigodeoig  (Darlegung  des  Gegen- 
standes), moTig  (Beweisführung),  emXoyog.  Später  sondert  man  fünf  Teile: 
1.  Proöm,  2.  dit]yt]oig  {narratio),  3.  morig  {prohatiö),  4.  Xvoig  (refutatio), 
5.  Epilog  (peroratio).  Dabei  kann  der  narratio  noch  eine  jrgoexß^eoig  vorauf- 
gehen ;  ferner  kann  der  Redner  auch  seine  Disposition,  divisio,  selbst  formu- 
lieren und  eine  Mitteilung  darüber  einschalten.  Doch  tut  dies  Cicero  nicht 
oft.  Das  Proöm  aber  war  in  der  gesprochenen  Rede  besonders  unentbehr- 
lich und  ist  von  hier  aus  in  die  Didaxis  und  in  die  Geschichtschreibung 
gelangt.  Man  arbeitete  sie  auf  Vorrat.  So  haben  wir  eine  Sammlung 
von  56  jiQooifjLia  des  Demosthenes,  die  echt  sind. 

1)  Rhein.  Mus.  62  S.  33  ff.  Griechen  und  Eömer,   2.  Aufl. :    über   das 

2)  Siehe  G.  Engel,  De  antiquorum  epi-  1    Stilistische   bes.  E.  Norden,    Die   antike 
corura   didacticorum   historicorum    prooe-  Kunstprosa,  2.  Aufl. 
miis,  Marburg  1910,  S.  41.  "*)  0.  Kehdtng,  De  panegyricis  latinis. 

3)  Ygl.R.VoLKMANx,  DieEhetorikder  Marburg  1899. 


Positionen 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      177 

Die  Keden  reichten  meistens  eine  Buchrolle  anzufüllen  nicht  aus,  Roden  aui 
und  mehrere  standen  in  einem  Buch  beisammen,  wie  die  drei  Caesarianae  ^^^^^^ 
Ciceros.i)  Ciceros  Rede  pro  Caecina  füllte  freilich  just  ein  Buch; 2)  sie  ist 
t'-ben  grade  so  lang  wie  die  drei  Caesarianae  zusammen.  Wenn  es  von 
Oalvus  21  libri  gab,»)  so  bedeutet  das  also  nicht  21  Reden  ;*)  es  können 
viel  mehr  gewesen  sein.  Ein  Monstrum  sind  dagegen  Ciceros  fünf  Bücher 
Yerrinen,  die  zusammen  ein  Redeganzes  ausmachen.  Sie  sind  bekannt- 
lich nie  gesprochen  worden. 

9.  Kleinere  Gedichte  und  Briefe. 

Reizvoll  ist  es,  aber  mitunter  mit  Schwierigkeit  verbunden,  Plan, 
Aufbau  und  Gedankengang  von  Gedichten  geringeren  Umfangs  klar- 
zulegen. Ich  denke  dabei  weniger  an  die  Hirtengedichte,  die  sich  oft 
schon  durch  ihre  dialogische  Form  von  selbst  gliedern,  auch  nicht  an 
Statins'  Silvae,  deren  Verfasser  die  beste  rhetorische  Schulung  verrät. 
Ich  denke  zunächst  an  die  Elegie. 

Auf  dem  Gebiet  der  Elegie  herrscht  leider  noch  immer  das  stimipf-  Elegien 
sinnige  Verfahren,  die  Gedichte,  sie  seien  auch  noch  so  lang,  oline  jeden 
Absatz  abzudrucken,  so  daß  jede  Einsicht  in  ihren  Aufbau  unmöglich 
wird.  Solch  moUuskenhaft  gliederlose  Gedichtkcirper  sind  ein  furchtbarer 
Anblick.  Einige  Analysen  Prop erzischer  Elegien  sind  im  Rhein.  Mus.  38  Proper» 
8.  197  ff.  und  51  S.  492  ff.  gegeben.  Ihr  Aufbau  ist  gelegentlich  gradezu 
dramatisch,  wie  in  II  10,  wo  im  ersten  Teil  (v.  1 — 12)  der  Dichter  die 
Absicht  äußert,  den  Augustus  besingen  zu  wollen,  im  zweiten  (v.  13 — 18) 
sogleich  ein  kurzer  Panegyricus  auf  den  Augustus  wirklich  folgt,  im 
dritten  aber  (v.  19 — 26  inclusive  v.  7  u.  8)  der  Dichter  plötzlich  abbricht, 
sein  Unvermögen  bekennt  und  zur  Erotik  zumckkehrt.  Ganz  so  bcAvegt 
sich  auch  des  Phaedrus  Fabel  4,  7  in  drei  Stationen,  ganz  so  auch  Horaz' 
Ode  I  2.  Nur  auf  diesem  Wege  der  Betrachtung  ist  endlich  auch  die 
F]inheitlichkeit  des  scheinbar  chaotischen  Properzgedichtes  IV  1  zu  retten. 

Bisweilen  sind,  wie  eben  Properz  IV 1  zeigt,  sogar  die  Gedichtgrenzen 
kontrovers,  und  es  handelt  sich  darum,  sie  zunächst  festzustellen;  man 
muß  wissen,  wo  das  Gedicht  anfängt  und  avo  es  aufhört.  Daher  die  Frage 
nach  der  Zerlegung  des  homeiischen  Apollohymnus,  nach  Catulls  acht- 
undsechzigstem Gedicht,  Properz  carm.  II  29,  nach  des  Horaz  Plancus- 
ode  I  7.  Bisweilen  ergibt  sich  dann  bei  näherer  Betrachtung  die  Er- 
kenntnis, daß  zwei  Gedichte  einander  fortsetzen,  wie  Properz  I  8a  und  8b: 
das  eine  die  Klage  darüber,  daß  Cynthia  treulos  Rom  verläßt,  das  zweite 
(dn  Ausbruch  des  Jubels,  daß  sie  den  Dichter  erhört  hat  und  bleibt.  Der 
Zusammenhang  ist  da  so  eng,  daß  im  Gedicht  8b  v.  37  quamvis  magna 
daret  das  Subjekt  zu  darrf  fehlt,  das  aus  dem  vorigen  Gedicht  zu  ergänzen 
ist. 5)  So  zerfällt  auch  die  sapphische  Horazode  IV  6  in  zwei  selbständige 
Bestandteile,  die  doch  sachlich  zusammenhängen :  im  ersten  Teil,  v.  1 — 28, 
betet  Horaz  als  Chordirigent  zum  Apoll    um  Hilfe,    im    zweiten   redet   ei- 

1)  Buchwesen  8.  HOT  f.  !  ^)  Siehe  Wochenschrift  f.  klass.  Philo! . 

2)  Quintilian  5,  10,  98.  i    1896  S.  1284. 

3)  Tacit.  Dial.  21.  ,  ^)  VKl-Berl.philol.W.schr.  1898  S.  1261. 

Handbuch  der  klass.  Altortumswissenschaft.    1,  3.     3.  Aufl.  12 


178  Kritik  und  Hermeneutik. 

ermunternd  seinen  Chor  an,  der  nun  singen  soll;  denn  es  handelt  sicli 
um  die  bevorstehende  Aufführung  seines  SäkularHedes. 

Tibuii  "Wo  bei  ruhiger  Betrachtung  der  Plan  nicht  von  selbst  herausspringt, 

ist  das  Gedicht  schlecht.  Besonders  Tibull  macht  bisweilen  unleidliche 
Schwierigkeiten.  Er  hat  die  erotische  Elegie  zum  umfangreicheren  Ge- 
dicht erweitert,  besonders  durch  Steigerung  des  betrachtenden  Elements. 
Aber  einige  dieser  Gedichte  rinnen  daher  wie  süßer  Schleim  (man  ver- 
zeihe den  Vergleich),  und  wer  am  Ende  ist,  hat  den  Anfang  vergessen. 
Tibull  ist  ein  lieblicher  und  feinfühliger  Verskünstler,  aber  in  solchen 
Fällen  ist  er  kein  Dichter;  denn  Dichten  heißt  Komponieren;  und  die 
viele  Tinte  und  Mühe,  die  man  neuerdings  zur  Klarlegung  seiner  Inten- 
tionen verbraucht,  zeugt  unerbittlich  gegen  ihn. 
Chorlyrik  jj^  ^qj.  griecliischcn  Chorlyrik  war  durch  das  Triadengesetz  oder  aucli 

schon  durch  Strophe  und  Antistrophe  eine  natürhche  Verteilung  des 
Stoffes  und  der  Gedankengruppen  gegeben.  Freilich  greift  der  gram- 
matische Satzbau  bei  Pindar  oft  noch  von  der  Strophe  zur  Gegenstrophe 
oder  zur  Epode  hinüber.  Jedenfalls  aber  ist  selbstverständlich,  daß 
zwischen  den  stollenartigen  Versgruppen  eine  musikalische  Entsprechung 
bestand;  im  Gesang  der  Strophe  und  Gegenstrophe  repetierte  dieselbe 
Melodie,  und  hier  haben  nun  die  Dichter  solche  E-epetition  bisweilen  in 
äußerlich  sinnfälliger  Weise  durch  Stich  werte  im  Text  markiert,  die  an  der- 
selben Stelle  der  Melodie  wiederkehren  und  auf  die  acht  zu  geben  nötig 
ist.  Sie  können  uns  gelegentUch  zur  richtigen  Auffassung  der  Vers- 
gruppen anleiten,  so  wie  in  Sophokles'  Antigene  die  anapästischen  Gruppen 
V.  141 — 147  und  155 — 161  sich  entsprechen.  Daß  dies  der  Fall,  beweist 
das  Stichwort  xoivov,  resp.  tcoivm  in  den  Schlußzeilen  147  u.  161.  i)  Im 
Oedipus  E/Cx  fiel  v.  495  das  Wort  Oidijzoda  just  auf  dieselben  Singnoten 
wie  das  Wort  fjöviioXig  v.  510.     Daher  ihr  Gleichklang.  2) 

Satire  ZuT  Eigenart   der  Satire   gehört  die  gesuchte  Planlosigkeit  des  Ge- 

plauders, die  gern  in  medias  res  sich  stürzt  und  es  dadurch  oft  sehr 
schwer  macht,  den  Grundgedanken,  der  doch  aUes  zusammenhalten  soll, 
herauszufinden.  So  steht  es  z.  B.  mit  des  Persius  drittem  Stück,  das 
gleich  so  beginnt:  Nempe  haec  assidue?  „Macht  er  es  immer  so?  Er 
kann  seinen  E-ausch  nicht  ausschlafen.  Schon  ist  es  Mittag  —  da  end- 
lich greift  er  zum  Buche  . . .":  hingeworfene  Szenen  aus  dem  Leben  eines 
einsichtigen,  aber  entsclilußunfähigen  Menschen  und  eines  anderen,  der 
nicht  einmal  Gut  und  Schlecht  im  Leben  zu  unterscheiden  weiß.  Man 
sehe  0.  Jahns  Analyse  des  Gedichtes.  Ganz  ähnlich  steht  es  mit  des 
Horaz  Ars  poetica:  ihr  Grundplan  versteckt  sich  absichtlich,  aber  er  ist 
vorhanden.  3) 

Die  Satire  des  Persius  —  und  zum  Teil  auch  schon  die  des  Horaz  — 


»)  Vgl.  oben  S.  111. 

2)  lieber  solche  Stichworte  vgl.  G. 
Jacob,  De  aequali  stropharum  et  anti- 
stropharum  in  canticis  conformatione, 
Berlin  1866 ;  Masqueray,  Formes  lyriques, 
1895,  S.  105. 


nella  S.  279  f.  Nordens  einsclüägiger  Auf- 
satz, Hermes  40  S.  481  f.,  befriedigt  mich 
nicht,  da  er  die  Hauptschwierigkeit  nicht 
erklärt,  weshalb  nämlich  bei  Horaz  die 
Behandlung  des  Satyrspiels  v.  220—250  so 
breiten  Raum  einnimmt  und  an  eine  offen- 


3)  Hierüber  bei  A.  Dieterich,  Pulci-   \   bar  besonders  betonte  Stelle  gestellt  ist. 


Cynische 
Diatribe 


Pin  dar 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litter atur werke.      179 

ist  eben  stark  dui'chsetzt  von  den  Eigenarten  der  cynischen  Diatribe  oder 
der  Kapuzinerpredigt,  für  die  Bion  von  Borysthenes  ein  Muster  war  und 
die  besonders  rein  in  Teles,  dann  auch  in  Seneca,  Musonius  und  Epiktet 
in  verschiedener  Abwandhing  vor  uns  steht,  i)  Charakteristisch  ist  für 
diese  Predigt  nicht  nur  das  häufige  kurze  Zwischensprechen  eines  Mit- 
iinterredners,  der  sich  meistens  sehr  naiv  und  kurzsichtig  äußert;  sondern 
überhaupt  der  lebhafte  Sprechton,  der  mit  kurzen  Sätzen,  mit  Frage  und 
Antwort,  mit  drastischen  Beispielen  aus  dem  gemeinen  Leben  das  erregte 
Gespräch  realistisch  kopiert;  vor  allem  aber  die  scheinbare  Planlosigkeit 
in  der  Anordnung.  Demi  nur  ein  paar  Schlagworte  deuten  an,  was  dem 
Verfasser  diesmal  die  Hauptsache  ist;  die  Abschweifung,  der  Exkurs  ist 
Regel  und  gibt  oft  das  Beste.  Gern  wird  dabei  von  irgendeinem  be- 
kannten Diktum  ausgegangen,  das  scheinbar  der  Zufall  hereinwirft,  ganz 
so,  wie  auch  unsere  Predigten  von  einem  Texteswort  ausgehn.2) 

Welcher  Gegensatz,  wenn  wir  uns  hiemach  noch  einmal  zu  den 
Siegesliedern  Pindars  wenden!  Diese  Enkomien  haben,  so  überraschender 
Wendungen  sie  sich  auch  bedienen,  doch  einen  ganz  typischen  und  leicht 
erkennbaren  Aufbau:  Einleitung,  eingelegter  Mythus,  Schluß,  Avobei  sich 
Einleitung  und  Schluß  auf  den  agonistischen  Anlaß  des  Lobhedes  be- 
ziehen. Komplizierter  war  dagegen  die  Anlage  des  Nomos  des  Terpander, 
und  ~R.  Westphals  Hypothese,  3)  daß  die  Disposition  dieses  Nomos  auf 
Pindar  eingewirkt,  scheint  unnötig  und  ist  aufgegeben.-*)  Noch  unglaub- 
licher ist  m.  E.  die  wiederholt  aufgestellte  Hypothese,  CatuUs  Gedicht  68  B 
sei  nach  diesem  entlegenen  Vorbilde  gebaut.  Sogar  für  den  Panegyricus 
Messallae  hat  man  auf  Terpander  verwiesen, s)  während  der  in  Hexametei' 
gebrachte  Panegyricus,  Avie  schon  seine  Titelaufschrift  anzeigt,  vielmehr 
aus  dem  Prosapanegyricus  abzuleiten  ist.^) 

Ein  besonderes  Wort  verlangt  vielleicht  auch  noch  die  beschreibende 
Dichtkunst.  Das  köstlichste  Werk  der  Art,  ist  die  Moseila  des  Ausonius.  "iichtung! 
Wir  wüßten  gern,  nach  Avelchen  Gesetzen  Ausonius  seine  Mosella  schrieb?  Moseiia 
ob  ohne  alles  Vorbild?  Aber  wie  kam  es  dann,  daß  dieser  sonst  so  zwergige, 
philologische  und  unursprüngliche  Dichter  grade  in  der  Moseila  ein  Meister- 
werk schuf?  Denn  wir  lesen  sie  heute  noch  mit  besonderer  Freude.  Hosius' 
hübsche  Mosellaausgabe  beantwortet  uns  leider  unsere  Frage  nicht.  Jedenfalls 
ist  zum  Verständnis  der  Sache  hier  wieder  vom  eyxMjuiov  auszugehen.  Die 
griechischen  Stilisten  lehren,  daß  es  nicht  nur  eyxMjuia  auf  Personen,  son- 
dern auch  auf  Orte,  x^9^  ^^^^  Tiohg,  gibt;')  dafür  ist  des  Sophokles'  Lob- 
lied auf  Kolonos  vielleicht  das  erste  Musterbeispiel  gewesen  (s.  dort  das 
Scholion).  Dazu  nehme  man  das  Lob  Athens  bei  Isokrates  Paneg.  21 — 132. 
Auch   das  Laudabunt  alii  claram  Rhodon  eqs.  des  Horaz    weist  auf  ähn- 


Nomos 


Geo- 


')  Auch  Phönix  von  Kolophon  sei 
verglichen;  s.  Ad.  Gerhard,  Phoenix  von 
Kolophon,  Leipz.  1907. 

2)  Vgl.  E.  BuLTMANX,  Der  Stil  der 
paulinischen  Predigt,  Göttingen  1910,  S.  10 
bis  64. 

3)  Prolegg.  zu  Aeschylos'  Tragödien, 
1869,  S.  69  f. 


<)  Siehe  z.  B.  ed.  Ohrist  p.  XOIX. 

6)  O.  Crusius,  Verhandl.  der  39.  PhUol.- 
Vers.  1887  S.  258  f. ;  F.  Wilhelm  in  Fleck. 
Jbb.  1896  S.  489  f. 

6)  Vgl.  Kehding  a.  a.  O. 

7)  Genethlius  p.  344  und  schon  Quin- 
tüian  3,  7,  26. 


12 


180  .  Kritik  und  Hermeneutik. 

liehe  Länder  oder  Städte  verherrlichende  Dichtungen.  Dann  wissen  wir, 
daß  Octavian  eine  Sicilia  schrieb,  daß  Lucilius,  der  Freund  Senecas,  den 
Aetna  schildern  wollte  oder  sollte.  Bald  genug  kam  dann  aber  die 
Sophistik  der  Kaiserzeit,  und  sie  hat  sich  in  solchen  Schilderungen,  die 
Avir  noch  besitzen,  geübt,  Avie  des  Aristides  Reden  auf  Rom,  auf  Athen, 
auf  Eleusis. 
SKtpgaou  übrigens  gehört  auch  die  ex(pQaoi<;  im  spezielleren  Sinne,    ich  meine 

die  Schilderung  und  Auslegung  von  Kunstwerken,  zur  beschreibenden 
Dichtung.  Auch  sie  trat  zeitweilig  gern  im  Verse  auf,  wie  der  Hercules 
epitrapezios  des  Statins ;  aber  es  siegte  auch  hier  die  sophistische  Prosa,  in 
Philostrats  Gemälden  oder  in  den  enkomiastischen  Statuenbeschreibungen 
des  Kallistratos.  Die  Kunstbegeisterung  äußert  sich  bei  Kallistratos  in 
einer  hymnenliaften  Prosa,  i) 

Ausonius  hat  nun  die  Länder  beschreibenden  Enkomien,  von  denen 
ich  spracli,  wenn  ich  nicht  irre,  dadurch  übertroffen,  daß  seine  Mosella 
zugleich  ein  Reisegedicht  ist.  Die  Bilder  schieben  sich;  alles  ist  in  Be- 
wegung; mit  dem  Fortschritt  des  Gedichtes  schreiten  wir  von  Ort  zu  Ort. 

Im  Zusammenhang  hiermit  kann  auch  noch  ein  Wort  über  den  Brief 
gesagt  werden. 
Gelegen-  Wir  unterscheiden  den  Gelegenheitsbrief  vom  Kunstbrief.    Vom  Ge- 

^/  ^  legenheitsbrief  sind  zahlreiche  Belege  in  den  ägyptischen  Papyri  auf- 
getaucht; 2)  klassische  Belege  für  ihn  gibt  uns  Cicero.  Cicero  gibt  uns  den 
intimen  Brief  als  Selbstbekenntnis,  den  Brief  als  Erkundigung,  den  diplo- 
matischen Brief,  den  Geschäftsbrief,  den  Trostbrief,  den  Empfehlungs- 
brief u.  s.  f. ;  nur  nicht  den  Liebesbrief.  Diese  von  Meisterhand  geschrie- 
benen Sachen  sind  wegen  ihrer  Unmittelbarkeit  und  ihres  freien  Wurfes 
oft  so  köstlich  wie  Catullische  Gedichte. 
Kunstbrief  Vom  Gelegenheitsbrief  ging  nun  die  Gattung  des  Kunstbriefes  aus. 
Horaz  hat  ihn  wunderhübsch  in  Verse  gebracht  und  dabei  noch  vielfach 
den  Charakter  der  Lnpro\äsation  gewahrt:  an  Bullatius,  an  Albius,  an 
Tiberius,  an  Florus,  an  Vinius:  woraus  sich  auch  erklären  mag,  daß  von 
Horaz  das  erste  Buch  seiner  Briefe  so  viel  schneller  fertiggestellt  worden 
ist  als  irgendeins  seiner  anderen  Bücher.  Noch  flüssiger  in  der  Fassung, 
aber  viel  eintöniger  Ovids  elegische  Briefe  ex  Ponto.  Dann  aber  bevor- 
zugt der  Kunstbrief  doch  die  prosaische  Form,  und  hierfür  ist  Plinius 
der  Klassiker,  Symmachus  und  ApolHnaris  Sidonius  seine  geschraubten 
Nachahmer.  Die  Briefe  des  PHnius  lesen  sich  wie  Gelegenheitsgedichte. 
Zunächst  haben  sie  wirklich  dem  Briefverkehr  gedient,  waren  doch  aber 
zugleich  von  vorneherein  für  die  Veröffentlichung  bei  Lebzeiten  bestimmt, 
sind  daher  auf  das  feinste  durchgearbeitet  und  stehen  in  jedem  Buche 
so  angeordnet,  daß  man  die  Absicht  erkennt,  den  Leser  zu  unterhalten 
und  dm'ch  Mannigfaltigkeit  und  Wechsel  der  Themen  so  zu  ergötzen, 
Avie  es  damals  etwa  ein  Martialbuch  oder  ein  Buch  der  Silvae  des  Statins 
tat.   Die  Dichtkunst  flüchtet  sich  in  den  Prosabrief,  und  zwar  mit  Glück. 

^)    Genaueres    gibt    Jetzt    P.  Fried-  *)  Vgl.  St.Witkowski,  Epistulae  pri- 

LÄNDER,  Johannes  von  Gaza,  Leipz.  1912,       vatae  graecae,  Leipz.  1906. 
Einleitung.  j 


rV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      181 

Wie  füi"  alles  andere,  hat  die  Stillehre  der  E;hetorik  natürlich  auch 
für  die  Abfassung  von  Briefen  ihre  Vorschriften  gegeben,  i)  Insbesondere 
fordert  sie,  daß  der  Brief  sich  im  /ot^apir?)^  ioxvog  und  xaQieig  bewege.  2) 
Auch  die  große  Sammlung  der  Epistolographi  graeci  zeigt  überall  den 
Einfluß  dieser  Theorie.  So  endlich  auch  der  Liebesbrief,  der  selten  wie 
bei  Properz  lY  3  im  Verse  auftritt  3)  und  für  den  uns  der  späte  Aristainetos 
die  Hauptbeispiele  liefert.*) 

Für  den  Interpreten  ist  nun  aber  der  Unterschied  groß.  Der  Kunst- 
brief interpretiert  sich  gewöhnlich  leicht;  denn  er  ist,  wie  ein  Gedicht, 
ein  in  sich  geschlossenes  Ganze  und  bringt  zumeist  alles  das  selbst  her- 
bei, was  zu  seinem  Verständnis  nötig.  Ganz  anders  Ciceros  Moment- 
briefe, die  vieles  nur  andeuten  und  voraussetzen,  Avas  damals  sein  Adressat 
Avußte,  wir  aber  nicht  wissen.  Sie  bieten  deshalb  zahllose  Schwierigkeiten 
im  Großen  und  Kleinen.  0) 

Schließlich  noch  ein  Wort  von  der  „Symmetrie"  der  Teile  in  kürzeren  Symmetrie 
Kompositionen,  von  der  auch  die  Prosaiker  bisAveilen  reden. <^)  Claudian 
liebt  es,  daß  geAvisse  Abschnitte  in  seinen  Gedichten  dekadisch  just  100,  auch 
just  10,  just  30  oder  40  Verse  umfassen,  und  so  enthält  auch  das  Proöm  der 
Ciris  genau  100  Zeilen; 7)  ebenso  hundertzeilig  das  Proöm  im  dritten  Buch 
der  Ars  amatoria  Ovids.  Dabei  stellt  sich  dann  Aveiter  mehrfach  auch  eine 
Entsprechung  der  Teile  ein,  die  nicht  immer  auf  Zufall  beruhen  kann.*) 
Nur  darf  man  solcli  Zahlenschema  nicht  zur  Forderung  erheben  und  da 
suchen,  aa^o  es  sich  nicht  findet  (oben  S.  147).  Für  Theokrits  achtes 
Idyll  stellt  sich  z.  B.  folgendes  Schema  heraus:  Einleitung  32  Verse; 
erster  AVettgesang  der  Hirten  28  Verse,  dazu  4  A^erlorene  Verse,  gibt 
wieder  32;  endlich  zAveiter  Wettgesang  20  Verse;  nimmt  man  dazu  den 
Schluß  des  Gedichtes  mit  12  Versen,  so  gibt  das  abermals  32.  Es  ver- 
lohnt immerhin,  derartiges  Avahrzunehmen.  Neuerdings  hat  Arthur  Lud- 
wich auch  für  den  Bau  der  homerischen  Hymnen  einen  Zahlenschema-  Home- 
tismus  A^ermutet,  auf  den  ihre  Komposition  sich  wesentlich  gründen  soll.  Hymnea 
Der  Hermeshymnus  enthält  580  Hexameter,  die  durch  10  und  auch  durch  4 
teilbar  sind;  dies  sollen  für  Gott  Hermes  selbst  bedeutsame  Zalilen  sein, 
da  A^or  der  Geburt  die  Mutter  ihn  zehn  Monate  unter  dem  Herzen  trug 
imd  er  dann  am  vierten  Tage  des  Monats  geboren  Avurde;  der  Apollo- 
hymnus aber  ist,  unzerlegt,  durch  7  teilbar,  und  Apoll  AA^ar  AAdederum  am 
siebten  Monatstage  geboren.  9)  Es  mag  sein,  daß  die  frommen  Dichter 
mit  solchen  „sakralen  Zahlen '^  Avirklich  ihr  geheimes  Spiel  trieben.  Hier 
aber   Avirklich  Strophen    zu  je   zehn    oder  je  sieben  Versen   herzustellen. 


^)  Vgl.HERCHER,  Epistolographi  graeci 
S.  1—16. 

2)  Demetrius  Tieoi  so/u.  223. 

3)  Mythographisch  in  Ovids  Heroides. 
■*)  Für  diesen  Gegenstand  ist  H.  Peter, 


dor  1,  41;  Plutarch  Consol.  ad  Apollon. 
S.  114  C. 

')  Siehe  ed.  Olaudiani   p.  CCXVIII  f. 

8)  Auch  im  Catullgedicht  64 ;  s.  Ehein. 
Mus.  50  S.  51  Anm.:   auch  in  Horaz'  Ars 


Der  Brief  in  der  römischen  Litteratur,  zu   i    poetica;  s.  A.  Dieterich,  Pulcinella  S.  285 


vergleichen:  Abhandl.d.sächs.GW.  Bd. 47, 
1903,  Nr.  III. 

5)  Vgl.  Tyrrell  and  Purser,  Cor- 
respondence  etc.  in  5  Bänden. 

*)  agf/ovia  oder  or/if^tstgia  xov  koyav  Dio- 


U.290;  auch  in  der  Ciris;  die  Bede  v.  224 ff. 
und  die  Antwort  \^  257  ff.  geben  dortselbst 
je  26  Verse  (Bücheier). 

*)  A.  LuDAViCH,  Homerischer  Hymnen- 
bau, Leipzig  1908. 


182 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Horaz 
Odo  1  18 


wäre  vergeblich,  da  ja  Strophenscliluß  und  Satzende  vielfach  gar  nicht  zu- 
sammenfallen würde;  in  xaTo.  oxiyov  abgefaßten  Gedichten  kann  aber  nur 
der  Satzschluß  den  Strophenschluß  anzeigen.  Es  kommt  hinzu,  daß  eine 
Strophe  von  einer  Länge  von  zehn  Hexametern  musikalisch  schwer  vor- 
stellbar, ja,  gradezu  ein  Unding  scheint,  i) 
Argumenta  Evidcut  ist   dagegen  wieder   ein  anderes  Zahlenspiel,   das  Klotz   an 

den  argumenta  zu  den  römischen  Dichtern  wahrnahm;  die  argumenta  zu 
den  Büchern  des  Lucan  haben  stets  zehn  Zeilen,  deshalb,  weil  von  Lucan 
zehn  Bücher  existieren,  die  zu  Statins'  Thebais  haben  je  zwölf  Zeilen, 
weil  die  Thebais  zwölf  Bücher  hat.«) 

Dies  führt  auf  die  „caimina  figurata",  jene  Künsteleien,  die  da  im 
Schriftbild  ihrer  Verse  die  Figur  einer  Syrinx  oder  eines  Flügels  nach- 
ahmten. 3)  Sollen  und  dürfen  wir  weitergehen?  Die  Horazode  I  18  Niillam 
Vare  sacra  vite  prius  eqs.  besteht  aus  16  Zeilen,  die  Zeile  aber  just  aus 
16  Silben.  Das  Gedicht  gibt  somit  gradezu  ein  Quadrat,  da  es  gleichsam 
16  Silben  Höhe  und  16  Silben  Breite  hat.  Denn  man  maß  die  Schrift- 
zeilen nach  Silben,  nicht  nach  Buchstaben.  Sehr  ähnlich  steht  es  auch 
mit  Claudians  drittem  Fescenninum,  das  eine  zwölf  silbige  Zeile  just  zwölf- 
mal bringt.  Hier  betreten  Avir  den  schlüpfrigsten  Boden,  und  die  Kom- 
bination droht  zur  öden  Spielerei  zu  werden. 

10.  Drama. 

Beim  Drama  tritt  an  den  Interpreten,  der  seiner  Pflicht  voll  genügen 
will,  eine  Fülle  von  Anforderungen  heran.  An  einschlägigen  tiefdringenden 
Vorstudien  und  Detailarbeiten  fehlt  es  nicht,  doch  brauchen  und  vermissen 
wir  immer  noch  bis  heute  eine  moderne  Dramaturgie  des  antiken  griechisch- 
römischen Kunstdramas,  die  das  Ganze  umfaßt,  und  nur  ein  Mann,  dei" 
zugleich  Philologe  und  Künstler  ist,  würde  sie  uns  angemessen  geben 
können.  Die  aufzuwerfenden  Fragen  betreffen  Ausstattung,  Vortrags- 
weise, Führung  der  Handlung,  Effekt  des  Ganzen.  Genauer  genommen 
ist  über  Folgendes  zu  handeln,  wobei  ich  besonders  auf  das  attische  Drama 
des  5.  Jahrhunderts  acht  gebe.  Es  versteht  sich,  daß  ich  hier,  wie  immer, 
nui"  die  Auf  gäbest  eilungen  vorführen  kann,  in  der  Beispielgebung  mich 
noch  mehr  als  sonst  werde  beschränken  müssen. 
Anforde-  a)  Schou   dic   Spielgelegenheiten,    an   den   Lenaeen   und    großen 

"*"spSi-  ^^  Dionjsien,    hatten   auf   den   Inhalt   der   vStücke    einen    gcAvissen   Einfluß. 

Gelegenheit  j)gj^j^  nur  ZU  den  großen  Dionysien  im  Früliling  strömte  das  Pubhkum 
aus  ganz  Griechenland  herbei,  und  die  Komiker  hatten  daher  die  groben 
Scherze,  die  sie  im  Winter  an  den  Lenaeen  gegen  Athen  und  die  Athener 
richten  durften,*)  an  den  Dionysien  zu  vermeiden.  Der  Umstand  aber, 
daß  A^on  den  Tragödien  an  jedem  Spieltag  eine  Trilogie  nebst  Satyrspiel 
zur  Darstellung  kam,  bedingte  die  verhältnismäßige  Kürze  der  ein- 
zelnen Stücke.  Dabei  stellte  sich  die  Prometheustrilogie  Avie  ein  ein- 
ziges Drama  in  drei  gewaltigen  Akten  dar.    Sonst  pflegte  dagegen  jedes 


*)  In  den  „Aeschylea"  1909  und 
„Aeschylea  et  Aristophanea"  1912  hat 
Lud  WICH  die  Betrachtung  dieses  heiligen 
Zahlenspuks   auch  auf  v^eschylus  (Eume- 


niden)  und  Aristophanes  ausgedehnt. 

2)  Arch.  f.  Lex.  1908,  S.  270  f. 

3)  Hierüber  „Buchrolle"  S.  286. 
*)  Siehe  Acharn.  504. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      183 

Stück  der  Trilogie  in  sich  abgesclilossen  zu  sein  und  mit  seiner  „Fabel"  für 
sich  zu  stehn.  Man  muß  sich  also  gegenwärtig  halten,  daß  der  scheinbar 
unauslöschhche  Eindruck  der  Medea  des  Euripides  durch  ein  unmittelbar 
ilarauf  folgendes  Stück  von  ganz  abweichendem  Sujet  stark  gedrückt  wurde. 
Darum  scheint  es  auch,  daß  für  das  dritte  Stück  die  stärksten,  sinnfälligen 
P]ffekte  gesucht  wurden;  dies  zeigt  uns  der  Chor  der  Eumeniden. 

b)  Die  Handlung  zerfällt  in  Akte,  Epeisodien.  Die  Chorlieder,  ur-  Akte 
s[)rüngUcli  das  Wesentlichste,  sanken  bald  zur  Zwischenaktsausfüllung  mit 
Tanzreigen  und  Intermezzo  meist  ohne  Handlung  herab.  Jedes  Drama 
zerfällt  also  in  Prolog  (dieser  fehlt  noch  in  den  ältesten  Sachen),  Einzugs- 
lied (Parodos);  danach  die  Epeisodien  oder  Sprechszenen  der  Histrionen, 
verschieden  an  Zahl  und  durch  Lieder  des  in  der  Orchestra  verharrenden 
Chors,  Stasima,  unterbrochen;  endlich  die  Exodos.  Wo  der  Chor  in  der 
Tragödie  felilt,  wie  in  Senecas  Phoenissen,  muß  er  im  Text  ausgefallen 
sein;    oder   das  Drama   liegt   uns   in   unfertigem  Zustand  vor.     Die  Zahl 

der  Epeisodien  scliAvankt  zwischen  drei  (x4.jax)  und  acht  (Frösche).  Seit- 
dem die  alte  Komödie  iln^en  reich  ausgestatteten  Chor  verloren,  trat  bei 
ihr  eine  gleichgültige  Zwischenaktsmusik  ohne  Tanz  ein,  die  von  ein  paar 
Sängern  zur  Flöte  geliefert  wurde.  Ein  xM/iog  unterbricht  die  Handlung; 
Plautus  zeigt  das  einmal  selbst  an,  Bacch.  107. i)  Im  Menandertext  steht 
an  den  betreffenden  Stellen  xoqov  vermerkt.  2)  Diese  Vermerke  fehlen 
leider  im  Plautus-  und  Terenztext,  und  daher  macht  seine  Akteinteilung 
ScliAvierigkeiten  bis  heute.  Schon  Varros  verlorene  Schrift  „De  actibus" 
beschäftigte  sich  augenscheinlich  damit.  Daß  Varro  fünf  Akte  forderte, 
ist  unerwiesen.  Seneca  hat  an  eine  solche  Einteilung  seiner  Tragödien 
sicher  noch  nicht  gedacht.  Erst  die  späten  Terenzerklärer  Donat  und 
Euanthius  geben  uns  Winke,  zeigen  aber  zugleich  ihre  Unsicherheit  in 
dieser  Frage.  3)  Auf  Grund  hiervon  ist  erst  im  16.  Jahrhundert  die  Ein- 
teilimg  in  fünf  Akte  im  Terenz  eingeführt  worden,  die  wdr  heute  vor- 
finden, die  aber  gar  keine  Gewähr  hat.  Viel  glaublicher  scheint  eine 
solche  in  drei,  die  sogar  für  den  Heautontimorumenos  sicher  steht  (Ein- 
schnitte nach  V.  409  und  873),  für  die  Andria  höchst  wahrscheinlich  ist 
(Einschnitte  nach  v.  300  und  819).*) 

c)  Einrichtung  der  Bühne.     Wo  standen  Schauspieler  und  Chor?  Szeuisches 
Leider  hatten  die  antiken  Texte  keine  Szenarien  und  Bühnenanweisungen, 

€S  sei  denn  ein  ävavevei,  emvevsiy  Aristoph.  Acharn.  113  f.,^)  und  wir  sind 
für  diese  Fragen  auf  mühsame  Kombinationen  angewiesen.  Was  uns 
Euripides'  Orest  und  Sophokles'  Ajax  zeigen,  daß  Chor  und  Schauspieler 
miteinander  in  nächste  Berührung  kommen  konnten,  das  hat  auch  noch 
sonst  vielfach  gegolten.    Gleichwohl  stand  der  Schauspieler  oft  hoch  (oben 

1)  Die  Worte  sind:  simul  huic  nescio  *)  Vgl.  die  nützliche  Darlegung  von 
(■Kl  tiü'hae  quae  huc  ü,  decedamus;  vgl.  Leo,  H.  Keym,  De  fabulis  Terenti  in  actus 
Hermes  46  S.  292  f.  dividendis,  Gießen  1911. 

2)  Dies  yoQov  auch  in  einem  Papyrus-  ^)  Solche  jiaQsmyQuq^ai  erwähnt  das 
lest  aus  dem  2.  Jahrh.  v.  Chr. :  s.  Bulletin  1  Heliodoreische  Scholion  zu  Aristoph.  Ach. 
de  corresp.  hellen.  1906  S.  103 f.  Uebrigens  ;  Einleitung,  wo  erhellt,  daß  dieselben 
E.  Bethe,  Ber.  der  säclis.  GW.  Bd.  LX  !  bei  der  Stichenzählung  nicht  mitgezählt 
(1908):  Der  Chor  bei  Menander.  I   werden. 

3)  Siehe  z.B.Donatp.38ed.WESSXER.  ' 


1^4  Kritik  und  Hermeneutik. 

S.  114 — 116).  Aus  dieser  Nähe,  in  der  sich  die  Personen  des  Stückes  zum 
Chore  befanden,  muß  sich  ferner  erldären,  daß  die  späterhin  bei  Plautus 
so  häufigen,  ob  unbelauschten,  ob  belauschten  Seitengespräche  in  den 
Dramen  des  5.  Jahrhunderts  noch  fehlen.  Wie  aber  war  sodann  der  Fels 
aufgebaut,  an  den  Aeschylus  den  Prometheus  schmiedet?  wie  stand  es 
mit  der  Wanderkulisse  am  Anfang  der  Frösche?  Gab  es  schon  einen 
Vorhang,  der  die  szenischen  Vorbereitungen  dem  Publikum  verdeckte? 
Warum  stirbt  im  attischen  Drama  außer  Alkestis  und  Hippolytos  kein 
Held  auf  der  Bühne ?i)  warum  tötet  Herakles  seine  Kinder  im  Haus?  und 
warum  verfährt  Seneca  in  solchen  Fällen  anders?  Dies  muß  mit  sehr 
äußerlichen  Dingen  zusammenhängen  und  führt  scliließlich  auf  Kostüm- 
fragen und  Verwandtes.*) 
Zahia.T.n-  ^\  j^^q\^    ^uf   die  Zahl   der  Schauspieler   und  der  Chorsänpfer   ist 

lung  des  '  ^  .  ^  o 

Personals  acht  ZU  geben.  3)  Kommt  Aeschylus  in  den  Septem  noch  mit  seinen  zwei 
Schauspielern  aus?  Wie  verteilen  sich  z.  B.  im  Oedipus  Rex  die  acht  Rollen 
auf  die  drei  Histrionen?  Warum  bevorzugt  Euripides  in  der  Alkestis 
Männer  als  Choreuten,  während  sonst  Frauen  zumeist  bei  ihm  den  Chor 
bilden?  Bestand  der  Chor  in  des  Aeschylus  Hiketiden  (d.  i.  Danaiden) 
wirklich  aus  fünfzig  (oder  gar  hundert)  Personen,  wie  die  Fabel  es  an  die 
Hand  gibt?  Der  Chor  der  Komödie  teilte  sich  nachweislich  in  Chor  und 
Gegenchor  (drrot>^/));  stand  es  in  den  Tragödien  überall  oder  auch  nur  bis- 
weilen ebenso,  und  wie  läßt  sich  in  ihnen  diese  Teilung  des  Chorpersonals 
alsdann  auf  den  Text  anwenden?  Der  Versuch,  dies  festzustellen,  muß  in 
den  meisten  Fällen  scheitern.  Denn  selten  ist  die  vSachlage  so  deutlich, 
wie  in  der  Alkestis.  Daß  oftmals  die  einzelnen  Choreuten  sich  einander 
anreden  oder  ansingen,  steht  fest.  Dagegen  dient  die  Annahme,  daß  in 
der  Tragödie  Halbchöre,  also  auf  beiden  Seiten  je  sechs  oder  sieben 
Stimmen  zusammen,  sangen,  nirgends  zum  Verständnis  des  Textes  der 
Chorgesänge. 

Gesang  u.  ^  Dics   führt   auf   die   Art   des  Vortrags   überhaupt.     Der   Schau- 

spieler spricht  nicht  nur,  sondern  er  singt  auch;  er  war  auch  Virtuose  im 
Gesang,  und  zwar  singt  er  entweder  im  Z  wiegesang  des  Kommos  mit  dem 
Chore  oder  monodisch,  Monodien,  die  sich  in  den  jüngeren  Tragödien 
aus  stropliischer  Anordnung  mehr  und  mehr  zum  änokElv fievov  entwickeln. 
Vor  allem  aber  verändert  sich  die  Funktion  des  Chorliedes  im  Drama  im 
Verlauf  der  Zeit  wesentlich,  so  auch  seine  Versmaße.  Mit  der  Betrach- 
tung der  Versmaße  hängt  femer  die  Frage  nach  der  Musik,  nach  den 
Tonarten,  nach  den  Tanzfiguren  zusammen.  Von  der  evjueXeia,  dem  feier- 
lich ruhigen  Chortanz  der  Tragödie,  unterscheiden  sich  xögda^  und  oixtvviQy 
der  y.öoda^  der  Komödie,  die  oixivvig  im  Satyrspiel.  Die  attische  Tragödie 
gleicht  dem  Oratorium,  aber  einem  solchen  mit  beweglichen  Solisten  und 
Chorpersonal.*) 

1)  Wie  ein  Motto   hierzu   klingt   das       Neue  Jahrbb.  Bd.  27  S.  339  f. 
^  yoLQ  oyug  ov  jidga   im  Oedipus  Eex  1238.    j  '■^)  Kelley  Rees,   The   so-calJed  ruie 

*)  Aristoteles'  Poetik  cap.  11, 6  spricht   |   of   three   actors    in    the    classical    Greek 


nur  vom  Sterben,  nicht  von  Tötungen  auf 
offener  Bühne.  Wir  können  solche  nir- 
gends   nachweisen  außer  bei   Seneca;    s. 


drama  (Dissertat.),  Chicago  1908,  gelangt 
zu  falschen  Schlußfolgerungen. 

*)  Vgl.  neuerdings  0.  Conradt,    Die 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteratur werke,      185 

Auf  diese  technischen  Erörterungen   folgen   solche   der  dichterischen 
Konzeption.     Es  handelt  sich 

f)  um  die  Wahl  des  Stoffes,  die,  wie  jeder  sieht  und  auch  Aiisto-  stoffwahi. 
teles  sah,  das  Wichtigste  ist.  Aktuell  historische  Stoffe  (wie  die  Perser)  "^^^^ 
wurden  in  der  Tragödie  deshalb  nicht  beliebt,  weil  zu  ihrem  Wesen  die 
Wehklage,  der  xo^ijudg  oder  &Qi]vog,  gehört  (in  Sikyon  wurden  schon  früh 
die  jidd)]  des  Adrast  dargestellt,  Herodot  5,  67),  und  man  solch  Wehklagen 
über  Angelegenheiten  des  Vaterlandes  und  Erlebnisse  der  nächsten  Gegen- 
wart nicht  ertrug.  Die  wirksamsten  heroischen  Stoffe  entnahm  man  nicht 
dem  echten  Homer,  sondern  dem  sogenannten  epischen  Zyklus  in  Er- 
gänzung Homers.  Der  Stoff  wird  alsdann  aber  frei  umgestaltet  und  an 
Figuren  bereichert.  Das  Streben  geht  natürlich  ferner  zumeist  dahin, 
Neues  zu  bringen  und  das  Repertoir  zu  bereichern,  doch  greifen  die 
tragischen  Dichter  öfters  auch  in  Konkurrenz  zu  demselben  Stoff.  Hier- 
für sind  die  drei  erhaltenen  Elektren  ein  lehrreiches  Beispiel;  wer  sie 
unter  sich  vergleicht,  lernt  die  ArbeitsAveise  der  Tragiker  auf  das  beste 
unterscheiden.  So  halte  man  die  Medea,  den  Oedipus,  den  Hercules 
furens  des  Seneca  neben  seine  griechischen  Vorbilder.  Wenn  nach  dem 
Tode  des  Sophokles  und  Euripides  die  tragische  Dichtimg  Athens,  wie 
auch  Aristoteles  Poetik  c.  14  uns  bezeugt,  i)  sich  immer  mehr  auf  die  Be- 
handlung weniger  Stoffe  beschränkte,  so  ist  darin  ein  Erlahmen  der 
schöpferischen  Phantasie,  ein  Rückgang  der  Dichtkunst  zu  erblicken.  Es 
siegt  der  Trieb  zu  virtuosenhafter  Ausmalung  bekannter  Situationen. 

Wichtiger  noch  als  auf  dem  besprochenen  Gebiet  ist  der  Wechsel  in  Komödie 
der  AVahl  der  Stoffe  auf  dem  Gebiet  der  Komödie.  Denn  die  Geschichte 
und  Umwandlung  der  Komödie  aus  der  aQxaia  in  die  fieorj  und  vea  be- 
ruht gradezu  auf  diesem  Wechsel.  Die  Komödie  muß  stets  Neues  bringen, 
die  Tragödie  nicht.*)  Ein  Menander  konnte  keine  „Ritter"  mehr  schreiben, 
aber  auch  die  Parodien  und  sonstigen  Spezialitäten  der  fueor}  lagen  hinter 
ihm.  Darin  aber  blieb  das  Lustspiel  sich  gleich,  daß  es  seine  Fabel,  ihr 
Gerüst,  sei  es  noch  so  lose,  stets  frei  erfindet,  während  die  tragische  Kunst 
ihren  Gegenstand  prinzipiell  aus  der  Hüstorie,  d.  h.  aus  der  Mjthographie 
entlehnt.  Immerhin  nähern  sich  dabei  einige  Tragödien,  wie  Helena  und 
Ion,  der  freien  Erfindung  der  Komödie. 

e:)  Ein  erstes  Erfordernis  für  die  Gestaltunp:  des  Stoffes  ist  die  Ein-   i^^inheit- 

.  .  .  .  liclikeit  der 

heitlichkeit  der  Handlung.  Nur  ein  Aristophanes  weiß  davon  noch  Handlung 
wenig;  denn  die  alte  Komödie  ist  Posse  und  di-amaturgisch  nahezu  gesetz- 
los, besonders  im  Schlußteil,  nach  dem  Agon.»)  Auch  der  Agon  ist  nicht 
ständig,  also  für  die  Komödie  nicht  einmal  Avesentlich.  Stücke  wie  die 
Vespen,  Wolken  und  Frösche  zerfallen  in  zwei  nur  sehr  lose  verknüpfte 
Teile,  und  auch  mit  den  Dramen  eines  Antiphanes  und  Alexis  stand  es 
wohl  oft  nicht  viel  besser. 


Grundlagen    dor    griechischen    Orchestik  I  gegenseitig  korrigieren,  von  Th.Zielixski, 

und  Rhj^thmik,  1909;    dazu  Berliner  phil.  '  Die  Gliederung  der  altattischen  Komödie, 

W.schr.  31  S.  1291.  j  Petersburg  1885;    J.  Poppelreuter,   De 

*)  Vgl.  Stemplinger  a.  a.  O.  S.  141.  j  comoediae    Att.  primordiis,    Berlin    1893; 

2)  Vgl.  Stemplinger  S.  138.  I  W.  Süss.  Rhein.  Mus.  63  S.  12  ff. 

')  Lehrreich    die   Arbeiten,    die    sich 


18ß  Kritik  und  Hermeneutik. 

Wohl  aber  hat  die  vea  jene  dramatm-gische  Forderung  von  der  Tra- 
gödie geerbt  und  treu  übernommen.  Denn  der  Tragödie  erstes  Erfordernis 
ist  eben  die  Einheitlichkeit  ihrer  Handlung.  Es  ist  nun  also  Ungeschick 
des  Dichters,  Avenn  sein  AVerk  so  in  zwei  Handlungen  auseinanderfällt 
wie  Euripides'  Herakles;  auch  desselben  Hekabe  und  Andromache  sind 
daraufhin  anzusehn.  Aber  auch  Plautus  verfehlt  es  gelegentlich  darin: 
ich  nenne  seinen  Miles  und  Stichus.  Im  Miles  kann  man  diesen  Mangel 
auf  ungeschickte  Kontamination  zweier  Vorlagen  zurückführen,  im  Stichus 
gewiß  nicht. 
Episodo  Ijj^  solchen  Fällen  haben  wir  zwei  Handlungen  statt  einer.    Ein  anderer 

Fehler,  der  störend  zu  wirken  scliien,  war  die  Episode,  die  nur  dem  Epos 
zusteht.  So  wurde  die  Teichoskopie  in  des  Euripides  vielbewunderten 
Phoenissen  als  störende  Episode  empfunden.  Aristoteles  tadelt  sogar  die 
Aegeusszene  in  der  Medea,  obgleich  sie  für  das  Drama  nicht  entbehrhch 
ist,  dessen  Schlui^wendung,  Medeas  Übersiedelung  nach  Athen,  durch  sie 
motiviert  wird.i) 

jtaQEKßaaiq  Vou  dicscr  Episodc  ist  dann  wieder  die  Gesprächsabschweifung, 
iraQey.ßaoig,  zu  unterscheiden,  die  bei  Plautus  als  Dialog,  mehr  noch  als 
Monolog  und  als  Canticum  die  Handlung  überall  staut  und  aufhält.  Diese 
Einlagen  hat  offenbar  Naevius  ebenso  gehabt,  der  sie  zu  seinen  polemischen 
Ausfällen  benutzt  haben  muß.  Ein  frühestes  krasses  Beispiel  dafür  sind 
die  aristippischen  Betrachtungen  über  Lebenskunst  im  Miles  v.  629  ff.  2) 
Wie  lax  ist  noch  diese  dramaturgische  Technik!  Man  wird  darin  eine 
Nachwirkung  der  jueot]  zu  erblicken  haben.  Terenz  beseitigt  sie  radikal; 
er  gibt  uns  den  echten  Stil  Menanders. 

Exposition  1^^  j)[q   Exposition   der  Vorgeschichte   gibt  im   Drama   der  Prolog 

(wo  er  fehlt,  die  Parodos).  Dieser  Prolog  wird  oft  wirkungsvoll  als  Dialog- 
szene gestaltet  (z.  B.  Prometheus,  Ajax,  Alkestis);^)  Euiipides  aber  wan- 
delte ilin  zumeist  in  einen  ans  Publikum,  gerichteten  Vorbericht  um, 
wodm'ch  es  ihm  gelang,  die  Jiddi]  der  erlebenden  Personen  hernach  um 
so  gesammelter  und  kondensierter  vorführen  zu  können.  Diese  Art  der 
Exposition,  die  auf  alle  Illusion  verzichtet,  übernahm'  alsdann  die  neuere 
Komödie,  und  erst  Terenz  befreite  sich  von  ihr.*)  Ihre  Erklärung  aber 
findet  sie  in  dem  Umstand,  daß  Theaterzettel  zm-  Orientierung  des  Pubh- 
kimis  fehlten.     Ebendeshalb   hält   der  Dichter  0)   auch  darauf,    daß,    wenn 

Auftreten  Personcu  ncu  auftreten,  sie  von  einem  der  Mitspieler  sofort  deutlich  mit 

rersonen  Namou  angcrcdct  werden,  damit  die  Zuschauer  gleich  erfahren,  Aver  es  ist, 
der  da  erscheint.  Dabei  ist  dies  Auftreten  der  Personen  selbst  oft  recht 
naiv  veranstaltet  und  mangelhaft  motiviert.  Wir  sehen  es  oft  nicht  ein, 
weshalb  die  Leut«  eben  jetzt  gewandelt  kommen  oder  ihr  Haus  verlassen. 
Denn  das  müssen  sie  auf  aUe  Fälle,  kein  Drama  spielt  im  Hausinnern.«) 

^)  Ueber  den  Zweck  der  Aegeusszene  *)  Terenz  hat  die  ihm  eigentümliche 

WiLAMOWiTZ,  Hermes  15  S.  481  f.:  H.  D.  1  Prologform  freilich  nicht  selbst  erfunden: 
Naylor,  Olassical  Eeview  Bd.  23  S.  189  f.   |   s.  Reitzenstein,  Hermes  Bd.  35  S.  625  f. 

^)  Freilich  nicht  die  neuere  Komödie. 

^)  Auch  nicht   die  Kindbettszene  im 

Truculentus,    die   Toilettenszene    in    der 

Komödie  s.  W.  Süss,  Rhein.  Mus.  63  S.  13.      Mostellaria  u.  ähnl.  Plautus  ließ  derartiges 


'^)   Ygl.   F.  Ranke,    Periplecomenus 
Marburg  1900,  S.  65  ff. 

^)    Ueber    den    Prolog    in    der    alten 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.       187 

i)  Nach  dem  Urteil  des  Aristoteles  sind  nächst  der  Fabel  das  Zweit-  charakter- 
wichtigste im  Drama  die  Charaktere,  rd  ij&i].  Ihre  Darstellung  ist  aber  '^"*^*"""^ 
speziell  die  ProAanz  der  Komödie ;  denn  nur  die  Komödie  bringt  detaillierte 
Charakterdurchführimgen,  Charakterstudien,  indem  sie  den  Typus  des 
Renommisten,  des  Geizigen  etc.  auf  das  sorgfältigste  schildert.  Oft  tritt 
dabei  auch  eine  ethische  Entwickelmig,  eine  Bessei-ung  oder  Belehrung 
des  verkehrt  gerichteten  Menschen,  wie  in  der  Aulularia,  im  Trinummus,  in 
den  Adolphen,  oder  die  Reue  der  Jünglinge  ein,  wie  in  den  Epitrepontes. 
Im  Gegensatz  hierzu  gibt  die  Tragödie  7id§rj,  nicht  ri§ri  (Phaedra  erliegt 
ihrem  jid&og  u.  s.  f.),  imd  sie  kennt  von  Charakteren  nur  wenige  Nuancen, 
wie  den  Mutigen  und  Zaghaften  (Antigene,  Ismene),  den  Redlichen  und 
Durchtriebenen  (Neoptolemos  und  Odysseus),  den  Keuschen  (Hippolytos), 
Trotzigen  (Kreon),  bösartig  Frechen  (IGytämestra),  den  Rachsüchtigen 
(Medea).  Erst  Euripides  zeichnet  die  Figuren  ab  und  zu  mehr  komödien- 
haft, ja,  genrehaft,  wie  den  Ion  und  die  Iphigenie  in  Aulis.  So  unter- 
nimmt Euripides  es  aber  ferner  auch  schon,  die  Charaktere  unter  dem 
Einfluß  ihrer  Erlebnisse  sich  entAvickeln  zu  lassen,  aber  dies  geschieht 
noch  tastend  und  ungeschickt,  wie  gleich  dieselbe  Iphigenie  uns  zeigt.. 
Der  Umschlag  darf  nicht  so  unA^ermittelt  und  sprunghaft  kommen,  Avie 
es  hier  geschieht,  wo  die  Titelheldin  anfangs  als  schüchterne  Jungfrau, 
dann  plötzlich  als  großherzige  Heroine  erscheint. 

Ein  wichtiges  Hilfsmittel  für  die  Charakterzeichnung  ist  der  Monolog.  Monolog 
Eine  Geschichte  des  Monologs  hat  F.Leo  gegeben;!)  ich  kann  hier  nicht  ver- 
suchen, sie  zu  vertiefen.  Wir  haben  dabei  das  Ins-Publikimn-sprechen  des 
Schauspielers  vom  eigentUchen  Selbstgespräch  sorglich  zu  unterscheiden. 
vSolch  lautes  Selbstgespräch,  in  dem  die  Person  ihr  eigenes  Gemüt  anredet, 
ja,  sich  gelegentlich  selbst  TÄt  Namen  anruft,  hält  bei  uns  Nordländern  Adel- 
leicht  nur  der  Trunkene ;  die  südlichen  Völker  sind  lebhafter,  und  man  kann 
es  da  zu  seinem  Staunen  auch  von  durchaus  nüchternen  Leuten  in  aus- 
gedehntem Maße  hören.  Daß  das  auch  in  jenen  alten  Zeiten  so  war,  be- 
zeugt z.  B.  Lucian  im  Anfang  des  Ikaromenippos,  wo  Menippos  zu  sich 
selbst  spricht:  „Dreitausend  Stadien  Avaren  es  also  von  der  Erde  bis  zum 
Mond,  imgefähr  hundertfünf zigtausend  bis  zm-  Sonne"  u.  s.  f.  und  ein 
Bekannter  auf  der  Straße  ihn  interpelliert:  „Was  treibst  du  da  für  Astro- 
nomie? Ich  gehe  schon  lange  hinter  dir  her."  Darauf  A^ersetzt  Menipp: 
„Wundere  dich  nicht;  ich  überschlage  bei  mir  selbst  das  Avichtigste  Er- 
gebnis meiner  letzten  Reise":  TZQog  e/uaindv  XoyiCojum.  Ganz  so  Medea. 
Die  Amme  in  der  Medea  des  Euripides  sagi  v.  31  ausdilicklich,  daß  ihre 
Herrin,  avo  sie  allein  ist,  avri]  Jigög  avrrjv  sich  in  lauten  Klagen  zu  ergehen 
pfleg-t.  Damit  ist  die  Formel  gegeben.  Medea  selbst  ist  die  Adresse 
ihrer  Worte.  So  beginnt  das  Selbstgespräch  denn  auch  schon  im  home- 
rischen Epos  und  blieb  im  Epos,  ja,  auch  in  der  Geschichtschreibung  und 


in  lustiger  Naivität  vor  dem  Haus  ab- 
spielen (s.  Zur  Kulturgeschichte  Eoms" 
S.  41).  Die  Annahme,  der  Bühnenhinter- 
grund habe  bei  Plautus  Einblick  ins  Haus- 
innere gewährt,  hilft  zu  nichts :  denn  Ein- 
blick in  das  zurückliegende  Schlafgemach 


der    Frauen    konnte    er    keinesfalls    ge- 
währen. 

1)  Abhandl.  der  Göttinger  GW.  Bd.  10 
Nr.  5.  Eine  Vertiefung  ist  möglich  und  not- 
wendig. Vor  allem  fehlt  bei  Leo  ganz  Sokra- 
tes  und  alles,  was  mit  ihm  zusammenhängt. 


2^38  Kritik  und  Hermeneutik. 

im  E-oman  ein  beliebtes  E-equisit  der  Dichter  und  Referenten.  Daher 
aber  auch  die  Monodie  des  Kyklops  bei  Tlieokrit,  daher  die  Selbstanreden 
Catulls.  Auch  manche  Elegien,  auch  Gedichte  der  äolischen  Lyrik  {^niserarum 
est  neqiie  amori,  ejus  deiXav  ejtie  icaoäv)  sind  hieraus  entwickelt  und  stellen 
sich  als  Monologe  dessen  dar,  der  sich  einsam  glaubt,  i)  Der  Theater- 
monolog stammt  somit  aus  dem  Leben. 

Sprach-  ^A  j)^^  Dritte   an  Wichtip:keit   ist  im   Drama   nach   der   verständnis- 

vollen  Anordnung  des  Aristoteles  die  Diktion.  Auch  hierüber  nur  ganz 
Weniges.  Die  Diktion  ist  natürlich  eine  andere  im  Dialog  als  im  Ge- 
sangsstück, aber  auch  in  den  Gesangsstücken  je  nach  der  Stimmung  ver- 
schieden (man  achte  nur  darauf,  wie  das  Epitheton  ornans  bald  gehäuft, 
bald  gemieden  wird).  Daß  sie  im  Dialog  auch  nach  der  Natur  des 
Sprechers  nuanciert  werde,  läßt  sich  im  ernsten  Drama  selten  beobachten, 
wie  etwa  bei  dem  Wächter  im  Agamemnon.  Leichter  hatte  es  hier  wieder- 
die  Komödie;  denn  sie  konnte  beliebige  Figuren  sogar  im  Dialekt  sprechen 
lassen  (Acharner,  Lysistrate)  oder  gar  ]>unisch  (Poenulus).  Sonst  war  es 
vor  allein  dem  Satyrspiel  vorbehalten,  durch  einen  drolligen  Kontrast  in 
der  Diktion  zu  wirken,  indem  die  Helden  im  Stück  erhaben,  die  Satyrn 
dagegen  gemein  und  plebejisch  sprachen. 2)  Etwas  anderes  ist  es  wiedei-, 
wenn  das  Lustspiel  heitere  AVirkungen  damit  erzielt,  daß  seine  Alltags- 
figuren auf  einmal  im  tragischen  Stil  zu  reden  anfangen:  so  die  Yäter, 
wenn  sie  von  der  Reise  kommen  und  die  Heimat  begrüßen.  Diese  paro- 
distischen  Scherze  sind  nicht  nur  im  Aristophanes,  sondern  auch  noch  im 
Plautus  an  zahlreichen  Stellen  zu  beobachten. 

^ny^h\ö  Zum  Kapitel  von  der  Diktion  gehört  auch  noch  die  Betrachtimg  dei- 

Stichomythie.  Es  ist  von  Interesse  zu  verfolgen,  wie  die  Gesprächs- 
form in  Satz  und  Gegensatz  zu  je  einem  Verse  sich  allmählich  und  ins- 
besondere bei  Sophokles  vom  steifen  Schematismus  befreit,  wie  dagegen 
Euripides  im  Dienst  sophistischer  Disputation  sie  schließlich  in  größerer 
Ausdehnung  wieder  einführt.  3) 
*^'hok"deT"  ^)  Erfindung  und  Plan  der  Stücke  ist  Aveiter  daraufhin  zu  prüfen,  ob 

Fabel  ihre  Fabel  einfach  oder  verwickelt  ist.  Eine  einfache  Fabel  haben 
die  meisten  Aeschylussachen,  des  Sophokles  Philoktet  ist  dagegen  z.  B. 
eine  jiejrleyjuevi],  da  zu  der  Intrigue,  die  sich  gegen  den  Titelhelden 
richtet,  der  Gegensatz  hinzukommt,  der  sich  zwischen  den  beiden  Unter- 
nehmern Odysseus  und  Neoptolemos  selbst  herausstellt.  Das  ist  schon 
durchaus  komödienhaft.  Und  die  Kompliziertheit  der  Handlung  steigert 
sich  dann  im  Lustspiel  zusehends  (Epidicus,  Bacchides,  Trinummus  etc.), 
worin  die  Römer  w^eiter  nachhalfen,  indem  sie  beim  Übersetzen  dazu 
griffen,  aus  zwei  griechischen  Stücken  eines  herzustellen  (daher  z.  B.  der 
zweite  Liebhaber  in  der  Andria).  Überall  aber  pflegt  doch  in  diesen 
Stücken  immer  nur  eine  Intrigue  zum  Austrag  zu  kommen.    Dies  ist  der 

*)  Siehe  Philolog.  63  S.436  ff.,  wo  ge-  sein    „Genius"    sein.     Es   entspricht  dem 

zeigt  ist,  daß  Catuil  dabei  sein  Icli  gradezu  |    öaifwviov  des  Sokrates. 

wiederholt   in   zwei  Personen   zerspaltet.  ^)  Vgl.  A.  Dieterich,  Pulcinella  S. 300. 

Dies  sein  zweites,  erleuchteteres  Ich,  das  1           ^}  Siehe  Ad.  G-ross,  Die  Stichomythie 

Catnll  da  von  seiner  Person  unterscheidet,  ■   in    der    griech.  Tragödie    und    Komödie, 

kann  nach  römischer  Art  zu   denken  nur  Berlin  1905. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      189 

(jrund,  weshalb  die  Asinaria  und  die  Casina  ein  besonderes  und  hohes 
dramaturgisches  Interesse  erwecken  müssen,  weil  sich  nämlich  in  ihnen 
auf  das  spannendste  Intrigue  gegen  Intrigue  richtet :  Doppelintrigue.  Aber 
auch  für  dies  Verfahren  gab  schon  Euripides  das  Muster  in  der  viel- 
bewegien  zAveiten  Iphigenie  und  in  der  Helena. 

m)  Die  Glückswende  im  Drama  heißt  Peripetie.  Sie  fehlt  nur  in  i*<^"potio 
wenigen  primitiven  Stücken.  In  der  Prometheustrilogie  kam  sie  erst  im 
zweiten  (resp.  dritten)  Stück.  Phrjaiichus  kannte  sie,  wie  es  scheint,  noch 
gar  nicht.  Denn  Aeschylus  ist  es  gewesen,  der  in  die  Tragödie,  die  vor- 
her nui'  Komm  OS  mit  umgebendem  satyrhaften  yeXoXov  war,  in  Nachahmung 
der  heiligen  Handlung  von  Eleusis  ein  eigentliches  d^äjua,  ein  ÖQMjuevovy 
einführte,  dessen  Ereignisse  dann  oft  naturgemäß  auch  zu  einer  Peripetie 
führten;  und  auch  die  heilige  Mysterienhandlung  von  Eleusis  —  der  Raub 
Persephones,  das  Suchen  der  Mutter,  das  Wiederfinden  —  verlief  selbst 
nicht  ohne  eine  solche.  Ihre  Erscheinungsarten  sind  mannigfaltig.  Entweder 
der  Ausbruch  der  Leidenschaft  selbst  führt  die  Peripetie  herbei  (Hippo- 
lytos)  oder  eine  äußerliche  Erkennung,  die  der  Zufall  mit  sich  bringt,  die 
ävayvwQioig  des  Ion,  aber  auch  der  Epitrepontes,  des  Rudens  und  anderer 
Komödien.  Auch  der  Oedipus  Rex  läßt  sich  hier  anreihen;  der  Atreus 
Senecas.  Oder  endlich  eine  Intrigue,  ein  Racheplan  ist  es,  der  gehngt 
\md  die  Entscheidung  gibt  (Elektra,  Helena,  auch  Trachinierinnen ;  vor 
allem  viele  Lustspiele).  Die  edlere  Tragödie  aber  zieht  es  vor,  die  Intrig-ue 
menschlicher  Arglist  vielmehr  mißlingen  zu  lassen,  und  ein  deus  ex  macliina 
muß  zum  Schlui3  eingreifen  und  alles  zum  Guten  wenden  (Philoktet; 
Iphig.  Taurica). 

n)  Hiernach  erhebt  sich  die  Interpretation  zu  der  letzten,  höchsten  idee  der 
und  (man  könnte  sagen)  verwegensten  Frage  nach  dem  Zw^eck  der  Er-  *°*  ""^ 
findung  oder  nach  der  Idee  der  Handlung.  Ein  interessanter  Stoff 
lockt  den  Dichter;  er  baut  ihn  auf.  Dabei  löst  sich  leicht  irgendein  Ge- 
meinplatz, eine  Grundwahrheit  aus,  für  die  das  vorliegende  Ereignis  nm* 
ein  Beispiel  ist.  Ist  dies  aber  überall  notwendig  der  Fall?  und  ist  sich 
der  Dichter  dessen  bewußt  gewesen?  Mit  dem  Begriff  „Schicksalstragödie" 
kommen  wdr  nicht  weit.  Die  Schicksalsidee  waltet  allerdings,  wo  es  sich 
um  Labdakiden  handelt,  bis  zum  Eteokles  hinab;  ebenso  der  Schuld-  und 
Sühnegedanke  in  der  Orestie,  und  in  diesen  Fällen  spricht  der  Dichter 
das  selbst  deutlich  genug  aus.  Denn  vor  allem  in  den  Chorpartien  finden 
wir  des  Dichters  eigene  Meditationen,  einen  Kommentar  zur  Handlung. 
xVuch  in  denDana'iden  des  Aeschylus  fanden  sich  ebenso  Schuld  und  Sühne. 
Innerlicher  und  moderner  und  sehr  glückhch  ist  diese  tragische  Idee  in 
der  Phaedragestalt  ausgetragen:  hier  ist  es  einmal  gelungen,  ohne  jeden 
Eingriff  göttlicher  Instanzen  zu  zeigen,  Avie  eine  Leidenschaft,  die  alle 
Grenzen  durchbricht,  den  Menschen  zerstört  und  sich  durch  sich  selber 
rächt.  Aber  schon  für  die  Medea  trifft  das  gleiche  nicht  zu;  denn  diese 
Kindsmörderin  überwindet  ihren  Mutterschmerz  durch  das  siegreiche  Ge- 
fühl gesättigter  Rache  und  fährt  stolz  davon:  ein  barbarischer  Übermensch. 
Vielbehandelt  ist  die  Antigene,  und  man  kann  sich  über  die  Grundidee  Anti-one 
des  Stückes  nicht  einen.    Staatsgesetz  und  Naturgesetz  im  Konflikt:  darum 


190  Kritik  und  Hermeneutik. 

handelt  es  sich  allerdings;  dies  Problem  griff  Sophokles  auf.  Aber  darin 
erschöpft  sich  nicht  der  Inhalt  des  Gegebenen.  Der  Chor,  der  so  oft  die 
Stinune  des  Dichters  ist,  verhält  sich  gegen  Antigone  kritisch  bis  zmn 
Ende  {vxprjXbv  eg  Aixag  ßd&gov  jtQooejieoeg  v.  854;  oe  d'  amoyvwrog  ojXeo' 
dgyd  v.  875).  Kreon  ist  der  überlebende,  und  Kreons  Trotz  wird  zum 
Schluß  zermalmt.  An  ihm  erfüllt  sich  das  Schicksal.  Das  Stück  ist  eine 
Tyrannentragödie. 

Hier  sei  es  mir  gestattet,  einmal  still  zu  stehn,  die  aphoristische  Auf- 
reihung, die  gleichsam  alles  nur  aus  der  Vogelschau  sieht  —  denn  auch 
über  die  Antigone  mußte  ich  so  flüchtig  hinAveggehn  — ,  zu  unterbrechen 
lind  bei  einem  anderen  Beispiel  eingehender  zu  verweilen.  Ich  denke 
Oedipus  an  den  König  Oedipus;  denn  jeder  wird  das  Yerlangen  fühlen,  die  Grund- 
meinung aufzudecken,  die  Sophokles  mit  dieser  merkwürdigen,  hinreißend 
grausigen  Dichtung  verbunden  hat.  Wirkt  doch  dieser  Oedipus  noch 
heute  als  das  Musterbeispiel  griechischer  tragischer  Kunst.  Dabei  knüpfe 
ich  an  die  Oedipusausgabe  von  Ewald  Bruhn  an,  die  in  viele  Hände  in 
Lehrer-  und  Studentenkreisen  kommt  und  auch  zu  kommen  verdient.  Die 
Idee  des  Dramas,  deren  Verständnis  wesentlich  von  der  Auslegung  des 
zweiten  Stasimons  v.  862  ff.  abhängt,  ist,  wie  mir  scheint,  von  Bruhn  nicht 
richtig  erfaßt  w^orden.  Nach  ihm  stünden  nämlich  die  Gedanken,  die  der 
Chor  dort  v.  862  ff.  vorträgt,  ganz  außer  Zusammenhang  der  Tragödie 
selbst;  sie  wären  ein  tadelnder  Exkurs,  der  sich  nicht  gegen  Oedipus, 
sondern  gegen  die  unfromme  Politik  des  athenischen  Staates  richte,  denn 
die  Stadt  Athen  habe  sich  unlängst  gegen  Delphi  vergangen:  woraus  dann 
wieder  eine  Datierung  des  Stückes  gewonnen  ward,  die  der  herkömm- 
lichen und  m.  E.  berechtigteren  Auffassung  widerstreitet. 

Wie  unangebracht,  muß  man  sagen,  ja,  wie  wenig  würdig  der  sopho- 
kleischen  Kunst  wäre  doch  solch  ein  Zwischenaktsgesang,  der  die  Acht- 
samkeit des  Publikums  von  der  ergreifenden  Handlung  ablenkt,  statt  ihren 
Eindruck  zu  vertiefen.  Denn  grade  an  der  angegebenen  Stelle,  v.  860  f., 
droht  sich  das  Schicksal  selbst  zu  enthüllen. 

Indes  ist  der  Zusammenhang  des  Liedes  mit  der  voraufgehenden 
Szene  auch  schon  äußerlich  garantiert.  Denn  im  v.  823  und  830  hat 
Oedipus  die  Begriffe  „heilig",  „unheilig",  „fromm",  ävayvog  und  äyvov  osßag^ 
wie  Stich  Worte  eingeführt,  und  unmittelbar  darauf,  v.  852  ff.,  schlagen 
uns  die  frevelhaft  frechen  Äußerungen  lokastes  ins  Ohr,  in  denen  die 
dramatische  Erregung  gipfelt,  Worte,  die  um  so  schreckhafter,  da  Oedipus 
ihnen  zustimmt.  Da  greift  der  Chor  im  v.  864  mit  den  Worten  rdv 
oevETiTov  äyveiav  Aoycov  jene  Stichworte  des  Oedipus  deutlich  auf.  Solche 
w^örtliche  Anknüpfungen  lieben  die  lyrischen  Gesänge  auch  sonst,  so  wie 
in  der  Antigone  v.  802 — 805  der  Chor  die  Worte  oqwv  und  Jiayxolrag 
braucht  und  Antigone  sogleich  in  ihrer  Klage  v.  806 — 810  diese  beiden 
Worte  wiederaufnimmt.  Damit  wird  der  Zusammenhang  der  Gedanken- 
gruppen gesichert  und  äußerlich  angezeigt. 

Oedipus  hat  allerdings,  als  er  Laios  erschlug  und  lokaste  zur  Frau 
nahm,  unwissend  gefrevelt.  Trotzdem  aber  ist  er  ein  Mann  der  vßgtg. 
Setzen  wir  vorläufig  nur  hypothetisch  an,  was  sich  hernach  als  zutreffend 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      191 

erweisen  wird,  daß  es  sein  Unglaube,  der  Mangel  an  Gottergebenheit  ist, 
den  ihm  Sopholdes  als  Schuld  anrechnet,  so  stellt  sich  zwischen  Lied  und 
Szene  der  vermißte  Zusammenhang  von  selbst  her.  Es  handelt  sich  um 
das  bekannte  Orakel.  Pflicht  des  frommen  Menschen  ist  es,  einem  Apollo- 
orakel unbedingt  zu  glauben.  Und  das  Orakel  war  in  diesem  Falle  be- 
sonders -bedeutsam,  weil  Zeus  selbst  als  Urheber  hinter  seinem  Ausspruch 
stand.  Denn  schon  Laios  hatte  einst  Schuld  auf  sich  geladen,  als  er  den 
Sohn  des  Pelops  raubte ;  er  war  darum  von  Pelops  verflucht  worden,  und 
Zeus  hatte  diesen  Fluch  erhört  und  verfügt,  daß  zur  Strafe  Laios  durch 
seinen  eigenen  Sohn  umkommen  solle.  Ein  sittliches  Motiv  lag  somit 
dem  Zeuswillen  zugrunde.  Diese  Vorgeschichte  war  allen  bekannt,  und 
daher  erwähnt  Sophokles  den  Zeus  selbst  ausdrücklich  als  eigentlichen 
Urheber  des  jiejiQcojuevovy  v.  904  und  496.  Dem  Sohne  Oedipus  wird  nun 
durch  das  Orakel  seine  schreckliche  Mission,  Laios  zu  töten,  verkündet; 
aber  er  will  sich  ihr  entziehen  und  wandert  aus  Korinth  aus,  um  das 
Gotteswort  nichtig  zu  machen.  -Das  war  menschhch,  aber  es  war  trotzdem 
seine  erste  vßgig,  es  war  äoejirov  im  Sinne  der  herben  Frömmigkeit  der 
Orthodoxie  jener  Zeiten.  Ein  grauser  Gott,  ein  (hjudg  daijucov  ist  Apoll 
dem  Oedipus,  v.  828;  diese  Aiißerung  stammt  aus  demselben  Geiste.  An 
solche  Gedanken  knüpft  nun  das  ChorHed  an,  das  lautet: 

ei  juoi  ^vvsirj  q)eQOVxi  fioTga  zav 

svoBJiTov  äyveiav  Xoycov 
865  sgycov  xe  Jidvrcov  mv  vofxoi  jigöxsivtat 

vyjtjioöeg,  ovgaviav  di' 

aid^ega  reHvcoßevrsg  wv  "Oh'fuiog 

jiarrjg  fiovog,  ovde  viv 

^varä  (pvaig  dvegcov 
870  s'nxrev,  ovös  firjjiote  Xa- 

■&a  xaraxotfidof]- 

/iisyag  sv  zovroig  deog  ovde  yijgda>c€i. 

vßgig  (pvrsuet  ivgmn'ov  vßgig  et 

7to)1mv  vjisgjikf]o{}fj  fidrav, 
875  ä  fiif  emxaiga  firjöh  ovfzqpsgovca, 

dxgoraxov  Eioavaßäa    (a- 

xgcovy^)  Sbratfiov  wgovaev  slg  dvdyxav, 

evd'^  ov  Jioöi  XQV^^f^V 

Xgfjtai.  ro  xaXwg  ö'  syov 
880  TioXsi  jrd?MtofJ,a  [j,rjjioxs  Xv- 

oac  ß^sov  aixovfxai. 

■d'sov  ov  Xr'j^o)  Jioxs  jtgooxdxav  loxcov. 

ei  de  xig  vjiegojiXa  ;|fe^ö(V 

r/  Xoycp  Jiogevexai, 
885  Aixag  dqydßtjxog  ovSe 

öaifxovwv  eSrj  oeßcov, 

xaxd  viv  e'Xoixo  /noiga 

övojioxfiov  x^Q'^^  X^'^^dg, 

ei  fii]  x6  xegdog  xegdavsT  dixmcog 
890  xai  xwv  doejixMv  eg^exai 

fj  xwv  d^ixxfov  e'^exai  fiaxq^u>v. 


*)  So  habe  ich  ergänzt,  freüich  unsicher;  äxgcov  dxgöxaxov  ist  danach  zu  verbinden. 


192 


Kritik  und  Hermeneutik. 


xig  eti  Jiox'  iv  tötod'  dvfjQ  idvjud)  ßshj 
ev^Exai  tpvxäg  djui'veiv; 
895  si  ydg  ai  roiaide  Jigd^sig  xi/mai, 
n  dsT  fie  yoQSveiv; 

ovxexi  xov  aßixxov  eifu 

yäg  eji    ojUffaXov  oeßo)v 
900  ovo'  ig  xov  'Aßäioi  vaov 

ovSk  xdv  'OXvfxJiiav, 

sl  /iitj  xdds  yeiQÖdeixxa 

jiäaiv  agfiöosi  ßgoxoTg. 

cUA'  c5  xgaxvvMV,  sI'jtsq  0|0J^'  dxoi>ftg, 
905  2^v,  Jidn'  dvdoawv,  ^i/  Xd&oi 

oh  xdv  xs  odv  d^dvaxov  aVsv  dgydv. 

(pdivovxa  ydg  ->_/--  Ao^iov 

id^soqpax'  i^aigovaiv  tjöt] 

xovdafwv  xijiiaTg  'Aji6X?.cov  eiKpavrjg. 
910  ?QO£i  de  xd  deta. 

Also  die  thebamsclien  Männer  sagen,  v.  897 — 910:  „Zeus  muß  sich 
und  die  Weissagungen  bewahrheiten;  sonst  gehe  ich  nicht  mehr  zum 
Omphalos,  nicht  mehr  nach  Olympia,  und  alles  Göttliche  fäUt  zu  Boden, 
EQQEi  xä  ^ela.  Ich  möchte  immer  fromm  sein,  v.  863,  d.  h.  anders  sein,  als 
lokaste  und  Oedipus  sich  eben  gezeigt  haben.  Denn  Frömmigkeit  gehört 
zu  den  äyQaq?oi  vöjuoi,  die  besonders  heilig  sind,  v.  865  ff.  (vgl.  dazu  R.  Hirzel, 
''AYQa(pog  vöjuog  S.  24;  die  Götter  zu  ehren,  ist  vojuog  äyQacpog,  ebenda  S.  33). 
Ja,  wer  diese  Tugend  nicht  besitzt,  wird  zur  vßqig  weitergetrieben,  v.  872, 
und  vßgtg  macht  den  Tyrannen,  dei-  schließhch  ins  Unglück  abstürzt 
(v.  875—879). 

Trifft  auch  das  letzte  auf  Oedipus  zu?  Gewiß.  Tyrann  ist,  wer 
sich  um  das  Volkswohl  nicht  bekümmert  und  nm-  für  seine  eigene  Hen*- 
schaft  und  Machtstellung  sorgt.  So  macht  es  aber  jetzt  Oedipus  in  Wirk- 
lichkeit. Er  hat  die  Pest,  die  Theben  heimsucht,  ganz  vergessen  und 
denkt  nur  noch  daran,  in  der  Stadt  seine  Stellung  als  König  zu  behaupten. 

Daher  nun  die  weiteren  Ausführungen  des  Chors:  Nur  den  guten 
Herrscher  soll  Gott  schützen  und  seine  Verdienste  um  den  Staat  nicht 
auflösen  (v.  880).  Wer  dagegen  die  Göttersitze  nicht  ehrt  und  am  gött- 
lichen Recht,  der  Aix^],  sich  versündigt,  dessen  Übermut  soll  gestraft 
werden  (v.  883  ff.),  insofern  er  den  Gewinn  nicht  in  gerechter  Weise 
erwerben  wird  (v.  889);  auch  diese  letzten  Worte  zielen  wieder  auf 
Oedipus:  Oedipus  hat  in  der  Tat  se'in  Königtum  in  Theben  in  ungerechter 
Weise  erAvorben,  da  er  in  Auflehnung  gegen  Apolls  Orakel  Korinth  ver- 
ließ und  eben  dadurch  das  xegdog,  nämlich  die  Machtstellung  in  Theben, 
gewann.  1)  Endlich  geht  auch  ai  roiaide  jzgd^eig  —  das  zeigt  schon  das 
Demonstrativum  —  deutlich  auf  den  König,  v.  895:  „wenn  solcher  Un- 
glaube, wie  ihn  jetzt  Oedipus  und  lokaste  durchweg  zeigen,  Ehre  und 
königliches  Ansehen  verdient,  Avas  soll  ich  dann  noch  weiter  Reigen  zu 
Ehren  der  Götter  auffüliren?   Alle  Gottesverehrung  ist  dann  zAvecklos."^) 


*)  Zu  sQ^sxm  V.  890  ist  wieder  et  fxrj  zu 
ergänzen:  „er  wird  sich  des  I'nfrommen 
nicht  enthalten." 


')  Dunkel  ist  v.  893:  xlg  hi  jiox'  sv 
xdiode  dvr]o  xxX.  Ist  dv^wv  statt  ^vfx(p  zu 
lesen?     Der  Sinn   scheint    zu    sein:    wer. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      193 

Dies  die  Auffassimg  des  Chors  von  Oedipus  und  seinem  Tun.  Stimmt 
sie'  nun  etwa  nicht  zu  irgendwelchen  Tatsachen,  die  das  Drama  selbst 
uns  bietet?  Die  Übereinstimmung  ist  vielmehr  vollständig.  Als  König 
hat  Oedipus  für  Theben  und  für  sein  Volk  zu  sorgen.  Kaum  aber  richtet 
Tiresias  gegen  ihn  den  Verdacht,  daß  er  selbst  es  war,  der  den  Laios 
erschlug,  als  er  die  entsetzliche  Pest,  die  das  Land  heimsucht,  vollständig 
vergißt  und  jähzornig  nur  noch  seine  eigene  Position  zu  retten  sucht. 
Daher  gilt  nicht  nur  im  Chorlied  v.  873  das  gehässige  Wort  jvQavvog  von 
ihm,  sondern  schon  v.  408  das  xvQaweXg^  und  der  Grammatiker,  der  zum 
Titel  der  Tragödie  den  Zusatz  xvQavvog  machte,  traf  damit  die  Meinung 
des  Dichters  durchaus.  vßQiQ  war  schon  gleich  anfangs  seine  oQyri  gegen 
Tiresias,  besonders  die  Verleumdung,  Tiresias  selbst  sei  Mitschuldiger  an 
des  Laios  Ermordung  gewesen;  darauf  geht  auch  schon  das  ägyvgcp  v.  124. 
Auch  die  Art,  wie  Oedipus  gegen  den  Seher  mit  der  Lösung  des  Sphinx- 
rätsels prahlt,  V.  391  ff.,  soll  als  üßgig  w^irken.  "Weiter  wdrd  im  v.  377 
klar  ausgesprochen:  nicht  um  des  Tiresias  willen  wird  Oedipus  ins  Un- 
glück kommen,  sondern  um  Apolls  willen,  d.  h.  weil  Apoll  selbst  ihm 
zürnt  und  von  ihm  verletzt  ist. 

Noch  deutlicher  wdrd  das  im  v.  406  f.,  wo  der  Chor  urteilt:  jetzt,  da 
Oedipus  sich  selbst  verdächtigt  sieht,  müßte  die  Pflicht  ihm  gebieten,  daß 
er  im  Interesse  des  unter  der  Seuche  leidenden  Volkes  den  Hinweis  des 
Apolloorakels  ohne  Rücksicht  auf  seinen  eigenen  Nachteil  aufzuklären 
sucht,  nämlich  den  Hinweis  auf  den  wirklichen  Täter;  statt  dessen  gerät 
er  nur  in  Zorn. 

Es  folgt  der  KonfHkt  mit  Kreon.  Den  Kreon  verdächtigt  Oedipus 
imd  wirft  ihm  vor,  daß  er  ihm  die  Herrschaft  entreißen  wolle.  Kreon 
reinigt  sich  dagegen  durch  Eid.  Da  heißt  es,  v.  647:  dem  Oedipus  fehlt 
es  an  aldoK  vor  dem  Eid.  Denn  Oedipus  glaubt  dem  Kreon  auch  jetzt 
noch  nicht,  als  er  geschworen  hat.  Er  soll  aideoßm  xovde  ogxov  &Ecbv. 
Dieselbe  Forderung  steht  v.  653:  xaraideoai  rov  fv  ögxco  jueyav  (Kgeovra). 
Also  ist  er  unfromm,  auch  jetzt. 

Im  V.  673  f.  aber  wird  gradezu  sein  Charakter  geschildert.;  Oedipus 
gehört  zu  den  (pvoeig,  die  anfangs  hassen  und  hernach  schwer  bereuen, 
wenn  der  Zorn  verflogen  ist.  So  spricht  Kreon,  und  Oedipus  weiß  darauf 
nichts  zu  erwidern.     Die  Charakterbestimmung  behält  also  Gültigkeit. 

Aber  erst  v.  859  freveln  die  Lippen  des  Königs  selbst  offenkundig, 
lokaste  ist  es,  die  ihn  dazu  anregt,  indem  sie  v.  852  f.  ihren  Unglauben 
unverhohlen  bekennt;  sie  sagt  gradezu:  „Das  Orakel  log.  Denn  wenn 
du  auch  wirklich  den  Laios  erschlugst,  so  bist  du,  Oedipus,  doch  nicht 
mein  Sohn,  w^ährend  Apoll  verkündete,  mein  Sohn  solle  den  Laios  er- 
schlagen." In  V.  857  steigert  und  verallgemeinert  sie  diese  Mißachtung 
des  Orakelgottes  noch,  und  Oedipus  identifiziert  sich  mit  ihr,  indem  er 
sagt:  xakcbg  vojuiCeig,  v.  859.  An  diesem  xalcbg  hängt  aUes.  Das  xaXwq 
vo/u^eig  ist  es,  w^orauf  sich  das  zw^eite  Stasimon,  von  dem  ich  handelte, 
selbst  deutlich  bezieht.     Dagegen  erhebt  sich  die  Volksmeinung. 

der  so  unfromm  ist,  kann  den  Geschossen    |   d^wvsn^.   Zu  ir  roTaöe  vgl.  das  roToös  v.  251 . 
des    Zorns    zu    entgehen    hoffen    (sv^rrai 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.     L,  3.     3.  Aufl.  13 


194  Kritik  und  Hermeneutik. 

Aber  auch  noch  in  v.  946  zuckt  der  trotzige  Zweifel  an  den  //«r- 
Tev/Liara  in  lokaste  wieder  auf,  und  v.  964  stimmt  ihr  Oedipus  wiederum 
zu.  Die  Sache  ist  mithin  so  betont,  daß  man  sie  nicht  verkennen  kann. 
Ja,  V.  972  sagt  er:  die  ^eomojuara  sind  ä^t'  ovdevog.  lokaste  steigert  das 
noch  weiter,  v.  977  f.,  und  wieder  sagt  Oedipus  xaXcbg,  v.  984.  Nur  die 
Furcht,  nicht  die  Frömmigkeit  hält  ihn  ab,  ebenso  dreist  wie  lokaste  den 
Unglauben  mit  ausführlichen  Worten  zu  bekennen;  s.  v.  985  und  974. 

Also  hat  Aristoteles  recht,  der  in  seiner  Poetik  cap.  13  im  Verhalten 
des  König  Oedipus  eine  Schuld,  äjuagua,  fand  und  grade  den  Oedipus 
allein  für  die  Wirkung  der  Schuld  in  der  attischen  Tragödie  als  Muster- 
beispiel bringt.  Grade  da  sollte  Aristoteles  irren?  Er  hat  das  zweite 
Stasimon  just  so  verstanden  wie  ich. 

Die  Götter  sind  allwissend.  Diesen  Glauben  will  Sophokles  predigen. 
Auch  dadurch,  daß  der  kluge  Rätsellöser  Oedipus  in  bezug  auf  sein  eigenes 
Geschick  immer  falsche  Yermutungen  vorbringt  und  das  Schicksalsrätsel 
nicht  lösen  kann  (das  beginnt  gleich  anfangs,  als  er  Tiresias  für  einen 
Betrüger  erklärt  und  glaubt,  Laios  sei  von  jemandem,  der  sich  mit  ägyvQiov 
bestechen  ließ,  erschlagen  worden;  es  wiederholt  sich  v.  1080,  wo  er  von 
sich  vermutet,  daß  er  der  Sohn  der  Tvx^]  sei),  auch  hierdurch  wird  vom 
Dichter  der  Kontrast  des  blinden  Menschenwitzes  und  der  Unfehlbarkeit 
der  apollinischen  Orakel  auf  das  planvollste  hervorgehoben.  Daher  muß 
sich  Oedipus  am  Schluß  blenden;  seine  geistige  Blindheit  wird  zur  körper- 
lichen. Und  der  Chor  macht  es  nicht  besser;  denn  er  leistet  sich  im 
dritten  Stasimon  v.  1086  eine  Vermutung  mit  den  einführenden  Worten: 
emeQ  iya>  judvrig  eljuL  Auch  dies  judvrig  ist  betont.  Der  Chor  macht  sich 
hier  als  Seher  mit  seiner  Annahme,  Oedipus  sei  vielleicht  der  Sohn  irgend- 
einer Bergnymphe,  nur  lächerlich. 

Also  ist  der  Oedipus  Rex  ein  Stück  der  Eusebeia.  Wir  erinnern  ims 
daran,  daß  Sophokles  selbst  Priester  war.  Er  lehrt:  die  Orakel  des  Apoll 
und  des  Zeus  sind'  unfehlbar;  wer  gegen  sie  ankämpft,  ist  äoeßrjg  und 
verfällt  der  vßgig.  Das  „fabula  docet"  ist  hier  so  deutlich  gemacht,  wie 
wir  es  selten  finden.  — 

Es  gibt  aber  auch  Dramen,  in  denen  wir  nichts  anderes  wahrzunehmen 
glauben  als  eine  mehr  oder  weniger  spannende  Handlung,  und  Theophrasts 
Definition  der  Tragödie  muß  für  sie  genügen:  rgayMÖia  iorlv  fjQoyixfjg  xvp^g 
TieQioraoigA)  Gegebenenfalls  verknüpft  der  Dichter  mit  dieser  spannenden 
Handlung  noch  irgendeinen  äußerlichen  ätiologischen  Zweck  wie  in  der 
Taurischen  Iphigenie.  Aber  man  wird  doch  nicht  sagen,  daß  die  Mitteilung 
von  der  Einführung  des  Artemiskultes  in  Attika  der  Zweck  der  ganzen 
wundervollen  Erfindung  dieser  Ipliigenie  sei.  Immerhin  steht  es  wirklich 
so  im  Oedipus  Coloneus;  dieser  Oedipus  ist  ganz  ätiologisch  gedacht. 
Tendenz-  ^  anderen  FäUen  tritt  endlich   an  die  SteUe    der  Idee  vielmehr  die 

Stücke 

Tendenz.  Was  will  die  Andromache?  was  wollen  die  Herakliden?  Es 
springt  bei  beiden  Stücken  nur  die  Tendenz  heraus,  dort  das  Predigen 
des   Spartanerhasses,    hier   die  Verherrlichiuig    attischer   Gastfreundschaft 


Aetio- 
logisches 


»)  Diomed.  T  K.  487,  12. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      195 

lind  Menschlichkeit .    Das  ist  minderwertig ;  denn ,  die  Tendenz  stört  immer 
die  Illusion  und  die  innere  Wahrheit  der  Zeichnung. 

Aber  auch  Senecas  Tragödien  sind  Tendenzstücke,  und  wer  das  nicht 
beachtet,  v^ersteht  sie  nicht.  Hier  waltet  aber  eine  ganz  andere  Art  von 
Tendenz,  die  w^ie  ein  Gifthauch  wirkt  und  alle  Poesie  vernichtet;  es  ist 
der  Predig-teifer  des  Stoikers,  der  alle  heftige  Leidenschaft  und  den  Zorn 
ver^virft  und  für  verderblich  erklärt;  und  die  Dramen  wollen  nichts  weiter 
sein  als  abschreckende  Beispiele  im  Sinne  dieser  Lehre.  Die  Leiden- 
schaft, die  von  ihrem  Verächter  dargestellt  wird,  kann  uns  nicht  ergreifen. 

Das  seltsamste  Problem  aber  sind  die  Bakchen  des  Euripides,  diese  Bakchen  u. 
schimmerndste  Perle  attischer  Poesie.  Theologische  Dichtung!  Ist  dies  oetaeu? 
Stück  wirklich  eine  Glorifizierung  des  unerhört  grausam  erlösenden  jungen 
Gottes  Dionys?  oder  eine  verkappte  bittere  Ironisierung,  die  uns  der 
Freidenker  Euripides  gibt?  Wir  möchten  heut  gern  das  letztere  glauben; 
die  Alten  selbst  dagegen  haben  das  Stück  nur  dogmatisch  und  nur  ernst  ge- 
nommen. Ein  theologisches  Drama  ist  auch  der  Hercules  Oetaeus  des  Seneca; 
denn  auch  in  ihm  handelt  es  sich  —  wie  dort  —  um  die  Anerkennung  der 
Göttlichkeit  eines  Gottessohnes.  Aber  hier  fehlt  alles  Grauen,  und  nur 
der  Gottessohn  selbst  leidet,  um  verklärt  zu  werden.  Frappierend  der 
Bakchentragödie  ähnlich  ist  dagegen  in  der  Tendenz  der  Konzeption  das 
Attisgedicht  Catulls,  carm.  63.  Denn  auch  da  handelt  es  sich  mn  orgiasti- 
schen  Kult,  nicht  des  Dionys,  aber  der  Cybele.  Der  junge  Attis  hat 
sich  in  orgiastischer  Raserei  entmannt;  er  verfällt  in  Schlaf,  erwacht  und 
erkennt  voll  Jammer  und  Reue,  w^as  er  getan.  Er  will  sich  der  Göttin 
entziehen.  Da  hört  Cybele  seine  Klagen  und  hetzt  mitleidlos  und  in 
grausamem  Eifer  ihren  Löwen  auf  ihn.    So  wird  Attis  zum  Cybelediener. 

Wie  faßte  das  Publikum  solche  Handlung  auf?  Auch  das  zeigt  uns 
Catull;  denn  er  scliließt  das  besprochene  Gedicht  mit  den  Worten  ab: 
„Große  Göttin  Cybele,  verschone  mich;  ergreife  andere,  nicht  mich  mit 
deinem  Rasen."  Dieser  Wunsch  ist  aller  Weisheit  Ende.  Gegen  die 
Gottheit  in  all  ihrer  entsetzlich  fanatisierenden  Gewalt  erhebt  sich  also 
kein  ZAveifel  und  kein  Tadel.  Man  hofft  nur,  sich  ihr  zu  entziehen.  In 
dieser  Weise  wird  auch  Euripides  seinem  Stoff  gegenübergestanden  haben. 

So  kann  man  auch  sagen:  die  Bakchen  sind  eine  Überbietung  des 
Oedipus  Rex;  der  Sinn:  wer  an  den  Gott  nicht  glaubt,  der  muß  untergehen. 

o)  Nach  allem,  was  ich  ausgeführt,  bleibt  nur  noch  die  letzte  Frage  Wirkung 
übrig  nach  dem  Effekt,  den  der  Theaterdichter  mit  seiner  Leistung  beim  Publikum 
Publikum  erzielen  will.  „Nützen"  wiU  er  und  „erfreuen",  das  war  die 
populäre  Auffassung.  Nützen,  d.  h.  durch  seine  Heldenfiguren  erziehend 
wirken,  will  Aeschylus;  erfreut  sein,  tjöeoßaiy  das  will  das  Publikum  (Arist. 
Frösche  1413).  Es  gilt  dabei  die  Dichtungsgattungen  zu  unterscheiden. 
Das  Satyrspiel  ist  reines  yeXoTov  und  bewirkt  und  bezweckt  nur  Lachen; 
die  Tragödie  ist  nui*  onovdaia  und  erzieht  das  Volk,  indem  sie  es  erbaut 
und  erschüttert;  das  Lustspiel  endlich  ergötzt  und  erzieht  zugleich;  es 
ist  ojiovöoye^oiov.  Dies  war  gewiß  im  großen  und  ganzen  die  volkstüm- 
liche Auffassung.  Ob  viele  Dichter  über  sie  hinausgingen,  läßt  sich 
seh  AVer  entscheiden.     Aristoteles  sagt  bekanntlich,  nicht  das  Wesen,  aber 

13* 


196  Kritik  und  Hermeneutik. 

Katharsis  (Jer  Effekt  der  Tragödie  sei,  daß  sie  durch  Furcht  und  Mitleid  (so  wenig- 
stens nelimen  alle  die  Aristotelesstelle)  eine  Reinigung,  d.  h.  Entladung 
{xd^aQoig)  erzeugt.  Sehen  wir  uns  um,  so  erfüllen  uns  aber  auch  die 
Captivi  des  Plautus  ohne  Frage  mit  Furcht  und  Mitleid,  ja,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  haben  auch  sonstige  ernsthaftere  Lustspiele  jungen  Stils 
wie  der  Trinummus,  die  Adelphen,  der  Rudens  eben  diese  Wirloing,  und 
wir  müssen  sagen:  hätte  Aristoteles  diese  jüngere  Komödie  schon  gekannt, 
so  hätte  er  jenen  Zusatz  zu  seiner  Definition  nicht  auf  die  Tragödie  be- 
schränkt. Schließlich  trifft  sie  ja  auch  auf  viele  dramatischen  Teile  der 
Aeneis  Yergils  zu.  Die  Theorie  von  der  Katharsis  oder  Entladung  galt 
aber  schon  lange  vor  Aristoteles  bei  den  Rednern,  die  ihre  Hörer  in 
gleicher  Weise  affizieren  wollen,  i) 

Inwieweit  nun  endlich  und  unter  welchen  Modifikationen  die  attischen 
Tragiker,  an  die  Aristoteles  denkt,  wirklich  Furcht  und  Mitleid  zu  erzeugen 
anstreben,  ist  nützlich  im  einzelnen  zu  beobachten;  doch  kann  ich  hier 
dabei  nicht  verweilen. 

An  das  Drama  reiht  sich  endlich  die  letzte  Litteraturgattung,  die  wir 
noch  zu  besprechen  haben : 

11.  der  Dialog. 
Über  ihn   besitzen   wir   das   umfassende  Werk   von  R.  Hirzel,  „Der 
Dialog". 2)   Ergänzendes  gab  Ivo  Briins,  Das  litterarische  Porträt,  S.  245  ff . 
Ich  begnüge  mich,  folgendes  hervorzuheben. 

Diaiop:  u.  Vom  eigentlichen  „Dialog"  muß  das  bloß  mimetische  Gespräch,  wie  es 

in  Sophrons  Mimen,  in  Theokrits  Adoniazusen  vorkam,  scharf  unterschieden 
werden;  denn  ein  solches  Gespräch  nennt  das  Altertum  nicht  eigentlich 
Dialog.  Auch  die  Epeisodien  oder  Gesprächspartien  im  Drama  hießen 
nicht  so.  Nur  dem  erörternden,  dem  untersuchenden  Gespräche  kommt  der 
Name  didXoyog  zu,  der  sachlich  und  begrifflich  mit  der  dialektischen  Kunst, 
der  logischen  Untersuchung  zusammenhängt,  s)  Deshalb  genügte  dafür 
auch  der  Ausdruck  Xoyog,  und  die  Sokratischen  Gespräche  heißen  Xoyoi 
ZcoxQaTixoL  Während  also  das  bloß  mimetische  Gespräch  wie  überhaupt 
der  antike  „Mimus"  zur  Theaterlitteratur  gehörte  oder  doch  von  ihr  ab- 
hing —  so  auch  Herondas  und  die  ähnlichen*)  — ,  gehört  der  eigentliche 
„Dialog"  zur  wissenschaftlichen  und  zur  Erbauungslitteratur. 

Entwick-  Es  ist  wahr,  daß  ihn  auch  das  Lustspiel  gelegenthch  in  parodistischem 

D^fio^r  Übermut  für  seine  Zwecke  nutzbar  machte  (das  tat  schon  Epicharm ;  dann 
vor  allem  Aristophanes  in  seinen  „Wolken").  Im  Ernst  aber  suchen  wir 
ihn  anderswo.  Herodot  gibt  uns  die  ersten  Beispiele  in  den  Einlagen 
1,  30  f.  und  3,  80  f.,  und  da  reden  historische  Personen  wde  König  Crösus 
über  tiefgehende  Fragen  des  Menschenlebens.  Sehr  ähnlich  damit  waren 
dann  ohne  Frage  auch  die  mythologisch  eingekleideten  Szenen  des  Pro- 
dikos vom  Herkules  am  Scheidewege  und  des  Hippias,  der  in  seinen 
vjio^fjxai  Nestor  dem  Neoptolemos  gegenüberstellte.     Viel   unpersönhcher 

1)  Vgl.  Gorgias  Helena  14:  W.  Süss,  :  «)  Leipzig  1895. 

„Ethos",  Leipzig  1910,   S.  84  f.     Daß   die  i  »)  Vgl.  Xenophon  Mem.  4,  5,  12. 

Erregung  von  Furcht  und  Mitleid  Sache  ■*)  Das  umständliche  Buch  von  Eeisch, 

der  Rhetorik,  sagt  Aristoteles  selbst,  Poet.  „Der  Mimus",  befriedigt  nicht  in  jeder 
19, 2.  Hinsicht. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.    B.  Zweck  und  Plan  der  Litteraturwerke.      197 

und  doch  \del  dramatisch  wirksamer,  ja,  erregender  das  sophistisch  scharf 
zugespitzte  Wortgefecht  der  Melier  und  Athener  bei  Thukydides  5,  86  f., 
wo  es  für  die  Melier  um  Leben  und  Tod  geht.  Dann  aber  haben  vor- 
nehmlich die  vier  Sokratesschüler  Aeschines,  Plato,  Antisthenes,  Xeno- 
phon  der  Gattung  des  Dialogs  ihr  eigentHches  Gepräge  gegeben.  Durch 
Cicero  wurde  er  weiterhin  in  gewandtester  Weise  latinisiert  und  steht 
noch  in  späterer  Zeit  in  ein  paar  herrlichen  Beispielen  vor  unseren  Augen ; 
ich  meine  des  Tacitus  Dialogus  de  oratoribus  und  den  Octavius  des 
Minucius  Felix,  welche  beiden  AVerke  ganz  auf  dem  Muster  Ciceros  fußen. 

Nun  kann  dieser  Dialog,  der  übrigens  allerlei  Darstellungsmittel  dem  ^^»ten  des 
Mimus  und  der  Komödie  abborgte,  nach  der  Art  seiner  Einkleidung  ver- 
schiedene Formen  annehmen;  wir  finden: 

1.  Direkte  Dialoge  mit  Rollenverteilung  wie  im  Drama:  so  großen- 
teils das  Meliergespräch  bei  Thukydides ;  Piatos  Phaedrus,  Gorgias,  Theätet. 
Hier  erübrigte  sich  das  lästige  eq?}]  und  r}  d'  ög. 

2.  Indirekte  Dialoge;  das  sind  zeitlich  zurückliegende  Gespräche, 
die  jemand  aus  der  Erinnerung  wiedererzählt.     Dabei  ist 

a)  Sokrates  der  Referent,  indem  er  entweder  das  Gespräch  einer  be- 
stimmten Person,  die  er  anredet,  erzählt,  wie  im  Protagoras  und  Euthydem, 
oder  auch  ohne  alle  Anrede  die  Erzählung  gleichsam  monologisch  gibt, 
wie  in  den  kurzen  Stücken  Lysis  und  Charmides  und  im  gewaltigen  Werk 
des  „Staates". 

Bisweilen  aber 

b)  sind  bei  Plato  andere  Personen  die  Referenten,  und  zwar  da,  wo  die 
Person  des  Sokrates  selbst  der  wichtigste  Gegenstand  der  Schilderung  sein 
soll,  wie  im  Symposion  und  Phaedon;  aus  anderen  Gründen  im  Parmenides. 

Dazu  kommt  noch 

3.  die  einfachste  Form,  die  Xenophon  durchführt,  daß  nämlich  der 
Verfasser  selbst  der  Berichterstatter  ist  und  mehr  oder, weniger  kurz- 
gefaßte Zwiegespräche  aufreiht,  die  deutlich  aus  der  primitiven  Form  der 
Chrie  „als  der  x.  ihn  fragte  .  .  .,  da  sagte  er  .  .  ."  (vgl.  Xenoph.  Mem.  3, 13) 
entwickelt  sind;  mit  solchen  Zwiegesprächen  hat  sich  Xenophon  in  seinen 
Memorabilien  begnügt;  in  seinem  Hieron,  Symposion  und  Oekonomikos 
ging  er  weiter,  und  es  zeigt  sich  darin  ein  späteres  Stadium;  denn  der 
simple  Dialog  der  Memorabilien  ist  hier  nach  Art  des  Platonischen  aus- 
geweitet. Wie  Xenophon  ist  dann  auch  Cicero  selbst  allemal  der  Referent 
über  das  Gespräch,  das  er  vorzuführen  beabsichtigt. 

Zwischen  den  Dialogen  des  Plato  ujid  des  Cicero  ist  nun  aber  noch 
ein  wesentHcher  Unterschied  wahrzunehmen.  Worin  besteht  er?  und  wie 
erklärt  er  sich? 

Zweimal  war  es  dem  Plato  widerfahren,  daß  ihm  sein  Gegenstand 
ins  UngeheuerHche  anschwoll  und  die  Form  zu  sprengen  drohte:  in  den 
zehn  Büchern  seines  Staats,  in  den  zwölf  Büchern  seiner  Gesetze;  solche 
Gespräche  ohne  Pause  zu  führen,  war  in  Wirklichkeit  unmöglich,  und  die 
Einkleidung  paßte  hier  also  gar  nicht  mehr  zur  Aufgabe,  die  es  zu  lösen 
galt.  Daher  veränderte  Piatos  großer  Nachfolger  Aristoteles  in  seinen  Aristoteles 
Dialogen    die  Form  wesentlich.     Erstlich   ist   fortan  Sokrates   nicht  mehr  "^-^^^^"^^ 


198  Kritik  und  Hermeneutik. 

Gespräclisführer;  zweitens  und  vor  allem  wird  ein  Gespräch  größeren 
Umfangs  fortan  in  mehrere  Unterredungen,  die  an  verschiedenen  Tagen 
oder  Tageszeiten  stattfinden  und  zu  denen  man  auf  Verabredung  aufs 
neue  sich  einfindet,  zerlegt.  Jede  solche  Teilunterredung  steht  dann  in 
einer  besonderen  Buchrolle,  deren  Proöm  jedesmal  eine  neue  Exposition 
gab,  und  so  wurde  durch  diese  Neuerung  auch  die  gräßliche  Dicke  der 
Schriftrollen  vermieden,  die  der  Staat  Piatos  noch  voraussetzt.  Dies  Vor- 
gehen des  Aristoteles  w^ar  also  eine  Parallelerscheinung  zu  der  Neuerung, 
die  damals  Ephoros  auf  dem  Gebiet  der  großen  Geschichtschreibung  ein- 
führte :  Zerlegung  des  großen  Gegenstandes  in  abgerundete  Sachteile,  so  daß 
jeder  Sachteil  in  je  einer  Rolle  Platz  findet  (oben  S.  172).  Für  Cicero  liegt 
nun  auf  der  Hand,  daß  er  dem  Vorbilde  des  Aristoteles,  nicht  des  Plato 
gefolgt  ist,  und  danach  ist  das  An-angement  in  den  Werken  De  oratore, 
De  divinatione  zu  verstehen.  Die  Tusculanen  sind  fünf  Unterredungen 
an  fünf  Tagen  in  fünf  Büchern,  u.  s.  f.i)  Der  Umstand,  daß  die  Bücher 
De  legibus  der  Proömien  entbehren,  ist  ein  Hauptbeweisgrund  für  unsere 
Überzeugung,  daß  Cicero  dies   Werk  imfertig  hinterließ. 

Peripetie  J)qy  erörternde  Dialog  wird  auf  diese  Weise  zum  mehraktigen  Drama, 

und  auch  sonst  zeigt  er  in  seinen  wertvollsten  Darstellungen  mit  der 
Tragödie  und  dem  feineren  Lustspiel  eine  unverkennbare  Verwandtschaft. 
Sie  beruht  vornehmlich  auf  der  Peripetie.  Denn  auch  der  gute  Dialog 
hat  eine  solche,  die  bisweilen  plötzlich  und  überraschend  eintritt.  Aber 
in  ihm  beruht  die  Peripetie  nicht  auf  einem  Umschwung  des  Glücks, 
sondern,  wie  im  Gorgias  und  Phaedon,  auf  der  siegreichen  Kraft  der 
Argumente,  mit  denen  der  in  die  Enge  getriebene  Sokrates  schließlich 
doch  alle  bedrohlichen  Einwände  überwältigend  niederschlägt. 

Satyros  Daß  endlich  auch  die  Biographie  sich   der  Form   des    aristotelischen 

Dialogs  bediente  —  so  bei  Satyros  u.  a.*)  — ,  müssen  wir  als  eine  lit- 
terarische Verirrung  betrachten. 


C.  Quellen  und  Vorbilder. 

Das  lito-  Über    Quellen    und  Vorbilder    kann    icli    mich    kürzer    fassen.     Wer 

EiJeVtuiu  Plutarch,  Diodor,  Justin,  Cornelius  Nepos  für  die  Geschichtsdarstellung 
^^'  benutzen  will,  muß  sich  zuvor  nach  Möglichkeit  vergewissem,  aus  Avelchen 
älteren  Autoren  diese  Historiker  ihre  Erzählung  entnommen  haben.  Quellen- 
untersuchungen gehören  daher  seit  langem  zum  obligaten  Arbeitspensum 
des  Historikers  und  Philologen.  In  allen  den  Fällen  aber,  wo  diese 
Quellen  —  Ephoros,  Theopomp,  Timaeus  —  verloren  sind,  nützt  das  Er- 
gebnis solcher  Untersuchungen  der  Interpretation  und  litterarischen  Wert- 
schätzung des  Autors,  den  wir  in  Händen  haben,  wenig.  Im  voraus  ist 
dabei  noch  zu  erinnern,  daß  es  eine  Sicherung  des  litterarischen  Eigen- 
tums im  Altertum  nicht  gab  und  daß  kein  Autor  sicher  war,  nicht  von 
einem  anderen  wörtlich  ausgeschrieben  zu  Averden.  Nur  wenn  bei  Dichter- 
agonen  einer  der  Konkurrenten  fremdes  geistiges  Eigentum  gestohlen  hatte, 

1)  Für   das  Nähere   s.  Antikes  Buch-  ')  Vgl.  Leo,   Nachr.  Gott.  GW.  1912 

wesen  S.  473  ff.  S.  273  f. 


1 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder. 


199 


(Quellen- 
angaben 


erhob  sich  sogleich  Geschrei,  wui'de  der  Diebstahl  sogar  bestraft  (Vitruv 
VII  praef.  4  f.).  Sonst  haben  im  Altertum  obtrectatores,  die  auf  Plagiate 
Jagd  machen,  sehr  wenig  Gehör  gefunden. i) 

Das  wörtliche  oder  minder  wörtliche  Übernehmen  größerer  oder  ge- 
lingerer  Textabschnitte  war  bei  den  Historikern  und  bei  anderen  Autoren 
ziemlich  selbstverständlich.  Der  vorliegende  Geschichtsstoff  galt  für  die 
Historiker,  der  überkommene  Gedanken-  und  Sentenzenschatz  galt  für 
Morahsten  und  Redner  als  Gemeingut  wie  die  Jagdbeute  und  der  Fisch- 
fang füi'  Fischer  imd  Jäger. 2)  Ephoros  schrieb  seine  Quellen,  z.  B.  den 
Herodot,  Avörtlich  aus,^)  gelegentlich  im  Umfang  von  dreitausend  Zeilen.-*) 
Das  nämHche  gilt  von  den  Rednern;  man  lernte  die  herkömmlichen 
Proömien  in  den  Schulen  wörtlich  auswendig,  und  jeder  Redner  ver- 
Avandte  sie  nach  Bedürfnis. 

Daher  halten  es  hochachtbare  Männer  wie  Plutarch  auch  durch- 
aus nicht  für  nötig,  ihre  Quellen  zu  nennen;  Plutarch  sagt  uns  z.  B.  in 
seinem  Coriolan  nicht,  daß  er  da  den  Dionys  von  Halicarnaß  benutzt, 
und  Cassius  Dio  macht  überhaupt  keinen  Gewährsmann  namhaft.  Nur 
die  mehr  grammatisch-philologisch  gerichteten  Geister  halten  es  anders  ;ö) 
aber  dann  kann  es  vorkommen,  daß  solche  Männer  uns  schwindelhafte 
Notizen  geben,  Avie  Gellius,  der  erstlich  die  meisten  der  zahllosen  Werke, 
die  er  mit  Eifer  zitiert,  gar  nicht  selbst  gesehen  hat,  sodann  aber  ge- 
legentlich (9,  4)  als  von  ihm  selbst  erlebt  erzälilt,  was  er  aus  Plinius' 
Naturgeschichte  7,  9  ff .  abschreibt. 

Auszugehen  ist  von  den  günstigen  Fällen,  wo  uns  die  Quellen  noch 
vorliegen.  Denn  da  läßt  sich  die  Arbeitsweise  der  Alten  genau  fest- 
stellen. So  haben  wir  Polybius  neben  Livius.  Livius  arbeitete,  roh  aus- 
gedrückt, wie  unsere  heutigen  Zeitungsschreiber,  gleichsam  mit  der  Schere 
und  setzte,  indem  er  seine  Quelle  bald  nennt,  bald  verschweigt,  Absclinitte 
aus  Polyb,  den  er  entweder  direkt  oder  nur  indirekt  benutzte,  unvermittelt 
neben  andere,  die  aus  römischen  Annalisten,  z.  B.  auch  aus  den  Annales 
maxumi  stammen.  Da,  wo  er  dem  Griechen  folgt,  erwähnt  er  mehr  grie- 
chische als  römische  Männer  mit  ihrem  Eigennamen,  bezeichnet  das  Geld 
nach  Talenten,  ist  auch  topographisch  genauer.  Leider  hat  sich  Livius  indes 
mit  diesem  äußerhchen  Verfahren  doch  nicht  begnügi,  sondern  als  gewandter 
Erzähler,  der  auf  dramatische  Wirkung  abzielt,  hat  er  die  schlichten  Mit- 
teilungen des  Polybius  vielfach  zu  hübschen  Geschichten  ausgeweitet  und 
zurechtgestutzt, 6)  nach  dem  Prinzip,  das  Cicero  so  ausdrückte:  concessum 
esf  rhetoribus  ementiri  in  historiis  ut  aliquid  dicere  possint  argutiusJ) 

Gegen  ein  wörtliches  Ausschreiben  aber  bestanden,  wie  gesagt,  durch-  Evangelien 
aus  keine  Bedenken.   Das  betrifft  auch  das  Neue  Testament.   Auf  Avelchem 


Livius 


^)  Siehe  meine  Ausführungen  in  Päd- 
agogisches Archiv  50.  Jahrg.,  1908,  S.  169  f. ; 
dazu  Stemplixger,  Das  Plagiat  in  der 
griech.Litteratur,  der  meinen  eben  zitierten 
kleinen  Aufsatz  nicht  kennt.  Ich  muß 
vsagon,  daß  der  Titel  des  Stemplingerschen 
Buches  noch  mehr  verspricht,  als  es  wirk- 
licli  darbietet. 

2)  A'^gl.  z.  B.  Isokratea  Panegyr.  8 ;  Seneca 


epist.  79,  5 ;  Horaz  ars  poet.  128  f. 

')  Siehe  von  Mess,  Rhein.  Mus.  61 
S.  382—392. 

^)  Stemplinger  S.  47. 

5)  a.  a.  0.  S.  177—180. 

ß)  Siehe  K.  Witte,  Ehein.  Mus.  65 
S.  270  ff. 

7)  Oic.  Brut.  42. 


200  Kritik  und  Hermeneutik. 

Wege  der  oft  wörtliche  Einklang  der  Evangelien  zustande  gekommen, 
ist  Gegenstand  eingehendster  Untersuchungen.  Der  Evangelist  Lukas 
übernimmt  öfters  die  Berichte  aus  den  beiden  anderen  Synoptikern  in  der 
Weise,  daß  er  nur  den  vulgären  Wortausdruck,  den  sie  darboten,  abändert 
und  nach  seinem  Geschmack  veredelt.  Aber  auch  die  Johannesapokalypse 
zeigt  mit  den  Evangelien  ab  und  an  so  auffällige  Übereinstimmungen, 
daß  man  es  als  feststehend  betrachten  kann :  die  Verfasser  der  drei  ersten 
Evangelien  haben  die  Apokalypse  im  Gedächtnis  getragen.  Man  vergleiche 
z.  B.  Marcus  13,  17  oval  öe  rdig  ev  yaotgl  exovoaig  mit  Apokal.  12,  2 ;  Marc. 
13, 10  ro  evayyekov  eig  jidvra  rd  e&vr]  mit  Apokal.  14,  6;  Marc.  13,  24  äoregec: 
microvreg  u.  s.  f.  mit  Apokal.  6,  12;  Marc.  10,  37  mit  Apokal.  3,  21;  aber 
auch  Matthäus  24,  40  mit  Apokal.  3,  3  und  16,  15,  u.  ä.  m.i)  Die  Apo- 
kalypse war  also  ein  anregendes  Vorbild  für  Sprache,  Anschauung  und 
Gleiclinisse  der  sich  entwickelnden  christlichen  Gemeindeschriftstellerei. 
narrator  u.  Die  Alten  Unterschieden  in  der  Geschichtschreibung  ausdrücklich  und 

exornator  jjg^^^  zwisclicn  dem  eigentlichen  narrator  und  dem  exornator  rerum.^} 
Der  erstere  bedient  sich  des  bloßen  vjiojuvrjjua,  der  letztere  fängt  das 
Publikum  durch  willkürliche  Ausschmückung  und  Belebung  des  Stoffes, 
den  er  vorfand.  Livius  war  exornator,  Polybius  wollte  nur  narrator  sein.  3) 
Nach  unserem  Urteil,  d.  h.  nach  dem  Urteil  des  Quellenbenutzers,  der 
nur  die  Tatsachen  will,  ist  es  ein  Lob  für  den  Historiker,  wenn  er  sorg- 
lich, ja,  sklavisch  ausschreibt.  Denn  um  so  treuer  gibt  er  die  Tatsachen 
weiter,  und  jede  eingreifendere  redaktionelle  Änderung,  ja,  jede  stilistische 
Nuance  ändert  sogleich  schon  den  überlieferten  Sachverhalt.  Daher  eben 
schreibt  auch  Xenophon  sich  selber  aus  und  benutzt  in  seinen  Hellenika 
einfach  wörtlich  seinen  Agesilaos.  Mit  Änderung  der  Worte  hätte  er 
auch  die  Sache  verändert.*)  Daher  hat  es  auch  gar  nichts  Auffälliges,, 
daß  Herodot  den  Hekatäus  wörtlich  ausschrieb. 0)  Daher  ferner  die  wört- 
lichen Übereinstimmungen  in  den  synoptischen  EvangeUen,  von  denen 
ich  sprach;  sie  garantieren  die  Treue  der  Tradition.  Und  so  oder  ähn- 
lich würde  sich  auch  Diodor  vor  seinen  Anklägern  rechtfertigen,  ß) 
Tacitus  Was    Tacitus   uns   gibt,    sind   im  Grunde   nichts    als   intelligent   her- 

gestellte Exzerpte  aus  Cluvius  Hufus,  Plinius  u.  a.  Autoren,  die  die  näm- 
lichen Ereignisse  in  großer  Ausführlichkeit  dargeboten  hatten.  Für  wich- 
tige Teile  gehen  Tacitus'  Annalen  auch  auf  die  Akten  des  Senats  selbst 
zurück,  die  aber  allerdings  auch  schon  bei  jenem  Cluvius  Rufus  heran- 
gezogen worden  sein  können.  Das  stark  Subjektive  am  Tacitus  ist  die 
Auswahl,  die  er  beim  Exzerpieren  trifft. 
Diog-  Laer-  Daher  wächst  endlich  auch  bei  solchen  späten  Autoren,  wie  Diogentjs 

Laertius   und  Sextus  Empiricus,   sofort   ihr  Wert,    wenn    wir   nachweisen 


tnis  u.  a. 


')    Vgl.    Jacobsen,     Protestantische  linger  S.  191. 

Kirchenzeitung   ed.  Websky  1886  Nr.  27  °)  Vgl.  Herodot  2,  7    und   Hekatäus 

S.  606  und  Nr.  28  S.  630.  1   fragm.  209;  Diels,  Hermes  22  S.  427. 

•■').  Cicero  de  or.  2,  54.  j           «)  Hätte  er  seine  Quellen   nur  niciit 

3)  Vgl.  Polyb.  2,  40,  4.  so  .nachlässig  exzerpiert  und  so  grobe  Irr- 

-*)  So  wiederholt  übrigens  auch  Diodor  i   tümer  begangen.  Hierüber  vgl.  A.v.Mess, 

sich  gelegentlich  wörtlich,  z.  B.  über  Ära-  1   Ehein.  Mus.  61  S.  244  ff. 

bien  II  48,  6  f.  und  XIX  98;   vgl.  Stemp-  | 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder.  201 

können,  daß  sie  ältere  Autoren  wirklich  treu  kopieren,  der  eine  den  Diokles 
und  Antigonos  Karystios,  der  andere  den  Aenesidem.  Denn  diesen  späten 
Zeugen  standen  Quellen,  die  ihnen  um  vier  oder  fünf  Jahrhunderte  vorauf- 
lagen, zur  Verfügung.  Dadurch  werden  sie  uns  kostbar.  Auch  die  Zitate 
in  Plutarchs  Schrift  ad  versus  Colotem  weisen  auf  eine  Quelle  aus  sehr 
vdel  älterer  Zeit. 

Je  wertloser  also  Diogenes  Laertius  für  uns  als  Schriftsteller,  „scriptor'*, 
je  wertvoller  ist  er  als  „auctor",  d.  h.  als  Zeuge,  und  dasselbe  kann  nun 
ungefähr  auch  von  Cicero s  philosophischen  Schriften  gelten.  Denn  Cicero  Cicero, 
bezeugt  uns  selbst,  daß  er,  was  er  da  gibt,  alles  aus  den  griechischen  Philo-  Schriften 
sophen  übersetzt  und  zusammenrafft :  apographa  sunt  (Cic.  adAtt.  12, 52, 3). 
Gelegentlich  können  wir  einmal  Kontrolle  üben,  de  nat.  deor.  I  25  ff.,  wo 
sein  Text  mit  einem  Philodempapyrus  in  dem  Grade  übereinstimmt,  daß 
wir  auf  eine  treubenutzte  gemeinsame  Quelle  schließen,  i)  ,Je  unselbstän- 
diger also  Cicero  hier  vorging,  um  so  günstiger  ist  es,  da  wir  seine  kost- 
baren Quellen,  die  Stoa  und  die  jüngere  Akademie,  ja  nicht  mehr  besitzen.  2) 

Für  Plinius  bieten  seine  Quellen  Aristoteles  und  Theophrast  gute 
Kontrolle,  3)  ebenso  für  Florus  Livius  u.  s.  f.  Am  befremdUchsten  ist  in 
Ciceros  Jugendschrift  De  inventione  die  Sachlage.  Diese  Schrift  stimmt  de 
mit  der  Rhetorik  ad  Herennium,  die  wir  dem  Cornificius  zuschreiben  und  ^^^'^"*^**"® 
die  ungefähr  in  denselben  Jahren  geschrieben  ist,  in  umfangreichen  Teilen 
wörtlich  überein.  Wer  ist  nun  hier  der  Kopist?  wer  der  Kopierte?  oder 
ist  gar  an  eine  identische  gemeinsame  Vorlage  zu  denken?*)  Genaue 
Vergleichung  wird,  wie  ich  glaube,  immer  wieder  zu  der  Annahme  hin- 
führen, daß  Cicero  das  Werk  des  anderen  skrupellos  benutzt,  zugleich 
aber,  wo  es  nötig  schien,  ergänzt  hat. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Dichtern,  so  stehen  zunächst  die  Centone 
Parodien  für  sich,  deren  Pflicht  es  ist,  den  Wortlaut  der  Vorlage  mög- 
lichst genau  beizubehalten.  Dafür  bleibt  das  eleganteste  Beispiel  Vergils 
Sabinusgedicht,  Catalept.  10,  das  mit  Catull  c.  4  sein  Spiel  treibt.  Für 
sich  stehen  ferner  auch  die  Centone,  die  sich  ausschließlich  aus  Homer-, 
aus  Vergil Versen  oder  -versteilen  zusammensetzen,  wie  die  Medea  des 
Hosidius  Geta:  ein  umfangreicher  Vergilcento.  Dies  war  eine  gleichsam 
musivische  Kunst  für  sich.0)  Aber  auch  die  eigentliche  Dichtung  der 
Alten  arbeitete  nie  ohne  Vorbilder;  von  Vorbildern  wurde  sie  allemal 
mehr  oder  weniger  bestii^imt  angeregt;  und  daher  rechnen  wir  auch  die 
Übersetzer  des  Altertums,  Terenz,  Matius,  Aemilius  Macer,  unbedenklich  Übersetzer 
zu  den  Dichtern.  Das  taten  die  Alten  selbst,  ß)  Denn  auch  die  Über- 
setzung, der  es  wirklich  gelingt,  aus  einem  echt  griechischen  Gedicht  ein 
echt  römisches  zu  machen,  bleibt  Dichtung. 

*)  DiELS,  Doxographi  S.  531  ff.  erinnern,  der  p.  673  D  seinem  Zeitgenossen 

2)  Siehe  z.  B.  Schmekel,  Philosophie  |  Hephaestion  vorwirft,  ihn,  den  Athenaeus, 

der  mittleren  Stoa.  |  ausgeschrieben  zu  haben,  während  in  Wirk- 

^)  J.  G.  Sprenge^l,    De    ratione   quae  '  lichkeit  vielleicht  beide  nur  dieselbe  Quelle 

in  historia  plantarum  inter  Plin.  et  Theo-  |  —  eine  Schrift  des  Menodotos  über  Ana- 

phrastum  intercedit,  Marburg  1890;  ders.  i  kreon  —  auszogen;  s.  Stemplinger  S.  18 f. 

im   Rhein.  Mus.  46   S.  54  ff.;    dazu   meine  I  ^)  Vgl.  oben  S.  38. 

Schrift  De  halieuticis  S.  135  ff.  e)  Oben  S.  105. 

*)  Man    könnte    dabei   an   Athenaeus 


202  Kritik  und  Hermeneutik. 

Also  auch  der  Dichter  ist  nicht  oluie  seine  Quellen  zu  verstehen;  der 
erzählende  übernimmt  den  epischen  Stoff;  ein  elegischer  übernimmt  aus 
bedeutenden  Vorgängern  seine  Motive  und  Stimmungslagen,  u.  s.  f. 

Gelingt  es  uns  nun  aber,  diese  Quelle  festzustellen,  so  ist  damit  noch 
nicht  viel  gewonnen,  sondern  es  gilt  auch  hier  vielmehr,  zu  zeigen,  wie 
der  Poet  mit  seinem  Vorbild  umgeht. 
piaiitu8u.a.  Terenz  und  Plautus  übersetzen;    Avie  sorglich    dabei  Terenz  vorgeht, 

beobachtete  schon  Donat,  und  Meineke  hat  es  eingehend  dai'gelegt.  i)  Wie 
keck  hingegen  ein  Caecilius  verfuhr,  dafür  gibt  uns  Gelhus  ein  eklatantes 
Beispiel  (II  23):  keine  Verfeinerung,  vielmehr  eine  Vergröberung,  ja 
Verrohung;  und  wie  Caecihus,  so  machte  es  ohne  Frage  auch  Plautus. 
Es  wird  sich  immer  mehr  herausstellen,  daß  Plautus,  wo  er  wollte,  auch 
selbständig  vorging,  und  man  kann  nicht  alle  scheinbaren  Zusammen- 
hangslosigkeiten  bei  ihm  aus  Kontamination  zweier  Vorlagen,  die  er  treu 
übersetzte,  erklären.  Die  Abhängigkeit  der  Römer  von  den  Griechen  hat 
dann  natürlich  nie  aufgehört,  aber  eigentliche  Übersetzungen,  wie  die 
Aratea  oder  Catull  c.  68  B  und  die  Varronischen  Argonautica  sind  selten, 
und  der  Trieb  zur  zweckmäßigen  Umformung  und  Weiterdichtung  wächst. 
Lukrez  Lukrcz  Unternimmt  es,  Epicurs  in  schlechter  Prosa  abgefaßten  Lehrabriß 
in  ein  Empedokleisches  Epos  umzuwandeln;  der  Inhalt,  auch  die  Dis- 
position, 2)  gehört  dem  Epicur;  originell  ist  die  Vortragsform.  Am  schönsten 
Vergii  ig^Q^  gjß]^  Vergils  Kompositionsweise  erkennen,  und  sie  erw^eckt  unser  Er- 
staunen, aber  auch  unsere  Bewunderung.  Gleich  zu  seinen  Hirtengedichten 
besitzen  wir  die  theokriteische  Vorlage,  aber  auch  sonst  stehen  eine  Fülle 
von  Imitationen  fest,  die  schon  das  Altertum  zu  sammeln  begonnen  hat.  3) 
Und  wir  sehen,  Vergil  ist  eine  Gärtnernatur,  der  nicht  etwa  Blüten  aus 
fremden  Gärten  pflückt  und  in  seine  Schalen  sammelt,  sondern  die  Kräuter 
vielmehr  mit  den  Wurzeln  aushebt  und  in  sein  Erdreich  pflanzt,  so  daß 
sie  bei  ihm  neu  treiben  und  ein  zweites  echtes  Leben  führen.  Dies  sein 
Verfahren  hat  Macrobius  Sat.  6,  1,  2  und  5,  3,  16  dereinst  richtiger  ge- 
würdigt als  manche  Neuere.  Im  Grunde  war  das  Verfahren  des  A])ollonius 
Rhodius  kein  anderes.*) 

Erstaunlich,    daß   dabei   nun    auch   ein  Werk   wirklich  großen  Zuges 
wie  die  Aeneis  entstehen  konnte! 
Epiker  Kein  Epiker   erfindet:    äjuaQTVQov  ovÖev  äeida),    sagt  Callimachus.     Er 

übernimmt  vielmehr  seinen  Stoff  nach  innerem  Triebe  und  ist  darin  vom 
Tragiker  (s.  oben  S.  185)  durch  nichts  verschieden.  Aber  Avie  dieser  variiert 
er  den  Stoff  auch,  vertieft  ihn,  fügt  Motive  und  Personen  hinzu;  und  so 
wie  das  Epos  selbst  großen  Stil  hat,  so  sind  auch  die  Entlehnimgen, 
durch  die  es  zustande  kommt,  im  großen  Stil  gehalten.  Dabei  lehnen 
die  Dichter  sich  wörtlich  an  ihre  Quellen  an.    Bei  den  christlichen  Dich- 


*)  Menandri  et  Philem.  reliquiae  S.  1  |  Philol.  1904  S.  66  ff.;    ders.,   Aus  Vergüs 

bis  140;   vgl.  auch  z.B.  G.  Yallat,  Quo-  Dichterwerkstätte,    Berlin  1905,   u.  sonst, 

modo    Menandrum    .  .  .    Terentius    trans-  ;  der  mir  Jedoch  die  Imitation  als  Bestand- 

tulerit,  Paris  1887.  '  teil    der    dichterischen  Tätigkeit  Vergils 

2)  I.  Bruns,  Lukrez-Studien,  Freiburg  j  nicht  innerlich  genug  aufzufassen  scheint. 

1884.  4)  SieheMERKEi.,Proleg.S.XXXVIIff. 


)  Vgl.  jetzt  die  Arbeiten  von  P.Jahn,       u.  XC  ff. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder. 


203 


tern  ist  das  in  dem  Grade  der  Fall,  daß  sich  z.  B.  bei  Cjprians  Versifi- 
zierung  der  Bücher  Mose  noch  erkennen  läßt,  daß  der  Verfasser  nicht 
der  Yulgata,  sondern  derjenigen  Gruppe  lateinischer  Bibelübersetzungen 
folgte,  die  man  die  Itala  nennt.  So  heißt  es  bei  ihm  im  Exodus  946 
cessate  deis  maledicere,  wo  die  Vulgata  deo."^  non  detrahes  bietet,  die  Itala 
aber:  deos  non  maledices.  Ja,  es  läßt  sich  erkennen,  daß  der  Dichter  für 
die  Genesis  eine  andere  Italavorlage  hatte  als  in  den  nachfolgenden 
Büchern.  1)  Sehen  wir  uns  Aveiter  um,  so  ist  von  Ovids  Metamorphosen 
nicht  erst  zu  reden;  sie  sind  ein  Reservoir,  in  das  die  zahllosen  art- 
verwandten M^^then  von  allen  Seiten  zusammenströmten.  2)  Und  Vergil: 
abgesehen  von  alledem,  Avas  er  in  die  Aeneis  umgestaltend  und  ver- 
feinernd aus  Homer  herübernimmt,  so  stammt  seine  Dido  und  Anna  aus 
Naevius,  die  Schilderung  der  Verzweiflung  der  verschmähten  Dido  aus 
Apollonius  Rhodius,  der  an  der  Liebe  und  Verzweiflung  der  Medea  ebenso 
seine  dichterische  Kunst  entfaltet  hatte,  es  stammen  weiter  wichtigste  Be- 
standteile der  Nekyia  aus  Posidonius  und  den  Orphikern,  die  wundervolle 
Iliupersis  im  zweiten  Buch  aus  einer  noch  nicht  sicher  ermittelten  Vorlage. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  in  diesem  zweiten  Buch  Vergils  "^^^rgU  u. 
manches  mit  den  Posthomerica  des  späten  Quintus  Smyrnaeus  überein- 
stimmt. Wie  erldärt  sich  dies?  Hat  dieser  Quintus  etAva  den  Vergil 
selbst  gelesen  und  als  Vorlage  herangezogen?  und  allgemeiner:  haben 
auch  Griechen  Römer  nachgeahmt?  Dem  müßte  einmal  in  zusammen- 
hängender Untersuchung  nachgegangen  AA-erden.  Jene  den  Quintus  be- 
treffende Frage  pflegt  man  heute  zu  verneinen  und  vielmehr  eine  gemein- 
same mjthographische  Vorlage  des  Vergil  und  des  Quintus  anzusetzen,  soAvie 
auchValeriusFlaccus  zum  Teil  nach  Mythographen  dichtete.  Glaublicher  ist 
trotzdem,  daß  Quintus  die  Aeneis  selbst  benutzte.  Jedenfalls  sei  bei  dieser 
Gelegenheit  erinnert,  daß  gelegentlich  auch  Grieclien  die  Schätze  der  römi-  Griechen 
sehen  Litteratur  Avirklich  zu  benutzen  wußten ;  dies  zeigt  der  Dichter  Claudian,  ahmer  der 
den  die  griechischen  Autoren  des  Ostreichs  als  Geschichtsquelle  eingesehen 
haben,  3)  zeigen  die  Aviederholten  griechischen  Übersetzungen,  die  Eutrop  er- 
fahren hat  (Paianios ;  Capito),  zeigt  Sallust,  den  Zenobios  zur  Zeit  Hadrians 
ins  Griechische  A^ertierte,  zeigt  Livius,  der  A^on  Cassius  Dio  in  den  Büchern 
86 — 51  direkt  benutzt  AA^urde,  zeigt  Lucian,  der  den  Trimalchio  des  Petron 
kannte  und  auf  ihn  anspielt,*)  zeigt  endlich  auch  jener  ^ÄQQLavog  bei  Suidas 
mit  seiner  poetischen  Metaphrase  der  Georgica  Vergils  (emxcog).  Ja,  schon 
Polybius,  der  Freigelassene  des  Kaisers  Claudius,  hat  den  Vergil  in  griechische 
Pi-osa  übersetzt,  ö)  Wenn  man  die  Georgica  metaphrasierte,  kann  man  die 
Aeneis   nicht   ignoriert  haben,  ß)     Sehen  Avir   doch   auch,    daß    griechische 


Römer 


*)  Vgl.HERM.  Best,  De  C'\^riani  metris 
in  Heptateuchum,  Marburg  "^1892,  S.  37  ff. 

2)  Siehe  Kienzle,  Ovidius  qua  ratione 
compendium  mythologicum  .  .  .  adnibuerit, 
Basel  1903;  O.  Lafaa'e,  Les  metaniorphoses 
dOv^de  et  leurs  modeles  grecs,  Paris  1904. 

3)  Siehe  Jul.  Koch,  Ehein.  Mus.  44 
S.  599.  Eine  eingehendere  Ausführung  ist 
uns  Kocli  leider  schuldig  geblieben. 

*)  Siehe  ().  Hirschp^eld,  Ehein.  Mus. 


51  S.470.  Daß  dagegen  Plutarch,  Lukuli  39, 

den  sechsten  Brief  des  Horaz,  den  er  zitiert. 

selbst  las,  bleibt  unsicher. 

ö)  Seneca  Oonsol.  Polyb.  8,  2;  11,  5, 
ß)  Siehe  KEHMPTZOA\%*^De  Quinti  Sm. 

fontibus  eqs.,  Kiel  1891;  vgl.  ähnlich  über 

Trj^phiodor  und  Vergil  Noack  z.  B.  Ehein. 

Mus.  48  S.  420  ff.    Abweichend  urteilt  E. 

Hetnze,   Virgils  epische  Technik  S.  63  ff. 

u.  a.  Gelehrte. 


204  Kritik  und  Hermeneutik. 

Dichter  gegen  Vergils  Didoauffassung,  indem  sie  den  Maro  ausdrücklich 
nennen,  polemisieren  (Anthol.  Pal.  16,  151).  Christodor  fand  das  Bildnis 
des  Vergil  im  Gymnasium  des  Zeuxippos  zu  Konstantinopel  aufgestellt 
und  beschreibt  es  seinem  griechischen  Publikum  mit  den  Worten,  Ek- 
phrasis  v.  414  f. : 

Kai  <piXog  Avaoviotoi  hyvdoooq  e'jiQSJis  xvxvog 
Tiveicov  Evemt]?  BsQyihog  ov  jiozs  'Pcofii^g 
ßvßgiäg  äXXov  "OfirjQov  dvhgeqos  jidzQtog  rjx^- 

Und  auch  der  ägyptische  Grieche  Claudian  hätte  nicht  der  große  Dichter 
und  Vergilnachahmer  werden  können,  wenn  er  den  Yergil  nicht  schon 
früh  und  als  er  noch  am  Nil  als  Grieche  lebte,  gekannt  hätte.  ^)  So  be- 
nutzte dem  Anschein  nach  auch  der  Historiker  Appian  das  lateinische 
Epos  des  Lucan;  A^gl.  Lucan  7,  326  ff.  und  Appian  bell.  civ.  2,  74.^) 

Proper/.  Andors  liegt  die  Sache   bei  Properz.     Nicht   selten   ergibt   sich,   wie 

.  bei  Geschichtschreibern,  so  auch  bei  den  Dichtern  der  Schluß,  daß,  wo 
sie  in  Schilderungen  übereinstimmen,  die  Ähnlichkeit  auf  gemeinsame 
Quelle  zurückgehen  wird.  Der  Schluß  ist  auch  für  Dichter  zulässig,  so 
frei  aach  ihre  Phantasie  sonst  walten  mag.  Die  Elegien  des  Properz 
zeigen  mitunter  die  nämlichen  Motive  und  Situationen,  die  wir  in  den 
Liebesgedichten  des  Spätlings  Paulus  Silentiarius  (in  der  Anthologia  Pala- 
tina)  wieder  antreffen.  Da  es  aber  ganz  unAvahrscheinlich  ist,  daß  dieser 
Paulus  den  Properz  selbst  las,  so  suchen  wir  für  beide  Dichter  ein  gemein- 
sames Vorbild  bei  den  alexandrinischen  Elegikern  und  Epigrammatikern 
des  3. und  2.  Jahrh.  v.Chr.,  die  freilich  ihre  erotischen  Motive  und  Phraseo- 
logie ihrerseits  wieder  aus  der  attischen  Komödie  entlehnt  hatten.  Denn 
die  Komödie  Athens  war  vornehmlich  eine  Schöpferin  der  Sprache  der 
Liebe. 
Catuii  c.  64  Es  gibt  aber  auch  litterarische  Werke  ganz  singulärer  Natur,  und  für 

ihr  Verständnis  wäre  es  besonders  nützlich,  die  litterarischen  Anregungen, 
aus  denen  sie  hervorgingen,  genauer  zu  kennen.  Ich  nenne  Catulls 
Nr.  64,  die  sog.  Nuptiae  Pelei  et  Thetidis,  sowie  die  Germania  des  Tacitus. 
Die  Nuptiae  sind  uns,  wie  die  Ciris,  ein  Beispiel  des  alexandrinischen 
Epyllion;  daß  sie  aber  aus  Übersetzung  hervorgingen,  ist  ganz  unwahr- 
scheinlich; denn  auch  die  Ciris  ist  keine  Übersetzung  (auch  die  Smyrna 
des  Cinna  war  gewiß  keine);  wohl  aber  müssen  wir  annehmen,  daß  hier 
in  gleichsam  schulmäßiger  Weise  von  Catull  Vorschriften  der  alexandrini- 
schen Poetik  befolgt  und  durchgeführt  sind;  daher  der  erotische  Monolog; 
daher   insbesondere   auch   die  eigentümlich  geschachtelte  Anordnung   des 

Tacitus  Inhaltes.3)  Des  Tacitus  sog.  Germania  aber  ist  damit  nicht  erklärt,  daß 
man  auf  die  litterarischen  oder  mündlich  übermittelten  Quellen  hinweist, 
aus  denen  Tacitus  den  Inhalt  entnahm  oder  entnehmen  konnte.  Das 
Wichtigste  ist  es,  vielmehr  die  Form  selbst,  die  der  Autor  wählte,  zu  er- 
klären, ich  meine  die  monographische  Behandlung  eines  ethnographischen 
Gegenstandes.     Dafür   aber   ist   an    Senecas   verlorene   Schriften   De   sHm 

1)  Siehe    ed.  Claudian   praef.  p.VLII;    i   phil.  9  S.  325! 

cf.  ib.  p.  XLIV  u.  LXXII.  |  «)  G.  May,  De  stilo  epylliomm  Eoma- 

2)  Siehe  Perrin,   American  joum.  of      nomm,  Kiel  1910,  umgeht  "das  Wichtigste. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder.  205 

Indiae  und  De  situ  et  sacris  Aegyptionim,  es  ist  an  Arrians  Monographie 
'Ivdixij  u.  ähnl.  zu  erinnern,  und  so  müssen  wir  das  Urteil  in  dem  Sinne 
formulieren,  daß,  was  Livius  dereinst  in  seinem  104.  Buch  als  Exkurs  ge- 
geben hatte:  situm  Germaniae  moresque  (so  die  -Periocha),  von  Tacitus 
nach  Senecas  Vorbild  unter  Heranziehung  von  weiterem  Material  zur 
Monographie  gestaltet  worden  ist.  Aus  derselben  Analogie  des  Seneca  und 
des  Arrian  ergibt  sich  dann  aber  auch,  daß  Tacitus  mit  seiner  Germania 
schwerlich  auch  noch  politisch  aktuelle  Zwecke  verband,  sondern  nur,  wie 
jene,  eine  ethnograpliische  Studie  hat  vorlegen  wollen,  sowie  ferner,  daß 
es  gänzlich  überflüssig  ist,  anzusetzen,  ursprünglich  sei  die  Germania  ein 
Teil  der  Historien  des  Tacitus  gewesen,  i) 

Ein  Unikum  in  seiner  Art.  isl  für  uns  auch  das  Kunstmärchen  von  Apuiej. 
Amor  und  Psyche,  das  wir  bei  Apulejus  lesen  (vgl.  oben  S.  174).  Wie  p^yche 
und  durch  Anregung  welcher  Vorbilder  oder  durch  welche  Wandlungen 
in  Stoff  und  Grundgedanken  dies  inhaltreiche  und  hochpoetische  Märchen 
zustande  kam,  ist  eine  besonders  interessante  und  viel  ventilierte  Frage, 
für  die  R.  Reitzenstein  2)  neue  Gesichtspunkte  aufgestellt  hat.  Doch 
halte  ich  Reitzensteins  Grundgedanken  für  verfehlt,  und  ich  will  dies 
nicht  ohne  kurze  Begründung  aussprechen.  Alles  dreht  sich  hier  um  das 
Orakel,  das  der  Vater  der  Psyche  erhält.  Die  schöne  Psyche  ist  ohne 
Freier  geblieben;  auf  Anfrage  verkündet  das  Orakel  Apolls  Folgendes, 
Apulej.  4,  33: 

Montis  in  excelsi  scopulo  tu  siste  puelJam 

Ornatam  mundo  funerei  thalami 
Nee  speres  generum  mortah  stirpe  creatum 

Sed  saevum  atque  ferum  vipereumque  malum, 
5  Qui  pinnis  volitans  super  aethera  cuncta  fatigat 

Flammaque  et  ferro  singula  debilitat, 
Quo')  tremit  ipse  lovis,  quo  numina  terrificantur 

Fluminaque  horrescunt  et  Stygiae  tenebrae. 

Der  Umstand,  daß  hier  Amor  im  v.  4  als  Schlange  bezeichnet  wird,  soU 
nun  angeblich  darauf  zurückweisen,  daß  Amor  in  einer  ursprünglicheren 
Fassung  der  Fabel  nicht  nur  als  der  herkömmliche  Liebesgott,  sondern 
als  kosmische  Gottheit  in  Schlangengestalt  vorgestellt  worden  sei,  und  es 
ist  E-eitzenstein  wirklich  gelungen,  aus  späten  und  entlegenen  Dokumenten 
der  orientahsch-ägyptisch  beeinflußten  Mischrehgionen  solchen  kosmischen 
Schlangen-Eros  in  einer  vereinzelten  dürftigen  Spur  nachzuAveisen.  Der 
Nachweis  ist  aber  ganz  unbrauchbar.  Denn  ein  Orakel  muß  doppeldeutig 
sein.  Wurde  in  obigen  Versen  wirklich,  wieReitzenstein  ansetzt,  ursprünglich 
die  Kenntnis  davon  vorausgesetzt,  daß  Amor  ein  schlangengestaltiger  Welt- 
gott sei,  so  enthielt  der  Spruch  keine  Dunkelheit  mehr;  alle  Gläubigen  mußten 
gleich  auf  ihn  raten,  und  alle  Angst  und  Trauer,  die  sich  anschloß,  war 
unnütz.  In  Wii-klichkeit  spielt  das  Orakel  unseres  Märchens  vielmehr  nur 
in  herkömmlicher  Weise  mit  einer  tropischen  Wendung  und  täuscht  durch 

*)    So    Brunot,     Un    fragment    des  ,  ')  Das  Märchen  von  Amor  und  Psyche 

histoires   de  Tacite,   Paris  1883.     Im   all-  |    bei  Apuleius,  Leipz.  1912. 
gemeinen  s.  Lückenbach,  De  Germaniae  ')  Quo  lese  ich  statt  Qiiod.     Das  quü 

(jiiae  vocatur  Tac.  fontibus,  Marburg  1891.       v.  5,  weist  auf  gener  saevus  zurück. 


206  Kritik  und  Hermeneutik. 

sie  den  naiven  Laienverstand,  Avie  die  Orakel  es  stets  tun  (oben  S.  52). 
Denn  sie  sind  nur  eine  Erscheinungsform  des  yQicpog  (oben  S.  121  f.)  nach 
Art  jenes  Musters,  das  uns  für  den  yglcpog  gegeben  wird: 

"Exxooa  Tov  Ugidfiov  Aio[^ir}örjg  exTavev  an)Q, 

wo  der  Kurzsichtige  einwendet:  „Diomedes  tötete  doch  den  Hektor  nicht" 
und  wir  dann  belehrt  werden  öti  diojurjdrjg  fjv  dvrjQ  6  'Axdhvg.^)  Man  ver- 
gleiche nur  gleich,  was  Pythia  dem  Krösus  bei  Herodot  1,  55  orakelt: 

oAA'  6'ra»'  i^/xiovog  ßaodevg  Mrjdoiot  ysfrjiai, 
xai  TOTE  Avöi  Jiodaßge  jiokvrp^qpida  Jiag'  "Egfiov 
(fEvyeiv  jiiTjds  juh'siv  /ni]ö'  atdeXo&ai  xaxog  eivai. 

Der  Kniff  ist  hier  bei  Herodot  das  tropisch  gesetzte  fjjulovog;  gemeint  ist 
König  Kyros,  der  Mischling.  Davon,  daß  Krösus  das  eine  Wort  Maultier 
oder  Halbesel  nicht  versteht,  hängt  sein  ganzes  zukünftiges  Schicksal  ab. 
Die  Parallele  ist  vollkommen;  denn  ganz  ebenso  ist  im  Orakel,  das  Psyche 
betrifft,  vipereum  mahim  die  Pointe;  auch  dies  nur  ein  Tropus;  auch  hier 
handelt  es  sich  scheinbar  um  ein  Tier.  Psyches  Eltern  verstehen  das 
Wort  von  einem  wirklichen  Drachen,  wie  Krösus  das  fjjuiovog  von  einem 
wirklichen  Maultier,  und  eben  darauf  gründet  sich  auch  5,  17  der  Ver- 
dacht der  neidischen  Schwestern  Psyches,  ihr  stets  unsichtbarer  Gatte  sei 
nichts  anders  als  ein  wirklicher  serpens\  denn  das  Orakel  habe  gesagt  te 
trucis  hestiae  nuptiis  destinatam. 

Zum  Verständnis  dieses  Tropus  aber  wolle  man  sich  erinnern,  daß 
die  Liebe  zum  Weibe  oder  aber  auch  die  Hetäre  selbst,  deren  Netzen 
niemand  entrinnen  kann,  eine  ÖQaxaiva  hieß.  Dafür  ist  der  locus  classicus 
das  Fragment  des  Anaxilas  bei  Athenaeus  p.  558  A,  avo  die  Vergleiche 
sich  häufen:  „wer  eine  Hetäre  liebt,  hat  es  zu  tun  mit  einer  ÖQaxaiva, 
Skylla,  Sphinx,  Hydra,  extöva.^  Das  genügt.  Aber  ebenso  wird  dann  auch 
Amor  selbst  bei  Plautus,  Persa  3,  mit  der  excetra  verglichen.  Das  ist  noch 
deutlicher.  AVer  diesen  Tropus,  der  der  Sprache  der  Erotik  angehörte,  die 
Gleichsetzung  Amors  mit  der  vipera,  nicht  versteht,  mißversteht  die  Ab- 
sicht des  Orakels  und  damit  zugleich  auch  die  ganze  Dichtung. 

Kosmische  Spekulationen  sind  dieser  Liebesnovelle  möglichst  fem  zu 
halten.  Denn  man  wird  bemerken,  daß  sich  ihr  Verfasser  (sei  es  Apu- 
lejus  oder  seine  Vorlage),  was  die  Götterwelt  betrifft,  ganz  ebenso  Avie 
Lucian,  wo  er  uns  in  den  Olymp  einführt,  sorglich  im  Kreise  der  in  der 
Poesie  rezipierten,  homerischen  Göttergestalten  hält.  Einflüsse  der  Misch- 
religionen jener  Zeiten  vermeidet  er  in  diesem  Stück  planvoll.  Es  ist  wahr, 
daß  es  in  kosmischen  Spekulationen  damals  auch  eine  Gottheit  Psyche  gab. 
Aber  daß  Apulejus  seine  Psyche  durchaus  nicht  in  solchem  Sinn  verstand 
oder  verstanden  vorfand,  leidet  für  mich  keinen  Zweifel.  Das  Märchen 
ist  vielmehr,  wie  es  vorliegt,  so  sinnig  klar  und  einheitlich  durchgeführt, 
daß  ich  mich  zu  der  Ansicht  bekenne:  es  kann  nie  eine  wesentlich 
andere  Gestalt  gehabt  haben  als  die  vorliegende.  Daß  der  Erfinder,  den 
Apulejus  mutmaßlich  übersetzt,  bei  seiner  Dichtung  köstliche  Motive  des 
ungeschriebenen  Volksmärchens,  wie  von  den  neidischen  Schwestern  und 


i)  Schol.  Aristid.  p.  508. 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder.  207 

von  den  Strafarbeiten  des  verkannten  und  verfolgten  schönen  Weibes, 
benutzt  und  aufgelesen  hat,  widerspricht  dem  Gesagten  durchaus  nicht. 
Denn  auf  diesem  Wege  entstehen  alle  guten  Kunstmärchen.  Jedenfalls 
steht  die  Amor-  und  Psj^chegeschichte  so  vor  uns,  als  käme  sie  aus  erster 
Hand,  und  zeigt  nirgend  einen  Eiß,  der  als  Spur  erheblicher  redaktioneller 
Umformungen  sich  verwenden  ließe.  Und  dabei  wurde  nun  endlich  ein 
anmutiger  allegorischer  Gedanke  zugrunde  gelegt,  und  auch  dieser  gehört, 
wie  wir  dringend  betonen  müssen,  der  Sprache  der  gewöhnlichen  Erotik 
des  Altertums  an:  Psyche  wird  unsterblich. 

Daß  das  schöne  Mädchen  in  unserer  Geschichte  grade  Psyche  heißt, 
war  nichts  Auffälliges ;  denn  Psyche  w^ar  bei  den  Griechen  ein  ganz  ver- 
breiteter Frauenname.  Aber  der  Name  tritt  liier  zugleich  in  den  Dienst 
einer  Allegorie,  die  sich  erst  am  Schluß  der  Dichtung  ganz  vollendet.  Die 
Liebe  peinigt  den  Menschen  mit  tausendfacher  Qual,  aber  sie  macht  ihn  im 
Moment  ihrer  Sättigung  den  Unsterblichen  gleich :  das  ist  der  Sinn,  der  das 
Ganze  durchdringt.  So  wird  denn  die  Psyche  am  Schluß,  nach  überwundener 
Pein,  in  der  Tat  in  den  Olymp  selbst  eingeführt,  aber  nicht  etwa  als 
Gottheit,  nicht  als  Göttin,  die  etwa  der  Yenus  oder  dem  Mercur  irgendwie 
artgleich  wäre  und  dauernde  göttliche  Funktionen  erhielte.  Das  ist  nicht 
der  Fall.  Apulejus  vermeidet  es  sorgfältig,  die  am  Schluß  erhöhte  Psyche 
„Göttin"  zu  nennen.  Ausdrücklich  nur  als  „Unsterbliche"  wird  sie  im 
Himmel  aufgenommen,  d.  h.  als  eine,  die  nicht  zu  sterben  braucht,  wie 
Tithonus  unsterbHch  w^urde,  nur  w^eil  Eos  ihn  liebte.  Was  ist  damit  ge- 
sagt? Nur  dies,  daß  der  glücklich  Liebende  sich  wie  im  Himmel  fülilt, 
sich  ewig  dünkt.  immortaUs  ero  sagt  Properz  2,  14,  10  und  nochmals:  si 
dabit  haec  multas  (noctes),  fiam  immortaUs  in  Ulis  2,15,39.  Das  ist  deut- 
lich und  unmißverständlich  das  schwärmerische  Evangelium  der  Erotik: 
solange  der  Liebesgenuß  währt,  solange  w^ährt  des  Sterblichen  Unsterb- 
lichkeit: die  Psyche  des  so  Liebenden  ist  immortaUs.  Das  ist  auch  hier 
gemeint.  Denn  Juppiter  sagt  zur  Psyche  nur  dies,  6,  23 :  immortaUs  esto 
nee  umquam  digredietur  a  tiio  nexu  Ciipido.  Nur  in  diesem  Sinne  wird 
Psyche  in  den  Himmel  erhoben. 

Doch  kehren  wir  zu  ergiebigeren  Problemen,  die  das  Verhältnis  der  w^erke  po- 
Autoren  zu  ihren  Quellen  betreffen,  zurück.  Eine  besondere  Gruppe  ^^xltu^^' 
bilden  die  Werke  polemischer  Natur,  die  überhaupt  nicht  zu  ver- 
stehen sind,  wenn  man  den  Gegner,  gegen  den  sie  sich  richten,  nicht 
kennt  oder  rekonstruiert.  So  gibt  Thuk^^dides  im  ersten  Buch  c.  89 — 118 
ein  Korrektiv  zu  seinen  Vorgängern,  insbesondere  zu  Hellanikos ;  i)  1,20,3 
polemisiert  er  stillschweigend  gegen  Herodot  (s.  dort  das  SchoHon).  Xeno- 
phon  eröffnet  seine  Memorabilien  I  c.  1  und  2  mit  einer  Widerlegung  der 
Sokratesanklage  des  Polykrates,  und  die  Disposition  der  letzteren,  für  uns 
verlorenen  Schrift  läßt  sich  noch  Punkt  für  Punkt  aus  ihm  entnehmen.  2) 
Ganz  ähnhch  steht  es  mit  Kaiser  Julians  verlorener  Streitschrift  xard 
KgioTtavöjv  in  drei  Büchern,  die  aus  der  wortreichen  Widerlegungsschrift 
des   Cyrill   von   Neumann  3)    teilweise   hat   rekonstruiert   werden    können. 

')  Kirchhoff,  Hermes  XI  S.  371  f.  3)  C.J.NEUMANN,Iulianilibronim  con- 

2)  Siehe  unten.  tra  christianos  quae  supersunt,  Leipz.  1880. 


208  Kritik  imd  Hermeneutik. 

Aus  Pseudo-Longin  Tregl  vxpovg  läßt  sich  noch  ziemHch  gut  die  Arbeit  des 
Rhetors  CaeciHus,  gegen  die  jener  sich  wendet,  erkennen;  vor  allem  ist 
es  wahrscheinlich,  daß  viele  der  Belegstellen  für  und  gegen  den  erhabenen 
Stil,  die  wir  in  der  Schrift  vom  Erhabenen  lesen,  schon  von  dem  fleißigen 
piato  Caecilius  beigebracht  Avorden  waren.  Läge  die  Sache  bei  Plato  nur 
ebenso  klar!  Denn  die  große  Schriftstell erei  Piatos  ist  eine  ständige  Aus- 
einandersetzung mit  Gegnern,  die  wir  nicht  mehr  haben,  und  keine  Ana- 
lyse eines  Platodialogs  kann  geschehen,  ohne  daß  wir  nach  ihnen  uns 
umsehen;  eine  Fülle  geistvollster  Kombinationen  ist  auf  diese  Probleme 
verwandt  worden:  auf  Demokrit  diviniert  man  im  Philebus,  auf  Anti- 
sthenes  im  Theaetet  und  Kratylos,  u.  s.  f.,  Hypothesen,  die  von  Zeit  zu 
Zeit  allerdings  dringend  Revision  verlangen.»)  So  auch  die  Hypothese 
von  der  Polemik  Piatos  gegen  Isokrates,  im  Euthydem  und  sonst,  die 
seit  Leonhard  Spengel  lebhaft  erörtert  wird  2)  und  sich  auf  mancherlei 
Isokratesanklänge  bei  Plato  stützt.  In  vielen  Fällen  läßt  sich  aber  natür- 
lich gar  nicht  ausmachen,  welcher  von  diesen  beiden  Autoren  da  jedes- 
mal auf  den  anderen  anspielt  und  ob  da  nicht  auch  noch  Bezüge  zu 
anderen  Autoren  mit  eingreifen.    Zur  Vorsicht  in  solchen  Dingen  mahnt 

Symposien  vieles,  niclits  aber  so  sehr,  wie  das  Beispiel  der  beiden  Symposien, 
Xenophons  und  Piatos.  Denn  eine  imitierende  und  zugleich  polemische 
Beziehung  zwischen  beiden  Meisterwerken  ist  da  sicher  vorhanden.  Aber 
die  Kenner  schwanken  durchaus,  welcher  von  beiden  Xoyoi  egcoTixoi  der 
frühere  sei.  Jene  Polemik  betrifft  Nebendinge  wie,  ob  aus  kleinen  oder 
aus  großen  Bechern  getrunken  Avird,  dann  auch  die  Wahl  der  Sprecher, 
unter  denen  sich  bei  Xenophon  der  von  Plato  verachtete  Antisthenes  be- 
findet, endlich  gewisse  Einzelheiten  in  der  Auffassung  der  veredelten 
Päderastie,  um  die  es  sich  in  den  Gesprächen  vornehmlich  handelt.  Dafür, 
daß  Piatos  Werk  früher  fällt,  spricht  schließlich  doch  eben  diese  Liebes- 
theorie selbst,^)  spricht  auch  der  Umstand,  daß  im  dramaturgischen  Auf- 
bau Xenophons  Werk  unbedingt  das  vollkommenere  ist.  Allein  wie  viele 
lassen  sich  durch  diese  Gründe  überzeugen? 

Ergänzung  Die   höchsto  Lcistung   der  Hermeneuse   aber   bleibt   uns  noch  übrig. 

""^^ige/^  Dies  ist  die  Rekonstruktion  des  Inhaltes   verlorener   und   die  Er- 
Werke    gänzuug  dos  Inhaltes  unvollständiger  Werke. 

seneca_  Das  letzte  zuerst.     Seneca  hat  seine  Tragödie  Phoenissen,    die   ohne 

Chor  in  zum  Teil  zusam m  enhangslosen  Szenen  vorliegt,  nie  fertig  gemacht. 
Wer,  was  vorliegt,  recht  verstehen  will,  Avird  sich  bemühen,  hypothetisch 
den  Grundriß  der  Fabel  zu  erschließen,  für  den  diese  Szenen  bestimmt 
waren.'*) 

Aeschyius  Ungleich  belangreicher  und  brennender  die  Frage  nach  den  Trilogien 

^th°e™8     ^^^   Aeschyius.     Der   erhaltene  Prometheus   ist   nur   ein   Akt  im   großen 

Götterdrama.     Es  ist  der  gefesselte.     Es  ist   schon  viel,   daß  wir  wissen, 


1)  DüMMLERS  Antisthenica  und  Aka-  !  Piatone,  Jena  1906. 

demica  gaben  hierfür  viel  Anregendes.  ;  ')  Siehe  I.  Bruns,  Vorträge  und  Auf- 

')  Siehe  H.  Gomperz  in  Wiener  Stu-  \  sätze  S.  118  ff. 

dien  Bd.  27  u.  28.   Ablehnend  B.  v.  Hagex,  \  *)  Neue  Jahrbb.  27  S.  361  f. 

Num   simultas   intercesserit  Tsocrati  cum  i 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder.  209 

daß  auf  ihn  der  XvojjLsvog  folgte,  in  dem  die  Titanen  den  Chor,  bildeten 
und  Herakles  die  Lösung  brachte.  Aber  das  dritte  Stück,  der  nvQcpoQogl 
Avar  es  wirklich  das  Schlußstück?  oder  begann  mit  ihm  das  Ganze,  und 
Avar  darin  der  Raub  des  Feuers  dargestellt?  Man  muß  sagen,  daß  das 
erhaltene  Stück  zur  Exposition  der  Handlung  vollständig  genügt;  auch 
scheint  es,  daß  nvQcpooog  nicht  den,  der  das  Feuer  raubt,  sondern  nur  den 
bedeuten  kann,  der  das  Feuer  zu  tragen  pflegt. 

Für  die  Handlung  der  Danaidentrilogie  gaben  die  uns  erhaltenen  Danaiden 
Schutzflehenden  sicher  die  Eröffnung.  Fünfzig  Mädchen,  die  ihre  Männer 
töten  in  der  Hochzeitsnacht;  nur  Hypermestra  rettet  den  Lynkeus:  so 
ging  die  Handlung  weiter;  das  Ganze  gipfelte  im  Auftreten  der  Aphro- 
dite, die  feierlich  zugunsten  Hypermestras  und  ihrer  Liebe  die  göttliche 
Entscheidung  gab.  Welche  Stücke  folgten  nun  aber  auf  das  erste?  Wir 
haben  statt  zwei  drei  Stücke  zur  Verfügung:  Aavatdeg,  Oalajuojzoioi  und 
AlyvjiTioi.  Ich  glaube  immer  noch,  daß  GakajuojToiot  das  ZAveite,  Älyvjtrioi 
das  Schlußdrama  gOAvesen  und  daß  der  Titel  Aavatdeg  auszuscheiden  ist. 
Denn  nur  der  Gesamttitel  der  Trilogie  konnte  so  lauten,  und  es  scheint 
absurd,  A\'enn  neben  dem  ersten  Drama  "Ixhideg  eins  der  folgenden  Aavatdeg 
hieß:  als  ob  die  'Ixerideg  nicht  auch  Aavatdeg  AA'ären;  ebenso  absurd,  Avie 
AA'enn  unser  Schiller  von  den  drei  Dramen  „Wallensteins  Lager",  „Piccolo- 
mini"  und  „Wallensteins  Tod"  das  letzte  oder  mittelste  einfach  „Wallen- 
stein" überschrieben  hätte.  Doch  verkenne  ich  nicht  die  entgegenstehenden 
ScliAAderigkeiten.  i) 

Claudian  hat  seinen  Raptus  Proserpinae  nie  vollendet.  Wir  haben  ciaudian 
nur  drei  Bücher,  die  mit  der  Wehklage  der  umirrenden  Ceres  enden;  es  ^^^^"^ 
ist  die  Wehldage  um  die  geraubte  Tochter.  Aber  Claudian  hat  zum  Glück 
in  seinem  Proöm  dafür  gesorgt,  daß  man  AAdsse,  wie  das  Werk  w^eiter- 
gehen  und  sich  abrunden  sollte :  nicht  nur  das  Wiederauffinden  der  Tochter 
sollte  folgen,  sondern  auch  die  Einsetzung  des  Ackerbaus. 2)  Ungünstiger 
steht  es  mit  Lucans  Epos  De  hello  civili,  von  dem  uns  nur  zehn  Bücher  Lucan 
unterlassen  sind.  Sie  behandeln  den  Kampf  Cäsars  gegen  Pompejus; 
aber  nicht  nur  ihn.  Pompejus  ist  schon  im  achten  Buch  gestorben; 
Cäsars  Erfolge  gehen  Aveiter,  und  im  Buch  X  sehen  wir  ihn  siegreich  in 
Ägypten,  mit  gelehrten  Unterhaltungen  beschäftigt;  Pompejus  scheint 
A^ergessen.  Das  sollte  gewiß  nicht  der  Abschluß  sein.  Denn  die  Hand- 
lung fällt  allzu  planlos  auseinander.  Man  hat  es  ZAvecldos  genannt,  sich 
darüber  Gedanken  zu  machen,  wie  Lucan  sein  Werk  eventuell  fortzusetzen 
gedacht  hat.  Wer  ihn  aber  im  Sinne  der  höheren  Exegese  als  Dichter, 
d.  h.  als  Ordner  und  Anordner  seines  Stoffes  würdigen  aa^II,  Avird  im 
Gegenteil  darauf  dringen,  dies  klarzustellen;  iind  das  Richtige  ist  längst 
ausgesprochen.  Lucan  verherrlicht  Pompejus,  grollt  dem  Cäsar.  Also 
sollte  und  mußte  Cäsars  Ermordung  den  Abschluß  geben.  In  der  Tat 
wird  der  Tod  Cäsars  vom  Dichter  am  Anfang  des  neunten  Buchs  ver- 
kündigt, wo  des  Pompejus  Seele  sich  zu  den  Sternen  erhebt,    dann  aber 


)  Siehe  Ehein.  Mus.  32  S.  419  ff. ;  Un- 


haltbares gibt  A.  Nathansky,  Wiener  Stud. 
32  S.  7  ff 


h 


)  Vgl.  auch  Rapt.  III  52  do7iec  laetata 


repertae  Indicio  tribiiat  friiges;  ed.  Claudian 
p.  XVII. 
Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  14 


210  Kritik  und  Hermeneutik. 

lierabscliwebt  zu  Brutus  und  Cassius,  um  in  deren  Seele  zu  atmen;  und 
schon  VII  451  lesen  wir:  Cassius  hoc  feriet  caput.  Die  Sühne  wird  voraus- 
gesagt; sie  mußte  also  auch  folgen.  Cäsars  Frevel  der  Anfang,  sein  Unter- 
gang der  Abschluß:  das  gab  ein  abgerundetes  Ganze,  vielleicht  in  zwölf 
Büchern.  Die  Buchzalil  war  durch  Yergils  Vorbild  empfohlen,  i) 
Petron  Pctron  War  des  Lucan  interessanterer  Zeitgenosse,  und  viel  begieriger 

wären  wir  allerdings,  den  Inhalt  der  verlorenen  Partien  seines  frechen 
Reis eroman Werkes  zu  erraten.  Aber  die  Sache  ist  hier  aussichtslos.  Etwa 
zwanzig  Bücher  hatte  Petron  hinterlassen,  und  wir  haben  nur  etwa  aus 
Buch  15  und  16  Exzerpte:  die  Geschichte  von  Encolpius  mit  seinem  Giton, 
dem  liederlichen  Globtrotter,  der  vagabundierend  nach  Massilia,  Neapel, 
Croton  kommt.  Der  Zorn  Priaps  verfolgte  ihn  überall  bei  seinen  Aben- 
teuern so  wie  den  Odysseus  der  Zorn  Poseidons;  das  läßt  sich  immerhin 
erkennen.  2)  Aber  was  kann  in  den  ersten  vierzehn  Büchern  nicht  sonst 
noch  alles  passiert  sein?  Vielleicht  waren  sie  minder  unanständig  als  die 
letzten,  und  der  Exzerptor  hat  sich  nicht  für  sie  erwärmt. 

Wenden  wir  uns  hiernach  endHch  zu  solchen  Werken,  deren  Text, 
weil  man  aufhörte,  Abschriften  von  ihnen  herzustellen,  ganz  verschollen 
ist  und  von  denen  auch  keine  Exzerpte  vorliegen.  Auch  ihre  Rekonstruk- 
tion ist  Sache  des  Nachschaffens  und  der  Divination  und  Konjektur,  mit 
Zugrundelegung  der  erhaltenen  Fragmente,  die  dabei  die  sorglichste 
Auslegung  erfordern,  sowie  derjenigen  Autoren,  die  das  betreffende  Werk 
in  freierer  Weise  benutzt  haben. 
Caiii-  Besonders  günstig  ist  die  Sachlage  alsdann,  wenn  zwei  Autoren  uns 

denselben  Erzählungsstoff  in  annähernd  identischer  Weise  überliefern. 
Man  sammelt  alsdann  alle  Übereinstimmungen  und  hat  die  gemeinsame 
Vorlage  damit  zurückgewonnen.  So  wissen  wir,  daß  Callimachus  die 
hübsche  Novelle  von  Akontios  und  Kydippe  behandelt  hat;  sowohl  die 
pseudo-Ovidischen  Herolden  20  und  21  als  auch  des  Aristaenetus  Brief  1 10 
überliefern  uns  eben  diesen  Stoff.  Aus  beiden  ist  ein  deutliches  Bild  der 
Callimachus elegie  zurückgewonnen.  3)  Ganz  ähnUch  stimmen  die  gleich- 
falls pseudo-Ovidischen  Herolden  18  und  19  über  Hero  und  Leander  mit 
des  Musaeus  anmutigem  Epylhon  gleichen  Inhalts  überein,  und  auch 
hieraus  wird  auf  das  bequemste  eine  Originalerzählung  der  schönen  Sage, 
die  der  alexandrinischen  Zeit  angehörte,  ermittelt;  wir  wissen  in  diesem 
Fall  nur  nicht,  ob  sie  dem  CaUimachus  gehörte. 4)  Man  hat  immer  Lust, 
wo  sich  eine  ätiologische  Novelle  herausstellt,  sie  auf  des  Callimachus 
Ahia  zurückzuführen ;  ö)  und  diese  Neigung  ist  begreiflich.  Man  sollte 
sich  dabei  aber  immer  gegenwärtig  halten,  daß  diese  Airia  nur  vier  Bücher, 
also  schwerlich  mehr  als  viertausend  Verse  enthielten,  was,  wenn  jede  Er- 
zälilung  hundert  Verse  umfaßte,  nur  vierzig  Erzählungen  zuließ. 


machus 
Alna  u 


)  Vgl.  M.  Schanz,  Gesch.  d.  römischen   I   Hero  et  Leandro  fönte,  Leipz.  1889.    Mit 


Litteratur  §  391 

2)  Siehe  E.Klebs,  Philolog.47  S.623f. 
^)  O.D1LTHF.Y,  De  Callimachi  Oydippa, 


Heroid,  16  und  17  ist  des  KoUuthos  AoJiayij 
EUytfg  (ed.  Abel  1880)  zu  vergleichen. 

^)  Ueber   das  erste  Buch  der  Aina  s. 


Leipz.  1863.     Weiteres  brachte  der  Calli-   \   E.  Dietrich,   Fleckeis.  Jahrbb.  Suppl.  23 


machuspapyrus . 

^)  J.  Klemm,  De  fabulae  quae  est  de 


S.  167  ff. 


i 


IV.  Die  höhere  Hermeneutik.     C.  Quellen  und  Vorbilder.  211 

Ein  verwandtes,    aber   mühsameres  Unternehmen   ist   der   lateinische  Lat.Aesop 
Aesop  des  Romulus  von  G.  Thiele  (Heidelberg  1910),  in  welchem  Buche 
die  unscheinbaren  mittelalterlichen  Sammlungen  lateinischer  Tierfabeln  in 
gewissen  Grenzen  auf  ein  antikes  lateinisches  Fabelbuch,  das  vom  Phädrus 
unabhängig  bestand,  zurückgeführt  ist. 

Aber  auch  auf  dem  Gebiet  der  gelehrten  Litteratur  des  Altertums  ist  Theophrast 
Ähnliches  gelungen.  Ich  denke  vor  allem  an  Diels'  Doxographen,  eine  ''^?=aT*' 
g;länzende  Wiederherstellung  des  wichtigen  Theophrastwerkes,  in  welchem 
die  Ansichten  sämtlicher  griechischen  Philosophen  über  Natur  und  Welt 
von  "Theophrast  vorgeführt  waren.  Diels  hat  die  einschlägigen  placita 
pliilosophorum  aus  der  weitverzweigten  späteren  Litteratur  mit  Scharfsinn 
und  Umsicht  gesammelt  und  in  quellenmäßigen  Zusammenhang  gebracht, 
und  wir  haben  damit  ein  Fundamentalquellenwerk  für  die  Geschichte  der 
antiken  Naturphilosophie  erhalten. 

Die    sogenannten  Fragmente    sind    direkte  Zitate;  Fundgruben   für  Fragment- 
solche   Zitate    sind    auf    griechischem   Gebiet    besonders    Athenaeus    und  i^^g^^^nd 
Stobaeus,    auf  römischem  Nonius  Marcellus.     Ansätze  zu  Fragmentsamm-    Rekon- 
lungen  sind  früh  gemacht  w^orden.    Fördernd  wirkte  vor  allem  R.  Bentley, 
der  für  Callimachus  die  Bahn  wies.  Für  wirldiche  inhaltliche  E/okonstruktion 
war  lange  Zeit  ein  führendes  Werk  das  F.  G.  Welckers,  Die  griechischen 
Tragödien   mit  Rücksicht    auf   den   epischen   Zj^klus   geordnet,    3  Bände, 
1839 — 41,   nebst   desselben   Die   äschyleische  Trilogie  Prometheus,    1824. 
Dann   regten   sich   die    helfenden   Kräfte    auf   aUen   Gebieten.     Beispiele 
herausgreifend  nenne  ich  für  die  Historiker  noch  Maurenbrechers  Ausgabe 
der  Historien  des  Sallust,  Theopomps  Hellenika  in  Ed.  Meyers  Rekonstruk- 
tion, für  das  Gebiet  der  Satire  den  Timon  von  Phlius  ed.Wachsmuth  (1857) 
und  die  mannigfachen  Bemühungen   um  Lucilius,    für  den   uns  natürlich 
der  Nachahmer  Horaz   eine   erwünschte  Hilfe   ist,')   für   die  Philosophen 
H.  Diels'  Parmenides  und  Herakleitos  von  Ephesos,  sowie  Useners  Epicurea. 

Äußerst  spärlich  sind  die  Fragmente  der  lo  des  Calvus.2)   Zu  ihnen  Caivus  lo 
sei  hier  noch  eine  Bemerkung  gestattet.    Diese  lo  war  ohne  Zweifel  ein  so- 
genanntes Epyllion  alexandrinischen  Geistes  und  eine  nahe  Verwandte  der 
hochgelehrten  Zmyrna  des  Hel\T.us  Cinna.    Das  eine  Fragment  aber  lautet: 

a  virgo  infelix,  herbis  pasceris  amaris. 
Also  eine  Weissagung  im  tempus  futurum.  Wenn  man  nun  bedenkt,  daß 
Lykophrons  „Alexandra"  als  Seherin  ihren  mythographischen  Inhalt  ganz 
im  tempus  futurum  heruntererzählt,  ja,  daß  es  mit  dem  „Apollo"  des 
Alexander  Aetolus  ebenso  stand  (denn  das  erhaltene  Bruchstück  dieses 
„Apollo"  bei  Parthenius  c.  14  zeigt  dies  selbe  Tempus,  der  Inhalt  aber  war 
wieder  mythographisch),  so  läge  die  Yermutung  nicht  fern,  daß  Caivus 
es  in  seiner  lo  ebenso  machte.  Dazu  konnte  ihn  der  Prometheus  des 
Aeschylus,  der  der  lo  die  Wege  weist,  anregen.    Vielleicht  aber  hatte  des 


*)  Um  Lucilius  hat  sich  besonders  1  möchte,  weil  nicht  nur  Marx,  sondern 
F.  Marx  (ed.  1904)  auf  das  sorglichste  be-  |  auch  C.  Oichorius,  Untersuchungen  zu 
müht.  Einige  Beiträge  zu  ihm  gab  auch  j  Lucilius,  Berlin  1908,  sie  beiseite  lassen. 
ich    (Zwei   polit.  Satiren  des   alten  Rom,    !  2^  Vgl.  F.  Plessis,  Caivus,  Paris  1896. 

Marburg  1888),    die  ich  deshalb  anführen   | 

14* 


212  Kritik  und  Hermeneutik. 

Calvus  Gedicht  zugleich  auch  die  Form   des  Zwiegesprächs.     Denn  auch 
lo  führte,  ihre  Zukunft  vorausahnend,  das  Wort,  wie  das  Fragment  zeigt : 

Mens  mea  dira  sibi  praedicens  omnia  vecors. 
Oder  es  war  endlich  vielmehr  die  mens  der  lo  selbst,  die  „omnia  sibi 
praedicens"  auch  jenen  Vers  a  virgo  in  fei  ix,  herbis  pasceris  amaris  sprach 
und  alles  Weitere  im  futurischen  Tempus  vortrug.  Diese  Annahme  scheint 
mir  die  glaublichste,  und  somit  gehört  die  lo  des  Calvus  in  die  Ge- 
schichte des  Selbstgesprächs  (oben  S.  187  f.).  In  der  Exposition  aber  stand 
die  erzälilende  Zeile: 

<Io  iam>  partus  gravido  portabat  in  alvo, 

mit  welcher  mutmaßHch  das  Gedicht  begann,  i) 
Hilfe  der  Eüemach  sei  noch  kurz  der  Archäologie  gedacht.     Denn  auch   die 

logiT     Archäologie  hat  bei  der  Rekonstruktion  verlorener  Dichtungen  vortrefflich 
weitergeholfen  und  kann  immer  weiter  helfen. 

Auch  die  Erfindung  der  mythologischen  Szenen  auf  Bildwerken,. 
Gefäßmalereien,  Wandfriesen,  Sarkophagreliefs  beruht  ja  in  den  meisten 
Fällen  auf  Dichterlektüre  und  setzt  dieselben  Stoffe  voraus,  die  in  der 
Litteratur  lebendig  waren.  Für  den  Nutzen,  den  ihre  Yergleichung  schafft, 
gibt  C.  Roberts  Schrift  „Bild  und  Lied"  mancherlei  Beispiele. 

Nehmen  wir  nur  die  Trajanssäule  in  Rom.  Wer  ihre  Reliefs  genau 
beschreibt,  dem  ergibt  sich  daraus  eine  Erzälilung  von  Trajans  Daker- 
kriegen,  wie  sie  in  durchaus  entsprechender  Weise  der  Inhalt  des  General- 
stabsAverkes  De  hello  Dacico,  das  der  Kaiser  anfertigen  ließ  und  das  uns 
Priscian  zitiert,  gewesen  sein  muß.  Aber  auch  an  Statins,  auch  an  die 
Ilias  latina  sei  erinnert.  Der  Dichter  Statius  schildert  uns  in  seiner  Achilleis 
Szenen  aus  Achills  Jugendleben,  für  die  wir  Entsprechendes  zum  Teil 
nur  auf  Bildwerken  antreffen.  2)  Die  Ilias  latina  aber  ist  ein  Auszug  aus 
dem  homerischen  Epos  im  Umfang  nur  eines  einzigen  Buches,  der  in  Neros 
Zeit  angefertigt  wurde;  die  Auswahl,  die  dabei  der  Verfasser  des  Auszugs 
traf,  ist  durch  die  Yergleichung  der  Bilderfolge  begreiflich  geworden,  die 
sich  auf  den  tabulae  IHacae  findet.  3) 


1)  Vgl.  Wochenschrift  f.  kl.  Phil.  1896  1   Dazu   Stählin   in   Rom.  Mitteilungen  21 

S.  1282.  !   (1907)  S.  379  über  die  Achilldarstellungen 

*)  Siehe   H.  Kürschner,   P.  Papinius       der  thensa  Capitolina. 

Statins  quibus  in  Achilleide  componenda  j  ^)  Vgl.  Brüning   im    Archäol.  Jahrb. 

usus  esse  videatur  fontibus,  Marburg  1907.  |   Bd.  IX  S.  136  ff.  nach  Büchelers  Hinweis. 


V.  Die  höhere  Kritik. 

Die  Tätigkeit  des  Hermeneuten  ist  zu  Ende.  Sie  hat  ihn  in  vielen 
Fällen  befriedigt,  manche  Werke  des  Altertums  aber  hat  er  zweifelnd 
beiseite  gelegt,  und  seine  Kunst  ist  an  ihnen  gescheitert.  Er  hat  ein 
Werk  nach  Zweck  und  Anlage  auseinandergelegt;  er  hat  es  vergHchen 
mit  dem  Zeitalter,  in  dem  es  entstanden  sein  soll,  und  mit  der  Natur 
des  Autors  selbst,  soweit  sie  bekannt  ist:  in  allen  diesen  Punkten  oder 
in  einem  von  ihnen  fühlt  er  sich  unbefriedigt;  das  Werk  stimmt  nicht 
zum  Charakter  des  Verfassers  oder  nicht  zu  der  Zeit,  in  der  er  lebte, 
oder  nicht  zur  Litteraturgattung,  der  es  angehört,  und  der  Hermeneut 
wird  wieder  zum  Kritiker  und  stellt  die  Frage:  kann  das  Werk  echt  sein? 
oder  ist  es  doch  redaktionell  verändert? 

Nehmen  wir  zunächst  den  günstigen  Fall,  daß  nur  redaktionelle  Yer- 
änderungen  vorliegen.  Solche  redaktionelle  Veränderungen  spielen  sich 
auf  dem  Gebiet  der  hypomnematischen  und  giossographischen  Litteratur 
eigentlich  immerwährend  ab.  Kommentare  und  Lexika  wurden  erw^eiteit 
und  Avurden  verkürzt  und  waren  in  jenen  Zeiten  gleichsam  unausgesetzt 
im  Fluß;  ich  erinnere  an  die  griechischen  Scholienmassen,  so  viele  ihrer 
sind,  an  den  erweiterten  Servius,  an  das  Glossar  des  Placidus,  an  die 
Geschichte  der  Etvmologica.  Doch  muß  ich  von  Arbeiten  dieser  Art  hier 
grundsätzlich  absehen  und  mich  auf  die  eigentlich  litterarischen  Werke 
beschränken. 

1.  Veränderungen  in  der  Buchteilung. 

Dies  ist  das  leichteste.  Für  Homer,  Xenophon  und  alle  älteren  ist, 
wie  schon  S.  172  gesagt,  die  Buchteilung  ganz  hinwegzudenken.  Die 
ersten,  die  ihren  Stoff  auf  mehrere  Bücher  verteilten,  waren  Aristoteles, 
aber  nur  in  seinen  Dialogen,  und  der  Historiker  Ephoros.  In  des  ersteren 
mehrbücherigen  Dialogen  war  jedes  Buch  eine  besondere  Szene;  und  auch 
Ephoros  verteilte  seinen  Stoff  auf  die  Buchrollen  y.aiä  yevog,  d.  h.  in  jeder 
erschöpfte  sich  ein  Sachteil  (oben  S.  173  u.  198).  Jede  Rolle  war  hier  also 
noch  fast  wie  ein  Werk  für  sich.  Wo  dagegen  in  umfangreicheren  Werken 
der  späteren  Zeiten  die  Buchteilung  fehlt,  ist  im  Gegenteil  anzusetzen,  B^^ch- 
daß  sie  verloren  gegangen  ist.  Denn  eine  Prosabuchrolle  pflegte  selten  stört: 
mehr   als   3000,    ein   Poesiebuch   nicht   mehr  als    1000   Zeilen   zu   halten.   J^^*^^' 

.  .  Tlieokrit 

Also  sind  die  2400  Verse  des  Catull  vom  Dichter  keinesfalls  so,    wie  sie      u.a. 
uns  heute  vorliegen,    zusammen   herausgegeben  worden,    sondern   erst  im   ^ 
Kodexbuchwesen   hat   man   sie   in   dieser  Weise   unorganisch   zusammen- 
gerückt.   Ebenso  liegt  die  Theokritsammlung  in  aufgelöstem  Zustand  vor; 
Theokiits   ßovxohxd   waren    nachweislich    ein  „Buch"    für   sich,    und   daß 


214  Kritik  und  Hermeneutik. 

diese  alexandrinischen  Dichter  so  kleine  Gedichte  wie  den  AiTrjg  für  sich 
allein  vervielfältigt  ins  Publikum  gaben,  glaube  ich  nicht.  So  ist  es 
ferner  Pflicht  desjenigen  Editors,  der  den  echten  und  ursprünglichen  Ovid 
herausgeben  will,  die  ungegliederte  Masse  seiner  Heroidenbriefe,  von 
denen  fünfzehn  echt  Avaren,  wieder,  wie  es  sich  gehört,  nach  dem  Vor-^ 
bild  der  Ars  und  der  Amores  auf  Bücher  zu  verteilen,  und  zwar  auf  drei 
zu  je  fünf  Briefen.  Daß  die  einzelnen  Buchaufschriften  dieser  drei 
Heroidenbücher  im  Kodexbuchwesen  leicht  verloren  gingen,  ist  nur  zu 
begreiflich  und  bei  Briefsammlungen  auch  sonst  nachweisbar.  Ebensa 
steht  es  mutatis  mutandis  bei  Justin   u.  s.  f.^) 

Theokrits  Nachlaß  ist  also  großenteils  arg  zertrümmert.  Einzelne  Ge- 
dichte hob  man  aus  seinen  verschiedenen  Büchern  nach  Art  der  Blütenlese 
aus  und  ordnete  sie  hinter  seine  gewiß  vollständigen  Bukolika:  das  ist  es, 
was  wir  von  ihm  haben.  Geringer  war  in  Senecas  Naturales  Quaestiones 
der  Schaden,  von  deren  ursprünglich  acht  Büchern  zwei  Bücher  verkürzt 
wurden  und  dann  als  Buch  lY  zusammenwuchsen.  Man  trennt  sie  heute 
als  rVa  und  IVb;  die  Handschriften  geben  also  nur  sieben.  So  wuchsen 
auch  Tacitus'  Ann.VündVI,  nachdem  sie  verstümmelt  worden,  in  eins  zu- 
sammen, so  auch  Buch  I  und  II  des  Properz,  wobei  dann  jedesmal  die 
Buchzählung  verändert   wurde.  2) 

2.  Breviarien. 

Jene  Werk  Verkürzungen  führen  uns  zu  den  Breviarien  des  Alter- 
tums, den  Exzerpten,  weiter,  den  exkoyat,  wie  sie  im  10.  Jahrhundert 
Konstantinos  Porp hyrogenne  tos  aus  der  Prosalitteratur  planvoll  ausheben 
ließ.  Über  Exzerpte  s.  oben  S.  34  f.  Nicht  selten  war  der  Effekt,  daß 
das  Originalwerk  durch  das  Exzerpt  ganz  verdrängt  Avurde.  So  ist  es- 
leider  mit  Phaedrus'  Fabeln  geschehen,  deren  fünf  Bücher  kläglich  ab- 
gemagert und  zusammengefallen  sind,  so  mit  des  Eratosthenes  KajaoTeQiofioiy 
so  auch  dem  Anschein  nach  mit  des  Xenophon  Ephesius  Roman  'Eq)eoiaxdJ} 
Die  123  Fabeln  im  Cod.  Athous  des  Babrios,  die  auf  zwei  Bücher  ver- 
teilt sind,  können  gleichfalls  nur  als  Exzerpt  gelten.*)  In  diesen  Fällen 
erschließt  also  die  Kritik,  daß  die  Werke  nicht  vollständig.  Dazu  gesellt 
sich  auch  der  zweite  Epikurbrief  an  Pythokles,  ein  Exzerpt,  das  der  Philo- 
soph jedenfalls  nicht  selbst   hergestellt  hat.^) 

3.  Anstöße  in  der  Komposition. 

Arrians  „Periplus"  ist  nicht  einheitlich,  und  nur  sein  erster  Bestand- 
teil, der  Brief  an  Trajan,  zeigt  die  Originalhand  Arrians.  Das  verrät 
sich  auch  schon  in  der  überlieferten  Überschrift:  ^A^^iavov  ejiioroli]  Jigog 
TQaCavov  ev  fj  xal  jieQmXovg  Ev^eivov  Jiovtov.^)  So  haben  sich  auch  gegen 
die  Einheitlichkeit  einiger  anderer  größerer  Werke  ernstliche  Zweifel 
erhoben;  es  sind  indes  solche,  bei  denen  die  Anstöße  sich  ganz  wohl  auf 

1)  Hierzu  vgl.  Ant.  Buchwesen  S.  378 f.  :    ^  •»)  Suidas   spricht  von  zehn  Büchern. 
382  f.;   zu   CatuU  ib.  S.  401;    zu  Theokrit    i  &)  Usenp:r,  Epicurea  S.  XXXVII  f. 
S.  389  f.  und  Elpides  (Marburg  1881)  S.  36  f.    I  ^)  Vgl.  C.  G.  Brandts,  Ehein.  Mus.  51 

2)  Siehe  Ehein.  Mus.  64  S.  399.  |   S.  109  ff. 

3)  K.  Bürger,  Hermes  XXVII  S.  36  ff.   j 


V.  Die  höhere  Elritik.  1 .  Buchteilung.  2.  Breviarien.  3.  Anstöße  i.  d.  Komposition.     215 


schön  Isoer.  Pan- 
athenaicus 


Piatos 
Staat 


den  Alltor  selbst  zurückführen  lassen.  Ich  denke  an  X  e  n  o  p  h  o  n  s  sogenannte  Xenoph. 
Hellenika,  ein  Werk  in  sieben  Büchern,  an  denen  auffällt,  daß  ihr  erster 
Teil,  der  den  Thukydides  fortsetzt  und  bis  zum  Ende  des  peloponnesischen 
Krieges  reicht,  viel  knapper,  notizenhafter  abgefaßt  ist  als  alles  Folgende. 
Man  hat  also  aus  diesem  immerhin  auffälligen  Umstand  geschlossen,  dieser 
erste  Teil  der  Hellenika  liege  uns  nur  im  Exzerpt  vor.  Doch  herrscht 
in  ihm  tatsächlich  nicht  der  Stil,  der  den  Exzerpten  des  Altertums  eigen 
ist;  daß  die  Originalfassung  vorliegt,  wird  heute  kaum  noch  jemand  be- 
zweifeln, und  die  Anah^se  ergibt,  daß  Xenophon  zuerst  die  ersten  zwei 
Bücher  (sicher  bis  II  3,  10)  zur  Ergänzung  des  Thukydides  in  knappster 
Form  abfaßte,  dann  III  1 — V  1,  36  bis  zum  Frieden  des  Antalkidas  in  leb- 
hafterer und  minder  schematischer  Erzählung  hinzufügte,  endlich  später 
das  Ganze  zu  Ende  führte.  Ganz  so  schrieb  ja  auch  Thukydides  selbst 
seinen  Krieg  anfangs  nur  bis  zum  Frieden  des  Nikias:  eine  Arbeitsweise 
in  Stationen,  die  uns  der  Panathenaicus  des  Isokrates  besonders 
veranschaulichen  kann.  Denn  da  teilt  der  Autor  selbst  von  sich  mit: 
Isokrates  ist  94  Jahre  alt,  als  er  die  Schrift  beginnt  (§  3);  im  §  267  läßt 
er  sie  Avegen  Krankheit  liegen,  und  erst  drei  Jahre  danach  nimmt  er  sie 
wieder  auf  (§  270).  Vorher  schon  (§  230)  erzählt  er,  daß  er  die  Schrift, 
soweit  sie  fertig,  einem  befreundeten  Lakonen  vorhest,  der  sie  mißbilhgt, 
so  daß  er  zaudert,  sie  herauszugeben,  i) 

Wenn  wir  ganz  die  nämliche  Abfassung  in  Stationen  ansetzen,  erklärt 
sich  weiter  auch  der  eigentümliche  Zustand  der  Solvratesschriften  Xeno- 
phons  und  des  Platonischen  Staates  in  genügender  Weise.  Plato  rang 
Avie  ein  Gigant  mit  seinem  Stoff;  denn  es  Avar  AA^ohl  das  erste  Mal,  daß  ein 
Grieche  eine  Lehrschrift  so  gewaltigen  Umfangs  baute ;  und  der  Stoff  war 
mächtiger  als  er.  In  der  Tat  sah  er  während  der  langwierigen  Abfassung 
seiner  Politeia  sich  genötigt,  seinen  Plan  zu  A^erändern;  aber  daraus  folgt 
nicht,  daß  der  Anfangsteil  (sagen  Avir  Buch  I  und  II),  den  Plato  selbst 
TiQooijuiov  nennt,  auch  separat  A'-on  ihm  ins  Publikum  gegeben  Aväre;  Gellius 
14,  3  mag  sagen,  Avas  er  Avill.  Plato  schrieb  Aielmehr  von  II  cap.  9  an 
nach  einer  Pause  seinen  Text  ruhig  weiter,  ohne  den  großartigen  Anfangs- 
bau, der  zum  AVeiteren  außer  Verhältnis  steht,  abzureißen,  2)  und  zeigt 
uns  damit,  was  sich  übrigens  A'on  selbst  versteht,  daß  in  den  Anfangs- 
zeiten der  Litteratur  die  ausgeglichene  Abfassung  umfangreicher  Prosa- 
Averke  eben  etAvas  sehr  Schweres  ist,  zumal  Avenn  solche  Werke  nicht 
erzählen,  sondern  als  Lehrschriften  einen  leitenden  Gedanken  durchführen 
oder  entAAdckeln  AA'ollen.  In  Xenophons  sokratischen  „DenkAvürdig- 
keiten"  aber  ist  die  Schichtung  der  fortschreitenden  Arbeit  am  klarsten, 
und  die  Fugen  liegen  offen,  ohne  daß  sie  störend  wirken.  Xenophon 
begann  zunächst  nur  mit  einer  kurzen  Apologie  seines  Helden,  die  im 
ersten  Buch  der  Memorabilien  nur  cap.  1  und  2  füllt,  eine  Apologie,  die  den 
Polykrates  widerlegte  (oben  S.  207), s)  aber  noch  die  Dialogform  vermied. 

^)  Grenaueres  zum  Panathenaikos  gibt  ^  philos.  Entwicklung,  1905,  S.  181  ff. ;  0. 
P.  Wendlaxd    in  Nachrichten   der  Gott.   |   Eitter,  Piatons  Staat,  Stuttgart  1909. 


Xenopli. 
Memora- 
bilien 


GW.  1910  S.  138  f. 

2)   Siehe   I.  Bruns,   Litterar.  Porträt 
vS.  319  ff.;    übrigens    H.  Eäder,    Piatons 


*)  Zur  Eekonstruktion  des  Polykrates, 
auch  mit  Hilfe  des  Libanios,  vgl.  J.  Mesk, 
Wiener  Stud.  32  S.  56  ff. 


216  Kritik  und  Hermeneutik. 

Sie  hat  eine  in  sich  geschlossene  Disposition.  Danach  entschloß  sich 
Xenophon,  eine  genauere  Ausführung  derselben  Gedanken  in  dialogischer 
Form  hinzuzufügen,  und  so  wuchs  an  jene  Apologie  die  Textmasse  I  cap.  3 
bis  II  fin.  an,  in  Avelchen  Abschnitten  ganz  dieselbe  Disposition  noch  ein- 
mal durchgeführt  ist,  wie  in  jenem  apologetischen  Teil,  woraus  hervor- 
geht, daß  das  Werk  damals  auch  nicht  weiter  als  II  fin.  reichte.  Dazu 
gibt  endlich  Buch  III  ziemlich  ungeordnete  Nachträge,  die  jünger  sind 
(oben  S.  170).  Später  folgten  dann  noch  drei  Aveitere  Unternehmungen, 
die  aber  jedesmal  textlich  an  das  früher  Geschriebene  eng  anknüpften, 
das  sogenannte  Buch  IV  der  Memorabilien,  in  Wirklichkeit  ein  in  sich 
geschlossener  Traktat  jzsqI  jiaideiag,  der  mit  den  Worten  anhebt:  ovrco  de 
ZcoKQdrrig  fjv  ...  (hcpeXiiÄog,  dann  das  Symposion,  das  mit  äXX'  sjuol  doxei, 
und  der  Oeconomicus,  der  mit  rjxovoa  de  jTore  avrov  y.al  anknüpft,  i) 

In   allen   diesen  Fällen   ist   es   die   EinheitHchkeit   der   Komposition, 
gegen  die  Zweifel  laut  werden,  und  die  Analyse  der  Werke  führt  jedes- 
mal  zu   einer  wirkHchen  „Auflösung"  derselben,    zu   einem  Auseinander- 
fallen ihrer  Bestandteile. 
Zerlegung  Inwieweit  wir   in  den  Dramen  des  Altertums  Einheit   der  Handlung 

Gedichten  vcrmisson,  ist  in  anderem  Zusammenhang  S.  185  erörtert.  Aus  diesem 
Anlaß  hat  die  Kritik  sich  nicht  gescheut,  die  problematischen  Phoenissen 
des  Seneca  gradezu  in  zwei  Gediclite  zu  zerlegen;  wie  ich  glaube,  mit 
Unrecht.  Aber  auch  kleineren  Gedichtwerken  gegenüber  regen  ^  sich 
Zweifel  dieser  Art.  Für  Theokrits  Idyllien  sei  auf  Ph.  E.  Legrand,  Etüde 
sur  Theocrite,  Paris  1898,  S.  406f.  verwiesen;  für  die  umfangreichste  der 
Properzelegien  IV  1  auf  das  oben  S.  177  Bemerkte.  Niemals  bei  Tibull, 
wohl  aber  gelangt  man  bisAveilen  beim  Properz  zu  der  Schlußentscheidung, 
daß,  was  man  da  als  eine  Elegie  liest,  in  Wirklichkeit  zwei  selbständige 
Gedichte  sind.  Dies  ist  nicht  nur  für  I  8  evident,  sondern  auch  für  II  29. 
Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  vielbehandelten  Catullgedicht  Nr.  68,  das 
in  einen  schlichten  Brief  an  den  „Gastfreund"  Mallius  und  eine  kunstreich 
komponierte  Elegie  an  den  Freund  AUius  zerfäUt.  Auch  bei  Claudian 
habe  ich  ein  Epigramm  carm.  min.  7  De  quadriga  marmorea  in  zwei  zer- 
legt, ebenso  das  Epigramm  in  der  Anthologia  latina  209  De  Abcare  servo.^) 
Doch  das  sind  Kleinigkeiten.  Unlieb  wäre  es,  wenn  wir  die  vierte  Juvenal- 
satire  in  zwei  ganz  ungleiche  Stücke  zerspalten  müßten.  Doch  läßt  sich 
hier  ein  loses  Band  wahrnehmen,    das   beide   tatsächlich   zusammenhält.  3) 

4.  Postume  Werke  und  Verwandtes. 

Gefährdet  waren  diejenigen  Werke,  deren  Herausgabe  erst  nach  dem 

Tod  ihrer  Verfasser  geschah.  Tucca  und  Varius  haben  allerdings  die  Edition 

Aeneis     der  Aoncis  im  ganzen  vortrefflich  ausgeführt.     Weniges   von  dem,    was 

^)    Siehe    De    Xenophontis    Commen-  i  in  Eom.     Crispin,   der  selbst  einst  Fisch- 

tariorum    Socrat.   compositione,    Marburg  '  händler  war  (v.  33),  kauft  sich  jetzt  einen 

1893,  und  Ehein.  Mus.  51  S.  153  f.  !  mullus  für  sechstausend  Sesterz,    um  ihn 

2)  Siehe  De  Amorum  in  arte  antiqua  |  selbst  zu  verspeisen.  Dem  Kaiser  wird 
simulacris,  Marburg  1892,  S.  XIY;  Eiese  i  ein  riesiger  rhomhus  gratis  gebracht ;  aber 
hat  in  seiner  zweiten  Ausgabe  der  Antho-  es  muß  für  ihn  extra  ein  Topf  gebaut 
logie  davon  nichts  wahrgenommen.  werden. 

3)  Beide  handeln  über  den  Fischluxus  ; 


V.  Die  höhere  Kritik.     3.  Anstöße  in  der  Komposition.     4.  Postume  Werke.     217 

in  der  Aeneis  Bedenken  erregt,  wird  sich  auf  die  Tätigkeit  jener  Männer 
zurückführen  lassen:  eine  beachtenswerte  Leistung,  da  w^ir  allen  Grund 
haben,  vorauszusetzen,  daß  Yergils  hinterlassene  Konzepte  einer  Avirk- 
lichen  Redaktion  letzter  Hand  noch  nicht  gleichkamen.  Um  so  w^eniger 
hat  es  Cicero  vermocht,  dem  Lukrezwerk  De  rerum  natura,  dessen  Lukrez 
Herausgabe  er  übernahm,  die  abgerundete  Form,  die  Lukrez  beabsichtigte, 
zu  geben;  manche  Abschnitte  und  Versgruppen  stehen  da  an  verkehrter 
Stelle  oder  stehen  doppelt,  und  eine  definitive  Erledigung  der  übrig- 
gebliebenen Schwierigkeiten  ist  heute  kaum  möglich.  Offenbar  legte  Cicero 
persönlich  wenig  Wert  auf  den  Lehrinhalt  des  Werks  (er  benutzt  es,  wo 
er  selbst  über  Epikurs  Lehre  handelt,  nie)  und  hat  nur  die  Brouillons, 
■die  er  vorfand,  notdürftig  zusammengestellt.  Daher  sind  die  Bücher  auch 
stärker,   als  das  Herkommen  es  zuließ. 

Dies  aber  erinnert  uns  weiter  an  Pia  tos  „Gesetze".  Denn  auch  Piatos 
für  Piatos  Gesetze  meldet  uns  Suidas,  daß  Philippos  von  Opus  sie  aus 
dem  AYachs  in  Reine  schrieb^  d.  h.  edierte,  derselbe,  der  zu  den  Noijloi 
die  ^Emvojiug  hinzugefügt  haben  soll.  Im  Inhalt  finden  sich  nun  auch 
hier  Inkonvenienzen ;  über  die  jue^r]  wird  anders  in  Buch  II  als  in  Buch  I 
gehandelt;  Buch  XII  und  VI  scheinen  sich  zu  Avidersp rechen ,  da  der 
„nächtliche  Rat"  mit  den  vojuiocpvXaxeg  nicht  in  Einklang  steht,  u.  ä.  m. ; 
Bruns  glaubte  sogar  gewisse  Abschnitte  der  Hand  jenes  Philippos  selbst 
zuweisen  zu  können,  der  zwei  abw^eichende  Entwürfe  Piatos  vorfand  und 
zu  verbinden  suchte:  diese  letztere  Vermutung  bestätigt  sich  nicht;  im 
übrigen  aber  lassen  sich  mancherlei  Widersprüche  nicht  wegdeuten,  und 
das  Problem  ist  von  anderen  mit  Glück  retraktiert  w^orden.i)  Seneca  Seneca 
führte  seine  Naturales  quaestiones,  deren  Bücher  er  einzeln  an  den  Lucilius  "  quaest!^ 
sandte,  zwar  zu  Ende,  und  textliche  Divergenzen  bieten  sie  nicht;  aber 
6S  scheint,  daß  er  für  die  Bücher  ursprünglich  eine  andere  Reihenfolge 
und  Zählung,  als  die  Handschriften  sie  geben,  beabsichtigt  hat,  und  die 
chaotischen  Wirren  in  der  Buchfolge  dieser  Naturales  quaestiones,  die 
wir  in  den  Handschriften  antreffen,  müssen  in  letzter  Linie  auf  diesen 
Umstand  zurückgehen. 

Auch  dieses  Werk  zählt  Avieder,  wie  die  vorhin  besprochenen,  zu 
denen,  die  erst  unmittelbar  vor  dem  Ableben  ihres  Verfassers  aufgesetzt 
sind.  Zu  ihnen  zählt  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  des  Horaz  Ars 
poetica,  und  das  hat  den  Anlaß  gegeben,  nun  auch  an  dieses  Lehrgedicht 
feinster  Komposition  d.ie  verwegensten  Umstellungshypothesen  heran- 
zutragen. Dies  haben  war  schon  S.  149  (u.  178)  abgelehnt.  Dagegen  gehört, 
wiederum  des  Euripides  Aulische  Iphigenie  wirklich  hierher;  der  Dichter, 
hinterließ  das  Stück  unfertig;  daher  die  Einschaltungen,  die  es  erfuhr. 2) 
Und  endlich  Aristoteles.  Von  den  Schulschriften  des  Aristoteles  Aristoteles 
machte  wohl   zuerst  Hermippos  um  200  v.  Chr.  eine  unvollständige  Aus- 


')  I.  Bruns,  Piatos  Gesetze  etc.,  Wei-  j   tendes   bringt   Carl  Ritter,    De   legum 

mar  1880;  dazu  F.  Döring,  De  legum  Pia-  |   Platonicarum  libris  I,  II,  III,  Greifswald 

tonicarum  compositione,  Leipzig  1907.  Ab-  i    1912. 

lehnend   Const.  Ritter,   Commentar   zu  ^)  Siehe   z.  B.  H.  Hennig,   De  Iphig. 

Piatos  Leges  S.  54  ff .;  besonders  Einleuch-  Aul.  forma,  Berlin  1870. 


jr.  Tv;ir??? 


218  Kritik  und  Hermeneutik. 

gäbe ;  i)  auch  durch  Schulabschriften  fanden  dieselben  zum  Teil  frühzeitig 
eine  gewisse  Verbreitung.  Die  Ethik  erschien  früh  in  drei  abweichenden 
Gestalten.  Besonders  wichtig  aber  wurde  die  umfassende  Textausgabe, 
die  erst  zu  Ciceros  Zeit  gut  250  Jahre  nach  des  Aristoteles  Tode  durch 
Tyrannio  oder  Andronikos  aus  den  alten  Originalmanuskripten  des  Ari- 
stoteles neu  hergestellt  wurde.  2)  Daß  diese  Manuskripte  sich  damals  in 
arger  Zerrüttung  befanden,  kann  uns  nicht  wundernehmen,  und  daher 
stammt  zum  Teil  die  verzAveifelte  Unordnung,  die  in  manchen  der  wich- 
tigsten Schriften,  wie  in  den  Metaphysika,  herrscht.  Aber  auch  Unechtes 
drängte  sich  früh  ein,  wie  das  neunte  Buch  der  Tiergeschichte,  die  so- 
genannten Postpraedicamenta,  als  Anhang  der  Kategorien.  Wer  nach  Kom- 
position und  Disposition,  nach  Durchführung  leitender  Grundgedanken 
fragt,  gerät  in  diesen  stoffreichen  Aristoteleswerken  oft  auf  unentwirrbare 
Schwierigkeiten, 
pintarch  Ähnliches   kam   auch   sonst  vor.     Mit   dem  Aristotelesnachlaß   lassen 

sich  einige  Plutarch Schriften,  Avie  die  jieoUrvxrjg,  vergleichen,  deren  Zu- 
stand verrät,  daß  sie  unfertig  hinterlassen  und  Vorstudien  zu  anderen 
Arbeiten  des  Autors  w^aren.») 

Die  erwähnte  große  Aristotelesausgabe  des  Andronikos  aber  ist  nun 
auch  ihrerseits  nicht  überall  intakt  erhalten,  sondern  die  wertvollen 
Schriften  haben  auch  noch  nachträglich  allerlei  Unbill  der  Überlieferung* 
erfahren.  Ich  erwähne  nur  die  Poetik,  die  ursprüngUch  zwei  Bücher  um- 
faßt hat.     Sie  liegt  uns  in  erheblicher  Verkürzung  vor.*) 

Hieran  schließen  sich  andere  artverwandte  Probleme.  Sie  betreffen 
den  Einfluß,  den 

5.  doppelte  Redaktion  und  Umdichtung 

Dramen  ^j^^  wiederholte  ISTeuausgabe,  d.  h.  diaoxev)],  auf  den  Zustand  des  Textes 
haben. ö)  So  in  der  Komödie,  ^vorüber  auch  schon  S.  159  (vgl.  153)  geredet 
ist.  Aristophanes  dichtete  den  „Frieden"  zweimal,^)  und  es  scheint,  daß 
aus  dem  früheren  Stück  in  den  erhaltenen  „Frieden"  gewisse  Stellen  ein- 
gefügt sind.'')  Daß  uns  die  Wolken  des  nämlichen  Dichters  in  einer 
zweiten  Bearbeitung,  die  gar  nicht  zur  Aufführung  gelangte,  vorliegen, 
bezeugt  das  Altertum,  und  die  Untersuchung  richtet  sich  darauf,  in  diesem 
Stück  die  jüngeren  Zutaten  festzustellen.  8)  Auch  an  Euripides'  Medea  ist 
diese  Hypothese  herangetragen.^)  Schlimmer  noch  stünde  es  mit  Aeschy- 
lus'  „Sieben",  w^enn  wirklich  ihr  Schluß  unecht  wäre;  denn  dann  hätte 
hier  nicht  der  Dichter  selbst  in  naiver  Weise  Dinge,  die  über  die  Hand- 
lung des  Dramas  selbst  hinausweisen,  vorgeführt,  sondern  der  Eingriff 
einer  fremden  Hand   hätte    den    originalen  Schluß   zerstört ; '  o)    schlimmer 

^)  Etwa  gleichzeitig  entstand  die  Epi-  ]  ^)  Vgl.  Stemplinger  a.  a.  O.  S.  215  f. 

tome    des  Aristophanes   von   Byzanz    aus  i  ^)  Siehe  das  dritte  Argumentum. 

Aristoteles*  Tiergeschichte.        "  \  ^)  Zielinski  a.  a.  O.  S.  63  ff. 

2)  Siehe  z.  B.  Usener,  Sitzungsher.  d.  i  ^)  Zielinski  S.  34  ff . ;  G.  Schwandke, 

bayer.  Akad.  1892  S.  582  ff.:  Littig,  Andro-  i  De  Arist.  Nubihus,  Halle  1898. 

nikos  von  Rhodos,  München  1894.  i  »)  L.Bloch,  Neue  Jahrbb.YII  S. 20 ff.: 


)  Vgl.  Gr.  Siefert,  De  aliquot  Plut-      dagegen  Stemplinger  S,  20  f. 
archi  scriptorum  compositione,  Leipz.  1896.  *")  Siehe  dagegen  M.  Wundt,   Philol. 

*)  Vgl.  St.  Haupt,  Philol.  69  S.  254  ff.   i   65  S.  357  ff. 


V.  Die  höhere  Kritik.     4.  Postume  Werke.     5.  Doppelte  Redaktion.  219 

noch  mit  dem  Prometheus,  wäre  er  wirklich,  wie  man  neuerdings  für 
erwiesen  hält,i)  etwa  dreißig  Jahre  nach  des  Aeschylus  Tod  von  einem 
Unberufenen  umgedichtet  worden,  so  daß  die  echten  Chorlieder  und  noch 
Sonstiges  fortfielen.  Ein  derartiges  Umdichten  und  Eindichten  anzunehmen, 
ist  immer  etwas  prekär,  da  ähnliche  Vorgänge  sonst  nicht  leicht  nach- 
zuweisen sein  dürften  (Quintilian  10,  1,  66  redet  nicht  von  einem  Um- 
dichten, sondern  nur  von  einem  corrigere,  das  die  Aeschyluswerke  bei 
AViederauffülirungen  erfuhren),  und  vielleicht  werden  die  meisten  der  dafür 
geltend  gemachten  Argumente  sich  hinwegräumen  lassen.  2) 

Auch  Apollonius  Rhodius  machte  von  seinen  Argonautika  zwei  Apoiion. 
Ausgaben.  Die  Abweichungen  der  nQoexöooig,  die  uns  die  Schollen  ein 
paarmal  notieren,  sind  aber  ziemlich  geringfügig,  und  weitergehende 
Schlußfolgerungen  lassen  sich  aus  diesem  Tatbestande  schwerlich  ziehen. 
Daß  die  letzte  Ausgabe  die  erste  verdrängte,  ist  natürlich.  Auch  von 
der  vielgelesenen  und  mehrfach  verändert  herausgegebenen  KTrchen- 
geschichte  des  Eusebius  liegt  uns  der  Text  der  letzten  Ausgabe  vor;  ß^sebins 
doch  sind  Spuren  der  vorletzten  in  ihr  nachgewiesen.  3) 

Hieran  reiht  sich  nun  auch  das  große  Homerproblem,  vor  allem  das 
der  Ilias.  Denn  wie  im  Prometheus,  so  findet  man  auch  in  der  Ilias  i^^a» 
innere  Widersprüche,  die  gegen  die  Einheit  der  Dichtung  Zweifel  er- 
wecken, und  man  hat  sie  zum  Teil  schon  im  Altertum  selbst  aufgedeckt. 
Die  Sache  liegt  hier  jedoch  wesentlich  anders,  verwickelter,  aber  auch 
interessanter  und  erfreulicher  als  in  den  vorhin  besprochenen  Beispielen. 
Denn,  wie  mir  besonders  einleuchtend  B.  Niese  ausgeführt  zu  haben 
scheint,  liegt  uns  nicht  eine  fertige  Dichtung,  die  nachträglich  nur  Über- 
arbeitung erfuhr,  in  diesem  Heldenepos  vor,  sondern  eine  begrenzte  An- 
zahl gleichartig  zünftiger  Sänger  (vgl.  oben  S.  88  f.)  hat  an  demselben  Werk 
sukzessive  schöpferisch  gearbeitet,  indem  das  Verlangen  nach  Bereicherung 
sie  zur  Einfügung  Aveiterer  Kämpfe  und  Abenteuer  führte,  die  im  Grund- 
plan zunächst  noch  nicht  vorgesehen  waren ;  dieser  Grundplan  aber  betraf 
nur  die  „Monis"  Achills,  welche  Eigenschaft  der  Monis  sich  zwiefach  äußert, 
erst  im  Hader  mit  Agamemnon,  dann  in  der  Rache  für  des  Patroklos  Tod. 
Ganz  junge  Partien  lassen  sich  als  solche  leicht  erkennen  und  nähern  sich 
dem  Charakter  der  Interpolation  (Schiffskatalog ;  Dolonie ;  ebenso  Odyssee 
Buch  24  u.  a.);  die  älteren  Eindichtungen  dagegen,  die  die  Handlung- 
wirksam  retardieren,  sind  in  den  Text  fest  eingewebt,  und  der  ewige 
Dichterrulim  Homers  beruht  vielfach  grade  auf  ihnen. 

Das  Verfahren  der  sogenannten  „Eindichtung"  selbst  aber  ist  meines 
Er  achtens  vollauf  verständlich.  Wer  einmal  einen  Roman  entworfen  hat, 
weiß  das.  Dem  Triebe,  Episoden  zu  bringen  und  sie  nachträglich  ein- 
zuschalten, erliegt  wohl  jeder  Erzähler.  Man  denke  auch  an  Vossens 
Luise;  auch  an  moderne  und  antike  Lustspiele,  an  denen  mehrere  Hände 
tätig  waren.    Erfreulich  aber  ist,  daß  von  neueren  Gelehrten  wie  M.  Breal 


')  Siehe  bes.  E.  Bethe,  Prolegomena  ;  sein  Verstummen  sagt, 

zur  Geschichte  des  Theaters,  S.  159  ff.  i  ')  E.  Schwartz  bei  Pauly-Wissowa 

'')  Auffallend  und  Bedenken  erregend  \  EE.  \1  S.  1405. 

ist,  was  Prometheus  in  v.  437  u.  438  über  j 


220  Kritik  und  Hermeneutik. 

und  (mit  besonderer  Heftigkeit)  von  D.  Mülderi)  wieder  mehr  die  plan- 
volle Einheit  der  Ilias,  die  Z^veckmäßigkeit  ihrer  Teile  und  das  künst- 
lerische Geschick  wahrgenommen  wird,  das  die  Einfügungen  geleitet  hat. 
Dasselbe  gilt  auch  von  der  Odyssee. 

Odyssee  In  der  Odyssee  sondern  sich  leicht  vier  Hauptteile  voneinander:  die 

Heimfahrt  des  Odysseus  selbst,  die  Unternehmungen  des  jungen  Telemach, 
die  uns  von  Ithaka  bis  nach  Sparta  führen,  die  Icherzählung  des  Odysseus 
bei  den  Phäaken,  endlich  der  Freiermord.  Jeder  dieser  Hauptteile  ist 
umfangreich  und  dabei  planvoll  einheitlich  konzipiert.  Auch  hier  rät  die 
analysierende  Kritik  auf  verschiedene  Dichter;  doch  ist  dies  minder  über- 
zeugend. Vor  allem  aber  hat  sich  die  Hj^pothese  A.  Kirchhoffs  überlebt, 
wonach  die  vier  Bücher  der  Apologoi  des  Odysseus  bei  den  Phäaken 
ursprünglich  zur  Nostoserzählung  selbst  gehörten,  also  ursprünglich  wie 
alles  Übrige  die  Abenteuer  des  Titelhelden  in  dritter  Person  erzälilten, 
so  daß  alles  erst  nachträglich  in  die  Icherzählung  umgedichtet  worden 
wäre.  Daß  sich  Icherzählungen,  Avie  wir  sie  besonders  aus  Piatos  Dia- 
logen und  im  Munde  des  Sokrates  kennen,  schon  in  uralten  Zeiten  der 
Beliebtheit  erfreuten  und  daß  ihr  Stil  schon  so  früh  ausgebildet  w^ar,  zeigt 
nicht  nur  der  plauderlustige  Nestor  in  der  Ilias,  sondern  auch  das  Buch 
Tobias  und  die  alten  Siegesinschriften  der  orientalischen  Könige,  die  bab}^- 
lonische  Geschichte  vom  König  Sargon;  im  Gilgamesch-Epos  die  Sintflut- 
erzählung des  Xisuthros.2)  Die  Apologoi  des  Odysseus  sind  gewiß  ebenso 
unverdächtig,  echt  und  ursprünglich  wie  diese. 

Nach  Homer  wäre  noch  Hesiod,  wäre  auch  noch  Theognis  zu  nennen. 
Habent  sua  fata  libelli:  das  Unlieil  ging  mit  den  verschiedenen  National- 
werken  des   alten  Griechentums   verschieden   um.     Der   yvcoimokoyia    oder 

Theognis  Spruchsammluug  des  Theognis  erging  es  wie  anderen  Spruchsammlungen 
auch;  sie  wurde  mehr  als  einmal  überarbeitet,  erfuhr  unechte  Einschal- 
tungen, neue  Anordnung  ihrei-  Bestandteile.  Die  Cyniker  übten  ihre 
Kritik  an  der  Moral  des  Theognis,  imd  so  finden  sich  u.  a.  auch  cynische 
Einschaltungen  in  ilinen,  v.  1143—1150,  847—852,  1077—1080.3)  Dies 
wahrzunehmen  ist  füi'  uns  leicht,  das  Ursprüngliche  aus  dem,  was  erhalten 
ist,  herzustellen  unmöglich.'*)  Man  vergleiche  damit  besonders  die  Schick- 
sale der  Sprüche  des  Publilius  Syrus.^) 

Hesiod  j)^Q   beiden   echten  Werke    des   Hesiod   sind   uns    dagegen   in   dem 

Zustand,  in  dem  sie  zuerst  in  Buchform  auftreten,  im  Avesentlichen  treu 
erhalten. 6)  Das  Zusammenhangslose  des  Inhalts,  das  uns  gleichwohl  vor 
allem  in  den  „Werken  und  Tagen"  störend  entgegentritt,  geht  zwar  nicht 
auf  den  Dichter  selbst,  geht  aber  auf  die  erste  Niederschrift,  die  in  Buch- 

')  MüLDER    jetzt    auch    in    Bursian-  '  Straßb.  1892.    Besonders  abenteuerlich  W. 

Kroll,  Jahresber.  Bd.  157  (1912)  S.  194  ff .  i  M.Winter,    Die   unter    dem   Xamen   des 

Vgl.  übrigens  M.  Br^al,  Pour  mieux  con-  ;  Theognis   überlieferte   Gedichtsammlung, 

naitre  Homere,  Paris  1906.  1  Leipzig  1906. 

2)  Vgl.  Ed.  Meyer,  Papyrusfund  von  !  «)  Auch  mit  Tyrtaeus  ging  es  ähnlich ; 

Elephantine  S.  116  u.  128.     '  !  s.  Wilamowitz,  Die  Textgesch.  der  griech. 

ä)  Vgl.  O.Wachsmuth,  Corpus  poesis  Lj^riker  S.  107  f.;  115. 
epicae  ludibundae  II  p.  71.  e)  Siehe  E.  Lisco,  Quaestiones  Hesio- 

^)  Siehe  F.  Nietzsche,  Rhein.  Mus.  22  deae,  Göttingen  1903. 

S.  181  ff.;    E.  V.  Geyso,    Studia   Theogn.,  I 


V.  Die  höhere  Kritik.    5.  Doppelte  Redaktion.   6.  Athetese  einzelner  Abschnitte.     221 

form  gemaclit  wurde,  zurück.  Im  7.  Jahrhundert  gab  es  allem  Anschein  nach 
in  Böotien  noch  keine  Bücher,  keine  ßvßXoiA)  Der  Dichter  selbst  kann  die 
über  achthundert  Verse  der  Werke  und  Tage  nicht  als  Einheit,  sondern  nur 
auf  mehrere  einzelne  Bleiplatten  oder  Holztafeln  verteilt  aufgeschrieben 
und  so  in  einem  Heiligtum  aufgestellt  haben ;  denn  keine  Tafel  oder  Platte 
konnte  sie  sämtlich  aufnehmen.  Erst  im  6.  Jahrhundert,  als  die  ßvßXoi  in 
Gebrauch  kamen,  wurden  diese  Einzelstücke  alsdann  nach  bestem  Ermessen 
in  eine  einzige  Buchrolle  zusammengestellt,  vor  allem  das  Scheltgedicht 
auf  Perses  v.  11 — 316  und  das  Lehrgedicht  über  die  Arbeit  an  denselben 
Perses  v.  383 — 694,  dazwischen  die  Pandora  v.  49 — 104  und  die  fünf  Welt- 
alter V.  109 — 201;  dann  die  rein  gnomischen  Partien;  endlich  der  Ab- 
schnitt der  „Tage".  Ein  gewisser  innerer  Bezug  bestand  zwar  zwischen 
diesen  verschiedenen  Stücken;  aber  es  ist  nicht  denkbar,  daß  Hesiod  be- 
absichtigte, sie  so  zusammenhängend  vor  dem  Volk  als  Einheit  vortragen 
zu  lassen,  wie  sie  denn  auch  ursprünglich  keine  Bucheinheit  waren.  Alle 
Dichtungen  entstanden  in  jenem  Zeitalter  noch  zum  Zweck  der  Rezitation; 
aber  weder  Hesiod  selbst  noch  sonst  ein  Rhapsode  kann  das  Ganze,  so 
wie  es  vorliegt,  rezitiert  haben.  Jeder  Teil,  besonders  die  beiden  an 
Perses,  hatten  ursprünglich  ihren  bescheidenen  Zweck  für  sich.  Im  v.  383 
fehlt  sogar  das  anknüpfende  de;  hier  begann  sicher  eine  neue  Schreibtafel. 

Im  selben  6.  Jahrhundert,  von  dem  ich  sprach,  entstand  dann  weiter 
auch  die  "Aomg,  begann  überhaupt  die  Weiterdichtung  in  hesiodeischer 
Manier;  sie  ist  damals  eben  durch  den  vordringenden  Gebrauch  der 
Papyrusrolle,  der  auch  der  Theogonie  und  den  "£"^7«  ihre  definitive  Buch- 
gestalt gab,  begünstigt  worden. 

Mit  Nennung  der'Aomg,  des  neunten  Baches  der  Aristotelischen  Tier- 
geschichte u.  a.  sind  wir  der  letzten,  bedeutsamsten  Frage  nach  „echt" 
und  „unecht",  nach  Fälschung  und  Unterschiebung  schon  nahe  getreten. 
Es  ist  im  Grunde  nur  Fortsetzung  des  schon  Gesagten,  Avenn  ich  zunächst 
noch  auf  einige  Yerdächtigungen  hinw^eise,  die,  großenteils  kontrovers,  sich 
nicht  gegen  ganze  Schriftwerke,  sondern  gegen  einzelne  Abschnitte  in 
ihnen  richten. 

6.  Athetese  einzelner  Abschnitte. 

Über  interpolatorische  Texterweiterungen  geringeren  Umfangs  ist  auch 
schon  S.  160  ff.  gehandelt  worden.  Man  nannte  dies  jcaQeyyQdq^eiv  (Plutarch  ^apey- 
Anton.  15).  Selten  ergibt  sich  ein  so  sicherer  Schluß  wie  fürVergils  Cata- 
lepton,  w^o  in  lauter  echte  Gedichte  das  Lobgedicht  auf  Messala  Nr.  9,  das 
ganz  unvergilischen  Charakter  trägt,  eingestellt  w^orden  ist.  Daß  man  ein- 
zelne unechte  Gedichte  in  Sammlungen  berühmter  Dichter  einschob,  erwähnt 
übrigens  Martial  I  53 ;  X  100.  Wenn  dagegen  Neuere  in  der  Sammlung  der 
Caraiina  minora  Claudians  an  der  Nr.  32  De  salvatore  Anstoß  nahmen,  so 
fehlte  hierfür  eine  zureichende  Begründung;  Sprache  und  Verskunst  der 
Nr.  32  sind  die  des  Claudian,  und  das  Gedicht  beweist  vielmehr,  daß 
Claudian  im  Dienste  des  durchaus  christlichen  Hofes  gelegentlich  auch 
christliche  Verse  schrieb.     Sonst   wäre    er  eben   nicht   hoffähig 


yQUfpElV 


')  Siehe  Die  Buchrolle  in  der  Kunst  S.  211  f. 


222 


Kritik  und  Hermeneutik. 


Im  Nachlaß  des  Xenophon  befremdet  der  Schluß  seiner  Kyropädie  VIII  8, 
auch  der  Schluß  der  AaxEÖai/jLovLcov  jtohrela  cap.  14  u.  15 J)  So  stört  in  des 
Aristoteles  Poetik  das  wertvolle  cap.  12  von  den  juegt]  rgaycodiag  vollständig 
den  Zusammmenhang.  Diese  Einschaltung  in  die  Poetik  muß  von  einem 
Schüler  des  Peripatos  früh  gemacht  sein,  oder  Aristoteles  selbst  hatte  sie 
als  Nachtrag  an  den  Eand  geschrieben.  In  den  ersten  beiden  Fällen 
aber,  die  den  Xenophon  anbetreffen,  kehrt  man  aus  berechtigtem  Triebe 
immer  Avieder  zu  dem  Versuch,  die  xenophontische  Autorschaft  zu  retten, 
zurück;  denn  sie  läßt  sich  retten.  So  zweifelt  heut  auch  wohl  niemand 
mehr  an  der  Echtheit  der  von  Niebuhr  u.  a.  beanstandeten  Römerepisode 
in  der  Alexandra  Lykophrons:  einer  Verkündung  der  wachsenden  Be- 
deutung E/Oms,  auch  für  Griechenland  und  den  Orient.  2) 

Sehr  auffällig  nimmt  sich  aber  ferner  auch  das  Kapitel  I  4  in  Xeno- 
phons  Memorabilien  aus,  und  unter  allen  Verdächtigungen,  die  einst  Krohn 
gegen  diese  Xenophonschrift  richtete,  schien  die  Verdächtigung  grade 
dieses  Kapitels  am  meisten  Überzeugungskraft  za  haben.  Denn  es  handelt 
sich  da  um  jenen  naiven  und  umständlichen  teleologischen  Gottesbeweis, 
den  mit  dem  gleichen  Detail  und  mit  auffälligen  Anklängen  Cicero  im 
zAveiten  Buch  De  deorum  natura  den  Stoikern  vindiziert.  Also  ist  I  4 
stoisch:  eine  stoische  Interpolation  im  Xenophontext?  Die  Sache  liegt 
anders.  Wir  wissen  jetzt  hinlänglich,  wie  abhängig  Xenophon  in  pliilo- 
sophischen  Dingen  von  Antisthenes,  dem  Cyniker,  war.  Auf  dem  Cynis- 
mus  und  dem  reichen  Schriftennachlaß  des  Antisthenes  hat  sich  anderer- 
seits aber  auch  die  Stoa  aufgebaut.  Wir  haben  also  im  Kapitel  I  4  ein 
sorgfältiges  Exzerpt  aus  Antisthenep,  das  Xenophon  anfertigte  und  an 
dem  wir  die  Abhängigkeit  des  Zenon  und  Chrysipp  von  dem  cynischen 
Lehrhaupt  ausgezeichnet  kontrollieren  können. 

Zweifellos  von  fremder  Hand  eingeschoben  ist  dagegen  in  Cäsars 
Bellum  civile  II  23 — 44  der  Feldzug  Curios  in  Africa.^) 

7.  Pseudepigrapha. 

Wer  den  Gordischen  Knoten  nicht  lösen  kann,  muß  ihn  zerhauen. 
Wo  alle  Erklärungsversuche,  auch  das  Ausscheiden  einzelner  besonders 
bedenklicher  Abschnitte,  nicht  ausreicht,  müssen  wir  die  Schrift  selbst 
kassieren,  d.  h.  wir  kassieren  vielmehr  die  Namensaufschrift  in  ihrem 
Titel  und  werfen  sie  zu  dem  untergeschobenen  Gut.*)  Solche  falsche 
Aufschriften  entstanden  entweder  durch  absichtliche  Fälschung  oder  auch 
nur  darch  irrtümliche  Zuweisung,  die  in  gutem  Glauben  geschah. 
Fäi-  Verweilen  wir  zunächst  bei  den  Fälschungen.    Die  Alten  selbst  reden 

sciiungen  q£^   ^.^^   ihnen,    und   sie   unterscheiden   dabei    solche  Falsifikate,    die    be- 
rühmten Namen  untergeschoben  wurden,  von  solchen  Diebstählen,  wo  ein 


^)  Weiteres  bei  F.  Eosenstiel,  Ueber 
einige  fremdartige  Zusätze  in  Xenophons 
Schriften,  Sondershausen  1908,  überzeugt 
nicht. 

'^)  Neuere  rücken  die  Alexandra  in 
das  Jahr  190  hinab,  so  daß  sie  nicht  Eigen- 
tum des  Lykophron  wäre:  s.  Sudhaus, 
Rhein.  Mus.'^63  S.  485.     Doch    haben    die 


beigebrachten  Grründe  für  mich  nichts 
Zwingendes. 

^)  Vgl.  P.  Menge,  Portenser  Programme 
von  1910  und  1911. 

4)  Siehe  A.  Gudeman,  Literary  frauds, 
in  Transactions  of  the  Americ.  philol.  assoc. 
1894  S.  140  f. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  223 

armseliger  Kumpan  sich  gradezu  das  Buch  eines  anderen  aneignet.  Die 
Fälscher  der  ersteren  Art  hielten  sich  meist  verborgen,  und  es  kommt 
selten  vor,  daß  uns  Namen  genannt  werden  wie  der  des  Heraklides 
Ponticus,  der  selbstgemachte  Tragödien  unterschob  (Diog.  Laert.  5, 92),  oder 
der  des  großen  Betrügers  Aristobulos.i)  Bescheidener  war  das  Verfahren  Aristobui 
Lobons.2)  Über  die  zweite  Gattung  aber  redet  Vitruv,  der  sich  über 
die  Fälscher  entrüstet,  die  von  den  Buchrollen  den  Zettel,  der  den  Titel 
trug,  abrissen  und  ihren  eigenen  Namen  an  die  Stelle  setzten  (scripta 
furantes  pro  suis  praedicant  VII  praef.  10;  alienos  indices  mutant;  suum 
nomen  interjwnimt,  ebenda).  Bei  Martial  1,  52,  9  heißt  solcher  Eigentums- 
räuber einmal  plagiarius,  d.  i.  „der  Menschenräuber" ;  denn  man  verghch 
das  herausgegebene  Buch  mit  einem  menschlichen  Wesen,  mit  dem  Sklaven, 
der  freigelassen  worden  und  dessen  sich  nun  ein  anderer  bemächtigt  (das 
Wort  plagiator  ist  dagegen  in  diesem  Sinne  nicht  antik).  Auch  sonst 
spielt  Martial  (X  1,  11)  hierauf  an;  meistens  geschah  nach  seiner  Dar- 
stellung der  Raub  sogar  auf  das  dreisteste  durch  öffentliche  Rezitation, 
nicht  (oder  nicht  nur)  durch  Buchausgabe:  I  29;  38;  72;  H  20;  XII  63. 

Besonders  war  der  Verkehr  der  Gelehrten  schulen  gefährlich ;  da  eignete 
.sich  der  Schüler  durch  Nachschreiben  leicht  das  geistige  Gut  des  Lehrers 
an,  wofür  uns  der  Vers  loyoioiv  'EQjuödcogog  ejujioQeverai  gleichsam  das 
Motto  gibt.  Galen  redet  öfter  davon;  und  so  war  die  Behauptung  mög- 
lich, daß  Menippos,  einer  der  beliebtesten  Autoren  des  Hellenismus,  seine 
Satiren  gar  nicht  selbst  verfaßt  habe,  sondern  daß  er  nur  der  Verkäufer 
dieser  Schriften,  die  Dionysios  und  Zopyros  scherzeshalber  geschrieben 
hatten,  gewesen  sei  (Diog.  Laert.  6,  8,  4). 

Treten  wir  nun  solchen  Echtheitsfragen  näher,  so  sind  Vorsicht,  Zurück-  Unberech- 
haltung  im  Urteil,  wiederholte  Überlegung  hier,  wo  es  sich  gleichsam  um  ^^dächt^ 
Sein  und  Nichtsein  litterarischen  Eigentums  handelt,  gewiß  besonders  am    g^Dgen 
Platze.     Der  erste  Eindruck  der  Enttäuschung  beim  Lesen,   ein  gewisses 
Befremden  genügt  nicht,  um  solches  Verdikt  zu  rechtfertigen.    Der  Sturm, 
den   Richard    Bentley   einst   gegen   die   Epistolographen   lief,  3)    hat   auch 
Piatos  Briefe   mit  umgerissen.     Fr.  Aug.  Wolf   regte   in   halb    spielender 
Weise    den  Verdacht   gegen    einige  Reden  und  Brief bücher  Ciceros  an. 
Aber  greifbare  Beweise   fehlen  hier.     Die  Reste   der  Ethika   des  Demo- 
krit  haben  lange  Zeit  durch  Inhalt  und  Form  befremdet;  doch  auch  sie 
sind   unantastbar. 4)     Es   ist   ja   schade,    daß   uns   Plato,    der   göttliche,    in 
seinen  Briefen  so  gar  nicht  als  siegreicher  Heros,    sondern  als  Mann  des 
Mißerfolges,    des  unpraktischen  Optimismus    und  als  enttäuschter  IdeaHst 
erscheint.    Aber  wir  haben  diese  Tatsachen  eben  hinzunehmen,  wie  schon 
Plutarch  u.  a.  sie  hinnahmen.  0)     So  ist  auch  der  Versuch,    die   wenig  er- 


')  Siehe  Valckenaer,  Diatribe  de  Ar. 
ludaeo,  ed.  Luzac,  Leiden  1806 ;  Genaueres 
bei  Stemplinger,  Das  Plagiat  in  der  grie- 
chischen Litteratur,  S.  32  ff. 

2)  Hiller,  Rhein.  Mus.  33  S.  518  ff. 

')  Dissertation     on    the    Epistles    of 


*)  P.  Natorp,  Die  Ethika  des  Demo- 
kritos,  Marburg  1893. 

5)  Ueber  Cicero  ist  nicht  ernstlich  zu 
reden,  obschon  die  Reden  Post  reditum 
auch  noch  neuerdings  verdächtigt  werden: 
s.  H.  M.  Leopold,  De  orat.  quattuor  post 


Phalarisu.s.f.,  1697 — 1699;  deutsch,  Leipzig   j   reditum,  Leiden  1900.    Für  Piatos  Briefe 
1857.  I   scheint  mir  vieles  von  dem,  was  H.  Räder, 


Zeugnisse 


224  Kritik  und  Hermeneutik. 

freuliche  Tragödie  Hercules  Oetaeus  dem  Seneca  zu  entziehen,  miß- 
glückt ;  1)  und  nicht  nur  die  Viten  des  Terenz  und  des  Horaz  sind  als 
Eigentum  des  Sueton  gesichert,  sondern  auch  die  des  Persius  und  der 
Hauptsache  nach  auch  die  des  Lucan,  Avie  die  Beobachtung  ihrer  Sprache 
ergibt."'^)  Alle  vier  sind  aus  dem  Buch  des  Sueton  De  poetis  ausgehoben. 
Wert  der  Bcfcstigt  sicli  dcunoch  der  Verdacht  der  Unechtheit  und  sucht  man 

für  ihn  den  Beweis  zu  erbringen,  so  gilt  es  vorher,  die  Zahl  und  das 
Alter  der  Zeugen,  die  uns  für  die  Echtheit  bürgen,  zu  prüfen.  Der  Dialog 
^Akxvd)v  steht  unter  Piatos  Namen,  aber  schon  bei  Athenaeus  p.  506  C  wird 
für  ihn  ein  anderer  Autorname  aufgebracht,  und  wir  finden  den  Dialog 
auch  unter  Lucians  Schriften.  Hier  führen  somit  äußere  und  innere 
Gründe  auf  dasselbe.  Die  Zeugnisse  für  die  Echtheit  des  Culex  Vergils 
reichen  dagegen  bis  zu  Lucans  Lebzeiten,  der  a.  55  n.  Chr.  ins  Jünglings- 
alter trat  —  das  sind  74  Jahre  nach  Yergils  Tode  — ,  für  die  der  ebenso 
verdächtigen  Halieutica  Ovids  nur  bis  zu  der  Abfassungszeit  der  letzten 
Pliniusbücher  liinauf  (denn  im  Buch  IX  kennt  Plinius  diese  Halieutica 
noch  nicht).  Das  sind  verhältnismäßig  immer  recht  gute  Zeugnisse.  Aber 
es  wäre  nun  doch  schlimm,  wenn  vor  ihnen  die  Vernunft  von  vorneherein 
kapitulieren  sollte.  Denn  wir  wissen,  wie  urteilslos  großenteils  in  litte- 
rarischen  Dingen  die  Römer  waren  und  wie  oft  sie  durch  falsche  Titel 
getäuscht  Avorden  sind.  Wir  erinnern  uns  aber  auch,  daß  Piatos  Minos 
schon  Aristophanes  von  Byzanz  um  das  Jahr  200  v.  Chr.  in  seine  Plato- 
trilogien  als  echt  einreihte.  Der  Zeitabstand  ist  hier  nicht  viel  größer 
als  dort,  und  wie  viel  urteilsfähiger  Avaren  in  solchen  Dingen  sonst  die 
Griechen !  Aristophanes  von  Byzanz  neben  Lucan,  welch  ein  Unterschied  an 
kritischer  Fähigkeit!  Eine  gewisse  Borniertheit  Lucans  empfindet  man  auch 
sonst;  sie  zeigt  sich  am  meisten  in  seiner  Schätzung  des  Culex.  Übrigens 
bieten  auch  noch  die  unechten  Hippokrates Schriften  eine  Analogie;  sie 
werden  schon  im  Menonpapyrus  zitiert  und  scheinen  schon  früher  und  in 
der  Zeit  Piatos  als  Avirkliche  Werke  des  Hippokrates  gegolten  zu  haben.  3) 
Eiskant  ist  es  dagegen  allerdings,  anzusetzen,  daß  auch  schon  Aristoteles 
unechte  Platosachen  vorfand  und  für  echt  nahm.  Gleichwohl  ist  auch 
diese  Möglichkeit  gelegentlich  in  ErAvägung  zu  ziehen.*)  Jedenfalls  verliert, 
wo  innere  Gründe  laut  sprechen,  das  äußere  Zeagnis  sein  Schwergewicht, 
da  zu  jenen  Zeiten  Irrungen  und  Täuschungen  in  Buchtiteln  unendlich  viel 
leichter  vorfallen  konnten  als  heute.  Denn  dies  müssen  Avir  uns  allerdings 
gegenAvärtig  halten,  daß  das  Titelblatt  im  Buch  damals  A^erhältnismäßig 
schlecht  gesichert  Avar,  Avas  auch  Vitruv  a.  a.  0.  deutlich  ausspricht:  man 
konnte  es  abreißen  und  ein  Ersatzblatt  anderen  Inhaltes  dafür  ankleben. 
Diese  Tatsache  kommt  zwar  nicht  für  die  Erklärung  A^on  Fälschungen, 
wohl  aber  von  falschen  Eigentumsübertragungen  in  Betracht. 


Ehein.  Mus.  61  S.  427  ff.  \-ortrug,  durch- 
sclilagend.  E.  Adam,  Ueber  die  Echtheit 
der  platonischen  Briefe,  Berlin  1906,  läßt 
nur  den  Brief  YII  gelten. 

1)  Siehe  E.  Ackermann,  Philol.  Suppl. 
Bd. XS. 327 ff.;  unbefriedigend  0.  Edert, 
Ueber  Senecas  Heracles  und  den  Heracles 


auf  dem  Oeta,  Kiel  1909.  Gegen  ihn  Acker- 
mann, Ehein.  Mus.  67  S.  425  ff. 

2)  Siehe    F.   Glaeser,     Quaestiones 
Suetonianae,  Breslau  1911. 

3)  SieheWELLMANN  in  Bursians  Jahres- 
bericht Bd.  124  S.  147. 

4)  I.  Bruns,  Das  litterar.  Porträt  S.  350  ff. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  225 

AVer  uns  nun  aber  von  der  Unechtheit  irgendeines  Werkes  über-  <^e- 
zeugen  \\411,  komme  uns  nur  nicht  mit  bloßen  Geschmacksurteilen.  Horaz'  urteile 
Oden  sind  heil  geblieben,  und  das  Geschrei  ist  verstummt,  das  Hoffman 
Peerlkamp  und  Carl  Lehrs  einst  über  sie  erhoben.  Wir  haben  durch 
diese  geistvollen  Gelehrten  auf  allerlei  Auffälliges  in  den  Horazoden  acht 
zu  geben  gelernt,  aber  ihre  Schlußfolgerungen  waren  leichtfertig.  An 
modernem  Maß  können  wir  das  Antike  nicht  messen.  Sonst  wüßte  ich 
manches,  was  mir  mißfiele.  Auch  die  Papyrusfunde  haben  enttäuscht. 
Wie  unbeholfen  unkünstlerisch  ist  oft  Bakchyhdes !  Herondas  zu  lesen 
ein  geteiltes  Vergnügen; ')  Timotheus' Perser  bietet  dem  Modernen  nichts, 
und  daß  diese  Autoren  zur  Zeit  Goethes,  in  der  Zeit  der  großen 
Renaissance  unserer  Geschmacksbildung,  noch  unbekannt  waren,  Avar  kein 
Mangel.  Auch  Menander  wurde  damals,  wie  Avir  jetzt  erkennen,  durch 
Terenz  hinlänglich  ersetzt. 

Aber  was  sollen  solche  Urteile?  Für  den  Philologen  und  seine  histo- 
rischen Zwecke  sind  sie  ganz  ohne  Wert.  Nur  das  wirklich  Stillose  kann 
seinem  Tadel  verfallen.  ])a  aber  die  Werke  des  Altertums  zumeist  den 
Stil  ihrer  Gattung  wahren,  reicht  kein  modernes  Gefallen  oder  Mißfallen 
an  sie  heran. 

Nur  da  steht  es  mitunter  anders,  wo  im  Altertum  eine  neue  Litteratur-  Mängel  u. 
gattung  entsteht.  Denn  da  sehen  wir,  daß  ihre  ersten  Vertreter  noch  keit  einiger 
tasten  und  in  der  Auswahl  der  Mittel,  durch  die  sie  wirken  soll,  unsicher  Autoren 
und  ungleich  sind.  So  tastend  ist  oft  noch  Aeschylus,  er,  der  größte  von 
allen,  und  die  Sprache,  in  der  er  sich  reckt,  die  grandiosen  Wortmonstra, 
die  er  um  sich  wirft,  machen  oft  nur  perplex,  statt  uns  zu  erbauen. 
Virtuos  erscheint  Catull  besonders  in  seinen  nicht  daktvHschen  Gedichten, 
in  seinen  Elegien  c.  66  und  68  B  ringt  er  dagegen  mit  dem  Ausdruck, 
fast  dilettantisch;  die  römische  Elegie  ist  da  noch  in  Entstehung  begriffen 
und  sucht  noch  nach  der  ihr  angemessenen  Form.  Meisterhaft  Horaz  in 
seinen  Briefen:  auch  dies  eine  Neuschöpfung,  aber  vorbereitet  durch  die 
Schreibart  der  Satire.  Tastend  Horaz  in  seinen  Oden.  Es  galt  da,  kurz 
gesagt,  die  Inhalte  des  alexandrinischen  Epigramms  oder  der  Elegie  in 
die  Form  der  lesbischen  Ode  zu  bringen.  Das  war  ein  Experiment,  und 
ein  Vorgänger  dafür  fehlte.  Auch  guckt  der  Realist  Horaz  überall  durch, 
und  das  gibt  schrille  und  grobe  Töne.  2)  Daher  hat  der  letzte  der  großen 
augusteischen  Dichter,  Ovid,  an  Properz,  nicht  an  Horaz  angeknüpft  und 
Elegien,  nicht  Oden  geschrieben. 

In  der  Spätzeit  häuft  sich  das  Stillose.  Apuleius  wird  gTade  durch 
seine  Sprachlaster  zu  einer  ergötzlichen  Lektüre.    Aber  das  Märchen  von 


^)    Ivo    Brans,    der    sonst    durchaus   1   das  Ablegen    der   Augen  {deponere  v.  18; 
nicht  prüde,    war  Herondas  widerwärtig.       deponere  oculos  ist  in  Umkehrung  des  tollere 


Das  liegt  auch  an  der  Vortragsform ;  denn 
der  Hipponacteus  ist  kein  geeigneter 
Dialogvers. 

2)  Man  denke  nur  an  die  Wassersucht 
der  Geldgier  II  3, 13  und  das  interiore  nota 
II  3,8;  an  das  gr<äßliche  Gedicht  I  36,  wo 
die  Damalis  mit  ihrer  amystis  (v.  13)  und 


oder  attoUere  oculos  gesagt,  worüber  s. 
Rhein.  Mus.  59  S.  410  f.);  dazu  das  breve 
lilium  (v.  16 ;  vgl.  II  4, 13).  Vor  allem  ist  die 
Jacke  der  Ode  zu  eng  für  einen  Dichter, 
der  für  nötig  h.ält  nach  der  Observanz  der 
Elegie  ungefähr  an  jedes  Substantiv  ein 
Epitheton  zu  hängen. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  15 


226  Kritik  und  Hermeneutik. 

Amor  und  Psyche  leidet  doch  allzu  schwer  unter  seinem  bizarren  Latein, 
und  wer  dies  Märchen  Avirklich  genießen  will,  müßte  es  sich  ins  Griechische 
zurückübersetzen,  wenn  er  sich  nicht  mit  einer  schlichten  deutschen  Über- 
setzung begnügt. 

Auch  den  Vergil  trifft  vielfach  der  Tadel  des  Philologen.  Es  ist  be- 
sonders, wde  schon  S.  202  erwähnt  wurde,  der  Vorwurf  ungeschickter, 
weil  zu  äußerlicher  Imitation  seiner  Vorbilder:  ein  Vorwurf,  dem  übrigens, 
wie  wir  sahen,  auch  Sophokles  nicht  entgangen  ist  (oben  S.  108) ;  ich  kann 
da  zumeist  nicht  mitgehn  und  bekenne  mich  gern  als  einen  Bewunderer 
Vergils.  Das  Wichtigste  in  diesem  Zusammenhange  ist,  daß  Vergil,  trotz 
aller  ungezählten  Entlehnungen,  sich  seinen  eigenen,  sofort  kenntlichen 
Sprachstil,  den  Vergilischen  Stil,  gebildet  hat,  der  von  der  ersten  Eclogen- 
zeile  bis  zum  Tode  des  Turnus  reicht.  Nicht  anders  steht  es  mit  dem 
großen  Plünderer  Ovid.  Dies  Vorhandensein  eines  persönlichen  Stils,  der 
dem  Werk  seinen  Stempel  gibt,  ist  für  manches,  was  jetzt  folgt,  im  Ge- 
dächtnis festzuhalten. 
Merkmale  Es  siud  sechs  odcr  sieben  Merkmale  von  verschiedener  Natur,    doch 

Unechtheit  ungefähr   gleicher  Beweiskraft,    die   den  Schluß    auf  Unechtheit  ergeben: 
Chrono-  a)  Chronologisclio  Indizien.    Die   Mäcenaselegien  stehen  unter 

logisches  Ygj.gjig  Namen;  aber  des  Mäcenas  Tod  wird  in  ihnen  vorausgesetzt,  den 
Vergil  nicht  mehr  erlebt  hat.  Xenophons  „Staat  der  Athener"  ist,  wie 
der  Inhalt  ergibt,  ca.  425  v.  Chr.  abgefaßt;  damals  aber  war  Xenophon 
etwa  fünf  Jahre  alt.  Die  Sache  ist  in  solchen  Fällen  rasch  erledigt.  Beim 
philostratischen  Gymnasticus  schwankt  man  nm*,  welcher  der  zwei  oder 
drei  Philostrate  ihn  verfaßt  haben  kann.  In  der  Schrift  wird  aber  ein 
Athlet  Helix  erwähnt.  Dadurch  wird  der  älteste  Philostrat  ausgeschlossen. 
Zeit-  b)  Sonstige   Zeitumstände.     Demetrius    von   Phaleron,    der    etwa 

ums  an  e  ^^^  ,^^rj — 2go  blülitc,  soll  die  rhetorischc  Schrift  Jiegi  eojiitjveiag  geschrieben 
haben ;  aber  er  selbst  wird  in  ihr  mit  Namen  zitiert,  auch  die  Peripatetiker 
als  feste  Gruppe  von  Litteraten  darin  erwähnt.  Also  fällt  die  Schrift 
später.  Die  Tragödie  Octavia  steht  unter  Senecas  Namen.  Aber  Seneca 
selbst  tritt  darin  auf.  Er  kann  sich  nicht  selbst  so  als  Theaterfigur  dar- 
gestellt haben.  Erst  nach  ihrem  Tode  konnte  man  Seneca  und  Nero  auf 
die  Bühne  bringen.  Die  Batrachomachie  galt  als  homerisch;  aber  der 
Verfasser  sagt,  er  schreibt  sein  Gedicht  in  einem  Buch  (v.  3);  also  lebte 
er  wesentlich  später.  Der  Eryxias  zählt  zu  den  Platodialogen,  von 
welchen  das  vo7%vovrai  gilt;i)  in  der  Tat  wird  Plato,  aber  auch  Xenophon 
darin  nachgeahmt;  ferner  ist  daselbst  p.  399  A  ein  yvjuvaoiagxoQ  erwähnt, 
der  den  Sophisten  Prodikos  aus  dem  Gymnasium  ausweist;  dies  Amt  des 
Gymnasiarchen  war  aber  noch  im  4.  Jahrhundert  sogenannte  keiTovgyla, 
erst  im  3.  Jahrhundert  wurde  es  staathches  Amt;  also  paßt  der  Eryxias 
schwerlich  in  das  4.  Jahrhundert.  2) 
Lehr-  c)  Lolirmeinung  und  Tendenz.    Senecas  Briefwechsel  mit  Paulus 

u.  Tendenz  Zeigt  Soncca  als  Adepten  des  Christentums,  eine  bewußte  Fälschung.    In 


1)  Diog.  Laert.  3,  62.  1    tingen  1901. 

2)  Siehe  0.  Schrohl,  De  Erjrxia,  Göt-   | 


I 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  227 

Demosthenes'  Rede  25  (gegen  Aristogiton)  äußert  sich  eine  orpliische 
Glaubensriclitung,  die  dem  Demosthenes  fremd  war.i)  Piatos  zweiter 
Alkibiades  und  sein  kleines  Gespräch  Tzegi  dixaiov  haben  xeno phontischen 
Anstrich;  dies  wird  für  den  Alkibiades  schon  bei  Athenaeus  p.  506  C  be- 
merkt. Piatos  Klitophon  widerstreitet  in  Ansichten  der  Staatslehre  dem 
Plato.  Aristoteles'  tieq!  xoojuov  enthält  Lehrmeinungen  des  Stoikers  Posi- 
donius.  An  Echtheit  glaubt  in  allen  diesen  Fällen  niemand.  Unter  den 
Alten  war  es  Galen;  der  vor  allem  nach  diesem  Kriterium  über  Echtheit 
imd  Unechtheit  der  Hipp  okrat  es  Schriften,  die  sich  in  Massen  angesam- 
melt hatten,  entschied;  so  fand  er  in  negi  (pvoiog  äv&Qwnov  eine  unhippo- 
kratische  Fieberlehre  (Galen  XV  S.  168  K.).  Von  60—80  Schriften  jenes 
Altmeisters  der  Medizin  nahm  Galen  nur  höchstens  13  für  echt.  2)  Auch 
Quintilian  sei  zitiert,  der  III  5,  14  eine  rhetorische  Schrift  des  Herma- 
goras,  deren  Inhalt  nicht  zum  Autor  passe,  mit  dem  Zusatz  erwähnt:  sive 
falsus  est  titulus  sive  alius  hie  Hermagoras  fiiit.  Besonders  bemerkenswert 
endlich  noch  die  Sammlung  der  Phokylidea,  die  Spruchsammlung  eines 
jüdisch  angefärbten  Moralisten  hellenistischen  Charakters,  die  unter  dem 
Namen  des  alten  gnomischen  Dichters  Phokylides  geht,  welcher  Phoky- 
lides  dem  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  angehörte,  also  etliche  Jahrhunderte  früher 
gelebt  hatte.3)  /  ■    .. 

d)  Die  Sprache;   bei  Dichtei-n  Sprache  und  Versbau.     Tacitus'  Sprachen. 

...  .  .  Versbau 

Dialog  unterscheidet  sich  in  der  Schreibweise  ganz  auffällig  von  den 
sonstigen  Tacitusschrif ten ;  nichts  ist  leichter,  als  das  w^ahrzunehmen,  aber 
nichts  unberechtigter,  als  destruktive  Schlüsse  aus  dieser  Differenz  zu 
ziehen,  die  sich  eben  aus  dem  abweichenden  Zweck  des  Dialogs  selbst 
erklärt  (oben  S.  64).  Ebenso  rechtfertigt  sich  der  eigenartige  Stil  des 
Epitaphios  des  Lysias,  und  auch  Val.  Rose  irrte,  wenn  er  in  seinem  Ari- 
stoteles pseudepigraphus  *)  einst  sämtliche  sogenannte  exoterische  Schriften 
des  Aristoteles,  die  uns  nur  in  Fragmenten  vorliegen,  für  gefälscht  an- 
sah, weil  ihr  aureum  flumen  oraüonis  (Cic.  Acad.2, 119)  zu  den  erhaltenen  . 
Pragmatien  des  Philosophen  in  Gegensatz  steht.  Rose  erwog  wiederum 
nicht  den  abweichenden  popularisierenden  Zweck  jener  Exoterica.  Unter 
den  Lucianschriften  zeigt  der  AovKiog  ij  övog  eine  von  Lucian  abweichende 
Gräcität,  die  sich  aber  vielleicht  gleichfalls  auf  den  abw^eichenden  Werk- 
charakter dieser  rein  erzählenden  Schrift  zurückführen  läßt.s) 

Wo  indes  solche  Zweckdifferenz  nicht  vorliegt,  sind  auch  die  sprach- 
lich formalen  Unterschiede  bindend  und  zwangen  zur  Sonderung  des 
Eigentums.  Plutarch  ß)  schreibt  dem  alten  Simonides  den  berühmten  Aus- 
spruch zu,  daß  die  Poesie  eine  ^0}yQa(pia  XaXovoa,  die  Malerei  eine  Tzoitjoig 
OKOJiöjoa  sei.  Dieser  Ausspruch  muß  unecht  sein;  denn  nolrjoig  und  noieXv 
für  „Dichtimg,  dichten"  ist  ein  verhältnismäßig  junges  Wort,  das  die  Zeit 


1)  A.  Dieterich,  Nekyia  S.  137  ff. 

2)  Siehe   Bröcker,   Ehein.  Mus.  1885 
S.  168. 

')  Siehe  Jac.  Berxays,  Ges.  Abhandl. 
I   S.  192  ff.;    dazu   A.  Ludwich,   Quaest.   ;   bet,  Yar.  lect.  S.  260 
pseudophocylideae,  Königsberg  1904.  |  ^)  Plut.  Mor.  p.  346  E 


*)  Leipz.  1863;  vgl.  Akademieausgabe 
des  Aristot.  Bd.  V. 

5)  Siehe  E.  Eohde,  lieber  Lucians 
Schrift  AovHiog  tj  övog  S.  37;  übrigens  Co- 


15 


228  Kritik  und  Hermeneutik. 

des  Simonides  und  Pindar  jedenfalls  noch  nicht  kannte,  i)  Auch  Theognis  770, 
wo  jToieiv  steht,  ist  darum  nicht  alt. 2)  Lachmann  sah,  daß  im  dritten 
TibuUbuch  autem,  etenim,  ergo  verwendet  w^rd,  Partikeln,  die  dem  echten 
Tibull  fremd  sind;  der  Schluß,  der  daraus  folgt,  Avird  dann  auch  durch 
Beobachtung  der  Metrik  und  durch  den  Namen  Lygdamiis  bestätigt,  mit 
dem  sich  der  Dichter  im  selben  Buche  (3,  2,  29)  nennt  und  der  schwer- 
lich ein  Pseudonym  für  Albius  sein  kann.  Aus  metrisch  sprachlichen 
Gründen  kann  dasMoretum  nicht  von  Yergil  sein,  auch  nicht  der  Aetna,^) 
aus  den  gleichen  die  laus  Pisonis  nicht  von  Lucan.  Die  Schreibweise  ist 
es,  die  ergibt,  daß  Cicero  zwar  De  inventione,  nicht  aber  die  Rhetorik 
ad  Herennium  schrieb,  die  gleichfalls  unter  seinem  Namen  steht.  Sa 
hat  der  schon  erwähnte  zweite  Alkibiades  Piatos  eine  unplatonische 
Sprache ;  *)  so  kontrastiert  Pseudolongin  jieqI  vipovg  schroff  mit  dem  echten 
Longin;  und  mit  den  Pseudepigrapha  Lucians  wie  den  MaxQoßioi  steht 
es  ebenso ;  auch  die  "'Egioreg  können  nicht  wohl  von  Lucian  sein  (Meidung 
des  Hiats);ö)  u.  a.  m.  Auch  an  die  meisten  der  Demosthenesreden,  die 
die  Familiensachen  des  ApoUodoros  anbetreffen  (Eede  45;  46;  49;  50;  52; 
53;  59),  6)  sei  noch  erinnert.  Überall  bestimmt  hier  Avesentlich  die  Be- 
obachtung des  Sprachgebrauchs  das  philologische  Urteil.  Nach  solchen 
Indizien  haben  auch  schon  im  Altertum  Dionys  von  Halicarnaß  und 
Caecilius  von  Kaie  Akte  vielfach  das  Unechte  aus  dem  Nachlaß  der 
attischen  Redner  ausgeschieden ;  z.  B.  besaßen  sie  unter  des  Lysias  Namen 
425  Reden  und  erklärten  nur  233  für  echt. 

Es  ist  nun  klar,  wie  notwendig  zur  Führung  solcher  Untersuchungen 
eine  erschöpfende  Darlegung  des  S})rachgebrauches  ist.  Wer  eine  Lucian- 
schrift  als  unecht  nachweisen  will,  braucht  zu  einem  bündigen  Beweise 
die  vollständige  Kenntnis  des  Wortschatzes  seines  Autors.  Speziallexika 
zu  den  antiken  Schriftstellern  sind  daher  auch  aus  diesem  Grunde  das 
dringendste  Bedürfnis  (vgl.  oben  S.  44). 

e)  KompositionsAveise.  Der  Rhesos  ist  eine  feine  und  spannende 
Tragödie  voll  wohllautender  Chorlieder;  aber  seine  dramaturgische  Struktur^ 
die  Verteilung  der  Sprech verse  u.  ä.  ist  nicht  euripideisch,  und  wir  kennen 
hier  also  wieder  einmal  nur  ein  treffliches  Gedicht,  aber  nicht  den  treff- 
lichen Dichter.  Man  vergleiche  dazu  die  Octavia,  Avelches  Drama  in 
der  Struktur  von  den  echten  Dramen  des  Seneca  zum  Teil  abweicht.  Sa 
ist  das  stiunpf boldig  breitspurige  Proöm  in  der  Ciris  von  der  Art  vergili- 
scher  Proömien  himmelw^eit  verschieden,  undVergil  hat  mit  dieser  Ciris 
ebensowenig  zu  tun  wie  Plato  mit  der  Schrift  ^Iximv :  zwei  Wasservögel,, 
die  beide  herrenlos  und  vogelfrei.    Wie  die  Dialoge  Hi^^pias  maior,  Mene- 


*)   Siehe    Laienurteil    über    bildende  \   in  Hallenser  Dissert.  XIX,  1911,  S.  301  f. 

Kunst  bei  den  Alten,  1902,  S.  11.  ^)   Siehe    Stallbaums   Ausg.  Bd.  V  1 

2)  Vgl.  G.  Kuhlmann,   De   poetae   et  i   Proleg. 

poematis  Graecorum  appellationibus.  Mar-  \           ^)  Siehe  L.  Bloch,  De  Pseudo-Luciani 

bürg  1906,  S.  30.  ;   Amoribus,   Straßburg  1907,    der   aber  vor 

3)  E.Herr,  De  Aetnae  c.  sermone  setzt  \   allem  Sachliches  beibringt,  was  zu  Lucians. 
das  Werk  nach  meinem  Vorgang   in    die  Zeit  nicht  stimmt. 

Zeit  der  Jugend  des  Plinius;  diesen  An-  ^)  Siehe  I.  SiGG,  Fleckeis.  Suppl.  Bd.VI 

satz  bestätigt  0.  Gross,    De  metonj^miis,  S.  397  ff. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  229 

xenos,  die  Anterasten  u.  a.  von  den  sicher  echten  platonischen  in  der 
Kompositionsweise  abweichen,  hat  Bruns  ausgeführt  (S.  339  ff.),  ohne 
jedoch  gegen  die  Echtheit  gleich  bindende  Schlüsse  zu  ergeben.  Jener 
„Hippias"  ist  z.  B.  in  der  Weise  angelegt,  daß  nicht  Sokrates,  sondern 
Hippias  selbst  im  Eedegefecht  den  Sieg  behält  und  daß  die  Einleitungs- 
szene ferner  nicht,  wie  sonst  bei  Plato,  einfach  nur  dazu  dient,  das 
folgende  Gespräch  vorzubereiten,  sondern  von  ihrem  Titelhelden  ein  aus- 
führliches Porträt  entwirft,  das  augenscheinlich  Selbstzweck  und  um  seiner 
selbst  willen  da  ist  und  also  gleichsam  aus  dem  Eahmen  der  gültigen 
Eorm  tritt. 

f)  Ethische    Merkmale    dürften   die   Entscheidung   ziemlich   selten  Ethisches 
geben.     Doch    erweckt    des    Theokrit    27.  Idvll    „Das    Gekose",    öagiorbg 
Adcfviöog  xai  xöof]g,  den  Eindruck  einer  so  weitgehenden  Frivolität,  Avie  wir 

sie  dem  Theokrit  selbst  nicht  zutrauen.  Mit  dem  Cento  nuptialis  des 
Ausonius  steht  es  augenscheinlich  anders,  anders  auch  mit  den  Obscöni- 
täten  Catulls  u.a.  (oben  S.  170).  Doch  sei  noch  auf  die  Copa  hingewiesen, 
die  zur  Vergilappendix  gehört.  Köstlich  ist  dieses  kleine  Gedicht  in  der 
Tat,  aber  fast  zu  nervig  lebensvoll  für  Yergil;  vor  allem  ist  das  Locken 
des  Weibes  darin  mit  einer  Sinnenfreude  vorgeführt,  die  seinem  „jung- 
fräulichen" Ethos  augenscheinlich  fremd  war.')  So  hat  man  nun  auch 
die  Consolatio  ad  Pol^^bium  wegen  der  ki-assen  Schmeicheleien,  die  sie 
enthält,  dem  Seneca  als  des  Verfassers  unwürdig  absprechen  wollen. 
Allein  die  Schrift  bezeichnet  vielmehr  eine  bedeutsame  Etappe  in  der  Bio- 
graphie und  staatsmännischen  Entwicklung  dieses  seltsamen  und  seltenen 
Mannes. 2)  Besonders  schwierig  ist  die  Entscheidung  betreffs  der  Apo- 
logie des  Xenophon,  die  wie  ein  Pleonasmus  neben  den  Memorabilien 
desselben  Autors  nebenherläuft.  Der  Sprache  nach  ist  sie  echt  xeno- 
phontisch,  dem  Ethos  nach  nicht;  denn  nirgends  sonst  zeigt  ims  Xeno- 
phon den  Sokrates  so  w^iderwärtig  anmaßend  selbstgerecht  wie  hier.  Wer 
gibt  die  Entscheidung? 

g)  Hierzu  kommt  nun  noch  in  letzter  oder  vielmehr  in  erster  Instanz    Geistige 
die    geistige    Inferiorität    eines    Litteraturwerkes.      Man    muß   sich 
Avundern,  daß  der  selbstverständlichste  Satz:  ein  Litterat  von  Bedeutung 

kami  nichts  Stupides  schreiben,  in  den  Argumentationen,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  so  oft  unbenutzt  bleibt,  während  er  vielmehr  alle  weiteren 
Argumente  überflüssig  macht.  Freilich  hat  nicht  jeder  Kritiker  das  Augen- 
maß für  litterarische  Größe  und  Inferiorität;  übrigens  gilt  es  auch  hier 
wieder  zu  sondern.  Ich  denke  zunächst  an  die  gewaltigen  Athetesen 
0.  Ribbecks  im  Juvenal;  sie  Avaren  allerdings  A^orschnell  und  vergeblich; 
denn  daß  die  letzten  Satiren  Juvenals  scliAvächlicher,  schabloniger,  stumpfer 
als  seine  ersten  sind,  erklärt  sich  sehr  einfach  aus  zunehmender  Senilität 
und  zeigt  nur,  Avas  selbstverständlich  ist,  daß  ein  Achtzigjähriger  nicht 
mehr  so  frisch  Avie  ein  Fünfzigjähriger  schreibt  (A^gi.  oben  S.  169).  Wer 
dagegen  z.  B.  den   litterarischen  Schund,    der   unter   den   carmina   spuria 

^)  Siehe  ed.  Oatalepton  S.  9  f.  uiidecimo,  Marburg  1906 ;  dazu  meine  Aus- 

*)  Siehe  R.  Waltz,  Vie    de    Senequo       führungen  in  Neue  Jahrbb.  27  S.  596  ff. 
S.  112  ff.;  W.  ISLEiB,  De  Senecae  dialogo 


Cynegeti 
cus 


230  Kritik  und  Hermeneutik. 

des  Claudiaü  sich  befindet,  deshalb  für  echt  nehmen  wollte,  weil  der 
Name  Claudians  darüber  steht,  Avürde  sich  lächerlich  machen.  Um  ihrer 
Inferiorität  willen  wirft  man  so  manche  Pseudoplatonica  Avie  den  Demo- 
dokos,  Sisyphos,  Minos  etc.  beiseite;  und  so  ging  schon  Galen  vor,  der 
z.B.  im  IJQOQQrjTixög  des  Hippokrates  die  ddiavorjxa  tadelt  und  voll  Ent- 
rüstung das  indignum  ruft:  ovx  ä^iov  rfjg  'InnoxQdrovi;  dvvduecog.  Das  Un- 
würdige muß  auch  das  Unechte  sein. 

Natürlich  liegt  nun  die  Sache  meistens  so,  daß  von  den  verschiedenen, 
im  Ganzen  sieben  Gesichtspunkten,  die  ich  unterschieden  habe,  zugleich 
mehrere  auf  ein  und  dasselbe  Werk  Anwendimg  finden.  Besonders  oft 
trifft  Punkt  4  mit  Punkt  7  zusammen,  wie  im  Culex,  den  Halieutica, 
dem  pseudoxenophontischen  Cynegeticus;  d.  h.  wo  das  geistige 
Niveau  abweicht,  da  pflegt  auch  der  Sprachcharakter  abzuweichen. 
Xenoph.  Bei  dicscu  di-ei  genannten  Opera  sei  hier  beispielshalber  einmal  etwas 

ausführlicher  verweilt.  Daß  der  Autor  des  genannten  Cynegeticus  in 
seiner  Natur,  Ansichten  und  Gebaren  sich  seltsam  von  dem  Weltmann 
Xenophon  abhebt,  haben  viele  empfunden.  Den  Beweis  seines  nicht- 
xenophontischen  Ursprungs  hat  in  zwingender  und  mustergültiger  Weise 
L.  Radermacher  erbracht,  i)  eine  Beweisführung,  die  zwingend  ist,  wenn- 
gleich Arrian  und  schon  Plutarch  Moral,  p.  1096  A  die  Schrift  für  echt 
nahmen.  Xenophon  selbst  schrieb  über  Reitkunst,  jiegi  ijimxfjg;  wir  kennen 
somit  den  Stil,  den  er  in  Lehrschriften  anwendet,  und  können  die  Sprache 
der  Schrift  über  die  Jagd  daran  messen.  Diese  Schrift  disponiert  mangel- 
haft, indem  sie  meist  nur  mit  einem  Stichwort  das  zu  behandelnde  Thema 
anzeigt.  Ihr  Wortschatz  trägt  den  deutlichen  Stempel  der  Keine  und 
hat  zugleich  poetische  und  vulgäre  Färbung;  dahingehörige  Worte  sind 
z.  B.  dvrddjujieiv  5,  18,  ejU7i?.r]xrog  5,  9,  ke^giog  4,  3,  gel&ga  5,  19;  aber 
auch  solche  wie  eregoxhvijg  2, 7,  ovjU7iaQa(peQeoäai  3, 10,  enixaiaßdlXeLv  4, 3, 
vnoyaQOJiog  5,  23,  ioojueye&r]g  5,  29,  hav^dveiv  12,  9,  evejiijg  13,  16.  Alle 
diese  und  andere  sind  dem  Xenophon  fremd;  dazu  eWg  im  Singular  5, 18, 
TJTzeiQoi  im  Plural  5,  24,  eyeiv  Tf]v  fjovxiav,  so  mit  dem  Artikel,  7,  1,  fjxovrog 
de  TovTov  statt  yevofievov  de  tovtov  8,  7.  Dazu  Stilistisches:  die  Parataxe 
mit  Ol  juev  —  ol  de  wird  ganz  auffällig  und  auf  das  eintönigste  bevorzugt; 
Partizipialkonstruktionen  müssen  die  relativischen  und  sonstigen  Nebensätze 
ersetzen;  Adjektive  werden  bei  Beschreibungen  katalogartig  asyndetisch 
aufgereiht  (z.  B.  2,  5),  ebenso  Partizipia.  Das  ist  Streben  nach  lehrbuch- 
artiger Kürze;  dasselbe  Bestreben  zeigt  sich  auch  in  der  notizenhaften 
Auslassung  des  elvai.  Der  Vorrat  an  Partikeln,  mit  denen  die  Sätze  ver- 
knüpft werden,  ist  der  spärlichste;  das  de  herrscht,  daneben  findet  sich 
ydg,  ovv,  xai,  ZAveimal  jaevroi ;  das  ist  fast  alles  und  duldet  mit  dem  Paiiikel- 
reichtum  Xenophons  keinen  Vergleich.  So  fehlen  denn  auch  alle  redne- 
rischen Tropen,  Vergleiche  und  Bilder,  mit  denen  sonst  Xenophon  selbst 
in  der  Schrift  über  die  Reitkunst  nicht  spart.  Das  bezeichnendste  aber 
ist  der  ständige  Gebrauch  des  Infinitivs  statt  des  Imperativs,  der  dem 
Xenophon  selbst  ganz  ungeläufig  ist.     Der  Umstand,  daß  im  cap.  13  die 


')  Ehein.  Mus.  51  S.  597  ff.;  52  S.  13 ff. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  231 

Begriffe  (pd6oo(pog  und  oocpiojrjg  in  einer  Weise,  die  wiederum  Xenophon 
nicht  kennt,  schroff  kontrastiert  Averden,  führt  endlich  zu  dem  Ansatz, 
daß  der  Cynegeticus  unter  Einfluß  der  platonischen  Fassung  dieser  Ter- 
mini steht.  Die  Schrift  mag  noch  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  angehören ; 
vielleicht  kannte  sie  schon  Theophrast.i)  Das  Proöm  des  Cynegeticus  aber 
ist  wiederum  nicht  zugehörig  und  scheint  erst  etwa  im  3.  Jahrhundert 
hinzugefügt  Avorden  zu  sein. 

Die  pseudoovidischen  Halieutica  sind  zwar  durchaus  nicht  albern  zu  9^^*^. 
nennen,  aber  von  einer  kümmerlichen  Dürftigkeit  und  schulmäßigen  Trocken- 
heit, die  Ovid  nirgends  kennt,  die  dagegen  den  philiströsen  griechischen 
Didaktikern  A^on  der  Art  Nikanders  und  so  auch  dem  Aemilius  Macer 
eigen  Avar.  Wann  hätte  OA'id  so  von  seiner  Art  gelassen?  Er  ist  sonst 
stets  bis  ans  Ende  sich  selber  gleich.  Jene  Trockenheit  deutet  nicht 
etAva  auf  einen  geistigen  Rückgang  des  gealterten  Verfassers,  sondern  auf  • 
eine  abAA'eichende  und  hausbackene  Methode  des  LehrA^ortrags,  die  Aveit 
A^erbreitet  AA^ar  und  es  auf  das  Memorieren  eines  Lernstoffs  in  Katalog- 
form absieht.  Wer  nun  diese  Halieutica  durchliest,  findet  in  den  AA^enigen 
Yersen,  es  sind  nur  134,  obendrein  eine  Menge  unovidisches  Sprachgut 
und  eine  unoAadische  Metrik,  und  so  bestätigt  auch  hier  das  Argument  4 
das  Argument  7. 

Es  ist  unbeliebt,  ein  spondeisches  W^ort  in  den  ersten  Fuß  des  Hexa- 
meters zu  setzen  (PPS);  hier  geschieht  es  in  jedem  17. Verse,  im  letzten 
Buch  des  ÜA^id  ex  Ponto  in  jedem  40.  OA^d  liebt  es,  den  Alerten  Fuß 
daktylisch  zu  bilden  in  der  Weise,  daß  der  Fuß  mit  Wortende  schließt; 
in  dem  erAvähnten  Buch  ex  Ponto  findet  sich  dies  siebenundAderzigmal, 
d.  h.  einmal  in  jedem  9. — 10.  Verse,  in  den  Halieutica  geschieht  dies  nur 
A^ermal,  d.  h.  einmal  in  jedem  33. — 34.  Vers.  Die  Hexameterform  IV,  die 
neben  der  Hephthemimeres  nur  den  Einschnitt  /.lerä  tqltov  xQoxaXov  hat,  aa^o 
Decidit  adsutamque  |  dolo  |  tandem  pavet  escam, 

braucht  Ovid  selbst  nirgends,  in  den  Halieutica  aber  steht  sie  ZAveimal, 
A'.  11  u.  104.  Schon  das  genügt.  Zudem  aber  schließt  der  soeben  zitierte 
V.  11  auf  das  ungeschickteste  mit  vier  zweisilbigen  Wörtern.  Auch  das 
ist  im  OAdd  ganz  unerhört. 

Dazu  kommen  die  sprachlichen  Anstöße,  die  alle  aufzuzählen  hier 
unmöglich;  da  lesen  AAdr  z.B.:  v.  3  nondum  imn  für  „noch  nicht":  un 
OAddisch ;  iam  FlickAvort.  v.  5  und  6 :  Nachstellung  des  sie  in  der  Anapher 
uno\ddisch.  v.  77  f. :  nunc  .  .  .  et  nune  statt  nune  . .  .  niine  für  „bald  bald" 
unoAddisch.  v.  68  f.:  seu  ...  -ve  eum  statt  sive  .  .  .  sive:  unoAddisch.  v.  55 
quo  magis  bei  fehlendem  eo  magis:  unoAddisch.  v.  57:  propemre  aktivisch 
mit  dem  acc.  verbunden :  unovidisch.  v.  90 :  viridare  transitiv :  unoAddisch 
V.  51 :  non  sana  für  insana  bei  A^orauf gehender  langer  geschlossener  Silbe 
unoAddisch.2)  a\130:  noeuus:  unovidisch  und  neu.  a\119:  epnsfas  (escas) 
unovidisch.     v.  103 — 126:    tum  in   der   Aufzählung:    unovidisch. 3)     Ovid 


1)  Siehe  Rhein.  Mus.  52  S.  26.  j   non  et  haud  eqs.,  Marburg  1908,  S.  19  f. 

2)  Siehe  nicht  nur  De  haheut.  p.  25,    |  ^)  De  hal.  S.  43. 
sondern  auch  W. Pfeiffer,  Quibus  legibus   | 


232  Kritik  und  Hermeneutik. 

braucht  ferner  kein  increpitare  (Hai.  80),  dissolvere  (37),  obniti  (12),  vendi- 
tare  (70),  denunüare  (60)  u.  s.  f. 

Man  hat  einige  dieser  zahlreichen  Unechtheitsindizien  durch  Emen- 
dation  zu  beseitigen  versucht;  i)  aber  damit  kommt  man  nicht  weit.  Vor 
allem  steht  im  v.  34  der  Dativ  ei,  und  zwar  jambisch  gemessen.  Weder 
Ovid  noch  sonst  ein  Augusteischer  Dichter  gestattet  sich  aber  den  Dativ 
ei  jemals.  Erst  Germanicus  in  den  Phaenomena  hat  ihn  zu  schreiben  ge- 
wagt, und  hiermit  ist  uns  nun  schon  ein  erstes  Anzeichen  für  die  Abfassungs- 
zeit der  Halieutica  an  die  Hand  gegeben.  Aber  es  kommen  Aveitere  hinzu. 
Im  V.  95  steht  gar  milui  zweisilbig  gemessen  (denn  die  Lesung  müui  läßt 
sich  nicht  ernstlich  bezweifeln);  miluus  ist  aber  im  klassischen  Latein 
stets  dreisilbig  daktylisch,  so  noch  bei  Persius  4,  26,  und  die  zweisilbige 
Messung  taucht  zuerst  bei  Martial  9,  55  auf  (vgl.  Juvenal  9,  55).  Also 
-  ist  die  Fälschung  erst  nach  Persius  entstanden.  2)  Wir  können  aber  noch 
genauer  sagen:  sie  entstand  zwischen  dem  9.  und  32.  Buch  der  Natur- 
geschichte des  Plinius ;  denn  das  neunte  ist  das  Fischbuch ;  da  kennt  Plinius 
aber  das  Gedichtstück  noch  nicht;  später  erst  hat  er  es  kennen  gelernt 
und  exzerpiert  es  nun  32, 152  f.  voll  Eifer  anhangsweise  und  als  Supple- 
ment zu  Buch  IX  an  einem  ganz  ungehörigen  Ort.  Dies  höchst  auffälHge 
Verhalten  des  Plinius  muß  auf  besonderen  umständen  beruhen.  3)  Denn 
bei  der  Belesenheit  und  Litteraturkenntnis  des  Mannes  ist  es  undenkbar, 
daß  er  im  neunten  Buch  die  Halieutica  nicht  benutzt  hätte,  wenn  sie  vor- 
gelegen hätten.  Nun  ist  das  9.  Buch  des  Plinius  sicher  vor  dem  Jahre  77 
n.  Clir.,  die  Zusätze  im  32.  Buch  aber  sind  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
erst  nach  77  von  PHnius  abgefaßt  worden.'*)  Also  lernte  er  die  Halieutica 
erst  um  das  Jahr  77  kennen;  d.  h.  sie  stehen  der  Zeit  Martials  nahe. 
Vcigii  Ganz  ebenso  steht  es  nun  auch  mit  Culex  und  Ciris.     Nehmen  wir 

nur  den  ersteren.  Man  wird  es  freiUch  bedauern,  an  derartige  litterarische 
Produkte  viel  Zeit  zu  verlieren ;  doch  bieten  sie  ein  hervorragendes  methodo- 
logisches Interesse. 

Zunächst  die  Erfindung  im  Culex.  Eine  Wassermücke,  die,  von 
einem  Hirten  getötet,  als  Geist  umgeht  und  ein  Begräbnis  fordert  und 
schließlich  das  Begräbnis  auch  erhält:  das  ist  der  Gegenstand.  Der 
Dichter  selbst  sagt,  was  er  gibt,  soll  ein  locus  sein  (v.  6),  und  wir  können 
vermuten,  daß  die  Fiktion  wirklich  volkstümhch  war.  Es  handelt  sich 
um  die  Vorstellung,  daß  auch  die  Tiere  nach  dem  Tod  Aveiterleben  und, 
wenn  sie  nicht  eine  Bestattung  finden,  rulielos  umgehn.  Diese  Idee  liegt 
gewiß   noch   nicht  in    der  Odyssee  vor,  wo  11,  573   im  Hades   auf  Avilde 

')  Ich  bedaure  mich  öfter  mit  F.Yoll-  '  was  Yolhner  zum  v.  1  vorschlägt,  kann  ich 
mer  im  Widerspruch  zu  finden.  Sein  her-  ;  nicht  annehmen :  keinesfalls  aber  ent- 
vorragendes Talent  im  Konjizieren  war  |  spricht  seine  Interpretation  des  Verses  dem 
ihm    nicht   treu,    wenn    dieser    Gelehrte,  ;  Stil  Ovids.     Für  v.  75  setzt  Vollmer  bei- 


Ciilex 


Ehein.  Mus.  55  S.  528,  glaubt,  im  v.  2  lasse 
sich  manca  mhmtur  herstellen;  das  soll 
heißen:  „er  droht  mangelhaft" :  wäre  aber 
wirklich  so  zu  lesen,  so  wäre  damit  gegen 
Ovid  ein  neues  Argument  geschaffen;  denn 
ein  manca  minatur  läßt  sich  durch  keine 
ovidische    Analogie    rechtfertigen.     Auch 


läufig  einen  Fragesatz  an:  quid  laus  prima 
canum?  Auch  das  scheint  mir  nicht  mög- 
lich. 

2)  De  halieut.  S.  56. 

3)  De  halieut.  S.  132  und  158  f. 

*)  Vgl.  Teuffels  Gesch.  der  röm.  Lit- 
teratur,  6.  Aufl.,  §  313, 1. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  233 

Tiere  Jagd  gemacht  wird,  und  auch  die  Rosse  in  der  Unterwelt,  die 
Yergil  6,  653  erwähnt,  gehören  nicht  hierher.  Wichtiger  ist,  daß  die 
Schlangen,  die  das  Knäblein  Herakles  erwürgt,  bei  Theokrit  25,  271  in 
den  Hades  fahren,  also  auch  dort  weiterleben  werden:  was  uns  an  die 
Fabel  vom  Melampus,  der  die  Schlangen  begräbt,  erinnert.^)  Daher  zieht 
nun  aber  auch  der  gestorbene  Sperling  Catulls  in  die  Unterwelt,  ja,  er 
zieht  durch  die  Unterwelt,  carm.  3, 12:  it  per  iter  tenebricosiim  illud,'^)  iinde 
negant  vedire  qiiemqiiam.  Man  begreift,  daß  aus  dieser  Anschauung  die 
Sitte  hervorging,  Tiere  wirklich  wie  .Menschen  zu  begraben,  wie  Kaiser 
Hadrian  seine  Pferde  beisetzte,  3)  und  so  erst  erklären  sich  auch  die  Grab- 
schriften auf  gestorbene  Tiere  in  der  Palatinischen  Anthologie  7, 189 — 216 
und  die  lateinische  auf  das  Hündchen  Myia,  CIL.  XIII  488.  Sogar  eine 
Heuschrecke  erhält  ihren  tumulus  Anthol.  Pal.  7, 198.  Und  nun  endlich  das 
Umirren  der  Tierseele  nach  dem  Tode.  Bei  Lucian  im  Mvlag  ey^^Mjuiov 
lesen  Avir  §  7,  daß  die  Seele  der  Fliege  unsterblich  ist,  und  zwar  ejiav- 
eoyejai  jidXiv  .  .  .  xal  ejiavioT}]oi  ro  ocb^ua.  Das  führt  jedoch  auf  anderes. 
Vortrefflich  paßt  dagegen  die  Geschichte  vom  Aal,  die  ich  schon  früher 
einmal  beibrachte,^)  hierher:  der  Aal  ist  von  einem  gewissen  Kissamis 
getötet  worden,  erscheint  ihm  im  Traum  und  fordert  begraben  zu  werden. 
Das  ist  zum  Culex  immer  noch  die  nächste  Parallele.  Ovid  aber  sagt 
uns  nun  noch,  Amor.  II  6,  daß  in  der  Unterwelt  auch  ein  besonderes  Ge- 
filde für  die  Tiere  besteht.  Er  denkt  dabei  allerdings  nur  an  die  Vögel; 
denn  es  handelt  sich  dort  um  den  Papagei  seiner  Corinna,  der  rite,  mit 
Grabinschrift  auf  dem  tumulus,  beigesetzt  wird.  Im  Elysium,  heißt  es, 
befindet  sich  ein  dunkler  Eichenhain:  das  ist  der  Ort  für  die  volucres 
piae;  Schwäne,  Tauben,  der  Pfau,  sogar  der  Phönixvogel  sind  dort  zu 
finden. 

Die  Erfindung  des  Culex  ist  hiermit  erklärt.  Sein  Hauptinhalt  aber 
ist  in  alexandrinischem  Geiste  exkursiv.  Denn  die  Mücke  benutzt  die 
Gelegenheit,  um  dem  Hirten  die  ganze  Unterwelt,  zu  der  sie  eingehen 
soll,  zu  beschreiben;  aber  nicht  etwa  ein  Jenseits  der  Tiere  tut  sich  uns 
da  auf,  mit  dem  Schatten  der  Heuschrecke,  des  Aals,  der  Taube,  des 
Fuchses,  Wolfs  und  Esels  u.  s.  f.:  solche  Erfindung  wäre  zu  kühn,  oder 
sie  wäre  zu  vulgär  gewesen.  Der  „locus"  besteht  vielmehr  nur  in  dem 
Kontrast  zwischen  trivialer  Fabel  und  erhabener  Ausführung :  &)  die  Fabel 
möglichst  naiv  und  ammenhaft,  die  Ausführung  übertrieben  gelehrt  und 
mit  kostbarem  mythographischem  Apparat  überladen,  schon  gleich  im 
Proöm;  dann  bei  der  Schilderung  der  Bäume,  unter  denen  der  Viehhüter 
schläft  u.  s.  f. ;  ebenso  gesucht  die  Sprache :  das  Exerzitium  eines  kümmer- 
lich überfütterten  Geistes,  unübertrefflich  fade  von  vorn  bis  hinten.  Und 
das  sollte  der  feine  Verfasser  des  Catalepton  geschrieben  haben?  Vielmehr 
Avird  das  Ganze  erst  als  Werk  eines  ungeschickten  Fälschers,  der  den  jungen 


M  Preller,  Griech.  Mythol.II  S.472.  :  der  Wortschatz  {voces)  soll  dem  Scherz  zu- 

2)  So  zu  lesen;  s.  Philol.  63  S.  429.  j  liebe  {per  ludum)  erhaberr  sein   oder  mit 

3)  Vita  Hadriani  21,  2.  |  den  Helden,  die  er  vor  allem  unterweit- 
'*)  De  halieuticis  S.  52.  '  lieh  vorführen  wird,  übereinstimmen  {con- 
^)  Dies  sagt  der  Verfasser  selbst  v.  5,  sonent  notitiae  ducum). 


234  Kritik  und  Hermeneutik. 

Vergil  als  Anfänger  in  der  Poesie  vorführen  wollte,  verständlich;  daher 
das  wichtigtuerische  tennem  fonnavimus  orsmn  im  Proöm  v.  2,  d.  h.  „ich 
lege  hier  einen  bescheidenen  Anfang  vor",  was  natürlich  für  den  "Wissenden 
gesagt  ist;  es  ist  durchsichtig,  daß  wir  verstehen  sollen:  „Dies  schreibt 
der  Mann,  der  einst  so  Gewaltiges  wie  die  Aeneis  leisten  wird" ;  also  ganz 
in  dem  prahlerischen  Sinn  der  unechten  Vergil  verse,  die  die  Aeneis  ein- 
leiten (oben  S.  160): 

nie  ego,  qui  quondam  gracih  modulatus  avena 
Carmen,  et  egressus  silvis  vicina  coegi 
ut  quamvis  avido  parerent  arva  colono, 
gratum  opus  agricohs,  at  nunc  horrentia  Martis. 

Aber  der  Fälscher  verrät  sich  im  Culex  wiederum  durch  Sprache  und 
Versbau,  und  zwar  als  deutlich  nachvergilisch.i)  Nicht  nur  der  Gebrauch 
der  Doppelzäsur  weicht  ab ;  2)  der  Culex  verschleift  nie  ein  Monosjdlabum, 
Vergil  oft,  und  die  Verschleifung  langer  Endsilben  hat  bei  Vergil  über- 
haupt sehr  weite  Ausdehnung;  der  Culex  läßt  sie  kaum  noch  zu  oder  gar 
nicht  zu :  3)  eine  Finesse,  die  aber  überhaupt  allen  Dichtern  der  Jahre 
55 — 40  V.  Chr.,  um  Avelche  Jahre  es  sich  hier,  wäre  der  Culex  echt,  han- 
deln Avürde,  gänzlich  unbekannt  war.  Bezeichnender  ist  noch,  daß  Vergil 
selbst  zu  allen  Zeiten  mit  Vorliebe  einsilbige  Wörter  vor  die  Zäsuren  stellt 
wieAen.  1, 17  Hic  curnis  fuit  hoc;  der  Culex  vermeidet  dagegen  auch  das 
sorgfältig.'*)  Daher  nun  also  der  ganz  abweichende  Charakter!  Der  Culex 
träg-t  den  untrüglichen  Stempel  einer  jüngeren  Technik. 

Dasselbe  bestätigt  der  Wortschatz,  0)  aus  dem  ich  nur  einiges  beson- 
ders Charakteristische  herausgreife.  Unvergilisch  sind  das  Substantiv  orsus 
V.  2  (sonst  nur  Cic.  poet.);  der  Plural  neces  310  (Vergil  schrieb  mirmortes^ 
im  Plural);  letare  für  leto  dare  v.  323  (ovidisch;  wie  viel  Gelegenheit  bot 
die  Aeneis,  dies  letare  zu  brauchen!);  posterius  für  postea  v.  8,  114,  131; 
prohandus  „lobenswert"  80;  ntiUtas  66;  parilis  227,356  (ovidisch).  Adverbien 
Avie  avide  53,  foede  196  mied  Vergil  sorglich.  0)  Auch  poliere  45  kennt 
der  ganze  Vergir  nicht,  wolil  aber  Ovid.  Weiter  comparare  iür  parare  205 y 
compos  191,  refovere  213  etc.  etc.  Dazu  das  magis  heatior  79  (s.  Leos  Anm.). 
Unerhört  die  apricae  ciirae  98,  das  solidum  Carmen  100  {soUcla  eloquentia 
braucht  erst  Quintilian) ;  fragendes  ubi  225  nachgestellt  an  die  vierte  Stelle ; 
inqiiit  210  der  direkten  Rede  vorangestellt."^) 

Dies  Verzeichnis  würde  sich  stark  vermehren  lassen.  Von  der  ver- 
zwickten Syntax  und  mancherlei  anderen  Anstößen  sehe  ich  hier  ganz  ab. 
Sprache  wie  Verskunst  weist  also  auf  späto^ddische  oder  nachovidische 
Zeit.  Dazu  stimmt,  daß  allem  Anschein  nach  der  Sammler  des  vergilischen 
Catalepton  den  Culex  noch  nicht  kannte.  8) 

1)  Vgl.  F.  Leo,  Culex  S.  16.  ;  Holtschmidt   wird   demnächst  Genaueres 

2)  Ad  histor.  hexametri  latini  S.  41.  |  bringen. 

3)  Siehe  de  halieut.  S.  48  f. ;  zu  v.  216  i  ^)  H.  Priess,  Usum  adverbii  quatenus 
s..Leos  Anm.  j  fugerint  poetae  .  .  .,   Marburg  1909,  S.  11 

*)  Vgl.  O.  Braum.    De    monosjdlabis    '   und  14.  maiure,  Culex  186,  schlechte  Kon- 


ante  caesuras  hex.  collocatis,  Marburg  1906, 
S.  25. 

^)   Ungenügend    F.  Baur,    Fleckeis. 
Jbb.  1866  S.  367  ff.     Eine  Arbeit  von  W. 


iektur  von  Eothe. 

')  Siehe  Philol.  63  S.  448. 
»)  Siehe  ed.  Catalepton  S.  8  f. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha.  235 

Diese  drei  Fälle  stehen  nun  nicht  etwa  allein  da.  Vielmehr  müßte, 
wer  die  Beweiskraft  der  vorgetragenen  Argumente  für  Cynegeticus,  Culex 
und  Halieutica  nicht  gelten  lassen  wollte,  auch  z.  B.  den  kummervollen  imd 
gleichsam  hartmäuligen  Panegyricus  Messallae  für  echtes  Eigentum 
des  Tibull  nehmen  sowie  auch  manche  schwer  verdächtige  Idyllien  der 
T he okrit Sammlung  für  echt  theokriteisch.  In  dem  Idyll  XX  der  Theokrit- Tiieocritea 
Sammlung  stehen  z.  B.  Wörter  wie  doveco,  öcovaxi,  nXayiavXcp  und  Formen 
wie  ej^ielo,  ovrex^Q,  äcpag,  noXXov,  die  Theokrit  selbst  nie  braucht;  auch  ist 
das  Stück  erheblich  daktylenreicher  als  die  echten  Sachen.  Ähnlich  A^er- 
hält  es  sich  mit  Id.  XXIII,  XXYII,  auch  XXI.  i)  Diese  Art  zu  argu- 
mentieren ist  wohlbegründet  und  vernünftig,  und  die  besten  Gelehrten 
sind  für  sie  eingetreten.  Die  Methode  muß  aber  überall  die  gleiche  sein, 
und  was  füi-  griechische  Texte  gilt,  gilt  auch  für  lateinische. 

Auch  von  Seneca  besitzen  wir  Hexameter  genug,  um  beurteilen  zu  Seneca 
können,  ob  die  bedenklichen  sogenannten  Senecaepigramme 2)  von  ihm 
herstammen  oder  nicht.  3)  In  der  Tat  weicht  ihre  Technik  in  einem 
wesentlichen  Detail  ab.  In  Senecas  Claudiussatire  stehen  49  Hexameter; 
sie  alle  vermeiden  die  Elision  vollständig;  in  Senecas  Medea  und  Oedipus 
stehen  32  Hexameter;  auch  sie  zeigen  keine  einzige  Elision.  Das  kann 
nicht  Zufall  sein ;  da  die  Epigramme  hingegen  Yerschleif ungen  zeigen, 
hat  Seneca  sie  nicht  verfaßt.  Soweit  wir  kontrollieren  können,  hat  dieser 
Philosoph,  Dichter  und  Staatsmann  außer  den  beiden  Consolationen  auf 
Corsica  überhaupt  nichts  verfaßt,  auch  nichts  in  Prosa  geschrieben. 
Jene  metrische  Beobachtung  aber  Avird  noch  gewichtiger,  wenn  wir  sie 
ausdehnen.  AVir  haben  von  Senecas  Schüler  Nero  etwa  zavöK  Hexameter ; 
in  ihnen  fehlt  gleichfalls  jede  Elision;  wir  haben  von  Senecas  Freund 
Lucilius  deren  zwei;  es  steht  da  ebenso;  A^or  allem  besitzen  Avir  noch 
Yerse  des  Metrikers  und  lyrischen  Dichters  Caesius  Bassus,  des  Zeit- 
genossen Senecas,  unter  dessen  Einfluß  er  —  A\de  Nero  —  in  seiner 
Technik,  Avie  überhaupt  in  der  Komposition  seiner  Chorlieder  jedenfalls 
stand;  auch  in  des  Bassus  Resten,  die  sich  großenteils  in  lyrischen  Vers- 
maßen bcAvegen,  steht  es  ganz  ebenso.*)  Das  Fehlen  der  Verschleifungen 
bei  Seneca  selbst  beruht  also  auf  Absicht  und  Theorie,  s)  GleichAvohl  Averden 
die  erwähnten  Epigramme  in  den  Senecabiographien  immer  noch  gut- 
gläubig weiterA'erarbeitet. 

Das  Gesagte  muß  zu  Recht  bestehen,  AA'ennschon  natürlicherAveise  die 
BcAA'eiskraft  sprachlich-metrischer  Beobachtungen  in  A^erschiedenen  Fällen 
A'erschieden  ist,  und  dies  muß  ich  noch  hervorheben.  Ihre  Evidenz  ist  am 
größten  bei  Autoren  von  dem  Umfang  eines  ÜAäd  oder  Vergil ;  denn  bei 
den  15000  oder  gar  40000  Versen  dieser  Dichter  läßt  sich  ihre  consuetudo 
besonders  sicher  feststellen.    Geringer  ist  die  Evidenz  dagegen  bei  einem 


^)  Siehe  Carl  Brinker,  De  Theocriti  '')  Die  Reste  des  Lucüius,  Nero  und 

vita  carminibus  .  .  .,  Eostock  1884:  Theo-  Caesius  Bassus  bei  Bährbxs,   Fragmenta 

krit,  ed.  Cholmeley,  Lond.  1901,  S.  53  f.  |  poet.  lat.  S.  362  ff.   Die  einzige  Elision  bei 

2)  Anthol.  lat.''236  f.;  auch  396  ff.  j  Caesius  2,  6  hat  Bährens  durch  schlechte 

')  Siehe  Ad  historiam  hexametri  latini  ;  Konjektur  hineingetragen. 

S.  65  Anm.  2;  dazu  E.  Bickel,  Rhein.  Mus.  i  ^)  Vgl.  meinen  Seneca- Aufsatz  Prcußi- 

61  S.  392  ff.  !  sehe  Jahrbb.  Bd.  144  S.  296  Anm. 


236  *  Kritik  und  Hermeneutik. 

Theokrit,!)  da  wir  von  ihm  nur  etwa  2000  sicher  echte  Zeilen  besitzen. 
Hätten  wir  40000  von  ihm,  er  würde  uns  in  Sprache  und  Versbau  ganz 
Theokrit  gewiß  vicl  mehr  Nuancen  zeigen  als  jetzt.  Ich  denke  an  Idyll  YIII.  Es 
ist  wahr:  unter  den  neun  oder  zehn  Hirtengedichten  Theokrits  steht  dies 
Idyll  VIII  besonders  da  und  zeigt  einiges  Eigenartige.  Warum  aber 
sollte  der  Dichter  in  diesen  kleinen  Kompositionen  nicht  etwas  variieren? 
Der  Schluß  auf  Unechtheit  wüi^de  hier  unbedingt  zu  weit  gehen.  ^)  Und 
ähnlich  wird  man  betreffs  der  Kallimachosepigramme  zurückhaltender 
urteilen,  weil  das  Beobachtungsmaterial  zu  gering;  w4r  haben  52  Epi- 
gramme. =*)  Bei  einer  solchen  Sachlage  läßt  sich  demnach  mit  Sicher- 
heit auf  Unechtheit  nur  dann  erkennen,  wenn  die  Merkmale,  wie  in 
Senecas  Epigrammen,  Avirklich  wesentliche  Dinge  anbetreffen. 
v^orke  Aber  es  bleibt  noch  eine  letzte  Möpüchkeit,  die  nämlich,  daß  wir  sogar 

solclier  ,  ....  ^ 

Autoren,   einem  Autor,  von  dem  sonst  gar  nichts  erhalten  ist,  sein  vorliegendes  Werk 
son^tnicMs  ^bsprechen  müssen.    Für  diese  Art  der  Beweisführung  gab  einst  R.  Bentle}^ 

erhalten  clas  glänzende  Beispiel  in  seinen  Phalarisbriefen.'')  Behtley  zeigte  eben, 
daß  Inhalt  und  vSprache  der  vorliegenden  Phalarisb riefe  zum  6.  Jahrliundert, 
dem  Zeitalter  des  Tyrannen  Phalaris,  gar  nicht  paßt,  daß  hier  also  die 
Welt  mit  einem  der  plumpsten  Falsifikate  betrogen  wurde.  Und  so  ist 
auf  dem  Felde  der  Brieflitteratur  überhaupt  am  meisten  gefälscht  worden, 
eine  Lieblingsbeschäftigung  der  Sophisten  und  Rhetoren.  Dahin  gehören 
auch  die  siebzig  Briefe  des  M.  Junius  Brutus  (mit  zugehörigen  Antworten) : 
MuJQiödxov  Tcov  Bqovtov  ijiioToXojv  ovvayioyrj ;  dahin  die  Briefe  des  Sokrates 
und  mancher  Sokratiker  u.  ä.  m.  Ein  Beispiel  anderer  Art  betrifft  den 
großen  Eratosthenes;  sein  Epigramm  De  cubi  duplicatione  kann  nicht 
echt  sein;  das  ergibt  wiederum  die  Sprachbetrachtung,  obschon  sonst  nur  so 
geringe  Gedichtreste  von  Eratosthenes  erhalten  sind. 5)  Ein  merkwürdiges 
Problem  ist  die  unter  des  Her  ödes  Atticus  Namen  überlieferte  kurze  Rede 
jtzQL  jTohreiag,  die  sich  beiläufig  in  das  Jahr  405 — 404  v.  Chr.  zurückversetzt ; 
die  Versuche,  diese  Rede  dem  Herodes  abzuerkennen  und  sie  gar  wirklich 
ins  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  zurückzudatieren,  scheinen  indes  mißlungen,  ß) 
Es  muß  gesagt  werden,  daß  man  sich  bei  einer  Sachlage,  wie  der 
hier  gegebenen,  jedenfalls  ganz  besonders  vor  allzu  schnellen  Athetesen 
zu  hüten  hat.  Von  Antisthenes  besitzen  Avir  sonst  nichts;  trotzdem  wagt 
man,  die  Echtheit  seines  Ajax  und  Odysseus  zu  bestreiten.  Aber  Avie  an- 
gemessen der  Inhalt  dieser  Redestücke  für  den  Cyniker  Antisthenes  ist, 
hat  Joh.  Dahmen  hinlänglich  erAviesen.')  Sie  sind  ebenso  sicher  antisthe- 
nisch,  AA^e  die  Helena  mid  der  Palamedes  dem  Gorgias  gehört. 

Wir  haben  die  Indizien,  durch  die  eine  Fälschung  als  solche  erA\desen 
oder  Avahrscheinlich  gemacht  Averden  kann,  hiermit  durchbesprochen.  Doch 
fehlt  für  den  zu  gebenden  NacliAveis   endlich   noch   eins;    AA^r   haben   die 


)  Daher  solche  Urteile,  AvieA.GrERCKE,    <   relliqu.  S.  122  ff 


Rhein.  Mus.  42  S.  614  ff.  sie  gegeben 

2)  Siehe  Bücheler,  Fleckeis.  Jbb.  1860. 

3)  Vgl.  z.  B.  Berl.  philol.AV.schr.  1912 
S.  622. 

4)  Siehe  oben  S.  223.  i   stheneae,  Marburg  1897,  S.  56  ff 
^)  Siehe   E.  Hiller,    Eratosth.  carm 


6)  Siehe  W.  Schmid  in  Berl.  philol. 
W.schr.  1909  S.  389  ff.  gegen  E.  Drerup, 
["Hocödov]  jisgi  jro/.deiag,  Paderborn  1908. 

^)  Quaestiones  Xenophonteae  et  Anti- 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha. 


237 


Tendenz- 
fälschung 


Pflicht,    SO  gut  es  geht,    auch  den  Anlaß  zur  Fälschung  aufzudecken.  Anlässe  zur 
Dabei   muß    dann   \delfach   auch   die   andere   Möghchkeit    offen   gehalten  ^^^«^^""^" 
werden,  daß  das  betreffende  SchriftAverk  keine  wirkliche  Fälschung  war, 
sondern  nur  durch  Irrtum  unter  falschen  Namen  geriet. 

BisAveilen  trieb  den  Fälscher  die  Begierde,  das  eigene  Elaborat  durch  Unterschie- 
einen  großen  Namen  in  Aufnahme  zu  bringen.  So  steht  es  mit  den  ^"°^^^ 
pseudo-Phokylidea  (oben  S.  227),  so  auch  vielleicht  mit  den  Anakreontea; 
ebenso  mit  den  Sibyllinen,  mit  dem  Alexanderroman  des  Pseudo-Kalli- 
sthenes,  der  jonisch  geschriebenen  Homervita  unter  Herodots  Namen. 
Der  Verfasser  der  Schrift  UeQi  xoojuov  wollte  durchaus  als  Aristoteles 
erscheinen;  gewidmet  ist  die  Schrift  daher  dem  Alexander  (fjyejLiövcov 
ägioTog);  es  wird  so  getan,  als  herrsche  der  Perserkönig  noch,  und  jede 
Nennung  eines  nacharistotelischen  Autors  ist  sorglich  vermieden,  i)  Die 
Schrift  Uegl  xoojtwv  ist  also  eine  planvolle  Unterschiebung,  der  Name 
des  wirklichen  Verfassers  aber  läßt  sich  nicht  erraten.  Dagegen  kennen 
wir  den  Namen  des  SchAvindlers  Bölos  Mendesius,  der  ein  „Sj^mpathie- 
buch"  yeiQÖxju7]Ta   unter  der  Aufschrift   des  großen  Demokritos  fälschte.  2) 

Bedenklicher  noch  sind  die  Tendenzfälschungen  nach  Art  der  be- 
rüchtigten konstantinischen  Schenkung  „donatio  Constantini",  einer  in 
das  Corpus  iuris  canonici  aufgenommenen  Urkunde,  deren  Unechtheit 
schon  im  15.  Jahrhundert  Laurentius  Valla  nachw^ies.-"*)  Doch  gehört  ihre 
Entstehung  erst  dem  Mittelalter  an.  Aber  auch  Cicero  hat  einmal  eine 
solche  Urkundenfälschung  begangen.  Denn  gegen  Clodius  erschien  ein 
Edikt  des  Volkstribunen  Bacillus,  als  hätte  dieser  Racilius  es  verfaßt;  in 
Wirklichkeit  aber  hatte  Cicero  selbst  es  geschrieben.*)  So  fälschte  M.  Anton 
Geschäftsaufzeichnungen  Caesars  (commentarii  commenticii),  wenn  wir  dem 
Cicero  Glauben  schenken  (Philipp.  5, 12).  Beschränken  ^YVc  uns  indes  auf 
das  eigentlich  litterarische  Gebiet,  so  gehört  zu  den  Tendenzfälschungen 
z.  B.  der  Aristeasbrief,  der  die  Entstehung  der  Septuagintaübersetzung 
erzählt,  sowie  die  ganze  Tätigkeit  des  schon  oben  S.  223  erwähnten  Aristo- 
bulos,  weiter  aber  alle  sogenannten  Apokryphen,  wie  die  Petrus-  und  die 
Paulusapokalypse,  weiter  auch  Senecas  Briefwechsel  mit  Paulus  u.  a.  m. ; 
dazu  allerlei  Märtyrerakten.  0)  E/ufinus  hatte  ein  Werk  unter  des  ver- 
storbenen Pamphilos  Namen  tendenziös  gefälscht;  Hieronymus  deckt  dies 
auf  und  gibt  jenem  Rufin  den  ironischen  Eatschlag:  in  platea  ah  ignoto 
homine  te  emisse  clicito.^)  Schon  im  alten  Rom  der  republikanischen  Zeit 
gab  es  sogenannte  Bücher  des  Numa,  die  im  Jahre  181  v.  Chr.  aufgedeckt 
wurden;  man  fand  sie  in  einer  circa  vergraben.  Dem  Prätor  aber  im- 
ponierte Numas  Name  nicht,  und  er  ließ  sie  verbrennen.'')  Dann  hören 
wir,  daß  unter  dem  Namen  des  C.  Antonius  und  des  Catilina  um  das 
Jahr  63  unechte  Reden  umgingen,  die  gegen  Cicero  hetzten;*)  u.  s.  f. 


1)  Siehe  E.  Zeller.  Sitz.ber.  d.  Berl. 
Akad.  1885,  vom  30.  April,  S.  399.  Anders 
J.  Berxays,  Ges.  Abhandlungen  II,  1885. 

»)  Siehe  Oder,  Ehein.  Mus.  45  S.  72, 
wo  auch  S.  74  über  M'eitere  Schwindeleien. 

3)  Siehe  Loexing  in  Sybels  Histor. 
Zeitschrift  Bd.  65  (1890). 


4)  Siehe  Schol.  Bob.  S.  145  ed.HiLDEBR. 

5)  Siehe  K.  Krumbacher,  Gesch.  der 
byzant.  Litteratur2  S.  177  f. 

6)  Hieron.  IV  S.  419  und  447  ed.  Mar- 

TIANAY. 

')  Siehe  Buchrolle  in  der  Kunst  S.  255. 
s)  Asconius  S.  94  ed.  Clark. 


238 


Kritik  und  Hermeneutik. 


horror 
vacTii 


AVieder  ein  anderer  Anlaß  zur  Fälschung  war  der  horror  vacui.  Man 
besaß  von  Thespis  keine  Tragödien;  Heraclides  Ponticus  dichtete  sie  und 
schob  sie  ihm  unter  (oben  S.  223).  Nun  hatte  man  sie.  So  sind  auch 
die  fragmentarischen  Reste  des  alten  Terpander,  des  Susarion  entstanden. 
Solche  Zitate  und  dazu  Buchtitel  frei  zu  erfinden,  wurde  geradezu  ein 
Sport.  Ich  nenne  dafür  außer  Lobon  auch  Ptolemaeus  Chennos.i)  Mit 
derselben  Dreistigkeit,  mit  der  man  die  uns  vorliegenden  Orphica  unter 
des  alten  Orpheus  Namen  ausgab,  2)  wurden  auch  die  Dar  es  und  Dictys 
aufgetischt  mit  ihren  angeblichen  Originalberichten  über  den  trojanischen 
Krieg.  Für  den  Dictys  soll  sich  sogar  Kaiser  Nero  selbst  persönhch  inter- 
essiert haben  (s.  Dictys  praef .).  Von  Vergil  vermißte  man  ein  Jugend- 
gedicht, das  der  Batrachomachie  des  Homer  entspräche;  so  entstand  der 
Culex,  und  Vergils  Verehrer  griffen  gläubig  nach  ihm.  Seneca  war  nach 
Corsica  verbannt;  man  versetzte  sich  in  seine  Situation  und  fertigte  Epi- 
gramme, in  denen  er  über  seine  Verbannung  klagt  (oben  S.  235).  Ganz 
ähnhch  ging  es  auch  mit  Cicero,  dem  man  die  Rede  „Pridie  quam  in 
exilium  iret"  unterschob :  ^)  auch  dies  eine  planvolle  Fälschung,  un  d  die 
eine  erklärt  die  andere.  Die  gleiche  geschäftige  Phantasie  ist  es,  die  auch 
all  die  unechten  Briefwechsel  des  Sokrates  etc.  etc.,  von  denen  wir  sprachen, 
erzeugt  hat.  Und  so  w^erden  denn  auch  jene  HaUeutica,  die  v^on  vorne- 
herein als  Fragment  erschienen,  hierher  gehören.  Ovids  Verehrer  er- 
schufen absichtlich  ein  Fragment,  damit  man  aus  der  Hand  des  sterbenden 
Meisters  noch  einige  letzte  Zeilen,  ein  Werk,  über  das  er  hin  wegstarb, 
besäße;  der  Pontus  aber,  an  dem  Ovid  hauste,  Avar  besonders  fischreich; 
er  war  der  eigentliche  Fischversorger  Roms.  Darum  die  Wahl  des  Fisch- 
themas der  HaHeutica.  Endlich  meldet  Sueton,*)  daß  man  von  Horaz 
eine  unechte  Elegie  und  einen  unechten  Prosabrief  überlieferte;  offenbar 
waren  auch  diese  augenscheinlich  sehr  ungeschickten  Unterschiebungen 
im  Interesse  der  Belebung  der  Biographie  des  Horaz  gemacht.  Alles  das 
steht  auf  gleichem  Boden. 

Besonders   hat   das  Gebiet   der  Spruchdichtung   zu   freier   Erfindung 

eingeladen.    Über  die  Pseudophokylidea  war  schon  S.  227  die  Rede.    Vor 

allem  die  sieben  Weisen  wurden  mit  Sprüchen,  ja,  mit  Versen  bedacht. 0) 

lu  der  Kaiserzeit  entstanden  die  Disticha  Catonis  u.  s.  f.    Ich  nenne  noch 

die   in   je    zwei   Trimetern   abgefassten   Spruchreden   des   Menander   und 

Philistion  aus  dem  4. — 6.  Jahrhundert  n.  Chr.*^) 

Imitationen  Großo  Autorcu  finden  immer  eine  Schar  von  Nachahmern.    So  mußte 

Namen  des  ©s    dcuu   auch   Icicht   geschehon,    daß   die  Werke   der  Nachahmer,    deren 

Vorbildes  Namen  klanplos  verhallten,  mit  unter  den  Nachlaß  des  oroßen  Vorbildes 

gestellt  .  9.  .  1      •    1     T    1  111  •  •    1         •         •      n 

gerieten.  Wie  weit  das  absichtlich  geschah,  können  wir  nicht  m  jedem 
Fall  entscheiden.  Ich  erinnere  zunächst  wieder  an  die  verschiedenen 
Pseudepigrapha   des   Plato,    des    Plutarch,    des   Lucian  —  Lucians  Philo- 


Spruch- 
litteratur 


^)  Siehe  Hercher,  Plutarchi  lib.  de 
fluviis  S.17ff.:  M. Wellmann,  Hermes  27 
S.  650. 

2)  ed.  a.  Hermann  1805;  ed.  Abel  1885. 

3)  Siehe  Cic.  ed.  Müller  IV  3  S.  425  f. 


4)  p.  47  f.  E. 

°)     Siehe    Hiller  , 


Rhein.   Mus.   33 
S.  518  f. 

ß)  Vgl.  W.  Meyer,  Abhandl.  d.  bayer. 
Akad.  Bd.  19  (1892)  S.  225. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha. 


239 


patris  ist  gar  erst  im  10.  Jahrh.  n.  Chr.  entstanden  i)  — ,  an  Demosthenes ;  2) 
auch  an  Hesiod,  an  Homer.  In  Rom  tat  sich  bald  nach  Ovids  Tod  gradezu 
eine  Schar  von  imitatores  und  poetae  Vergiliani  und  Ovidiani  auf,  und  p^?*.^®  7^^- 
wir  können  ihrem  geschäftigen  Treiben  zusehen.  Erst  damals  entstand  Ovidiani' 
nachAveislich  das  feine  Moretum,  das  um  seines  idyllischen  Inhalts  willen 
leicht  unter  Yergils  Namen  geraten  mußte;  erst  damals,  Avie  ich  meine, 
auch  die  virtuos  geschriebenen  unechten  Herolden.  Ein  gewisser 
Sabinus  hatte  nämlich  früh  zu  Ovids  fünfzehn  echten  Heroidenbriefen 
zugehörige  Antworten  der  Adressaten  Ulixes,  lason,  Aeneas,  Paris  ge- 
dichtet; 3)  später  erst  können  die  unechten  Stücke  16 — 21  der  uns  erhal- 
tenen Sammlung  abgefaßt  sein,  wo  anders,  als  Ovid  selbst  es  machte, 
immer  gleich  Brief  und  Antwort  zusammensteht  und  ferner  nicht  der 
Held,  sondern  die  Heldin  der  antwortende  Teil  ist.  Daß  dies  erst  in  des 
Persius  Zeit  geschah,  hat  meines  Erachtens  große  Wahrscheinlichkeit.*) 
Als  Fälschung  aber  braucht  auch  dies  nicht  bezeichnet  zu  werden.  In 
die  Zeit  Neros  gehört  auch  der  Aetna,^)  den  man  wider  die  Absicht  des 
Verfassers  zum  Yergilnachlaß  schlug.  Ein  erhebliches  Raffinement  zeigen 
dagegen  die  Halieutica,  die  erst  in  Vespasians  Zeit  gefälscht  w^orden  sind 
(oben  S.  232),  sowie  die  beiden  Mäcenaselegien  und  die  Consolatio 
ad  Liviam,  da  si<?h  diese  sogar  mit  detaillierten  Zeitanspielungen  und 
Nennungen  von  Personen  künstlich  in  die  augusteische  Zeit  zurück- 
versetzen. Der  Verfasser  der  Consolatio  tut  so,  als  wäre  er  der  große 
Ovid  selbst,  aber  auch  er  schrieb  erst  unter  Nero  —  das  folg!  aus 
manchem,  z.B.  schon  aus  dem  substantivierten  Partizip  functus  für  mortuus 
im  V.  393  6)  — ,  und  mit  dieser  Consolatio  hängen  die  Mäcenaselegien,  ' 
obschon  sie  nicht  von  demselben  Dichter  herrühren,  auf  das  engste  zu- 
sammen. Für  diese  letzteren  aber  steht  vollkommen  fest,  daß  sie  erst 
unter  Nero  und  zwar  in  den  Jahren,  als  Senecas  Leben  zu  Ende  ging, 
entstanden  sind; 7)  unter  Yergils  Namen  können  sie  erst  im  4. — 5.  Jahr- 
hundert geraten  sein,  als  man  die  Einzelstücke  Culex,  Ciris  etc.  im  Codex 
sammelte  und  jene  als  Zugabe  darin  mit  aufnahm.  Die  besprochenen 
Pseudovergiliana  und  Pseudoovidiana  sind  also  zwischen  den  Jahren  18 — 80 
in  die  "Welt  gesetzt  w^orden. 

Anders  liegt  die  Sache  in  Anbetreff  der  Elegie  Nux.  Wilamowitz«) 
hielt  dies  anmutige  Werk  für  unecht,  u.  a.  weil  in  ihm  das  „klägliche" 
Wort  forsitan  vorkomme.  Aber  dies  forsitan  steht  mehr  als  achtzigmal 
bei  Ovid.  9)  Ganzenmüller  hat  neuerdings  den  ovidischen  Ursprung  der 
Nux  im  hohen  Grade  wahrscheinlich  gemacht. 

Yiele  dieser  Fragen   bedürfen  der  Retraktation,    so   auch   die  Ciris - 


Nux 


Ciris 


^)  Krumbacher,  Byzantin.  Litteratur- 
gesch.  §  91. 

-)  Für  Demosthenes  vgl.  F.  Blass, 
Att.  Redner  III  S.  64. 

3)  Siehe  Ovid  Am.  2,  18,  27. 

4)  Rhein.  Mus.  32  S.  396. 

»)  Philol.  57  S.  607  ff.;  oben  S.  228. 
^)  Siehe  B.  Winand,  Vocabulorum  lat., 
quae  ad  mortem  specant  historia,  Marburg 


1906,  S.22f.;  J.  Middexdorf,  Elegiae  in 
Maecenatem,  Marburg  1912,  S.  10.  Vgl. 
auch  H.  Oldecop,  De  consol.  ad  Liviam, 
Göttingen-  1911. 

7)  Middendorf  a.  a.  0. 

8)  Liber  Mommsenianus  S.  400. 

A  Vgl.  Teuffel-Schwabe,   Gesch.  d. 
röm.  Litteratur  S.  574. 


240  Kritik  und  Hermeneutik. 

frage,  über  die  in  den  letzten  Jahren  zwar  viel,  aber  leider  ergebnislos 
gehandelt  worden  ist.  Es  ist  für  die  Ciris  an  erster  Stelle  immer  noch 
auf  die  Arbeit  Ganzenmüllers,  i)  dessen  höchst  eingehende  Feststellungen 
sich  nicht  ignorieren  lassen,  zurückzugehen.  Auf  Grund  dieses  reichen 
Beobachtungsmaterials  gilt  es  zu  entscheiden,  ob  Vergil  selbst  der  Ver- 
fasser oder  ob  die  Ciris  nachvergilisch ;  denn  eine  dritte  Möglichkeit  gibt 
es  nicht.  Da  der  Cirisdichter  aber  sagt,  daß  er  erst  als  etwa  vierzig- 
jähriger Mann,  d.  h.  nach  dem  Abschluß  seiner  iuventus,^)  mit  seiner 
poetischen  Studie  fertig  wurde,  so  würde  das  für  Vergil  ins  Jahr  30  v.  Chr. 
führen.  Dieser  Lebenszeit  des  Vergil  widerstreitet  aber  Kompositions- 
w^eise,  Sprache  und  Versbau  auf  das  schroffste.  Ich  glaube  darum  wie 
Ganzenmüller,  daß  die  Ciris  unecht  und  daß  sie  unter  o\ddischem  Ein- 
fluß steht:  3)  eine  centoartige  Nachdichtung,  die  jedenfalls  irgendwie  mit 
der  Fälschung  des  Culex  zusammenhängt.  Dies  letztere  hat  Nemethy 
erwiesen.*)  Vor  allem  steht  die  Ciris  tief  unter  dem  Niveau  Vergils  und 
ist,  was  Intelligenz  und  Geist  anlangt,  dem  Culex  ungefähr  ebenbürtig. 
Man  lasse  sich  durch  den  altmodischen  Anstrich  der  Ciris,  vor  allem  die 
häufige  Verwendung  der  Parenthese,  nicht  täuschen.  Der  Verfasser  hat 
sich  künstlich  auf  den  Standpunkt  des  CatuU  und  Cinna  zurückgeschroben 
und  dabei  alles  übertrieben,  sowie  die  Argumenta  zu  den  Komödien  des 
Plautus  gleichsam  plautinischer  sind  als  er  selber. 
Weitere  j)[q   Fälsclicr   erweckcu    unseren   UnAvillen.     Mehr  Nachsicht   haben 

Irrungen 

wir  für  die  Besitzübertragungen,  die  klärlich  nur  auf  Irrtum  beruhen. 
Dafür,  daß  auch  schon  die  alexandrinischen  Gelehrten  schwankten,  wem 
dies  oder  jenes  Werk  gehöre,  finden  sich  nicht  Avenige  Belege;  ich  erinnere 
nur  noch  an  des  Stesichoros  \4.&Xa  im  IleUq,  die  man  auch  dem  Ibykos 
zuschrieb.  So  hat  denn  auch  sonst  der  Irrtum  gewaltet,  beispielshalber 
in  der  Überlieferung  der 'A&rjvaicov  jiokxeia,  die  man  schon  sehr  früh  und 
augenscheinlich  schon  in  voralexandrinischer  Zeit  an  Xenophons  Äaxe- 
daijiwvuov  jioXireia  anhängte  und  gar  mit  einem  de  verknüpfte  (der  Anfang 
lautet:  Ilegl  ök  xfjg  A&rjvaimv  jioXireiag).  Auch  die  Rhetorik  ad  Alexan- 
drum w^ar  herrenlos  geworden;  man  tat  sie  zur  Masse  der  Aristoteles  werke 
und  fügte  ihr  zur  Beglaubigung  ein  Proöm  hinzu,  in  dem  Alexander  der 
Große  angeredet  wurde.  Ebenso  geriet  Nemesian  hinter  Calpurnius  und 
Lygdamus  hinter  Tibull,  die  Octavia  hinter  die  Tragödien  Senecas.  So 
wurde  die  Rhetorik  ad  Herennium  (und  zwar  erst  nach  Quintilians  Zeit) 
auf  Cicero,  die  Schrift  Jisgl  vy.fovg  auf  Longin  übertragen.  In  allen  diesen 
Fällen  Avar  eben  der  Name  des  Originalautors  verloren  gegangen.  Daher 
auch  die  Spuria  im  Nachlaß  des  Ausonius,  des  Lactanz,  des  Claudian. 
Im  Jahre  54  v.  Chr.  Avurde  von  einem  Unbekannten  eine  Invektive 
gegen  Cicero  gerichtet,   die  uns  A^orliegt,    aber   fälschlich   unter  Sallusts 

^)  In  Fleckeis.  Jahrbb.  Suppl.  Bd.  XX  der  Oiris  v.  71  A^orkommt;  s.  auch  v.  190; 

S.  553  ff.;  P.  Jahn,  Rhein.  Mus.  63  S.79ff.  |  334;  437;  513;  Vergil  selbst  dagegen  hat 

sammelt  Anklänge;    dies   führt  natürlich  1  sie   nur   einmal,    Ecl.  2,  68.     Das   illa    ego 

zu  keinem  Ergebnis.  I  smn,  Oiris  411  und  414,  ist  spezifisch  OA^i- 

■^)  V.  45 :  iuvenes  exeglmus  annos.  |  disch,   u.  s.  f.     Es    ist   nicht   Eaum,    alles 

3)  Nichts  ist  charakteristischer  für  OA'id  ;  aufzuzählen, 

als  die  Frage  mit  quid  enim?,  die  auch  in  j  *)  Rhein.  Mus.  62  S.  482. 


V.  Die  höhere  Kritik.     7.  Pseudepigrapha. 


241 


Xamen  überliefert  wird.  Auf  gut  Glück  hat  man  das  herrenlose  Pamphlet 
unter  diesen  Namen  gestellt,  und  das  geschah  wiederum  schon  früh;  denn 
schon  Quintilian  4, 1,  68  zitiert  es  als  sallustisch.  i)  Isolierte  kurze  Schriften 
oder  Monobibla  gerieten  eben  am  leichtesten  an  einen  falschen  Eigen- 
tümer. Wenn  aber  diesem  Pseudosallustianum  ein  Rhetor  und  Lehr- 
meister des  Stils  wie  Quintilian  so  urteilslos  gegenüberstand,  so  wundert 
man  sich  über  Lucan  nicht  mehr,  der  den  Culex  für  echt  nahm. 

So  tritt  eine  Fülle  von  Aufgaben  an  den  Kritiker  und  Exegeten  der       Fäi- 
antiken   Litteratur   heran.     Aber   wir   sind   mit   unserem   Überblick   auch  jer  nlfma- 
jetzt  noch  nicht  zu  Ende.     Denn   es   bleiben  noch   die  Fälschungen   der     nisten 
modernen  Zeit  übrig  und  der  Humanistenzeit.    Jene  Humanisten,  die  da 
imstande  waren,  ganze  Szenen  und  Akte,    die  im  Plau.tus  fehlten,   ganze 
l:)ücher  im  Curtius  Rufus  zu  ergänzen,  konnten  gegebenenfalls  auch  weiter- 
gehen.   Und  so  sind  damals  wirklich  die  poetischen  Episteln  des  Sabinus 
untergeschoben   worden,    die   zu   Ovids   Heroiden   die   Antworten    geben. 
Damals    entstand   auch  das  Danaestück  des  Euripides  (oben  S.  124);   der 
Pseudo-Apuleius    de    Orthographia.  ^)      Im    Jahr    1583    erschien    in    Köln 
„M.  Tullii  Ciceronis  Consolatio,    liber  nunc   primum  repertus":    auch    dies 
ein  flotter  Versuch,  die  verlorene  Consolatio  Ciceros  zu  ersetzen.  3) 

Übrigens  war  auch  schon  das  Mittelalter  in  solchen  Nachdichtungen 
nach  Ovid  u.  a.  fruchtbar  gCAvesen;  doch  lohnt  es  nicht,  hierbei  zu  ver- 
weilen.*) 

Oftmals  fällt  die  Entscheidung  schwer.  Wie  fremdartig  mutet  uns 
nicht  der  Spurinna^)  an!  Doch  fehlt  liier  vorläufig  eine  wirkliche  de- 
monstratio. Eine  ernste  Warnung  war,  daß  einer  unserer  besten  Arbeiter, 
Moritz  Haupt,  in  Bezug  auf  die  Consolatio  ad  Liviam  (Epicedion  Drusi) 
so  fehlgreifen  konnte;  Haupt  bewies  mit  großem  Aufwand  von  Gelehr- 
samkeit und  Scharfsinn  sich  und  anderen,  daß  diese  Elegie  erst  in  der 
Humanistenzeit  gefälscht  sei;  aber  er  irrte  sich.  Auch  gegen  die  Ge- 
dichte, die  Caspar  Barth  aus  Handschriften,  die  er  besaß  und  die  nicht 
mehr  vorhanden  sind,  im  Abdruck  mitteilte,  hat  eine  nicht  unberechtigte 
Skepsis  geherrscht;  zu  ihnen  gehört  auch  jener  Spurinna.  Es  schien, 
Barth  habe  sie  gradezu  selbst  gedichtet.  Nun  ist  aber  von  Rud.  Bunte 
erwiesen,  6)  daß  das  Hauptstück  Patricii  epithalamium  Auspicii  et  Aellae, 
das  Barth  uns  gibt,  Anthol.lat.  941,  antik  und  sicher  echt  ist,  und  diese 
Frage  ist  damit  auf  einen  neuen  Boden  gestellt.  AI.  Riese,  der  Heraus- 
geber der  Anthologia  latina,  hat  davon  freilich  nichts  wahrgenommen.  So 
ist  auch  die  nur  in  sehr  jungen  Handschriften  vorliegende  Declamatio  in 
L.  Sergium  Catilinam   antik  ;^)   und   mit  Ciceros  Rede   pro  Murena   steht 


')  Vgl.  hierüber  Reitzexstein  und 
ScHWARTZ  im  Heraies  33  S.  87  ff. 

^)  Ueber  De  orthographia  s.  mein  Buch : 
Der  Hiat  bei  Plautus  S.  165  Anm.  4. 

3)  Siehe  B,  A.  Schulz,  De  Oic.  con- 
soJatione,  Greifswald  1860. 

*)  Ich  denke  an  die  Gedichte  De  philo- 
mela,  De  pediculo  u.  a.,  zusamrnengestellt 
von  Goldast,  Oatalecta  Ovidii,'  Frankfurt 

Handbuch  der  klas».  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl 


1610.     Dazu  Anthol.  lat.  682  u.  a. 

5)  Anthol.  lat.  n.  918—921. 

*)  Patrici  epithalamium  Auspici  et 
Aellae  denuo  editum  praefatione  instruc- 
tum,  Marburg  1891. 

7)  Siehe  H.  Zlmmerer,  Declam.  in  L. 
Sergium  Catalinam,  eine  Schuldeklamation 
der  Kaiser?;eit,  München  1888. 


16 


Moderne 
Fäl 


242  Kritik  und  Hermeneutik. 

es,  obsclion  sie  erst  im  Jahr  1413  in  Poggios  Händen  auftaucht,  denn 
doch  auch  nicht  anders.  Stephan  Haupt  hat,  als  hätte  ihn  des  aus- 
gezeichneten Moritz  Haupt  Fehlgriff  nicht  schlafen  lassen,  jene  Cicerorede 
neuerdings  für  eine  Fälschung  der  Renaissancezeit  erklärt. *)  Indes,  von 
allem  anderen  abgesehen,  ist  sie  allein  sclion  durch  antike  Zitate  voll- 
kommen gesichert.  2) 

Aber  auch  vor  unserer  Gegenwart  sind  wir  nicht  ganz  sicher,  und 
ßciiungen  noch  die  moderne  Zeit  hat  aus  Gewinnsucht,  aus  Freude  an  der  Täuschung 
uns  solche  Überraschungen  gebracht  wie  die  95  unechten  Babriosfabeln 
des  Minoides  Minas,  desselben  Minas,  der  auch  mit  dem  Gymnasticus  des 
Philostrat  sein  Unwesen  trieb.  3)  Der  Greif swalder  Professor  C.  W.  Ahl- 
A\ardt  benutzte  in  seiner  Pindaraus  gäbe  angebliche  Auszüge  aus  Nea[)ler 
Pindarhandschriften:  „lectionum  Italicarum  ovkXoyij  a  docto  quodam  amico 
mecum  communicata"  (praef.  p.  YIII);  aber  alle  die  Lesungen,  die  den 
Pindartext  zu  glätten  helfen  sollten,  sind,  wie  alsbald  (1835)  nachgewiesen 
Avurde,  erdichtet,  und  das  Ganze  erlogen.  4)  1853  erschienen  in  Lemberg 
unter  Bielowskis  Namen  „Pompeji  Trogi  fragmenta"  aus  polnischen  Quellen, 
und  Gutschmid  deckte  das  Falsifikat  auf,  Jahns  Jahrbb.  Suppl.  Bd.  II  S.202f. 
Wir  haben  nicht  nur  gegen  gefälschte  Tiaren  imd  Schleuderbleie  auf  der 
Hut  zu  sein. 


1)  Progr.  von  Znaim  1911.  I   Lips.1897,  S.Xnif.;  Pliilostrat  gcLKayser 

2)  Vgl.  KoRxrrzER  in  Wochenschr.  f.  '   II2  (1871)  S.XVf. 

klass.  Piniol.  1912  S.  1291.  1  '*)  Siehe  A.  Böckh,   Kleine   Schriften 

3)  Siehe    Babrii    fab.  ed.  O.  Crusius,  '   VII  S.  514. 


ABRISS 
DES  ANTIKEN  BUCHWESENS 


16= 


Einleitung. 


Das  Buch-  und  Sclireiberwesen  des  Altertums  läßt  sich  nach  zwei  A"fK»'><' 
Gesichtspunkten  behandeln.  Es  waltet  entweder,  indem  wir  nach 
Lesebuch,  Tafel  und  Schreibheft  bei  den  Alten  fragen,  ein  bloß 
anti(|uarisches  Interesse,  und  aus  dem  Feststellen  der  Tatsachen  ergeben 
sich  keine  Konsequenzen,  die  über  sie  selbst  hinausführen.  Oder  aber 
das  Interesse  konzentriert  sich  auf  die  Frage,  in  welcher  AVeise  das 
Bücherwesen  in  den  langen  Zeiten,  als  noch  kein  Buchdruck  und  keine 
mechanische  Vervielfältigung  bestand,  der  Litteratur  und  ihrer  Erhaltung 
und  Verbreitung  diente.  Beide  Aufgaben  sollen  in  Nachstehendem  in 
Kürze  ihre  Behandlimg  finden,  doch  liegt  der  Schwerpunkt  auf  der 
zAveiten ;  denn  sie  ist  für  den  Philologen  die  wichtigere.  Die  Betrachtung 
der  Beschaffenheit  des  antiken  Litteraturbuchs  und  des  Buchvertriebes 
führt  nicht  selten  zu  kritischen  Problemen,  oder  sie  eröffnet  auch  nur  das 
Verständnis  für  die  Beschaffenheit  der  litterarischen  Werke  selbst,  wie 
denn  z.  B.  die  Buchteilung  größerer  "Werke  sich  aus  den  Anforderungen 
erklärt,  die  die  Kürze  der  Buchrollen  an  den  antiken  Autor  stellte.  Über- 
liaupt  aber  ist  es  von  grundlegender  Bedeutung,  genau  zu  Avissen,  wie 
die  Texte  im  Altertum  durch  Abschrift  und  Aufbewahrung  in  Bibliotheken 
gesichert  Avurden  und  was  es  damals  hieß:  ein  Buch  edieren. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  zugleich,  daß  hier  von  den  Schreib- 
materialien, Tinte,  Calamus,  Lineal  u.  s.  f.,  da  sie  nicht  Bestandteile  des 
l^>uclis  sind,  auch  nicht  gehandelt  Averden  soll.  Ihre  Besprechung  fällt 
der  Paläographie  zu. 

])ie  Untersuchungen  über  das  BucliAvesen  haben  sich  aus  den  Studien  Litterj.tm 
übei-   Paläographie    entAA'ickelt   und   losgelöst.     Ich   A^erAveise    deshalb    für 
htterarische  Nachweise  zunächst  auf  die  Werke    über  Paläographie;    Ma- 
billon,    Maffei,   Montfaucon   sind   hier   aus   älterer  Zeit  Hauptnamen. 
Von  Neueren  zitiere  ich: 

W.  Wattenbach,  Das  SchriftAvesen  im  Mittelalter,  3.  Aufl.,  Leipz.  1896. 
C.  Paoli,  Grundriß  zu  Vorlesungen  über  lat.  Paläographie  und  Urkunden- 
lehre, übersetzt  A^on  K.  Lohmeyer,  Bd.  II,  Innsbruck  1895. 
V.  Gardthausen,  Griechische  Paläographie,  Leipz.  1879;  dasselbe  Werk, 
2.  Aufl.,   Bd.  I:   Das  antike  Buchwesen,  Leipz.  1912;   vgl.  meine  Be- 
sprechung Historische  Vierteljahrsschrift  1912  S.  397  ff. 
W.  A.  Becker,  Gallus  ed.  Göll  Bd.  IL 

Th.  Birt,    Das  antike   BucliAvesen   in  seinem  Verhältnis   zur  Litteratur, 
Berhn  1882. 


246  l^as  antike  Buchwesen. 

Marquardt-Mau,  Privatleben  der  Römer,  Leipz.  1886,  S.  799  ff. 

F.  Kenyon,  Palaeograpliy  of  Greek  papyri,  1899. 

A.   V.   Premerstein    in    Pauly -Wissowas    Realencyklopädie,    Bd.   lY: 

Artikel  „  Commentarii " . 
Karl  Dziatzko  in  Pauly -Wissowas  Realencyklopädie,  Bd.  III:    Artikel 

„Buch",  „Bibliothek",\,Buclihandel"  und\,b3^blos"  (S.  1100  f.). 
Derselbe,  Untersuchungen  über  ausgewählte  Kapitel  des  antiken  Buch- 
wesens,  Leipz.  1900;    dazu   meine   Besprechung   im   Zentralblatt    für 
Bibliothekswesen  XYII  (1900)  S.  545  ff. 
W.  J.  Clark,  The  care  of  book,  Cambridge  1901;  2.  Aufl.  1902. 
Ludwig  Blau,  Zum  althebräischen  Buchwesen,  Budapest  1902. 
Gerhard  und  Gradenwitz   in  Neue  Heidelberger  Jahrbb.  XII  (1903) 

8.  148  ff. 
Th.  Birt,  Die  Buchrolle  in  der  Kunst,  Leipz.  1907. 
W.  Schubart,   Das   Buch  bei   den   Griechen   und   Römern   (in   Hand- 
büchern der  Kgl.  Museen  Bd.  XII),  Berl.  1907. 
Max  Krämer,   Res  libraria  cadentis  antiquitatis  Ausonii  et  Apollinaris 

Sidonii  exemplis  illustratur,  Marbm-g  1909. 
L.  Traube,  Vorlesungen  und  Abhandlungen  Bd.I,  München  1909,  S. 84ff. 
L.  Blau,    La   letteratura   moderna   sul   libro    considerata    dal   j)unto    di 
vista  del  libro  ebraico,  Estratto  dalla  Rivista  Israelitica,  anni  V — VII, 
Firenze  1910. 
Chr.  Johnen,  Geschichte  der  Stenographie,  Bd.  I,  Berl.  1912. 
L.  Mitteis  und  U.  AVilcken,  Grundzüge  und  Chrestomathie  der  Papyrus- 
kunde, Leipz.  1912,  Bd.  I. 
Hiernach  ist  noch 
H.  Blümner,  Technologie  und  Terminologie  der  Gewerbe  und  Künste 
bei  Griechen  und  Römern,  2.  Aufl.  Bd.  I,  Leipz.  1912,  S.  313  ff. 
zu  erwähnen.    Doch  ist  leider  manches,  was  Blümner  gibt,  anticjuiert,  da 
er  weder  mein  Buch  „Die  Buchrolle  in  der  Kunst"  noch  meinen  Aufsatz 
im  Zentralblatt   für  Bibliothekswesen  vom  Jahre  1900,    noch    die  weitere 
daran     sich    anschließende     Litteratur     berücksichtigt    hat.^)      Vgl.    auc^li 
H.  Blümner,    Die   römischen  Privataltei-tümer,    München  1911   (in   diesem 
Handbuch  der  Altertumswissenschaft  Bd.  IV  Abt.  2)  S.  467  ff.  und  643  ff.^) 

*)  Vgl.  meine  Besprechung  in  Deutsche    j  ^)  Vgl.  meine  Besprechung  Histor.  Zeit- 

Litteraturzeitung  1913  Nr.  15  S.  936.  schrift  1912  S.  349  ff. 


1% 


1.  Beschreibstoffe. 

Homers  Epen  sind  nocli  ohne  Buch  und  ohne  Schrift  entstanden.  Homer 
Diese  schon  in  anderem  Zusammenhang  erörterte  Tatsache  i)  ist  für  die  Btidior 
Kenntnis  des  Buchwesens  besonders  Avichtig  und  muß  deshalb  hier  noch- 
mals hervorgehoben  werden.  Man  hat  das  Gegenteil  wohl  behauptet, 
aber  durch  nichts  boAviesen.  Wer  der  Meinung  ist,  daß  so  umfangreiche 
und  kunstvolle  Gedichte  Avie  die  Ilias  sich  ohne  Schrift  nicht  komponieren 
lassen,  der  A^ersäumt  es,  sich  Mar  zu  machen,  AAde  viel  entA\dckelter  als 
jetzt  die  Gedächtniskraft  intelligenter  Menschen  in  schriftlosen  Zeiten  ist.  2) 
Das  Formelhafte  in  der  homerischen  Sprache  ist  nichts  anderes  als  Ge- 
dächtnishilfe. Dies  gilt  mir  als  erAviesen,  und  ohne  solche  Annahme  ver- 
stehe ich  den  typischen  Stil  dieser  Epen  nicht,  dessen  Wesensbedingung 
eben  darin  beruht.  Als  ZAvingende  Bestätigung  kommt  hinzu,  daß  Homer 
ein  Lesebuch  tatsächlich  noch  nicht  kennt;  denn  er  erAvähnt  seinen  Ge- 
brauch nirgends.  Nur  die  Brief tafel  envähnt  Homer  einmal;  aber  das 
ist  ein  Avesentlicher  Unterschied.  Man  erAA'äge  doch:  in  der  Zeit,  als  die 
kostbare  Erfindung  des  Lesebuchs  gemacht  Avar,  schien  dies  Buch  für  den 
Rhapsoden  und  Sänger  beim  Vortrag  selbst  unentbehrlich.  Nicht  nui'  in 
Xenophons  Zeit  benutzen  die  Rhapsoden  Buchexemplare,  3)  sondern  schon 
die  Vasenbilder  des  6.  und  5.  Jahrhunderts  lehren  uns,  daß  ein  Stesi- 
choi'os,  Avenn  er  A^orträgt,  die  Rolle  im  Schoß  hat  (Buchrolle  Abb.  80), 
ebenso  die  Muse  (ib.  Abb.  79  und  92),  ebenso  Sappho  (Abb.  83  und  S.  90,  2); 
andere  BildAverke  der  älteren  Zeit  zeigen  uns  ebenso  Heraklit  (ib.  S.  51), 
Korinna  (S.  160  f.)  und  Pindar  (S.  155).  Vor  aUem  trägt  auch  Homer 
selbst  da,  avo  er  auf  Reliefbildern  A^ortragend  erscheint,  aus  dem  offenen 
Buche  lesend  vor  (ib.  S.  149),  und  daher  macht  es  auch  Pigres  mit  seiner 
Rhapsodie,  die  vom  Frosch-Mäusekrieg  handelt,  nicht  anders  und  erAvähnt 
im  Proöm  seiner  epischen  Erzählung  das  Buch  ausdrückHch,  in  das  er 
den  Gesang  niedergelegt  hat  und  das  ihm  nun  ganz  so  auf  den  Knien 
liegt,  Avie  es  mehrere  der  soeben  aufgeführten  BildAverke  uns  zeigen 
(a.  a.  0.  S.  155).  In  der  Zeit  also,  avo  das  Buch  existiert,  wird  es  auch 
zum  Vortrag  benutzt.  In  der  Ilias  und  Odyssee  dagegen  singt  nicht  nur 
Achill  in  seinem  Zelt,  es  singen  auch  die  berufsmäßig  A^ortragenden  Aöden 
durch Aveg  ohne  diese  Hilfe.  Also  hat  sie  ihnen  noch  gefehlt,  und  die 
Ausflucht,    sie  hätten  das  Buch  vielleicht  nur   zu  Haus   als  Substrat  für 

1)  Siehe  Kritik  und  Hermeneutik  S.  89.  gleichkommt,  mit  dem  man  Gegenstände 

^)  l^nter  schriftlosen  Zeiten  verstehe  schmückte, 

ich  auch  solche,  wo  die  Schrift  noch  nicht  |           ')  Xenoph.  Memor.  4,  2,  10. 
dem    Buche    dient    und    dem    Ornament 


248  Das  antike  Buchwesen. 

das  Memorieren  benutzt,  i)  ist  zu  dürftig,  um  von  demjenigen  ernst  ge- 
nommen zu  Averden,  der  Pigres  und  das  auf  den  Bildwerken  geschilderte 
Verfahren  vergleicht.  Der  Grieche  hat  sich  durchaus  nicht  gescheut,  dem 
Publikum  das  Buch  als  Gedächtnishilfe  wirklich  zu  zeigen,  wofern  er  es 
nm-  besaß.  Tatsache  ist  ferner,  daß  der  Name  "OjurjQog  den  Blinden  be- 
deutete 2)  und  daß  dementsprechend  auch  der  Aöde  Demodokos  bei  Homer 
blind  ist.  Ein  Blinder  kann  aber  nicht  schreiben.  Demodokos  trägt 
Odyss.  8, 77  f.  ein  Lied  vor,  das  seinem  Publikum  etAvas  Neues  bringen 
soll:  es  ist  die  oi'firj  über  den  Wettstreit  des  Odysseus  uud  Acliill.  Ent- 
^  ,  weder  hat  Demodokos  diese  ol'jLt^]  selbst  gedichtet  —  dann  dichtete  er  als 

JMinder  ohne  Schrift  — ,  oder  er  hat  von  anderen  Aöden  den  Stoff  über- 
nommen ;  alsdann  hat  er  ihn  nur  mündlich  und  nicht  in  Buchform  kennen 
gelernt,  da  ein  Blinder  nicht  lesen  kann,  und  die  Stoffe  wurden  somit 
auf  alle  Fälle  mündlich  tradiert.  Dies  bestätigt  vollends  der  homerische 
Hymnus  auf  Apoll,  dessen  Verfasser  sich  ausdrücklich  als  TV(pX6g  äri/o 
bezeichnet.  Auch  noch  dieser  Apollohymnus  ist  von  einem  Blinden,  also 
nicht  schriftlicli,  gedichtet  worden. 

MiU«,n  und  j^^ß  schou  die  Periode  der  alten  präliistorisch  ägäischen  Kultur  sinn- 

tragende Scliriftzeichen  besessen  hat,  wie  die  Funde  auf  Kreta  lehren, 
kommt  liier  nicht  in  Betracht.  Die  aus  dem  phönikischen  Alphabet  ab- 
geleitete griecliische  Schrift  beginnt  für  uns  nicht  viel  vor  dem  8.  Jahr- 
liundert,  und  erst  seit  dem  7.  Jahrhundert  v.  Chr.  liegen  uns  griechische 
Inschriften  umfangreicheren  Textes  vor.  Das  Wort  ygacpeiv^  scribere,  hieß 
ursprünglich  „gi'aben"  und  weist  darauf  hin,  daß  man  die  Schrift  zunächst 
nm*  auf  Stein,  Holz  oder  Metall  ritzte  oder  eingrub. s)  Doch  mul5  die  Be- 
deutung des  Wortes  ygäcpeiv  sich  früli  zu  der  des  Malens,  also  auch  des 
Schreibens  mit  aufgetragenem  Farbstoff,  eriv eitert  haben ;  denn  für  Malen 
besitzt  der  Grieche  kein  anderes  Wort  als  yQacpetv.  Das  bloß  gemalte  Bild 
ging  aus  dem  farbigen  Relief  herv^or.  Die  Älinlichkeit  zwischen  Malen 
und  Schreiben  betont  Plato  im  Phaedrus  p.  275  D,  wenn  er  Sokrates  sagen 
läßt:  öeivov  ydq  jtoi^,  (L  ^aXöge,  tovt  l'^et  yQaq)rj  xal  (hg  älr]&a)g  ofioiov 
Cfoygacpia'  xal  yäo  rd  ixeivTjg  exyova  eorrjxe  jukv  (bg  l^cbvxa,  edv  d'  äveQij  ri, 
oejiivwg  Tidvv  oiyq.  Den  Übei^gang  aber  zeigen  uns  solche  Bilder,  beson- 
ders auf  Grabstelen,  wo  wir  die  Umrisse  der  Figur  eingeritzt  und  auf 
die  so  umrissenen  Flächen  Farben  aufgelegt  sehen. 

^^^8? 'ffo^*  Über  Beschreibstoffe   handeln   im  Altertum  vornehmlich  Plinius  nat. 

bist.  13,  65 — 68 ;  Ul])ian  in  den  Digesten  32,  52 ;  Martianus  Capella  2, 136 ; 
Symmachus  epist.  4,  31.  Die  nachfolgende  Aufzählung  derselben  strebt 
keine  Vollständigkeit  an*)  und  will  nur  das  Bemerkenswerteste  her\'or- 
heben.  Ergänzendes  haben  Paoli  S.  1  ff.  und  besonders  Gardthausen  S.  45  ff. 
gesammelt.  Doch  glaube  ich,  daß  die  Gruppierung  und  einiges  Detail, 
das  ich  zu  geben  gedenke,  nicht  überflüssig  sein  wird. 


^)  Siehe   K.  L.  Kayser,    Homerische  Wort  weise  speziell  auf  Wachstal'eln  hin. 

Abhandl.  8.  24;  Ohrist-Schmid,  Gesch.  d.  |  *)    Insbesondere    habe    ich    von    den 

griech.  Litt.  I  S.  69.  |  Stempeln    auf   Tongefäßen,    Ziegeln  ii.  ä. 

2)  Siehe  Kritik  und  Hermeneutik  S.  88  f.  |  hier  abgesehen.     Ueber  Töpferinschrifteii 


')  Irrig  sagt  Gardthausen  S.  41,  das   j   Paoli  S.  5. 


mm 


I.  Beschreibstoffe.     1.  Naturwüchsiges.     2.  Türen  und  Ähnliches.  249 

1.  Naturwüchsiges. 

Wie  bei  uiis  Narrenhände  Tisch  und  Wände  beschmieren,  Touristen  an  Naturtois, 
alle  Felsen  der  Wildnis  ihren  Namen  kreiden,  so  kam  für  das  Schreiben  stänuue  u.a. 
in  primitiven  Zuständen  der  rohe  Naturfels  selbst  in  Betracht,  wofür  die 
Insel  Thera  mit  ihren  alten  Felseninschriften  zum  Teil  erotischen  Inhaltes 
ein  merkwürdiges  Beispiel  gibt:  der  Felsenhang  selbst  ein  Kollektivbuch. i) 
Denselben  Dienst  aber  leisteten  die  Baumstämme  im  Hain  oder  am  Weg; 
darauf  schreiben  die  Hii-ten  Yergils,  aber  auch  die  Liebenden. »)  In  den 
Städten  aber,  avo  es  keine  Felsenwände  oder  Baumstämme  gibt,  sind  es 
die  Häuserwände,  die  die  Passanten,  ob  Bub,  ob  erwachsen,  mit  An- 
schriften bedecken:  daher  stammen  vor  allem  die  tausendfältigen  Graffiti 
und  Depinti  Pompejis  3)  und  anderer  antiker  Städte.*) 

Ein  naturwüchsiges  Verfahren  ist  es  aber  auch,  wenn  der  Liebende  '^i>m. 
Liebesworte  in  die  Schale  des  i^pfels  ritzt  (man  denke  an  Acontius  und  *  ^**^  "" "' 
Cydippe),  und  daran  reiht  sich  das  Distichon,  das  auf  einem  Sesamkorn 
steht,  bei  Aelian,  Yar.  hist.  1,  17,  sowie  der  Pilz  des  Trajan:  im  Daker- 
krieg  wurde  diesem  Kaiser  eine  Nachricht  überschickt,  die  man  mit 
lateinischer  Schrift  auf  einen  großen  Pilz  geschrieben  hatte.  &)  Und  end- 
lich die  Zaubersprüche  des  Landmanns:  beim  Pfropfen  des  Feigenbaums 
schrieb  man  glückbringende  Schriftzeichen  auf  das  Pfropfreis,  ß)  Man 
beschrieb  die  Mandeln,  bevor  man  sie  einpflanzte,  um  dadurch  bunt- 
gezeichnete Mandeln  zu  erzielen.') 

2.  Türen  und  Ähnliches. 

Organisieiter  war  schon  das  Verfahren,  Avenn  Seeleute  Schrift  auf  ii"<ier 
das  Schiffsruder  setzten,  um  Botschaft  über  See  zu  bringen.  Dies  wird 
für  den  Helden  Palamedes  bei  Aristophanes  Thesm.  770  und  778,  vielleicht 
direkt  nach  des  Euripides  Palamedes,  angesetzt.*»)  In  Hinblick  hierauf 
erklärt  sich  die  Wahl  des  Wortes  jiXdra  in  dem  merkA\airdigen  Epigramm 
Anthol.  Pal.  13,  21,  8  noch  leichter,  worüber  ich  anderen  Orts  gehandelt.») 

Vor   allem   aber   hat  man   sich   nicht  nur  in  den  Zeiten  urwüchsiger     Türen 
Sitte,  sondern  auch  noch  später  der  Türe  als  regelrechter  Beschreibfläche, 
auf   der   man   sich  Mitteilungen   machte,   bedient.     Wir   alle   kennen   die 
bemalte  und  die  reliefgeschmückte  Tür,    und   die  Kunstgeschichte  ist  es, 
die   sich  mit    ihr   beschäftigt.     Ganze  Heiligenleben   stellt  das  Mittelalter 

1)  Siehe  IG.  XII  3,536—601  und  141Ö   i   zu  Eur.  Palamedes. 

bis  1493;  Bethe,  Rhein.  Mus.  62  S.  449  f.  »)  Zentralblatt  f.  BW.  8.  550.  Es  han- 

Melir   bei    Larfeld,    Griech.  Epigraphik^  !   delt  sich  um  das  Grabmal  des  „Plataiden" 

S.  433.  I    Mnasalkas:  Mvaodkxeog  ro  oäfxa  tw  TlXaratöa, 

2)  Hirten:  Vergil  Ecl.  5, 13;  Liebende:  I  und  von  ihm  wird  ausgesagt:  a  Mcooa  ö' 
IVoperz  1,  18,  22.  avzio    rag    2!ifi(oviöa    Ji/Mzag    t)g    ojioojidQayfia. 

3)  Siehe  CIL.  Bd.  IV;  übrigens  Boss,  |  Hier  stellt  sich  jikdra  nur  deshalb  ein, 
Inselreise  I  S.  63;  Wieseler,  Theater-  j  weü  ein  Anklang  an  nkaratöa  gesucht 
gebäude  Taf.  XIII  u.  a.  wird.     Daß    damit   aber    an   dieser  Stelle 

'»)  Gardthausen  S.  32  f.  j  kein  Holz  gemeint  ist,  zeigt  djioojidgayfia, 

i)  C'ass.  Dio  68,  8.  !  was  unzweifelhaft  auf  einen  reißbaren  Be- 

♦>)  Geopon.  2,  42,  2,  1  schreibstoff  liin weist;  aber  die  Erinnerung 

')  J^alladius  2, 15,13:  vgl.  hierzu  Riess  %n  da«  bescliriebene  Ruder  des  Palamedes 

bei  Pauly-Wissowa,  RE.  I  S.  90.  1  hat  zugleich  mit  eingewirkt  und  die  Wahl 

»)  Siehe  Fritzsche  zur  Stelle  ;A.NAr  CK  ;  des  Wortes  ermöglicht. 


250  ^*^  antike  Buchwesen. 

auf  den  Kirchentüren  dar;  das  beginnt  aber  schon  im  antiken  Christen- 
tum, in  S.  Sabina  auf  dem  Aventin,  in  S.  Ambroggio  in  Mailand,  und 
Vorbild  dafür  waren  die  Tempeltüren  des  Idassischen  Altertums  gewesen; 
Cicero,  Yerrin.  IV  94  und  124  ff.,  auch  Vergil,  Ovid  beschreiben  sie  uns 
Georg.  2,  463;  Aen.  6,  20  ff.;  Metam.  2,  4  ff.;  auch  Lucan  10,  117.  Ganze 
M^^then  oder  Legenden  waren  da  im  Bild  zu  sehen;  d.  h.  die  Tempeltüren 
selbst  erzählten  die  Legenden  dem  Volke ;  so  auch  die  Niobiden  und  Galher 
an  der  Tür  des  palatinischen  ApoUotempels.i)  Die  Türen  waren  die  Kon- 
kurrenten des  Buchs.  So  wie  sich  das  antike  Bilderbuch  zum  einfachen 
Lesebuch,  so  verhielt  sich  die  felderweise  mit  Bildschmuck  versehene  Tür 
zu  der  mit  Schrift  beschriebenen  Tür. 

Der  letzteren  müßte  noch  einmal  etwas  sorgfältiger  nachgespürt 
werden.  Man  kann  sicli  zunächst  an  Modernes  erinnern.  In  der  deutschen 
Volkserzählung  schreibt  ein  Arzt  das  Rezept  dem  Bauer  an  seine  Tür; 
der  dmnme  Bauer  hebt  die  ganze  Tür  aus  und  läuft  damit  zum  Apotheker. 
An  die  Stubentür  des  Studenten  schrieb  im  17.  Jahrhundei*t  der  Pedell 
die  Vorladung  des  Eektors:  Dominus  P.  cifafur  ad  Rcftovem.  Gewiß  in 
viel  weiterer  Ausdehnung  gilt  dies  Verfahren  vom  Altertum.  Nicht  nur 
im  fünften  Buch  Moses  6,9  und  11,20  erscheinen  die  beschriebenen  Tiu-en, 
sondern  Fronte  sagt  uns  p.  67  Nah.,  daß  auch  in  Rom  sich  das  flamen, 
sume  sannentum  als  Anschrift  an  der  Tempeltür  befand.  Bekannt  ist 
auch  die  Anschrift:  „Hier  Avohnt  Herakles;  kein  Übel  komme  herein." 2j 
Bei  Afranius  v.  415  R.  heißt  es:  inscribaf  al'iqim  in  ostio  'arse  verse'  (d.  li. 
averte  ignem),  und  damit  sind  die  sonstigen  Zaubersprüche  an  den  Türen, 
die  das  Übel  abwehren  sollen  (Geopon.  13,8,  4;  13, 15,  8),  zu  vergleichen.  3) 
Auch  sonst  wurden  Sprüche  auf  die  nvlwveg  geschrieben  nach  Lucian 
Alexandres  36;  ebenso  Liebesgedichte  nach  Ovid  Am.  3,  1,  53:  cptofiens 
foribus  duris  incisa  pependi  non  verifa  a  populo  practereunte  legi.  Ähnlich 
schon  Aristophanes  Vesp.  97  f. :  f]v  l'dt]  ye  Jiov  yeygafifievov  vlbv  IIvoUdjiijTovs 
er  &uga  Arjfwv  xaXov,  Icov  JiaQeygay^e  jzhjoiov  ^X7]jii6g  xalog  .  So  auch  Plautus 
Merc.  74:  impleantur  meac  fores  elogiorum  carhonibns.  Auch  Properz  I  16,  10 
hat  hierauf  Bezug.  In  anderen  Fällen  wurden  die  Worte  nur  an  der 
Tür  befestigt:  Vergil  befestigt  in  der  bekannten  Anekdote  das  sie  vos  nou 
vobis  \dermal  an  die  Türflügel;*)  ebenso  steht  es  mit  dem  Distichon  bei 
Sidonius  Apollinaris  epist.  V  8 :  disticJw  tali  clam  Palatinis  foribus  appensis. 
Bei  Cicero  sehen  wir,  wie  Clodius  in  euriae  posfe  einen  Anschlag  macht,  s) 
Im  übrigen  sei  auf  „Buchrolle"  S.  210,  1  und  Rhein.  Mus.  63  S.  41  ver- 
wiesen. 

So  kann  denn  die  ianua  endlich  auch  sprechen,  Avie  sie  es  bei  Catull 
im  Gedicht  LXVII  tut.  Doch  lasse  ich  es  hier  auf  sich  beruhen,  inwieweit 
in  der  Volksphantasie  die  redende  Tür^)  mit  der  beschriebenen  Tür  zu- 
sammenhing.    Statt  dessen    sei   noch  auf  Plato  hingewiesen.     Denn  viel- 


1)  Properz  II  31;  Sauer  bei  Eosclier,  |  journ.of  phil. 32  (1911)  S.  250  ff.  eingesehen. 
Myth.  Lex.  III  1  S.  421.  \  ^)  Sueton  p.  66  f.  ed.  Betff. 

2)  a.WissowA,  Religion  und  Kult,  der  I  &)  Oic.  ad  Att.  III  15,  10. 

Römer  S.  229.  |  e)  Hierüber  s.  Philol.  63  S.  456  und  bc- 

3)  Hierzu  sei  M.  B.  Ogle  im  American  I  sonders  Fries,  Rhein.  Mus.  59  S.  213  f. 


I.  Beschreibstoffe.  2.  Türen.  3.  Steinflächen.  4.  Bronzeplatten.  5.  Vaseninschriften.  2r)l 

leicht  liegt  auch  den  jToujTiy.ai  ävQai  bei  Plato,  Phaedr.  p.  245  A,  die  Yor- 
stelhmg  der  beschriebenen  Tür  zugrunde.»)  Jedenfalls  hängt  aber  hiermit 
auch  noch  der  Umstand  zusammen,  daß  man  die  Wachstafeln  selbst  Türen, 
ßrgideg,  nannte,  nach  Hesych.«)  Dazu  das  Adjektiv  dldvgog.  Ja,  aucli 
die  Kolumnen  in  der  Pergament-  oder  Papyrusrolle  wurden  „Türen"  ge- 
nannt. 3)  Und  auch  an  die  oavidsg  dürfen  wir  uns  hierbei  erinnern,  die 
amtlich  als  Album  zur  Publikation  dienten  (unten  Nr.  10).  Denn  auch 
aayideg  bedeuten  Aviederum  bei  Homer  und  sonst  die  Türen.  Woher  aber 
(lieser  Tropus?  Weil  die  Tür  im  Orient  ursprünglich  transportabel  war 
wie  jedes  andere  Brett.  Sie  war  nicht  mit  dem  Haus  verwachsen.  Darauf 
machte  schon  Dziatzko  auf  merksam.  4) 


3.  Geglättete  Steinflächen. 

Großartiger  entwickelte  sich  das  Schrift Avesen  auf  geglättetem  Stein, 
in  den  man  die  Inschriften  ritzte  oder  meißelte,  und  der  ZAveck  ist  dabei 
zumeist  monumental.  Vielfach  Avurden  sogar  die  Tempel  wände  selbst, 
.VußenAvände  Avie  InnenAvände,  dazu  benutzt,  und  der  Tempelbau  selbst 
Avurde  so  zu  einem  steinernen  Archiv.  Über  das  Nähere  hat  die  Epi- 
graphik  Auskunft  zu  geben.  Hier  gilt  es  nur,  auf  die  Art  der  Fassung 
des  inschriftlichen  Textes  zu  achten,  wie  sie  vornehmlich  von  den  Römern 
ausgebildet  Avorden  ist.  Denn  der  Grieche  bedeckt  der  Regel  nach  den 
ganzen  Stein  rahmenlos  und  bis  zum  Rand  mit  gleichmäßig  gestellten 
Buchstaben,  der  Römer  dagegen  fülirt  gern  als  Rahmen  eine  Leiste  um 
die  Schriftmasse  herum,  so  daß  sie  zum  gerahmten  Bilde  wird,  das  gleich- 
sam am  Stein  als  seinem  Träger  hängt;  beliebt  Avaren  auch  an  Altären 
und  Sarkophagen  die  in  Schildform  angebrachten  Inschriften.  Doch  AA'ar 
dies  Verfahren,  das  die  Aufschrift  zum  Ornament  gestaltet,  in  Ansätzen 
auch  schon  in  der  griechischen  Steinschriftpraxis  vorgebildet.  &) 


Stein- 
nscliriften 


4.  Bronzeplatten. 

Auch  die  Bronzei)latten  gehören  der  Epigraphik  an,  und  das  soeben 
Gesagte  gilt  zum  großen  Teil  auch  von  ihnen.  Besonders  erAvähnt  seien 
an  dieser  Stelle  nur  diejenigen  Bronzetafeln,  die  in  der  römischen  Kaiser- 
zeit als  Militärdiplome  dienten,  den  Wachstafeln  ähnUche  Doppeltafeln, 
durch  die  den  Veteranen  das  Bürgerrecht  verbrieft  und  beurkundet  AA^urde.^) 


tironze 


5.  Vaseninschriften. 

Bei   dem  Malen    von  Gemälden   Avar   es   Sitte,    zu   den   dargestellten  »»-fäße  und 
Figuren   auch  den  Namen   zur  Verdeutlichung  hinzuzusetzen.     Dies  ver-    ^"^^* 
anscliaulichen   ims   in   kleinerem  Maßstabe    auch  die   aus  Ton  gefertigten 


^)  Anders  Seneca  De  tranquül.  an.  15. 

2)  Vgl.  E.Fabricils,  Commentationes 
epigraphicae    de  architectura,  1881,  S.  78. 

3j  Buchrolle  a.  a.  O. ;  A'gl.  dazu  L.  Blau, 
hi\'ista  Israel.  S.  77. 

^)  Untersuchungen  8.  11.  Ich  weise 
uuch  auf  Oxj-rliA'nchos  Pap.  ed.  Grenfbll 
u.  Hunt,  part  VI  (1908)  Nr.  912  hin,  einen 


Mietsvertrag,  der  bestimmt,  daß  der  Mieter, 
wenn  er  auszieht,  die  Türen  und  Sclilüssel 
des  Hauses  zurückgeben  soll. 

M  Siehe  P.  tlACOBSTHAL,  in  Aao/rfc  für 
F.  Leo,  1911,  S.  453  ff. 

6)  Siehe  Wattenbach  S. 43 f.;  Darkm- 
berg-Saglio,  Dict.II  S.  266  f.;  R. Wünsch, 
„Diploma"  bei  Pauly-Wissowa  RE. 


252  I^as  antike  Buchwesen. 

Vasen  des  Altertums.  Aber  auch  diese  Vaseninscliriften,  die  A^or  dem 
letzten  Brennen  des  Gefäßes  mit  dem  Pinsel  aufgemalt  wurden,  i)  kommen 
für  unsere  Z^vecke  nicht  in  Betracht.  Doch  verlohnt  es,  daran  zu  erinnern, 
daß  sie  nicht  nur  Namenbeischriften,  sondern  auch  oft  Gefühlsäußerungen 
des  Künstlers  enthielten;  und  das  betrifft  nicht  nur  die  klassische  Zeit 
der  attischen  Vasenmalerei.  Auf  mit  Schrift  bedeckte  Trinkgefäße  spielt 
auch  einmal  Kaiser  Augustus  an, 2)  und  die  römischen  Töpfereien  haben 
derartige  in  der  Tat  nicht  selten  geliefert,  mit  einem  Sprüchlein  oder 
Mahnwort  darauf,  auch  in  Gallien  und  Germanien,  s)  „Antike  Töpfereien 
lassen  sich  einigermaßen  auch  als  Schreibstuben  betrachten,  wo  in  den 
nassen  Ton  oder  auf  die  fertige  Ware  allerlei  eingegraben,  aufgemalt. 
Nutzes  und  Unnützes  aufgeschrieben  ward."*)  So  hat  denn  auch  das 
ganze  Schrift-  und  Buchwesen  der  alten  Bab^donier  und  Assyrer  auf  der 
Tontafel  beruht;  in  die  weiche  Tontafel  wurde  die  Keilschrift  mit  dem 
Griffel  eingeritzt;  erst  danach  wurde  sie  hart  gebrannt. 

Wir  nähern  uns  hiernach  dem  Buch  selber.     Zum  leichtbewegiichen 
Matei'ial  oehören  die 


}->' 


6.  Palmblätter. 

Palm-  Noch    heute    sind    in   Ostindien    die   Palmblätter   ein   allgemein   vei-- 

breiteter  Beschreibstoff.  Aber  auch  zu  den  Griechen  drang  die  Palme, 
Einige  meinten,  die  SibAdlen  hätten  auf  solchen  Blättern  geschrieben;  so 
Varro  bei  Servius  Aen.  8,  444;  vgl.  auch  Plinius  nat.  liist.  13,  68.  War 
doch  der  Gott  Apollo,  der  die  Sibylle  zur  Weissagung  begeistert,  untei- 
der  Palme  von  Dolos  geboren.  Auf  die  Palmblätter  der  Sibylle  geht  auch 
wohl  das  foliiim  bei  Juvenal  8,  126,  welche  Stelle  nach  Vergil  Aen.  8,  444 
auszulegen  ist.  Jedenfalls  ist  foliiim  in  der  abgeblaßten  Bedeutung  der 
„Buchseite"  dem  ganzen  antiken  Rollenbuchwesen  unbekannt  (s.  unten). 
Die  Palmblätter  haben  also  im  Schriftwesen  ihren  sicheren  Platz ;  daß 
die  Alten  dagegen,  wie  man  aus  Cinnas  aridulus  lihellus  malvae  entnimmt, 
auch  auf  Mah^enblättern  schrieben,  ist  nicht  zu  glauben  ;ö)  darüber  im 
nächstfolgenden  Abschnitt. 

7.  Baumbast. 

Bast  Der  Heimatboden  der  Römer  und  Griechen  lieferte  keine  Palmblätter, 

aber  den  Baumbast,  arborum  Ubri,  insbesondere  Lindenbast,  tiliaf  q)ilvQa. 
Und  hier  tritt  uns  also  das  Wort  Über  im  Schriftwesen  zum  erstenmal 
und  in  eigentlichster  Wortbedeutimg  entgegen.  Das  ist  für  das  Verständnis 
des  Ganzen  hochbedeutsam.  Buch  und  Bast  war  für  den  Römer  zu  allen 
Zeiten  dasselbe;  denn  liher  hat  für  ihn  jene  naturwüchsige  Grundbedeutung 


t 


1)  Siehe  P.  Kretschmer,  Die  grieclii-  ^)  Was  man  gelegenthch  über  das 
sehen  Vasen,  ihrer  Sprache  nach  unter-  .  Schreiben  auf  Olivenblättern,  Zwiebeln  n.ä. 
sucht,  Gütersloh  1894;  CrAR*DTHAUSEN  S.30.  i  hört  (s.  z.B.  Blau,  Eivista  Israelit.  S.  33), 

2)  Buchrolle  S.  39.  ;  kann  nicht  ernstlich  zum  Vergleich  heran- 

3)  Vgl.  auch  Büchelp:r,  Rhein.  Mus.  |  gezogen  werden:  es  ist  vielmehr  mit  dem 
(52  S.  155.  :  Schreiben  auf  Pilzen,  Mandelkernen  u.  a. 

4)  Bücheler,  Bonner  Jalubb.  116 S. 300.  (oben  S.  249)  gleichzustellen. 


I.  Beschreibstoffe.     6.  Palmblätter.     7.  Baumbast.  25-S 

des  Bastes   zu   keiner   Zeit   verloren,    wie   der   Sprachgebrauch   auch   des 
Spätlateins  bezeugt. *) 

Der  wirkliche  Baumbast  selbst  begegnet  uns  im  Dienste  des  Buch- 
w  esens  allerdings  nur  selten,  z.  B.  bei  Dio  Cass.  67, 15,  Martianus  Capella 
2, 136 ;  aus  diesen  Erwähnungen  geht  hervor,  daß  der  Gebrauch  nur  ver- 
einzelt vorkam.  Es  ist  aber  ein  großer  Irrtum,  die  Tatsächlichkeit  des- 
selben für  die  historischen  Zeiten  zu  bestreiten.  2)  Kaiser  Commodus 
schreibt  tatsächlich  auf  Bast. 3)  Auch  Galen  bezeugt  seine  Verwendung;-*) 
auch  Ulpian.5)  Ja,  das  ganze  Bellum  Troianum  des  Dictys  stand  auf 
Eollen  von  tilia',  dies  sagt  der  Prologus  zum  Dictys:  de  toto  hello  sex 
volnmina  in  tilias  digessit  P/ioeniceis  Utteris.  Symmachus  a.  a.  0.  bezeugt 
für  die  filin  Tafelform,  und  wir  dürfen  dafür  auch  CIL.  II  4125  deeretum 
e.i'  tilia  recitavit  heranziehen,  wennschon  es  auch  möglich  wäre,  daß  hier 
an  eine  Wachstafel  gedacht  ist. 

Außerdem  aber  gehört,  wie  ich  glaube,  auch  das  Schreiben  auf  Malven  Maiven 
hierher.  PKnius  berichtet  darüber  nichts,  weil  er  diesen  Stoff  unter  den 
Baumbast  mit  einbegriff.  Aus  Sueton  stammt  die  Nachricht,  daß  der 
römische  Dichter  Helvius  Cinna  seiner  Aratbearbeitung  Widmungsverse 
beigegeben  hatte,  in  denen  er  von  arididiis  libellus  lenis  malvae  redet; 
solchen  aridulus  libellus  hatte  Oinna  für  das  Widmungsexemplar  seines 
Gedichtes  benutzt. 6)  An  dieser  Stelle  kann  nun  libellus  schwerlich  „Buch" 
bedeuten;  der  Zusatz  arididus  „trocken"  weist  vielmehr  auf  stoffliche  Be- 
deutung, also  auf  die  Grundbedeutung  von  Über.  Die  Dichter  Catull, 
Galvus  und  Cinna  liebten  auch  sonst  in  hohem  Grade  die  Deminutiva. 
libellus  muß  hier  füi'  den  Bast  selbst  stehen.  Auf  trockenem  Malvenbast 
war  das  Gedicht  geschrieben.'') 

Sehr  früh  Avurde  aber  auch  die  aus  Ägypten  importierte,  aus  Papyrus  nber  füi 
liergestellte  charfa  von  den  Eömern  „Bast",  liber,  benannt,  u^nd  das  ist 
schon  hier  hervorzuheben:  eine  für  die  Terminologie  des  Buchwesei;is 
unendlich  wichtige  Bedeutungsübertragung,  die  durch  die  bastähnliche 
äußere  Beschaffenheit  dieser  charta  hervorgerufen  worden  ist.^)  Jeder 
naive  Mensch  im  Altertum  und  auch  noch  in  späteren  Zeiten  hat  das 
Kunstpräparat  der  Charta  für  naturwüchsigen  Baumbast  gehalten,  und 
schon  in  Photios'  Lexikon  kommt  dies  zum  Ausdruck,  wo  es  heißt:  (pdvga 
cfUTov  k'xov  (ploiov  ßvßXcü  jiajivQcp  (sie)  ojuoiov.  Ähnlich  äußern  sich  Martial 
14,  209  und  Plinius  über  die  charta  (§  76  propior  cortici).  Daher  meint 
auch  Hieronymus  epist.  8:  scriptores  a  libris  arborum  librarios  vocavcre. 
So  erklärt  sich  also,  daß  der  Römer  die  Papyrusrolle,  weil  sie  seinem 
naiven  Sinn  Bast  zu  sein  schien,  bis  an  das  Ende  des  antiken  Buchwesens 
konsequent  kurzweg  als  „Bast",  Über,  bezeichnet  hat.  Er  sagte  „liber", 
d.  h.  „Bastrolle",  statt  Chartarolle  (s.  unten). 

Um  noch  einmal  auf  den  Baumbast  selbst  zurückzukommen,  so  setzte 


p 


1)  vSiehe  z.  B.  Isidor,  Orig.  6, 13. 

2)  Dies  tut  Schubart  S.  2  f. 
')  Buchrolle  S.  335  nach  Herodian  1, 17 
•»)  ebenda    S.  21;    die   Galenstelle    ist   j    „Bast"  nicht  anmerken. 

weiter  unten  besprochen.  1  ^)  Genaueres  Buchrolle  S.  23, 1 

■^)  Buchwesen  S.  98.  | 


6)  Sueton  p.  133  R. 
')  Unsere  Lexica  sind  unvollständig, 
wenn  sie  zu  Ubellus  die  Grundbedeutung 


254  I^as  antike  Buchwesen. 

auch  sein  Gebrauch  und  der  Gebraucli  der  philyr'ma  ohne  Frage  eine  gewisse 
künsthche  Zubereitung  des  Materials  A^oraus.  Primitiver  und  darum  in  den 
unteren  Volksschichten  weit  verbreitet  war  dagegen  das  Schreiben  auf 

8.  Ostraka. 

Ostraka  Es  handelt  sich  hier   um  die  Topfscherben,    die  man  gewann,    A\enn 

im  Hausstand  das  Geschirr  zerbrach.  Auf  sie  wurde  die  Schrift  aufgemalt. 
Massenhaft  und  regelmäßig  sind  sie  so  vor  allem  in  Ägypten  zu  Geschäfts- 
zwecken, und  nicht  nur  von  den  ärmeren  Leuten,  sondern  auch  von  Staats- 
beamten, verwendet  worden,  i)  Unzählige  Geschäftsquittungen  haben  sich 
da  so  auf  Scherben  gefunden.  Von  dieser  GeAvohnheit  hat  auch  das 
„Scherbengericht"  Athens,  bei  dem  man  den  Namen  des  zu  Ostrakierenden 
auf  das  Ostrakon  schrieb,  seine  Benennung.  Ein  denkwürdiges  Kuriosum 
ist  da  das  auf  athenischem  Boden  aufgefundene  Ostrakon  des  Themisto- 
kles.*)  Auf  Ostraka  schrieb  auch  der  stoische  Philosoph  Kleanthes,  Aveil 
ihm  Papyrus  zu  teuer  Avar  (Diog.  Laert.  7,  173),  ja,  auch  der  Gott  Zeus 
selbst  in  einer  äsopischen  Fabel,  Babrios  127,  die  darum  nicht  etwa  in 
Ägypten  erfunden  zu  sein  braucht. »)  Dieselbe  Fabel  zeigt,  daß  man  die 
Scherben  sammelte  und  in  einer  y.ißonoq  aufbewahrte.  Aus  dem  Um- 
stand, daß  auch  Schulknaben  sich  oft  auf  Ostraka  im  Schreiben  übten, 
mag  sich  erklären,  daß  auf  ihnen  auch  litterarische  Textabschnitte,  unter 
anderem  auch  das  Vaterunser,*)  angetroffen  worden  sind.^) 

9.  Tierhäute. 

biifjdiQat  Sehr  alt  war  jedenfalls  außerhalb  Griechenlands  auch  die  Verwendung 

der  Tierhäute,  diq)Moai.  Auf  solchen  öicp&eQai  beruhte  das  Schriftwesen 
des  liochkultivierten  persischen  Königreichs ;  die  ßaodixal  ÖLcpdeoai  der 
Perser  erwähnt  Ktesias  bei  Diodor  2,  32.  Ebenso  herrschten  sie  aus- 
schließlich bei  den  Juden  der  vorptolemäischen  Zeiten,  ß)  und  Herodot 
sagt  uns  5,  58,  daß  sie  zeitweilig  auch  bei  den  Griechen  in  Gebrauch 
gewesen,  dann  aber  durch  die  Chartarolle  verdrängt  Avorden  seien. 
Sonstige  Erwähnungen,  die  die  ältere  Zeit  der  griechischen  Geschichte 
anbetreffen,  sind  zweifelhafter  Natur.')  Das  Wort  dKpß-eQa^oiqpog  =  yga/i- 
juaToSiddoxakog  war  nur  k^^prisch  (Hesych);  darin  zeigt  sich,  daß  die 
KA^prier  Avie  die  Juden  unter  persischem  Einfluß  standen.  Nur  der 
Kuriosität  halber  erAA^ähne  ich  das  öegjtia  des  Epimenides,  das  man  nach 
seinem  Tode  ygdjujuaoi  xardorixiov  fand,  AA^oher  das  SpricliAA-ort  stammte: 
t6  ^Emjtieviöov  deg/ia,  ejiI  twv  äjToOerMv  (Suidas).  Das  erinnert  uns  an  das 
TättOAvieren  der  NaturA^ölker :  ein  TättOAAderen  mit  Schriftzeichen.  Er- 
AvähnensAverter  ist  das  Sprich Avort,  das  A'om  Richter  Zeus  sagte:  Zevg 
y.axdÖF  ygoviog  elg  rag  ÖKpd^egag.  Aus  diesem  Sprichwort  läßt  sich  indes 
nicht  folgern,  daß  die  dicp&egm  bei  den  Griechen  für  besonders  alt  galten, 
und  das  Dictum  selbst  braucht  auch  durchaus  nicht  sehr  alt  zu  sein.    Es 


')  U.  WiLCKEN,    Griechische    Ostraka   j  ^^  Gardthausbn  S.  30.   Ucber  Kräge 

s.  W.  Spiegelberg,  Demotische  Texte  auf 
Krügen,  Leipzig  1912. 

ß)  Siehe  Blau  a.  a.  O. 

')  Vgl.  Buchrolle  S.  212,  2. 


aus  Aegypten  und  Nubien  1899,  2  Bde. 

2)  Siehe  CIA.  l\  1,  8  Xr.  569  f. 

3)  Buchrolle  S. 335 u. 337:  Neue  Jahrbb. 
19  (1907)  S.  705  f. 

*)  Athen.  Mitteilungen  25  S.  313  f. 


I.  Beschreibstoffe.     8.  Ostraka.     9.  Tierhäute.  255 

konnte  auch  in  der  Zeit,  als  die  Charta  schon  längst  herrschte,  entstehen ; 
denn  die  Charta  Avar  zerreißbar  und  konservierte  sich  schlecht;  das  Buch 
in  Gottes  Hand  muß  dagegen  ewig  dauern,  muß  möghchst  unzerstörbar 
sein;  nur  darum  A\-ird  dem  Gott  hier  das  Fell  und  nicht  die  Charta  in 
die  Hand  gegeben,  i)  So  gelten  denn  in  den  Scholien  zu  Plutarchs  Solon^) 
die  dicp&sQm  durchaus  nicht  für  besonders  alt,  wo  es  von  den  ä^oveg  heißt: 
ä^oveg  de  ii'Xa  rerodycovcx  ijoav  elg  odg  oi  vojuoi  eveyodfprjoav  nob  rijg  rchv 
f>iq^^i}8gcdv  ijroi  Öeggecov  (sie)  avgeoecog.  Folgen  wir  dieser  Mitteilung,  so 
kamen  die  Häute  erst  nach  Solons  Zeit  in  Athen  in  Gebrauch;  bei  den 
loniern  Kleinasiens  mag  das  wie  auf  C\^pern  unter  persischem  Einfluß 
schon  früher  geschehen  sein.  Es  wundert  uns  nicht,  daß  hernach  dann 
auch  Emipides  fr.  629  N.  öicp&eoai  jueXeyyQacpeig  (oder  jueXayygacpeig)  im 
Tempelarchiv  kennt,  die  voll  sind  von  Aussprüchen  des  Apoll.  Übrigens 
fertigten  die  Spartaner  aus  Häuten  ihren  Geheimbrief,  den  sie  mn  den 
Stock  Avickelten,  die  oxvrdh];^)  und  auch  die  Ägypter  haben  sie  in  alter 
Zeit  neben  ihrer  Charta  als  schlechteren  Beschreibstoff  dereinst  verwendet.*) 

Hier  erhebt  sich  die  Frage,  ob  auch  auf  Schlangenhaut  geschrieben OKurä;.j/un<i 
wurde,  und  damit  kommen  Avir  zur  delphischen  Schlangensäule  und  ihrer  ^  siuü?^" 
Erklärung.  Daß  die  Juden  gelegentlich  auf  Hühnerhaut,  auch  auf  Fisch- 
haut schrieben,  steht  fest ;  &)  für  solche  Benutzung  der  Schlangenhaut  habe 
ich  dagegen  keine  Belege,  sondern  kann  nur  nachAA'eisen,  daß  Landleute 
sie  zu  apotropäischem  ZAveck  mn  einen  Stock  Avickelten.^)  In  Konstantinopel 
Aerbrannte  im  5.  Jahrhundert  n.  Chr.  die  große  Bibliothek  und  mit  ihr 
das  Renommierstück  der  Sammlung,  eine  Homerrolle  A'on  120  Fuß  Länge, 
die  nach  der  Angabe  des  Malchos  bei  Zonaras  aus  dgdxovjog  evregov  be- 
stand. Hier  ist  evregov  unsinnig;  wie  das  Mißverständnis  zu  erklären  imd 
ob  hier  etAva  Schlangenhaut  gemeint  ist,  läßt  sich  nicht  ausmachen.  Dazu 
kommt  endlich  die  erAvähnte  Schlangensäule,  ein  Monument,  das  in  seiner 
Erfindung  ohne  seinesgleichen  ist.  Ein  Säulenstab  ist  mit  Schlangen  bis 
oben  eng  uniAvunden;  die  Schlangenleiber  aber  sind  ganz  flach  gedrückt 
und  dienen  als  Schriftträger;  sie  tragen  die  Gedächtnisinschrift  der  Schlacht 
bei  Platää.  Doch  erledigt  sich  dies  Problem,  Avenn  ich  nicht  iire,  etAvas 
anders,  als  ich  es  im  Rhein.  Mus.  63  S.  52  f.  vorgetragen.  Als  ausgemacht 
betrachte  ich  es,  daß  in  diesem  Monument  die  oxindXf]  der  Spartaner 
nachgeahmt  Avorden  ist.  Diese  oxvrdkr)  Avar  bekanntlich  ein  Stab,  um  den 
ein  Riemen,  {udg,  A^on  oben  bis  unten  eng  geA\äckelt  Avurde,  und  auf  diesem 
Ijudg  stand  die  Botschaft  geschrieben.  Dabei  AA^ar  das  Charakteristische, 
daß  die  Ränder  des  in  Spiralen  ansteigenden  Riemens  hart  und  ohne  jeden 
Abstand  aneinanderliegen  mußten,  und  eben  dies  trifft  auch  für  die  um 
die  Säule  geAAdckelten  Schlangenleiber  in  auffälliger  Weise  zu.  Die  Frage 
ist  nun,  Avarmn  sind  an  Stelle  des  Riemens  Schlangen  gcAvählt  Avorden? 
Ks  leidet  keinen  ZAveifel,    daß  diese  Erfindung  auf  abergläubisch  ai)otro- 

M  Vgl.    Neue  Jahrbb.  Bd.  19    (1907)  :  Mus.  63  S.  51. 
s.  706  f.  ■*)  E.  PiKTSCHMANN,  Leder  und  Holz, 

2)  Siehe  A.  Schöne,  Kieler  Festschrift  I  in  Dziatzkos  Sammlung  bibliothekwissen- 
1898  S.  15.  !  schaftl.  Abhandlungen  1898  S.  51  f. 

3)  Siehe  J.  H.  Leopold,   Mnemosjme  ''  ^)  L.  Blau,  Althebr.  Bucliwesen  S.  32. 
28  S.365f.;  dazu  Buchrolle  S.273f.;  Rhein.  :  «)  Rhein.  Mus.  63  S.  54. 


Zuborei- 


256  I^8,s  antike  Buchwesen. 

päischen  Vorstellungen  beruht;  zugleich  aber  A^erlohnt  es,  an  Denietrius 
jisQi  EQjiiijveiag  zu  erinnern,  der  §  159  über  das,  was  Gefallen  erweckt,  über 
XfiQtg  handelt  und  als  Beispiel  für  die  ;ta^«c  cpoßov  äXXaaaofievov  anführt: 
brav  diaxevi]g  tig  cpoßr]{}f]  olov  tov  Ijudvra  cbg  ö(piv.  Also  der  Ijudg  wurde 
leicht  mit  der  Sclüange  verwechselt.  Für  Demetrius  ist  das  gradezu  ein 
Motiv,  das  Gefallen  erweckt.  Hiernach  scheint  es  um  so  begreiflicher, 
daß  an  dem  Denkmal,  das  die  Schlacht  bei  Platää  betraf  und  unter  dem 
bestimmenden  Einfluß  der  Lacedämonier  gesetzt  worden  ist,  die  Schlange 
erscheint,  wo  wir  den  Eiemen  erwarten;  und  die  Annahme,  daß  man  auch 
auf  Schlangenhaut  schrieb,  ist  damit  überflüssig  gemacht  und  erledigt. 
Kehren  wir  noch  einmal  zu  den  ÖKf^egai  zurück.  Wir  werden  für 
öKpßsQat  die  vorherodotische  Zeit  im  allgemeinen  anzusetzen  haben,  daß  diese 
Häute  bei  den  Griechen  nocli  nicht  fein  zu  Pergament  präpariert  waren, 
sondern  in  ziemlich  rohem  Zustand  Verwendung  fanden  und  daher  auch 
nur  einseitig  beschrieben  wurden.  Sicher  ist  dies  auch  für  die  alten 
Italiker  vorauszusetzen,  die  den  Wortlaut  von  Verträgen  auf  eine  Kuhhaut 
oder  auf  die  Haut  des  Tieres,  das  eben  geopfert  wurde,  schrieben.  \) 
Anders  wird  es  sich  aber  mit  den  Öiq^degai  ßaodixai\  aus  denen  die  Archive 
der  Perserkönige  und  der  persischen  Reichsverwaltung  bestanden,  ver- 
halten haben;  denn  einem  liölier  entwickelten  ScliriftAvesen,  wie  es  für 
sie  vorauszusetzen  ist,  kann  das  rolie  Fell  selbst  nicht  genügt  haben.  Fin- 
sie  werden  wir  also  schon  die  Herstellung  jenes  „Pergaments"  selbst  voraus- 
setzen müssen,  das  später  auch  bei  den  Griechen  Boden  geAvann.  Der 
Terminus  öifpf^eQai  blieb  auch  S[)äter  immer  der  gleiche  und  läßt  die  Unter- 
schiede, von  denen  ich  rede,  durcliaus  nicht  erkennen. 

10.  Holzplatten,  Alba. 

Alba  Wie  auf  der  Tür,  so  konnte  man  auch  auf  Brettern  oder  Holzplatten, 

die  man  weißte,  schreiben.  Dies  ist  das  XevxoiiJLa,  das  alhum,  das  offiziell 
zu  Veröffentlichungen  benutzt  w^urde;  vgl.  z.  B.  CIG.  2360;  Dittenberger, 
Sylloge^  510;  511;  522  u.  sonst;  für  Alt-Eom  vgl.  Dionys  von  Halikarnaß 
3,  36.  Es  handelte  sich  zumeist  um  Staatsurkunden,  Gerichtsbestimmungen 
u.  ä.  Nach  Ulpian  werden  die  Bestimmungen  des  prätorischen  Edikts 
in  alho  vel  in  Charta  vel  in  alia  materia  publiziert.  2)  Die  Holzfläche  war 
mit  Gips  überzogen,  der  auf  anderem  Beschreibstoff  schon  vorliegende 
Text  wird  auf  sie  in  Abschrift  übertragen;  daher  ExyQdq)8iv  eig  to  hvxo)jiia.^) 
Oft  tritt  dafür  der  Ausdruck  oaviöeg  ein.'*)  Solche  Alba  waren  trans- 
portabel; s.  Livius  1,32,2:  in  alhiim  elata  proponere  in  publico.  Dasselbe 
proponere  steht  auch  sonst,  z.  B.  Digest.  2, 1, 7.  Aber  es  waren  dabei 
natürlich  die  verschiedensten  Formate  möglicli:  klein  und  handlich,  so 
kannten  schon  die  Ägypter  das  kevxcojua.  Fügten  sie  zwei  zusammen,  so 
entstand  die  Doppeltafel,  das  ägyptische  Diptychon.*^)  Für  offizielle  Zwecke 
waren  dagegen   sehr  große  Flächen  im  Gebrauch.     Aber   auch   unbeweg- 


1)  Dionys.  Hai.  4,  58 :    Festus  p.  56  M.  *)  Siehe   Inscr.  Att.  I  324.    Lobeck, 

~)  Digest.  2,  1^,  7.  :   Aglaoph.  S.242;  Aristoph.  A^esp.  848;  Bek- 

KER,  Anekd.  p.  303,  23. 

5)  Siehe  Buchrolle  S.  5. 


')  Siehe    PI  Fabricius,    Commentat 
epigraphicae    de    architect. ,    Berlin    1881, 
S.  31. 


n 


I.  Beschreibstoflfe.     10.  Holzplatten,  Alba.    11.  Bleiplatten. 


257 


dgovsg, 
Kvgßeig 


liehe  geweißte  Flächen  an  Häiiserwänden,  also  geweißte  Steinflächen,  hießen 
Alba,  die  dazu  dienten,  um  auf  ihnen  durch  Aufschrift,  wie  bei  uns  durch 
Anschlag,  publicanda  zu  veröffentlichen:  so  das  Album  am  Gebäude  der 
p]umachia  in  Pompeji,  auf  dem  noch  allerlei  Inschriften  gefunden  sind;i)  so 
auch  doi-tselbst  im  Hof  der  kleinen  Thermen.  2)  Zur  richtigen  Auffassung 
dient  uns,  was  Suidas  s.  v.  sagt:  Xevxcojua  roixog  äh]kijUjuevog  yvxpco  jioog 
yoa(p}]v  Ttohrixcoy  JTQayjudrcov  enirrjöeiog.    Vgl.  auch  Plato  Leg.  p.  785  A. 

An  dieser  Stelle  seien  dann  auch  noch  die  ä^oveg  und  xvgßeig  des 
alten  Athen  erwähnt.  Die  ä^oveg  Avaren  hölzerne  Stäbe,  an  denen  einige 
der  Gesetzestafeln  Solons  drehbar  aufgehängt  waren, 3)  die  xvgßeig  dagegen 
hölzerne,  weiß  angestrichene  Pfeiler,  die  dreiseitig,  dabei  oben  zugespitzt 
und  gleichfalls  drehbar,  als  Träger  der  solonischen  Gesetze  dienten.*) 

Natürlich  hat  man  auch  direkt  auf  Holz,  das  nur  geglättet,  aber  nicht  Ungewoiß- 
geweißt  war,  geschrieben.  Aber  die  Schrift  trat  alsdann  zu  wenig  deut- 
lich hervor.  Dahin  gehören  nicht  nur  die  ägyptischen  Totenmarken ;  5) 
auch  Schreibübungen  von  Schülern,  die  auf  Holz  stehen,  haben  sich  in 
Äg\^ten  gefunden,  und  gelegentlich  liest  man  da  aus  Dichtern  ausgehobene 
Texte,  ß)  Dagegen  wurden  nach  altrömischem  Brauch  die  sortes  in  Holz 
eingeschnitten:  in  rohore  insculptae  litteraeJ)  Vielleicht  gehört  aber  auch 
das  oavidiov  (pdvqivov  di&vgov  bei  Dio  Cass.  67,  15  hierher;  vielleicht  war 
auch  der  jtiva^  mvxrog  in  der  Ilias  6,  168  solche  Holztafel.«)  Dasselbe 
Verfahren  zeigt  auch  Demarat,  der  bei  Herodot  6,  239  auf  dem  Holz 
unter  dem  Wachs  der  Wachstafel  schreibt;  vgl.  Gellius  17,9,17. 


11.  Bleiplatten. 

Daß  gelegentlich  auch  auf  Edelmetall,   auf  Goldplättchen  u.  ä. 
auf  Zinn  geschrieben  wurde,   ist  für   uns  von  geringem  Belang   und  sei 
nur  beiläufig  erAvähnt.^)   Mit  guten  Wünschen  beschriebene  Silberplättchen 
wehrten  das  Übel  ab  und  dienten  als  Amulette.  10) 

Nicht  so  einfach  liegt  die  Sache  indes  mit  den  „goldenen  Büchern", 
die  hin  und  Avieder  da  in  AnAvendung  kamen,  wo  es  sich  um  fromme 
Weihungen  in  den  Tempeln  handelte.  Es  sei  dafür  das  ßißUov  xqvoovv 
der  Aristomache  (Plutarch  Symposiak.  5,  2, 10)  und  die  xQvoer]  ßvßlog  des 
Themistagoras  (Athen,  p.  681 A ;  Etymol.  Magn.  p.  160, 29)  angeführt.  1 1)  Waren 
das  wirklich  ganz  in  GoldmetaU  nachgeahmte  Papyrusrollen?  oder  nur 
A'ergoldete?  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  sind  dies  vielmehr  aus  gOAA^öhn- 
licher  Charta  hergestellte  Rollen  mit  irgendAvelchem  Goldschmuck  gOAvesen ; 


auch  Edelmetall, 
Zinn 


Goldne 
Bücher 


*)  Siehe  Overbeck-Mau,  Pompeii 
S.  135. 

2)  Ebenda  S.  202. 

3)  Siehe  z.  B.  Pollux  Onom.  8,  128; 
v^l.  oben  S.  255. 

■*)  Plutarch  Solon  25. 

5)  GrARDTHAuSEN  S.  36;  N.  Reich  Über 
Miimientäfelchen  (Wessely,  Studien  zur 
Paläographie  und  Papyruskunde  Bd.  VIT, 
1908). 

^)   GrARDTHAUSEX   S.  37 ;    E.  ZiEBARTH, 

Aus  der  antiken  Schule,  Berlin  1910 (Kleine 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft. 


Texte  ed.  Lietzmann  Nr.  65). 

7)  Cic.  de  diA^in.  2,85;  Liv.  21, 62, 5 u.a. 

8)  Das  Rätselepigraram  Anthol.  Pal. 
14, 60  betrifft  dagegen  eine  Wachstafel,  Avie 
die  Erwähnung  des  Metallstilus  daselbst 
beweist. 

')  Gerolltes  Zinn  («aöö/re^o?')  beiPausan. 
4,  26,  8 ;  übrigens  GtArdthausen  S.  25  f. ; 
Larfbld  S.  435. 

1°)  Siehe  Siebourg  in  Bonner  Jahrbb. 
Heft  103  S.  135  ff. 

11)  Buchrolle  S.  222. 
B.    3.  Auf].  17 


258  ^^^  antike  Buchwesen. 

auf  diese  Annahme  führt  schon  die  Überlegung,  daß  circa  drei  Meter 
lange  Goldrollen  schwer  herzustellen  und  mit  Schrift  zu  bedecken  waren. 
Dieselbe  Annahme  Avird  erzwungen  durch  die  Analogie  des  goldenen  Hand- 
tuchs, y^eiQÖjnaxTQov  xQ^'o^ov,  des  Königs  Rhampsinit  bei  Herodot  2,  122; 
denn  dies  letztere  konnte  doch  unmöglich  ganz  aus  Metall  bestehen.  Es^ 
ist  nützUch,  sich  dabei  auch  noch  der  antiken  Goldwebereien  zu  erinnern. 
Das  Altertum  spricht  dabei  einfach  von  „Goldfäden'S  anri  suhtemina  (Verg. 
Aen.  3, 483  u.  sonst),  von  aurum  intexere  (Cvprian).  Diese  Goldfäden  waren 
aber  Streifchen  aus  vegetabilischer  Substanz,  die  nur  auf  der  einen  Seite 
vergoldet  wurden,  i)  Danacli  ist  also  das  goldene  Handtuch  des  Rham- 
psinit,  danach  sind  auch  die  „goldenen  Papyrusbücher''  zu  beurteilen. 
Daß  auch  Goldschrift  auf  der  Charta  gar  nichts  Seltenes  Avar,  Averden  Avir 
später  sehen. 
Bieiroiion  Bcsondcrs   sind  hier  aber  noch  die  biegsamen  Bleiplatten,   ^u6Xvßd(K, 

plumhea  volumina  (Plinius)  zu  notieren.  Sie  dienten  anfangs  auch  zu 
öffentlichen  Zwecken  (Plinius),  späterhin  zu  Briefen,  2)  zu  Anfragen  an 
das  Orakel,  3)  vorzüglich  aber  zu  Zauberspilichen,  die,  auf  Blei  geschrieben 
imd  eingerollt  oder  zusammengefaltet,  in  Gräber,  Totenkammem  oder  an 
sonstige  unterirdische  Plätze  gelegt  Avuixlen.  Sie  enthalten  regelmäßig  die 
Verfluchung  eines  A-erhaßten  Widersachers  und  überantAvorten  ihn  den 
Mächten  der  Hölle;  A^gi.  Dio  Cass.  57,  18.  Das  Bild  des  Verfluchten  ist 
oft  roh  mit  aufgezeichnet.  Grade  solche  magischen  Bleiplatten  sind  zahl- 
reich ausgegraben  Avorden,  auf  Knidos  und  Cjpern,  in  Italien,  Karthago, 
Trier  imd  sonst."*)  Begreiflich,  daß  sie  auch  einmal  in  den  Dienst  der 
Litteratur  getreten  sind;  imd  zAA^ar  fand  Pausanias  (9,31,4)  ein  Exemplar 
der  Erga  des  Hesiod  in  der  Gegend  des  Helikon  auf  (gerolltem)  Blei. 5) 
Wenn  Ausonius  neckisch  die  Gedichte  seines  Freundes  Theon  plumhea 
carmina  nennt  (p.  254  P.),  so  meint  er  damit,  daß  sie  schlecht  sind  (oder 
„ledern",  wie  Avir  sagen  Avürden);  aber  die  Erinnerung  daran,  daß  man 
auch  in  phtmbea  volumina  schrieb,  hat  ihn  wohl  zur  Wahl  dieses  Aus- 
drucks veranlaßt. 

12.  Bücher  aus  Leinen. 
Leinen  und  Dazu  kouimcn  cndlicli  noch  die  Bücher  aus  Leinen,    aus  Unum  oder 

carhasus:  die  lihri  lintei  Q^lmiu^),  yo/M??^ma  crtr^^a^ma  (Mart.  Capella).  Auch 
ihre  VerAvendung  hat  nichts  Auffälliges.  Denn  auf  ausgespanntem  Leinen 
zu  malen,  ist  uns  heute  etwas  Geläufiges  und  Avar  auch  den  Alten  nicht 
unbekannt.  Ich  erinnere  an  die  bemalte  Mmnienleinwand  der  Ägypter, 
aber  auch  an  die  Periakten  des  antiken  Theaters,  die  Avir  uns  als  Holz- 
rahmen mit  Bildern  auf  bemalter  LeinAvand  denken  dürfen;^)  vor  allem 
an  die  Schaustellung  A^on  Kriegsbildern  bei  den  römischen  Triumph- 
zügen,'^)  die,  Avie  es  scheint,  in  ähnlicher  Weise  hergestellt  Avaren.    Aber 

1)  Siehe  Blümner,  Terminologie  und      bellae,  Paris  1904:  F.  Bücheler,  Bonner 
Technologie  P  S.  169.  Jahrbb.  Heft  116  S. 291  ff.:  Wünsch  ebenda 

2)  Siehe  A.  Wilhelm,  Oesterr.  Jahres-      Heft  119  S.  1  ff. 

liefte  VIT  S.  94;  XII  S.  118.  !  ^)  Uebrigens  s.  Wattenbach  S.  47  f. 

3)  SIG.  428  f.  I  6)  O.PucHSTEiN,  Die  griechische  Bühne, 
")  Siehe  R.  Wünsch,  Inscr.  graec.  III   i   1901,  S.  24. 

Append.;  AuG.  Audollent,  Defixorum  ta-   j  "')  Vgl.  z.  B.  Semper,  Der  Stil,  I  S.  295. 


-;  ■^- 


I.  Beschreibstoffe.     12.  Bücher  aus  Leinen.     13.  Die  Wachstafel.  259 

auch  die  Theatennasken  wurden  aus  ö&ov)],  oi^oviov,  liergestellt  und  mit 
Farben  angestrichen:  Untea  simulacraA)  Auch  Baugrundrisse  und  Flur- 
karten Avurden  auf  Leimvand,  mappa,  getuscht  oder  gezeichnet.*)  So  hat 
man  dann  endlich  auch  auf  Wolle  oder  Leinwand  ireschrieben.  Attische 
Vasenbilder  zeigen  uns  z.  B.  wollene  Tänien,  auf  denen  Schrift  steht, 3) 
und  diese  Tänien  sind  es,  mit  denen  wir  nun  die  erwähnten,  mit  Schrift 
angefüllten  Leinenrollen,  die  Uhri  Unfei,  vergleichen  können.  Doch  werden 
die  Ubri  Untei  selten  und  nm^  für  Italien  und  vornehmlich  auch  nur  für 
die  alte  Zeit  Roms  und  im  Dienst  heiliger  Dinge  erwälint:  für  das  Jahr 
444  V.  Chr.  bei  Li\dus  4,  7,  12;*)  für  die  Samniten  im  Jahre  293  bei 
Livius  10,  38,  6.  Hat  der  späte  Kaiser  Aurelian  seine  Tagebücher  als 
lihri  l'mtei  geführt, 0)  so  war  das  offenbar  ein  Archaismus,  der  ganz  im 
Geiste  der  Zeit  Aurelians  lag. 

Der  späte  Symmachus  (a.  a.  0.)  kennt  dann,  Avie  die  Chinesen,  sogar     Sei<ie 
auch  seidene  K ollen,    serica  Volumina,   als  Bücher;    das   ist  etAvas,   Avovon 
beiläufig  schon  Properz  II  1,  6  geträumt  hat. 


Blicken  Avir  zunächst  zurück,  so  Avaren  etliche  der  Materialien,  die  Rtickbiick 
ich  besprochen,  nicht  nur  zu  kurzen  Aufschriften  und  Kritzeleien,  sondern 
auch  zur  Aufnahme  umfangreicherer  Texte  aa'oIiI  geeignet;  besonders  Xr.  1, 
3,  4,  7,  9,  10,  12.  Zugleich  aber  ergeben  sich  ihre  nachteiligen  Eigen- 
schaften A'on  selbst.  Entweder  war  die  Schreibfläche  zu  klein,  Avie  bei 
den  Ostraka,  oder  sie  Avar  flu*  die  Sclmellschrift  ungeeignet,  Avie  Bronze, 
Stein  und  LeinAvand.  Besonders  sei  herA'orgehoben,  daß  die  Form  des 
Heftens,  die  Zusammenfügung  A^on  Blattlagen  durch  Heftung  überall  un- 
bekannt ist.  Das  Rollen  ist  also  die  einzige  Form  der  Zusammenlegung 
der  Schreibfläche;  wir  lesen  von  plumbea  volumma,  carhasina  voliimina, 
mid  auch  für  die  ÖKp&eQai   läßt  sich  zunächst  nichts  anderes  nachAveisen. 

Eline  Avesentliche  Verbesserung  des  Schrift-  und  BuchAvesens  trat  nun 
aber  durch  Einführung  der  AVachstafel,  der  Chartarolle  und  des  Perga- 
mentes ein.  Durch  die  AVachstafel  wurde  die  Holztafel  (Nr.  10),  durch 
das  I^ergament  das  Fell  (Nr.  9),  durch  die  Papyrusrolle  endlich  soAvohl 
der  Bast  als  auch  das  Buch  aus  Leinen  (Nr.  7  und  12)  ersetzt  und  abgelöst. 
Aber  es  blieb  hier  zunächst  noch  bei  dem  Rollen,  und  A^on  Heftung  hören 
wir  nichts. 

13.  Die  Wachstafel. 

Die  A\'achstafel  Avar  den  Ägyptern  unbekannt   und   scheint   eine  Er- Wachstafei 
findung  der  Griechen,  ß)    Daß  sie  früh  auch  in  Rom  Eingang  fand,  zeigt 
die   alte  Fonnel  bei  Gaius  Inst.  II  104.     Auch  auf  den  Monumenten   der 
Etrusker  ist  sie  häufig  anzutreffen. ')  Die  Bezeichnungen  für  sie  schAA-anken 


^)  Isidor,  Orig.  10,  119.  1,74,3  erwähnt,  nicht  identisch  sein;  wohl 

2)  Gromatici  Bd.l  S.  154, 19;  II  S.  405;    I   aber  die  hgal  deXxoi   ebenda  1,  73,  1.     Zur 

Sache   vgl.  E.  Kornemanx,   Der  Priester- 
codex in  der  Kegia,  Tübingen  1912,  S.  13  ff. 
^)  Script,  bist.  Aug.,  Aurelian  c.  1,  H  f. 
*)  Isidor  Orig.  6,  9. 
')  Vgl.  z.  B.  Buchrolle  Abb.  60. 
17=== 


pREMERSTEix  a.  a.  O.  S.  744. 

')  P.  Jacobsthal  a.  a.  ü.  S.  405  Anm. 

*)  Diese  Uhri  Untei  können  natürlich 
mit  dem  alten  mva^,  dem  Holzcodex  der 
Pontifices,    den   Dionys    \'on   Halicamaß 


260  Das  antike  Buchwesen. 

Termino-  uiid  sind  niclit  immer  deutlich.  Das  Wort  mva^  {mvuxiov)  ist  ebenso  un- 
^"^^  bezeichnend  wie  oaviq  und  kann,  wie  dieses,  auch  das  nicht  mit  Wachs 
bezogene  Schreibbrett  (s.  Nr.  10)  bedeuten.  Doch  wird  darunter  vielfach 
speziell  die  Wachstafel  verstanden.  Ebenso  steht  es  mit  jiv^iov,  der  Holz- 
tafel aus  Bux,  ebenso  mit  lat.  caudex,  codex  (codicillus),  was  eigentlich 
auch  nur  den  Holzblock  bezeichnete,  dann  aber  im  engeren  Sinn  für  den 
in  Brettchen  zersägien  Holzblock  steht,  welche  Brettchen  mit  Wachs  über- 
zogen wurden  und  zum  Schreiben  dienten,  zusammengelegt  aber  doch 
immer  dem  Holzblock  glichen.  1)  Wir  können  nicht  scharf  genug  betonen, 
daß  das  Wort  codex  mit  Pergament  gar  nichts  zu  tun  hatte.  Von  erwünsch- 
tester Deutlichkeit  aber  sind  die  Ausdrücke  x)]Qog,  cera,  tiihula  cerafa. 

^^^^i!Sr^"  Es  handelt  sich  dabei  um  eine  rechteckige  Holzplatte  mit  vorstehendem 

Eand  oder  Rahmen,  ähnlich  imseren  Schiefertafeln,  doch  das  Ganze  aus 
einem  Stück ;  eine  Platte,  deren  Innenfläche  mit  schwarzem  2)  Wachs  aus- 
gefüllt war.     Bis  zur  Höhe  des  Rahmens  war  das  Wachs  gegossen. 

Die  in  Pomj)eii  gefundenen  Tafeln  des  lucundus  sind  nur  14  Zenti- 
meter hoch,  12  Zentimeter  breit.  Der  Römer  nennt  sie  deshalb,  weil  sie 
sich  mit  einer  Faust  umsi)annen  lassen,  auch  pugillares.  Am  geläufigsten 
aber  ist  tabulae,  tahellae,  welches  Wort,  wie  wir  sehen  werden,  nur  die 
Fläche  bedeutet  und  weder  mit  Holz  noch  mit  Wachs  an  und  für  sich 
etwas  zu  tun  hatte. 

Man  ritzte  in  das  Wachs  die  Buchstaben  mit  Hilfe  des  sülus,  eines 
spitzen  Metallstiftes,  und  die  geritzte  Schrift,  die  den  Holzgrund  freilegte, 
schimmerte  weiß  in  dem  dunklen  Wachs.  Mit  dem  anderen,  breiteren 
Ende  des  stilus  glättete  man  —  stilum  vertens  —  die  Schrift  wieder  fort, 
wenn  sie  ausgedient  hatte. 

der^Schrift  Beim  Schreiben  galt  nicht  immer,    wie    Avir  vielleicht   erwarten,    der 

schmalere  Rand  der  Tafel  als  oben  und  unten,  sondern  zumeist  vielmehr 
ihre  Langseite,  so  daß  die  Zeilen  also  vom  Schreibenden  parallel  dieser 
Langseite  gerichtet  wurden ;  dies  wird  durch  viele  der  erhaltenen  Wachs- 
tafeln, z.  B.  die  aus  Pompeji,  bcAviesen  und  durch  Bildwerke  bestätigt, 
wie  ich  sie  Buchrolle  S.  200  ff.  besprochen;  vgl.  besonders  A.  Brinkmann, 
Rhein.  Mus.  66  S.  152  f. 

Eifonbein-  Aucli  Elfenbeintafeln  werden  erwähnt;  in  ihnen  wurde  die  Schrift 

tafeln 

direkt  auf  das  Elf^bein  aufgemalt;  so  bei  Martial  14,  5.3)  GelegentHch 
wurden  sie  aber  auch  mit  Wachs  überzogen.*)  Die  eleganten  Leute 
schrieben  ihre  Briefe  darauf.  Späterhin  hören  Avir  auch  von  einem  Senats- 
dekret auf  Elfenbein,  das  der  Kaiser  Tacitus  eigenhändig  unterschrieben 
hatte,  und  zwar  heißt  dies,  Script,  hist.  Aug.  Tacitus  cap.  8,  liber  elephau- 
tiniiSy  mit  dem  amplifizierenden  Zusatz:  nam  diu  Jiaec  senatus  consulta 
quae  ad  'pnncipes  pertinebant,  in  lihris  eleplianünis  scribehantur.  Dieser 
Zusatz  klingt  schwindelhaft,  im  Stil  der  Schlußred aktion  des  Historien- 
Averkes  der  Scriptores  historiae  Augustae;    der  Ausdruck  Über  —  der  bis 


1)  Vgl.  De  Petra  in  Atti  dei  Lincei,  ^^ygi.  auch  Augustinus  epist.  15  (Opera 
Serie  II  Bd.  II  S.  151.                                          ed.Maur.II  19);  Paoli  S.7;  Gardthausen 

2)  Doch  gab  es  auch  andere  Farben:  1    S.  39. 

Ps.Asconius  p.  193,  23  ed.  Stangl.  '  *)  Siehe  Wattenbach  S.  81. 


I.  Beschreibstoffe.     13.  Die  Wachstafel. 


261 


zum  4.  Jahrhundert  nur  Bastrolle  bedeutet  —  kann  für  ein  nicht  lollbares 
Schriftstück  erst  im  5.  Jahrhundert  aufgekommen  sein. 

Über  die  Wachstafeln  des  Bankiers  L.  Caecilius  lucundus  in  Pompeji  ^^^*^^®"^ 
vgl.  Th.  Mommsen,  Schriften  III  S.  221  ff.;  F.  Bernabei  in  Atti  dei  Lincei,  tafein 
Serie  II  Bd.  III  3;  CIL.  lY  suppl.  p.  297;  A.  Mau,  Pompeji^  S.  516  f.  Die 
in  Siebenbürgen  gefundenen  Wachstafeln  sind  CIL.  III  p.  921  abgedruckt. 
Die  Assendelfter  Wachstafeln  in  Leiden,  die  uns  Schulschreibübungen  mit 
Babriostext  geben,  s.  bei  0.  Crusius,  Babrii  fabulae,  ed.  maior,  Taf .  II  u.  III. 
Wachstafeln  in  Berlin:  s.  Schubart  S.  17f.;  in  Paris:  s.  S.  Eeinach,  Traite 
d'epigraphie  grecque,  1885,  S.  298.  Konsularische  Elfenbeindiptycha:  s. 
Marquardt-Mau ,  Privatleben  S.  545  f.  und  W.  Mever,  Abhandl.  d.  bayer. 
Akad.  XV,  1881. 

Indem  man  zwei  Tafeln  zusammenfügte,  entstand  das  sogenannte  Dip-  Diptychon 
tychon;  durch  Zusammenfügung  mehrerer  das  Triptychon,  Polyptychon. 
Das  Diptychon  Avar  dann  das  Vorbild  für  jene  Militärdiplome,  die  aus  je 
zwei  Bronzetäfelchen  zusammengesetzt  wurden  (oben  S.  251).  Die  Ver- 
bindung der  Wachstafeln  wurde  durch  Schnüre  oder  durch  Ringe  an  der 
einen  Langseite  hergestellt.  Die  Seite  des  Diptychons,  an  der  die  Schnüre 
oder  Ringe  sich  befanden,  entsprach  also  dem  modernen  Buchrücken,  und 
darum  konnte  späterhin  aus  der  Nachahmung  eines  solchen  Polyptychon 
das  geheftete  Pergamentbuch  entstehen,  i)  Die  Triptycha  Pompejis  sind 
kleine  Bücher  von  sechs  Seiten.  Seite  1  und  6,  die  außen  liegen,  bleiben 
unbeschrieben.  Die  großfigurigen  Mosaiken  des  5.  und  6.  Jahrhunderts 
in  den  Kirchen  und  Kapellen  Ravennas  und  Roms  geben  uns  ^'on  man- 
chem Detail  solcher  Codexbücher  die  sorgfältigsten  Abbildungen.  Wir 
ersehen  daraus,  daß  die  Deckel  oft  mit  Edelsteinen  geschmückt,  das 
Tafelbuch  selbst  vorn  mit  einem  Riegel  geschlossen,  übrigens  auch  mit 
in  Schleifen  gebmidenen  farbigen  Bändern  versehen  ist. 

Zum  Verschhiß  der  Wachstafeln  wichtigeren  Inhaltes  diente  Schnürung  ^^^,^^ß" 
mit  aufgesetztem  Siegel.  Um  die  Schnur  anzubringen,  wurden  die  Wachs- 
tafeln in  ihrer  Mitte  durchbohrt  und  durch  dies  Loch  die  Schnur  hindurch- 
gezogen, die  dann  um  das  Ganze  mehreremal  herumlief,  worauf  das 
festigende  Siegel  kam. 2)  Nur  bei  solchem  Verschluß  hatten  Tafeln  ge- 
schäftlichen Inhaltes  Rechtsgültigkeit;  s.  Paulus  Sent.  5,  25,  6.  Das  Öffnen 
des  Verschlusses  war  mühsam ;  man  tat  es  nur,  wenn  das  Geschäft  es  eben 
erforderte,  und  der  Schriftinhalt  der  Tafeln  wurde  deshalb  in  abgekürzter 
Fassung  zur  raschen  Orientierung  auf  den  Außenflächen  derselben  noch 
einmal  mitgeteilt. 

Es   aab    aber   noch    eine   andere  Methode,    mehrere  Wachstafeln,    be-    ^Qf^^doi, 

^  .      .  1  •      T  •      1  ketten- 

sonders  wenn  sie  zahlreich  waren,  mitemander  zu  verbmden,  indem  man  weise  ver- 
sie  nämlich  nicht  alle  nach  Art  unserer  Bücher  durch  Ringe  oder  Schnüre    ^^afein^ 
an  der  einen  Seite   zusammen   befestigte,    sondern   sie   mappenartig   oder 
wie  die  Seiten  in  der  Papyrusrolle  alle  nebeneinander  legte  und  die  erste 


1)  Diese  Erklärung  reicht  aus,  und  (he  ist  unnötig. 

Hypothese  über  die  Erfindung  des  geh ef-  \           »)  Vgl.  Lucian  Pseudomantis  21;  Er- 

teten  Buches,  die  A.  W.  Unger,  Wie  ein  man     in     Melanges    Nicole,     Genf    1905, 

Buch  (mtsteht,  2.  Aufl.  1909  S. 4,  aufstellt,  i   S.  11«  f. 


262  Das  antike  Buchwesen. 

Tafel  nur  mit  der  zweiten,  die  zweite  nur  mit  dei*  dritten  u.  s.  f.  verband, 
so  daß,  AVer  das  Ganze  auseinanderklappte,  einen  aus  Wachstafeln  kom- 
ponierten langen  Streifen  vor  sich  Hegen  sah.  Das  heißt:  die  Tafeln  bil- 
deten Ketten,  ogjua&oL  Abbildungen  solcher  verketteten  Polyptycha,  die 
aufgeklappt  daliegen,  hat  uns  die  Notitia  dignitatum  erhalten,  i)  wo  man 
sechs  Tafeln  Avie  sechs  Seiten  aufgeschlagen  nebeneinander  liegen  sieht. 
Diese  Tafeln  sind  die  xfjQCüjuara,  die  man  nmneriei-te  und  nach  Zahlen 
zitierte,  und  ihre  Komposition  ist,  wie  gesagt,  der  Papyrusrolle  analog. 
Der  irrt  gewiß,  wer  glaubt,  daß  dies  selten  vorkam;  auf  alle  Fälle  lege 
ich  Wert  darauf,  nachweisen  zu  können,  daß  auch  dies  Verfahren  alt  wai* ; 
denn  sclion  bei  Theophrast,  Charakt.  6,  8  tritt  jemand  auf,  der  ÖQjuador:; 
\  yQajUjuaTEiölwv   trägt.     Aber   niemand    scheint    diese    Notiz    verstanden    zu 

haben.    In  der  Leipziger  Ausgabe  der  Charaktere  S.  55  wird  der  Ausdruck 
sehr  verkehrt  als  „Bündel",  fasces,  Öeojuai.  mißdeutet.  og/Ltai^og  heißt  „Kette". 
AuOiäiitfon  j^  ^QY  Geschäftspraxis   der  älteren  Zeit   Avar   es   üblich,    solches   aus 

;  wachsüberzogenen  Brettchen  zusammengesetztes  Buch  aufzuhängen,  ent- 
w^eder  an  einer  Schnur,  die  in  dem  dm-clilöcherten  Eande  steckte,^)  oder 
durch  zwei  Henkel  oder  Öhren,  die  bald  seitlich,  bald  auch  am  Kopfende 
der  Tafeln  angebracht  waren.  Das  gilt  schon  von  der  Praxis  der  Athener; 
s.  IG.  IX  1,  705  und  IX  682,  ja,  es  ist  schon  für  die  archaische  Zeit  der 
Griechen  nachgeAviesen.»)  Bei  den  Römern  heißt  dies  codex  ansatus.  Auch 
auf  den  Bildern  der  Notitia  dignitatum,  Orient,  c.  16,  Occident.  c.  17,  kann 
man  die  ansäe  an  solchem  Codex  wahrnehmen. 
zäiiiunfj  J){q  Codices  ansati  aber  nahmen  oftmals  erheblichen  Umfanp-  an.  Darüber 

der  Tafeln       .  .  .     .  " 

und  Kapitel  gibt  uus  die  Bronzctafcl  aus  Sardinien,  CIL.  X  7852  A^om  Jahre  68  n.  Chi*. 
Auskunft,  die  dereinst  Mommsen,  Hermes  II  S.  103,  interpretierte.  Es 
liandelt  sich  um  die  Worte:  descriptum  et  recognitum  ex  codice  ansato  L. 
Helvi  Ägrippae  procons  quem  protuUt  Cn.  Egnatiiis  Fuscus  scriha  quaestorius 
in  quo  scriptum  fuit  it  quod  infra  scriptum  est  eqs.  Der  hier  voraus- 
gesetzte, aus  etlichen  AVachstafeln  (tabulae)  zusammengesetzte  Codex  ent- 
sprach also  einem  übersichtlich  geordneten  Aktenband:  jede  Tafel  ein 
Aktenstück:  so  Avie  Hygin  p.  200  einen  aus  drei  Tafeln  zusammengefügten 
Codex  erAA'ähnt.  Die  Tafeln  müssen  aber  in  diesem  Fall  ziemlich  groß 
oder  ihre  Schrift  sehr  eng  gOAvesen  sein;  denn  eine  einzebie  Tafel  hat 
nach  Aussage  der  Inschrift  acht  oder  zehn  Abschnitte  (capita  oder  viel- 
leicht richtiger  ceromata).  Zum  Vergleich  hat  man  die  Inschrift  A^on  Gropos 
IGS.  I  413  mit  Nutzen  herangezogen,*)  avo  es  sich  um  Protokolle  von 
Rechtssachen  A^or  dem  Konsulargericht  handelt  und  sich  eine  Zitierung 
mit  der  Ortsangabe  deArco  jzqcoti]  x^jQcojuari  reooaoeoxaLÖeTidxw  findet.  Wahr- 
scheinlich sind  die  Wachstafeln  in  diesen  Fällen  in  der  Weise,  Avie  Theo- 
phrast es  bezeugt,  kettenweise  miteinander  verbunden  gcAvesen  als  lange 
Serie,  deren  xfjgwjuaTa  sich  AAie  die  Kolumnen  der  Papyrusrolle  aus- 
nahmen. Dabei  gilt  es  nun  noch  zu  beachten,  daß  solche  konsularische 
imojuvijiLiara,  Avie  aus  Plutarch,  Anton.  15,  zu  ersehen,  nicht  nur  als  Wachs- 


'I 


)  Siehe  z.  B.  Gardthausen  S.  129.  *)  Vgl.  Mommsen,   Hermes  20  S.  280 

Gardthausen  S.  41  f.  und  Premerstetn  a.  a.  O.  S.  734. 

Jacobsthal  a.  a.  O.  S.  465  Anm.       ' 


Ab- 
bildungen 


I.  Beschreibstoffe.     13.  Die  Wachstafel.     14.  Die  Papyrusrolle.  263 

tafeln,  sondern  auch  als  ßtßUa,  d.  li.  als  wirkliche  Chartarollen  gefühlt: 
wurden.  Es  a\  ar  also  Mode  geworden,  den  Wachstafelcodex  auch  in  solche 
Rollen  zu  übertragen,  und  das  öekTM  der  oropischen  Inschrift  entspricht 
dem  ßlßlcp,  das  x7]Q(6juart  entspricht  dem  xoXh'jjuaTi  des  Rollenbuchwesens. 
Die  numerierten  „Kapitel''  aber,  in  die  da  jede  dehog  oder  jede  tabula 
zerfiel,  waren  ohne  Zweifel  ganz  kurzgefaßte  und  unter  Rubriken  ge- 
stellte Notizen  nach  Art  der  lihri  annafes  oder  Jahrbücher.  Denn  der 
liher  annalis  wird  uns  anschaulich  als  amionim  capifularib-  definiert  (Corp. 
gloss.  lat.  lY  17,  10),  Avoraus  Avir  erkennen,  daß  in  einem  solchen  „Jahr- 
buch" die  kurzen  Notizen,  die  das  eine  Jahr  betrafen,  unter  Rubriken,  per 
rapifa,  disponiei-t  standen.  Denn  für  capita  hat  das  oben  von  mir  in  dei- 
Kritik  und  Hermeneutik  S.  12  Anm.  2  Gesagte  zu  gelten. 

Endlich  sei  hier  noch  auf  ein  paar  Abbildungen  hingewiesen.  Als 
eine  gewaltig  große  mas^sa  erscheinen  die  tabulae  ceusu^  dargestellt  auf 
einem  Altarrelief  im  LouA^re  (bei  A.  \.  DomaszcAvski,  Abliandl.  zur  röm. 
Religion  S.  228)  ;i)  ebenso  mächtig  das  Geschäftsbuch  des  Kaufmanns  und 
Ladeninhabers  auf  dem  Relief  der  Uffizien,  Dütschke,  Antike  BildAA'.  in 
Oberitalien  III  Nr.  507  (dazu  Nr.  533).  Diese  Bilder  dienen  uns  als  treffliche 
Illustration  zu  dem  grandis  codex,  in  den  der  Bankier  bei  Juvenal  7, 110 
die  Schuldposten  oder  nomina  einträgt.  Solche  Holzcodices  AA^aren  gradezu 
Lasten,  und  es  AA^ar  ein  Glück,  daß  die  Litteratur  sich  ihrer  nicht  zu  be- 
dienen brauchte. 

14.  Die  Papyrusrolle. 

Etwa  gleichzeitig  mit  der  Wachstafel  mag  bei  den  Griechen  die 
ägyptische  Papyrusrolle  in  Gebrauch  gekommen  sein.  Sie  Avar  und  blieb 
Import  und  Unterägypten  die  einzige  Produktionsstelle.  Um  der  Wichtig- 
keit des  Gegenstandes  \\'illen  muß  hierbei  ausführlicher  verAA^eilt  Averden. 

TtdjivQog  hieß  nie  das  Buch,  2)  sondern  immer  nur  das  Schilf,  aus  dem  i'apyrus- 
jenes  hergestellt  AA^urde.  Die  Staude  gedieh  im  Nildelta,  in  sumpfigen  z^mgen 
Seitenarmen  des  Nilstroms.  Aus  ihr  wurde  nicht  nur  Schreibpapier,  son- 
dern auch  Nachen,  Teppiche,  Schuhe,  Lichtdochte  u.  a.  hergestellt,  sie 
diente  auch  als  Speise  zur  Volksernährung,  und  daher  genügte  ihr  Wild- 
Avuchs  durchaus  nicht;  vielmehr  wMirde  sie  künstlich  gezüchtet  und  auf 
das  sorglichste  angepflanzt  {äoxelrai  fj  ßvftXog,  sagt  Strabo  p.  800),  und  zAA^ar 
reihen Aveise  in  Abständen,  so  daß  immer  ein  Mann  hindurchgehen  konnte :  3) 
ein  Betrieb,  der  dort  etwa  seit  dem  3.  Jahrtausend  v.  Chr.  bestanden  hat. 
Ein  PachtA^ertrag  ist  erhalten,*)  der  eine  Papyrusanpflanzung  betiifft  und 
dem  Pächter  ein  Pachtgeld  von  in  Summa  fünftausend  Drachmen  per  Jahr 
und  außerdem  noch  Naturalheferungen  auferlegt.  Zeitweilig  hat  die  Regie- 
rung auch  Steuer  A^om  Ertrag  erhoben  (Script,  histor.  Aug.  AureHan  cap.45). 
Ein  kaiserliches  Papyrusmonopol  hat  dagegen  scliAA'erlich  bestanden. 0)    Im 

1)  Ueber  diese  tabulae  censoriae  s.  *)  Siehe  Schubart,  BGU.  4, 1121  S.  211 : 
1*remer8tp:in  S.  733.  i  Gtardthausen  S.  53. 

2)  Ausnahmen  zu  diesem  Satz  bei  i  ^)  So  Fr.  Zucker,  Philol.  70  S.  79  1". 
K.  Uxger  im  Cirisprogramm,  Halle  1885,  1  Dagegen  Mittbis-Wilcken  a.  a.  O.  S.  255 
S.  20.  '  und  IX.   Man  nimmt  an,  daß  die  Papyrus- 

3)  Genaueres  Buchrolle  S.  6.  fabrikation  Kronregal  der  römischen  Kaiser 


264  I>as  antike  Buchwesen. 

Mittelalter   ging  im  10. — 11.  Jahrhundert   mit  der  Kultur  Ägyptens  aucli    i 
diese  Staude  und  damit  auch  die  Produlition  der  charta  ein.  « 

ßvßXog,  j)[q  Pflanze  hieß  auch  ßvßlog,  insbesondere  nennt  Theophrast  so  das 

Mark  ihrer  Stengel,  i)  und  ßvßXog,  ßvßXiov  wurden  dann  Bezeichnungen 
für  das  Papjrusbuch  selbst.  Überdies  aber  tritt  uns  als  spezifische  Be- 
zeiclinung  für  das  aus  dem  Mark  des  Schilfes  mühsam  hergestellte  Schreib- 
material das  Wort  charta,  6  /dgTrjg,  entgegen.  2)  ydgrfjg  bezeichnet  dann 
vorwiegend  das  Buch  als  Beschreibstoff,  ßvßXog  vorwiegend  das  Buch  als 
Schriftwerk;  3)  x^Q'^^^  ßvßUcov  verband  Theopomp.*) 

Wo  immer  das  Wort  ydQT}]g  vorkommt,  haben  wir  an  den  aus  Papyrus 
gefertigten  Beschreibstoff  zu  denken. 0)  Frühestens  erst  seit  dem  5.  Jahr- 
hundert n.  Chr.,  ja,  meines  Wissens  erst  für  die  eigenthch  byzantinische 
Zeit  ist  eine  Übertragung  des  Wortes  charta,  ydQn^g  auf  andere  Beschreib- 
stoffe, wie  z.  B.  auf  das  Pergament,  nachweisbar.  Wird  einmal  plumhea 
Charta  verbunden  (Sueton  Nero  20;  ebenso  einmal  Josephus),  so  ist  charta 
nicht  Blei;  anderenfalls  brauchte  plumhea  ja  nicht  dabei  zu  stehen;  son- 
dern der  vSinn  ist,  daß  in  diesem  Falle  das  Chartaröllchen  in  Blei  nach- 
geahmt war.  In  diesem  Zusammenhang  sei  auch  die  Inschrift  CIA.  III  48 
besprochen,  deren  Worte  rag  Tragaot^jueiMoeig  rag  .  .  .  äjio/Äejuevrjxviag  h 
ßißUoig  eire  diq)d^eQaig  T]  xal  ydoimg  f]  ev  olg  dijjior  ovv  y^aju/xareloig  nicht 
richtig  aufgefaßt  zu  werden  pflegen.  Hier  herrscht  kein  Pleonasmus, 
sondern  es  werden,  wie  auf  der  Hand  liegt,  mit  di(pdegai  und  xdgrai  nur 
zwei  Sorten  von  ßißUa  unterschieden,  und  wir  haben  also  Parenthese  an- 
zusetzen: ev  ßißXioig  {ehe  Sicpi^egaig  y  xal  ycigraig)  i]  ev  olg  drjTioT  ovv  yoati- 
juaTeloig.  Das  Wort  ßißUov  steht  hier  also  nicht  in  stofflicher  Anwendung, 
sondern  heißt  nur  „RoUe"  ohne  Rücksicht  auf  das  Material,  aus  dem  sie 
besteht.  Diese  unstoffliche  Bedeutung  hat  nur  das  Deminutivum  ßißllov 
gelegentlich,  nie  aber  das  Wort  ßißXog  selbst  annehmen  können  (s.  unten). 
Stets  aber  heißt  ßißXiov  „Rolle". 

Fabri-  Einen  Fabrikationsbericht  gibt  uns  nur  Plinius  nat.  bist.  13,  74 ff . 

Der  Bericht  lautet  folgendermaßen: 

und  daß  die  Einkünfte  der  Kaiser  daraus  ;  sich  Firmus   von   allen   anderen    Kaisern 

beträchtlich    waren;    so    auch    Blümner,  ujiterscheidet  und   augenscheinlich  auch 

Technologie  S,  328.   Es  scheint,  daß  man  unterscheiden  will :  schon  mit  seinen  Ein- 

dies  vornehmlich  aus  der  Nachricht  über  i  künften  aus  Papier  und  Kleister   könne 

den   Kaiser   Firmus   folgert,    Script,  hist.  j  er  ein  Heer  ernähren. 

A\ig.YiTm..S,2: perhihetur  et  taiitumJmbuisse  j  ^)  Buchwesen  S.  13,  2. 

de  ehartis,    ut  publice   saepe    diceret    exer-  |  ^)  Leber cÄ^zr^as.E.WüNSCH bei Pauh- 

citiim  se  alere posse papyro  et  glutine.   Aber  i  Wissowa  EE.  III  S.  2185  f.;  über  die  lat. 

das    Gegenteil    folgt    aus    dieser    Stelle.  I  Orthographie  carta  E.  Bährens  in  Fleckeis. 

Hätten  auch  alle  anderen  Kaiser  dieselben  i  Jahrbb.  1872  S.  785;    Georges  im  Archiv 

Revenuen  wie  Firmus  aus  den  chartae  be-  i  f.  Lexikogr.  I  S.  272  f. 

zogen,  so  war  es  nichts  Besonderes,  daß  !  ^)  Vgl.  Mitteis-Wilcken  a.  a.  O.  I  1 

auch  Firmus  sie  hatte,  und  er  hätte  keinen  |  S.  XXXI   und  I  2  S.  163  Anm.  zu  ßiß/.og 

Anlaß  gehabt,  das  so  hervorzuheben.    Fir-  |  leQanxtj,  Nr.  137 


mus  hatte,  bevor  er  Kaiser  wurde,  in 
Aegypten  schon  als  betriebsamer  Ge- 
schäftsmann gelebt  und  hatte  als  solcher 
dort  die  meisten  Papyrusfabriken  an  sich 
gebracht.  Dies  ist  das  wahrscheinlichste. 
Erst  wenn  man  dies  ansetzt,  hatte  die 
„häufige"    Renommage    Sinn,    durch    die 


*)  Siehe  ÜEgi  vtpovg  43,  2  (Buchwesen 
S.  33,  2),  woran  trotz  Athenaeus  S.  67  E 
nicht  zu  ändern  sein  wird. 

5)  Ganz  irrig  hierüber  Gardthausen 
S.  49.  JioJivQog  .  .  .  d(p'  Yjg  6  yaQzrjg  JxaQa- 
oxevdCexai  Dioskorid.  1,  115;  papyrum  ad 
Chartas  paratum  Digest.  32,  52,  6. 


I.  Beschreibstoffe.     14.  Die  Papyrusrolle.  265 

(74)  Praepanitur  ex  eo  (sc.  papyro)  chwta  clivisa  acu  in  prae-  Piinius 
teniies  sed  quam  latissimas  "^philyrasA)  Principafus  medio  atque  inde  ^^''^^  ^' 
scissurae  ordine. 

^Primay  hieratica  appellatitr,  antiqultns  religiosis  tcmtum  volu- 
ö  mm'ibus  dicatcij  quae  adulaüone  Augusti  nomen  accepit  sie  ut  secunda 
Liviae  a  coniuge  eins.  Ita  descendit  hieratica  in  tertiiim  nomen. 
(75)  Proxhnum  amphifheatricae  datum  fuerat  a  confecturae  loco:  ex- 
cepit  haue  Romae  Fanni  sagax  officina  tenuatamque  curiosa  inter- 
polaüone  principalem  fecit  e  plebeia  et  nomen  ei  dedit;  quae  non  esset 

10  ita  recuratay  in  suo  mansif  amphitheatrica.  (76)  Post  hnnc  Saitica  ab 
oppido  uhi  maxima  fertilitas,  ex  viliorihus  ramentis  propiorque  etiam- 
num  cortlci  Taeneotica  a  vicino  loco,  pondere  iam  haec,  non  honitate 
veualis.  Nam  emporitica  inutilis  scribendo  involucris  chartarum  seges- 
triumque  mercibus  usum  praebet,  ideo  a  mercatoribus  cognominata.  Post 

15  haue  papyrum  est  extremumque  eins  scirpo  simile  ac  ne  funibus  quidem 
nisl  in  umore  utile. 

(77)  Texitur  omnis  madente  tabula.  Nili  aqua  turbidum  liquorum 
glutinis  praebet.^)  In  rectum  primo  supina  tabulae  schida  adlinitur, 
longitudine  papyri  quae  potuit  esse  resegminihus   utrimque  amputatis: 

20  traversa  postea  crates  peragit.  Premitur  cleinde  prelis;  (82)  postea 
malleo  tenuatur  et  glutino  percurritur  iterumque  concrispata  ^)  erugatur 
atque  extenditur  malleo.  {11)  Et  siccantur  sole  plagulae  cdque  inter 
se  iunguntur,  proximanim  semper  bonitatis  deminutione  ad  deterrimas. 
Xumquam  plures  i^capo  quam  vicenae. 

25  (78)    Magna    in    latitudine    earum    differentia:    XIII   digitorum 

optimis,  duo  detrakuntur  kieraticae,  Fanniana  denos  habet  et  uno 
minus  amphitheatrica;  pauciores  Saitica  nee  malleo^)  sufficit:  nam 
empor iticae  brevitas  sex  digitos  non  excedit. 

Praeterea  spectatur  in  chartis  tenuitas,  densitas,  candor,  levor. 

80  (79)  Primatum  mutavit  Claudius  Caesar.   Nimia  quippc  Äugustae 

tenuitas  tolerandis  non  siifficiebat  calamis:  ad  hoc  tramittens  litteras 
Uturae  metum  afferebat,  ex  aversis,  et  alias  indecoro  visu  per  tralucida. 
Igitur  e  secundo  corio  stamina^)  facta  sunt,  e primo  subtemina.  Auxit 
et  latitudinem  pedali  mensura.     (80)  Erat  et  cuhitalis  macrocollis,  sed 

;{5  ratio  deprehendit  vitium  unius  schidae  revulsione  plures  infestante 
paginas:  ob  hoc  praelata  omnibus  Claudia.  Äugustae  in  epistuUs  auc- 
toritas  relicta.  Liviana  suam  tenuit,  cui  nihil  e  prima  erat,  sed  omnia 
e  secunda. 

(81)  Scabritia  levigatur  dente  conchave,  sed  caducae  litterae  fiunt: 

40  minus  sorbet  politura  charta,  magis  splendet.  Rebellcd  saepe  umor 
incuriose  datus  primo,   malleoque  deprehenditur  auf  etiam  odore,   cum 

' )  phüyras  cod.  M,   aber   anscheinend       die  Aenderung  constricta,  die  man  meistens 
P  aus  F  korrigiert:  phylitras  B.,  philuras  a.    |    bevorzugt,  im  gleichen  Sinne  möglich  ist. 
2)  So   M;    turbidiis    liquorum    glutinis   \  *)  mallio  die  B.ss:  dsis  nee  malleo  suffieit 


praehet  E.     Vulgatlesung :   turbidus  liquor 
vim  glutinis  praehet. 

3)  So  concrispata  nach  Konjektur ;  con- 
scripta  die  Hss. ;  ich  gestehe  zu,  daß  auch 


ist  von  mir  im  Centralblatt  f.  Bibliotheks- 
wesen S.  560  erklärt. 

^)statumina  die  Handschriften ;  s.  Buch- 
wesen S.  233. 


266  Das  antike  Buchwesen. 

fuit  indUigentior.  Deprehenditur  et  lentigo  ocidis,  sed  inserfa  7nediis 
glutinamentis  taenea  fungo  "^'papyri^)  hihula  vix  nisi  littera  fundente 
se.     Tantum  inest  fraudis.     Alius  igitur  iterum  texendis  labor. 

45  (82)  Glutinum  vulgare  e  poUinis   flore   temperatnr  fervente  aqua^ 

minimo  aceti  aspersu:  nam  fabrile  cummisque  fragÜia  sunt.  Biligentior 
cura  moUia  panis  fermentati  colata  aqua  fervente:  miiiimum  hoc  inter- 
gerivi  atque  etiam  Nili  lenitas  superatur. 

Ita  fiunt^)  longinqua  monimenta.  Tiheri  Oaique  Gracchovum  manus 

50  apud  Pomponium  Secundum  vatem  eivemque  cJarissimum  vidi  annos 
fere  post  ducentos:  iam  vero  Clceronis  ac  divi  AugustiVergi/ique  saepc- 
jiumero  videtmis. 

Es  schien  mir  zweckmäßig,  den  ganzen  Pliniustext  hier  vorzuführen. 
Eine  eingehende  Interpretation  dieses  Textes  habe  ich  dereinst  in  meinem 
„Buchwesen"  S.  243  ff.,  eine  Revision  derselben  im  Hinblick  auf  Dziatzkos 
Untersuchungen  S.  37  ff.  im  Centralblatt  f.  Bibliothekswesen  1900  S.  553  ff. 
gegeben.  3)  An  dieser  Stelle  sei  nur  einiges  Wichtigere  hervorgehoben. 
Wpton'^  Die  Charta  wurde  in  Fabriken,  confecturae,    zu  Alexandria,    Sais  und 

an  anderen  Plätzen  des  Nillandes  selbst  liergestellt ;  nur  zeitweilig  bestand 
eine  solche  Fabrik,  die  des  Fannius,  auch  in  Rom.*)  In  der  späteren 
Kaiserzeit  war  nur  Alexandria  Produktionsort. 5)  charta  conficitur  sagt 
auch  Kaiser  Hadrian  in  seinem  Brief,  der  die  ägyptischen  Verhältnisse 
anbetrifft.  6)  Die  Fabrik  heißt  chartaria  officina,  die  Beschäftigten  heißen 
chartarii  (Diomedes  p.  326  K.).  Die  stadtrömischen  Inschriften  CIL.  VI  9255  f. 
zeigen,  daß  es  chartarii  auch  in  Rom  gab.  Daraus  folgt  aber  nicht  etwa 
die  Existenz  von  Fabriken  in  Rom.  Es  gab  an  den  in  Rom  aufges[)eicheii;en 
fertigen  chartae  immer  genug  zu  flicken  und  nachzubessern.  Auch  der 
Umstand,  daß  die  Juristen  Digest.  32,  52  von  den  chartae  noch  papyrurn 
ad  Chartas  parat  um  oder  Chartas  nondum  perfectas  unterscheiden,  beweist 
durchaus  nicht,  daß  es  nach  Fannius  noch  irgendwelche  Chartafabriken 
außerhalb  Ägyptens  gegeben  hätte. '^)  Die  Bestimmungen  des  römischen 
Rechts  betreffen  ja  nicht  nur  Stadtrömer.  Jene  Worte  der  Digesten  be- 
ziehen sich  auf  solche  römischen  Bürger,  die  Papjrusfabriken  in  Ägypten 
besaßen,  s) 
Blatt  Das  Mark  des  Schilfes  wurde  in  möglichst  lange  und  dünne  Streifen 

zerlegt,  die  scissurae,  auch  inae  heißen.  Die  innersten  Teile  des  Marks 
lieferten  das  beste  Material.  Bei  Plinius  ist  Zeile  2  für  in  praetenues 
philyras  mutmaßlich  in  praetenues  fissuras  zu  lesen. 9)  Geschah  das  Zer- 
legen mit  einer  Nadel,  acUy  so  muß  diese  Nadel  sehr  stark  und  groß  ge- 


*)  Es  dürfte   pariter   statt  papyri   zu       identisch,    der   nitro    capsas  |et    imagines 
lesen  sein;  s.  Buchwesen  S.  246.  j    defert,  d.  h.  ausbietet;  s.  Buchrolle  S.  297 

2)  ita  sini  die  Handschriften.  \   Anm.  3. 

)  ^  gl-  j^^zt  auch  H.  Blümner  in  Ter-   |  ^)  Riese,  Geograph!  lat.  minores  S.  IIH. 

minologie   und   Technologie   der   Künste    |  ^^  Script.hist.  Aug^Saturninus  cap.8,6 

und  Grewerhe,  2.  Aufl. ;  Mitteis- WiLC KEN  -    ^^  ^ 

a.  a.  O.  S.  XXVIII  f. 

*)  Buchwesen  S.  228.  Der  Fabrikant 
Fannius,  den  Plinius  nennt,  war  vermut- 
lich.mit  dem  Fannius  bei  Horaz  Sat.1,4,21 


)  H.  Blümner,  Die  röm.  Privatalter- 
tümer S.470,  äußert  sich  über  diesen  Punkt 
unsicher. 

8)  Vgl.  Buchwesen  S.  228. 

9)  Siehe  Buchrolle  S.  6,  4. 


m^ 


I.  Beschreibstoffe.     14.  Die  Papyrusrolle.  2(M 

wesen  sein.  Auf  einem  unter  Wasser  gehaltenen  I^rett  —  madeide  tabula, 
nicht  mensa  —  wurden  diese  Streifen  dann  sowohl  neheneinander  als  aucli 
([uer  übereinander  gelegt  und  zu  einem  Blatt  in  der  Form  einer  regel- 
rechten Buchseite  in  der  Weise  verbunden,  daß  der  Eindruck  eines  Ge- 
webes (tcxfiira)  und  Netzes  [crates,  plagnla)  entstand.  Daher  bezeichnet 
Plinius  die  eine  Fasernschicht  auch  gieichnis weise  als  stamen,  die  andere  als 
suhfemcn;  t-^vq^aofihr]v  jidiTVQov  eIq  ftißlovQ  steht  bei  Eusebius  praep.  ev.  3,  7. 
Auch  von  der  bildenden  Kunst,  die  sich  ungefähr  an  allem,  was  darstell- 
bar, versucht  hat,  Avird  uns  das  einmal  in  Marmornachbildung  vorgefühi-t : 
«'S  sind  die  Eollen  auf  dem  großen  8arko[)hag  im  athenischen  Museum 
Xr.  1497,  die  die  gCAvebeartige  Kreuzung  der  Papyrusfasern  deutlich  nach- 
gebildet zeigen.  1) 

Die  Verbindung  der  Schichten  aber  geschah  mit  Hilfe  von  Kleister  Kh-ister 
und  Pressung.  In  Zeile  17  ist  die  Lesung  der  besten  Handschrift,  von 
der  Avir  nicht  abgehen  dürfen:  Nili  aqua  turbidum  liquorum  glutinis  praebet, 
d.  h.  „das  Nihvasser  liefert  dem  Kleister  das  Trübe  seiner  Flüssigkeit". 2) 
Die  übliche  TextA^erbalhornung  furbidus  Uqiior  vim  gJutinis  praebet  oder 
vicem  glutmis  praebet  ist  A^öUig  unlateinisch,  kann  also  nicht  ernst  genommen 
werden.  Denn  kein  Mensch  sagt  vim  praebere  oder  vicem  praebere  für 
„ersetzen".  Auf  so  schlechte  konjekturale  Lesungen  kann  man  keine 
1  )eweisführung  gründen.  Plinius  bezeugt  in  Zeile  21,  daß  das  Blatt  auch 
unmittelbar  nach  seiner  Fertigstellung  noch  einmal  mit  Kleister  über- 
gangen Avird.  Gardthausen  glaubt  (S.  56),  daß  hiermit  der  Charta  nur 
Glanz  oder  eine  Art  Firnis  verliehen  werden  sollte.  Aber  die  ägyptische 
C'harta  hat  solchen  Firnis  gar  nicht,  der  auch  das  Schreiben  nm-  behindert 
liaben  würde.  Dies  nachträgliche  Überhinfahren  mit  Kleister  hatte  offenbar 
Aielmehr  den  ZAveck,  einzelne  Fasern  im  Blatt,  die  sich  noch  sperrten 
und  nicht  fest  genug  gebunden  schienen,  zu  festigen  und  glatt  zu  legen. 
Denn  derartiges  mußte  immer  eintreten.  Um  so  sicherer  ist,  daß  auch 
bei   der    ersten  Zusammenfügung   der  Fasern  Kleister   A^erwendet   Avurde. 

Natürlich  hat  der  Kleister,  der  an  jedem  Tag  frisch  hergestellt  Averden 
umßte  und  dessen  Feinheit  und  Weichheit  gerühmt  Avird  —  er  bestand 
z.  P>.  aus  Weizenmehl,  Wasser  und  Essig 3)  — ,  in  der  Papyrusfabrik  dann 
au  eil  noch  zu  anderen  ZAvecken  und  hauptsächlich  noch  zur  Herstellung 
der  Rolle  'selbst  gedient,  die  durch  das  Aneinanderkleben  der  fertigen 
l>lätter  zustande  kam.  So  wird  denn  der  Kleister  auch  sonst  noch  im 
Zusammenhang  mit  dem  Chartabuch  erAvähnt,  zuerst  von  Aristoteles,*) 
späterhin  im  Leben  des  Firmus,^)  soAvie  bei  Lucian  Alex.  21,  der  A^on  der 
y.oUa  redet,  //  xoXlwoi  rd  ßißUa,  mit  dem  Hinzufügen:  tue  man  in  diesen 
Kleister  geriebenen  Kalk  oder  Gips,  so  Averde  die  Masse  fester  als  Eisen. 

»)  Vgl,  Buchrolle  S.  227.  I  glutinis  praebet   ist  aber   auch  schon  des- 

2)  Siehe  OentralblattS.  556.  Die  falsche  1  halb  falsch  und  unhaltbar,    weil    fflutinia 

Lesung   an  der  zitierten  Stelle    führt   zu  hier  nicht  Genitiv  sein  kann;  denn  I^linius 

<ler  Annahme,  daß  die  Klebungen  nur  mit  |  braucht  in  seinem  Fabrikationsbericht,  wie 

Nil  Wasser  und   olme  Kleister  liergestolit  j  Zeile  45  lehrt,  nicht  die  Form  glulen,  son- 

wurden,    daß  also   das  Mark  des  Schilfes  i  dem  glutmum. 

selbst genugKlebstoff  enthielt; soDziATZKO  |  »)  Plin.  Zeile  45. 

und  nach    ihm  Gardthausen  S.  56.     Die  *)  Buchwesen  S.  432. 

konjekturale  Lesung  vim   oder   gar  vicem  -')  Script,  bist.  Aug.  caj).  3. 


268  1^8-s  antike  Buchwesen. 

Vielleicht  ist  dies  das  nämliche  Kleisterrezept,  das  auf  Philtatius  zurüclv- 
ging  und  von  dem  Photius  Bibl.  cod.  80  p.  61  (Bekker)  berichtet. i) 

Im  §  82  ist  der  Pliniustext  in  Unordnung;  ich  stelle  die  Worte,  die 
man  dort  liest,  in  den  §  77  um  (s.  Zeile  20  f.),  möchte  hier  aber  die  früher 
dafür  gegebene  Begründung,  2)  die  mir  zwingend  scheint,  nicht  wiederholen. 
Es  ist  allgemein  anerkannt  und  durch  sichere  Beispiele  zu  belegen,  3)  daß 
Plinius  nach  Herstellung  seines  Naturgeschichtswerkes  an  manchen  Stellen 
noch  Notizen  nachtrug  und  an  den  Rand  seines  Exemplars  schrieb,  die  dann 
bei  der  Kopie  an  falsche  Stelle  eindrangen.  Ebendasselbe  ist  auch  hier  an- 
zunehmen, und  daher  ist  auch  in  den  Worten  des  §  77  et  siccantur  so/c 
plagulae,  an  dem  et  (Zeile  22),  das  ich  frülier  in  dein  abänderte,  gewiß  niclit 
zu  rühren.  Dies  et  gehört  dem  ursprünglichen  Texte  an.  Der  nachträgliche 
Zusatz  von  postea  inalleo  bis  extenditio'  mnl/eo  ist  von  Plinius  syntaktiscli 
niclit  eingegliedert  worden. 
Zweite  Be-  Nacli  dcr  ersten  Klebung  und  Pressung  der  Fasern  wurde  nun  also 

des  Blattes  das  immer  noch  unfertige  Blatt,  wie  die  Worte  Zeile  20  ff.  besagen,  auch 
noch  gehämmert,  dann  noch  einmal  mit  Kleister  übergangen  (perciuiitur), 
da  einzelne  Fasern  noch  nicht  fest  genug  haften  mochten,  und,  wenn  das 
Blatt  auch  jetzt  noch  Rauheiten  oder  Falten  zeigte,  noch  einmal  mit  dem 
glättenden  Hammer  behandelt.  Dies  Hämmern  und  Glätten  betraf  aber 
regelmäßig  nur  die  Vorderseite.  Dann  konnte  es  endlich  an  der  Sonne 
getrocknet  werden.  Eine  wunderbar  ebene  Schreibfläche  war  entstanden, 
scapiie:  jy^Q  SO  hergestellten   und  getrockneten  Blätter    wurden    nun  noch  in 

Verso  der  Fabrik  weiter  an  ihren  Längsseiten  aneinander  geklebt,  im  Maximum 
je  zwanzig  Blätter,  Avodurch  jene  langen  Papierstreifen  entstanden,  die 
man  zusammenrollte  und  die  Plinius  6Y'ry>H5  nennt  (Zeile  24);  vgl.  Corp.  gl. 
lat.  in  827,48  rofwg  x^W^^'  scafus;  V482,  52  scasus  (sie)  tumuliis  chartarum. 
Die  Zahl  20  hat  sich  wirklich  auf  Papyri  als  Fabriknummer  gefunden.*) 
Jedes  Blatt  bestand  dabei,  wie  schon  gesagt  ist,  aus  zwei  Schichten  von 
Fasern  (es  haben  sich  auch  Papyri  mit  drei  Faserschichten  gefunden,  5) 
doch  sei  von  diesen  Ausnahmefällen  hier  abgesehen);  die  einen  Fasern 
waren  horizontal,  die  anderen  vertikal  gerichtet.  Man  hielt  nun  darauf, 
daß  die  Horizontalfasern  regelmäßig  die  Vorderseite,  das  Recto,  des  Blattes 
bildeten;  das  war  aber  die  schrifttragende  Seite.  Denn  die  Rückseiten 
wurden  nur  ausnahmsweise  beschrieben.  Die  Schrift  steht  also  bei  den 
griechischen  Papyri  der  E-egel  nach  auf  den  Horizontalfasern.  Die  Eolle 
aber  wurde  ferner  stets  so  zusammengerollt,  daß  die  Schriftseite,  d.  i.  das 
Recto,  mit  seinen  Horizontalfasem  nach  innen  lag;  anderenfalls  AAären  die 
Fasern  gerissen ;  ß)  und  so  fügte  es  sich  gut,  daß  auch  die  Schrift,  die  des 
Schutzes  bedurfte,  stets  nach  innen  zu  liegen  kam.'^) 


1)  Gardthausen  a.  a.  0.     Uebrigens  1           ^)  Siehe  Wilcken,  Hermes  23  8.  400. 
Blümxer,  Technologie  S.  822  u.  324.  I           6)  t^iehe  H.Ibscher,  Archiv  f.Papvrus- 

2)  Siehe  Buchwesen   S.  237;   Central-  '   forschung  Y  (1909)  S.  141  f. 

blatt  S.  558.  ^)  Das  Gesagte  gilt  von  den  griechi- 

3)  A^gl.  Teuffel,    Gesch.  d.  röm.  Lit-  sehen  und  lateinisch  beschriebenen  Papyri; 
teratur  §  313,  1.  anders  war  die  Stellung  der  Schrift  zum 

4)  Siehe  Borchardt    in  Aegyptische  Teil   bei   den  Aegyptern:    Gardthausen 
Zeitsclir.  27  S.  120.  S.  59.  Aber  auch  die  ravennatischen  Papyri 


¥ 


uyoa(pa 


I.  Beschreibstoffe.     14.  Die  Papyrusrolle.  269 

Die  Ausführung  der  Klebungen  erweist  sich  als  äußerst  fein,  so  claü 
sie  für  das  Auge  oft  kaum  wahrnehmbar  sind  und  die  Feder  des  Schrei- 
benden sich  durch  sie  ohne  Frage  nicht  im  geringsten  behindert  sah. 
Das  Kleben    war   ein   besonderes  HandAverk,   das  Werk   der  glutinatovMs. 

Die  einzelne  Seite  in  der  Papyrusrolle  heißt  paginn,  oeXig,  auch  yiol-  p^j^''"»^ 
/>///«,  vom  Kleben.  oeXig  ist  mit  acA/za  „Gebälk,  Getäfel'^  verwandt, i) 
pagina  gehört  zu  pangere,'^)  doch  aber  wohl  nicht  in  dem  Sinne  des  Zu- 
sammenfügens,  sondern  als  Ableitung  von  pagus,^)  also  „die  abgemessene 
Fläche '^  Die  aus  den  Seiten  oder  Blättern  zusammengesetzten  scapi  aber 
wurden  nun  von  den  Fabriken  Avie  unsere  Tapetenrollen,  und  ZAvar  un- 
beschrieben, wie  sie  waren,  in  den  Handel  und  Versand  gegeben,  und 
mit  ihnen  füllten  sich  die  Papierspeicher,  horrea  chartaria,  in  Rom  und 
anderen  Hauptplätzen  der  Welt.  Nicht  selten  werden  uns  Avirklich  ßißlia  ß^P^^ 
aY'oa^^a  erwähnt;  charfa  pura  steht  Digest.  32,  52,  4;  ydQxrjg  äyQacpog  charta 
[mm  Corp.  gl.  lat.  HI  327,45;  ich  füge  zu  sonstigen  Belegen*)  hier  noch 
Pliilostrat,  Apollon.  Tyan.  4,  44  hinzu,  avo  Tigellinus  ein  äoj^uov  ßißUor, 
d.  li.  ein  leeres  Buch,  aufrollt,  äveUxTEL 

Vielleicht  Avaren  diese  leeren  Rollen  also  mit  den  soeben  besprochenen 
"icapi  identisch.  Wahrscheinlicher  ist  jedoch,  daß  solches  ßißklov  äyQaq)ov 
wieder  aus  mehreren  scapi  durch  Zusammenkleben  hergestellt  zu  werden 
l)f legte.  Denn  der  scapiis  hatte  im  Maximum  zAvanzig  Blätter,  das  normale 
ßißliov  oft  viel  mehr.  Auch  ist  solches  Zusammenkleben  sicher  öfter  vor-  Voriänge- 
gekommen.  Ich  zitiere  die  Äußerung  des  Grammatikers  Terentius;  Scaurus,  ^Bu^dfg®* 
VII  K.  33, 11 :  hrevitatem  kuiiis  libeUi,  si  tibi  videtiir,  adglutinahis  ei,  quem  ^  durch 
(Je  litteris  yiovis  habes  a  me  acceptmn,  quod  ipse  feci,  quia  huius  pitsillitaH 
sub  ipso  (d.  h.  ihm  angehängt)  decentiiis  prodire  quam  per  se  censeri  poterat. 
Hier  AAdrd  aus  zaa'cI  schon  vollgeschriebenen  kleinen  Rollen  oder  scapi 
eine  gTößere  hergestellt.  Vor  allem  denke  man  an  die  Johannesapokalypse 
18,  5,  wo  es  von  der  großen  Babylon  heißt:  exolXif}§r}oav  avrijg  ai  äjuagrlai 
äygi  xov  ovgavov  xal  ejuvrjjuövevoev  o  ^edg  ra  ädixijjuaTa  avrfjg.  Das  Buch 
läßt  sich  also  durch  Ankleben  ins  Endlose  verlängern,  und  ich  glaube,  daß 
auch  schon  Plato  hieran  gedacht  hat,  wenn  er  vom  Dichter  oder  Schrift- 
steller sagt,  Phaedr.p.  278  E:  eyQay)ev  ävw  xdrco  OTQe(pmv  h  xqovco,  Jigog  äUrjka 
y.oAÄÖJv  re  xal  ätpaigcbv,  avo  OTQe(peiv  „umstellen"  bedeutet  (A^gl.  oiQecpeiv  xä 
yodfijuara  in  Kratyl.  p.414C),  xoUäv  aber  das  AnfHcken  von  Text  durch  das 
Ankleben  von  Charta  verdeutlicht.  Eben  hierauf  geht  auch  bei  Martianus 
Capella  II  219  f.  das  künstlich  ausgedrückte  adhuc  iugata  pagina;  der  Ver- 
fasser Avill  sagen:  eine  „noch  hinzugefügte",  also  angeklebte  pagina  würde 
mir  erlauben,  mein  Schreiben  noch  fortzusetzen.  Die  Glossare  bieten  dafüi- 
noooxoUcT}  adgintino,  aber  auch  adpUcare:  111153,7;  118,47.  Das  Geschäfts- 
journal eines  ägyptischen  Beamten  wurde  so  geführt,  daß  er  täglich  ein 
Papyrusblatt  oder  Stück  Charta  mit  den  betreffenden  Notizen  füllte,  imd 


Allkleben 


bieten  Ausnahmen;  s.  Buchrolle  S.  317 
Anm.;  ebenso  auch  Tebtunispapj'^ri  I  S.  143. 

')  Rhein.  Mus.  63  S.  43  f. 

2)  a.  a.  O.  S.  41  f.  Verfehlt  Stowasser 
in  Wiener  Stud.  31  S.  145  f. 


»)  Dieselbe  Art  der  Ableitunji^  lie^t 
z.  B.  in  micinum  zu  sucus  vor. 

*)  Buchwesen  S.  33,  2  und  241 :  Bueii- 
rolle  S.  6:  ( ^entralblatt  S.  559. 


270  I^as  antike  Buchwesen. 

im   Archiv   wurden   diese    Stücke   alsdann    zu   Eollen   verbunden;!)    Vilni 
UbeUontm  sind  solche  durch  Zusammenklebung  hergestellte  Aktenrollen. '^) 
Eine  so  entstandene  Holle  heißt  dann  ovyxo/d}]oifiog  TOjuog.^) 
sciireiben  ^^^f  alle  Fälle   fanden  die  Schriftsteller   unbeschriebene  Papierrollen 

im  löGron  •  ■  •  . 

Bncii  A'or,  die  sie  gCAviß  schon  fertig  beim  yaoTond)Ar]q  kaufen  konnten,'*)  und 
für  sie  komponierten  sie  ihre  Werke,  jedes  Buch  eine  Papierrolle.  Aus- 
drückliche Erwähnungen  dieser  Tatsache  habe  ich  schon  „BucliAvesen" 
S.  241f.,  „Buchrolle"  S.  6;  28;  205  zusammengestellt.  Besonders  anschau- 
lich ist  auch  Clement;  Alexandrinus  Strom.  6,  131,  wo  in  ein  xaivov  ßiß)dov 
der  Jesaiastext  abschriftlich  eingetragen  werden  soll.  Aber  auch  solche 
Stellen,  wie  Buch  Esther  9,  20:  ygdcpeiv  robg  koyovg  eig  ßißliov  und  Lucian, 
Piscator  26:  eg  jrayv  ßißXiov  iyyoäqjeiv  zeigen  uns  die  leere  Buchrolle,  die 
man  vollschrieb.  Die  übliche  Maximallänge  der  Rolle  war  dabei  zwanzig 
bis  dreißig  Fuß. 6) 

hiätt^r  Weit  verbreitet  war,  wenn  man  Zettel  oder  Einzelblätter  brauclite, 

in  Ägypten  die  Methode,  zu  diesem  Zweck  einen  noch  unbeschriebenen 
Scapus  zu  zerschneiden. 6)  Doch  müssen  auch  Einzelblätter  in  den  Handel 
gekommen  sein;  anders  kann  ich  die  libn  perscripü  nondum  cong/ntinafl 
bei  Ulpian  nicht  verstehn:  man  beschrieb  die  Einzelblätter  und  klebte  sie 
alsdann  zusammen.  Icli  denke  dabei  aber  auch  an  die  Charta  amphi- 
fheatricn,  die,  wie  Plinius  Zeile  7  f.  lehrt,  zunächst  in  Alexandria  hergestellt, 
deren  Blattbreite  aber  in  der  stadtrömisclien  Fabrik  des  Fannius  nacli- 
träglich  gesteigert  wurde;  denn  nach  Plinius'  ausdrückhchem  Zeugnis 
war  es  möglich,  fertige  Chartablätter  wieder  in  ihre  Bestandteile  auf- 
zidösen;'^)  es  müssen  docli  also  die  Einzelblätter  nach  Pom  transportiert 
worden  sein.  8) 

32^2^*5  Die  Ulpianstelle  Digest.  82,  52,  5  aber  lehrt  uns  noch  mehr,    und   ihr 

Inhalt  muß  daher  genauer  mitgeteilt  Averden.^)  Es  heißt  dort  zunächst: 
qnaeritur  si  libri  legati  siiif,  au,  contineantnr  nondum  perscripti,  ot  non  pufo 
eontinen.  Dies  erweist  uns  zunächst  die  Existenz  unbeschriebener  fertiger 
Buchrollen,  nicht  scapi,  sondern  libri  nondum  perscripü.  Weiter  heißt  es: 
sed  perscripü  Jibri  nondum  malleaü  vel  ornaü  conünebimtur:  proinde  et 
nondum  conglutinati  vel  emendaü  continebuntur.  Es  Averden  hier  also  A^ier 
Zustände  der  schon  beschriebenen  Buchrolle  unterschieden,  die  sie  als 
unfertig  erscheinen  ließen  und  A^on  denen  je  zwei  enger  zusammenhängen. 
Ein  über  perscriptus  kann  erstlich  nondum  conghitincdus  sein.  Dies 
ist  schon  A^orhin  erläutert;  man  füllte  zunächst  Einzelblätter  oder  auch 
ein  paar  scapi  mit  Schrift  an ;  war  das  obligate  Zusammenkleben  derselben 

^)  Siehe  U.Wilcken,  Piniol.  58  S.  971".  i   stellte  übrigens  Einzelblätter  in  der  Hand 

'^)  Premerstein  S.  738  u.  752.  ;    des  Menschen  gelegentlich  dar:  Buchrolle 

3)  Wtlcken,  Hermes  44  S.  151.    Xgi.  \    S.  221.     Die    Papierschere    heißt    in    den 

noch  BoRCHARDT,  Aegyptische  Zeitschr.  27  i    Glossaren  ofxlXa  /agroröjuog. 

S.  120;  auch  Crönert,  Hermes  38  S.  398  ff.  ]            '')   Dies  liegt   in  den  Worten  Plinius 

^)  Der  Papierhändler  wird  vom  Buch-  |    Zeile  44:  oUus  igitnr  itenoii  texendis  lahor. 

händler    unterschieden    und   heißt    yaoxo-  '            8)j}uch\vesen  8.248.  Vgl.  übrigens  noch 

.-rgdtijg   und  yaorojrcoArjg,    s.  Corp.  ^loss.  lat.  Buchrolle  S. 221  Anm.;WATTENBACHS. 386. 

]f475;  schol.  Jiivenal.  4,  24.  Ueber  Verwendung  von  Einzelblättern  s. 

5)  Schubart  S.  46—48.  auch  Ctardthaisex  S.  133. 

«)  Siehe  Ibscher  a.a.O.  Auch  die  Kunst  »)  Siehe  Ontralblatt  S.  559  f. 


I 


I.  Beschreibstoffe.     14.  Die  Papyrusrolle.  271 

unterblieben,  so  soll  die  Gesamtheit  der  losen  Scliriftmasse,  Avie  Ulpian 
entscheidet,  dennoch  als  Über,  als  Bucheinheit  gelten,  nnd  zwar  auch, 
wenn  der  Text  noch  nicht  durchkorrigiert  ist  {emendatus). 

Zweitens  aber  können  vollgeschriebene  Rollen  nondum  malleafi  vel  oniafi  Beklopfen 
sein.  Ein  Beklopfen  mit  dem  Schlägel,  ma/leus,  wurde  nämlich  dreimal  aus- 
gefülirt:  zuerst  bei  der  Blattbereitung  (Plin.  Zeile  20  f .  malleo  tenuatur), 
dami  unmittelbar  vor  dem  Schreiben,  um  die  übrig  gebliebene  Feuchtigkeit 
in  den  Blättern  zu  konstatieren  (Plin.  Zeile  41),  endlich  aber  auch,  nach- 
dem die  Rolle  schon  mit  Schiift  gefüllt  war.  Dies  lehrt  das  jieqixotiteiv 
der  fertigen  Schriftwerke  bei  Lucian  adv.  indoctum  16.  Man  stelle  sich 
vor,  daß  man  auf  einem  Rouleau  von  etwa  zwanzig  oder  ^derzig  Seiten 
zu  schreiben  hat.  Durch  das  Anfassen  und  Schieben  wird  die  gewaltige 
Papiermasse  zerknittert,  kraus  und  uneben  und  läßt  sich  nicht  ordentlich 
glatt  einrollen.  Eine  Presse,  die  man  für  das  Einzelblatt  verAvandte  (Plin. 
Zeile  20),  reichte  nicht  aus,  u^m  solche  Flächen  zu  ebnen ;  also  hämmerte  man 
sie  mit  dem  Schlägel  glatt,  und  so  Avurden  die  lihri  perscripti  zu  malleati 
libri,  wie  ülpian  sie  nennt,  und  es  fehlte  nur  noch,  daß  sie  endlich  auch 
ornatiy  d.  h.  mit  dem  üblichen  Buchschmuck  ausgestattet  Avurden,  A-on  dem 
späterhin  zu  reden  sein  AV'ird. 

Ich  kehre  indes  noch  einmal  zum  Plinius  zurück.  Denn  es  handelt  J^v^'" 
sich  noch  um  die  Herstellung  des  Scapus  selbst.  Nach  Plinius  entsteht  desscapus 
er  durch  Kleben  in  der  Weise,  daß  inter  se  iunguntur  (plagulae)  proxi- 
marum  semper  honitatis  deminutione  ad  deterrimas  (Zeile  23).  Man  hat  dies 
dahin  A^erstanden,  als  seien  Blätter  A^on  verschiedener  Größe  oder  Blatt- 
breite zum  Rollenstreifen  zusammengefügt  Avorden.i)  Allein  die  Sache 
A^erhält  sich  anders. 

Es  gab  nämlich  in  der  Tat  A^erschiedene  Sorten  der  Charta,  die  Plinius  Sorten  der 
großenteils  aufzählt  lyid  charakterisiert.  Zu  den  besten  gehörte  die  z.  B. 
v^on  Catull  erwähnte  Charta  regia  und  die  hieratica.  Hauptmerkmal  war  dabei 
die  Dünnheit,  Glätte  und  Farblosigkeit,  vor  allem  die  Breite  der  Blätter. 
Für  die  Charta  Augiista  gibt  uns  Plinius  (Zeile  25  f.)  13  digiti  =  24  Zenti- 
meter, für  die  hieratica  11  digiti  =  20  Zentimeter  Breite,  füi-  die  amphi" 
theatrica  9  digiti  =^  16 1/2  Zentimeter.  2)  Ein  Hauptfabrikort  Avar  Sais,  und 
ich  habe  dereinst  (Ant.  BuchAvesen  S.  249)  dargelegt,  daß  in  Sais  nicht 
nur  die  geringe  sogenannte  charta  SaJitica,  sondern  auch  die  Augusta  und 
hieratica  und  andere  Qualitäten  angefertigt  Avorden  sein  müssen. s)  Es  ist 
aber  eine  Torheit,  daraus  zu  folgern,  daß  nun  in  Sais  der  Scapus  so  her- 
gestellt Avurde,  daß  man  Blätter  verschiedener  Blattbreite  zu  einem  Scapus 
verbunden  habe.  Denn  nach  den  Blattbreiten  unterschieden  sich  ja  eben 
die  Papiersorten;  man  hätte  dort  also  nach  jener  Annahme  Blätter  der 
Augusta,  hieratica  und  Saitica  hintereinandergeklebt.  Das  Aväre  denn  doch 
aber  der  größte  Betrug,  eine  Täuschung  des  Publikums,  das  nur  die  Augusta 
oder  nur  die  hieratica  kaufen  wollte'  es  wäre  die  plumpste  Fälschung  der 
Ware  geAvesen.    In  dem  oben  zitierten  Satz  des  Plinius  ersetzt  der  Ablativ 

')  Gardthausex  8.  58  nach  Dziatzko,    '    S.  188. 

*)  Genaueres s. Ant. Buchwesens. 248;  ')  Mit  Unrecht  habe  ich  dies  später, 

\V r NSCH,  „(  'liarta"  S.  2190 :  Gardthausex      im  Centralblatt  f.  Bibl.W.  S.  557,  bestritten. 


Zurollen 


272  Das  antike  Buchwesen. 

deminutione  nach  der  Kurzspraclie  dieses  Autors  einen  Nebensatz,  und 
wir  haben  zu  verstehen:  inter  se  iunguntnr  pfngulae  ita  nt  2>f'0ximarum 
semper  bonitas  deminuafur  ad  deterrimas,  wobei  mit  honitas  die  Güte  der 
Ware  bezeichnet  ist.  Es  genügt  aber  vollständig,  dies  dahin  zu  verstehen, 
daß  die  zwanzig  Blätter  für  den  Scapus  so  ausgewählt  Avurden,  daß  die 
festesten  und  haltfähigsten  Blätter  zuerst  kamen,  dann  Blätter,  die  nur 
geringe  Mängel  zeigten,  an  letzter  Stelle  die  mindest  gut  geratenen.  Die 
Blattbreiten  aber  wechselten  nicht;  denn  der  Scapus  bestand  eben  ent- 
weder aus  hieratica  oder  Augiista  oder  Sa'itica  u.  s.  f. 

Alle  jene  Angaben  über  die  Blattbreite  entspreclien  nun  auch  den 
Maßen  der  neuerdings  in  Ägypten  aufgefundenen  Pap^a-i.  Die  Höhe  der 
Seite  aber  —  das  ist  also  zugleich  auch  die  Höhe  der  Buchrolle  —  hat 
im  Durchschnitt  35  Zentimeter,  geht  bisweilen  zu  40  in  die  Höhe,  sinkt 
aber  auch  bis  20,  ja,  zu  gewissen  Zeiten  bis  zu  15  liinab.i) 
Auf-  und  Wir  wenden  uns  nunmehr  zur  Rollung,  der  die  Chartabücher  ebenso 

wie  die  libri  lintei  verfielen.  Dies  Rollen  heißt  eliooeiv^  sllslv,-)  volvere, 
das  Offnen  dveXiooeiv,  evolvere,  revolvere,^)  aucli  iKindere,^)  das  Schließen 
convolvere;  convolvere  partem  libri  heißt  überschlagen:  Seneca  Controvers. 
X  prooem.  8;  ad  extrcmum  volvere  zu  Ende  lesen:  Plin.  epist.  5,  5,  5. 

Aber  auch  plicare  heißt  „rollen"  (Seneca  epist.  95,  2;  Martial  4,  82), 
dasselbe  auch  replicare  (Ausonius  ep.VH  2,48  replicare  campum  papyrium)',^) 
explicare  librum  aber  bedeutet  nicht  etwa  „ein  Buch  zu  Ende  rollen",  wie 
man  fälschlich  an  der  Martialstelle  XI 107  übersetzt,  sondern  „auseinander- 
expiicare,  rollen" ;  denn  explicare  muß  nach  der  Analogie  von  evolvere,  dem  es  genau 
entspricht,  interpretiert  werden.  Dies  erhärtet  Cicero  und  bestätigt  es 
vollauf,  pro  Rose.  Am.  101:  veniat  modo,  explicet  sunm  volumen  illud.  Davon 
leitet  sich  dann  allerdings  die  Buchunterschrift  Über  explicitus  oder  Über 
explicit  her,  in  der  die  Präposition  ex  schließlich  dep.  Sinn  des  „zu  Ende" 
erhält;  so  finden  wir  das  Wort  schon  im  Testamentum  porcelli,  wo  die 
Schlußworte  lauten:  Explicit  testamentum  porcelli  sub  die  XVI  Jcal.  lucer- 
ninas  Clibanato  et  Piperato  consulibus  feliciter.^)  Genau  übersetzt  aber 
heißt  liber  explicitus  nur  die  ganz  entfaltete  Rolle.  Daher  nennt  Martial 
9,  47  die  Philosophen  Plato  und  Zeno,  die  man  nicht  liest,  inexpliciti, 
d.  h.  „nicht  aufgerollt". 

In  dem  nämlichen  Sinn  steht  auch  jttuooeiv,  ävamvooeiv,'^)  und  man 
ist  keineswegs  überall,  wo  dies  Yerbum  vorkommt,  gezwungen,  an  ein 
Diptychon  zu  denken.  Ich  verAveise  auf  Lucas  4,  20,  wo  jixv^ag  xo  ßißXiov 
in  der  Yulgata  mit  cum  plicuisset  librum  übersetzt  wird,  was  auch  wieder 
für  plicare  lehrreich  ist.^)     Daher   auch   die   jzrvyai  ßlßkcov   bei  Aeschylus 


explicit 


1)  Buchrolle  S.  17 ;  Buchwesen  S.  264;   1  *)  Für^a^^ere  vgl.  Max  Krämer  S.  11. 
Schubart  S.  48.  Ungefähr  dasselbe  Höhen-   !  &)  Vgl.  Krämer  a.  a.  O. 

maß    haben    die    Torarollen    der    Juden:  ^)  Im    Mittelalter   bildete    man    dazu 

Blau,  Eivista  Israelit.  S.  67. 

2)  ejisdi^ag  beim  Lesen  schon  Demosthe- 
nes23,161  (vgl.  ed.  BLASSlIIp.LXXXVin). 

2)  revolvere  heißt  bald  aufwickeln  (s. 
Buchrolle  S.  135  u.233),  bald  wieder  zurück- 
wickeln, so  Horaz  Epist.  2,  1,  223. 


das  Präteritum  expUcuit  liber,  explicuerunt 
capita:  s.  Nouveau  traite  de  diplom.  Bd.III 
(1757)  S.  388. 

7)  Siehe  Rhein.  Mus.  63  S.  41. 

8)  Mehr    Belege    s.  Neue   Jahrbb.  19 
S.  705. 


I.  Beschreibstoflfe.     14.  Die  Papyrusrolle.  273 

Hiket.  947,  der  ältesten  Stelle,  wo  uns  die  Griechen  Papyrusrollen,  ßißXoi, 
erwähnen.  1)     jiTvyal  ßißlon'  sind  also  Falten  der  Rollen. 

Auch  Jisrdvvvjui,  „ausbreiten",  konnte  auf  die  entfaltete  Schriftfläche  Theokrit 
der  Buchrolle  Anwendung  finden,  und  so  benutze  ich  die  Gelegenheit, 
hier  noch  eine  Stelle  des  Theokrit  zu  interpretieren,  die  nicht  richtig  auf- 
gefaßt zu  werden  pflegt.  Theokrit  schreibt  in  seinen  Xagireg,  Idyll  16, 
über  seine  Huldigungsgedichte,  die  er  ydgiTeg  nennt  und  die  er  in  die 
Häuser  der  Vornehmen  zu  schicken  pflegt,  v.  5  ff. : 

5  ri'g  yoLQ  x&v  ojtoooi  yXavxav  vaiovoiv  vji'  do) 
tjjnsx€()ag  ;|fdßfra?  jrsrdoag  vjioöd^erai  oXxm 
dojraoiojg,  ovo'  avdig  ddoygTJxovg  OLJiojisfiytsc ; 
al  ÖS  oxvCdfiST'ac  yi'ftvöig  jioaiv  oixad'  l'aoi 
SToVA  ft€  xco^d^oioai  ox    dlißiav  odov  tjv&ov, 
10  oxt'rjQai  ds  Jidkiv  xsveäg  sv  jiv^fiEvi  yr}Xov 
if'vygoTg  h'  ywdxsooi  xdor}  /nifivovxi  ßaköioai, 
h'&'  alsi  atpiaiv  e'öga,  imjv  OjTQtjxxoi  l'xcot'xai. 

Die  yaQixeg  sind  hier  als  Buchröllchen  und  zugleich  in  allerliebster  Weise 
persönlich  wie  ein  menschliches  Wesen  gedacht;  deshalb  haben  sie  rüße(v.  8) 
und  murren,  in  sich  eingefaltet,  gleichsam  das  Haupt  auf  den  KJnien  (v.  11); 
ihr  Aufenthalt  aber,  zu  dem  sie  heimkehren,  ist  der  Bücherkasten,  yi^Xog 
(v.  10),  in  dem  sie  immer  sitzen,  wenn  niemand  sie  benutzt  (v.  12),  und  hier- 
durch wird  angezeigt,  daß  wir  auch  das  Jierdoag^  das  sich  im  v.  6  auf  den 
Empfänger  bezieht,  in  dem  nächstliegenden  Sinn  vom  Aufrollen  des  Buchs 
zu  verstehen  haben.  Daß  der  Empfänger  das  übersendete  Buch  aufrollt, 
geht  voran,  da  er  sich  erst  vom  Inhalt  der  Sendung  überzeugen  muß;  erst 
danach  entscheidet  er,  ob  er  es  äojiaoicog  vjiode^erai  oder  ddcogrjrov  djTOjrejuy^si. 

Dies  Chartabuch  heißt  nun  ferner  ßvßXog,  über.  Überall,  wo  diese  ßiß>-os,  uber 
Wörter  ßvßXog  und  liher  sich  finden,  sind  wir  gezwungen,  an  Rollenform  chartaroUe 
zu  denken.  Denn  Bücher  in  Tafelform  heißen  nie  so.  Diese  meine  These 
hat  sich  mir  mehr  und  mehr  bewälii-t,  je  lunfassender  ich  meine  Lektüi-e 
ausdehnte;  sie  ist  definitiv  gesichert  durch  E.  Sprockhoff,  De  libri  volu- 
minis  ßißlov  sive  ßißliov  vocabulorum  usurpatione,  Marburg  1908.  Daß  Über 
einzelnes  Convolut,  unius  voluminiSy  sagt  uns  noch  Isidor  Gr.  6, 13.  Daher 
steht  liber  zu  memhranae  gradezu  in  Gegensatz,  z.  B.  bei  Optatus  2)  VII  1 : 
damnentur  etiam  Uli  qiii  neglectas  membranas  aut  lihros  ita  posuerunt,  ut 
eos  domesticae  bestiolae,  hoc  est  mures,  ita  corroserint  ut  legi  non  possint. 
Hier  sind  memhranae  aut  libri  „Pergamentcodices  oder  Chartarollen". ^) 
Appian,  Mithridat.  111  erzählt,  daß  man,  als  Pharnakes  zum  König  aus- 
gerufen ^^'urde,  aus  einem  Heiligtum  eine  ßvßlog  hei-vorholte  und  ilim  statt 
der  Krönung,  dvrl  diadtjjuarog,  damit  die  Stirn  umwand.  Hier  bezAveifelt 
Gardthausen  S.  50,  daß  mit  ßvßXog  eine  Papyrusrolle  gemeint  sein  könne. 
Wir  erinnern  uns  aber  vielmehr  der  mimusartigen  Szene  in  Alexandria,  die 
uns  Philo  (gegen  Flaccus  c.  5  f.)  beschreibt,  wo  der  armselige  Karabas 
als  König  gekrönt  wird,  indem  man  gleichfalls  einen  offenen  xdgr^jg  auf 
seinem  Kopf  als  Diadem  zusammenlegt.*)   ßvßkog  ist  überall  die  Chartarolle. 

^)  Diese  Stelle  ist  von  Schubart  S.29   |  »)  Corp.  script.  eccles.  lat.  Bd.  26. 

durchaus   mißverstanden,    der  jixvyai  mit   |  ')  Mehr  bei  Krämer  S.  61. 

.Klappen"  übersetzt.  '  |  *)  Vgl.  Preuß.  Jahrbb.  Bd.  137  S.  97; 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  18 


274 


Das  antike  Buchwesen. 


ebenso 
ßißXiov 


volnmen 


Tö/tog 


Was  A^on  ßvßlog  und  Über,  dasselbe  gilt  der  Hauptsache  nach  auch  von 
ßißUov^)  und  lihellus  (über  lihellus  s.auch  unten  S.292).  Weil  man  zum  Zweck 
des  Zusammenfassens  der  Seitenmassen  nur  das  Verfahren  des  Rollens  kannte, 
deshalb  hat  der  .Grieche  niemals  das  Bedürfnis  empfunden,  zur  Veranschau- 
lichung oder  Unterscheidung  der  Buchformen  noch  besonders  von  ellrjxaQiov 
oder  iveiXrjjua  zu  reden,  Wörter,  die  erst  spät  und  selten  in  Gebrauch  kamen,*) 
während  der  Römer  allerdings  überall  da  volnmen  sagte,  wo  er  an  die  äußere 
Form  des  rollbaren  Buchs  dachte.  3)  Es  ist  also  zu  betonen,  daß  auch  ßißXiov 
überall  nur  die  Buchrolle  ist  (oben  S.  264).  Es  gibt  meines  Wissens  keine 
Stelle,  wo  wir  gezwungen  wären,  ßißUov  mit  Wachstafel  zu  übersetzen. 
Anschaulich  dagegen  sind  viele  Äußerungen,  Avie  der  ovgavdg  als  auf- 
gerolltes ßißUov  in  der  Johannesapokalypse  6,  14;  in  der  anderen  und 
apokryphen  Johannesapokalypse  wird  visionär  ein  ßißUov  von  E/iesengröße 
geschaut:  es  hat  das  miyog  von  sieben  Bergen,  sein  jurjxog  aber  (im  auf- 
gerollten Zustand)  ist  unabsehbar,  Avogegen  in  den  „Fragen  des  Bartholo- 
mäus" der  Erdkörper,  den  man  sich  als  Zylinder  dachte,  mit  dem  ßiß?dov  ver- 
glichen wird  (vgl.  „Buchrolle"  S.213).  Besonders  sei  noch  Pausanias  zitiert, 
der  4,  26,  8  von  einem  Text  redet,  der  sich  auf  gerolltem  Zinn  (xaooheQog) 
befand,  und  hinzufügt:  „er  war  eingerollt,  wie  die  ßißUa  es  sind":  etiel- 
hxTo  ojoTieg  rd  ßtßXia.  Hier  ist  nicht  nur  klar,  daß  ßißXiov  Rolle  ist,  son- 
dern sie  ist  speziell  eine  solche,  die  aus  einem  anderen  Material  als  Zinn 
besteht,  also  die  Rolle  aus  ßvßXog,  aus  Papyrus.  Die  x4.usnahmen  zu  dem 
Gesagten,  die  ich  weiterhin  anzuführen  haben  werde,  betreffen  nur  den 
Fall,  daß  ßiß)da  gelegentlich,  aber  ganz  selten  als  Teile  eines  Buchs  er- 
scheinen. Das  ist  dann  in  der  Weise  aufzufassen,  Avie  auch  die  Ägypter 
die  Einzelteile  oder  Kapitel  einer  Buchrolle  „Rollen"  nannten.'^) 

Um  die  Rolle  als  Rolle  zu  bezeichnen,  brauchte  der  Grieche  demnach 
vorzugSAveise  die  Wörter  ßvßXog,  ßvßXiov  (oder  ßlßXog,  ßißXiov),  yaQxrjg,  yaQ- 
Tiov.  Weitere  Termini  aber  sind  röfiog  und  revyog.  Und  ZAAar  bezeichnet 
TÖjuog,  „der  Schnitt",  niemals  ein  Schriftwerk,  sondern  stets  nur  die  Rolle 
als  solche,  und  zwar  die  Rolle,  insofern  sie  durch  Abschneiden  aus  einem 
gTößeren  Papierkonvolut  hergestellt  ist.  Als  die  Araber  Ägypten  ein- 
genommen hatten,  Av^urde  dem  xdgrrjg  eine  Länge  von  30  arab.  Ellen  = 
141/2  Meter   gegeben;    schnitt   man  zAA^ei  Drittel   davon   ab,   so   hieß   das 


To/nog.^)  Der  tomiis  konnte  also  immer  noch  sehr  umfangreich  sein,  wie 
auch  die  zehn  tojlloi  des  Antisthenes  bcAA^eisen,  deren  jeder  etliche  Schriften 
des  genannten  Philosophen  enthielt.  6)  Der  inschriftlich  überlieferte  Ter- 
minus tumi  maiores'^)  aber  bcAv-eist,  daß  es  auch  kürzere  Rollen,  ^om^ 
minores,  zur  Auswahl  gegeben  haben  muß.  Besonders  bei  mehrbücherigen 
Werken  war  die  Bezeichnung  rojuoi   für  die  einzelnen  Bücher   derselben 


Histor.  Viertel] ahrschrift    ed.    Seeliger, 
1912,  S.  400. 

*)  Zu  ßißkiov  vgl.  E.  Nestle  in  Ztschr. 
f.  wissenschaftl.  Theologie  L  Heft  1  S.  91, 
wo  auch  über  hibliotheca  =  „Bibel". 

2)  Buchwesen  S.  25. 

3)  Genaueres  über  vohimen  bei  Sprock- 
HOFF  a.  a.  O. 


*)  Siehe  Buchrolle  S.  19. 

^)  Karabacek,  Das  arabische  Papier 


17. 
449. 


Diog.  Laert.  6,  15  f.;    Buchwesen 


^)  Siehe  Jon.  Schmidt,  Ehein.  Mus. 
47  S.  325  f.,  der  freilich  den  Ausdruck  un- 
richtig gedeutet  hat.     Vgl.  unten  S.  280. 


I.  Beschreibstoflfe.     14.  Die  PapymsroUe.  275 

im  Gebrauch;  1)  ich  zitiere  Mark  Aurel  bei  Fronto  ad  M.  Caes.  2, 10:  feci  . . . 
excerpta  ex  libris  sexaginta  in  quinque  tomis.  Interessanter  die  Stelle  in 
den  Itinera  Hierosolymitana  ed.  Geyer  (Wiener  Corpus  Bd.  38)  S.  161,  wo 
tomus  als  Einzelbuch  und  zugleich  deutlich  als  Rolle  erscheint:  ibi  (in 
Nazaret)  etiam  sedit  (v.  1.  pendii)  in  sinagoga  tomus,  in  quo  abcd  hahuit 
Dominus  impositumy  d.  h.  woraus  Jesus  das  Alphabet  lernte.  2) 

Hier  sei  eine  Anmerkung  über  scapus  und  tomi  scripti  eingeschaltet,  s^apus 
Wenn  nämlich  in  den  Glossaren  scapus  certus  numerus  tomorum  cartae  scriptae 
scriptae  definiert  Avird,^)  so  kann  Scapus,  wie  ich  meine,  in  diesem  Fall 
nicht  die  vorhin  S.  268  festgestellte  Bedeutung  haben,  sondern  muß  viel- 
mehr ein  Bündel,  ein  fasciculus  sein.*)  Denn  der  von  Plinius  erAvähnte 
Scapus  enthält  jedenfalls  nur  unbeschriebene  Charta.  Mit  Schrift  gefüllte 
Toi^ioi  konnten  nimmermehr  zu  einem  zwanzigblätterigen  Scapus  im  Sinne 
des  Plinius  verbunden  werden.  Wir  müssen  uns  erinnern,  daß  uns  die 
Glossare  den  Sprachgebrauch  des  5.  oder  6.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  also  einer 
Zeit  vorfüliren,  die  vierhundert  Jahre  von  Plinius  entfernt  ist. 

Wenden  Avir  uns  zum  rev/og.  Das  Wort  rev^og  bezeichnet  erst  im  reoxog 
byzantinischen  Mittelalter  den  gehefteten  Codex;  im  BuchAvesen  des  Alter- 
tums hat  es  zAvei  AVerte,  die  für  uns  in  Betracht  kommen:  entAA^eder  das 
Gefäß,  in  dem  man  eine  Anzahl  A'on  Rollen  aufbewahrte  (so  bei  Xeno- 
phon  Anab.  7,  5,  14  und  Anthol.  Pal.  9,  239)  oder  aber  die  Buchrolle 
selbst,  die  rev/og  hieß,  insofern  sie  die  Schrift  Avie  ein  Gefäß  in  sich 
aufnimmt. ö)  Dies  habe  ich  „Buchrolle"  S.  21  f.  erA\desen;  es  ist  bald  her- 
nach auch  durch  ein  inschriftliches  Zeugnis  bestätigt  AA^orden.^»)  Durch  die 
Erkenntnis  dieser  geringfügigen  Tatsache  sind  erhebliche  ScliAvierigkeiten 
endlich  hinAveggeräumt. 

Schließlich  tritt  auch  nicht  selten  Aoyog  für  ßvßXog  im  Sinne  des  ein-  ^^y^s 
heitlichen  Buchtextes  ein.  Ein  mehrbücheriges  Werk  pflegt  deshalb  loyoi, 
nicht  Aoyog  zu  heißen;  so  die  Bücher  des  Xenophon  Ephesius,  die  sibyl- 
linischen  Bücher  u.  a.'')  Besonders  deutlich  erscheint  Xoyog  als  Buch  bei 
Philostrat  Apoll.  Tyan.  3,  27:  eyygdipai  avrd  ig  rov  avtov  löyov.  Lesen  Avir 
bei  Plato,  Phaedr.  p.  270  A,  A'om  Anaxagoras,  daß  er  über  den  vovg  und 
seine  Natur  xbv  noXvv  Xoyov  iTzoieirOy  so  ist  das  auch  doit  schon  ein  Aus- 
druck des  BuchAvesens  und  bedeutet,  daß  die  berühmte  Schrift  des  Anaxa- 
goras eine  Rplle  starken  Umfangs  Avar.  Piatos  Schriften  AA^urden  A^on  den 
Grammatikern  in  „Trilogien"  oder  „Tetralogien"  gruppiert;  jede  Avar  also, 
auch  Staat  und  Gesetze,  nur  je  ein  ?i6yog,  und  das  setzt  voraus,  daß  für 
diese  die  uns  A^orliegende   und  unechte  Buchteilung  nicht  berücksichtigt 

1)  Vgl.  Buchwesen  S.  25  f.   Ueber  den   |  3)  Corp.  gl.  1.  V  610,  60  u.  sonst  ähn- 
ln    Alexandria     gehmdenen     steinernen   |   lieh;  Buchwesen  S.  141. 

Kasten  mit  derAufschriftAlOZKOYPIA  HC  !           *)  Die    Erklärung,    die  Jon.  Schmidt 

r    TOMOI    s.  A.  J.  Eeinach,   Extrait   du  |   a.  a.  0.  zu  geben  versuchte,  ^o?m«s  sei  hier 

Bulletin  de  laSocietearcheol.d'Alexandrie  j    so  viel  wie  plagula,  ist  unhaltbar. 

Nr.  11  (1909).  5)  Auch  der  penis  hieß  vasculum;  die 

2)  Tofiog   unsicher   bei  Hyperides   (Le  geschlossene   Buchrolle   aber  wurde   mit 
nouveau  papyrus  d'Hyperide,  s.  E.  Revil-  jenem  verglichen:  Buchwesen  S.  17. 
LOüT  in  Revue  des  etudes  gr.  1889  fasc.  1  ^)  Siehe  U.Wilcken,  Hermes  44  S.  150. 
S.  1  ff.,  daselbst  col.III);  nach  Chr.  Jensen  ^)  Buchwesen  S.  28  f.;  447;  448;  466; 
ist  die  Lesung  hinfällig.  |   477,  2. 

18  ^ 


276  I^a-s  antike  Buchwesen. 

worden  ist.  Seitdem  dagegen  die  Dialoge  von  den  Verfassern  auf  Bücher 
disponiert  und  in  jedem  der  Bücher  womöglich  eine  besondere  Sprech- 
szene vorgeführt  wurde,  wie  bei  Aristoteles,  Satjros  und  Cicero  (oben 
S.  198),  zerfiel  der  Dialog  in  mehrere  Xoyoi  oder  didXoyoi,  und  daher  heißt 
bei  Asconius  p.  19,  26  ed.  Stangl  Ciceros  Werk  De  oratore  pluralisch  dia- 
logi;  denn  das  Werk  besteht  aus  drei  Büchern. 

^^^^^t^T  ^^^  diesen  Feststellungen  ergibt  sich  nun  weiter  die  kategorische 
meiirere  Schlußfolgerung,  daß  mit  ßvßXog,  ßißXiov,  liber,  volumen  im  Singular  nie- 
Bücher  j^g^][g  q\^  mehrbüchcriges  Werk  bezeichnet  sein  kann;  wo  immer  es  sich 
um  ein  solches  handelt,  steht  der  Plural  ßißXla,  lihri.  Scheinbare  Aus- 
nahmen zu  dieser  Regel  erklären  sich  daraus,  daß  Über  nicht  nur  „das 
Buch",  sondern  auch  „ein  Buch"  heißen  kann.  Wer  wollte,  wenn  wir 
z.B.  bei  Plinius  epist.  6,  20,  5  lesen:  posco  libriim  Titi  Livij  behau|)ten, 
das  ganze  Liviuswerk  werde  da  als  Über  bezeichnet?  Wir  haben  „ein 
Buch  des  T.  Livius"  zu  übersetzen.  Älmlich  Plin.  epist.  9, 13,  18  u.  sonst,  i) 
Sämtliche  Zitate  und  Büchererwähnungen  bei  Cicero,  Gellius  und  Athe- 
naeus  hat  Sprockhoff  zusammengestellt  und  die  gegebene  Regel  vollauf 
bestätigt  gefunden.  Wo  Gellius  sie  wirklich  einmal  zu  verletzen  scheint, 
da  ergibt  sich,  was  auch  sonst  feststeht,  daß  er  die  Werke  gar  nicht 
selbst  kannte,  die  er  zitiert;  wo  Athenaeus  sie  verletzt,  da  liegt  Text- 
verkürzung vor,  und  die  betreffenden  Buchzahlen  sind  weggelassen;  denn 
der  Text  des  Athenaeus  verfiel  z.  T.  dem  Exzerptor.  Aber  diese  Fälle 
sind  außerordentlich  selten  und  verschwinden  ganz  in  der  Masse. 

Und  wir  folgern  nun  also  z.  B.,  wenn  Athenaeus  p.  680  D  ''Animv  er 
TM  jiEQi  Ttjg  "Pcojuaixrjg  dialexxov  zitiert,  daß  dies  Werk  Apions,  wie  der 
Singular  h  reo  anzeigt,  einbücherig  und  nicht  umfangreicher  war  als  etwa 
Ciceros  Orator.  Nennt  Vellejus  sein  Geschichtswerk  volumen,  so  erschien 
dasselbe  ursprünglich  unzerlegt  in  einer  einzigen  Buchrolle.  Heißt  die 
Odyssee  des  Livius  Andronicus  bei  Gellius  über,  so  fehlte  auch  ihr  ur- 
sprünglich die  Buchteilung.  2) 

ßiß).og,  über  Ebenso   kann   nun   aber   auch   Über,    Aveil    „BuchroUe",    niemals    Teil 

nie  Teil         .  .  7  77  ? 

eines  Buchs  eines  Buches  sein  (anders  steht  es  ab  und  zu  und  unter  besonderen.  Um- 
ständen mit  Ubellus,  s.  S.  292),   und   es   ist  ausgeschlossen,    daß  z.  B.  die 
pseudovergiUschen  „libri"   Culex,    Ciris  etc.   jemals   zusammen   in   einer 
Rolle   überliefert   Avorden  seien.     Denn   jedes   dieser  Gedichte   galt   eben 
nach  ausdrücklichem  Zeugnis  als  ein  „liber".^)     Friedländer  folgerte  aus 
Martial  III  1,  3,  daß  Martials  Bücher  I  and  II  zusammen  als  ein  volumen 
erschienen  seien,   was  Aveder  sachlich  möglich,  noch  durch  den  Wortlaut 
jener  Stelle  selbst  irgendwie  begründet  ist.     Die  Worte  sind: 
Hunc  legis  et  laudas  librum  fortasse  priorem. 
lila  vel  haec:  mea  sunt,  quae  meliora  putas. 
So   ist   meines  Erachtens    zunächst  im  v.  4  zu  interpungieren;    der  Sinn: 
sive    haec    sive    illa    meliora   putas,    mea    sunt.     Im  v.  3    aber    steht   der 
Singular  liher  prior,  Avährend  hier  doch,  wie  man  meint,  auf  beide  Bücher 
I  und  II  zurückgeblickt  werden  mußte.     Aber   es    genügt   durchaus,    an- 

1)  Buchrolle  S.  23  Anm.  ^)  Siehe    Catalepton   S.  8.     Auch   die 

2)  Buchrolle  S. 34;  Sprockhoff  S.  27  f.    |    Copa  heißt  liher  bei  Oharisius  p.  63, 11  K. 


I.  Beschreibstoffe.     14.  Die  Papyrusrolle.  277 

zunehmen,  daß  Martial  hier  nur  auf  Buch  II  zurückblickt;  überdies  aber 
steht  fest,  daß  Über  prior  auch  allgemein  „eines  der  voraufgehenden 
Bücher"  heißen  kann;  denn  liber  heißt,  wie  soeben  S.  276  gezeigt,  nicht 
nur  „das  Buch",  sondern  auch  „ein  Buch".  Also:  „du  liest  dies  Buch 
und  dein  Lob  gilt  vielleicht  nur  einem  früheren  Buche".  AVarum  aber 
hat  Martial  hier  nicht  libros  priores  im  Plural  geschrieben'?  Der  Vers  hätte 
alsdann  mit  viermaligem  Schluß-s  gelautet: 

Hunc  legis  et  laudas  libros  fortasse  priores. 
Der  Dichter  wollte  den  verhaßten  Sigmatismus  vermeiden  (vgl.  Kritik  und 
Hermeneutik,  oben  S.  78  f.).     Damit  ist  alles  erklärt. 

Erst  im  7.  Jahrhundert  v.  Chr.  erschloß  König  Psammetich  Ägypten 
dem  griechischen  Handel.  Erst  damals  kann  die  Chartarolle  den  Griechen 
zugänglich  geworden  sein,  und  sie  verdrängte  durch  ihre  Vorzüge  all- 
mählich und  ziemlich  rasch  alle  anderen  Beschreibstoffe,  welche  Vor- 
herrschaft   des    Papyrus    dann    bei   Griechen    und    Römern    bis    in    das 

5.  Jahrhundert  n.  Chr.  hinein  gedauert  hat.  Von  Dichtern  des  8.  und 
7.  Jahrhunderts  v.  Chr.,  wie  Hesiod  und  Archilochos,  auch  von  Alkman, 
sind  wir  anzunehmen  genötigt,  daß  sie  ihre,  verhältnismäßig  nicht  um- 
fangreichen Einzehverke  noch  auf  Holz  oder  Blei  niederschrieben  und  die 
Texte  alsdann  in  Tempel  aufstellten  und  sicherten.  Die  Tempelarchive 
waren  die  ersten  Hüter  der  Litteratur.  i)  Daß  dagegen  im  6.  Jahrhundert 
die  Prosalitt eratur  bei  den  Griechen  beginnt,  muß  mit  dem  Aufkommen 
des  Papyrusbuchs,  das  allein  bequem  lesbar  war  und  auch  umfangreichere 
Texte  aufnahm,  zusammenhängen.  Ebendeshalb  kann  erst  damals  Homer 
gebucht  Avorden  sein,  man  mag  von  der  Pisistratuslegende  halten,  was 
man  will;  erst  damals  erw^eiterte  Stesichoros  die  melische  Kunst  zu  um- 
fangreichen Gesängen,  die  wiederum  ohne  solches  Buch  nicht  denkbar; 
jedes  der  26  Bücher,  die  man  von  Stesichoros  hatte,  war  mutmaßlich  ein 
selbständiges,  in  sich  abgeschlossenes  Opus.  Erst  durch  dies  Buch  ist 
endHch    auch    die    Tragödie    des    Aeschylus    möglich    gew^orden.2)     Das 

6.  Jahrhundert  hat  also  eigentlich  erst  eine  Litteratur  in  Buch- 
form gebracht,  und  hierauf  stützt  sich,  was  ich  oben  S.  221  ausgeführt; 
es  ist  dasselbe  Jahrhundert,  in  dem  beiläufig  auch  bei  den  Juden  und 
Israeliten  mit  dem  Propheten  Hesekiel  eine  Litteratur  in  Buchform,  eine 
wirkliche  Sei iriftst ellerei  begann.  3) 

Man  hat  gezweifelt,  ob  die  Papyrusrolle  wirklich  so  früh  bei  den 
Giiechen  in  Aufnahme  gekommen  sei,  weil  man  in  der  älteren  gTiechischen 
Litteratur  ihre  ausdrückliche  ErAvähnung  vermißte.  Aber  ein  Zeugnis 
reicht  aus.  Die  ßißAoc  bei  Aeschylus  Hiket.  947  sind  Beweises  genug. 
Aeschylus  nahm  hier  deshalb  Anlaß,  die  ßlßXoi,  die  aus  Ägypten  stam- 
menden Buchrollen,  zu  erwähnen,  wöil  an  dieser  Stelle  die  Rede  des 
Sprechers  grade  an  Ägypter  gerichtet  ist.*)     Vor  allem  aber  hat  die  Be- 

\)  Buchrolle  S.  211  f.  und  222  f.;   ein  1  *)  Buchrolle  S.  212. 

Exemplar  des  Alcaeus  in  einem  dreieckigen  |  ')  Siehe   K.  Budde,   Gesch.  der    alt- 

Behälter  befand  sich  im  Schatz  des  deli-  i  hebräischen  Litteratur  S.  151 :  Neue  Jahrbb. 

sehen  Apoll :   s.  Homolle  in  Monuments  i  XIX  (1907)  S.  702. 

grecs  Vrn  (1878)  S.  49.  |  ')  Centralblatt  17  S.  551. 


Kostbar 
keit  der 


278  ^^^  antike  Buchwesen. 

trachtung  der  Bildwerke  Aufklärung  und  Sicherheit  gebracht.  Denn  auf 
zalilreichen  Vasenbildern  und  Werken  der  Plastik  und  Koroplastik  des 
6.  und  5.  Jahrhunderts  v.  Chr.,  die  ich  „Die  Buchrolle  in  der  Kunst"  S.  46, 
80,  81,  92,  110,  119,  138,  139,  142  ff.,  147,  148,  156,  157,  158  besprochen 
und  zum  Teil  in  Abbildung  vorgeführt  habe  (das  älteste  Monument  der 
Art  ist  vielleicht  die  Terrakotta  ib.  Abb.  91),  erscheint  die  Papyrusrolle 
tatsächhch  im  Gebrauch  der  Griechen  und  ihres  Kulturlebens,  und  zwar 
als  einzige  Buchform.  Ein  anderes  Lesebuch  gab  es  auch  schon  in 
jenen  Zeiten  nicht. 

Wenn  also  Herodot,  wo  er  über  Ägypten  handelt,  von  den  ßißXia, 
die  man  von  dort  bezog,  nicht  erst  besonders  redet,  so  erklärt  sich  dies 
einfach  genug  daraus,  daß  der  Gebrauch  dieser  ßißUa  zu  bekannt,  daß  er 
allen  Griechen  geläufig  war.  Denn  Herodot  will  von  den  ägyptischen 
Sitten  und  Gebrauchsgegenständen  nur  das  beschreiben,  was  dem  Griechen 
nicht  geläufig  war.  Die  Papyrus  rolle  war  damals  schon  das  einzige 
„Buch",  das  man  hatte. i) 

Daß  die  Chartaproduktion  des  kleinen  Nildelta  ausreichte,  die  ganze 
Charta  Kulturwclt  jahrhundertelang  mit  Papier  zu  versorgen,  muß  wundernehmen. 
Das  Papyrusschilf  wuchs  auch  in  Syrien,  auch  in  Italien;  aber  nur  an 
den  Mündungen  des  Nil  Avurde  es  als  Kultmpflanze  planvoll  gezüchtet, 
nur  dort  gab  es  Fabriken  mit  uralter  Tradition;  die  Chartafabrik  des 
Fannius  in  Rom  war  nur  eine  ephemere  Erscheinung,  die  mutmaßlich  der 
Zeit  des  Kaisers  Augustus  angehört-e.  In  der  Tat  Avar  die  Charta  denn 
auch  für  den  Ägypter  schon  in  den  älteren  Zeiten,  als  sie  noch  nicht 
exportiert  wurde,  ein  wertvoller  Gegenstand,  mit  dem  man  auf  das  spar- 
samste umging  (Buchrolle  S.  7  f.);  sie  war  zu  allen  Zeiten  imgebührlich 
teuer.  Und  der  Grieche  geizt  womöglich  noch  mehr  als  der  Ägypter. 
Einen  Thukydideskommentar  stellt  er,  um  zu  sparen,  auf  die  Rückseite 
von  Urkunden,  die  er  zu  diesem  Zweck  erst  zusammengeklebt  hat:  Oxyr. 
Pap.  Bd.  VI  986.  Ebenda  VI  927  Avird  eine  Hochzeitseinladung  auf  der 
Rückseite  eines  Streifens  geschrieben,  der  aus  zwei  Urkunden  aus- 
gesclinitten  und  zusammengeklebt  ist.  Die  erhaltenen  Homerpapyri  sind 
vielfach  so  beschaffen,  daß  auf  dem  Recto  der  Charta  Rechnungen  und 
anderes  Geschäftliche  steht,  der  Homer  mit  dem  Verso  vorlieb  nehmen 
muß.  Das  bekannte  Fragmentum  eroticum  steht  auf  der  Rückseite  eines 
Geschäftskontraktes  u.  s.  f .  u.  s.  f .  (mehr  der  Art  Buchrolle  S.  30). 

Über  den  Chartamangel  jener  Zeiten  und  das  Hochtreiben  des  Ein- 
kaufspreises redet  betreffs  der  charta  hieratica  einmal  ausdrücklich  Strabo 
S.  800;  es  sind  dienveg  xcbv  rag  jzoooodovg  ejisyaslveiv  ßovkojLtevcov,  von  denen 
er  sagi:  ov  yaQ  ecboi  Jtokkaxov  (pvso&ai  (rijv  ßvßXov),  xfj  de  ojidvei  tlijli]v  etti- 
i^evreg  ri^v  tzqoooÖov  ovrcog  av^ovoi,  rrjv  de  xoivrjv  XQetav  öiaXv fxaivovxai.  Sehen 
wir  uns  nach  genaueren  Ansätzen  um,  so  kostete  im  Jahre  407  v.  Chr. 
ein  yaQTi^g,  d.  i.  eine  leere  Chartarolle,  in  Athen  1  Drachme  2  Obolen,-*) 
und  dieser  Preis  war  ziemlich  ständig;  denn  aus  Dolos  erhalten  wir 
für    den    yaQxi^g    ungefähr    die    nämlichen    Ansätze:    1    Drachme    4    oder 


*)  Genaueres  hierüber  ebenda  S.  552.   j  ^)  Buchwesen  S.  433;  Buchrolle  S.  27  f. 


I.  Beschreibstoflfe.     14.  Die  Papyrusrolle. 


279 


5  Obolen.i)  Das  würde  in  modernem  Geldwert  etwa  4  Mark  bedeuten, 
\\'ährend  wir  heute  gewiß  für  40  Pfennige  das  gleiche  Quantum  Papier 
haben  können.  Weitere  antike  Preisansätze  findet  man  „Buchrolle'*  S.  28, 
Gardthausen  S.  68.  Anschaulicher  als  sie  aber  ist  die  Vergleichung  des 
Wertes  anderer  Bedürfnisai-tikel ;  die  „Herstellung"  eines  einzigen  x^Q^V^ 
war,  wie  a.  a.  0.  gezeigt  ist,  ebensoviel  wert  wie  fünf  Laib  Brot,  fast 
ebensoviel  wie  ein  Hemd  {yiTcoviov).  Das  sind  ganz  ungeheuerliche  Wei*t- 
verhältnisse.  Und  wir  begreifen  hiernach,  daß  Kaiser  Firmus  allein  mit 
den  Einnahmen,  die  er  als  Privatmann  aus  seinen  Papyrusfabriken  in 
Ägypten  bezog,  ein  ganzes  Kriegsheer  unterhalten  konnte.*) 

Wer  in  einer  Landstadt  wohnte,  konnte  sich,  wie  wir  beim  jüngeren  ^a^io  char- 
Piinius  sehen,  überhaupt  keine  charta  anschaffen,  3)  weil  der  Handel  sie  nur  *iung  IqT 
in  die  großen  Emporien  trug.  Wiederholt  traten  ferner  in  Ägypten  Miß-  Vertriebs 
ernten  ein,  und  ein  allgemeiner  Papiermangel  war  dann  die  Folge  (s.  Buch- 
rolle S.  34).  Weil  von  der  Ernte  und  dem  rechtzeitigen  Eintreffen  der 
ägyptischen  Handelsflotten  alles  abhing,  so  mußte  für  Rom  die  Charta- 
einfuhr  ebenso  reguliert  und  beaufsichtigt  werden  wie  die  Kornzufuhr, 
und  der  res  frumentaria  oder  cura  annonae  entsprach  die  res  chartaria, 
von  der  wir  hier  handeln.  Erstlich  wurden  besondere  Papierspeicher, 
liorrea  chartaria,  in  Rom  angelegi,*)  damit  stets  Vorrat  und  bei  Notlage 
Reserven  zur  Verfügung  stünden;  ferner  griff,  wenn  der  Mangel  wirk- 
lich empfindlich  wurde,  der  Senat  selbst  ein  und  beaufsichtigte  die  Ver- 
teilung dieser  Reserven  ;5)  vor  allem  hielten  die  Kaiser  selbst  ihre  Hand 
darüber;  ein  besonderes  Verwaltungsressort  des  kaiserlichen  Hauses  war 
die  ratio  charfaria,  die  den  Verkauf  dauernd  und  gleichmäßig  reguliert 
haben  muß;  im  Dienst  dieses  Ressorts  standen  kaiserhche  Freigelassene 
als  officiales  rationis  chartariae,  GTL.  VI  8567.6) 


\)  Siehe  Homolle  in  BibUoth.  des 
ecoles  franc.  1887  S.  12  und  Bull,  de  corr. 
hell.  1890  S.  398;   Gardthausen   S.  68,  4. 

2)  Oben  S.  263  Anm.  5. 

')  Vgl.  auch  Hieron.  epist.  11, 1:  cartae 
exiguitas  indickim  solitudinis  est. 

*)  Siehe  Jordan-Hülsen,  Rom.  Topo- 
graph. III  S.  329. 

^)  Plin.  nat.  hist.  13,  89:  ut  e  senatu 
dnrentur  arhitri  dispensandae. 

6)  O.  HiRSCHFELD,Yerwaltungsbeamte, 
1905,  S.  29  ff. ;  Gardthausen  S.  70.  Daß 
die  Kaiser  selbst  als  Nachfolger  der  Ptole- 
mäer  in  Aegypten  regelmäßige  Revenuen 
aus  der  dortigen  Papierindustrie  bezogen, 
ist  nicht  glaublich:  s.  oben  S.  263, 5.  Wohl 
hat  der  Statthalter  des  Augustus,  Cor- 
nelius Gallus,  sich  dort  zeitweilig  um  die 
Fabrikation  selbst  bekümmert;  aber  die 
Charta  Corneliana  hielt  sich  nicht  (Buch- 
wesen S.  250).  Die  Papierbezeichnungen 
Charta  Augusta,  charta  Livia  aber  sind  nur 
ehrende  Bezeiclinungen;  dies  sagt  Isidor 
(Sueton)  6, 10  ausdrücklich:  Augustea  regia 
in  honorem  Octaviani  Augusti  appellata, 
ebenso  Plinius  oben  S.  265  Zeile  5,  und 
sie  beweisen  also  für  kaiserliche  Fabriken 


gar  nichts.  Auch  unsere  Kaiser  haben  kein 
Monopol  auf  Tinte,  obschon  es  bei  uns 
„ Kaisertinte "  gibt.  Es  war  eine  Absonder- 
lichkeit, daß  Kaiser  Claudius  die  Herstel- 
lung der  Charta  Claudia,  die  alsbald  alle 
anderen  Sorten  übertraf,  selbst  wirklich  ver- 
anlaßte ;  in  dieser  Tatsache  verraten  sich  je- 
doch lediglich  die  intensiv  grammatisch-lit- 
terarischen Interessen  dieses  Kaisers,  der  ja 
auch  drei  neue  Buchstaben  in  das  Alphabet 
eingefülirt  hat;  Weiteres  läßt  sich  aus  ihr 
nicht  folgern.  —  Zu  dieser  Anmerkung 
muß  ich  eine  weitere  Anmerkung  hinzu- 
fügen. In  den  zitierten  Worten  des  Isidor 
wird  Kaiser  Augustus  Octauianus  Augustus 
und  nicht  divus  genannt.  Daraus  folgerte 
Wünsch  (a.  a.  O.  S.  2191),  die  Quelle,  aus 
der  Isidor,  d.  i.  Sueton,  geschöpft  habe, 
müsse  der  Lebenszeit  dieses  Kaisers  selbst 
angehört  haben,  da  eben  sonst  divus  zu 
fordern  wäre.  Das  trifft  nicht  zu;  die 
Spätzeit  nennt  den  Kaiser  auch  sonst  ein- 
fach Octauianus  Augustus ;  das  tut  z.  B.  der 
Theodosiusbrief  bei  Ausonius  p.  3  ed. 
Peiper.  Diesem  Sprachgebrauch  hat  sich 
Isidor  angeschlossen.  Auch  das  Adjektiv 
Augustea,  das  wir  bei  ihm  lesen,  verrät  deut- 


280  ^^^  antike  Bachwesen. 

Für  welches  andere  Schreibmaterial  ist  sonst  je  Ahnliches  geschelien? 
und  wie  groß  mochte  die  Schwierigkeit  der  regelmäßigen  Beschaffung 
von  Charta  erst  in  Antiochia,  Smyrna,  Pergamum,  Corduba  und  anderen 
Plätzen  der  weiten  Welt  sein,  die  solcher  Fürsorge  entbehrten?  Man  hat 
den  Eindruck,  daß  die  Fabrikanten  am  Nil  gradezu  einen  Trust  bildeten; 
sie  beeinträchtigen  selbst  den  Gebrauch  der  Charta  {rrjv'  ygeiav  dialvjuai- 
vovrai),  sagt  Strabo,  oben  S.  278.  Darin  liegt  eine  Einhelligkeit  des  Ver- 
fahrens dieser  Leute.  Wie  ängstlich  man  in  den  Provinzen  den  Verbrauch 
der  Charta  bemaß,  veranschaulicht  uns  einmal  das  Edikt  des  Ulpius  Maris- 
cianus  über  die  Sportein,  i)  avo  für  die  drei  Arten  der  Prozeßverhandlungen, 
postulatio,  contradictio  und  causa  in  urguenti  finienda,  Z.  41  f.,  Folgendes 
vorgeschrieben  wird:  carta  in  postulatione  singuli  tumi  (=  tomi)  sufficimit 
maiores;^)  in  contradictionibiis  quaternos  maiores,  in  definito  ncgoüo  numquam 
ampliiis  quam  sex  a  litigatore  exigi  oportebit.  Besonders  in  dem  numqiiam 
ampliiis  veiTät  sich  die  große  Sorge,  daß  ja  nicht  zu  viel  Charta  ver- 
braucht werde. 

Infolge  dieser  Schwierigkeiten  und  Teuerungen  entstand  daher  außer- 
halb Ägyptens  schon  früh  das  Verlangen,  ein  Konkurrenzmaterial  zu 
schaffen,  und  es  kam  etwa  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  oder  vielleicht  auch 
schon  früher  ein  Verfahren  auf,  die  Tierhaut  (oben  Nr.  9)  für  Buchzwecke 
kunstvoller  zu  präparieren  und  brauchbarer  zu  machen.  Dies  führt  uns 
an  letzter  Stelle  zur  Besprechung  des  Pergaments. 

15.  Das  Pergament. 

mem-  Der  lateinische  Ausdruck   für  Pergament   ist   fast  ausschließlich  nur 

pergamena ^ßw^^<«^«e ;  bei  den  Griechen  bleibt  ÖKf^egai  auch  jetzt  allein  das  Übliche; 

nur   daß   man   bisweilen   auch   juejußgävai    von   den  Römern  entlehnte  (so 

schon   Paulus    2.  Tim.  4,  13).      Die    Bezeichnung   pergamena,    jTeQyaju}]v6vy 

findet  sich  vielleicht  zum  erstenmal  im  Jahr  301  n.  Chr.,    im  Edikt  Dio- 

cletians   De   pretiis   rerum   venalium.^)     Der  Verfertiger   des   Pergaments 

hieß  nur  di(p&egdoiog,  memhranarius,  Avie  dasselbe  Edikt  (7, 33)  zeigt. 

nicht  in  Wann  der  Gebrauch  des  Pergaments  aufkam,  bleibt  unsicher.   Denn 

erfl^en  wcuu  Varro  bei  Plinius  13,  68  zweierlei  lehrt,    im  3.  Jahrhundert  v.  Chr. 

sei  in  Alexandria   unter  den  Ptolemäern   die  Charta  „erfunden'*  (reperta) 

und  bald  hernach  im  2.  Jahrhundert  seien  dann  bei  der  Konkurrenz  der 

pergamenischen  Bibliothek  mit  der  Bibliothek  Alexandrias  in  Pergamum 

auch  die  membranae  „erfunden"  {repertae)  —  Varro  denkt  dabei  an  König 

Eumenes  II  (197 — 159  v.  Chr.)  — ,  so  ist  die  erste  Belehrung  absurd,  und 

damit  ist  auch  die  zweite  diskreditiert. 

Fassen  wir  zunächst  den  ersten  Irrtum  ins  Auge.  Wie  konnte  er 
entstehen?  Die  Sache  ist  klar.  Der  Römer  hielt  in  seiner  Unkenntnis  der 
naturgeschichtlichen  Dinge  die  Charta  irrig  für  Baumbast  (oben  S.  253)  und 

lich]üngereSprache;dieBezeichnungr7/rtr^a  ;    des  Tiberius  angehörte,  ist  wahrscheinlich. 

Angusta,  die  Plinius  gibt,  ist  die  authen-  j  ')  Ephem.  epigr.V  S.  630  ff. 

tische.  Am  wichtigsten  wäre  es,  die  Quelle  j  ^)  Zur  Lesung  ^mwi  vgl.  Jon.  Schmidt, 

zu  erraten,  die  Plinius  seinem  Traktat  über  I   Rhein.  Mus.  47  S.  326;  Ygl.  tiumdus  ohen 

die  Charta  zugrunde  gelegt  hat.    Daß  sie  1   S.  268. 

der  Schlußzeit  des  Augustiis  oder  der  Zeit  j  ^)  Buchwesen  S.  52. 


I.  Beschreibstoffe.     15.  Das  Pergament.  281 

übersetzte  darum  das  grieclii sehe  Wort  ßißloq  mit  liber  =  „Bast",  während 
er  das  Wort  xaQTqg  in  der  Form  Charta  beibehielt.  Man  las  nun  die 
älteren  griechischen  Autoren  durch,  fand  in  ihnen  wohl  das  Wort  ßißkoty 
ßtßÄiaj  also  Bastbücher,  aber  nirgends  das  Wort  xdoxrjg  erwähnt  i)  und 
schloß:  also  war  die  eharta  nicht  reperta\  den  älteren  Hellenen  war  dies 
Material  also  noch  unbekannt,  sie  hatten  nur  auf  Bast  geschrieben.  Nicht 
aus  einer  besonderen  Überlieferung  über  griechisches  und  ägyptisches 
Buch-  imd  Bibliothekswesen,  sondern  aus  Zusammenlesen  von  Litteratur- 
stellen,  wie  wir  es  heute  auch  noch  ausführen  können,  entnahm  man  die 
Entscheidung  in  dieser  Frage.  Daher  sind  auch  die  Einwände,  die  man  her- 
nach gegen  Varro  erhob,  von  derselben  Art,  Plin.  13, 84 f.:  bei  Cassius  Hemina 
stehe  doch  zu  lesen,  in  dem  ausgegrabenen  Sarg  Numas  habe  man  Bücher 
aus  Charta  gefunden;   also  gab  es  eharta  schon  zu  König  Numas  Zeiten. 

Der  erste  Irrtum  Varros  hat  nun  den  zw^eiten  Irrtmn  nach  sich  ge- 
zogen. Hatten  die  Alexandriner  für  ihre  Bibliothekszwecke  wirklich  die 
Charta  erfunden,  so  mußten  die  Pergamener  bei  der  offenkundigen  Kon- 
kurrenz beider  Zentren  der  Gelehrsamkeit  natürlich  das  andere  Schreib- 
material, die  Membrane,  erfunden  haben:  eine  anekdotenhafte  Zuspitzung 
von  Vorgängen,  deren  Ursprung  in  Wirklichkeit  w^eiter  und  betreffs  der 
Charta  viel  weiter  zui-ücklag.  2) 

Allerdings  aber  muß  Pergamon  unter  den  Attaliden  und  auch  noch  in  Perga- 
hernach  andauernd  für  die  Membrane  ein  Hauptfabrikationsplatz  gewiesen  wTnde^und 
sein.  Das  setzt  eben  dieselbe  Darstellung  des  Plinius  zweifellos  als  be-  hergestellt 
kannte  Tatsache  voraus;  und  in  der  schwierigen  und  lückenhaft  über- 
lieferten Galenstelle  XVHI  2  S.  630  K.  ist  dies  gleichfalls  ausgesprochen 
oder  angedeutet.  Ich  entnehme  einer  freundlichen  Mitteilung  meines  Kol- 
legen Kalbfleisch,  daß  an  dieser  Galenstelle  die  einzig  zuverlässige  Pariser 
Handschrift  Folgendes  bietet:  xiveg  juev  ydo  xal  jcdw  nalaicbv  ßißXlcov  dv 
evQEiv  eojiovdaoav  jiqÖ  Toiaxooicov  hcbv  yeyQafXfjLeva  rd  juev  exovreg,  xd  öe  ev 
diacfogioig  (pXvoaig  ö)07ieo  xd  Tzag'  yfuv  er  UeQydficp.  Daß  am  Schluß  für 
dia(f6Qoig  cpilvQatg,  wie  gedruckt  wird,  diq^&egaig  zu  lesen,  konjizierte  Cobet,^) 
Avährend  ich  durch  Umstellung  zu  helfen  suchte.*)  Kalbfleisch  proponiert 
mir  unter  der  Annahme,  daß  das  überflüssige  eyovxeg  aus  ev  ydoxatg  ver- 
schrieben sei,  und  unter  Vergleichung  der  sehr  ähnlichen  GalensteUen 
XVII  2  S.  249,  XVII  1  S.  922,  auch  VII  890,  16,  folgende  HersteUxmg: 
.  .  .  fvqeXv  EOTiovdaocxv  tzoo  xQiaxoolcov  excjv  yEyQafx^iva,  xd  juev  ev  ydgxaig,  xd 
de  (^Ev  ÖElxoig,  xd  Öe)  ev  öicp&EQaig  cöojiEg  xxL  Werden  auf  diesem  Wege 
die  (pdvgai  aus  dem  Text  beseitigt,  so  bleibt  doch  Tatsache,  daß  der 
Schreiber  des  Archetyps  von  den  cpdvgai  als  einem  üblichen  Beschreib- 
stoff Kenntnis  hatte.  Die  ÖKfy&EQm  aber  bedeuten  keinesfalls  Abschriften, 
sondern  Brouillons;  das  zeigen  die  anderen  zitierten  Galenstellen;  vgl. 
unten  S.  289. 


^)  In  der  älteren  griechischen  Litte- 
ratur  steht  es  wohl  tatsächlich  nur  einmal 
bei  dem  Komiker  Plato  (bei  Pollux  7, 210). 

2)  Vgl.  Centralblatt  S.  553  f.  Speziell 
sollte   dann   natürlich  Krates   das  Perga-   i  ^)  Buchwesen  S.  503 

ment    erfunden    haben;     s.   Boissonade,   |  -»^  Buchrolle  S.  21,  1. 


Anekd,  I  S.420:  KQairjg  6  ygaLif-iarixog  v::rdo- 
j^cov  fierä  l-irzdXov  zov  IlegyafJtpvv  ix  SsojudTMV 
k'xajLie  fitfjßQÜvag  xai  ijiotrjos  lov  "Axxakov  asxo- 
ozeuai  avräg  eig  'PuifxrjV. 


282  ^3.8  antike  Buchwesen. 

Zu-  Eine   feinere   Zubereitung   der   auf   alle   Fälle   ungegerbten   Tierhaut 

bereitung  __  ^^  kommt  besonders  die  Haut  der  Schafe,  Ziegen,  Kälber  in  Betracht, 
gelegentlich  auch  Antilopenfell  —  bestand  in  sorgfältiger  Reinigung,  in 
Entfernung  der  Haare  und  Beizung  der  Innenseite  mit  Kalk.  Danach 
wurde  das  Fell  noch,  um  auszubleichen,  in  Wasser  gelegt,  endlich  mit 
Bimstein  geglättet. i)     Eine  Stelle  des  Persius  3,  10   erklärt   sich   hieraus: 

lam  über  et  positis  bicolor  membrana  capillis 
Inque  manus  chartae  nodosaque  venit  hanindo. 

Wir  sehen,  daß  sich  der  Studierende,  von  dem  an  dieser  Persiusstelle  die 
Rede  ist,  erstlich  des  Über  oder  Litteraturbuchs  zum  Studieren  und  Lesen 
bedient,  sodann  der  membrana  zu  eigenen  Entwürfen,  endlich  der  chartae 
zur  Reinschrift ;  die  membrana  aber  ist  bicolor  infolge  der  Entfernung  der 
Haare:  die  eine  Seite  mehr  gelblich,  die  andere  weiß. 
FrühesVor-  Daß  cinst  aucli  schon  die  wertvollen  Membranbücher  der  Perserkönige 

des  Perga-  iiD.d  die  gottesdienstlichen  Lederrollen  der  Juden  so  sorgfältig  hergestellt 
ments  waren,  ist  eine  naheliegende  Vermutung  (vgl.  oben  S.  256),  ja,  mehr  als  das: 
im  Aristeasbrief  wird  die  Feinheit  des  Pergaments,  aus  dem  die  gottes- 
dienstlichen Rollen  der  Juden  bestanden,  ausdrücklich  hervorgehoben.  2) 
Vom  Maler  Parrhasios  besaß  man  Zeichnungen  auf  membranae  (Plin.  35, 68) ; 
auch  hier  muß,  bei  der  Kostbarkeit  dieser  Zeichnungen,  unbedingt  das- 
selbe vorausgesetzt  werden.  Aus  Persien  kam  das  Verfahren  mutmaßlich 
nach  Pergamon. 
gerout,  Jedenfalls   herrscht   aber   auch   hier,    was    nicht    genug    beachtet   zu 

geheftet  Werden  pflegt,  wie  bei  der  Charta,  zunächst  noch  überall  das  System 
der  Rollung.  Nur  darum  können  die  Membranbücher  ßißUa  heißen  (an 
der  eben  zitierten  Galenstelle  und  auf  der  attischen  Inschrift,  oben  S.  264) ; 
denn  ßißXia  sind  Rollen.  Von  geheftetem  Pergament,  das  zu  Lesezwecken 
diente,  erfahren  wir  bis  zum  Jahre  85  n.  Chr.  gar  nichts.  Die  Idee  der 
Heftung  war  noch  unerfunden.  Auch  die  auf  Membrane  geschriebene 
IHas  in  der  Nuß,  die  Plinius  7,  85  als  ein  Wunder  der  Miniaturschrift 
erwähnt,  kann  sehr  Avohl  geroUt  gewesen  sein;  denn  das  empfiehlt  schon 
die  Nußform.  Sicher  gilt  dasselbe  auch  von  der  Landkarte  auf  Membrane 
bei  Sueton,  Domit.  10.  Solche  Pergamentrolle  erkenne  ich  ferner  auch 
auf  dem  Grabmonument  des  Architekten  Statilius  Aper,  auf  dem  Capitol 
(Buchrolle  S.  218);  ebenso  steht  es  mit  den  deo/Aanva  xal  ßvßhva  rev/i] 
und  öeQfxd'iiva  ßvßUa  auf  der  Inschrift  von  Priene;^)  denn  revyr}  sind 
wiederum  Rollen,  ßvßUa  ebenfalls  (oben  S.  275).  Ausdrücklich  redet  auch 
Ulpian  von  solchen  Pergamentrollen,  Digest.  32, 52 :  Volumina  sive  in  charta 
sive  in  membranis  sint.  Und  die  membranae  consutae  bei  Ulpian  a.  a.  0. 
bedeuten  gleichfalls  zweifellos  Rollen;*)  denn  zur  Herstellung  einer 
längeren  Pergamentrolle  war  es  eben  unerläßlich,  mehrere  Häute  zu- 
sammenzunähen,   Avie    die   Praxis    des    jüdischen   Buchwesens    zeigt   und 


1)  Dies  war  zum  wenigsten  das  Ver-  |  ^)  Siehe  Wilcken,  Hermes  44  S.  150  f. 

fahren  im  Mittelalter;  s.  MüRAtori,  Anti-  |  ^  Näheres  s.  Buchrolle  S.  21  Anm.: 

quit.  It.  II  S.  370:  H.  Breslau,  Urkunden-  j  falsch  aufgefaßt  z.B.  bei  Marquardt-Mau 

lehre  I  S.  887.  j  S.  819. 

«)  Vgl.  Blau,  Eivista  Israelit.  S.  49. 


I.  Beschreibstoffe.     15.  Das  Pergament.  283 

Avofür  uns  heute  auch  sonst  noch  aus  dem  Mittelalter  Beispiele  genug 
vorKegen.^)  Durch  Zusammennähen  konnte  auch  den  Pergamentrollen 
eine  gewaltige  Länge  verliehen  werden;  das  zeigen  schon  die  hebräischen 
Thorarollen ;  ebenso  auch  die  profanen  und  gottesdiensthchen  Pergament- 
rollen des  Mittelalters  (unten  S.  296  f.).  Besonders  alt  und  ehrwürdig  die 
Wiener  Pergamentrolle  der  Psalmen  aus  dem  6.  Jahrhundei-t.  Die  Juristen 
Roms  aber  waren  genötigt,  ausdrücklich  festzustellen,  daß  da,  wo  es  sich 
mn  Vermächtnisse  von  lihri  handelte,  solche  Membranrollen  auch  als  lihri 
gelten  sollten;  denn  lihri  bedeuteten  eigentlich  nur  Bast-,  d.  h.  Charta- 
rollen, ä)  Membranrollen  waren  nicht  libri,  sondern  nur  „quasi"  libri. 
Daher  die  Sorgfalt,  mit  der  Ulpian  hierbei  verweilt.») 

•)  Ueber  erhaltene  liturgische  Perga-  |  S.  20;  Buchwesen  S.  87  f.  u.  97  f. 

mentrollen    Buchrolle    S.  288;    mehr    bei  1  «)   Daß   Pergament   bei   den   antiken 

Gardthausen  S.152f.:  über  ExultetroUen  Kulturvölkern  zunächst  mit  der  Heftform 

auch  Weinberger  in  Bursians  Jahresber.  gar  nichts  zu  tun  hatte,  hebt  auch  Blau 

Bd.  98  S.  127  und  Bd.  106  S.  184.  I  hervor,  Kivista  Israelit.  S.  78. 

»)  Siehe  oben  S.  253  u.  280;  Buchrolle  , 


II.  Die  Verwendung  der  Beschreibstoffe. 

A.  Praktische  Zwecke. 

Blicken  wir  hiemach  endlich  zurück  und  fragen  nach  den  Zwecken, 
denen  die  verschiedenen  Beschreibstoffe  gedient  haben,  so  ist  für  mehrere 
von  ihnen  das  Nötige  schon  in  Obigem  angegeben,  und  ich  komme  hier 
weder  auf  die  Türen  noch  Alba  noch  Bleiplatten  noch  libri  lintei  zurück. 
Hervorhebenswert  ist  hier  etwa  nur  das  Folgende. 
^t°k^u  -^^^  stenographische  Nachschreiben  bei  den  Senatssitzungen  ge- 

in  Codices,  schah  in  E/Om  auf  Wachstafeln  oder  geweißten  Holztafeln,  Codices ;  s.  As- 
^■^t^etf'conius  p.32,6ed.  Stangl;!)  fälschlich  versteht  Schubart  (S.  104)  an  dieser 
Asconiusstelle  Codices  als  Pergamenthandschriften,  codex  ist  Holz  (oben 
S.  260)  und  wird  deshalb  vor  dem  Jahr  200  n.  Chr.  stets  nur  von  Holztafeln  ge- 
braucht. In  codicis  extrema  cera  schreibt  deshalb  Cicero  Verrin.  1,92.2)  Die 
Schnellschrift  war  vor  allem  Sache  der  notarii,^)  die  nach  ihrer  Schreib- 
tafel auch  cerariiy^)  übrigens  auch  exceptores  heißen  ;•■>)  aber  auch  die  Sena- 
toren selbst  führten  in  der  Curie  Schreibzeug  bei  sich.  Auch  ein  Bild- 
werk gibt  Anschauung:  der  Stein  des  Asteris  (Johnen  S.  124)  zeigt  uns 
einen  Tachygraphen  des  Altertums,  der  sich  einer  großen  Schreibtafel 
bedient.  Nach  Herstellung  des  Protokolls  wurden  dann  ersthch  aus  dem- 
selben die  Senatsbeschlüsse  entnommen  und  ausgehoben  und  in  einem 
liher  zusammengestellt  (Cic.  ad.  Att.  13,  33,  3),  woraus  Josephus  Antiqu. 
14, 219  mit  öeXtco  devrega  ein  genaues  Zitat  gibt.  Zweitens  aber  erschienen 
auch  die  vollständigen  Senatsprotokolle  in  Buchform,  und  ein  solches  voll- 
ständiges Protokoll  benutzt  der  Redner  bei  Plinius  epist.  9,  13,  4.6) 

Auch  die  Familienchronik  in  den  Hausarchiven  der  Römer  befand 

sich  in  solchen  Codices,  die  wir  gleichfalls  nur  auf  Holz-  oder  Wachstafeln 

deuten  können.'^) 

h^^h^d^*^'  "^^^  kaufmännische  Buchführung,  Kontrakte,  Quittungen  und  anderes 

Kaufmanns  Geschäftliche  diente  die  Charta  besonders  massenhaft  in  Ägypten ;  daselbst 

coX^oder  ^^^^  aucli  die  Ostraka;   in  Rom   dagegen  wiederum   die  Tafel.     Daß   der 

in  Mem-    codcx  ciccepti  ct  cxpcnsi  bei  Cicero  pro  Rose.  com.  5  aus  tabidcie,  Holz-  oder 

^^^^     Wachstafeln,  bestand,  bestätigt  die  Bezeichnung  tabulae  accepti  et  expensi 

ebenda  §  2.     Aber  auch   die  MembranroUe   diente   dem  Römer   für   diese 


Familien- 
chronik 
ebenso 


1)  Siehe  Buchwesen  S.  96 ;  Mommsen, 
Schriften  II  S.  363. 

2)  Vgl.  Mommsen,  Hermes  II  S.  116: 
oben  S.  260  ff. 

3)  A.  Mentz,  Geschichte  und  Systeme 
der  griechischen Tachygraphie,  Berlin  1907 ; 
Johnen  a.  a.  O. 

^)  Gardthausen  S.  44. 


'-)  Siehe  Ulpian,  Digest.  19,  2,  19; 
Augustin.  epist.  141, 2  (falsch  das  Scholium 
zu  Juvenal  7, 104). 

^)  Vgl.  Arthur  Stein,  Die  Protokolle 
des  römischen  Senats  (43.  Jahresbericht  der 
deutschen  Staatsrealschule  in  Prag,  1904). 

7)  Plin.  nat.  hist.  35,  7. 


IL  Verwendung  der  Beschreibstofife.     A.  Praktische  Zwecke. 


285 


Zwecke.  1)  chiwgrapha  dehitorum  auf  memhrana  erwähnt  Scaevola  in  den 
Digesten  32,102,  und  bei  Gaius  steht,  Digest.  II  18,10,2:  argentarius 
rationes  edere  iuhetur,  mit  der  Einschränkung:  ut  non  totum  cuique  codicem 
rationum  totasque  memhraiias  inspiciendi  describendique  potestas  fiat,  sed  ut 
sola  ea  pars  rationum  quae  ad  instruendmn  aliquem  pertineat  inspiciatur  et 
describatiir.  Der  hier  erwähnte  codex  wird  Wachstafeln  bedeuten,  die  me^n- 
hranae  aber  können  gerollt  sein  (vgl.  oben  S.  282).  Denn  in  der  Tat  erscheint 
auf  den  Bildwerken  der  Kaiserzeit  die  E,oUe  als  Hauptbuch  des  Geschäfts- 
manns; s.  „Buchrolle"  S.  153, 167,322  u.  66:  aus  der  Rolle  wird  den  Notaren, 
die  ihrerseits  auf  Tafeln  schreiben,  diktiert.  2)  Eine  dicke  Geschäftsbuch- 
rolle erwähnt  auch  Seneca  epist.  87, 7:  magniis  halendarii  liber  volvitur. 
Daß  endlich  auch  bei  den  Gerichtsverhandlungen  außerhalb  Ägyptens 
Papyrusrollen,  tomi  maiores,  in  bestimmter  Anzahl  Verwendung  fanden, 
lehrt  uns  das  inschriftlich  erhaltene  Edikt,  von  dem  S.  280  die  Rede  war. 

Wieder  etAvas  anders  steht  es  mit  Testamenten  und  Ehekontrakten;    Ehekon- 
denn  hier  scheint,   zum  wenigsten  in  vornehmeren  Familien,   die  Charta 
die  Tafel  allmählich  verdrängt  zu  haben.    Ehekontrakte  auf  Papyrus  sind 
noch   massenhaft    erhalten;    ständig   erscheinen   sie   auf   Sarkophagen   als 
Rolle  in  der  Hand  des  sponsus.^)   Dasselbe  zeigt  sich  bei  den  sogenannten 
commentarii,  vjzo/uv/jjuara^)  oder  Amtsführungsbüchern  der  Magistrate,  Commen- 
vielleicht  mit  Ausnahme  der  Censoren.^)    Das  Amtsbuch  eines  Prokonsul      **"^ 
als  codex  ansatus  lernten  wir  oben  S.  262  kennen.    Sonst  aber  heißen  z.  B. 
die  commentarii  pontificiwi  auch  libri  pontificum,  waren  also  Rollen.    Auch 
die  commentarii  Caesaris  heißen  ßißUa  bei  Plutarch,  Anton.  15,  also  wieder 
Rollen;   nicht  anders  die  Munizipalakten  der  Stadt  Caere,  CIL.  XI  3614; 
nicht   anders   die  Protokolle   bei   der  Rechtsprechung,   Tacit.  Ann.  15,  74. 
Ein    Stenograph   schrieb    da   zunächst    auf  Wachs;    nachher    geschah   die 
Mundierung   auf    Papyrus. ß)     Auch   das   Hof  Journal   der   Kaiser  —   die   Epheme- 
Ephemeriden   —    stand   in   Rollen   mit   Buchzählung. '^)     Endlich   wurden      "*^®^ 
auch  die  Gesetze  und  kaiserlichen  Constitutionen  in  ßißUa  gesammelt. »)  constitutio- 
ünd  daher  wird  der  römische  Kaiser,  Avie  dereinst  schon  die  alten  ägyp- 
tischen  Könige,    auf   Bildwerken   regelmäßig   mit    der   Buchrolle    in   der 
Linken  charakterisiert,    die  den  Uher  principis  bedeutet,    Avie   ihn  Plinius 
epist.  5, 13,  8  nennt;  das  ist  to  töjv  eyrolSbr  ßißkiov  bei  Lucian  19,13.    Die 
betreffenden  Bildwerke  sind  von  mir  „Buchrolle"  S.  68  f.  besprochen  (vgl. 
ebenda  S.  335).   Philostrat  sagt  uns,  daß  der  Kaiser  mit  dem  ßißXiov  auch 
in  die  Gerichtsverhandlung  geht.  9)   Ebenso  stand  es  auch  bei  den  jüdischen 
Königen;  die  Rolle  in  der  Hand  Avar  ihr  Kennzeichen.  10) 


»)  Vgl.  Buchrolle  S.  66  f. 

2)  Vgl.  M.  Krämer  S.  11.  Ueber  Buch- 
führung in  der  Tempel\^er\valtung  s.Wal- 
TER  Otto,  Priester  und  Tempel  im  hel- 
lenistischen Aegypten  II  S.  145  ff. 

3)  Vgl.  Buchrolle  S.  67  f . ;  243 ;  Mommsen, 
Schriften  II  S.342f.;  Khein.Mus.63  S.48,2; 
MiTTEis-WiLCKEN  a.  a.  O.  I  2  S.  213  ff. 

*)  Auch  neutr.  commentarium;  auch 
actum,  Corp.  gl.  lat.  II  467,  5. 

^)  üeber  die  tabulae  censoriae  oben 
8.  263. 


6)  Mommsen,  Strafrecht  S.  516. 

7)  Script,  bist.  Aug.,  Aurelian  12,  4  f. 

8)  Premerstein  a.  a.  O.  S.  738,  dessen 
ganzer  Artikel  „Commentarii"  für  diese 
Dinge  nachzusehen  ist.  Vgl.  übrigens  das 
Anm.  3  Zitierte. 

»)  Philostrat  Apoll.Tyan.8,1  fin.  Ebenda 
8,  4  wird  auch  der  Ad\'okat  und  Ankläger 
mit  dem  ßißUov  ^vyyeyga^ifihw  rac;  aixlag  vor- 
geführt. 

10)   Blau,  Rivista  israelit.  S.  69. 


286 


Das  antike  Buchwesen. 


tabula  und 
jiivaS  aucli       , 
geroUt      Jlivrx^ 


Land- 
karten 


Orakel 


Hier  ist  der  Ort,  hervorzuheben,  daß  die  Ausdrücke  tabula,  tabellay 
nivdxiov,  wo  wir  sie  in  solchen  Beziehungen  lesen,  oft  täuschen 
und  nicht  wörtlich  zu  nehmen  sind.  Sie  bedeuten  ohne  Zweifel  oftmals 
gar  nicht  die  Holztafel  oder  Wachstafel,  i)  sondern  gradezu  die  Charta 
oder  ein  Stück  Charta.  Dafür  habe  ich  im  Rhein.  Mus.  63  S.  48, 2  zweifel- 
lose Belege  zusammengestellt,  die  ich  hier  nicht  wiederhole.  Auch  sagen 
uns  dies  ausdrücklich  Ulpian  Dig.  37,  11,  1  und  Paulus,  Sentent.  4,  7,  6: 
tabularum  autem  appellatione  chartae  qitoque  et  membranae  continentur. 
Auch  gerollte  Membrane  oder  Charta  ist  „tabula". 

Es  ist  daher  von  Wichtigkeit,  einmal  auch  nach  der  Etymologie  des 
Wortes  tabula  zu  fragen.  Mit  .,Pfosten"  und  „Stützen"  hat  das  Wort 
sicher  gar  nichts  zu  tun,  und  alles,  was  man  in  Waldes  Etymologischem 
Handbuch  in  diesem  Sinne  proponiert  findet,  ist  darum  hinfällig.  Aber 
auch  das  Holz  gehört  nicht  zum  Wesen  des  Begriffs  tabula.  Der  Grund- 
begriff der  tabula  ist  vielmehr  überall  ausschließlich  nur  „die  Fläche". 
An  ein  bestimmtes  Material,  woraus  diese  besteht,  ob  Holz,  Metall  oder 
Kunstpapier,  ist  dabei  von  Hause  aus  noch  gar  nicht  gedacht.  Das  Wahr- 
scheinlichste ist  darum,  daß  ta-bula  zu  rdvvjuaiy  rsivco  gehört,  ein  Femi- 
ninum, analog  der  pagina;  es  ist  „die  gedehnte  Fläche  von  geringem 
Umfang". 

So  ist  denn  auch  da,  wo  mva^,  tabula,  als  Landkarte,  Weltkarte  vor- 
kommt, ganz  gewiß  nicht  an  Holztafeln,  sondern  an  eine  aufhängbare 
Rolle,  sei  es  Charta-,  sei  es  Pergamentrolle  zu  denken,  2)  nach  Art  der  im 
13.  Jahrhundert  gezeichneten  tabula  Peutingeriana,  einer  Reisekarte  auf 
Pergament,  die  gegenwärtig  noch  6,82  Meter  lang  ist,  bei  34  Zentimeter 
Breite. 

Auch  die  Befragungen  der  Orakel  geschahen  schriftlich;  in  Dodona 
auf  Blei  (s.  oben  S.  258) ;  in  der  römischen  Kultarwelt  auf  Charta,  in  einem 
versiegelten  ßißliov.  Die  Antwort  des  Gottes  wird  dann  unmittelbar  unter 
die  Frage  geschrieben:  s.  Lucian  Alexandros  18.  Diese  ßiß/Ja  sind  gerollt 
{vgl.  xaTeih]oag  ihid.  20;  übrigens  auch  49).  Apollonius  von  Tyana  steigt 
in  die  Grotte  des  Trophonios  und  kommt  erst  nach  sieben  Tagen  wieder 
zmn  Vorschein,  und  zwar  mit  einem  Buch,  in  dem  Antwort  auf  seine 
Frage  steht.  Das  Buch  hatte  pythagoräischen  Inhalt  und  kam  später  an 
Kaiser  Hadrian  und  nach  Antium  (Philostrat  8, 19  u.  20).  Solche  dünne 
Buchrollen,  die  einen  Orakelspruch  enthalten,  sehen  wir  auf  das  anschau- 
lichste auf  den  Admetbildern  Pompejis  abgebildet  vor  uns  (Buchrolle 
Abb.  72  u.  73).  Später  geschahen  die  schriftlichen  Anfragen  jedoch  auch 
auf  Membrane  (Amm.  Marcell.  19,  12,  4);  die  Orakelstätte  aber  bewahrte 
die  Fragezettel  auf.  3) 

Für  Briefe   diente   dagegen   niemals   die  Membrane,^)   sondern   nur 


Brie  e  auf 

Wachs      

oder 

Charta  nie  i)  Dgher  wird  Corp.  gloss.  lat.  V  526, 45 
M  mb  ligneaezutahulaesLUsdräcklichhinzugesetzt, 
em  rane  ^^^  ^^^  tahellariiis  als  derjenige,  der  tahukis 
ligneas  befördert,  erklärt  wird.  Vgl.  dazu 
Festus  p.  359,  8  M. :  tahcUis  pro  chartis  ute- 
hantur  antiqui,  quibiis  ultro  citro,  sive  pri- 
vatim sive  publice  opus  erat,  certiores  ahsentes 


faciebant;  unde  adhuc  tabellarii  dicuntur  et 
tahcUae  missae  ab  impcratoribus. 

2)  lieber  Landkarten  s.  Buchrolle  S.288 
u.  219:  Ehein.  Mus.  a.  a.  O. 

3)  Buchrolle  S.  221, 1 ;  Gardthausen 
S.  133. 

*)  Dies  ist  bewiesen  Buchwesen  S.62ff.; 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoflfe.   A.  Praktische  Zwecke. 


287 


entweder  die  Wachstafel  oder  die  Charta.  Eine  besonders  zierliche  Sorte 
von  Wachstafeln,  die  VifeUiani  (pugiUares),  waren  dafür  u.a.  im  Gebrauch. i) 
Ihr  Rand  oder  Deckel,  opercuhim,  wurde  gelegentlich  mit  Gold  beschlagen;«) 
die  ÖFArdgia  Kleopatras  waren  sogar  övvyjva  xal  xQvoxdXXtva.^)  Die  Elfen- 
beindiptA^cha  der  consules  ordinarii  mit  Goldschmuck  und  Goldschrift,  die 
der  Spätzeit  angehören,-*)  haben  dagegen  nicht  der  Korrespondenz  gedient. 
Aber  auch  ein  besonderes  Briefpapier  (charta)  wird  erwähnt.  0) 

Intime  Briefe  schrieb  jeder,  auch  der  vornehme  Römer,  eigenhändig; 
dies  heißt  chirographum  oder  propria  scriptura  (Glossare).  Für  Geschäfts- 
briefe hatte  der  Wohlhabende  seinen  Sekretär,  den  man  ab  epistulis 
nannte.  War  das  Schreiben  aufgesetzt,  so  mußte  der  Absender  selbst 
für  die  Expedition  sorgen  mit  Hilfe  seiner  Dienerschaft.  Denn  das 
öffentliche  Postwesen  stellte  keine  Briefträger  zur  Verfügung.  Männer 
wie  Cicero  haben  also  ihren  eigenen  Brief  boten;  solcher  Bote  hieß  tabel- 
lariiis,  aber  auch  Cursor;  denn  er  war  geübter  Schnelläufer;  spätlateinisch 
auch  haiulus.^) 

Der  Satz,  daß  intime  Briefe  jeder  selber  schrieb,  hat  allerdings  seine 
Ausnahmen.  So  bat  Kaiser  Augustus  den  Horaz  um  seine  Mitwirkung 
scrihendis  epistulis  amicoriim^)  Fälschlich  hat  man  das  dahin  ausgelegt, 
daß  Horaz  das  Ministerialamt  des  Sekretärs,  ah  epistulis,  übernehmen 
soUte.  Denn  der  Minister  ah  epistulis  hatte  mit  den  epistulae  amicorum 
nichts  zu  tun.  Der  Genetiv  amicorum  selbst  aber  ist  hier  ohne  Anstoß; 
er  bedeutet  soviel  wde  „an  Freunde",  etwa  so,  wie  regis  crimina  „An- 
klagen gegen  den  König"  (Livius  1,47),  scelus  Callisthenis  „Verbrechen 
gegen  Callisthenes"  heißt  u.  a.  m.  So  wie  also  der  Apostel  Paulus  seine 
Briefe  durch  einen  Amanuensis  schreiben  ließ,  so  woUte  sich  auch  Augustus 
der  Hilfe  des  Horaz  für  seine  intimere  Korrespondenz  bedienen. 

Der  Brief  Avurde  in  allen  Fällen  mit  Siegel  geschlossen,  nicht  nur  als 
Brieftafel  (oben  S.  261),  sondern  auch  als  Chartabrief,  den  man  zuvor  mit 
einem  Band  oder  starken  Faden  umwand.  Dabei  wurde  der  Chartabrief 
geringeren  Umfangs  —  denn  oft  genügte  eine  oekig  für  ihn  —  nicht  zu- 
sammengerollt, sondern  nach  Art  des  Fidibus  der  Länge  nach  gefaltet 
oder  zusammengeknickt,  s)  Die  Briefe  und  Billets,  die  in  den  Komödien 
des  Plautus  und  Terenz  und  ebenso  auch  bei  den  Liebesdichtern,  Properz 
und  seinesgleichen,  erwähnt  werden,  stehen  regelmäßig  auf  Tafeln ;  ^)  war 
die  Sache  eilig  und  dringend,  so  wurde  vom  Empfänger  die  Antwort  Zurück- 
gleich  auf  dieselbe  Tafel  geritzt,  und  derselbe  Bote  trug  sie  an  den  Ab-  wLh^stafei 
Sender  zurück,  i")  Ciceros  wichtige  Korrespondenzen  standen  dagegen 
ausschließlich   auf   Papyrus,   und   Plinius   stellt   nat.  liist.  13,  88    epistulae 


bestätigt  Buchrolle  S.  34, 3.  Eine  späte  Aus- 
nahme zur  Regel  bei  Max  Krämer  S.  61. 
Von  der  Skytale  der  Spartaner  (oben  S.  255) 
sehe  ich  hier  natürlich  ab ;  denn  die  Spar- 
taner hatten  noch  keine  Membrane  in  dem 
hier  besprochenen  Sinne. 

1)  Martial  14, 8  f.  Fälschlich  hält  Schu- 
bart S.  14  die  Vitelliani  für  pergamenten. 

2)  Prop.  3,  23,  7:  Non  illas  fixnrn  caras 
efjfecerat  aurum. 


3)  Plutarch  Anton.  58. 
*)  Claudian  Stil.  3,  347  f. 
5)  Martial  14,  11. 

«)    Vgl.    BlCmner,    Privataltertümer 
473. 
')  Sueton  p.  45  Reiff. 

8)  Siehe  Dziatzko,  Unters.  S.  126. 

9)  Vgl.  z.  B.  Ovid  Ars  am.  3,  495. 

1«)  Prop.3,23;  WiLMANXS,  Exempla312. 


288 


Das  antike  Buchwesen. 


gradezu  in  Gegensatz  zu  codicilli,  denkt  bei  den  epistulae  also  gleichfalls 
ausschließlich  an  Charta.  Auch  zu  des  Festus  Zeit  braucht  man  nicht 
tabeUae,  sondern  ehartae  für  die  Briefe,  i)  Auf  einem  Gemälde,  das  Apol- 
linaris  Sidonius  carm.  22,  168  beschreibt,  war  ein  Brief  als  Charta  ab- 
gebildet: ein  schwimmender  Soldat  chartam  madido  transportat  corpore 
siccam. 
Brief-  Ujn  die  Chartabriefe  aufzuheben,  legte  man  sie  in  fasciculi  zusammen,  2) 

und  zwar  in  fasciculi  mit  Aufschrift  des  i^bsenders  oder  des  Adressaten.  3) 
Die  kaiserlichen  Briefkonzepte  wurden  zu  Rollen  zusammengeklebt  und 
so  in  die  Archive  gelegt,*)  die  Brief massen  selbst  in  Scrinien  aufgehoben 
(Seneca  de  ira  2,  23, 4).  Daher  sind  scrinia  epistularum  soviel  wie  Archiv 
(Plin.  nat.  hist.  7,  94). 
Sonstige  Natürlich  Avurden   einzelne  Chartablätter   nicht   nur   als    Briefe,    son- 

Ver-  . 

Wendung  dem  aucli  sonst  zu  Notizen,    kurzgefaßten  Urkunden,  Rechnungen,    auch 

der  schedae g^\^  Zauber  und  Amulett,   massenhaft  benutzt;    das  ist,   was   man  schedae 

nennt,  5)   und   auch   in   diesen    Fällen   trat    dann   vielfach   nicht   Rollung, 

sondern    Faltung    mit    scharfen    Kniffen    ein,    entweder    fidibusartig    der 

Länge   nach   oder  auch   in   der  Richtung   der  Höhe  der  Blätter,  ß)     Doch 

brauchen  wir  hierbei  nicht  zu  verweilen. 

Gleich-  So  Weit   das  Schriftwesen,    das  sich  in  mannigfachen  Formen  außer- 

[Medfr-    halb   dcs  Bereichs   der  litterarischen  Zwecke    entwickelt  hat.     Besonders 

Schrift  auf  Q^QY  ig^  nocli  liervorzuhebcn,  daß  es  für  Texte,  auf  die  man  den  höchsten 

zwei  Be- 
schreib-   Wert  legte,    üblich  Avar,    sie  gleichzeitig  zweimal    und  zw^ar  auf  zw'ei 

verschiedenartige  Beschreibstoffe  zu  schreiben,  um  sich  für  die  Erhal- 
tung des  Wortlauts  größere  Sicherheit  zu  verschaffen.  Ebendies  ist  auch 
für  Ägypten  nachgewiesen,  für  einen  Erlaß,  durch  den  eine  Königin  zur 
Göttin  erhoben  werden  soU.*^)  Ich  verweise  zunächst  auf  die  athenische 
Bauinschrift  Inscr.  Att.  I  324,  wo  für  gewisse  Aufzeichnungen  gleichzeitig 
zwei  yaQTai  und  vier  oavideg  vorgesehen  werden;  beide  sollen  denselben 
Text  aufnehmen.  Auch  eine  Inschrift  von  Priene  vom  Jahr  84  v.  Chr. 
redet  von  einer  dinXfj  ävaygacprj  und  zw^ar  ev  deQjuarivoig  xal  ßvßUvoig 
TEvyeoiv  („Rollen"). 8)  Ganz  ebenso  ist  es  gemeint,  wenn  bei  Jesaias  30,8 
der  Befehl  Gottes  steht:  ygdyjov  em  iiv^ioi^  rama  xal  eig  ßißliov  (von 
Dziatzko  ganz  mißverstanden).  9)  Ebenso  geschieht  bei  Demosthenes  ;iar« 
AiovvoodovQov  p.  1283  eine  geschäftliche  Niederschrift  ev  yga/ujuareidicp  dvöiv 
yaXxolv  ecovij/uevcp  xal  ev  ßvßhöico  jLuxocp  jidvv.  Nach  Martianus  Capeila  1, 89 
schreiben  auch  die  Parzen  ein  und  dasselbe  Schicksal  gleichzeitig  in  librl 
und  in  einer  pugiUaris  tabula  (Wachstafel)  nieder,  w'oraus  ich  erkläre,  daß 
man  auf  etruskischen  Aschenurnen  gelegentlich  ein  und  denselben  Ver- 
storbenen sowohl  mit  dem  Jiber  als  mit  der  tahida  ausgerüstet  findet; 
beide  Buchformen  deuten  sein  Schicksal,  den  zweimal  aufgeschriebenen 
Willen  der  Fata  an.    Und  wenn  endlich  Aeschylus  schreibt,  Hiket.  946  f. : 


Stoffen 


1)  Oben  S.  286  Anm.  1. 

2)  Buchrolle  S.  258,  3. 

3)  Siehe  Oic.  ad  Att.  8,  5  fin. 
*)  Premerstein  S.  738  u.  752. 

^)  lieber  schedae  s.  auch  unten  S.  290. 

6)  Gardthausen  S.  133  f. 


'')  Pietschmann  in  „  Beiträgen  "  I V  S.  58. 

8)  W.  Schubart,  Das  Buch  S.  102;  oben 
S.  275  u.  282. 

»)  Meine  Auffassung  wird  gestützt 
durch  Blau,  Rivista  Israelit.  S.  72. 


^ 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  289 

ravx'  Ol)  mva^iv  ioriv  eyyeyga^ixeva 
ovo'  £v  Jirv^aig  ßißkcov  xazeoffoayiofiiva, 

SO  ist  diese  Spezialisierung  der  Beschreibstoffe  sehr  auffälHg,  und  es  be- 
steht kein  Zweifel,  daß  der  König,  der  hier  redet,  sagen  will:  ich  gebe 
meine  Zusicherung  nur  mündlich,  aber  dies  ist  ebensoviel  wert,  wie  wenn 
ich  sie  in  doppelter  Ausfertigung  auf  mvaxeg  und  in  ßißloi  mit  meinem 
Siegel  gäbe.i)  Daß  man  übrigens  Dekrete  zugleich  auf  Papyrus  und  auf 
Stein  aufsetzte,  ist  etwas  ganz  Geläufiges.  2) 


B.  Litterarisches. 

1.  Das  Brouillon. 

Nähern  Avir  uns  hiernach  endlich  den  litterarischen  Dingen,  so  ist  BrouiUon 
das  Brouillon  des  Schriftstellers  zunächst  vom  edierten  Text  sorgHch  und  Mem- 
zu  unterscheiden.  ^^«-"^ 

Wer  dichtete,  entwarf,  konzipierte  —  Apuleius  nennt  dies  praenotare 
(met.  6,25)3) — ,  bediente  sich  dazu  wiederum  am  liebsten  der  "Wachstafel. 
Denn  die  unbrauchbar  gewordene  Schrift  und  jedes  Versehen  ließ  sich  da 
auf  das  bequemste  und  sauberste  wieder  weggiätten.  Die  Nützlichkeit  der 
Wachstafel  begründet  in  diesem  Sinn  Quintilian  10, 3, 31 ;  Ovid  met.  9, 521  f. 
schildert  das  Verfahren.  Solche  Tafeln  in  der  Hand  der  Autoren  heißen 
besonders  oft  codicilliA)  Für  Schwachsichtige  aber  war  —  nach  Quin- 
tihan  —  die  Membrane  vorzuziehen,  weil  hier  die  schwarzen  Buchstaben 
auf  weißem  Grunde  deutlicher  sichtbar  waren. 0)  Andererseits  urteilten 
die  Ärzte,  daß  das  Schreiben  auf  Membrane  für  das  Auge  angreifender 
sei  als  das  auf  Charta,  ß) 

So  macht  denn  in  der  Tat  Horaz  auf  der  Membrane  seine  Entwürfe, 
und  der  Diener  muß  ihm  dazu  die  Membrane  reichen  (Sat.  2,  3,  2 ;  vgl.  Ars 
poet.  389).'')  Ebenso  macht  es  der  Studierende  bei  Persius  (oben  S.  282). 
Auch  Cicero  braucht  dicp^eom  für  seine  Vorarbeiten  (ad  Att.  13, 24),  ebenso 
Aristides  (p.  292  Jebb).  Auch  Galen  kennt  sie  nur  im  Dienst  der  Entwürfe, 
v7toyga(pai{XY112  S.249)  und  vTzofivrnÄma  (XVD 1  S.922);  vgl.  oben  S.281. 
Sicher  aber  war  dies  kein  geheftetes  Pergament  (oben  S.  282).  Denn  solche 
Heftung  wird  nirgends  angedeutet,  und  wenn  Eumolpus  bei  Petron  115  auf 
die  ingens  membrana  seine  Verse  hinschreibt,  so  sehen  wir  die  entfaltete 
Pergamentrolle  gradezu  mit  Augen.  Noch  Ausonius  nennt  (epist.  24,  23  f.) 
die  Skytale  der  Spartaner  einen  libellus  Pergameus,  versteht  also  unter 
Pergament  etwas  Eollbares ;  denn  die  Skytale  wurde  um  den  Stock  gerollt. 

Erst  im  Jahr  84 — 85  n.  Chr.  begegnen  uns  vereinzelt  aus  Membrane  in pugiUares 
hergestellte  Codices  oder  richtiger  piigiUares,  bei  Martial  14,7;  vgl.  14, 184  '«^'«*~'^" 


')  Siehe  Centralblatt  17  S.553;  Buch-  ]   Diptychon  mit  der  Elegie  des  Poseidippos 


rolle  S.  111;  Neue  Jahrbücher  19  S.  718  f. 

2)  Larfeld,  Griech.Epigraphik2S.431  f. 

3)  Das  Brouillon  der  kaiserlichen  Re- 
skripte u.  ä.  hieß  periculum,  Script,  hist. 
Aug.  Marc.  11, 10;  Premerstein  S.  738. 

*)  Belege  Buchwesen  S.  95;  über  ein 


s.  H.  DiELS,  Sitz.ber.  der  Berl.  Akad.  1898 
S.  847  f. 

5)  Vgl.  auch  Martial  14,  5  über  die  pu- 
giUares ehorei. 

«)  Buchrolle  S.  302, 1. 

')  Hierüber  Buchwesen  S.  59. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  19 


290  I^^s  antike  Buchwesen. 

bis  192,  die  da  sowohl  für  Herstellimg  des  Brouillons  (dies  betrifft  14,  7) 
wie  für  Schulbücher  dienen.  Als  Reisebuch  erscheinen  sie  bei  Martial  I  2 
(s.  unten).  Ihnen  entsprechen  die  in  einem  Apollotempel  dedizierten 
pugiUai'es  memhranacei  operculis  eboreis  CIL.  X  6.  Die  erwähnten  Martial- 
steUen  lehren,  daß  auch  Quintilian  a.a.O.  um  das  Jahr  90,  wo  er  Membrane 
für  das  BrouiUon  empfiehlt,  an  ebensolche  pugiUares  gedacht  haben  kann, 
auf  Charta  Endlich   versteht    sich,    um   das    nicht   zu   vergessen,    daß    man   das 

Brouillon  oder  Autographum  gelegentlich  auch  auf  schlechte  Charta  hin- 
warf (hierüber  M.  Krämer  S.  55  f.)  oder  doch  auf  Einzelblätter  der  Charta. 
Solche  beschriebenen  Chartazettel  nannte  der  Römer  i)  schedae  oder  schidae 
(s.  oben  S.  288).  Die  scheda  erscheint  als  cJiarta  scripta  in  den  Glossaren 
IV  422,  52;  V  243,  10,  und  Isidor  definiert:  scheda  est  quod  adhuc  emen- 
datur  et  necdum  in  lihris  redactum  est.^) 
Paiim-  Stand  das  Brouillon  oder  Autographum  auf  Charta,  so  wurde  die  zu 

Charta  und  tilgende  Schrift  mit  dem  Schwamm  weggewaschen,  s)  so  wie  Octavian  seine 
Membrane  g^^ze  Tragödie  Ajax  mit  dem  Schwamm  wieder  vernichtete.  Solche  Charta 
hieß  Charta  deleticia,  das  Wegwischen  ä7ia/.€iq)eir.  Daher  geben  die  Glossare 
XOLQtYjg  äjzdXmrog.  Auch  auf  erhaltenen  Papyri  läßt  sich  mitunter  Weg- 
waschung von  älterer  Schrift  noch  konstatieren.*)  Aber  auch  auf  Mem- 
brane wurde  die  Schrift  ohne  Zweifel  vielfach  durch  Waschen  getilgt; 
das  delere  bei  Martial  14,7,  2  braucht  nichts  anderes  zu  bedeuten. &)  Dafür, 
daß  im  Altertum  die  Schrift  auf  Membrane  durch  Radieren  oder  Kratzen 
getilgt  worden  ist,  habe  ich  kein  Zeugnis.  0)  Das  Wort  JiaUjuiprjorog  be- 
deutet jedenfalls  ein  Buch,  in  dem  durch  Waschen  die  Schrift  wieder 
entfernt  ist;  denn  es  wird  grade  speziell  von  der  Charta  gebraucht,  auf 
der  sich  nicht  radieren  Heß:  so  bei  Plutarch  ßißUov  jtakljuipfjOTov  (Cum 
princip.  philos.  4;  vgl.  De  garrul.  5);  entsprechend  die  Glossare  xagri^g 
äjzdXiJiTog.  Das  Verb  um  ipäv^  das  in  jiaAijuip7]OTog  steckt,  weist  durchaus 
nicht  notwendig  auf  „kratzen";  es  kann  auch  ein  Abwischen  und  Ab- 
reiben (mit  Schwamm  oder  mit  Bimstein)  bedeuten.  Ja,  diese  Bedeutung 
ist  die  nächstliegende;  d7ioifi]oao&ai  heißt  „sich  abwischen"  (Aristoph.  Fax 
1231;  Plut.  817),  und  als  Objekt  tritt  yßoag  u.  ähnl.  hinzu;  xarai^do}  rijv 
xe(pah]v  heißt  „streicheln"  (Herod.  6,  61  u.  sonst);  ähnlich  eipi^oe  uiaQrjtdag 
Apoll.  Rhod.  3, 831.  Jede  Handschrift  (oder  Brief),  sie  sei  Membrane  oder 
Charta,  in  der  die  erste  Schrift  durch  Wischen  getilgt  ist,  heißt  somit 
palimpsestus;'^)  und  wenn  Catull  das  Wort  braucht  (22,5),  steht  es  uns 
frei,  dabei  an  einen  ydQTtjg  tm  denken, 
juvenai  In  Anlaß  des  Brouillons   muß  hier   endlich  noch,    da  sie   meist  miß- 

verstanden  wird,    die  Juvenalstelle  7,  23  f.  besprochen  werden.     Juvenai 


1)  Bei  den  Glriechen  ist  dieser  Wort-   !  *)  Preisigke,   Straßburger  Papyri,  1 

gebrauch  von  scheda  unbekannt.  S.  129. 


2)  Weiteres  Buchwesen  S.229;  Blüm- 
NER,  Technologie  S.315.  Als  Teil  der  Buch- 
rolle erscheint  schida  bei  Martial  4,  89,  4, 
wo  summa  schida  das  letzte  Blatt  derselben 
bedeutet;  ebenso  Plinius,  oben  S.  265  Z.35. 

2)  Siehe  Marquardt-Mau  S. 824;  Wat- 
tenbach S.300f.;  Neue  Jahrbb.  27  (1911) 
S.  599. 


^)  Dies  sage  ich  im  G-egensatz  zu  Wat- 
tenbach S.  302. 

6)  Noch  im  7.  Jahrhundert  n.  Ohr.  war 
Jedenfalls  das  äjiaXsiq)eiv  üblich;  s.  die  Stel- 
len ib.  S.  303  f. 

^)  Dies  betone  ich  gegen  ^hübart 
S.  15.  Belege  auch  bei  Marquardt-Mau 
S.  815;  Buchwesen  S.  57  f.  u.  68. 


II.  Verwendung  der  Beschreibst oflfe.     B.  Litterarisches.  291 

redet  von  den  Dichtern,  die,  da  sie  von  ihrer  Poesie  keinen  Vorteil  haben, 
besser  täten,  ihre  Werke  zu  verbrennen.  Dabei  werden  zugleich  membrana, 
tahellae  und  lihelli  erwähnt: 

Si  .  .  .  croceae  membrana  tabellae 

Implentur,  lignorum  aliquid  posce  oeius  et  quae 
25  Oomponis,  dona  Veneris,  Telesine,  raarito 

Aut  clude  et  positos  tinea  pertunde  libollos. 

Frange  miser  calamum. 

^Hast  du  etwas  gedichtet,  so  verbrenne  oder  verschließe  es;  zerbrich 
jedenfalls  das  Schreibrohr."  Ob  man  im  v.  24  implentur  oder  imjMur 
best,  ist  für  die  Sache,  die  uns  hier  beschäftigt,  einerlei.  Ich  nehme 
mernhmna  als  vulgären  Plui-al  des  Neutrums,  i)  Wer  aber  glaubt,  hier 
werde  auf  Membrane  gedichtet  oder  gar  Reinschriften  hergestellt,  der 
kann  nicht  lesen.  Denn  dazu  paßt  erstlich  und  vor  allem  implere  nicht; 
kein  Mensch  sagt  implere  chartam  oder  memhranam  für  „schreiben";  man 
wird  umsonst  dafür  nach  irgendeinem  Belege  suchen.  Zw^eitens  kann 
man  Pergament  nicht  wie  Papier  verbrennen,  oder  es  gäbe  einen  ent- 
setzlichen Gestank;  das  kann  also  Juvenal  hier  nicht  fordern;  drittens  ist 
die  zum  Schreiben  präparierte  Membrane  nicht  crocea,  „krokusgelb"; 2) 
eine  solche  Farbenangabe  wäre  auf  jeden  Fall  höchst  befremdhch.  Viel- 
mehr w^eist  dies  Adjektiv  auf  künsthche  Bemalung  liin.  Also  sind  mit 
membrana  die  ledernen  Paenulae  gemeint,  in  die  man  die  fertig  beschrie- 
benen Rollenbücher  aus  Charta  einhüllte  und  die  in  der  Tat  stets  bunt 
gefärbt  wurden. 3)  Erst  w^enn  wir  dies  ansetzen,  erhält  implere  guten  Sinn: 
die  Buchhüllen  sind  mit  Text  „vollgefüllt",  membrana  implentur,  da  nämlich 
das  Buch  in  ihnen  steckt.  Aber  auch  die  sonst  überflüssigen  Worte  quae 
componis  erhalten  jetzt  Zweck  und  Sinn:  nicht  die  membrana,  die  Hüllen 
selbst,  sondern  das,  was  du  dichtest  (quae  componis),  d.  h.  das  Buch,  das 
in  den  Hüllen  steckt,  soll  verbrannt  werden.  Dieselbe  Erklärung  wird 
aber  überdies  auch  noch  durch  libelli  und  durch  tinea  im  v.  26  erzwungen; 
denn  libelli  sind  der  Regel  nach  durchaus  Chartarollen,  und  die  tinea  ist 
die  Feindin  der  charta:  diese  also  ist  es,  die  hier  verbrannt  oder  im  Schrank 
verschlossen  werden  soll.*)  tabella  im  v.  23  bedeutet  soviel  wie  Blatt  (s.  oben 
S.  286).  Also  besagt  der  v.  23 :  „Die Pergamenthüllen,  die  aus  krokusfarbenem 
Blatt  bestehen,   w^erden  ausgefüllt  oder  mit  Inhalt  versehen  (implentur). ^^ 


^)  Der  Scholiast  zu  Persius  3, 10  ist  so 
sehr  an  das  Neutrum  membranum  gewöhnt, 
daß  er  anzumerken  für  nötig  hält :  et  no- 
tandum  feminino  genere  membrana. 

'^)  Die  hicolor  membrana  bei  Persius  3, 10 
wird  vom  Scholiasten  dortselbst  auf  zweier- 
lei Weise  erklärt :  aut  quae  hicolor  facta  est 
ut  posuit  capülos;  das  ist  das  Eichtige,  s. 
oben  S.  282;  aut  merito  hicolor,  quod  pars 
crocea,  pars  glutinata  apud  antiquos  erat; 
hier  ist  jedenfalls  nicht  an  zum  Schreiben 
präparierte  Membrane  gedacht;  das  zeigt 
schon  das  glutinata;  es  nützt  also  nichts, 
den  liber  membianaceus  crocatus  aus  dem 
J.  680  n.  Ohr.  (Wattenbach  S.  138)  zu  ver- 
gleichen ;  mutmaßlich  meint  der  Scholiast 


vielmehr  die  „paenula". 

3)  Dabei  kann  croceae  tahellae  als  No- 
minativ des  Plural  und  als  Apposition  zu 
membrana  gefaßt  werden ;  so  Winterfeld 
in  Gott.  gel.  Anz.  1899  S.  897.  Aber  nötig 
ist  dieser  Ansatz  nicht;  vgl.  die  Genitive, 
die  ich  Buchrolle  S.  242  besprochen.  Der 
Oxforder  Juvenalvers  6, 365, 11  kann  nicht 
zum  Vergleich  dienen.  Die  Worte  pulsa- 
tamque  arma  tridentem  sind  dort  sicher  ver- 
derbt; Leos  Aenderung  der  Stelle  hat  frei- 
lich wenig  Wahrscheinlichkeit;  es  liegt  viel 
Tiaher^pulsantem^e  arma  tridentem  zu  lesen. 

*)  Aehnlich  urteüte  schon  Blümner, 
und  Friedländers  Einwände  gegen  ihn  sind 
nichtig. 

19* 


292 


Das  antike  Buchwesen. 


So  viel  vom  Brouillon  der  Schriftsteller.  Mit  ihm  ist  aber  das  Schreib- 
heft der  Schulknaben  verwandt,  da  auch  die  ungeübt  schreibenden 
Schüler  stets  ändern  und  korrigieren  oder  sich  korrigieren  lassen  müssen, 
und  so  steht  es  denn  wirklich  mit  diesem  ähnlich  wie  mit  jenem.  Auch 
die  Schreibübungen  der  Knaben  geschahen,  um  von  den  Ostraka  abzusehen 
(oben  S.  254),  auf  Wachs-  oder  Holztafeln  i)  wde  auf  schlechten  Lappen 
von  Charta,    oft   opisthographisch,  2)   endlich  aber  auch   auf  Pergament.  3) 

2.  Buchbegriff  und  Buchgröße. 

liber.iibeiius  Wenden  Avdr  uns  endhch  den  Htterarischen  Werken  selbst  zu  und 
fragen,  auf  welchem  Material  sie  zum  Zweck  der  Veröffentlichung 
geschrieben  wurden.  Es  handelt  sich  jetzt  um  Edition.  Dabei  ist 
terminologisch  noch  zu  erinnern,  daß,  wie  liber  und  ßißlog  überall  die 
Papj^rusrolle  bedeutet,  so  auch  die  Deminutiva  ßißUov,  lihellus  allermeistens 
in  demselben  Sinne  zu  verstehen  sind.  Gleichwohl  könnte  man  sich 
denken,  daß  bei  lihellus  und  ßißUov  infolge  der  Ableitungssilben  die  kon- 
krete Vorstellung  des  Materials  des  „Bastes"  und  des  „Papyrus"  leichter 
verloren  ging,  und  so  wäre  die  Möglichkeit  offen  zu  halten,  daß  da,  wo 
diese  Deminutiva  für  „Brief"  oder  Aktenstück  stehen,  eventuell  auch  an 
eine  Wachstafel  gedacht  sein  kann ;  ^)  doch  besitze  ich  dafür  keine  sicheren 
Belege  (oben  S.  274  u.  264).  über  kann  nie  Teil  eines  Buches  heißen,  aber 
auch  lihellus  erscheint  als  Buchteil  nur  ganz  ausnahmsweise;  ich  habe  es 
nur  für  Statins'  Silvae  nachweisen  können,  wo  die  fünf  Bücher  selbst 
lihri,  die  Einzelgedichte  in  denselben  konsequent  lihelli  heißen:  Buchwesen 
S.  24;  dies  hat  aber  eine  schöne  Analogie  in  dem  liber  libellorum  rescrip- 
torum^  worüber  Mommsen,  Schriften  II  S.  183  f. ;  oben  S.  270. 
Veröffent-  Die   goroUten   libri  lintei   und  volumina  plumhea   kommen    für  Publi- 

duich^Aus- kationszwecke  kaum  in  Betracht;  denn  sie  gehören  unentwickelteren  Zeiten 
steHungaiif  an.  Wohl  aber  blieben  die  Lindenbastrollen  oder -tafeln,  wennschon  immer 
stein  in  engen  Grenzen,  doch  für  litterarische  Texte  dauernd  in  Gebrauch,  in 
Rom  wie  bei  den  Griechen.  0)  Eine  gewisse  Art  der  Veröffentlichung  war 
sodann  auch  das  öffentliche  Ausstellen  eines  Exemplars;  in  dieser 
Weise  w^urden  Gemälde,  Landkarten,  Gesetze  veröffentlicht,  d.  h.  dem 
Publikum,  das  sich  Kopie  nehmen  konnte,  zugänglich  gemacht ;  ^)  in  der- 
selben Weise  aber  auch  htterarische  Werke.'')  Ein  berühmtes  Beispiel 
dafür  ist  die  Chronik,  die  man  das  Marmor  Parium  nennt  (ed.  F.  Jacoby, 
1904);  ebenso  wertvoll  eine  inschriftlich  in  Bruchstücken  erhaltene  Ge- 
schichte der  griechischen  Komödie ;  ^)  weiter  erwähnenswert  die  Grabrede 


i)Marquardt-Mau  S.  802 ;  Gardthau- 
SEN  S.36U.44;  Babriostafeln  oben  S.  261; 
über  Schultafeln  Kenyon,  Journ.  of  hellen. 
studiesXXIX  S.29f.;  Ziebarth,  Aus  dem 
griechischen  Schulwesen  S.  106  K 

2)  Martial  4,  86, 11. 

')  Dies  wenigstens  in  den  Ehetoren- 
schulen:  Liban.  I  S.  238  E. 

*)  In  der  Sprache  der  Urkunden  heißt 
ßißUov  ständig  Eingabe  oder  Aktenstück: 
Schubart  S.  23.    Und  zwar  kennen  die 


ägyptischen  Pap^^ri  anscheinend  nur  die 
Schreibung  ßißUov,  nicht  ßvßUw. 

^)  Siehe  Galen  u.  Mart.  Capella  oben 
S.  253  u.  281. 

^)  Zur  Weltkarte  des  Agrippa  vgl.  D. 
Detlefsen,  Ursprung,  Einrichtung  und 
Bedeutung  der  Erdkarte   des  Agr,,  1Ö09. 

')  In  diesem  Sinn  fassen  die  Juristen 
öfters  den  Begriff  edere  auf;  s.Ulpian  unten 
S.  308. 

8)  A.  Körte,  Ehein.  Mus.  60  S.  444  fL 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  293 

des  Vespillo  auf  Turia,  CIL.  VI  1527;  des  Kaiser  Claudius  Lyoner  Rede, 
auf  Bronze ;  sodann  die  lex  Tappula,  eine  satirische  lex  convivalis,  über  die 
Festus  und  Yalerius  Maximus  berichten;  dieselbe  oder  doch  ein  damit  nahe 
verwandter  litterarischer  iocus  hat  sich  auf  einer  Bronzetafel  gefunden,  i)  Der 
attische  Redner  und  Staatsmann  Lykurg  schrieb  einen  Rechenschaftsbericht 
über  sein  eigenes  Leben  und  Wirken  nieder  und  weihte  den  Text  dann 
inschriftlich  auf  einer  Stele  (äve&7]x£v  ev  oTi)]lrj)  am  Eingang  der  von  ihm 
gestifteten  Palästra.  Dies  ist  als  ein  Vorläufer  für  das  Monumentum  Ancy- 
ranum,  den  großen  Rechenschaftsbericht  des  Kaiser  Augustus,  erwähnens- 
Avert.  Der  Rechenschaftsbericht  des  Augustus  fand  sich  ursprünglich  in 
Buchrollen  in  seinem  Nachlaß  vor.  Er  wurde  als  Inschrift  veröffent- 
licht. 2)  So  war  auch  das  Relief  der  Trajanssäule,  das  zum  Überfluß  deut- 
lich die  Form  einer  Buchrolle  nachahmt,  die  Publikation  eines  Bilder- 
buches mit  Darstellungen  vom  dakischen  Krieg; 3)  und  der  antike  Fries, 
ob  skulpiert  oder  nur  gemalt,  ist  überhaupt  nichts  als  die  monumentale 
Schaustellung  solcher  Bilderbuchrollen  oder  imaginum  libri  an  den  Häuser- 
wänden.^) 

Wenn  wir  von  diesen  Fällen,  die  für  unsere  litterarischen  Interessen  yeröffent- 
geringere  Tragweite  haben,    absehen,    so  war   der  einzige  Träger  der  lit-  ^^bu^I 
terarischen  Texte  der  Griechen  und  Römer,  wenn  sie  durch  Edition  dem 
Publikum  übergeben  wurden,  die  Papyrusrolle,  ßvßXog^  Über. 

Die  Buchteiluns:  der  antiken  Autoren  ist  hierauf  zurückzuführen.    Das  Maximai- 

T  ••-r^ii-  •  1  •  ^  Ti  1    uiJafang  des 

Lesen  m  einer  Rolle  ist,  Avenn  sie  zu  lang  ist,  unbequem;  daher  sah  gerollten 
man  darauf,  daß  eine  solche  nicht  mehr  als  3 — 4000  Zeilen,  d.  i.  etwa  ^"^^^^ 
100  Schriftspalten  entliielt;  bei  Gedichtbüchern,  die  noch  mehr  auf  das 
äußerliche  Gefallen  berechnet  w^aren,  ging  man  auf  1000  Zeilen,  das  sind 
etwa  30  Kolumnen,  im  Maximum  zurück.  Schon  Isidor  sagt,  Orig.  6, 12: 
Gedichtbücher  und  Briefbücher  sind  dünner,  Historienbücher  umfang- 
reicher. 0)  Manche  Prosaautoren  und  nicht  nur  die  Epistolographen,  ad- 
optierten dann  aber  das  geringere  Format  des  Gedichtbuchs,  so  vor  allem 
die  Romandichter. 

Die  Autoren  Avaren  also  gezAVungen,  ihre  größeren  Werke  nach  Büchern  J®"^^"^^^ 
zu  disponieren,  d.h.  ihren  Stoff  auf  mehrere  RoUen  zu  verteilen;  und  da- auf  Bücher 
durch  wurde  weiter  das  Streben  hervorgerufen,  den  Inhalt  jedes  Buchs 
nach  Möglichkeit  in  sich  abzurunden,  jedes  Buch  als  Werkteü  zu  ver- 
selbständigen; denn  jedes  ruhte  immer  allein  in  der  Hand  des  Lesers. 
Aus  dem  Gesagten  erklärt  sich  aber  Aveiter,  daß  jedes  Buch  der  Aeneis, 
des  Li\ius  u.  s.  f.  in  der  Überlieferung  von  neuem  die  volle  inscriptio  und 
subscriptio  trägt,  die  Werk  und  Autor  immer  wieder  nennen.  Dies  hatte 
nur  Sinn,  Avenn,  wie  Avir  nun  schon  hinlänglich  erkannt  haben,  jedes  Buch 
als  Rolle  für  sich  umging,  und  ist  aus  den  Rollenaufschriften  in  die 
Sammel Codices  des  Mittelalters  treu  übernommen  worden. 

Buch  und  Rolle  sind  hier  überall  identisch.    Ausnahmen  hierzu  gibt 


*)  Schanz,  Eöm.  Litteraturgesch.  §  60. 
')  U  eher  Lykurg  und  Augustus  s.Buch- 
ToUe  S.  276,  3. 

»)  Mehr  Beispiele  Buchrolle  S.  270. 


*)  Buchrolle  S.  309  ff . 
^)  Genaueres     hierüber     Buchwesen 
S.  287—333. 


294  ^^^  antike  Buchwesen. 

es  nicht.  Zur  Buchterminologie  stimmt  der  Tatsachenbefund  durchAveg; 
denn  der  CalHmachuspapyrus,  der  zugleich  den  Schluß  der  Airia  und  den 
Anfang  der  "lajußot  des  Calhmachus  mit  Subskription  und  Inskription  ent- 
hält, bildet  dazu  nur  eine  scheinbare  Ausnahme  (s.  unten).  Wohl  aber 
trat  bisweilen  der  Fall  ein,  daß  ein  fertig  gestelltes  Buch  sich  bei  der 
Edition  als  zu  dick  erwies  und  nachträglich  noch  weiter  in  zwei  Rollen 
zerlegt  wurde.  Dies  ist  bei  Diodors  erstem  Buch,  ist  bei  Cicero  De  gloria 
wie  bei  Yellejus  geschehen  ;i)  auch  beim  älteren  Phnius.  Drei  Bücher 
desselben  wurden  in  sechs  geteilt  (Plin.  epist.  3,  5,  5).  Vielleicht  ist  es- 
mit  des  Plinius  Naturgeschichte  ebenso  gegangen.*)  Auch  Pausanias  sah 
sich  so  gezwungen,  seine  Eliaca  in  zw^ei  Bücher  zu  zerteilen.  Alsdann 
finden  wir  in  den  Herculanensischen  Rollen  den  Vermerk:  tmv  eig  ovo  ro 
ngöregov  und  rcav  eig  ovo  ro  ß'  (Philodem). 

In  alledem  zeigt  sich,  w^as  sich  auch  sonst  wahrnehmen  läßt,  daß  die 
antiken  Autoren  einen  möglichst  gleichmäßigen  Umfang  ihrer  Rollen  an- 
strebten {oTox(i^so§ai  TYJQ  ovjujuETQiag).^) 

Weil  das  Volumen  einen  herkömmlichen  Umfang  hat,  daher  sagt 
Plinius  epist.  7,  4,  8  unum  volumen  dbsolvere,  und  Vellejus  spricht  2,  119 
von  iusta  Volumina.  Auch  öXov  ßißXiov  ist  ein  häufig  wiederkehrender 
Terminus,  der  dasselbe  ausdrückt  und  uns  einmal  auf  1000  Zeilen  ver- 
anschlagt wird.*)  Aber  auch  schon  das  kurze  Über  ut  fieret  bei  Ovid  ex 
Ponte  III  9,  51  ist  ebenso  gemeint.  Die  Rolle  ist  ein  festes  Raummaß. 
Monobibia  Ein  AVcrk   ohne  Buchteilung  heißt  /uovoßißlog  oder  juovoßißkov.     Nie- 

mals aber  übertrifft  eine  Monobiblos  an  Umfang  den  Umfang  eines  Einzel- 
buchs mehrbücheriger  Werke. 
Minimal-  Hiermit  ist  das  Maximalmaß  angedeutet.   Blicken  Avir  auf  das  Minimal- 

^°^^^°|^^^^maß,  so  sind  die  Bücher  mehrbücheriger  Werke  nicht  leicht  kürzer  als 
800  oder  700  Zeilen.  Die  auffällige  Kürze  der  vier  Georgicabücher  Ver- 
gils,  die  sich  gleichmäßig  auf  500 — 600  Verse  beschränken,  läßt  sich  wohl 
nur  daraus  erklären,  daß  sie  von  vorneherein  mit  den  eingelegten  Ab- 
bildungen, die  uns  erhalten  sind  und  die  viel  Raum  wegnahmen,  erschienen 
(Buchrolle  S.  296  Anm.  2).  Wolil  aber  konnte  gelegentlich  eine  Monobiblos 
noch  kürzer  und  dünner  als  sie  sein  und  sich,  wie  ein  Brief,  auf  ein  bis 
zwei  Blätter  reduzieren,  falls  man  nämlich  zu  einem  so  kurzen  Gedicht 
wie  dem  Carmen  saeculare  des  Horaz  nichts  Gleichartiges  fand,  mit  dem  es 
in  ein  Buch  normalen  Umfangs  hätte  zusammengeordnet  Averden  können. &) 
Sehr  winzig  waren  z.  B.  auch  die  Rollen,  in  denen  die  Atellanen  standen 
oder  die  Reden  des  jüngeren  Scipio.^)  Von  auffälligen  Formaten  wird 
darmn  gelegentlich  mit  Hervorhebung  gesprochen;  von  einem  ;paucorum 
versuum  Über  redet  so  Seneca  epist.  93,  11  mit  Betonung,  von  einem  ßißUov 
jbiixQÖv  berichtet  Plutarch  im  Pompejus  79  und  im  Brutus  13,  von  einem 
über  grandis  dagegen  Plinius  epist.  1,  20,  8;  2,  1,  5,    und  die  naymi^g  tov 


1)  Sprockhoff  a.a.  0.  S.52ff.;  Buch-   1    Weiter  ist  dies   im  Buchwesen  S.  316  ff. 
wesen  S.  318  f. ;  oben  S.  276.  I   ausgeführt. 


2)  Buchwesen  S.  316  u.  349,  2. 

3)  So  z.  B.  Hipparch  in  Aratum  am 
Schluß  des  Buches  II  (S.  216  ed.  Manitius). 


4)  Buchrolle  S.  218  Anm.  1. 

5)  Hierüber  s.  Catalepton  S.  9. 

6)  Buchrolle  S.  217  Anm.  1. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


295 


ßißliov  hebt  Philostrat  Apoll.  Tyan.  4,80  hervor;  na'/v  ßißUov  auch  Lucian 
15,  26.     Solche  Bemerkungen  betreffen  aber  stets  nur  Monobibla. 

Dies  System,  durch  das  die  Bücher  oder  Rollen  auf  ein  Maximum 
von  etwa  4000  Zeilen  in  der  Prosa,  1000  Zeilen  in  der  Poesie  normiert 
wurden,  nenne  ich  das  Kleinrollensystem. 


teilungen. 


3.  Das  Großrollensystem  der  älteren  Zeiten. 

Dies  Kleinrollensystem  hat  indes  nicht  immer  und  nicht  von  vorne-  voraiexan- 
herein  gegolten.  Die  alten  Ägypter  stellten  auch  Papyrusrollen  von  ß^uchwesen 
exorbitanter  Länge,  bis  zu  hundert  Fuß,  her,  die  dann  also  auch  viel 
umfangreichere  Textmassen  aufzunehmen  imstande  waren.  Dieselben 
Ägypter  unterschieden  gradezu  beim  Zitieren  mit  festem  Terminus  „kleine 
Bücher"!)  und  „große  Bücher". 2)  So  haben  sich  nun  auch  die  Griechen 
der  voralexandrischen  Zeit,  wo  die  Sache  es  erforderte,  viel  größerer  Größere 
Hollen  bedient,  als  wir  sie  bisher  vorausgesetzt  haben.  Darüber,  daß  Fehlen  Ter 
alle  Buchteilungen  bei  ihnen  unecht,  besteht  kein  Zweifel ;  denn  die  Ein-  Buch- 
schnitte, die  vorliegen,  sind  vielfach  ganz  unsachgemäß :  das  betrifft  Piatos 
Staat  und  Gesetze,  Herodot,  Thukydides,  Xenophons  Hellenika,  den  Homer 
selbst.  In  einzelnen  Fällen,  wie  für  Thukydides,  wird  es  uns  in  der  Über- 
lieferung auch  gradezu  ausgesprochen,  daß  das  Werk  ursprünglich  ungeteilt 
vorlag ;  auf  dasselbe  führt  aber  auch  die  Wahrnehmung,  daß  Thukydides, 
Xenophons  Hellenika  und  andere  Werke  im  Altertum  in  verschiedenen 
Buchteilungen  umgingen,  von  denen  dann  offenbar  keine  auf  den  Autor 
selbst  zurückging.  Ursprünglich  sind  diese  berühmten  Werke  also  in  ge- 
waltige Konvolute  ohne  alle  Einteilung  eingetragen  worden,  s)  wie  wir  sie 
auch  auf  Abbildungen  der  älteren  Zeit  wirklich  wahrnehmen.*)  Thuky- 
dides zerfiel  in  zwei  solche  starken  Konvolute;  da,  wo  er  sich  selbst 
nochmals  als  Autor  nennt,  bei  V  26,  begann  das  zweite.  Immerhin  aber 
konnte,  wer  sich  solches  umfangreiche  Werk  erwarb,  die  ungegliederte 
Textmasse  dann  selbst  nach  eignem  Belieben  in  irgendwelche  Abschnitte 
oder  rojuoi  zerschneiden.  0)  Der  Ausspruch  des  Callimachus  rö  jueya  ßißXiov 
ioov  eivai  xw  jueyd?iCp  xaxco  (Athenaeus  p.  72  A)  hatte  jedenfalls  hierauf  Be- 
zug. Wer  den  analogen  Ausspruch  des  Plinius  epist.  1,  20,  4  bo7ius  Über 
melior  est  quisque  quo^maior  vergleicht,  erkennt,  daß  auch  jener  wie  dieser 
die  Dicke  der  Rollen  anbetraf.  Mit  solchem  Ausspruch  hat  Callimachus 
das  Verfahren,  von  dem  ich  redete,  begründet,  und  die  ungefügen  großen 
Rollen  wurden  bald  nach  ihm  durch  die  alexandrinischen  Philologen  und 
Verwalter  des  Litteraturerbes  in  Serien  kleinerer  Rollen  zerlegt,  d.  h.  die 
Buchteilung  eingeführt.  Callimachus  war  anscheinend  der  erste,  der  dies 
Postulat  erhob,  und  die  Forderung  mußte  sich  ihm  aufdrängen,  da  er  die 


Calli- 
machus 


^)  Buchwesen  S.  49  Anm. 

2)  Buchrolle  S.19.  Dazu  die  vier  Zauber- 
bücher, die  als  the  old  book,  the  book  to 
destroy  men,  the  great  book,  the  book 
to  be  as  God  unterschieden  werden :  s.  Ee- 
cords  of  the  Fast,  VI,  Eg;y^ptian  texts,  S.  122. 

3)  Dies  ist  zuerst  Buchwesen  S.  444  ff. 


dargelegt,  revidiert  und  gesichert  Buch- 
rolle S.  2i5  f.  Zu  Homer  vgl.  A.  Römer, 
Sitz.ber.  d.  bayer.  Akad.  1907  Heft  3  (1908) 
S.498. 

4)  Buchrolle  S.  216  u.  217 ;  dazu  Abb.  90. 

^)  Buchwesen  S.  464. 


296 


Das  antike  Buchwesen. 


große  alexandrinische  Bibliothek  inventarisierte,  also  in  den  wüsten  Groß- 
rollen der  älteren  Zeit  sich  zurecht  zu  finden  hatte. 
Einteilung  ]V[an  muß  gestehen,    daß  die  Gresichtspunkte,   nach   denen   man   nun 

Alphabet  die  Teilungen  vornahm,  gelegentlich  sehr  äußerliche  waren.  Das  betrifft 
besonders  Homer,  dessen  Werke  die  Anordner  als  zweimal  24  Bücher 
nach  den  24  Buchstaben  des  Alphabets  einteilten  und  numerierten.  Schon 
in  den  Anfangsbuchstaben  MH{viv)  der  Ilias  fand  man  die  Zahl  48.  Um 
dies  richtig  zu  würdigen,  sei  verglichen,  daß,  wie  Athanasios  berichtet, 
auch  das  Alte  Testament  nach  den  22  Buchstaben  des  hebräischen  Alpha- 
bets geordnet  worden  ist:  5  Bücher  Mose,  1  Jesus  Nave,  1  KQirai,  1  Ruth, 
2  Baodixöjv  (von  den  4  Büchern  heißt  es,  daß  je  zwei  eig  ev  ßiß)dov  ägiß- 
ßeTTai)y  1  Paralipomena  (die  2  Bücher  als  fV),  1  ßlßXog  Wakjucbv,  1  Uaooi- 
juiai,  1  Ekklesiastes,  1  Asma  asmaton,  1  'layß,  1  Zwölf  Propheten  (als  ev), 
1  lesaias,  1  leremias  (xal  ovv  aviib  BaQovyi  Ggijvoi  eTtioroh]),  1  Hezechiel, 
1  Daniel:  gibt  22. i) 

Die  Autoren,   die  zuerst   ihre  Werke  so  abfaßten,    daß  sie  sie  selbst 
räumlich  und  sachlich  in  Werkteile  zerlegten,  waren  dem  Anschein  nach 
Ephoros  und  Theopomp,  die  Historiker,    sowie  Aristoteles  in  seinen  Dia- 
logen. 2) 
Länge  der  Man  hat  sich  gesträubt,    das  Großrollensystem,    das  sich  uns  füi-  die 

Rollen  -^iiQYQ  ^cit  hieiTnit  ergeben  hat,  anzuerkennen.  Als  einziges  Argument 
dient  dabei,  daß  Bücher  von  50  bis  100  Fuß  Länge  zum  Benutzen  doch 
zu  unpraktisch  gewesen  sein  müssen.  Aber  durch  solche  Bedenken  lassen 
sich  Tatsachen  nicht  beseitigen,  wie  ich  sie  „Buchrolle"  S.  216  aufgezählt: 
denn  sogar  auf  Abbildungen  wird  uns  die  Ilias  unzweifelhaft  als  eine 
Buchrolle  vorgeführt.  Und  wenn  Alexander  der  Große  seine  Narthex- 
Ilias,  wie  Plutarch,  Alex.  8,  erzählt,  immer  unter  dem  Kopfkissen  liegen 
hatte,  so  wird  Plutarch  nicht  geglaubt  haben,  daß  das  wirklich  24  kleine 
E-öUchen  waren. s)  In  der  Tat  eine  königliche  Mühe,  die  vierundzwanzig  jede 
Nacht  unter  dem  Kissen  anzuordnen !  Die  alten  Ägypter  schrieben  und  lasen, 
wie  gesagt,  in  so  langen  Buchrollen;  von  den  Ägyptern  aber  lernten  die 
Griechen  zunächst  den  Umgang  mit  dem  Buch.  Und  wem  dies  nicht  genügt 
oder  zu  ferne  liegt,  der  denke  an  die  Rotuli  longissimi,  deren  sich  auch 
noch  das  Mittelalter  in  vielen  Fällen  tatsächlich  bedient  hat:  ExultetroUen, 
WappenroUen,  Nekrologien,  die  noch  jetzt  vorHegen,  deren  viele  Wattenbach 
S.  163  ff.  aufzählt  und  die  gelegentlich  11  oder  23  Meter  lang  sind;  im 
Louvre  gar  eine  Rolle,  die  aus  100  aneinandergenähten  Pergamentblättem 
besteht,  jedes  von  reichhch  2  Fuß  Länge  (ib.  S.  174).  Das  ergibt  200  Fuß.  „Die 
päpstlichen  Gesandten,  welche  im  Jahre  1320  in  den  Streitigkeiten  zwischen 
Polen  und  dem  deutschen  Orden  Verhöre  anstellten,  ließen  den  ganzen 
Prozeß  in  zwei  Exemplaren  auf  17  Ellen  langen  und  9  Zoll  breiten  Rollen 
verzeichnen,  deren  Unbequemlichkeit  nur  der  vollkommen  würdigen  kann, 
welcher  sie  abgeschrieben  oder  kollationiert  hat;  eine  einzige  Stelle  darin 


1)  Athanasios  epist.  39 :  Migne,  Patrol. 
graec.  26  S.  1436. 

2)  Buchwesen  S. 461—476 ;  Ed.  Meyer, 
TheopompsHellenika,  Halle  1909 ;  Gt.Engel, 


De  antiqu.  epic.  didact.  historicorum  pro- 
oemiis  (1910)  S.  48  f. 


oemiis  (1910)  ...  ^^  .. 
3)  Buchrolle  S.  338. 


IL  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  297 

zu  suchen,  kann  zur  Verzweiflung  bringen."  So  Wattenbach  S.  170.  Diese 
Rollen  des  Mittelalters  sind  also  gleichfalls  höchst  unbequem  und  bringen 
den  Benutzer  zur  Verzweiflung,  aber  sie  existieren  doch.  So  war  es 
auch  bei  den  Griechen. 

4.  Eintragung  der  Schrift  in  die  Rolle. 

Bevor  wir  uns  dem  Editionsverfahren  selbst  zuwenden,  seien  noch 
einige  Beobachtungen  über  das  gerollte  Buch  und  seine  Benutzung  voran- 
gestellt. 

Die  Schrift  konnte  in  der  Buchrolle  in  langen,  ununterbrochenen  Schrift- 
Zeilen  stehen,  die  über  alle  Klebungen  und  BlattgTcnzen  hinwegliefen ;  ^  ^°^^^^ 
sie  konnte  auch  in  der  Richtung  der  Rollenhöhe  laufen.  Sowohl  dieses 
Avie  jenes  Verfahren,  das  eine  Spaltung  des  Textes  vermied,  wurde  in 
Diplomen,  wie  auf  den  ravennatischen  Papyri,  beliebt,  ist  aber  auch  auf 
Abbildungen  von  Büchern  zu  sehen,  i)  Für  eigentliche  Buchschrift  da- 
gegen war  das  Übliche,  und  zwar  schon  bei  den  Agj^tern,^)  die  Schrift 
auf  Spalten  zu  verteilen.  Diese  Spalten  heißen  dann,  wie  die  Blätter 
selbst,  paginae,  oeUdeg,  und  diese  Bezeichnung  setzt  voraus,  daß  man 
prinzipiell  immer  eine  Schriftspalte  auf  eine  Seite  der  Rolle  setzte.  Doch 
wurde  unendlich  oft  auch  über  die  feinen  Klebungen  und  Seitengrenzen 
hinweggeschrieben,  und  die  Zeilenlänge  und  Breite  der  Kolumnen  wechselt 
deshalb  in  "Wirklichkeit  sehr.  Besonders  gering  ist  sie  z.  B.  oft  in  den 
herculanensischen  Rollen.  Diese  Kolumnen  w^urden  dann  häufig  auch 
numeriert,  s) 

Die  Schriftspalten  im  Rollenbuch  heißen  auch  düroi,  welches  Wort  ^^Atoc 
nicht  kurzerhand  mit  „Schrifttafel"  übersetzt  werden  darf,  sondern  zum 
wenigsten  in  älterer  Zeit  Schriftspalten  auf  jedwedem  Material  be- 
deutet. dÜToi  ist  keine  Stoff bezeichnung,  sondern  bedeutet  Türen;  „Tüi-" 
aber  war  der  übhche  Ausdruck  für  Schriftspalte.*)  Die  Tragiker  Athens 
vermeiden  das  Wort  ßißUov,  ebenso  wie  das  Wort  mva$;  von  orphischen 
Sprüchen  sagen  sie,  daß  sie  ev  oavioiv  stehen  (Eur.  Alk.  967) ;  Aussprüche 
der  oo(poi  stehen  dagegen  auf  düroi  (Eur.  fr.  370  v.  6) ;  aber  auch  eine  Er- 
zählung der  Musen,  also  ein  Dichtwerk,  über  Helenas  Geburt  findet  sich 
er  dÜToig,  Iphig.  Aul.  798.  Schon  hier  Hegt  es  nahe,  Buchspalten  zu  ver- 
stehen. Dasselbe  gilt  vor  allem  von  Aristoph.  Thesmoph.  778  mvdxojv 
^eoTOjv  dekroi,  vio  eine  Tautologie  vorläge,  wären  dehoi  =  mvaxsg.  Das 
Wort  ist  Schriftkolumne,  Schriftseite.  Daher  auch  die  dürog  yaXxri  dvo- 
viJiTog  Soph.  Trach.  684,  wo  der  Zusatz  ;jaA>tf»]  verständlich  wird,  wenn 
deXrog  selbst  kein  bestimmtes  Material  bedeutet.  5)    So  sagt  denn  auch  der 


M  Buchrolle  S.  189  Abb.  126;  auch 
Abb.  118  und  S.  228;  320  f. 

2)  Vgl.  Gr.  Möller,  Hieratische  Paläo 
^raphie ;  die  ägyptische  Buchschrift  in  ihrer 


4)  Blau,  Althebr.  Buchwesen  S.  116; 
oben  S.  250  f. 

5)  Vgl.  ysvecdoyiag ix  deXtcov xo^->ion>,  Suidas 
s.'AxovoiXaog,  und  6£/roi'?;ifa^a?Lucian  Alex. 


Entwicklung  bis  zur  römischen  Kaiserzeit,  10  u.  sonst.  Höchst  verkehrt  schließt  Gardt- 

Bd.  I    Leipzig  1909  i  hausen  S.  125  aus  diesem  Ausdruck,  „dab 

3)  Buchwesen  S.159f.;  Dziatzko  bei  -  Deltos  auch  die  Erztafel  bezeichnet";  nein! 

Pauly-WissowaIIIS.952;HÄBERLL\Nr.79;  I  nicht  Deltos,  sondern  nur  ^^Uro?  ^cOx^be- 

The  Oxyrhynchos  Pap.  IV  Nr.  657.  |  zeichnet  die  Erztafel;  ebenso  verkehrt  S.124: 


298  Das  antike  Buchwesen. 

dichtende  Pigres  von  seiner  Batrachomyomacliie,  v.  3:  ev  dekroioir  si^tjxa 
xrjv  äoidriv,  d.  h.  „in  Spaltenschrift  legte  ich  meinen  Gesang  nieder"  und 
fügt  hinzu:  efioTg  im  yovvaoi.  Daß  nun  ein  auf  einer  Schreibtafel  befind- 
liches Schriftwerk  auf  den  Knien  liegt,  dafür  gibt  es  meines  Wissens  auf 
den  Bildwerken,  die  uns  den  Menschen  mit  dem  Buch  vorführen,  kein  w 
Beispiel.  Wohl  aber  war  es  Herkommen  grade  der  älteren  Zeit,  daß  die  ^ 
offene  Rolle  so  auf  den  Knien  Hegt;  man  betrachte  in  meinem  Buch 
„Buchrolle  in  der  Kunst"  die  Abbildungen  17  (äg^^tisch),  sodann  90;  91; 
92;  außerdem  95  u.  120.  Am  nächsten  aber  liegt  es,  mit  Pigres  das  Sitz- 
bild Pindars  zu  vergleichen,  das  ebenso  etzI  töjv  yovdxcov  ävedr/juevov  ßißUov 
liielt  (Aeschines  Epist.  4).  Die  öeItol  befinden  sich  also  bei  Pigres  wie 
bei  Pindar  im  ßtßXiov,  das  geöffnet  auf  den  Kjiien  aufliegt.  Besonders 
zwingend  scheint  mir  endlich  auch  noch  das  Gedicht  Posidipps  über  das 
Alter,!)  wo  die  Musen  erscheinen  als  yQaifdjtievai  de/aovg  er  xQvoeatg  oeUoiv. 
Denn  hier  ist  deXxovg  Objekt  zu  ygdcpeiv,  die  öeXxol  sind  also  etwas,  was 
geschrieben  wird,  sie  sind  also  kein  Beschreibstoff,  sondern  Schrift;  und 
zwar  sind  sie  Schriftkolumnen;  denn  sie  befinden  sich  auf  den  Seiten 
{oeUÖEg)  einer  Rolle,  die  hier  als  in  Gold  nachgeahmt  oder  mit  Goldsclimuck 
versehen  (s.  oben  S.  257  f.)  gedacht  ist.  Daher  heißt  denn  endlich  delxooy 
einfach  „schreiben"  (Aeschyl.  Suppl.  179  =  185;  s.  schob);  und  auch  Eun 
Palamed.  582,  9  ist  öeXxog  lediglich  Schrift  und  keine  besondere  Buchform» 
Doch  ich  breche  ab.  Daß  öeXxog  im  Lauf  der  Zeit  immer  häufiger  zur 
Bezeichnung  von  Tafeln  verwendet  wurde,  läßt  sich  nicht  leugnen.  Aber 
auch  ein  ganzer  Schriftkomplex,  ob  Polyp tychon  oder  Rolle,  heißt  ge- 
legentlich ebenso.  2) 
CatuU  c  22  über  das  Schreiben  selbst  und  seine  Hilfsmittel  hat  die  Paläographie 

und  Papyruskunde  Auskunft  zu  geben.  Gleichwohl  sei  eine  dahingehörige 
Schilderung  CatuUs,  c.  22,  weil  sie  auch  sonst  Interesse  bietet  und  oben- 
drein eine  Unklarheit  enthält,  hier  in  Kürze  vorgeführt.  Es  handelt  sich 
mn  den  sclilechten  Dichter  Suffenus: 

Puto  esse  ego  üli  müia  aut  decem  aut  plura 
5  Perscripta,  nee  sie  ut  fit  in  palimpsesto 

Celata:  chartae  regiae  novae  Hbri, 

Novi  nmbihci,  lora  mbra  membranae; 

Derecta  plumbo  et  pumice  omnia  aequata. 

Hier  ist  der  Text  nach  den  Handschriften  gegeben;  nur  wird  v.  6  i^elata 
statt  celata,  v.  8  detecta  statt  derecta  überliefert.  Die  erstere  Änderung 
ist  ungCAviß,  die  zweite  ist  überzeugend.  Bei  keiner  von  beiden  brauche 
ich  hier  zu  verweilen.  Es  ist  klar,  daß  liier  Bemerkungen  über  die  Aus- 
stattung der  Reinschrift,  libri  aus  neuem  Königspapier,  neue  Rollenstäbe 
und  rote  Riemen   aus  Leder,   vorangehn;    dann   folgt  im  v.  8  die  Schrift 

„^f'Aros- ist  ohne  Frage  ursprünglich  die  Holz-  !  ichCentralblattf.Bibliotheksw.l7S.548ff., 
tafel:  daher  öüxog  y.vjtaoiooivrj."  Nicht  Öüzog   \    Buchrolle  S.  155,  2  u.  210,  Ehein.  Mus,  63 


selbst,   sondern   nur  dsXrog   HVJiagiooivt]   ist 
Holztafel. 

1)  Siehe  Diels,  Sitz  .her.  d.Berl.Akad. 
1898  S.  851. 

2)  Dieser  Gegenstand  ist  jedenfalls  zu 
retraktieren.  Das  oben  Vorgetragene  habe 


S.  41  begründet.  Weiteres  Material  bringt 
Gardthalsex  S.  37  f . ;  124  f.,  bes.  nach  Wil- 
helm in  Sonderschriften  des  österr.  arch. 
Instituts  VII  (1909)  S.  240  f.  Vgl.  Histor. 
Vierteljahrsschrift  1912  S.  400  und  oben 
S.  286  u.  259,  4. 


■f^j^ 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  299 

selbst;  in  diesen  Zeilen  wird  nun  das  derecta  plumbOy  wie  ich  meine,  erst 
dann  verständlich,  wenn  man  zu  omnia  aus  dem  Yoraufgelienden  decem 
milia  versuum  mit  plura  aufs  neue  ergänzt.  Also:  alle  milia  versuum  sind 
mit  dem  Bleilineal  „gerichtet"  oder  zwischen  Linien  gestellt;  weniger 
verständlich  ist  alsdann  aber  das  pumice  aequata;  denn  nicht  die  Tausende 
von  Versen  selbst  wurden  mit  Bimstein  geglättet,  sondern  nur  die  Charta 
vor  dem  Beginn  des  Schreibens,  i)  Hier  scheint  also  eine  Ungenauigkeit 
des  Ausdrucks  vorzuliegen.  Auf  das  Linienziehn  im  Buch  spielt  auch 
das  tendere  versum  bei  Persius  1,  65  an.  Und  zwar  wurden  vor  allem  nur 
senkrechte  Linien  gezogen,  die  die  Schriftkolumnen  einfaßten,  2)  während 
wir  innerhalb  derselben  die  Zeile  selbst  meist  frei  schweben  sehen. 

Es  gilt  nun  also  —  nach  Catull  —  als  ein  Zeichen   besonderer  Ele- 
ganz, wenn  die  Schrift  im  Buch  zwischen  Zeilen  stand. 

Die  äußeren  Endteile  der  Rolle,    das  Protokoll   und  das  Eschatokoll,    (^ornua-, 
bheben,    Aveil   die  Schrift   hier   zu   leicht   Schaden   genommen   hätte,    un-     letztes 
beschrieben.    Sie  wurden  häufig  verdickt  und  geweißt  und  heißen  cornua.^)  ^^*"  ^^^"^ 
Wenn  Martial  XI 107  schreibt:  explicitum  nohis  usque  ad  sua  corniia  lihrum 
et  quasi  perlectum  .  .  .  refers,  so  fehlt  jede  Nötigung,  ja,  jede  Berechtigung, 
cornua  vom  Rollenstab,  der  nach  der  irrigen  Vorstellung  mancher  Gelehrter 
Knöpfe  gehabt  haben  soll,  zu  verstehen.    Martial  macht  es  uns  hier  viel- 
mehr so  deutlich  wie  möglich,  daß  cornua  das  erste  und  letzte  Blatt  der 
offenen  Rolle   sind;    denn   explicare   heißt,    wie    evolvere,   nicht  „zu  Ende 
rollen",  sondern  „auseinanderrollen"  (oben  S.  272).     Hier  wird  das  Buch 
von  dem  übereifrigen  Leser   bis  zur  ersten   und  letzten  Seite  aufgetan.*) 

Auch  bei  den  Juden  ti-ugen  die  Endteile  der  Rolle,  die  cornua,  keine 
Schrift.  5) 

Man  sollte  erwarten,  daß  nun  hinter  dem  leerstehenden  ersten  Blatt  An- 
auf  der  Innenseite  der  Rolle  zunächst  das  Titelblatt  folgte,  daß  also  der  d^^liteS 
Text  im  Rolleninnern  durch  den  vorangestellten  Buchtitel  eröffnet  wurde. 
Indes  haben  sich  hiergegen  berechtigte  Zweifel  erhoben,  und  sicher  ist, 
daß  die  Titelaufschrift  oft  nur  an  der  Außenseite  der  Rolle  zu  lesen  stand. 
Im  althebräischen  Buchwesen  hatten  die  Rollen  keine  Titel,  und  beim 
Zitieren  dienten  zur  Benennung  des  Buchs  die  Anfangsworte  seines  Textes. 
Allerdings  nimmt  Blau  an,  daß  ursprünglich  doch  solche  Titel  wie  „Exodus" 
vorhanden  w^aren,  daß  sie  aber  außer  Gebrauch  kamen.  0)  Damit  scheint 
das  Verfahren  des  CalHmachus  übereinzustimmen,  der  in  seinen  Pinakes 
die  Anfangswoi-te  der  Bücher,  die  er  katalogisierte,  ausschrieb.  Doch 
würde  dies  Verfahren  des  Grammatikers  natürlich  nur  auf  das  vorkalli- 
macheische  Buchwesen  ein  Licht  werfen;  überhaupt  aber  ergibt  sich  aus 

^)  Gardthausex  S.  190  referiert  hier-   '•   lonich  d<as  Lineal  oeXiÖcov  aj/umtoga  jiXsvQii^, 


über  unrichtig;  der  Bimstein  tat  für  die 
Chartarolle  zwei  Dienste :  erstlich  das  Glät- 
ten der  Charta  selbst,  wie  an  der  oben 
besprochenen  Catullstelle  (dasselbe  wurde 


Anthol.  Pal.  6, 62, 1.   Es  ist  ein  oeXiömv  y.avo- 
viofia  (pdoQ&iov,  ebenda  6,  295,  3. 

3)  Siehe  Buchrolle  S.  235  ff. :  Rhein.  Mus. 
63  S.  44.   Ich  komme  unten  auf  diese  Be- 


auch  mit  dem  Eberzahn  ausgeführt ;  daher  i  Zeichnung  zurück. 

Charta  dentata);  zweitens  wurde  aber  auch  I  ^)  Siehe  Histor-Vierteljahrsschrift  1912 

der  faserige  Schnitt  der  geschlossenen  Rolle  ;  S.  398. 

mit  pumex  poliert;  s.  unten.  j  ^)  L.  Blau,  Althebr.  Buchwesen  S.  42. 

2)  Daher  nennt  Philippus  von  Thessa-  |  «)  L.  Blau,  Rivista  israelit.  S.  53. 


800 


Das  antike  Buchwesen. 


ihm  meines  Erachtens  kein  ganz  und  unbedingt  sicherer  Schluß,  da  sich 
in  ihm  vielleicht  nur  die  Sorgfalt  des  Bibliothekars  verrät,  der  die  Identi- 
fikation des  betreffenden  Buches  außer  Zweifel  stellen  will;  denn  ver- 
schiedene Bücher  konnten  doch  eventuell  denselben  Titel  haben.  Wenn 
unter  den  erhaltenen  Papyrusfunden  sich  keine  vorn  im  Buchinnern  an- 
gebrachten Buchtitel  antreffen  lassen,  so  stammen  diese  Funde  aller- 
meistens  nicht  von  normalen  Litteratui'büchern  her;  dies  betrifft  z.B.  die 
Epicharmsprüche  im  ersten  Hibehpapyrus,  der  circa  dem  Jahr  250  v.  Chr. 
angehört  und  gleich  mit  dem  Vermerk  jzgooijuiov  einsetzt,  worauf  unmittel- 
bar in  der  zweiten  Zeile  einleitende  Verse  folgen:  reld'  eveort  noXXä  xal 
jiavToia  xtL,  „in  dieser  Rolle  ist  vieles  enthalten,  was  nützlich".^)  Daß 
dies  indes  kein  normales  Litteraturbuch  war,  ist  klar.  Meistens  aber  ent- 
behren die  erhaltenen  Papyri  grade  der  ersten  Seiten,  2)  und  ein  zwingender 
Schluß  3)  ist  daher  meines  Erachtens  vorläufig  noch  nicht  gegeben.  Jeden- 
falls sei  hier  auf  Folgendes  hingewiesen.  In  der  Zeit  des  Codexbuch- 
wesens, das  aus  dem  Papyrusbuchwesen  hervorging,  wurde  der  Codex 
regelmäßig  in  liminari  pagina  mit  dem  Werktitel  eröffnet  (s.  unten).  Bis- 
weilen aber  spielen  die  Schriftsteller  auch  selbst  auf  den  Titel  an.  Martials 
dreizehntes  Buch  heißt  „Xenia";  der  Dichter  selbst  erwähnt  diesen  Titel 
erst  im  dritten  Gedicht  des  Buchs;  die  voraufgehenden  ersten  beiden  Ge- 
dichte sind  aber,  wenn  man  ihn  nicht  kennt,  unverständlich.  Soll  er  sich 
wirklich  nur  an  der  Außenseite  der  Eolle,  wo  er  dem  Auge  des  Lesenden 
ganz  entzogen  war,  befunden  haben?  Er  gehörte  hier  so  eng  zur  Sache, 
daß  man  auch  räumUch  einen  engen  Konnex  erwartet.  Dazu  nehme  man 
Frontos  „Lob  des  Rauchs".     Die  Überschrift  lautet: 

M.  Frontonis 
laudes  fumi  et  pulveris 
item 
Laudes  neglegentiae, 
und  das  Vorwort  beginnt  dannFronto  unmittelbar  mit  den  Worten:  Plerique 
legentium  forsan  rem  de  titulo  contemnant.   Der  Augenschein  spricht  dafür, 
daß  das  auch  schon  in  der  Papyrusrolle   so  hintereinander  zu  lesen  war, 
wie  wir  es  im  alten  Frontocodex  lesen  (p.  211  Nab.).   Auch  des  Ausonius 
Bissula  oder  Parentalia  ließen  sich  für  den,  der  sie  zu  lesen  begann,  kaum 
auffassen,  wenn  der  Titel  nicht  davor  stand.     Derselbe  Ausonius  scheint 
für  sein  Technopaegnion   gradezu    auf   ihn   zurückzuverweisen,    wenn  er 
dort  im  Vorwort  sagt:  Uhello  Technopaegnii  nomen  dedi.   Hieronymus  weist 
am  Anfang  des  siebzehnten  Buchs  seines  Jesaiaskommentars  ausdrücklich 
auf  den  voranstehenden  Titel  dieses  Buches  hin,  avo  mit  der  Zahl  17  eine 
Psalmenstelle   verbunden   war.*)     Dazu   kommt   der  Papyrus  Massiliensis 
des  Isokrates;    er  ist  eine  Rolle   in   achtzehn  Kolumnen;   auf   der   ersten 
Kolumne  stand  wirklich  der  Titel.    Es  ist  die  Schrift  jzgdg  NixoxUa.    Der 
Text  bricht  aber  beim  8  30  der  Schrift  ab,  und  der  Titel  erscheint  darauf 


1)  Siehe  Orönert,  Hermes  47  S.  402  ff. 

2)  Eine  weitere  Ausnahme  der  Hiero- 
kles,  s.  MuTSCHMANN,  Hermes  46  S.  99. 

')  Wie  ihn  Schubart  zieht,  Das  Buch 


S.  41. 

*)  Er  sagt:  admoneo  quod  psahnus  qui 
huius  numeri  (nämlich  XVII)  titulo  prae- 
notatur,  sit  pueri  Domini  David. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.    B.  Litterarisches. 


301 


noch  einmal.»)  Nur  den  Werken  der  voralexandrinischen  Zeit  hat  oft  der 
inhaltsanzeigende  Buchtitel  tatsächlich  gefehlt,  wie  denn  die  erste  der 
beiden  Thukydidesrollen  direkt  anfing:  Qovxvdidi^g  'A§r]vaiog  ^wey^aiife 
tÖv  JiöXefÄOV  xrk.^) 

Auf  diesen  Titel  folgte  dann  weiter  im  Schriftwerk  gegebenen  Falls  ^1^*«  ^^r 
eine  praefatio,  die  aber,  wenn  sie  bloß  orientierender  Natur,  extra  ordinem  '  'fati?^ 
paginarum,  d.  h.  also  vielleicht  auch  bisweilen  an  der  Außenseite  der  Rolle 
angebracht  war.  3)  Der  Text  schloß  endlich  mit  der  Wiederholung  des  Titels 
imd  dem  bekannten  explicit{us)y  zeXog.  Diese  Wiederholung  schien  nötig, 
weil  nach  zu  Ende  gelesener  Rolle  der  Schluß  des  Konvoluts  außen  lag  und 
man  auch  bei  einer  so  gerollten  Rolle  den  Titel  finden  mußte.  Von  den 
Doppeltiteln  in  Yarros  Satiren  oder  Logistorici  stand  augenscheinlich  der 
eine  vorne,  der  andere  hinten  eingetragen;  denn  Censorinus  sagt  De  die 
nat.  9:  in  libro  qui  vocaüir  „Tubero"  et  intus  subscribitur  „de  origine 
hnmana'^.     Dies  intus  läßt  sich  nicht  anders  verstehen. 

Die  Rückseite  der  Rolle  blieb  bei  guten  Exemplaren,  wie  die  Buch-   Opi^^iio- 
verkäufer  sie  lieferten  und  wie  sie  in  den  öffenthchen  Bibliotheken  auf-      fort- 
bewahrt Avurden,  gewiß  zumeist  unbeschrieben;  ja,  sie  wurde  mitunter  T^p^^^^ati 
bunt  gefärbt,   z.  B.  grün   auf   dem   Schauspielerbild  im  Thermenmuseum  demVerso 
(Buchrolle  Abb.  78).     Eine  Ausnahme  machten  nur  solche  Fälle,  wie  sie    ^geführt^ 
Juvenal  1,  6  erwähnt,   wenn   nämlich   die  vorgesehene  Rolle   für  den  zu- 
sammenhängenden Text  des  Schriftwerkes  nicht  ausreichte  und  man  den 
Rest  desselben   sich   genötigt  sah,    auf   dem  Verso   einzutragen.     Ebenso 
steht  es  auch  mit  dem  Schicksalsbuch  in  Gottes  Hand,  das  die  Johannes- 
apokalypse c.  V  uns  schildert ;  wenn  dies  Buch  nicht  nur  eoco&ev,  sondern 
auch  ömod^ev  yeyQajujuevov  war,  so  soll  damit  angezeigt  sein,  daß  die  Rolle 
ihren  einheitlichen  Inhalt  kaum  zu  fassen  vermochte.*)   Ebenso  muß  aber 
auch   das  Exemplar    der  Cicerorede   pro   Milone,    das   Asconius   benutzte, 
wie  seine  Zitier  weise  ergibt,  ein  Opisthograph  gewesen  sein ;  &)  d.  h.  ihr 
Text  stand  auf  Vorder-  und  Rückseite. 

Diese  Gattung  von  Opisthographa  gab  also  auf  Recto  und  Verso  ein   Opistho- 
einheitliches  Schriftwerk.     Ganz   anders   stand   es   damit  jedoch  bei  v^schfe- 
privater  Buchschreiberei.    Für  sie  nehme  ich  schon  die  Opisthographa  in  ^^^J^^'^®^* 
Anspruch,  die  Lucian  14,  9  im  Ranzen  des  Cynikers  erwähnt :  rj  jziJQa  de    u.  Verso 


')  Eine  Privatabschrift;  vgl.  Blass, 
Fleck.  Jahrbb.  129  S.418;  Häberlin  Nr. 79. 

^)  Ueber  das  Fehlen  von  Titeln  in 
älterer  Zeit  und  über  Doppeltitel  s.  Buch- 
rolle S.  237  f. ;  oben  Kritik  u.  Hermeneutik 
S.  153  f.  Bei  den  älteren  griechischen  Philo- 
sophen war  der  Werktitel  Jiegl  (pvoscog  von 
Späteren  zugesetzt  und  ist  in  der  Regel 
unzuverlässig,  wie  beim  Xenophanes.  Von 
diesen  Tatsachen,  die  Schubart  S.  90  u.  125 
nicht  berücksichtigt  oder  übersieht,  war 
natürlich  auch  noch  die  Zitierweise  des 
Callimachus  in  seinen  Tlivaxeq  abhängig. 
Es  wird  angenommen,  daß  derselbe  Calli- 
machus es  war,  der  die  Reden  des  Demo- 
sthenes  edierte  und  mit  ihren  Titeln  ver- 
sah :  Sauppe,  Epistola  critica  S.  49 ;  Thal- 


heim bei  Pauly-Wissowa,  RE.  V  S.  183. 

^)  Ueber  extra  ordinem  paginarum  s. 
Buchwesen  S.  142,  3;  über  TtQoygacpr)  und 
7iQosx§soig  ebenda.  Dazu  G.  Engel,  De 
antiquorum  epicorum  didacticorum  histo- 
ricorum  prooemiis,  Marburg  1910,  S.  55f.; 
Friderici  S.  52  adn.  Das  Gesagte  betrifft 
besonders  deutlich  die  Vorreden  des  Statius 
in  den  Silven  und  des  Martial.  Wenn  aber 
Catulls  Gedichtsammlung  als  Passer,  d.  h. 
nicht  nach  dem  ersten,  sondern  nach  dem 
zweiten  Gedicht  zitiert  wird,  so  stand  sein 
erstes  Gedicht  wohl  gleichfalls  extra  pagi- 
narum ordinem;  s.  Commentariolus  Oatul- 
lianus  tertius  p.  IV;  Philol.  63  S.  425. 

4)  Buchrolle  S.  86  Anm. 

6)  Buchwesen  S.  176  f. 


302  I^as  antike  Buchwesen. 

ooi  ^EQjucjov  EOTco  jueori]  xal  ojiLo&oyQacpcDv  ßißluov.  Denn  offenbar  kopierte 
der  Cyniker  sich  die  nötigen  Bücher  eigenhändig  und  sparte  dabei  mit 
Papier.  Ebensolche  Bücher  sind  nicht  in  Herculaneum ,  wohl  aber  in 
Ägypten  massenhaft  gefunden  worden.  Dies  sind  aber  im  Unterschied 
zu  den  oben  gegebenen  Beispielen  solche  Opisthographa,  wo  das  Verso 
ein  anderes  Schriftwerk  trägt  als  das  Recto  (vgl.  oben  S.  278);  dies 
aber  können  in  keinem  Fall  normale  Litteraturbücher  gewesen  sein.  Nie 
wird  uns  ja  auch  bei  den  alten  Autoren  eine  Schrift  so  zitiert,  als  ob  sie 
auf  der  Rückseite  einer  anderen  stünde.  Solches  Sparen  mit  Papier  verrät 
die  Buchschrift  des  gemeinen  Mannes,  i) 

Schreiben  Wer  wisscu  wiU,    wic  ein  antiker  Mensch   sich  beim  Schreiben  ver- 

Knien  hielt,  muß  die  Bildwerke  zu  Rate  ziehen.  Das  Schreiben  auf  einzelnen 
Chartablättem  war  bequem  genug:  man  stand  dabei  aufrecht  und  legte 
das  Blatt  in  die  linke  Hand.  2)  Schwierigkeit  bereitete  das  Schreiben  da- 
gegen in  größeren  Rollen.  Auch  dies  wurde  ohne  Tisch  oder  Pult  aus- 
geführt; s.  Buchrolle  Abb.  139  (auch  bei  Johnen  S.  99) :  man  saß,  und  zwar 
meist  am  Boden,  und  stützte  die  im  Motiv  VI  geöffnete  Rolle  mit  den 
erhobenen  Knien,  den  zu  beschreibenden  Teil  der  Rolle  aber  wiederum 
auf  der  linken  Hand.s)  Das  Eintragen  in  eine  leere  Rolle  heißt  eyygdcpeiv 
ig  ßißUov,  Lucian  Alex.  1;  ig  jiaxv  ßißXiov  iyyQacpeiv,  derselbe  Luc.  15,  26 
(vgl.  oben  S.  270).  Derselbe  Lucian,  Hermotim.  2,  schildert  jemanden,  der 
in  philosophischem  Schulbetrieb  sich  anstrengt,  ig  ßißUov  ijiixexvcpoTa  xal 
vTiojuvijjbLaTa  töjv  ovvovoicov  äjioyQaqpojuevov.  Am  anschaulichsten  die  Hippo- 
kratesbriefe,  17,7:  .  .  .  o  ^'  elyj:  .  .  .  ßißliov  im  toTv  yovdroiv,  xal  exeoa  öe 
Tiva  ii  äjjL(poiv  toXv  juegoiv  avrcp  jiaQeßeßlrjxo  .  .  .  o  de  die  juev  ^vvxojucog 
Bygacpe  iyxeijuevog,  öre  de  xrL*) 

Beklopfen  Daß  infolge  des  Eintragens  der  Schrift  die  Charta  zerknittert  wurde 

und  hernach  glatt  geklopft  werden  mußte,  habe  ich  oben  S.  271  in  An- 
laß der  nondum  malleati  libri  des  Ulpian  besprochen.  Aber  auch  sonst 
diente  das  Beklopfen,  jieQixoineiv  (Lucian  adv.  indoct.  16)  dazu,  Rollen, 
die  lange  gelegen,  Avieder  auszuglätten. 

Es  war  der  Stolz  des  vornehmen  Ägypters,  seine  Bücher  eigenhändig 
selbst  zu  schreiben.  Anders  die  Griechen.  Die  Ägypter  waren  keine 
Redner,  wohl  aber  die  Griechen,  und  feinsinnig  hat  E.  Curtius  bemerkt,  daß 
eben  die  Redekunst  den  Griechen  verhinderte,  die  Kunst  des  Schreibens 
so  zu  ehren,  wie  die  Ägypter  es  taten.  5)  Doch  haben  sich  gelegenthch 
auch  angesehene  Griechen  herbeigelassen,  Buchmanuskripte  selbst  her- 
zustellen, ß)  König  Eumenes  war  Schreiber  von  Beruf  gewesen;  allerdings 
w^urde  er  darum  von  seinen  Soldaten  verachtet."^)  Der  vornehme  Römer 
hat  sich  dagegen  der  Buchschrift  ganz  enthalten;  er  benutzt,  wie  z.  B. 
Seneca  Epist.  65,  2,   nur  den  stilus,   nicht   den   calamus;   d.  h.  er   schrieb 


Lohn- 
Schreiber 


^1 


Vgl.  Buchrolle  S.  7  f . ;  30  f.  |   S.  152. 

Ebenso  das  Schreiben  im  Codicill;  [  »)  E.  Curtius,    „Wort  und   Schrift", 

vgl.  den  dpi?07^a97ft>r,  Ehein.  Mus.  66  S.  150:  |    G-öttinger   Festreden    1864    S.  79f.;    vgl. 

er  steht  dabei  so  aufrecht  wie  Athene,  die  !   Johnen  S.  92. 


auf  der  Wachstafel  schreibt,  u.  ähnl. 

3)  Näheres  BuchroUe  S.  11  f.  u.  202  ff. 
'')  ^S^-  ^-  Brinkmann,  Rhein.  Mus.  66 


6)  Siehe  unten  über  „Privatabschrift". 
^)  Plutarch,  ovyxgioig  des  Sertorius  und 
Eumenes  cap.  3. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


303 


nur  das  Brouillon  auf  AVachs  eigenliändig ;  füi'  die  Reinschrift  hatte  er 
seine  librarii.^)  Vom  stilus  hat  der  vornehme  Grammatiker  Aehus  Stilo 
sogar  sein  Cognomen  erhalten  (es  ist  beiläufig  pervers,  wenn  Apuleius 
Metam.  8, 1  stilus  und  charta  verbindet).  Die  scribae  heißen  mercennarii.^) 
Aber  das  Gesagte  betrifft  natürlich  nur  die  Ktterarischen  Werke.  Mit 
Briefen  und  Entwürfen  auf  Charta  steht  es  anders.  So  schrieb  Pompejus 
mit  eigener  Hand  den  Entwurf  zu  einer  Ansprache  in  eine  kleine  Rolle,  3) 
und  demselben  Pompejus  fielen  in  Spanien  die  avxoyQacpoi  Emorolai  römi- 
scher Vornehmer  als  Beute  zu.*) 

5.  Das  Lesen. 

Auf  das  Schreiben  folgt  das  Lesen.  Viele,  nicht  nur  der  üppige  Vorleser  u. 
Vornehme,  sondern  auch  der  Gelehrte,  benutzten  dazu  den  Vorleser  oder  ^^®^ 
Anagnosten,  eine  besondere  Gattung  von  Hausdienern.  5)  Sonst  geschah 
das  Lesen  in  Buchrollen  vielfach  auch  mit  Hilfe  des  Lesepultes,  äva- 
/.oyeiov,  ävayvmoxYjQiov,  manuale  ledoiium,  auf  dem  man  die  halbgeöffnete 
Rolle  aufstellte.  Martial  redet  einmal  von  ihm  (14,  84),  auch  die  Glossare 
wissen  davon,  und  es  ist  mir  gelungen,  auch  auf  Bildwerken  dies  für 
Rollen  bestimmte  manuale  verscliiedentlich  nachzuweisen,  ß)  Seine  Gestalt 
erinnert  in  einigen  Fällen  an  ein  Geigenpult,  und  es  ist  so  der  Vorgänger 
des  Lese-  und  Schreibpultes  gewesen,  der  im  Codexbuchwesen  des  Mittel- 
alters seit  dem  5.  Jahrhundert  häufige  Dienste  tut. 

Meistens  aber  las  man  doch  aus  freier  Hand ;  und  zwar  der  Vor-  ^^^  'Lesen 
tragende  oder  Vorsingende  vorzugsweise  stehend,  der  Studierende  sitzend 
oder  auch  liegend.  Die  Monumente  geben  die  mannigfaltigste  Veranschau- 
lichung (Buchrolle  S.  128 — 196).  Das  isoUert  für  sich  Lesen  heißt  äva- 
yiyvojoy.siv  Jtgdg  eainov  (Aristoph.  Frösche  52  f.)  oder  xad''  eavrov  (Philostrat. 
Apollon.  Tyan.  5,  38);  dabei  schritt  man  auch  gern  auf  und  ab,  man  las 
also  auch  JiEQinaxwv,  wie  uns  Bilder  zeigen  (ebenda  S.  165  f.)  und  wie  es 
der  Pastor  Hermae  Vision.  H  1,  3  erwähnt. 

Während  des  Lesens  wurde  immer  mit  der  linken  Hand  der  gelesene  Das  Buch 
Teil  des  Buchs  gleich  wieder  zusammengerollt;  auch  schnellte  die  Charta,  ^Händen 
durch  das  eingebogene  Liegen  gewöhnt,  schon  von  selbst  wieder  zu- 
sammen,"^) so  daß  also  nach  der  Lektüre  das  Buch  jedesmal  verkehrt  zu- 
sammengerollt 8)  in  der  Linken  lag  (die  letzte  Seite  lag  jetzt  außen  statt 
innen)  und  das  Ganze  gleich  noch  einmal  wieder  zurückgerollt  werden 
mußte,  damit  der  Anfang  des  Buchtextes  wieder  an  die  Außenseite  kam. 
Es  ist  wahrscheinlich,  daß  bei  der  Prozedur  dieses  Zurückrollens  das 
Kinn  zur  Hilfe  genommen  wurde;  anders  lassen  sich,  wie  ich  glaube,  die 


1)  Buchrolle  S.  197  f. 

2)  Nepos,  Eumenes  1. 

3)  Plutarch  Pompe] .  79. 
*)  Plut.  Sertorius  27. 

5)  Buchrolle  S.  171  f.  Ich  füge  hinzu, 
daß  schon  Kallisthenes  am  Hof  Alexanders 
einen  Anagnosten  ZxgoXßog  hatte  (Plut.  Alex. 
54) ;  ferner  den  Aiocojiog  Mi&oiödrov  dvayvcoarrjg 
(Suidas).  Unter  den  Sklavenscharen  des 
Orassus,  die  Plutarch  (Crassus  2)  aufzählt, 


stehen  die  Anagnosten  und  die  vjtoygaq)sTg 
voran.  Die  acta  diurna  ließ  man  sich  in 
Eom  vom  actttarius  vorlesen;  s.Petron53 
und  die  Erklärer  zu  Juvenal  7, 104. 

6)  Buchrolle  S.  174  ff. 

7)  Buchrolle  S.  42;  189. 

8)  Eine  so  verkehrt  aufgerollte  KoUe, 
deren  erste  Pagina  innen  lag,  ist  tatsäch- 
lich in  Aegypten  gefunden  worden  und 
so  nach  Berlin  gelangt;  s.  Schübart  S.97. 


304 


Das  antike  Buchwesen. 


Dichterstellen,  die  die  Benutzung  des  Kinns  beim  Lesen  erwähnen,  nicht 
erklären.  1)  Yor  allem  sind  also  beim  Lesen  immer  beide  Hände  beschäf- 
tigt; jede  Hand  hält  eine  Rollung.  Daher  Lucian39, 9:  ßißUov  ev  xöiv 
X^Qolv  eixev  £Q  ^vo  ovvedr]juevov.  Auch  sonst  ist,  wo  die  Hände  im  Plural  zu- 
sammen mit  dem  Buch  erwähnt  werden,  immer  grade  von  einem  Lesenden 
die  Rede,  z.  B.  Plutarch  Cic.  49:  ßißUov  eycov  Kixegoyvog  ev  rätg  yßQoiv. 
Anaxippos  (Comici  ed.  Kock  Bd.  HI)  fr.  1  v.  24 :  ev  ralg  xeQoi  jli'  ö\i^>ei  ßvßlia 
eyovTa  xal  C^rovvra  rd  xard  Tfjv  reyvrjv  (der  Koch  liest  in  seinen  Rezepten- 
büchern) ;  ebenda  Baton  Euergetai  fr.  4,  3 :  ßvßXiov  xatg  xeqoL  Kaiser  Do- 
mitian  w^ehrte  sich  nicht,  als  er  ermordet  wurde,  weil  er  mit  beiden  Händen 
just  eben  eine  Rolle  hielt  (Sueton  cap.  17).  Der  Römer  hat,  wenn  er  liest, 
das  Buch  inter  manus.^) 
ohne  das  Fcmcr  aber  mußte  der  Lesende  darauf  acht  geben,  daß  beim  Lesen 

beehren  ^^^  Buch  das  Kleid  nicht  berühre,  da  die  Charta,  vor  allem  der  Charta- 
rand, leicht  fasert,  haart  und  splittert  und  durch  Berührung  gefährdet 
ist. 3)  Überhaupt  aber  Avar  beim  Aufrollen  jede  heftige  BcAvegung  zu 
vermeiden;  sonst  zerriß  die  Charta.  Wenn  Seneca  de  benef.  7,  30,  1  den 
allgemeinen  Satz  ausspricht:  saepe  quod  explicari  (potiiit),  pertinacia  tra- 
hentis  ahntptum  est,  so  ist  das  ein  Gleichnis,  und  dies  Gleichnis  ist,  wie 
jeder  antike  Leser  verstand,  von  der  Buchrolle  hergenommen.  Sowohl 
das  explicare  wie  das  trahere  weist  sinnfällig  darauf  hin. 

Aber  noch  ein  anderes  wurde,  wie  die  Bildwerke  zeigen,  sorglich 
daß  ein  Teil  der  Rolle  nicht  während  des  Lesens  als  auf- 
gelöste Fahne  zur  Erde  hing.  Denn  die  Charta,  die  so  leicht  zerriß, 
würde  so  hängend  unter  ihrer  eigenen  Last  geHtten  haben.  Daher  eben 
die  Sorgfalt,  mit  der  die  linke  Hand  das  Gelesene  stets  gleich  wieder 
zusammennimmt;  daher  die  vorsichtige  Haltung  des  Buchs  bei  Unter- 
brechung der  Lektüre*)  Entrollte  sich  aber  ein  Rollenteil  beim  Lesen 
trotzdem  und  hing  nachlässig  zur  Erde,  so  Avurde  das  Ende,  wo  es  sich 
um  ein  wertvolles  oder  gar  heiliges  Buch  handelte,  vom  Diener  oder  Ge- 
hilfen im  Gewand  oder  im  Tuch  aufgefangen.  Diesen  Sinn  haben  ge- 
wisse Darstellungen  des  Christus  und  Petrus  mit  dem  Buch,  die  fälsch- 
lich als  „traditio  legis"  aufgefaßt  zu  werden  pflegen. 0)  Vorbild  waren 
hierfür  gewiß  Vorschriften  im  Ritual  der  Juden,  Blau,  Althebr.  Buchw. 
S.  40  f. :  „Wenn  jemand  (am  Sabbath)  auf  der  Schwelle  in  einem  Buche 
liest  und  das  Buch  sich  seinen  Händen  entrollt,  soll  er  es  zurückrollen; 
wenn  er  auf  dem  Dache  liest  und  das  Buch  entrollt  sich  seinen  Händen, 
solange  es  zehn  Handbreiten  (etwa  75  Zentimeter)  von  der  Erde  entfernt 
ist,  soll  er  es  zurückrollen,  ist  es  aber  nicht  mehr  zehn  Handbreiten  von 
der  Erde  entfernt,  wende  er  es  um"  u.  s.  f. 

Der  obere  und  untere  Rand  der  Papyrusrolle,  der  unserem  Buch- 
schnitt   entspricht,    heißt  fronst)     Weil   dieser  Rand,   wie   gesagt,   leicht 


Das  Herab- 
hängen .      T 

vermieden  Vermieden 


frons 


1)  Martial  1,66,8;  10,93,6;  Anthol.Pal. 
12,  208;    Buchrolle    S.  116  f;    Buchwesen 


S.  254. 

2)  Buchrolle  S.  135  u.  338. 

3)  Buchrolle  S.  166;  176  f. 

4)  BuchroUe  S.  186  ff. 


191. 


5)  Buchrolle  S.  322  f.  u.  185 ;  zustim- 
mend L.  V.  Sybel,  Eöm.  MitteU.  25,  1910, 
S.  201  f. 

6)  Lygdamus  1, 13 ;  Ovid  Trist.  1, 1, 11 ; 
Seneca  de  tranqu.  an.  9, 6 ;  Buchrolle  S.  236 ; 
238. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  305 

haarte,  wurde  er  beschnitten  oder  auch  mit  Bimsstein  geglättet,  i)  überdies 
aber  auch  gefärbt  wie  bei  uns  der  Buchschnitt.  Die  schwarze  Farbe 
dieses  Buchschnitts  erwähnt  Ovid  Trist.  1,  1,  8  für  seine  Trauerelegien. 
Sonst  wird  der  Schnitt  also  auch  wohl  buntfarbig  gewesen  sein. 


■L 


6.  Bilderbücher  und  Goldschrift. 

So  viel  vom  Lesen  und  Schreiben  in  der  Chartarolle.  Die  Charta-  ^laierei  auf 
Ue  diente  nun  aber  wie  das  linum  ebensogut  zur  Malerei  wie  zur 
Schrift;  denn  zwischen  Malen  und  Schreiben  war  kein  wesentlicher  Unter- 
schied. Mit  Figuren  bemalte  Teppiche  aus  Charta  scheinen  in  Ägypten 
weitverbreitete  Sitte  gewesen  zu  sein,  und  so  sind  auch  die  altägyptischen 
Papyrusrollen  oder  Bücher  selbst  bekanntlich  an  farbigen  Bildern  reich. 
Dasselbe  hat  sich  bei  den  Griechen  fortgesetzt.  Es  ist  lächerlich,  zu  be- 
haupten, daß  sich  auf  Charta  schlecht  malen  ließ;  denn  die  Ägypter 
widerlegen  das  hundertfach  auf  das  glänzendste.  Hätte  die  griechisch- 
römische Buchmalerei  sich,  wie  einige  meinen,  vorzugsweise  des  Perga- 
ments bedient,  so  Avürde  Plinius  uns  das  sagen.  Die  besondere  Mitteilung, 
daß  Parrhasius  Bilder  auf  Membrane  hinterließ  (oben  S.  282),  beweist  im 
Gegenteil,  daß  man  sonst  nicht  häufig  auf  Membrane  malte.  Das  Malen 
auf  Pergament  verbreitete  sich  naturgemäß  erst  mit  dem  Pergamentbuch- 
Avesen  selbst.  Eben  jetzt  werden  die  von  Gay  et  bei  der  Ausgrabung  von 
Antinoe  in  Ägypten  gemachten  großartigen  Funde  bekannt:  da  tritt  uns 
auch  die  griechische  Porträtmalerei  des  2.  bis  3.  Jahrhunderts  n.  Chr.  ent- 
gegen, und  zwar  Porträts,  bald  auf  Holz,  bald  auf  Charta.  2)  Und  das  ist 
kein  Wunder;  denn  auch  die  griechische  Buchschrift  war  ja  ein  Malen 
und  Farbenauftragen. 

Die  Griechen  s^inpen  nun  bald  so  vor,  daß  die  Bilder  wie  im  Nikander  BUder  im 

.  Text  und 

zur  Illustration  eines  Lehrtextes  dienten  und  den  Text  selbst  unterbrachen,  BUder  ohne 
bald  so,  daß  das  Buch  nur  Bilder  mit  erläuternden  Beischriften  enthielt.  '^^'^^ 
Dies  sind  die  eigentlichen  Bilderbücher  des  Altertums,  und  für  sie 
sind  Yarros  Imagines  der  berühmteste  Beleg.  3)  Für  die  Kenntnis  des 
Buchwesens  ist  die  Kenntnis  dieser  Bilderbücher  natürhch  etwas  sehr 
Wesentliches,  und  es  ist  zu  verwundern,  daß  bisher  fast  niemand  diesen 
Forschungsgegenstand  zusammenhängend  behandelt  hat.  Wer  Umschau 
hält,  bemerkt,  wie  mannigfaltig  und  reich  auch  dieser  Betrieb  im  Alter- 
tum war.  Es  gab  Botanikbücher,  die  nur  farbige  Pflanzenbilder  mit  Bei- 
schriften gaben;  ebenso  Tierfabeln,  nur  in  Bildern  erzählt;  ebenso  die 
Sternbilder  im  Buch  beisammen;  Bilderbücher  über  die  Ilias,  über  römische 
Gescliichte  oder  andere  Kriegsereignisse  aus  der  Sagenzeit  oder  auch  aus 

1)  Lucian  Adv.  indoct.  16 ;  Isidor  Orig.  [  rück,  auf  Mißverstand  des  Wortes  sicilis 
6,  12,  3:  circumeidi  libros  Sidliae  primum 
inrrebruit;  nam  initio  pumicdbantur,  unde 
et  Catullus  nit  (folgt  Catull  1, 1  u.  2).  Also 
verstand  Isidor  oder  seine  Quelle,  Sueton, 
diese  Catullstelle  dahin,  daß  mit  pumex 
der  Schnitt  geglättet  wurde;  dies  sagt 
auch  Ovid  a.  a.  O.  Uebrigens  Martial  8, 72, 2 ; 
4,  10, 1 ;  1,  6f),  10.  Was  Isidor  über  Sizilien 
mitteilt,  führt  man  auf  einen  Irrtum  zu- 


, Sichel",  sieilire  „mähen"  (zu  secarc;  Mar- 
quardt-Mau  S.  816).  Doch  ist  dies  nicht 
überzeugend. 

2)  Siehe  J.  P.  Lafitte  in  La  Nature, 
1912,  Nr.  2037  S.  18. 

')  Das  roaqeiov  des  Callimachus  kann 
schwerlicli  ein  Bilderbuch  bedeuten,  und 
von  einem  Vorbild  für  dies  Unternelimen 
Varros  wissen  wir  nichts. 


Handbuch  der  klass.  Altertximswissenschaft.     I,  3.    3.  Aufl.  20 


306  I^as  antike  Buchwesen. 

der  Gegenwart;  man  denke  dabei  an  die  JosuaroUe  und  an  die  Trajanssäule. 
Alles  das  aber  als  Papyrusrolle  (oben  S.  293).  Es  gab  femer  auch  Land- 
schaftsbilder  auf  Charta,  langgestreckt,  auf  denen  drei  Meter  lang  nichts  zu 
sehen  war  als  Meer  und  Himmel  und  die  man  im  Automatentheater  als 
Hintergrundsbild  verAvenden  konnte.  Wer  sich  eine  Anschauung  davon 
machen  will,  vergleiche  die  heutigen  Bilderbücher  der  Chinesen,  die  zum 
Teil  hohen  künstlerischen  Wert  haben.  Diese  Bücher  bestehen  aus  Seide 
und  sind  über  drei  Meter  lange  Rollen  mit  Rollenstäben,  die  gleichfalls  lang- 
gestreckte Gemälde,  seien  es  Landschaften  oder  Menschengruppen,  enthalten, 
zusammengerollt  aufbewahrt  und  beim  Betrachten  aufgerollt  von  zwei  Per- 
sonen an  den  Stäben  gehalten  werden.  Zu  dem,  was  ich  über  diese 
Dinge  „Die  Buchrolle  in  der  Kunst"  S.  282  ff.  zusammengestellt  habe, 
könnte  ich  jetzt  gar  manches  hinzufügen;  doch  reicht  dafür  an  dieser 
Stelle  der  Raum  nicht.  Es  sei  nur  erwähnt,  daß  wir  Gedichte,  die  Bei- 
schriften zu  solchen  Bilderfolgen  waren,  noch  mehrfach  besitzen,  i)  Lehr- 
reich ist  auch,  was  Suidas  von  den  ßißXia  des  Oeodooiog  (pdooocpog  mit- 
teilt: diaygacpdg  oixicbv  ev  ßißXioig  y\  außerdem  ein  Buch  neql  oly.rjOEcov. 
Hier  ist  klar,  daß  das  Buch  tieq!  oixijoecov  den  Text  über  Häuserbau  gab, 
dagegen  die  andern  drei  Bücher  oder  Rollen  lediglich  Grundrisse  von 
Häusern  enthielten. 
Vervieifäi-  Besouders  sei  noch   betont,   daß   solche  Bilderbücher   nun   auch  ver- 

seiben  vielfältigt  wurdeu.  Es  stand  mit  ihnen  ganz  ebenso  wie  mit  den  litte-  « 
rarischen  Werken;  sie  wurden  in  massenhaften  Exemplaren  in  Umlauf  m 
gesetzt.  Von  Varros  Lnagines  sagt  Plinius  35,11:  „eine  Erfindung,  die 
den  Neid  der  Götter  erregen  muß,  da  sie  den  Bildern  nicht  nur  Unsterb- 
lichkeit verlieh,  sondern  sie  auch  in  alle  Länder  ausschickte,  so  daß  sie 
wie  Götter  überall  anwesend  sein  können."  Was  von  diesem  Porträtwerk 
galt,  muß  zweifellos  von  anderen  Bilderbuchrollen  ganz  ebenso  gegolten 
haben;  denn  ohne  Verbreitung  im  Publikum  konnten  sie  ihrem  Zweck 
nicht  dienen.  2)  * 

Gold-  Auch  über  die  Goldmalerei,  xQvooygacpia,  herrschen  immer  noch  irrige   * 

Vorstellungen,  wenn  man  sie  für  etwas  dem  Pergamentbuchwesen  Eigen- 
tümliches hält. 8)  Nichts  ist  verkehrter  als  das.  Denn  ein  ägyptischer 
Papyrus  mit  aufgelegten  goldenen  Ornamenten  ist  vorhanden,*)  und  wenn 
Gaius,  Instit.  II 77  schreibt  quod  in  chartidis  sive  membranis  aliquis  scripseritj 
licet  aureis  litteris  eqs.,  so  bezeugt  er  uns  ausdrücklich,  daß  damals  für 
Goldschrift  Charta  in  erster  Linie,  Membrane  erst  in  zweiter  Linie  in 
Betracht  kam;  ganz  dasselbe  bezeugt  uns  nochmals  der  von  mir,  „Buch- 
rolle" S.  302,  zitierte  Leidener  Papyrus,  der  uns  sagt,  daß  XQ^^^YQ^V^^ 
nicht  nur  em  xglqtov  xal  dicpßeoag,  sondern  auch  auf  Stein  möglich  sei; 
und  dazu  kommt  noch  die  poetische  Inschrift  bei  Bücheier,  Carm.  epigr. 
938,  aus  der  zu  ersehen  ist,  daß  man  Liebesbriefe  in  Goldschrift  auf 
Papyrus  schrieb: 

Pulveris  aurati  pluvia  sit  sparsa  papj^nis: 
Rescribet  Danae  so^icitata:  veni. 

*)  Wessely, Wiener  Studien  12  S.  259  f. 


1)  Z.  B.  Anthol.  lat.  831  ff. 
»)  Buchrolle  S.  296  ff. 
3)  Gardthausen  S.  215. 


lieber  „goldne  Bücher"  vgl.  oben  S.  257f. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  307 

Hiermit  haben  wir  die  Papyrusrolle  als  Trägerin  litterarischer  Texte 
sowie  auch  als  Bilderbuch  hinlängHch  kennen  gelernt  und  können  end- 
lich zu  dem,  was  wuchtiger,  weitergehen. 

7.  Edition  und  Buchhandel. 

Wir   kehren   zur   eigentlichen  Litteratur   zurück.     Eine   solche   kann      ^"^- 
nicht  entstehen  ohne  den  Akt  der  Edition.    Denn  zum  Wesen  der  Litte-  des^B^ch- 
ratur  gehört  die  Öffentlichkeit.     Edition  aber   ist  ohne  Buchhandel  nicht  Editrons"* 
möglich,  der  für  die  Griechen  seit  dem  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  nachweis-  verfahreng 
bar  ist.i)    Der  hihliopoles  hält  sich  ein  Schreiberpersonal  und  heißt  daher  '"  ^^^"'" 
zugleich    hlhliographos.     Daß   schon    des   Euripides   Dramen    seinen    Mit- 
bürgern als  Lektüre  dienten,  zeigt  uns  z.  B.  Aristophanes  Ran.  52.    Sokrates 
sagt,   jeder,    der   nicht   äjzeigog,    kennt   die   Schriften   eines  Anaxagoras ;  *) 
diese  wurden  also  damals  auch  vervielfältigt.    So  war  denn  auch  der  Be- 
griff  der  „Ausgabe",    exdooig,    in   der   Zeit   des   peloponnesischen   Kriegs 
schon  vorhanden ;  und  auch  nach  auswärts  ging  damals  schon  der  athenische 
Buchhandel,    wie   es    uns   Xenophon  Anab.  7, 5,  14   zeigt.     Dies   bestätigt 
Diogenes  Laertius  7,  31,  w^o  w4r  lesen,  daß  aus  Athen  ßißkia  sokratischen 
Inhalts  nach  auswärts  versandt  w^erden.     Des  Isokrates  Eeden  gingen  in 
Bündeln  um  (Aristotel.  fr.  134  R.),  und  er  selbst  rechnet  darauf,  in  Sparta 
gelesen  zu  werden  (Panath.  250  f.). 

Seit  dem  Rückgang  Athens  waren  Hauptverkaufsplätze  Alexandria 
und  hernach  Rom,  und  zwar  Rom  auch  für  griechische  Bücher.  Der  Römer 
Atticus  ist  es,  der  zu  Ciceros  Zeit  Athen  mit  Büchern  versorgt,  s) 

Die  römische  Litteratur  begann  um  das  Jahr  240  v.  Chr.  mit  dem  Etmsker 
bekannten  Livius  Andronicus.  Aber  schon  vorher  hat  die  Papyrus- 
rolle und  somit  wohl  auch  der  ganze  Buchvertrieb  in  Mittelitalien  Ein- 
gang gefunden.  Ich  denke  hierbei  an  die  Etrusker;  denn  die  Jibri  fatales 
und  Ubri  Acherontici  der  Etrusker,  von  denen  wir  hören  und  die  bei  den 
Römern  noch  lange  hernach  Gegenstand  des  Studiums  waren,*)  die  Etrusci 
Ubri,  von  denen  Cicero  har.  resp.  37  redet,  die  Ubri  rituales  bei  FestuSj^) 
verraten  schon  durch  die  Bezeichnung  Ubri,  worum  es  sich  handelt;  dies 
bestätigt  Cicero  de  divin.  1,  20,  der  ausdrücklich  von  chartae  Etruscae, 
und  Plinius,  der  nat.  hist.  2,  199  von  Etruscae  discipUnae  volumina  redet. 
Die  Etrusker  brauchten  also  schon  „Rollen"  und  ZAvar  Chartarollen.  In 
zalilreichen  Belegen  erblicken  wir  die  Rolle  daher  wirklich  auch  auf 
etruskischen  Monumenten;  s.  „Buchrolle"  Fig.  43;  60;  89  und  S.  80;  92; 
94;  150.  Die  dort  Fig.  89  abgebildete  Sarkophagfigur  aus  Corneto,  liegender 
Mann  mit  weit  offener  Papyrusrolle,  die  neun  Zeilen  Schrift  trägt,  gehört 
nicht,  wie  ich  ansetzte,  dem  5.,  sondern  dem  3.  Jahrhundert  an,6)  und 
der  dort  Dargestellte  ist  also  ein  Zeitgenosse  des  Livius  Andronicus. 

Gleichzeitig  von  P]truskern  und  Griechen  ist  nun  im  3.  Jahrhundert 


1)  Siehe  Buchwesen  S.  433f.:  A.  Rö-   i  "*)  Censorin  dedienat.  14,6;  Serv.  Aen. 
MKR,  Abhandl.  d.bayer.Akad.  d.Wissensch.   |  8,  398;  Arnob.  2,  62. 

22  (1902)  S.  45  f.;  feuchrolle  S.  212  f.  ">)  Fest.  S.  285  M.;  vgl.  (^ensorin  17. 

2)  Plato  Apol.  p.  26  D.  i  «)  Vgl.PALLY-WissowA,RE.VIlS.784. 


3)  Cic.  ad  Att.  II  1,  2. 


20* 


308  ^^^  antike  Buchwesen. 

in  Rom  dieser  Buchvertrieb  auf  Rom  übergegangen.  Ennius  Annal.  564,  Lucilius 
V.  709  u.  1085  Mx.  erwähnen  in  Rom  zuerst  die  Charta.  Doch  hat  sich 
das  ChartabuchAvesen  dort  anfangs  sehr  langsam  entwickeh.  Zu  Ciceros 
Zeit  waren  in  Rom  lateinische  Bücher  noch  schwer  aufzutreiben,!)  und 
erst  in  den  Zeiten  der  nächsten  Generation  haben  sich  diese  Verhältnisse 
wirklich  gebessert. 
Verschie-  Was    ist   „Edicron"?     Es    ist    nicht    nur   „Veröffentlichen",    sondern 

deu^ungen  Edieren  heißt  im  Geschäftsleben  auch  schon  das  Mitteilen  des  Geschrie- 
von  edere  benen  an  irgendeinen  Einzelnen  zu  persönlicher  Kenntnisnahme.  Wer 
vor  Gericht  als  Kläger  auftritt,  soll  seine  Klage  dem  Angeklagien  „edieren", 
Ulpian  ad  edictum,  Digest.  II  13,  1 :  qua  quisque  actione  agere  volet,  eam 
edere  debet  .  .  .  ut  sciat  reus  utrum  cedere  an  contendere  ultra  debeat  .  .  . 
Edere  est  etiam  copiam  describendi  facere,  vel  in  lihello  complecti  et  dare, 
vel  dictare.  Eiim  quoque  edere  Labeo  ait,  qui  producat  adversarium  suum 
ad  album  et  demonstret  quod  dictaturus  est  u.  s.  f.  Ebenda  II  13,  2 :  heredes 
solent  habere  exemplmn  testamenti;  falls  ein  Streitfall  entsteht,  non  iubet 
praetor  verba  testamenti  edere.  II  13,  6:  der  Argentarius  soU  descriptas 
rationes  dare,  das  heißt:  edere  rationes.  Mehrere  unterschreiben  alsdann 
solche  editio;  edi  (so)  autem  est  vel  dictare  vel  t rädere  libeUum  vel  codicem 
proferre.  Das  Original  des  Rechnungsbuchs  steht  also  im  Codex,  die  Ab- 
schriften werden  im  libellus  gegeben.  Deutlicher  Gaius  ebenda  II  13,  10: 
ratio  ni(^si  a  capite}  inspiciatiir,  intellegi  non  potest:  scilicet  ut  non  totmn 
cuique  codicem  rationum  totasque  membranas  inspiciendi  describendique  po- 
testas  fiat,  sed  ut  ea  sola  pars  rationum  .  .  .  inspiciatur  et  describatur  eqs. 
Ein  wirkliches  „Veröffentlichen"  ist  es  dagegen,  Avenn  der  Magistrat 
durch  Inschrift  oder  Anschlag  dem  großen  Publikum  Mitteilungen  zu 
machen  hat.  Solches  Veröffentlichen  amtlicher  Bestimmungen  heißt  pro- 
ponerc]  Ulpian,  Digest.  II  1,  7 :  und  zwar  geschieht  dies  in  albo  vel  hi 
Charta  vel  in  alia  materia  (s.  oben  S.  256).  Ich  zitiere  als  Beispiel  Kaiser 
Julian,  der  in  dieser  Weise  sein  tadelndes  Schreiben  an  die  Stadt  Ale- 
xandria ausstellen  läßt:  jtQoref^ijTO)  Toig  i^uotg  jiokiTaig'Ä?.e^avdQevoiv{Ftpiüt.lO). 
Hiervon  unterscheidet  sich  nun  aber  die  Veröffentlichung  litterari- 
scher Werke  sehr  Avesentlich,  und  nur  von  ihr  ist  im  Nachfolgenden  zu 
handeln. 
Littera-  Litterarischo  Edition  ist  Vervielfältigung  einer  Textvorlage,  die  nur 

EcUtion  i^  einem  Exemplar  vorliegt,  durch  Kopie  zum  Zweck  der  Verteilung,  vor- 
nehmlich zum  ZAveck  des  Verkaufs.  Bezeichnungen  dafür  sind  eyMödvai, 
diadidovaiy  edere,  in  publicum  dare,  puhlicare,  divulgare,  vulgare  u.  ähnl.;^) 
vollständiger  diadidövai  roTg  ßoidojuevoig  kajußäveiv  (Isokrat.  12,  233),  oder, 
weil  man  ein  Werk  auch  als  Steininschrift  veröffentlichen  konnte,  ev 
ßiß?doig  exdovvai,^)  Den  Ägyptern  AA^ar  dies  Verfahren  noch  unbekannt; 
es  ist  etwa  seit  der  Zeit  des  Beginns  des  peloponnesischen  Krieges  nach- 
weisbar,*) und  die  Erfindung  gehört  den  Griechen.    Der  Unternehmer  heißt 


*)  BuchAvesen  S.  363  f.  ...  sy.öeModai. 

2)  Dem  lat.  puhlicare  ist  das  Srjfioommv  |  ^)  Buchrolle  S.  213  nach  Clemens  Ale- 
bei  Cassius  Dio  nachgebildet.  j  xandrinus  Strom.  1,  78  u.  79. 

3)  Plut.  Alex.  7:  )Myovg  riräg  h  ßißUoig  \ 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  309 

ßißhoyodqog  iind  ist  dann  liäufig  zugleich  auch  ßißhomoXtjQ;  lateinisch  in 
beiden  Fällen  Uhrarius. 

Auch  der  Homertext  erfuhr  gewiß  früh  solche  Vervielfältigung;  ein  Ausgaben 
Zeugnis  dafür  aus  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  haben  wir  bei  Xenophon  """''"''^ 
Memor.  4,  2,  10.  Bei  den  alexandrinischen  Grammatikern,  die  Homer 
traktierten,  ist  der  Ausdruck  endooig  ständig;  sie  verschafften  sich  teils 
exöooHg  xaia  ziolnq,  teils  Exöooeig  xar  ävöoa,  die  sie  ihren  Diorthosen  des 
Textes  zugrunde  legten.  Für  die  xar  ävdga,  die  auf  einzelne  Personen 
zurückgehen,  werden  in  den  Scholien  Antimachos,  ein  jüngerer  Euripides 
und  Aristoteles  genannt.  Da  nun  jede  exdooig  Vervielfältigung  des  Textes 
voraussetzt,  so  ergibt  sich,  daß  man  in  den  griechischen  Städten  zu  Unter- 
richtszwecken „Staatsexemplare"  benutzte  —  das  w^aren  die  Homertexte 
von  Massilia,  Chios,  Kreta  u.  a.  — ,  daß  außerdem  aber  von  den  genannten 
Männern,  Antimachos,  Euripides  und  Aristoteles,  Homerausgaben,  iy.döoeig, 
veranstaltet  worden  waren,  in  denen  irgendwie  ihr  persönliches  Urteil  zur 
Geltung  kam  imd  den  Text  beeinflußte.  Denn  das  xar'  ävdoa  kann  nur 
die  Nennung  des  Urhebers  bedeuten,  wie  das  xam  UivÖaoov  bei  Plato 
Phaedr.  p.  227  B  und  das  allbekannte  xara  Mar&aioy,  xatä  Mdoxov. 

Für  Werke,  die  auf  viele  Leser  rechneten,  kann  in  der  Zeit  der  ent- 
wickeltsten Kultur   eine  Auflage   von  hundert  Exemplaren  nicht  entfernt 
genügt  haben.    Sie  muß  aber  in  der  Weise  hergestellt  worden  sein,  daß  Ve™ifäi- 
viele  Buchschreiber  gleichzeitig  nach  Diktat  schrieben.  durch 

Daß  tatsächlich  eine  Anzahl  von  Schreibern  gleichzeitig  nach  Diktat  ^^^^^^ 
arbeiteten,  zeigen  uns  schon  ägyptische  Bilder  (Buchrolle  S.  lOff.).  Weitere 
Nachweise  habe  ich  dafür  „Buchwesen"  S.  351  f.  und  „Buchrolle"  S.  197, 1 
mitgeteilt  und  füge  hier  noch  andere  hinzu.  Bei  Westermann,  Biogr. 
p.  84  (Suidas)  lesen  wir:  „Daß  die  Verse  der  Sibylle  so  unfertig  und  un- 
metrisch sind,  liegt  an  den  TaxvyQdq)oi,  die  nach  ihrem  Diktat  nicht  schnell 
genug  nachschreiben  konnten."  Cicero  sorgte  als  Konsul  für  rasche  Ab- 
schriften durch  Uhrarli  {ab  omnihus  Uhrariis  pro  Sulla  42),  die  also  augen- 
scheinlich gleichzeitig  in  Tätigkeit  traten.  Auch  Tertullian  I  p.  56,  16 
ed.  Reiff.  setzt  dies  Verfahren  als  Gewohnheit  voraus.  Auch  in  der 
Historia  Augusta  lesen  wir,  daß  der  Verfasser  nicht  schreibt,  sondern 
diktiert,  trig.  tyranni  33,  8:  no}i  scribo,  secl  dicto,  und  so  erscheint  auch  im 
Corpus  giossariorum  latinorum  dictare  ständig  unter  den  Ausdrücken,  die 
das  Schriftwesen  betreffen,  dazu  dldator  „der  Diktierende",  didatura  „das 
Diktieren",  griechisch  vmxyoQevoj,  ib.  II  463,  5  u.  sonst.  Aber  auch  ein  Vers 
aus  den  neu  bekannt  gewordenen  "la^ßoi  des  Callimachus  (Oxyrhynch.  Pap. 
VII 1011  V.  102)  läßt  sich  hiermit  in  Zusammenhang  bringen.     Er  lautet: 

ocojirj  ysv€od(0  xai  ygdqpeo&e  xijv  grjoiv. 

Denn  mir  scheint,  daß  Callimachus  hier  den  Vorgang  in  einer  antiken 
Schreibstube  imitiert.  Er  diktiert  als  Dichter  gleichsam  seinen  Schreibern 
(in  der  Mehrzahl):  „Beginnt  jetzt  meine  lamben  zu  schreiben  imd  seid  still." 
Wurden  nun  also  z.  B.  20  Schreiber  in  dieser  Weise  beschäftigt,  so 
konnten  in  20  Tagen  400  Exemplare  hergestellt  sein.  Dies  ist  in  der 
Tat  das  Verfahren,  das  uns  im  Esdra  IV  (=  II)  14, 14  bezeugt  wird.  Ganz 
ebenso   gab    es   im  Altertum    auch    ein   massenhaftes  Vervielfältigen   von 


310 


Das  antike  Bachwesen. 


Bilderbüchern  oder  einzelnen  Malereien  durch  gelernte  Leute,  die  vor- 
nehmlich dem  Sklavenstande  angehörten,  i)  Der  Maler,  der  so  Bilder  ver- 
vielfältigte, mußte  also  allerdings  direkt  aus  einem  Exemplar  in  das  andere 
kopieren.  Für  den  Buchsclireiber  war  dagegen  ein  rasches  Kopieren  von 
Schrift  ohne  Diktat  und  in  der  Weise,  daß  man  ein  Buch  als  Vorlage 
neben  sich  legte  oder  vor  sich  aufstellte,  kaum  ausführbar  und  ist  schwer- 
lich vorgekommen.  Man  muß  sich  dabei  die  Schwierigkeit,  in  eine  Papyrus- 
rolle Schrift  einzutragen,  nochmals  vergegenwärtigen  (vgl.  oben  S.  302). 
Wer  sich  das  Bild  eines  solchen  in  die  Rolle  Schreibenden  („Buchrolle" 
Abb.  139)  betrachtet,  wird  erkennen,  daß  der  Mann  weder  Hände  noch 
Platz  frei  hatte,  um  eine  Rolle  als  Schriftvorlage  bequem  vor  sich  auf- 
zustellen oder  sich  vor  Augen  zu  halten. 

Die  Edition  geschah  in  den  meisten  Fällen  und  gewiß  schon  früh 
durch  Unternehmer,  die  wir  Verleger  nennen;  nicht  selten  aber  wohl 
Biiciiveriag au^ch  duTch  den  Autor  selbst,  also  im  Selbstverlag.  Cicero  besaß  zeit- 
weilig viele  Schreiber,  und  ihm  konnte  im  Jahre  58  v.  Chr.  zugemutet 
werden,  mit  ihrer  Hilfe  die  Annales  seines  Bruders  Quintus  selbst  zu 
edieren.  2)  Wir  folgern,  daß  Cicero  damals  wenigstens  zum  Teil  auch 
seine  eigenen  Sachen  selbst  vervielfältigt  und  herausgegeben  haben  muß. 
Doch  zog  er  es  bald  vor,  dem  Atticus  dies  Geschäftliche  zu  überlassen. 
Während  das  griechische  Verlagswesen  sich  seit  langem  sachgemäß  ent- 
wickelt hatte  und  in  sicherem  Betriebe  blieb,  merken  Avir  dagegen  in  Rom 
im  3.  und  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  noch  kaum  etwas  von  editio  und  Buch- 
verkauf römischer  Autoren;  3)  vielmehr  bediente  man  sich,  um  Buchtexte 
wie  des  Ennius  Annalen  bekannt  zu  machen,  damals  noch  der  Vorlesung. 
Einer  der  frühesten,  der  im  angegebenen  Sinn  edierte,  ist  vielleicht  der 
Redner  Antonius ;  *)  dann  edierte  Cicero  selbst  gleich  seine  Jugendschrift 
De  inventione.ö)  Allein  eine  so  ideal  gerichtete,  tatkräftige  und  geld- 
kräftige Persönlichkeit  Avie  Pomponius  Atticus,  der  Freund  und  Verleger 
Ciceros,  Avar  nötig,  um  den  römischen  Buchhandel  endlich  in  die  Höhe 
zu  bringen,  und  dieser  Atticus  beschränkte  sich  nicht  etAA^a  nur  auf  den 
Vertrieb  der  Schriften  Ciceros,  sondern  sein  Verlag  umfaßte  griechische 
AAde  römische  Autoren.  Aber  auch  eine  geAAdsse  Konkurrenz  regte  sich 
schon,  und  dieser  wichtige  Mann  war  damals  nicht  etAva  der  einzige 
seiner  Art.  Neben  ihm  haben  in  Rom  auch  andere  Unternehmer,  Avenn- 
schon  geringerer  Bedeutung,  bestanden.  Wenn  Cicero  zmn  Atticus  sagt: 
in  Zukunft  AA'ill  ich  dir  den  Vertrieb  meiner  Reden  überlassen  (ad  Att. 
13,  12;  oben  S.  103),  so  klingt  das  so,  als  ob  er  sich  auch  an  jemand 
anders  Avenden  könnte,  und  dies  bestätigt  Cicero  ib.  13,  21,  4;  ad  fam. 
16,  21,  8;  ad  Qu.  fratrem  III  4,  5;  III  5  u.  6,  6;  pro  Sulla  43;  de  or.  1,  94; 
de  leg.  3,  46;  Philipp.  2,  21 ,  avo  Buchhändler  erAvähnt  Averden;  dazu  die 
librarioli  de  leg.  1, 7.    Ja,  auch  der  litterator  Sulla  bei  CatuU  carm.  14  scheint 


Atticus 


^)  Buchrolle  S.  297;  299;  302;  308  f. 

2)  BucliAvesen  S.  282.  Inwieweit  ein 
Autor  sich  selbst  um  die  Herstellung  der 
ersten  Reinschrift  bemüht,  ist  Buchrolle 
S.  197  f.  erörtert. 

^)  Höchstens  wäre  anzuführen  Lucil. 


668  Mx.:  trado  ego  aliis  nummo  porro  quod 
mihi  constat  carius;  so  Lachmanns  wahr- 
scheinliche Emendation,  wozu  Zwei  poli- 
tische Satiren  des  alten  "Rom  S.  87. 

4)  Oic.  Orat.  18;  Brut.  163. 

5)  Oic.  De  orat.  1,  5. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstofife.     B.  Litterarisches. 


811 


diesen  Leuten  ins  Handwerk  gepfuscht  zu  haben,  indem  er  eine  Antho- 
logie aus  römischen  Dichtern  herstellte  und  Exemplare  versandte,  i)  In 
nächster  Beziehung  mit  Atticus  stand  Cornelius  Nepos,«)  und  wenn  also 
Catull  sein  Gedichtbuch  diesem  Nepos  widmet  und  ans  Herz  legt,  so  hat 
A.tticus  vielleicht,  durch  Nepos  angeregt,  auch  Catulls  Gedichte  für  den 
Verkauf  vervielfältigen  lassen. 

Seltsam  ist  der  Ausdruck  in  bybliothecas  referre  im  Sinne  von  „publi- 
zieren" bei  Tacitus  Dial.  21;  und  zwar  waren  es  nach  Tacitus'  Angabe 
so  große  Männer  wie  Cäsar  und  Brutus,  die  das  persönlich  mit  ihren 
poetischen  Werken  taten.  Was  für  Bibhotheken  sind  da  gemeint?  Öffent- 
liche gab  es  damals  in  Rom  noch  nicht. 

Von  alledem  aber  hat  in  Ciceros  Zeitalter  doch  zunächst  nur  die 
Hauptstadt  Eom  Nutzen  gehabt.  Catull  68  A  7  bezeugt,  daß  zu  seiner 
Zeit  in  abgelegenen  Städten  wie  Verona  überhaupt  keine  irgendwie  unter- 
haltende Lektüre  aufzutreiben  war.  3)  Erst  seit  der  Ära  der  augusteischen 
Dichter  ging  der  Versand  von  Buchexemplaren  von  Rom  aus  in  alle 
Städte  und  Provinzen.     Ein  Weltbuchhandel  war  entstanden.  Weitbucii- 

Und  zwar  Averden  uns  fortan,  bei  Seneca,  Martial  und  Quintilian,  als 
Verleger  nur  noch  Freigelassene  genannt.  Darin  liegt  aber  durchaus 
nichts  Nachteiliges ;  welch  lebhaftes  Interesse  diese  oftmals  hochgebildeten 
Freigelassenen  an  der  römischen  Litteratur  nahmen,  zeigt  uns  Trypho, 
der  Verleger  Quintilians,  der  ein  Avirklicher  Verehrer  des  Werkes  war, 
das  er  herausgab.  Poljbius,  der  Freigelassene  des  Kaiser  Claudius,  der 
Freund  Senecas,  der  am  Hof  den  Posten  a  studiis  innehatte  und  sich 
mit  römischen  Dichtern  eingehend  beschäftigte,*)  Avar  ein  Mann  gleichen 
Kalibers,  und  jene  Verleger  dürfen  wir  ebenso  hoch  einschätzen  Avie  ihn. 

Noch  im  Verlauf  des  ganzen  1.  Jahrhunderts  n.  Chr.  war  und  blieb 
Rom  der  einzige  Verlagsort  für  neuerscheinende  lateinische  Bücher.  Dann 
aber  hatten  mit  dem  Aufkommen  der  Provinziallitteraturen  auch  die  Haupt- 
städte der  Provinzen  lateinischer  Zunge  ihren  eigenen  Buchhandel.  Dafür  Dezentraii- 
Avird  uns  zuerst  Lyon  genannt,  s)  Ausonius  und  ApolHnaris  Sidoniiis  A^er-  selben 
anschaulichen  uns  die  Art  der  Buchverbreitung  und  Edition  im  4.  und 
5.  Jahrhundert  besonders  deutlich.  Ein  Verleger  im  Dienst  der  christ- 
lichen Gemeinde  in  Rom  AA^ar  sodann  Clemens ;  s.  Pastor  Hermae,  Vis.  11 
fin.,  wo  wir  hören:  das  Buch,  das  von  der  Ekklesia  stammt,  soll  dieser 
Clemens  erhalten,  aber  nur  in  einem  einzigen  Exemplar,  und  dann:  jiefni^ei 
ovv  Khjjuijg  eh  tag  e^co  noleig'  exeivo)  ydo  emrhQajiraij  d.h.  er  soll  es  ver- 
A^ielfältigen  und  versenden.  Außerdem  erinnere  ich  an  den  Redner  Libanios, 
der  uns  I  S.  78  f.  R.  schildert,  Avie  für  alle  Großstädte  des  römischen  Reichs 
Exemplare  seiner  Reden  beschafft  Averden;  an  all  diesen  Plätzen  findet 
ihre  Vervielfältigung  statt,  und  von  da  aus  ging  dann  der  Verkauf  vor 
sich.  6)  Von  Apollonius  von  Tjana  gab  es  ein  einbücheriges ')  Werk  negi 
i%oio)v,    von   dem  Philostrat  3,  41  sagt:    t6  de  negi   ^vomv  ev  noXlöig  fxev 


1)  Siehe  Philol.  63  S.  465. 

2)  Siehe  Nepos'  Atticus. 

3)  Vgl.  Ehein.  Mus.  59  S.  446  f. 

^)  Ueber   Polj^bius   Neue   Jalirbb.  27 


(1911)  S.  596  f. 

5)  Plin.  epist.  9, 11,  2. 

6)  Buchwesen  S.  507. 

7)  Siehe  Philostrat  4,  19. 


312  Das  antike  Buchwesen. 

leQOig  evQov,  ev  noXkaTg  de  jiÖaeoi,    no'KKolq    ök    dvÖQcTyv    oocfO)v    oixoig.     Audi 
dies  Werk  Avar  also  durch  den  Buchhandel  in  alle  Städte,  in  aller  Hände 
gelangt. 
Buciiiäden  Über  Bucliläden  und  ihre  Einrichtung   fehlt  es  uns   nicht   an  Nach- 

richten. Es  waren  Tabernen,  die  sich  in  bestimmten  Stadtquartieren  be- 
fanden, wo  die  Buchware  in  Börtern  oder  in  Capsae  mehr  oder  weniger 
geordnet  sich  vorfand,  aber  auch  auf  einem  Tischt)  offen  auslag;  gleich 
vorne  am  Türpfosten  war  überdies  für  den  Passanten  das  Neueste  an- 
geheftet oder  in  Abschriftproben  zu  finden,  um  Käufer  anzulocken.  2)  Wir 
aber  lenken  unser  Interesse  auf  das,  was  wichtiger,  auf  die  Autoren 
selbst  zurück. 

8.  Dedikation  und  Anekdota. 

veröffent-  j)as   Schriftstellern    ist   Sache    der   freien   Neigung   und   Eingebung. 

mit"vv^d"  Der  Entschluß  aber,  das  Geschriebene  auch  zu  veröffentlichen,  fällt  man- 
mung  ciiei^  Yiel  schwercr  als  das  Produzieren  selbst ;  denn  es  heißt  mit  Recht : 
nescit  vox  missa  reverti,  und  die  Reue  kommt  zu  spät.  In  der  älteren 
Zeit  merken  wir  von  solchen  Sorgen  freilich  noch  nichts.  Die  Dichter 
vertrauen  eben  ihrer  Muse,  wenn  sie  singen;  ein  Thukydides  ergreift, 
w^enn  er  seinem  Griechenvolk  die  Kriege  und  Schicksale  erzählt,  die  es 
selbst  erlebt  hat,  in  großartig  sicherer  Ruhe  das  Wort.  Nur  ein  Lelir- 
dichter  wie  Hesiod  wendet  sich  an  eine  bestimmte  Adresse,  an  seinen 
.Bruder  Perses.  Dann  aber  sehen  wir  auch  bei  anderen  die  Neigung  ent- 
stehen, das  Werk,  das  man  schreibt,  einer  bestimmten  Person  zu  widmen. ») 
Dies  tat  vielleicht  zuerst  Dionysios  Chalkus  mit  seinen  sympotischen  Ele- 
gien (Athenaeus  p.  669  D),  dann  Isokrates  Ugog  NixoxXea. 

Isokrates  wendet  sich  also  schon  an  einen  König.  Das  wird  bald  da- 
nach zur  Gewohnheit.  Wenn  in  der  Rhetorik  ad  Alexandrmn  die  Wid- 
mung an  Alexander  den  Großen  eine  Fälschung  ist,  so  gibt  es  doch  sonst 
seit  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  dafür  Beispiele  genug;  ich  erinnere  an 
Aristoteles  Protrepticus  (frg.  50  Rose);  übrigens  Diogenes  Laertius  4,  88; 
7, 185.  Daneben  steht  das  Verfahren  des  Cornificius  ad  Herennium  und 
des  Nikander,  der  Freunden  seine  Lehrgedichte  zugeeignet  hat. 

Zweck  der  Welchen  Zweck  aber  hatte  diese  Widmung?     Entweder  hat  sie  nur 

1  mung  ^^^  Zw^eck  der  intimeren  Belehrung  wie  bei  Nikander,  Cornificius  oder 
Cato  ad  filium,*)  oder  aber  sie  ist  eine  Huldigung  und  ein  Werben  um 
Protektion.  Übliche  Ausdrücke  dafür  sind  dvaii&rjjui,  consecro,  donOy  dedicOy 
jieiiTiWy  aTiooTeXlcOy  mitto,  transmitto  u.  a.  Die  ersten  beiden  Verben  deuten 
an,  daß  die  Person,    der  man  huldigt,    an   die  Stelle    einer  Gottheit  tritt. 


^)  Die  mensa  wird  erwähnt  bei  Ps.- 
Acron  zu  Horaz  Epist.  1,  20, 1  f. 

2)  scriptis postihus  ^o^^sMartial  1, 117, 11 ; 
vgl.  Hör.  Sat.  1,  4,  71;  Ars  poet.  373;  Mar- 
quardt-Mau  S.  826f.;  Dziatzko,  „Buch- 
handel« S.  981. 

3)  Siehe  E.  Gräfenhaix,  De  more  libros 
dedicandi,  Marburg  1892;   Joannes  Rup- 


PERT,  Quaestiones  ad  historiam  dedicatio-   '   belehrt,  und  sonst. 


nis  librorum  pertinentes,  Lips.  1911.  Bei 
Enkomien  verstand  sich  die  Dedikation 
von  selbst ;  über  sie  F.  Stephan,  Quomodo 
poetae  Graec.  Rom.  carmina  dedicaverint, 
Berlin  1910,  S.  15  f. 

*)  Diese  Art  der  Widmung  ist  älter 
und  erscheint  schon  bei  Hesiod,  wie  wir 
sahen,  bei  Empedokles,  der  den  Pausauias 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoflfe.     B.  Litterarisches.  31H 

Besonders  deutlich  offenbart  sich  das   in  Wendungen    wie  tibi  mcra  fem 
(Gennanicus  Aratea  v.  3);  opus  tibi  sacratiim  (Ovid  Trist.  2,  552). 

Die  Übersendung  des  Dedikationsexemplars  geschieht  nun,  was  über- 
aus bemerkenswert,  regelmäßig  vor  der  Edition  und  nicht  etwa  durch 
einen  librarius  oder  Verleger,  sondern  durch  den  Autor  selbst.  Die 
glänzende  Ausstattung  solcher  AVidmungsexemplare  wird  uns  oft  geschil- 
dert, z.  B.  bei  Lygdamus  (Tibull  III  1).  Es  folgt  aber  hieraus,  daß  man, 
Avo  mittere  steht,  noch  nicht  an  Edition  denken  darf.i)  Vielmehr  wird, 
wie  wir  nicht  selten  hören,  dem  Empfänger  der  Sendung  die  Entschei- 
dung zugeschoben,  ob  das  Werk  der  VeröffentHclmng  w^ert,  und  zuvor 
seine  Korrekturen  erbeten  (z.  B.  bei  Justin  praef.;  Statius  Silven  II  praef.; 
Terentianus  Maurus  v.  283  f.  u.  314  u.  sonst).  Geschah  es  doch  auch  sonst 
häufig,  daß  man  Freunde  und  Studiengenossen  vor  der  Edition  um  ver- 
bessernde Durchsicht  des  Textes  bat.  2)  Denn  dreierlei  gehörte,  wie  ims 
Plinius  epist.  5, 10,  3  sagt,  zur  Edition:  describi,  legi  und  venire  volumina,^) 
wo  legi  nur  von  dem  Korrekturlesen,  das  der  Ausgabe  und  dem  Verkauf 
voraufliegt,  verstanden  werden  kann,  also  das  emendari  (oben  S.271  u.290) 
in  sich  schließt.  Unterblieb  nun  nach  solchen  Überlegungen  die  Edition, 
so  fand  nur  ein  privatim  dicare  ohne  Vervielfältigung  statt;  dies  erwähnt 
Plinius,  nat.  bist.  5,  16  für  den  König  Juba,  und  auch  Wendungen  wie 
tibi  edidi  (Avien,  Ora  marit.  1,  415)  sind  vielleicht  in  gleichem  Sinne  zu 
verstehen;  denn  edere  kann  auch,  w^ie  wir  S.  308  salien,  die  Mitteilung 
an  einen  Einzelnen  bedeuten.  Besonders  deutlich  ist  Firmicus  Maternus 
Mathes.VIII  praef.  3:  horum  autem  libroriim  artificiiim  nos  tibi  sali  edidisse 
siiffieiet. 

Aber  auch  in  den  Fällen,  wo  es  sich  mn  ein  Werk  handelt,  das  der  bittere  und 
Autor  zu  publizieren  wünscht,  ist  zwischen  mittere  und  dedicare  ein 
wesentlicher  Unterschied,  und  wer  diesen  Unterschied  nicht  beachtet, 
kann  z.  B.  das  Verhältnis  des  Martial  zum  Kaiser  Domitian  nicht  richtig 
auffassen,  mittere  ist  nichts  als  das  geschenkweise  Übersenden  eines 
Exemplars  in  der  Weise,  wie  wir  ein  solches  auch  heute  an  Freunde 
und  Respektspersonen  übersenden.  Durch  diesen  Akt  ward  der  Empfänger 
zu  nichts  verpflichtet;  er  kann  das  Buch  lesen  oder  ignorieren,  imd  das 
betreffende  Litteraturwerk  findet  zum  übrigen  Publikum  ganz  ohne  sein 
Zutun  den  Weg.  dedicare  ist  dagegen  das  Zusenden  der  einzigen,  vom 
Verfasser  selbst  veranlaßten  ersten  Reinschrift,  die  der  eventuell  bevor- 
stehenden Publikation  zugrunde  gelegt  w^erden  soll,  und  dies  dedicare  hat 
die  Konsequenz,  daß  der  Empfänger  es  ist,  der  über  diese  Publikation 
selbst  entscheiden  Avird.  Bei  seinen  ersten  vier  Büchern  Heß  Mai-tial  es 
dem  Kaiser  Domitian  gegenüber  mit  dem  bloßen  mittere  bewenden ;  nach- 
dem er  bemerkt  zu  haben  glaubt,  daß  der  hohe  Herr  an  ihnen  Gefallen 
gefunden,  „dediziert"  er  ihm  sein  fünftes  Buch.'*) 


^)  Ueber  mittere  s.  auch  M.  Krämer 

S.  17. 

■•*)  So  macht  es  der  jüngere  Plinius 
häufig,  s.  Buchwesen  S.  348;  vgl.  auch 
Krämer  S.  35  u.  62.  tragen  worden 

3)  Vgl.  auch  Plin.  epist.  7,  17,  1. 


*)  Diese  Dinge  sind  von  E.  Lieben, 
Zur  Biographie  Martials,  Progr.  1911  und 
1912,  durchaus  verkannt  und  daher  nur 
Wirrsal  in  die  (^lironologie  des  Martial  ge- 


314  Das  antike  Buchwesen. 

Martiai  Ein  Beispiel  sei  hier  besonders  beigebracht,  da  es  das  Gesagte  erläutert 

und  zugleich  durch  das  Gesagte  erläutert  wird.  Zum  dritten  Buche  des 
Martiai  hat  man  mit  Unrecht  eine  zueignende  Praefatio  vermißt.  Dies 
Buch  III  ist  in  durchaus  verständlicher  AVeise  so  eingeleitet,  daß  zunächst 
das  Stück  III 1  den  befremdlichen  Aufenthaltsort  des  Dichters  mitteilt  —  er 
ist  ausnahmsweise  nicht  in  Rom,  sondern  in  GaUien,  und  was  kann  aus 
Gallien  Gutes  kommen?  — ,  dann  aber  in  III  2  sogleich  die  Zueignung 
vollzogen  wird.  Der  auch  sonst  bei  Martiai  oft  erwähnte  reiche  Faustinus 
ist  es,  dem  der  Dichter  sein  drittes  Buch  „schenkt"  {munus  v.  1),  und 
Faustinus  Avird  dadurch  zum  vindex  des  Buches  (v.  2);  nur  durch  seine 
Protektion  kann  es  in  allem  Glanz  der  Ausstattung  im  Publikum  erscheinen, 
und  zwar  mit  so  korrektem  Text,  daß  es  den  Grammatiker  Probus  nicht 
zu  scheuen  braucht  (v.  12).  Hier  ist  das  Verhältnis  des  Patrons  zu  dem 
"Werk,  das  ihm  dediziert  Avird,  besonders  klar  formuliei-t;  er  tritt  vor  der 
Öffentlichkeit  ganz  dafür  ein  und  sorgt  für  die  erste  Ausgabe  des- 
selben, und  zwar  eine  exakte  Textedition  in  dem  Grade,  daß  der  strengste 
Kritiker  nichts  zu  tadeln  findet,  i)  Neben  diesem  Widmungsgedicht  III  2 
steht  nun  noch  das  Gedicht  III  5,  avo  ein  gewisser  Julius  (Martialis)  als 
Empfänger  desselben  dritten  Buchs  des  Martiai  erscheint;  aber  das  ist 
mit  dem  Gesagten  durchaus  nicht  unA^^ereinbar.  Auch  diesem  Julius  schickt 
Martiai  eine  Abschrift,  die  er  in  Gallien  herstellen  ließ.  Aber  dieser  soll 
das  Geschenk  nur  freundlich  aufnehmen;  daß  er  irgendetAvas  für  die  Ver- 
breitung oder  Textsicherung  des  Buches  tun  soll,  Avird  nicht  gesagt. 
Zwischen  Faustinus  und  Julius  als  Empfängern  ist  also  ein  Avesentlicher 
Unterschied.     Nur  jener  Avar  der  vindex  libri. 

Noch  deutlicher  macht  Statins  uns  diese  Verhältnisse,  Avenn  er  sein 
zweites  Buch  Sih^ae  dem  Atedius  Melior  darbringi  und  zu  ihm  im  Hin- 
blick auf  die  darin  enthaltenen  Verse  sagt  (praef.  fin.):  si  tibi  non  dis- 
pUcuerint,  a  te  publicum  accipiant:  si  minus,  ad  me  revertantur.  Schickt 
Melior  also  das  empfangene  Exemplar  an  den  Autor  zurück,  so  läßt  dieser 
es  unpubliziert  liegen;  behält  es  Melior  dagegen,  so  ist  er  es  auch,  der 
die  Publikation  auf  Grund  jenes  Exemplars  besorgt.  Denn  der  Autor  hat 
es  ja  nicht  mehr  in  Händen.  Ganz  ebenso  schickt  auch  noch  Luxorius 
sein  Gedichtbuch  an  Faustus  (Anthol.  lat.  287,  11  ff.);  Faustus  soll,  Avie 
Luxorius  sagt,  Vervielfältigung  und  Versand  auf  sich  nehmen.  2) 

Schon  hieraus  erhellt  die  große  praktische  Bedeutung,  die  die  Wid- 
mung der  Schriften  für  ihren  Autor  und  für  das  Publikum  hatte;  sie 
Avird  gleich  hernach  noch  überraschender  hervortreten. 

A^eröftent-  Konutc   ciu  Autor   zur  Veröffentlichung   sich   nicht   entschließen,    so 

licliiiiifir 

gegen  den  kam  es  aucli  A^or,  daß  seine  Schüler  oder  Verehrer  Abschrift  nahmen  oder 

^^  aT  ^^^  auch  stenographierten  und  hinter  seinem  Rücken  das  diadidovm  betrieben.  3) 

»)  Im    Eröffnungsgedicht  III  1    wird   |  ist;  die  Gedichte  III 1  und  III  2  sind  eins: 

gleichfalls  ein  Empfänger  des  dritten  Buchs   j  es  wechselt  nur  das  Versmaß.  Kein  anderer 

angeredet,  aber  der  Name  desselben  nicht   ;  als  der  rmdeic/iör/ kann  dort  der  x^nge redete 

genannt.  Daraus  zieht  Immisch,  Hermes  46   ■  sein.  Ueber  das  vermeintliche  Fehlen  von 

S.  490  Schlußfolgerungen,  die  mir  ebenso   j  Präfationen  s.  den  „Anhang", 

bedenklich  wie  unnötig  scheinen.  Aus  dem   |  ^)  Vgl.  Gräfenhain  a.  a.  0.  S.  49. 

oben  Ausgeführten  ergibt  sich,  daß  auch   i  ^)  Johnen  S.  131. 
III 1  wie  III  2  an  den  Faustinus  gerichtet   | 


Statins 

suv.  n 


II.  Verwendimg  der  Beschreibstofife.     B.  Litterarisches. 


815 


Dies  erwähnt  besonders  Galen,  der  sich  genötigt  sah,  in  einer  besonderen 
Schrift  JisQi  Tcbv  Idicov  ßißXUov  sein  litterarisches  Eigentum  festzustellen. 
Vgl.  z.  B.  Galen  De  anatom.  administr.  c.  1  (II  p.  217  Kühn):  ovvEßi)  xa 
vjzojuviiuara  exjieoeiv  wg  xT)]oao&ai  JtoUovg  avrd  xaixoi  y  ov  Jigög  exdomr 
jjr  yeyovöra.  Über  dasselbe  beschwert  sich  auch  Quintihan,i)  der  gleich- 
falls erwähnt,  daß  Stenographen  dabei  beschäftigt  wurden,  die  davon 
Gewinn  hatten.  2)  Auch  die  Cosmographia  des  Julius  Honorius  (um  360 
n.  Chr.)  wurde  nicht  vom  Autor  selbst  publiziert,  sondern  einer  seiner 
Schüler  illo  nolente  ac  subterfugiente  divulgavit  ac  piihlicae  scientiae  obtulit,^) 
Auch  Ovid  behauptet,  daß  seine  Metamorphosen  wider  seinen  Willen 
herauskamen; 4)  und  auch  ein  Teil  der  Bücher  Diodors  erfuhr  solche  un- 
^^'illkommene  jrgoexdooig.^) 

Des  Aristoteles  Schulschriften  oder  Pragmatien  waren,  als  Aristoteles  Anekdota 
starb,  noch  ävexdoTa  und  gelangten  erst  danach  und  zum  Teil  erst  sehi- 
s[)ät  in  die  Hände  des  gelehrten  Publikums. 6)  Im  Testament  des  Lykon, 
das  solche  ävsxdoTa  erwähnt,  bilden  to.  ßißUa  rd  dveyvcoojueva  dazu  den 
Gegensatz.  7)  Diodor  gibt  1,  4,  6  über  den  Inhalt  seines  umfangreichen 
Geschichtswerkes  zunächst  eine  Voranzeige,  da  die  Bücher  selbst,  wie  er 
sagt,  noch  nicht  heraus  sind:  ejzel  d'  f]  juev  vjioi^eoig  eyei  relog,  al  ßlßXoi  de 
jLiexQL  rov  vvv  dvexdoToi  rvyydvovoiv  ovoai,  ßovXojLiai  ßgayja  nooöiooioai  Tzegi 
olrjg  Tr]g  jigayjuLarelag.  GoAvisse  Sachen  blieben  sogar  absichtlich  dvexSoTa 
und  wurden  nur  vorsichtig  unter  der  Hand  Aveitergegeben ;  8)  und  so 
Avird  auch  zu  verstehen  sein,  AA'as  Januarius  Nepotianus,  der  Epitomator 
des  Valerius  Maximus,  in  seiner  praefatio  an  Nepotianus  Victor  sagt:  et 
cum  integra  fere  in  occulto  sinf,  praeter  nos  duo  profecto  nemo  epitomata 
cognoscat.  Besonders  charakteristisch  ist,  daß  ein  Firmicus  Maternus  seine 
astrologische  GeheimAveisheit ,  die  „Mathesis",  nur  für  seinen  Freund 
Mavortius  Lollius  und  dessen  Söhne  bestimmt  (vgl.  oben  S.  313).  Lollius 
soll  die  ersten  sieben  Bücher  des  Werkes  hüten,  daß  kein  Unfrommer 
sie  lese,  praef.  VIII3:  hos  lihros  custodi  ne  improhis  et  sacrilegis  aurihus 
scientia  istius  operis  intimetur.^)  Wir  müssen  auch  hier  folgern,  daß  die 
Bücher  AAdrklich  unveröffentlicht  blieben.  Sie  können  uns  nur  auf  dem 
Wege  der  „Privatabschrift"  erhalten  Avorden  sein. 

9.  Geldgewinn  der  Autoren. 

Hiernach  erhebt  sich  endlich  noch  die  Frage  nach  dem  Verhältnis 
des  Autors  zum  Verleger  und  ob  der  Verleger  dem  Autor  Honorar  zahlte 
oder  irgendAvie  sonst  Anteil  am  GcAvinn  gab.  Daß  diese  Dinge  für  uns 
im  Dunkeln  liegen,  ist  naturgemäß  und  die  BeantAvortung  der  aufgOAVorfenen 
Frage  daher  nicht  leicht.  Seitdem  ich  sie  in  meinem  Buchwesen  S.  353  ff. 
behandelt,    hat   sie   Avenig   Förderung   erfahren.     Besonders   enttäuschten 


1)  Prooem.  7;  1116,68. 

«)  VII  2,  24. 

')  Vgl .  Teuffel,  Eöm.  Litteraturgesch. 

*')  Siehe  Ovid  Trist.  1,  7,  28. 
5)  Siehe  Wachsmuth,  Rhein.  Mus.  45 
S.  476.     Weiteres  bei  Gräfenhain  S.  50. 


«)  Vgl.  DziATZKOS  Artikel  Apellikon 
bei  Paulj'-Wissowa,  RE. 

7)  Buchwesen  S.  437  Anm. 

8)  Cic.  ad  Att.  2,  6,  2:  Hirzel,  Rhein. 
Mus.  47  S.  368. 

9)  Vgl.  Gräfenhain  S.  48. 


316 


Das  antike  Buchwesen. 


Verleger 
fehlen 


Theater- 
dichter 


mich   die  Ausführungen  L.  Haennys,    „Schriftsteller  und  Buchhändler   in 
E/Om",  Halle  1884,  da  in  dieser  Schrift  entscheidende  Belegstellen  falsch 
ausgelegt  und  obendrein  Dinge,  die  von  Wichtigkeit,  übersehen  sind. 
Be-  Voran  stehe  die  Wahrnehmung,    daß  im  Altertum  nie  gehässig  oder 

gegen  die  mit  Groll,  wic  doch  leider  heute  nicht  selten,  über  die  Verleger  gesprochen 
wird.  Hätten  diese  die  Schriftsteller  durchgängig  übervorteilt,  benach- 
teiligt, ja,  ausgenutzt,  so  müßten  wir  bei  Martial  oder  verwandten  Spott- 
dichtern, die  doch  sonst  kein  Blatt  vor  den  Mund  nehmen  und  ihren 
hämischen  Groll  niemals  verbergen,  einmal  einen  Wutschrei  oder  eine  aus- 
fallende bittere  Bemerkung  hören.  Das  ist  aber  absolut  nirgends  der  Fall. 
Nichts  derart  ist  zu  finden.  Also  müssen  die  Verhältnisse  das  Gerechtig- 
keitsgefühl jener  Zeit  vollauf  befriedigt  haben,  sie  müssen  normaler  als 
heute  gewesen  sein. 

Wer  richtig  urteilen  will,  muß  die  verschiedenen  Gattungen  der 
Litteratur  sondern;  er  muß  zugleich  auch  die  von  unseren  heutigen  so 
abweichenden  Verhältnisse  der  antiken  Welt  mit  in  Rechnung  ziehen. 
Es  stand  anders  mit  der  Poesie,  anders  mit  der  aktuellen  Publizistik,  die 
den  Tagesinteressen  diente. 

Nehmen  wir  zuerst  die  Poesie.  Dem  Plautus  wurden  seine  Komödien 
vom  Prätor  oder  Adilen  zmn  Zweck  der  Auffülirung  abgekauft,  i)  und  er 
lebte  von  diesen  Einnahmen,  worauf  ein  Horaz  mit  Verachtimg  zurück- 
blickt, Epist.  2,  1,  175:  Gestit  enim  nummum  in  löcidos  demittere,  post  hoc 
securuSj  cadat  an  recto  stet  fabula  talo.  Ebenso  kaufte  der  Tänzer  Paris 
dem  Statins  zum  Zweck  der  Aufführung  seine  Pantomimentexte  ab,  und 
nur  dadurch  kam  Statins  zu  Gelde.^)  Das  betreffende  Theaterstück,  ob 
Komödie  oder  fabula  saltica,  war  nach  solchem  Handel  nicht  mehr  Eigen- 
tum des  Dichters;  dem  Plautus  ist  es,  wie  Horaz  sagt,  nachdem  er  das 
Stück  verkauft,  einerlei,  ob  es  auch  Erfolg  beim  Publikum  hat  oder  nicht ; 
er  hat  sein  Geld  in  der  Tasche.  Wollte  nun  also  ein  Verleger  das  Stück 
in  den  Buchhandel  bringen,  so  mußte  er  das  Recht  dazu,  wie  sich  von 
selbst  versteht,  nicht  von  dem  Dichter,  der  nicht  mehr  Eigentümer  war, 
sondern  von  dem  betreffenden  Beamten,  resp.  von  jenem  Paris,  der  des 
Statins  Pantomimen  inszenierte,  abkaufen.  Nähere  Angaben  besitzen  Avir 
begreiflicherw^eise  darüber  nicht,  die  Sache  aber  ist  klar. 
Buchpoesie  Audcrs    staud    es    mit    der   Buchpoesie.     Die    schweren    Sachen    der 

Epiker  und  Lyriker  waren  nicht  für  die  große  Masse.  Wie  hätte  ein 
Dichter  wie  Horaz  von  seiner  Schriftstellerei  leben  sollen?  In  seinem 
ganzen  Leben  hat  Horaz  nur  zehn  kleine  Bücher  fertig  gebracht,  die  heut 
etwa  250  Druckseiten  füllen.  Wie  hätte  er  davon  leben  können,  wenn  ihm 
ein  Verleger  wie  die  Sosii  auch  wirklich  für  jedes  Büchlein  ein  gewisses 
Sümmchen  gezahlt  hätte?  Die  Folge  dieses  Umstandes  w^ar,  daß  Horaz  und, 
wie  er,  so  ungefähr  auch  alle  anderen  Dichter  der  Buchpoesie  auf  Gönner 
und  reiche  Liebhaber  angewiesen  waren.  Die  Armut  trieb  den  Horaz  frei- 
lich zum  Dichten  an  und  machte  ihn  kühn  (paupertas  impnlit  audax,  ut 
versus  facerem  Epist.  2,2,51);  denn  er  w^ollte  nicht  hungern;  aber  er  machte 

^)   scrihere   faJndas  solitus  ac   vendere,    1  ^)  Jnvenal  7,  87. 

Sueton  p.  24  R.  | 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  317 

es  dabei  —  so  führt  Horaz  Aveiter  aus  —  wie  der  Soldat  des  Lukuli,  der 
nachts  seiner  ganzen  Barschaft  beraubt  wurde ;  das  versetzte  den  Krieger  in 
blinde  Wut ;  zornig  gegen  sich  und  die  Feinde,  beging  er  einen  Handstreich 
mit  großer  Bravour  und  Avurde  dafür  reich  belohnt.  Dieser  Vergleich  ist 
genau  durchzuführen:  auch  Horaz  sclilug,  indem  er  seine  ersten  Satiren  und 
die  Epode  16  dichtete,  gleichsam  nur  in  Wut  um  sich  und  rechnete  dabei 
gar  nicht  auf  Lohn ;  aber  seine  Leistungen  erregten  großes  Aufsehen,  und 
auch  er  Avurde  alsbald  reich  belohnt,  da  nun  Mäcenas  sein  Gönner  Avurde.  Hiife  der 
Er  ist  Klient  des  Mäcen,  der  ihn  pekuniär  sicher  stellt.  Auf  diesem  Wege,  ^'^'^'"^"^ 
durch  die  Gunst  der  Großen,  sind  beide,  Horaz  und  Vergil,  Avohlhabend, 
ja,  reich  gOAA^orden.  0\äd  dagegen  AA^ar  von  Hause  aus  ein  Avohlhabender 
Mann,  und  er  begnügt  sich  damit,  auf  Euhm  zu  hoffen  (Ars  am.  IH  408  f.). 
Wohlhabend  Avar  auch  Persius.  Dieser  aber  bringt  in  seinem  Prologus 
\.  10  trotzdem  die  Phrase  A^om  Hunger  an,  der  zum  Dichten  treibt: 
maglster  artis  venter,  und  der  Scholiast  bemerkt  dazu,  Persius  habe  causa 
vidus  zu  dichten  begonnen,  um  regelmäßige  Tagegelder  zu  erAverben,  ut 
salarium  mereretur.  Auch  hier  herrscht  also  die  Vorstellung,  daß  ein 
Dichter  dichtet,  um  sich  ein  salarium  zu  erwerben.  Wer  zahlte  in  solchem 
Falle  das  salariuml     Gewiß  nicht  der  Verleger,  sondern  nur  der  Patron. 

Leider  blieb  die  Gunst  der  Verhältnisse  nicht  die  gleiche.  Im  Ver- 
lauf der  Zeit  Avuchs  in  Rom  die  Zahl  der  Dichter  und  der  Verseschmiede 
ins  Unendliche;  in  gleichem  Maß  aber  Avuchs  im  I.Jahrhundert  auch  der 
Überdruß  der  Leser,  und  es  fanden  sich  bald  keine  verschwenderischen 
Patrone  mehr.  Daher  klagt  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  Juvenal,  daß  die 
Poeten  hungern.  Niemand  schenkt  ihnen  jetzt  noch  etAvas  (Juvenal  7, 1 — 97). 

Der  Buchdichter  lebt  also  von  Geschenken,  Avenn  er  nicht  selbst  Avie 
Silius  Italiens  ein  reicher  Mann  ist. 

Hiermit  haben  Avir  nun  auch  die  Erklärung  dafür  gOAVonnen,  Aveshalb  Historiker 
gewisse  Autoren,  vor  allem  so  manche  unter  den  Historikern,  ich  nenne 
Polybius,  LiA^ius,  Tacitus,  Appian,  nicht  dedizieren;  es  sind  Männer,  die 
pekuniär  selbständig  dastehen.  Sie  brauchen  keinen  Patron.  Ebendaher 
hat  JuA^enal  in  seiner  siebten  Satire,  avo  er  das  kärgliche  Los  der  Litteraten 
bespricht,  über  die  Historiker  am  allerwenigsten  vorzubringen;  er  geht 
mit  sieben  Zeilen  (v.  98  ff.)  über  diese  doch  meist  Avohlhabenden  Leute 
hinAveg.  L^nter  den  erhaltenen  Dichtwerken  fällt  der  „Aetna"  auf;  denn 
dieses  Lehrgedicht  ist  niemandem  zugeeignet ;  auch  dies  ergibt  eine  Schluß- 
folgerung auf  die  gesellschaftliche  Stellung  seines  uns  unbekannten  Ver- 
fassers, i) 

Wie  gelangte  nun  aber  der  Buchhändler,  wenn  er  doch  dem  Dichter  i>er  Patron 
nichts  zahlte,  zu  dem  Eecht,  ein  solches  Werk  Avie  die  Oden  des  Horaz  *^Emtion  ^ 
in  den  Handel  zu  bringen  imd  für  eigene  Eechnung  zu  verkaufen?  Wurde 
ihm  das  Avirklich  ohne  alle  Vergütung  konzediert?  Das  ist  undenkbar; 
denn  die  Eömer  Avußten  zAvischen  Mein  und  Dein  just  so  gut  zu  unter- 
scheiden Avie  AAdr.  Man  kommt  hier  auch  mit  der  Erwägung  nicht  durch, 
daß  es  den  Eömern  scliAver  fiel,  geistiges  Eigentum  als  Ware  zu  werten, 


i)  Sielie  Philologus  57  S.  605  f. 


318 


Das  antike  Buchwesen. 


SO  wie  gewisse  Juristen  behaupteten,  eine  fertige  Statue  müsse  dem  Eigen- 
tümer des  Marmorblocks  gehören,  aus  dem  sie  hergestellt  war;  die  auf- 
gewandte Kunst  und  Arbeit  rechneten  sie  nicht;  womit  sich  vergleichen 
läßt  Gaius,  Institut.  II  1,33:  hat  Titius  in  eine  leere  Charta  ein  Gedicht 
hineingeschrieben,  so  ist  nicht  Titius  der  Besitzer  der  Charta,  sondern 
der  andere,  der  das  leere  Papier  besaß;  höchstens  muß  dieser  den 
Schreiberlohn  für  die  Schrift  an  Titius  entrichten.  Aber  diese  primitive 
Auffassung  drang  im  römischen  Hecht  keineswegs  durch.  Der  Jurist 
Proculus  wollte  an  den  Statuen  das  geistige  Eigentum  des  Verfei-tigers 
\'ielmehr  anerkannt  wissen  und  sprach  sie  ihm  deshalb  ganz  als  Eigentum 
zu.i)  Und  den  Theaterdichtern  Plautus  und  Statins  ist  ja  doch  auch  tat- 
sächlich, wie  wir  sahen,  ihr  Geistesprodukt  gut  bezahlt  worden. 
Dcdikation  Hier  ffilt  CS,  auf  die  Buchdedikation  des  Altertums,  über  die  ich  pc- 

über-      sprochen,  nochmals  acht  zu  geben.     Das  Dedizieren  von  Büchern  ist  für 

tragung  ^^^^  hcute  uur  Eliruug  imd  Ornament;  bei  den  Alten  hatte  sie  eine  viel 
wesentlichere  und  eminent  praktische  Bedeutung,  cledicare  ist  soviel  wie 
donare  „schenken".  Es  ist  Besitzübertragung.  Der  Dichter  gibt  mit  der 
Dedikation  sein  Eigentumsreclit  auf.  Der  Patron  ist  rechtlich  durch  diesen 
Akt  der  Eigentümer  des  Dichtwerks  geworden,  und  der  Verleger,  der  das 
Werk  in  den  Handel  brachte,  konnte  also  dafür  den  Dichter  selbst  auch 
nicht  mehr  honorieren;  er  hatte  den  Handel  mit  dem  Avirklichen  Besitzer 
des  Werkes,  dem  Vornehmen  abzumachen,  dem  es  vom  Verfasser  als 
Eigentum  zugesprochen  und  der  der  vindex  lihri  war.  Daraus  erklärt  sich 
auch  die  so  häufige  Äußerung  der  Schriftsteller,  daß  der  Gönner,  dem 
sie  ihr  Werk  darbringen,  die  Entscheidung  treffen  soll,  ob  es  ediert,  d.  h.  ob 
es  verhandelt  werden  solle  oder  nicht.  Alles  Geschäftliche,  was  Edition 
und  Verlag  betraf,  wurde,  wie  uns  das  Martialgedicht  III  2  und  besonders 
des  Statins  Vorwort  an  Atedius  Melior  sowie  Luxorius  deutlich  zeigte  (oben 
S.  314),  vom  Klienten  an  den  Patron  abgegeben.  Dafür  rechnete  er  seiner- 
seits auf  Solarium  und  Lebensunterhalt.  Daher  auch  bei  Martial  das  angst- 
volle Hoffen  und  Harren  auf  ein  Gegengeschenk,  wenn  er  einem  reichen 
Mann  ein  Buchexemplar  in  schöner  Ausstattung  übersandt  hat.  Das  Avaren 
vitale  Sorgen,  und  in  alledem  steht  das  Kliententum  vor  uns:  eine  Art 
der  sozialen  Fürsorge  der  Hochfinanz  für  Dichter  und  Gelehrte,  die  uns 
zum  Glück  heute  fremd  geworden. 

Wenn  also  Horaz  Ars  poet.  345  sagt:  hie  meret  acra  liber  Sosiis,  so 
Avar  er  persönlich  an  dem  guten  Absatz  seines  Buches  schw^erUch  inter- 
essiert; und  auch  mit  Martials  Xenienbuch  steht  es  nicht  anders.    Martial 

Martial  g^gt  dortsclbst  13,  3,  5  zum  Leser:  Avenn  du,  aa^c  ich,  zu  arm  bist,  um 
AAdrkliche  Gastgeschenke  zu  verschenken,  so  kaufe  dies  billige  Buch,  das 
ich  geschrieben  und  das  a^oII  A^on  Xenien  oder  Gastgeschenken  ist,  und 
bringe  es  deinen  Gastfreunden  (hospitibus)  statt  solcher  Geschenke  dar. 
Natürlich  soll  das  der  Angeredete  in  Erwartung  reicher  Gegengeschenke 
tun,  und,  AA'ie  Avir  folgern,  hofft  Martial  selbst,  der  auch  nichts  Aveiter  als 
Klient  ist,    erst  recht  beim  Dichten    dieser   seiner  Xenien   auf   besonders 


^)  Vgl.  Zur  röm.  Knlturgeschiclite »  S.  72. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoflfe.     B.  Litterarisches.  319 

reiche  Douceurs  von  allen  denen,  denen  er  sie  ins  Haus  schickt.  Seine 
späteren  Bücher  dediziert  dann  Martial  ausdrücklich  an  vornehme  oder 
doch  reiche  Männer,  und  die  Sachlage  ist  darum  bei  ihm  auch  so,  wie 
wir  sie  vorhin  schilderten:  der  Detailverkauf  findet  statt,  aber  er  selbst 
hat  keinen  Profit  davon:  nescit  saccuhis  i$ta  mens  (11,  3,  6).  Ein  ander 
Mal  äußert  Martial  5,  16,  10,  daß  seine  Bücher  nur  gratis  gefallen.  Das 
bedeutet  aber  natürlich  nicht,  daß  der  Buchhändler  sie  gratis  verteilt, 
sondern  des  Dichters  Meinung  ist  nur:  „Die  Leser  wollen  meine  Bücher 
beim  Händler,  wo  sie  ausliegen,  nicht  kaufen ;  ich  muß  ihnen,  um  gelesen 
zu  werden,  die  Exemplare  schenken;  die  aber,  die  solche  Gratisexemplare 
von  mir  persönlich  erhalten,  schenken  mir  nichts  wieder."  Über  die 
pekuniären  Beziehungen  Martials  zu  seinem  Buchhändler  läßt  sich  hieraus 
nichts  entnehmen. 

Zweifelhaft  ist  es,  wie  es  mit  Juvenals  Satiren  stand.  Es  muß  auf-  invenai 
fallen,  daß  sich  Juvenal,  wo  er  die  hungernden  Dichter  bespricht,  darüber, 
daß  er  selbst  hungere  und  keinen  Gewinn  von  seinen  Versen  habe,  durch- 
aus nicht  beklagt;  nur  Epiker,  Lyriker,  Elegiker  sind  es,  deren  Schicksal 
er  bemitleidet,  weil  sie  keine  Gönner  mehr  finden.  Damit  hängt  gewiß 
zusammen,  daß  Juvenal  selbst  seine  Satiren  niemandem,  auch  nicht  dem 
Kaiser,  dediziert.  Er  zeigt  damit  an,  daß  er  selbst  keine  Geschenke  will. 
Er  braucht  die  Vornehmen  nicht.  Endlich  aber  spielt  Juvenal  auch  nie 
auf  den  Buchverkauf  seiner  Satiren  an,  ganz  anders  als  Martial.  Er  ist 
als  Litterat  ein  zufriedener,  saturierter  Mann  gewesen,  und  es  regt  sich 
darum  der  Verdacht,  daß  er  selbst  doch  auch  von  seinen  Versen  hinläng- 
lichen Vorteil  hatte,  sei  es,  daß  er  sie,  nachdem  er  sie  öffentlich  vor- 
gelesen,!) im  Selbstverlag  publiziert  oder  daß  ein  Bibliopole  ihm  das 
Manuskript  abkaufte.  Denn  solche  Satiren  hatten  große  buchhändlerische 
Erfolge.  So  riß  man  sich  auch  um  die  Satiren  des  Persius,  sobald  sie 
erschienen  {cliripere  coeperunt,  Vita). 

Wenden  wir   uns   hiemach   anderen  Litteraturgebieten  und  zunächst  B^jchhümi- 
der  Spätzeit  zu.     Auch   in   dieser  Spätzeit   sind  die  Litteraten  unendlich    seibst- 
fleißig    und    erpicht,    das    Publikum    zu    belehren.     Daß    damals    in    der     '■''^''^^^ 
römischen  Welt  der  Buch  verkauf  zum  Vorteil  des  Autors  geschah,   setzt 
H.  Dessau  (Hermes  27  S.  573  f.)  mit  Eecht  voraus.    Ein  Sulpicius  Severus 
(Dialog.  I  23,  4)    freut    sich   z.  B.  über   den  Verkauf   seiner  Vita   Martini 
Turocensis,  der  durch  Buchhändler  geschieht :  nihil  prmnptiiis,  nihil  cariits 
vendebatur.     Dabei   achte   man,   beiläufig,   auch   auf  das   camis,   welches 
Wort  uns  zeigt,  daß  ein  Buch,    das  beliebter  ist  als  andere,   auch  teurer 
als  andere  bezahlt  wird,  weil  die  Nachfrage  größer.    Der  Händler  schlug 
auf,  wenn  die  Sache  sensationell  war.   Aus  Hieronymus  aber  ersehen  wir, 
daß  im  4.  Jahrhundert  der  Autor  gelegentlich  allein  bestimmt,  in  wessen 
Hände  Abschriften   seines  Werkes   gelangen  sollen,   daß  er  ferner   selbst 
die  Kosten  der  Herstellung  trägt,  dann  aber  auch  anscheinend  selbst  gegen 

1)  Daß  Juvenal  seine  Satiren  im  Hör-  solche  Sachen  anhörte,  beschaffen  war  und 

saal  vorlas,    ergibt   sich   aus   dem  semper  ob  auch  Frauen  sich   der  Vorlesung  der 

ego  auditor  tantum  ?  eqs.  (1, 1).  Man  möchte  sechsten  Satire  Juvenals  ausgesetzt  haben? 

freilich    wissen,    wie    das   Publikum,    das  | 


rius  biblio- 
pola 


320  I^^-s  antike  Buchwesen. 

Geldzahlung  Exemplare  abgab,')  und  damit  haben  wir  ein  Beispiel  für 
Selbstverlag;  hier  ist  der  Händler  ausgeschaltet. 

mercenna-  Auf  dasselbe  kommt  es  hinaus,  wenn  Apollinaris  Sidonius,  ein  höchst 

vornehmer  Mann,  zeitweilig  römischer  Stadtpräfekt  und  kaiserlicher 
Schwiegersohn,  den  Vertrieb  seiner  Schriften  einem  intelligenten  Sklaven 
oder  Söldhng  überläßt;  er  nennt  ihn  mercennarius  bibliopola.^)  M.  Krämer 
vermutet  mit  Wahrscheinlichkeit,  daß  auch  Ausonius  sich  eines  solchen 
zum  gleichen  Zweck  bedient  hat. 3)  Die  Benutzung  eines  mercennarius 
hihliopola  kann  aber  nur  bedeuten,  daß  die  vornehmen  Autoren  diesem 
Menschen  für  seine  MühcAvaltung  eine  feste  Besoldung,  merces,  gaben, 
und  darin  liegt,  daß  die  Einnahme,  die  der  Buch  verkauf  eventuell  ergab, 
nicht  an  diesen  gefallen  sein  kann,  sondern  an  den  Auftraggeber,  den 
Autor  selbst.  Andernfalls  hatte  die  merces  keinen  Sinn.  Der  vornehme 
Schriftsteller  sagt  zu  seinem  Faktor:  „Du  erhältst  ein  Fixum  für  deine 
Bemühung;  die  Unkosten  für  Herstellung  der  Exemplare  trage  ich  selbst, 
und  die  Einnahmen  hast  du  mir  auszuzahlen."  Wir  erkennen  damit, 
welche  Formen  der  Selbstverlag  annahm.  In  diesen  Fällen  hatte  der 
Autor  eventuell  selbst  Gewinn  vom  Detail  verkauf. 

Cicero  und  Besoudors  Sensationell  war  die  Publizistik  Ciceros,  und  bei  ihm  liepen 

die  Dinge  ganz  offen,  und  jeder  Zweifel  ist  ausgeschlossen.  Anfangs 
besaß  er  selbst  viele  Schreiber  (s.  oben  S.  310);  er  muß  sich  ihrer  damals 
also  auch  zum  Vertrieb  seiner  eigenen  Schriften  bedient  haben ;  denn  wozu 
hatte  er  sie  sonst?  Auch  dies  Avar  Selbstverlag,  und  er  kann  ihn,  Avie 
Sidonius,  nur  so  betrieben  haben,  daß  er  einem  seiner  Angestellten  unter 
bestimmten  Bedingungen  den  Einzelverkauf  überließ.  Dann  aber  übernahm 
Pomponius  Atticus  den  Verlag  der  Cicerosachen,  und  wenn  nun  Cicero  aus- 
ruft: „du  hast  meine  Rede  pro  Ligario  brillant  abgesetzt;  in  Zukunft  Averde 
ich  dir  für  alles,  was  ich  noch  schreibe,  Reklame  und  Verkauf  {praeconium) 
übertragen"  —  denn  so  und  nur  so  kann  diese  wichtigste  aller  Belegstellen 
ad  Att.  13,  12  interpretiert  Averden*)  — ,  so  ist  CAndent,  daß  der  Verleger 
dem  Autor  bei  Schriften,  die  sich  so  gut  verkauften,  daß  der  GcAvinn  die 
Herstellungskosten  übertraf,  tatsächlich  auch  Anteil  am  GeAvimi  gab,  so 
damals  Avie  heute.  Das  ist  ja  selbstverständlich.  Ein  anständiger  Mann 
AAde  Atticus  hätte  sich  ja  genieren  müssen,  das  Plus  allein  in  seine  Tasche 
zu  stecken.  Vollauf  bestätigt  Avird  dies  dadurch,  daß  Cicero  und  Atticus 
sich  hierbei  in  die  Kosten  der  Beschaffung  des  Papiers  teilten;  denn 
Cicero  schreibt  ad  Att.  13,  25,  3:  quoniam  impensam  fecimus  in  macrocoUa, 
facile  patior  teneri.  Hier  steht  fecimus  im  Plural  noben  patior  im  Singular; 
also  kann  fecimus  kein  Pluralis  maiestaticus  sein,  sondern  Subjekt  dazu  ist 
ego  et  tu.^)  Der  Autor  hatte  Anteil  an  den  Kosten,  also  auch  am  Gewinn. 
Unsere  Zeugnisse  sind  damit  aber  noch  keinesAvegs  erschöpft.    Denn 

1)  Grenaueres  Buchwesen  S.  111.  |  mitgeteilt. 

2)  Sidon.  epist.  IT  8,  2.  |           s)  Buchwesen  S.  353, 2.  Daß  da  „Makro- 

3)  Siehe  M.  Krämer  S.  71  u.  19.  1  koU"  gekauft  wurde,  ist  für  uns  hier  ein 
*)  Wie  gröblich   sich  Haenny   in  der    1  gleichgültiger  Umstand ;  wurde  in  diesem 

Interpretation  dieser  Stelle  geirrt,  habe  I  Fall  breites,  so  wurde  in  anderen  Fällen 
ich  in  Kritik  und  Hermeneutik  S.  103  dar-  |  schmäleres  Papier  A'on  den  Männern  ge- 
gelegt und  das  Genauere  zum  Verständnis   j   meinsam  angeschafft. 


I 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  321 

Seneca  sagt,  daß  der  librarius  Dorus,  der  mit  Ciceros  Schriften  Handel  Doms 
trieb,  dm-ch  Kauf  in  ihren  Besitz  kam.  AVir  lesen  Sen.  de  benef .YII  6, 1 : 
libros  dicimus  esse  Ciceronis;  eosdem  Dorus  librarius  suos  vocatj  et  utrumque 
verum  est:  alter  illos  tamquam  auctor  sibi,  alter  tamquam  emptor  adserit. 
Dorus  war  also  emptor  librorum  Ciceronis  \  wie  Seneca  hinzufügt,  hatte 
Dorus  auch  den  Verkauf  der  Bücher  des  Livius  inne,  und  der  Zusammen- 
hang der  Stelle  legt  es  nahe,  anzunehmen,  daß  Dorus  auch  emptor  librorum 
Livii  war.  Es  ist  nicht  ersichtlich,  daß  Dorus  erst  in  Senecas  Zeit  lebte. 
Wie  dem  aber  auch  sei  und  wer  auch  in  diesem  Fall  der  Verkäufer  der 
Livius-  oder  Ciceroschriften  gewesen  sein  mag,  auf  alle  Fälle  ergibt  sich, 
daß  der  librarius  das  Werk,  das  er  verhandelt,  vorher  bezahlt. 

Und  dazu  kommt  nun  noch,  was  \^dr  von  dem  Cyniker  Menippos  bei^^'^nipp'i^d 
Diogenes  Laertius  6,  8,  4  hören:  evloi  de  rd  ßtßXC  avxov  ovx  amov  elvai,  ^"^°  °^ 
aXXä  Aiovvoiov  xal  Zcojivqov  tcov  KoXocpcovicov,  o?  rov  naii^eiv  evexa  ovy- 
ygoLcpovieg  eölöooav  amco  <hg  ev  Svvajuevq)  ötad^eod^at.  Ob  das  hier  Er- 
zählte Wahrheit  oder  Fiktion,  ist  für  uns  einerlei;  denn  jedenfalls  werden 
uns  hier  reale  Verhältnisse  vorgeführt.  Zwei  Schriftsteller,  Dionysios  und 
Zopyros,  überlassen  hier  somit  ihre  satirischen  Schriften  dem  Menipp,  und 
ZAvar  lediglich  aus  pekuniärem  Interesse,  Aveil  sie  nämlich  glauben,  daß 
er  sie  besser  als  sie  selbst  verkaufen  kann.  Der  Autor  erwartete  also 
direkten  Geldgewinn  vom  Absatz  seiner  Schriften.  Menippos  gab  sich  als 
Verfasser  der  Schriften  aus  und  hat  durch  ihren  Verkauf  wdrkhch  Geld 
erworben:  das  Avird  hier  vorausgesetzt.  Es  ist  klar,  daß  der  Autor  auch 
sonst  den  Verkauf  selbst  vollzogen  haben  muß.  Hermodoros  dagegen 
unterdrückte  Piatos  Namen  nicht;  Cicero  stellt  sich  das  Verhältnis  des 
Plato  zu  Hermodoros  ganz  ebenso  vor  wie  sein  eigenes  Verhältnis  zum 
Atticus  (ad  Att.  13,  21,  4).i) 

Das  Beigebrachte  genügt  2)  und  ist  mehr  als  wir  brauchen  und  als  Ergebnis 
wir  erwartet  haben.  Denn  man  kann  es  im  Grunde  doch  von  keinem 
Schriftsteller,  weder  heute  noch  im  Altertum,  verlangen,  daß  er  uns  Er- 
öffnungen über  seine  Honorareinnahmen  macht.  Man  lese  die  klassische 
deutsche  Litteratur  von  Klopstock  bis  zu  Goethes  Ende  darauf  durch, 
ob  einer  unserer  Litteraten  wirklich  damals  so  geschmacklos  und  indiskret 
:  geweseil  ist,  in  seinen  Publikationen  dem  Publikum  selbst  anzuvertrauen, 
ob  und  was  ihm  sein  Verleger  bezahlt.  Derartiges  ist  erst  ganz  neuer- 
dings in  Blättern  wie  der  „Feder"  oder  dem  „Korrespondenzblatt  des 
Akademischen  Schutz  Vereins"  zur  Sitte  geworden.  Sonst  kann  man  über 
solche  Dinge  nur  in  intimen  Privatkorrespondenzen  Mitteilungen  finden; 
und  so  war  es  auch  im  Altertum.  Es  ist  durchaus  natüiiich,  daß  z.  B. 
ein  Mann  wie  Quintilian  VI  praef.  16  über  diese  Dinge  sich  ausschweigt 
und  daß  wir  über  sie  innerhalb  des  Altertums  grade  nur  in  Privatbriefen, 
in  den  Briefen  Ciceros  an  seinen  Verleger,  orientiert  werden.  Um  so  ent- 
scheidender ist,  was  uns  Cicero  dort  sagt. 

Wir  schließen  mit  dem  Ergebnis  ab,  daß  gewisse  Artikel  dem  Autor 

^)  Vgl.  Buchwesen  S.  435,  3.  '   nummorum  statt  numerum  daselbst  durch- 

')  Von  dem  Vers  55  E.  des  Laberius   i    aus  unsicher  ist. 
habe  ich  hier  abgesehen,  weil  die  Lesung   1 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  21 


322  I^^s  antike  Buchwesen. 

tatsächlich  eine  gewisse  Einnahme  brachten.  Groß  aber  dürfte  der  Gewinn 
den  man  aus  dem  Buchverkanf  zog,  in  keinem  Fall  gewesen  sein,  und 
ganz  gewiß  hat  kein  antiker  Schriftsteller,  die  Theaterdichter  etwa  aus 
genommen,  vom  bloßen  Absatz  seiner  Schriften  leben  können.  Denn  der 
Verleger  hatte  damals  mit  den  ungünstigsten  Umständen,  er  hatte  mit  der 
Privatabschrift  zu  rechnen,  über  deren  Bedeutung  gleich  hernach  zu 
reden  sein  wird  und  gegen  die  der  Nachdruck ,  über  den  sich  unser 
18.  Jahrhundert  beschwerte,  ein  geringes  Übel  war. 

10.  Bücherpreise. 

Hohe  J)qj.  Ladenpreis  der  Bücher  war   im  Altertum    sehr   hoch,   und  erst, 

preise  wer  sich  das  klar  macht,  begreift,  Avelcher  Luxus  und  pekuniäre  Kraft- 
leistung für  das  Altertum  eigentlich  seine  Litteratur  gewesen  ist.  Nicht 
viele  Ajigaben  sind  erhalten,  aber  sie  stimmen  unter  sich  gut  überein. 
Ein  einzelnes  Prosabuch  des  Chrjsipp,  etAva  im  Umfang  eines  einzelnen 
Liviusbuchs,  kostete  im  Handel  5  Denare,  das  sind  4  Mark  10  Pfennige. 
Das  w^ar  die  normale  Preislage.  Da  das  Geld  aber  im  Altertum  sehr 
^del  teurer  war  als  heute,  so  würde  dieser  Buchpreis  im  heutigen  Handel 
und  AVandel  vielmehr  etwa  14  Mark  bedeuten,  i)  Es  war  also,  wie  man 
sieht,  ein  ganz  gewaltiger  Aufwand,  sich  eine  Bibliothek  zu  halten.  Wer 
sich  alle  142  Bücher  des  Livius  kaufen  w^ollte,  hatte  710  Denare  zu  zalilen; 
das  wüi'de  —  nach  dem  Gesagten  —  im  heutigen  Geldwert  allein  schon 
gegen  2000  Mark  ergeben.  Daher  auch  in  der  Apostelgescliichte  19,  19 
die  erstaunlich  hochgegriffene  Wertangabe  über  die  in  Ephesus  ver- 
brannten Bücher:  xai  ovveifrjcpioav  rag  xijudg  avrcöv  xai  evQOv  aQyvQiov 
jbiVQidöag  nevre. 

Diese  hohen  Preise  müssen  sich  aus  der  Höhe  des  Schreiberlohns, 
scripturtty  und  der  Teuerkeit  des  Papyrus  selbst,  tomus,  erklären,  scriptura 
und  tomus  werden  so  von  Martial  1,  66,  3  zusammengestellt.  Über  den 
hohen  Wert  der  Charta  selbst  ist  oben  S.  278  f.  gehandelt.  Über  die  Höhe 
des  Schreiberlohns  dagegen  wissen  wir  nichts.  Anekdotenhaft  ist,  was 
Athenaeus  p.  614  E  erzählt,  daß  König  PhiHpp  von  Macedonien,  der  die 
Witzlitteratur  liebte,  ein  Talent  an  die  attischen  Spaßmacher  schickte,  IV 
eyygacpöjuevoi  td  yeXola  Jtejujiwoiv  avrcp. 

Phiion  jT£<ji  Wenn  bei  den  Griechen  solche  Werke,  wie  des  Philon  von  Byblos 
KTijosois  2wölf  Bücher  Tzegl  xxrjoecog  xai  exkoyfjg  ßißXicov,  von  denen  uns  Suidas 
meldet,  2)  aufkamen,  so  liegt  der  Gedanke  nicht  fem,  daß  dieser  offenbar 
sehr  gründhche  Wegweiser  auf  dem  antiken  Büchermarkt  auch  Bücher- 
preise angab;  das  besagt  jzeqI  xxrjoecog.  Ereilich  müssen  die  Preis- 
schwankungen für  No\dtäten,  da  sie  nur  auf  dem  verschiedenen  Umfang 
der  Bücher  beruliten,  unerhebUch  gewesen  sein.  Bei  Philon  aber  handelte 

Antiquaria  CS  sicli  gewiß  vielfach  aucli  um  ältere  Sachen;   auch    das   xräodai  ßißliay 


id   I 
is-   I 


')  Genaueres  hierüber  Buchrolle  S.  28  |  ^)  Aehnlich  aucliTelephosPergamenus 

bis  30.   Wenn  im  übrigen  von  Liebhabern  1  (Suidas) ;  ja,  schon  Artemon  von  Kassan- 

für    Originalmanuskripte    von    Gelehrten  i  dreia,    der  :jeQi  owaycoyijg  ßißUoyv  und  :jisqI 

enorme  Preise  gezahlt  wurden  (Buchwesen  j  ßißXicov  xQrjoscog  schrieb  (Athen,  p.  515  E  u. 

S.  355),   so  hat  das  mit  dem  eigentlichen  j  694  A). 
Buchhandel  nichts  zu  tun. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  323 

das  Lucian  Adv.  indoctmn  4  scliildert,  betrifft  grade  das  Zusammenkaufen 
solch  alter  Schmöker,  und  es  versteht  sich,  wde  unsere  heutigen  Antiquariats- 
kataloge zeigen,  von  selbst,  daß  Exemplare  vergriffener  und  seltener 
Schriften  im  Wert  sehr  schwankten  und  oft  gewaltig  hoch  getrieben 
sein  müssen  :i)  rivä  jukv  jtaXaid  xal  jzoUov  ä^ia,  nvd  de  (pavXa  xal  äXXcDg 
ooTigd  (Lucian  ibid.  cap.  1). 

Bedeutsame  Worte  liest  man  bei  Dio  von  Prusa,  Orat.  21,  12,  und  auf 
sie  sei  noch  besonders  hingewiesen:  rd  dgxaia  rcbv  ßißXUov  ojiovdaCdjueva 
cbg  äjueivov  yeygajujueva  xal  ev  xgehrooi  ßißXioig.  Denn  diese  Worte  ergeben, 
daß  schon  zu  Dios  Zeit,  um  das  Jahr  100  n.  Chr.,  sowohl  Schrift  wie 
Buchpapier,  scriptura  und  tomus,  an  Quahtät  gegen  früher  durchgängig 
zurückgegangen  sein  müssen;  auch  das  Buchpapier;  denn  darauf  geht 
iv  xgeiTTooi  ßißXioig.  Die  älteren  Chartarollen  Htterarischen  Inhalts  wurden, 
wie  wir  hier  lesen,  gesucht,  weil  besser  an  Papier  und  besser  geschrieben. 
Dio  fügt  dann  noch  liinzu,  daß  man  damals  die  Naturfarbe  der  älteren 
Charta,  die  so  begehrenswert  schien,  künstlich  zu  imitieren  suchte. 
Schubart  urteilt  (Das  Buch  S.  5),  bis  tief  in  die  Kaiserzeit  hinein  sei  der 
Dui'chschnitt  der  erhaltenen  Papyri  als  gute  Ware  zu  bezeichnen.  Dio 
war  doch  anderer  Ansicht. 

Daß  sich  alte  Rollenexemplare  konservierten,  w^ird  bisweilen  aus-  ^t^^r  der 
drücklich  erwähnt ;  so  gab  es  zu  Quintilians  Zeit  noch  veteres  libri  des  ^^^^  *^^ 
Cato  und  des  Lucilius  mit  archaischer  Orthographie ;  2)  diese  Rollen 
mochten  also  zweihundert  Jahre  alt  sein.  Ebenso  alt  waren  aber  auch 
die  Originalexemplare  der  Gracchen,  die  Plinius  nat.  bist.  13,  83  s)  erwähnt. 
Besonders  die  Magier  brauchten  für  ihre  Weissagungen  gern  alte  Schar- 
teken; s.  Lucian  Philops.  12.*)  Merkwürdig  zu  sehen  ist  es,  wie  Mark 
Aurel  und  Fronto  sich  einem  alten  Enniusexemplar  gegenüber  verhalten. 
Der  junge  Mark  Aurel  hat  seinem  Lehrer  Fronto  ein  offenbar  uraltes 
Exemplar  des  Sota  des  Ennius  geschickt;  Fronto  läßt  das  Werk  auf 
sauberer  Charta,  in  einer  eleganteren  Rolle  und  mit  schöner  Schrift  neu 
herstellen ö)  und  schickt  es  so  dem  kaiserhchen  Prinzen  zurück;  das  alte 
Original  beliielt  Fronto,  der  Liebhaber  der  antiquaria,  stillschweigend 
für  sich.  Mark  Aurel  aber  läßt  sich  den  Tausch  gerne  gefallen  (Fronto 
p.  61  Nab.). 

Es  leidet  keinen  Zweifel,  daß  damals  derartige  Antiquaria  exorbitant 
teuer  und  fast  unerschwinglich  gewesen  sein  müssen. 

Der  Ladenpreis  bestimmte  sich,  wie  wir  sahen,  nach  tomus  und  scrip-    Normai- 
tura.  Die  scriptura  der  Buchschreiber  aber  wurde  nach  der  Zahl  der  Zeilen, 
Birj^  orixoi,  versus,  bezahlt. ß)     Dabei  ivurde  nach   einer  Normalzeile  von 
circa  35  Buchstaben  oder  15 — 16  Silben  —  das  ist  die  Hexameterlänge  — 


teuer  und 
DerL£ 

(iura.  Die  s 
ijzrj,   oTixoi, 
circa  35  Bi 
1)  Buchr 
preise  für  äl 
2)  Quinti 
3)  Oben 
*)   SuDHi 
Schaft  IX  2  ; 
^)  Eben 


^)  Buchrolle   S.  31  f.     Enorme    Buch-   '   weisen,    dcoß   die  Vorlage   der  Kopie   ein 
preise  für  ältere  Werke  gibt  Gellius  3, 17.   \   voliimen  ingratum  von  charta  impura  und 

2)  Quintil.  9,  4,  39.  schlecht  lesbarer   Schrift  war,    deutliche 

3)  Oben  S.  266  Z.  49.  j   Merkmale    des    Alters.     Vahlen,    Enn. 

S.  LXXXII,  hat  bei  diesem  Umstand  nicht 
genügend  verweilt. 

6)  Siehe   Diocletians   Edikt,   CIL.  III 
p.  831;  Buchwesen  S.  208. 

21* 


*)  Sudhaus,  Archiv  f.  Eeligionswissen- 
schaft  IX  2  S.  198. 

^)  Eben  die  Worte  in  charta  puriore 
et  volumine  gratiore  et  littera  festiviore  be- 


324  ^^^  antike  Buchwesen. 


gerechnet.  Das  E/echnen  nach  Silben  wird  öfters  erwähnt;  es  beruhte  auf 
lautem  Lesen  und  setzt  voraus,  daß  der  Schreiber,  wie  wir  S.  309  dar- 
gelegt haben,  nach  Diktat  schrieb,  i)  Es  wurde  nach  Silben  geschrieben, 
weil  nach  Silben  diktiert  wurde ;  syllahatim  sagt  Cicero  ad  Att.  13,  25,  3. 
Interessant  ist,  wie  sich  der  Pastor  Hermae  dieser  Silbenzälilung  gegen- 
über in  Verlegenheit  befindet.  Im  Pastor  Hermae  Vision.  II  1, 4  geht  die 
Frau  Kirche  einher  und  Hest  ein  Buch;  der  Autor  entlehnt  es  von  ihr 
und  schreibt  es  ab,  und  zwar  /lezeyQaipdjurjv  jidvxa  JiQog  ygdjujua'  ov^  rjvgioy.ov 
ydg  rag  ovXXaßdg'  releoavrog  ovv  /llov  rd  ygdjUjuaTa  tov  ßißhdiov  xrX.,  woraus 
wir  entnehmen,  daß  es,  wie  so  oft,  in  diesem  Buch  an  Worttrennung 
fehlte,  und  da  der  Autor  niemanden  hatte,  der  ihm  den  Text  diktierte, 
konnte  er  ihn  nicht  nach  Silben  schreiben,  sondern  mußte  die  einzelnen 
Buchstaben  abmalen.  Der  Diktierende  sprach  also  langsam  und  sonderte 
die  Silben.  Diese  Stelle  schien  schon  dem  Clemens  Alexandrinus  auf- 
fäUig,  der  über  sie  berichtet,  Strom.  6,  131. 
sticho-  Es   war  griechische  Sitte,   die  Zahl   der   Stichen   in   der  Subscriptio 

jeder  Buchrolle  anzugeben,  wovon  zahlreiche  Reste,  z.  B.  in  den  De- 
mostheneshandschrif ten,  erhalten  sind ;  ^)  auch  am  Rand  des  Textes  selbst 
fand  sich  oft  solche  Zählung.  Es  fehlt  nicht  an  Anzeichen  dafür,  daß 
dasselbe  Verfahren  auch  bei  den  Römern  übhch  war ;  für  Firmicus  Maternus 
haben  wir  die  Angabe:  secundus  über  habet  versus  MDCCCXXV.^)  Dies 
ist  die  Stichometrie  der  Alten.*)  Sie  diente  wohl  nicht  nur  zur  Be- 
rechnung des  Schreiberlolins,  sondern  auch  für  den  Buchkäufer  dazu,  die 
Vollständigkeit  des  vorHegenden  Exemplars  zu  kontroUieren.  Die  uns 
erhaltenen  Summen  werden  bei  den  griecliischen  Autoren  in  den  hand- 
schriftlichen Subskriptionen  in  vielen  Fällen,  wie  beim  Demosthenes,  noch 
mit  den  Ziffern  der  alten,  attischen  Dekadenschrift  und  nicht  mit  den 
gewöhnlichen  Zalilenbuchstaben  gegeben,  wodurch  wir  für  diese  Zählungs- 
weise in  erhebHch  frühe  Zeit  hinauf  verwiesen  werden. 
Koiometrie  ^qy  sci  eingeschaltet,   daß   man  Werke,    die   in  rhythmischer  Prosa 

abgefaßt  waren,  gelegenthch  auch  zur  VerdeutHchung  der  Rhythmik  wie 
ein  lyrisches  Gedicht  per  cola  et  commata  niederschrieb,  so  daß  die  ein- 
zelnen Kola  ungleicher  Länge  immer  je  eine  Zeile  einnahmen.  Die  Zeilen- 
länge schwankte  hier.  Dies  geschah  in  den  Rhetorenschulen  zur  Er- 
leichterung der  Deklamation  und  wurde  dann  auch  auf  kirchliche  Texte, 


:i 


^)  Ich  zitiere  die  Subscriptio  im  cod.    |  ^)  Siehe  Archiv  f.  Lexik.  lY  S.  611. 

Cheltenh.  12266    (Mommsen,    Hermes    21   i  *)  Ich  erinnere  speziell  an  die  Sticho- 

S.  142f.iind25  S.636f.):  gwonia^w  m^?ez(7wm   |   metrie  des  Nikephoros  Oonstantinopolita- 


versuum  in  urhe  Roma  non  a(dy  liquidum,  sed 
et  alibi  avariciae  causa  non  hdbent  integrum, 
per  singulos  libros  computatis  syllahis  posui 
.  .  .  numero  XVI  versum  Vergilianum,  omni- 
hus  libris  numerum  adscrihsi.   Dies  betrifft 


nus  (ca.  800  n.  Chr.)  im  Anliang  seiner 
Ohronographia  (ed.  de  Boor,  Leipz.  1880). 
G-rundlegendes    für    diesen    Gegenstand 

gaben  F.  Ritschl,  Opusc.  I  S.  191  ff.  und 
H.  Graux,    Re^-ue    de   phil.  II   S.  97  ff. 


die  Stichometrie  im  Alten  Testament.  Das   |   Danach  Gardthausen,  Paläogr.,  1.  Aufl. 

S.  127  ff.  und  meine  Ausführungen,  Buch- 
wesen S.  162  ff.  Uebrigens  oben  Kritik 
und  Hermeneutik  S.  39 ;  Einzelbeiträge  z.  B. 
von  DiELS,  Hermes  17  S.  377  f. ;  Fuhr,  Rhein. 
Mus.  37  S.  468  ff. 


althebräische  Buchwesen  selbst  zählte  nicht 
die  Zeilen  der  Bücher,  sondern  die  Buch- 
staben, die  sie  enthielten:  Blau,  Rivista 
Israelit.  S.  54. 

»)  Vgl.  Anm.  4. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


325 


Privat- 
abschrift 


oft  auf 
geringem 
Material 


die    bei    der  Liturgie   vorzulesen   waren,    übertragen,  i)     Doch    hat    diese 
„Kolometrie"  mit  der  eigentlichen  Stichometrie  nichts  zu  tun. 

11.  Privatabschrift. 

Blicken  wir  nun  aber  auf  die  erwähnten  hohen  Bücherpreise  zurück, 
so  wird  es  begreiflich,  daß  der  Minderbegüterte  den  Buchkauf  auf  alle 
Weise  umging.  Ein  Schutz  des  litterarischen  Eigentums  fehlte  im  antiken 
Kulturleben,  das  zum  ersten  Mal  Buchhandel  und  Verlagswesen  ausbildete, 
noch  gänzhch.  Es  blühte  also  die  Privatabschrift.  Sie  machte  dem 
Buchhandel  eine  ungeheure  Konkurrenz.  Man  kann  schwanken,  ob  die 
Privatabschrift  jene  hohen  Bücherpreise  selbst  hervorrief  oder  die  letzteren 
zur  Selbsthilfe  des  Publikums  ihrerseits  den  Anlaß  gaben.  Die  Einwirkung 
war  gewiß  wechselseitig. 

Das  Schlimmste  war,  daß  dies  Verfahren  die  Zuverlässigkeit  der 
Tradition  der  Texte  selber  schwer  gefährdete.  Jeder,  der  da  wollte, 
borgte  sich  von  einem  Bekannten  ein  Exemplar  des  ihn  interessierenden 
Werkes  und  nahm  eigenhändig  oder  durch  seinen  Amanuensis  Abschrift.  2) 
Soll  doch  sogar  Demosthenes  sich  seine  Bibliothek  selbst  geschrieben 
haben.  3)  Auch  Cicero  kopierte  sich  Texte  gelegentlich  eigenhändig.*)  Der 
gemeine  Mann  aber  griff  in  solchen  Fällen  zu  dem  lumpigsten,  gering- 
wertigsten Beschreibstoff,  er  schrieb  auf  der  Rückseite  von  irgendwelchen 
Aktenstücken  (vgl.  oben  S.  278;  302),  sogar  auf  Ostraka.^)  Dabei  wurde 
sogar  der  Titel  der  Schrift,  um  die  es  sich  handelte,  bisweilen  weggelassen,  ß) 
Ist  es  nicht  lehrreich,  daß  Clemens  Alexandrinus  6,  131,  wo  es  sich  um 
Privatabschrift  des  Propheten  Jesaias  handelt,  ausdrücklich  befiehlt,  für 
einen  so  heiHgen  Text  solle  man  ein  xaivov  ßißXlov  nehmen?  Das  be- 
stätigt den  tatsächlichen  Befund:  in  Wirklichkeit  nahm  man  zu  solchem 
Zwecke  allermeist  alte  Scharteken.  Mit  den  meisten  der  massenhaften 
Htterarischen  Papyrusfunde,  die  man  neuerdings  gemacht  hat,  verhält  es 
sich  in  der  Tat  so.  Daher  ihre  Geringwertigkeit  und  abnorme  Beschaffen- 
heit.') Aber  auch  aus  Rom  und  sonst  haben  wir  die  Zeugnisse  für  dies 
Verfahren  und  aus  allen  Jahrhunderten. ») 

Anders  lag  der  FaU,  wenn  vornehme  Leute  wider  Willen  des  Autors 
von  Werken,  die  noch  gar  nicht  ediert  waren,  aus  Neugier  sich  Kopie 
nahmen  oder  zu  verschaffen  wußten,  worüber  sich  Cicero  zu  beschweren 
hatte.  9) 

Vielleicht  sind  manche  Werke,  die  wir  besitzen,  überhaupt  nie  ediert,  ]^^g!^®°_ 
sondern  nur  auf  dem  angegebenen  Wege  durch  Privatabschrift  propagiert    handeis 
worden.     Als  Beispiel   kann   dienen,   was   ich  S.  315   über  des  Firmicus 
Matemus  Mathesis  und  Verwandtes  mitgeteilt.    Sidonius  ApolHnaris  schickt 


^)  Siehe  Hieronym.praef.  Jes.I;  Euseb. 
bist.  eccl.VI  16 ;  Lachares  bei  Kastor,  Walz, 
Rhet.  in  S.721 ;  Bucbwesen  S.178  ff .  u.  219f . ; 
MoMMSEN,  Schriften  11  S.  347. 

2)  Siehe  BuchroUe  S.  197  f. ;  Buchwesen 
S.  282  ff.  u.  346. 

')  Lucian  Adv.  indoct.  4. 

*)  Buchwesen  S.  282  f. 


')  U.  WiLCKEN,  Archiv  für  Papyrus- 
forschung II  S.  174. 

6)  DziATZKO,  Unters.  S.  158. 

A  Vgl.  auch  oben  S.  23  Anm.  5. 

8)  Siehe  Hieronym.  epist.  49, 2 ;  M.  Krä- 
mer S.  16  f.;  59. 

»)  Cic.  ad  Att.  13,  21,  4. 


326 


Das  antike  Buchwesen. 


ein  einzelnes  Exemplar  eines  seiner  Werke   auf  Reisen   und   läßt  es   bei 

einem  Dutzend  seiner  Freunde  in  Frankreich  herumgehen;  jeder  darf  sich 

Abschrift  nehmen   und  hat   es  dann   an  den  nächsten    weiterzuschicken; 

schließlich  geht  das  Exemplar  an  denjenigen  Freund  des  Autors  zurück, 

dem  das  Buch  dediziert  ist;  denn  dieser  ist  der  Eigentümer. i) 

Inwieweit  Die  Volumina  Herculanensia  weichen  in  manchen  Beziehungen  von 

^'haitenen^  den  ägyptischen  Bücherfunden  ab  und  scheinen  zum  Teil  wirklich  rechten 

Papyri     Buchhändleroxemplaren    zu   entsprechen;    denn    sie    sind   keine   Opistho- 

händier-    grapha  (vgl.  oben  S.  301  f.).  2)     Das  gilt  besonders  von  dem  monumental 

exempiare  ?  geschriebenen  lateinischen  Epos  über  den  aktischen  Krieg,  von  dem  sich 

die  Trümmer  in  Herculaneum  gefunden  haben. 

Fast  alle  aus  Agy}:)ten  stammenden  litterarischen  Papyri  verraten 
sich  dagegen,  wie  gesagt,  durch  deuthche  Merkmale  als  Privatabschriften. 
Als  Ausnahmen  seien  etwa  die  Homerpapyri  Ilias  ^  und  Odyssee  y  bei 
Häberlin,  Griech.  Papyri  Nr.  22  u.  27,  erwähnt.  Dziatzko  unternahm  den 
Versuch,  an  bestimmten  Merkmalen  rechte  Buchhändlerexemplare  oder 
Normalexemplare  von  den  Privatabschriften  zu  imterscheiden.^)  Als  zu- 
treffend betrachte  ich,  daß  erstere  besseres  Papier  hatten,  der  Regel  nach 
keine  Opisthographa  waren,  die  Buchschrift  geübter  und  unindividueller 
war,  grobe  Korrekturen  von  erster  Hand  gefehlt  haben.  Vornehmlich 
sind  als  Privatskripturen  alle  diejenigen  zu  betrachten,  die  mit  Schollen 
von  erster  Hand  versehen  sind.*)  Denn  SchoKen  sind  Auszüge  aus  Kom- 
mentaren (oben  S.  83;  171),  und  es  ist  klar,  daß  sie  in  den  Buchschreibereien 
der  Verleger  nicht  so  wie  der  Text  selbst  und  mit  ihm  zugleich  nach 
Diktat  vervieKältigt  werden  konnten. 

Auch  der  neue  Callimachuspapyrus,  Oxyrhynch.  Pap.VII  n.  1011  verrät 
sich  deutlich  als  Privatabschrift;  gleichwohl  scheint  nötig,  kurz  bei  ihm  zu 
verweilen,  da  der  eigentümliche  Sachverhalt,  den  er  uns  zeigt,  bei  flüch- 
tiger Betrachtung  doch  leicht  mißdeutet  werden  könnte.  In  diesem  E/oUen- 
rest  stehen  der  Schlußabschnitt  der  Miia  des  Callimachus  mit  subscriptio 
und  die  ^'lafjißoi  desselben  mit  inscriptio  hintereinander.  Daraus  ergibt 
sich  natürlich  nicht,  daß  der  Dichter  selbst  seine  beiden  Werke  in  eine 
SarmnelroUe,  ßißlog  ovjujuiyijg^  gestellt  hatte;  sondern  dieser  Papyrus  ist 
ein  Auszug,  den  sich  ein  Liebhaber  zu  seinem  Zweck  herstellte.  Im 
Schlußvers  der  Aitia,  dortselbst  v.  89,  sagt  CaUimachus  von  sich,  daß  er 
als  jzeCog  dichte;  auch  dies  kann  zu  der  Mißdeutung  verführen,  als  weise 
er  mit  dem  jieCog  selbst  auf  die  folgenden  Jamben  hin,  die  einer  niederen 
Dichtgattung  angehören,  als  habe  also  Callimachus  selbst  die  Jamben  un- 
mittelbar im  Buch  an  die  Aitia  angelaiüpft.  Jenes  Tze^ög  ist  jedoch,  wie 
auf  der  Hand  hegt,  vielmehr  im  Gegensatz  zu  dem,  was  voraufgeht,  ge- 
sagt; denn  im  v.  86  dieses  Aitiarestes  heißt  es  vom  Epiker,  daß  er,  als 
ein  Dichter  großen  Stils,   hoch  zu  Roß   reite    oder   daß   seine  Musen   im 


Calli- 
machus- 
papyrus 


1)  Sid.  ApoUinar.  carm.  24. 

2)  Anders  urteilt  Schubart  S.  152.  In 
diesen  EoUen  ist  nicht  nur  die  Schrift  ver- 
schieden, sondern  auch  die  Sorte  der  Charta, 
das  Schreibmaterial,  bald  dünner,  bald 
dicker,  bald  feiner,  bald  gröber;  s.W.  Crö- 


NERT,  Neue  Jahrbb.  V  (1900)  S.  588. 

')  Untersuchungen  S.  153  ff. 

*)  z.B.derAlkman;  auch  derEpicharm 
in  Mitteilungen  Erzherzog  Rainer  V  S.lff. 
(Dziatzko  S.  160). 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  327 

rossebespannten  Wagen  daherf aliren :  reo  Movoai  ...  ovv  juvßovg  IßdXovto 
nag  r/vtov  o^eog  I'tzjiov.  Dazu  gibt  der  Schlußvers  89  den  Gegensatz:  ich 
bin  nur  ein  Elegiker,  der  von  Liebesdingen  handelt:  avrdg  eyo)  Movoeoyv 
jze^og  eneifii  vo^ov,  wofür  uns  Ovid  und  Properz  die  Aufklärung  geben; 
Ovid  sagt  Am.  3,  15,  18,  nicht  die  Erotik,  sondern  das  Epos  ist  ein  Eitt 
(oder  Wagenfahrt):  pulsanda  est  magnis  area  maior  equis,  Properz  sagt 
II  10,  2:  ich  will  jetzt  die  Erotik  verlassen  und  ein  Preisgedicht  auf 
Augustus  dichten:  et  campum  Haemonio  iam  dare  tempus  equo.  Ist  zu 
solcher  epischen  Leistung  die  erotische  Elegie  der  Gegensatz,  so  ist  sie 
Ifür  Properz  sermo  pedester;  ebenso  ist  der  Dichter  der  Aitia  nei^og.  Nun 
[Stehen  aber  auf  dem  Papyrus  subscriptio  und  inscriptio  folgendermaßen 
hintereinander : 

KaXkc/Lidxov  Altioiv  ö. 
Kailifxdxov  "laf-cßoi. 

Ginge  diese  Buchrolle  so,  ^vie  sie  uns  das  gibt,  auf  die  Ausgabe  des 
CaUimachus  selbst  zurück,  so  würde  der  Name  des  Dichters  nicht  beide- 
mal stehen,  sondern  es  stünde  an  zweiter  SteUe  rov  avrov.  Der  Schluß 
der  Aitia  mit  Subskription  ist  also  aus  einer  anderen  Rolle  abgeschrieben 
als  der  Anfang  der  'Jajußoi  mit  Inskiiption.  Daher  steht  beidemal  der 
Dichtername. 

Die  Privatabschrift  hatte  also  die  weiteste  Ausdehnung,  ein  rastloser   Geringer 
Betrieb   zu   allen   Zeiten.     Gleichwohl   Hegt   die   Sache  für   uns   günstig,  ^'pritat^^'^ 
Denn  für  die  meisten  der  uns  erhaltenen  Autoren  des  klassischen  Alter- abschriften 
tums  dürfen,  ja,  müssen  wir  annehmen,    daß  ihr  Text,    so  wie  er  uns  in 
den   Handschriften   des   Mittelalters   vorHegt,   in  letzter  Linie   nicht   auf 
solche  Privatabschriften,    sondern  auf  ein  rechtes  Editionsexemplar,   d.  h. 
auf  einen  Originaltext  zurückgeht,  den  der  Autor  selbst  —  eventuell  mit 
der  Zustimmung  und  Beihilfe  des  Freundes,  dem  er  das  Werk  gewidmet  — 
zur  Edition  hergerichtet  und  zur  Grundlage  der  Vervielfältigung  bestimmt 
hatte.    Denn  nur  auf  diesem  Wege  hergestellte  Exemplare  werden  in  den 
öffentlichen  Bibliotheken  niedergelegt  worden  sein.    Wir  handeln  im  Ver- 
folg nur  von  ihnen. 

12.  Ausstattung  der  Rollen. 

Über  die  Ausstattung  der  Buchrolle,  die  htterarischen  Zwecken  diente, 
findet  man  in  den  Hand-  und  Lehrbüchern  —  und  so  auch  in  dem  vor- 
liegenden Abriß  —  immer  wieder  dasselbe  Belegmaterial  verwendet.  Doch 
hat  sich  durch  die  Betrachtung  der  Monumente,  E-eliefs,  Terrakotten,  Mosaiks, 
der  Malerei  und  der  großen  Plastik  des  Altertums  manches  Detail  hinzu- 
gefunden und  manche  imgenaue  Vorstellung  präzisiert,  und  wenn  ich 
nunmehr  diese  Dinge,  deren  Tragweite  gering,  in  mögHchster  Kürze  zu- 
sammenfasse, so  lege  ich  dabei  zum  Teil  die  ausführHcheren  Auseinander- 
setzungen zugrunde,  die  ich  in  der  „Buchrolle  in  der  Kunst"  S.  228 — 268 
gegeben,  indem  ich  nur  da,  wo  sich  Zweifel  erheben,  den  Boden  des 
Referats  verlasse. 

Titel  und  Autorname  mußten,  wenn  nicht  im  Buch  selbst  (s.oben  /^J^^jf^^^^ 
S.  299  ff.),  so  doch  jedenfalls  an  der  Außenseite  jedes  geschlossenen  Kon- 


328 


Das  antike  Buchwesen. 


Titel  auf  be- 
sonderem 
Zettel 


Conservie- 
rung  des 
Charta- 
buchs 


voluts  möglichst  sichtbar  angebracht  sein.  Dies  geschah  nicht  immer  in 
derselben  Weise,  und  das  Verfahren  war  anfangs  primitiv.  Denn  in  der 
voralexandrinischen  Zeit  begnügte  man  sich  damit,  den  Titel  einfach 
direkt  auf  der  Außenseite  des  zusammengerollten  Rollenzylinders  selbst 
entlang  zu  schreiben,  wie  das  schöne  Bild  auf  der  Euphroniosvase,  „Buch- 
rolle" Abb.  84,  es  uns  lehrt.  Daher  heißt  die  Titelaufschrift  des  Buchs 
beim  Komiker  Alexis  mit  Recht  „Aufschrift",  emygajujua,^)  und  dies  em- 
ygajujua  entsprach  der  Aufschrift  gesclilossener  Briefe,  wie  sie  unter  den 
erhaltenen  Papyri  häufig  angetroffen  sind.  2)  Aber  auch  noch  der  Sosylos- 
papyrus  trägt  auf  seinem  Rücken  die  Aufschrift :  3) 

SoiOvkoV    T.(bv 
JlBQl   'AwißoV 

Jigä^scov  ö 

Ebenso  ist  auch  noch  die  emyQacprj  des  ßißXiov,  das  an  Orakelstätten  ge- 
schickt wird,  bei  Lucian  Alex.  54  gemeint.  Ob  auch  das  in  libris  nomen 
suum  inscribere,  das  Cicero  pro  Archia  26  den  alten  Philosophen  zu- 
schreibt,*) ebenso  zu  verstehen  ist,  bleibt  unsicher. 

Später,  d.  h.  wohl  seit  der  Zeit  der  großen  alexandrinischen  Biblio- 
theksverwalter, begnügte  man  sich  jedoch  mit  solchem  emyQaju/bia  nicht 
mehr,  sondern  es  wurde  am  Kopf  des  Konvoluts  vielmehr  ein  perga- 
mentener, bunt  gefärbter  Zettel,  der  die  betreffenden  Worte  trug  und 
den  wir  so  oft  auf  Abbildungen  sehen,  befestigt.  0)  Dieser  Zettel  heißt 
oiXXvßog  oder  ovnvßog^  titulus^  index.^)  Die  Worte  auf  dem  titulus  heißen 
lemmaJ)  Bisweilen  war  dieser  Zettel  umfangreicher,  so  daß  man  in  Brief- 
sammlungen auf  ihm  auch  die  Namen  sämtHcher  Adressaten  finden  konnte, 
die  das  Konvolut  entliielt ; «)  und  es  ist  wahrscheinlich,  daß  auch  im  Fronto 
und  bei  Cicero  Ad  familiäres  das  Titel  Verzeichnis,  das  der  betreffenden 
Brief  Sammlung  in  den  Handschriften  vorausgeht,  von  solchen  Zetteln 
stammt.  9) 

Die  Charta  war  nun  aber,  wie  schon  angedeutet,  leicht  gefährdet. 
Sie  splitterte,  zerriß  leicht,  verfiel  bei  feuchter  Luft  der  Fäulnis  {caries), 
wurde  ein  Opfer  der  Motten,  der  Mäuse  und  des  Bücherwurms.  Ein 
Chartabuch,  das,  geschont  und  wenig  benutzt,  ein  Alter  von  zweihundert 
Jahren  erreichte,  galt  schon  als  Mirakel. ^o)  Zu  seiner  Konservierung 
wurden  nicht  nur  Rauheiten  am  Buchschnitt  mit  Schere  und  Bimsstein 
Aveggenommen  und  geglättet  (oben  S.  309, 1) ;  man  bestrich  es  auch  oft  mit 
Cedrusölii)  und  schüttelte  die  zusammenklebenden  Rollen  aus  {situ  cohaerent; 
excuti  debent,  Sen.  epist.  72,  1). 

Vor  allem  aber  wurde  für  einen  guten  Verschluß  der  Rolle  gesorgt; 


^)  Buchrolle  S.  237  f. 

»)  DziATZKO  a.  a.  0.  S.  126. 

3)  U.  WiLCKEN,  Hermes  41   S.  103  ff. 

4)  Vgl.  Amm.  Marcellin.  22,  7,  3. 

5)  Blichrolle  Abb.  64 ;  67 ;  103 ;  154 :  156 ; 
157;  159. 

®)  Ueber  oiXkvßog  und  oixxvßog  LoBECK, 
Proleg.  pathol.  S.  290;  M.  Haupt,  Opusc. 
III  S.  411. 

7)  Auson. XV  1,2; vgl. M. Krämers.  13. 


8)  Siehe  Sid.ApoUinar.  epist. VIII  16,1. 

9)  Siehe  H.  Peter,  Der  Brief  etc.  (Ab- 
handl.  sächs.  GW.  XX,  3)  S.  57 ;  M.  Krämer 
S.  36. 

10)  Buchwesen  S.  366. 

11)  aA«tV«v  Lucian  AdA^  indoct.  7;  bes. 
Vitruv  2,  9, 13 ;  vgl.  P.  Wolters,  Jahrbuch 
d.  arch.Inst.  24,  Heft  2,  S.  60  f. ;  Marquardt- 
Mau  S.815f.  Ueber  Martial  III  2,7  {cedro 
perunetus)  unten  S.  330. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstofife.     B.  Litterarisches.  329 

und  zwar  schon  bei  den  Ägyptern.  Man  schloß  sie,  wie  den  Brief,  mit  Siegeln 
Strick  und  Siegel,  i)  Daher  die  o(pQayig  des  Theognis.  Der  Text  des 
Monumentum  Ancyranum  des  Augustus  befand  sich  ursprünglich  in  ver- 
siegelten EoUen,  signaüs  voluminibus  (Sueton  Aug.  101).  Sieben  solcher 
Siegel  hat  auch  die  Eolle  in  der  Johannesapokalypse  5,  2,  und  das  ävoiyeiv 
t6  ßißXiov  bedeutet  dort  nicht  das  Auseinanderrollen,  sondern  nur  das 
Lösen  jenes  Verschlusses;  es  findet  statt  mittels  des  Xveiv  rag  ocpgayTdag.^) 

Aber  auch  mit  festem  Riemenwerk  schloß  man  die  Rolle.  Dies  sind  Riemen 
die  lora  rubra  membranae  bei  Catull  22,  7  (oben  S.  298),  die  ihr  unver- 
kennbares Vorbild  bei  den  Ägyptern  haben  (Buchrolle  S.  9)  und  dann  auf 
Scliildereien  der  späten  Kaiserzeit  ebenso  wieder  auftauchen  (ib.  S.  241  f.). 
Ebendasselbe  ist  ohne  Zweifel  auch  das  äfxfxa  (poLvixivov,  d.  i.  loriim  rubrum^ 
das  man  bei  C.  W.  Goodwin,  Greek  egypt.  fragm.  on  mag.  (in  Publicat.  of 
the  Cambridge  Antiqu.  Soc.  1852,  Oct.,  S.  16)  zusammen  mit  dem  x^Q'^V^ 
erwähnt  findet :  3)  äjioxeiQÖjuevog  ix  rrjg  xecpalrjg  oov  JQixa  ovveh^ov  ra>  x^Q'^^tl 
äjUjuari  (poLVLxivcp. 

Die  Charta  ist  jedoch  gegen  jeden  Druck  empfindlich,  und  Riemen- 
werk ist  ihr  nachteiHg;  chartae  alligatae  mutant  figuram  sagt  Petron  102. 
Daher  zog  man  es  vor,  die  Rolle,  wie  wir  unsere  Tischservietten,  in  ein 
vollständiges  Futteral  zu  stecken,  das  aus  Pergament  hergestellt  und  paenuia 
gern  wiederum  bunt  gefärbt  wurde.  Es  hieß  öiq^^ega  (Lucian),  paentda 
((faivoXrjg).  Doch  ^\'ird  dies  erst  ziemlich  spät  und  häufiger  nur  bei  den 
Römern  erwähnt;  weder  in  Herculaneum  noch  in  Oxyrhynchos  und  wie 
die  ägyptischen  Papyrusfundstätten  sonst  heißen,  hat  sich  eine  perga- 
mentne  paenuia  gefunden,  und  nur  jene  Protzen  und  Bildungsrenommisten, 
Avie  Lucian  sie  schildert,  die  ihre  BibHotheken  nicht  durchlasen,  sondern 
als  Zimmerschmuck  betrachteten,  scheinen  auf  die  paenuia,  die  die  rasche 
Benutzung  der  Bücher  erschwerte,  Wert  gelegt  zu  haben.*)  Übrigens 
erscheint  auch  sie  schon  bei  den  Ägyptern.  0) 

Hieran  läßt  sich  nicht  unpassend  die  Besprechung  des  Rollenstabes,  umbuicus 
ö/uxpaAdg,  umbilicus,  anknüpfen.  Will  man  aber  zum  Verständnis  desselben 
gelangen,  so  ist  es  geboten,  die  jüdische  Lederrolle  von  der  Papyrusrolle 
streng  zu  sondern.  An  der  gottesdiensthchen  Rolle  der  Juden  sind  zwei 
„Säulen"  oder  Stäbe  befestigt,  die  oben  und  unten  weit  hervorragen  und 
überdies  noch  eine  Platte  tragen,  welche  Platte  in  der  Septuaginta  als 
xe(pa?ug  „Kopfstück"  bezeichnet  wird.^)  Unter  xecpaUg  wird  dann  auch 
die  Buchrolle  selbst  verstanden.')  Dies  Hervorragen  des  Stabes 'und  die 
xecpaUg  daran  waren  nötig,  weil  der  Ritus  das  heihge  Buch  selbst  an- 
zufassen verbot;  das  Buch  wurde  und  wird  bei  den  Juden  nur  mit  Hilfe 
eines  solchen  Stabes  gehalten  und  auf-  und  zugerollt,  und  die  xovxdxiay 
die  in  den  christlichen  Kirchenkultus  des  Mittelalters  übergingen,  s)  haben 


I 


^)  Siehe  z.  B.  Fronto  ad  M.  Caesarem 
I  8;  Buchrolle  S.  243  u.  9.  Dazu  Jesaias 
29,  11  f. 

2)  Vgl.  die  genauere  Interpretation 
dieser  Stelle  Buchrolle  S.  86,  2. 

3)  Siehe  Dziatzko  S.  126. 

*)  Ueber  beschränkte  Anwendung  der 


paenuia  Buchrolle  S.  239  f. 

k)  Buchrolle  Abb.  18. 

8)  Siehe  L.  Blau,  Althebr.  Buchwesen 
S.42f. 

7)  Siehe  Rhein.  Mus.  62  S.  488. 

*)  Zu  den  xoyidxia  vgl.  Wattenbach 
S.  163  f.    Irrtümlicherweise  habe  ich  der- 


330  Das  antike  Buchwesen. 

dann  auch  dieselbe  Art  des  umbilicus  mit  xecpa)dg  oder  Kjiopf  als  Hand- 
habe der  Pergamentrollen  übernommen. 

Die  antike  Papyrusrolle  dagegen  war  kein  Gegenstand  der  HeiHgung, 
und  sie  hatte  darum  auch  zumeist  gar  keinen  Stab.  Fast  nirgends  ist 
ein  solcher  in  den  Papyrusfunden  angetroffen  worden,  und  er  mrd  uns 
nur  für  Luxusexemplare  erwälint.  Kam  er  aber  vor,  so  war  er  nicht  am 
Buch  befestigt  (nm-  große,  prospektartige  Malereien  hatten  einen  befestigten 
Stab),  sondern  er  saß  lose  und  war  zum  Heraus-  und  Hereinschieben  be- 
stimmt. Ferner  ragt€  er,  me  die  in  Herculaneum  tatsäclihch  gefundenen 
Beispiele  zeigen,  nicht  oben  und  unten  aus  der  Rolle  hen'or ;  vor  allem  aber 
hatte  er  kein  „Kopfstück",  keine  Knöpfe,  wie  dieselben  Beispiele  zeigen,  und 
der  nächste  Zweck  dieses  pflockartigen  Stabes  war  offenbar,  den  inneren 
Hohlraum  der  zusammengerollten  Rolle  vor  Staub  zu  schützen.  Denn 
Bücher  sind  Staubfänger;  und  da  die  Schrift  nach  innen  stand,  war  dies 
Schutzmittel  um  so  nützHcher.  Überdies  aber  wurde  dies  Stäbchen  alsdann 
natürhch  auch  zum  Zusammenrollen  der  Papiermasse  benutzt.  Während 
des  Lesens  rollte  man  das  eben  Gelesene  mit  der  linken  Hand  an  ihm 
sogleich  ^\deder  zusammen,  i) 

Die  Römer  erwähnen  diesen  Rollenstab,  der  gern  bunt  bemalt  oder  ver- 
goldet wurde,  yiqI  öfter  als  die  Griechen,  weil  die  Römer  sich  viel  öfter 
damit  abgeben,  Dedikationsexemplare  zu  beschreiben.  Belegstellen  für 
den  einfachen  umbilicus  sind  Catull  c.  22, 7  (oben  S.  298),  Horaz  Epod.  14, 8 
und  dazu  Porphyrio,  Lucian  De  merc.  conduct.  41,  Adv.  indoct.  16;  für  den 
doppelten  erst  die  späteren  Dichter  Statins  Silv.  lY  9, 8  und  Martial  V  6, 15 
(u.  sonst).  Auch  Sidonius  Apollinaris  denkt  noch  an  wirkliche  Rollen  mit 
umbilici.*)  Wo  zwei  umbilici  erwähnt  werden,  waren  sie  hohl  und  steckten 
ineinander,  und  beim  Lesen  wui'den  sie  auseinandergenommen,  der  eine 
im  rechten  Konvolut  belassen,  der  andere  zur  Achse  des  linken  Konvoluts 
gemacht.  3)  Die  Redensart  ad  umbilicum  adducere  oder  venire  heißt  dem- 
nach soviel  wie  „bis  zum  Ende  des  Konvoluts  gelangen,  wo  im  Hohlraum 
der  Stab  steckt".-») 

Eine  kurze  Besprechung  erfordert  Martial  III  2,  7  f.,  wo  man  falsch 
interpungiert.     Der  Dichter  redet  sein  Buch  an: 

Cedro  nunc  licet  ambules  perunctus 

Et  frontis  gemino  decens  honore 

Pictis  luxurieris  umbilicis 
10  Et  te  purpura  delicata  velet 

Et  cocco  rubeat  superbus  index. 

einst  in  meinem  „Buchwesen"  S.  24  den  !   nicht  Martianus  CapeUa  V  566,  wo  es  von 

Ausdruck  y.ovxoq?6oog  bei  Lucian  als  Buch-  !   der  pagina  (=  „Buch")  heißt: 

rolle,  die  den  Speer  oder  Rollenstab  trägt,  |  quae  tamen  voluminis 

verstanden.   E.  Rohde  hat  mich  gründlich  j       vix  umbilicum  multa  opertum  fascea 

dafür  gestraft.  Trotzdem  übernimmt  ScHU-  1       turgore  pinguis  insuit  nibellulum. 

BART  S.  94  auch  jetzt  noch  meine  Weisheit,  j   lieber  den  Anstoß,  den  insuit  auch  sonst 

1)  Dies   ist  näher  ausgeführt  „Buch-  !   gibt,  s.  Buchrolle  S.  234,  wo  ich  statt  dessen 

rolle"   S.  228  ff.     Dazu  W.  Weinberger,  I   iVj^m^  vermutete.  Vielleicht  ist  aber  m^wiY 


Ztschr.  f.  österr.  Gymnas.  1908  S.  579. 
2)  Siehe  M.  Krämer  S.  35  f. 
')  Buchrolle  a.  a.  0. 
^)  Zu  der  unumstößlichen  Tatsache, 


zu  lesen.  Zu  diesem  Gebrauch  von  induere 
kann  Servius  zu  Aen.  10,  681  verglichen 
werden:  mucrone  induat:  .  .  .  hypallage  est 
pro:   mucronem   suo  induat  corpore  .  .  .  id 


daß    der  umbilicus  lose  saß,  stimmt  nur   |   est  (mucro)  tegitur  et  vestitur. 


n.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.    B.  Litterarisches.  331 

Der  V.  10  geht  auf  die  paenulay  v.  11  auf  den  Sittybus,  v.  9  auf  die  um- 
hilicl',  diese  umbilid  haben  aber  nichts  mit  der  im  v.  8  erwähnten  frons 
zu  tun.  Denn  frons  ist  der  Rollenschnitt;  die  frons  wurde  durch  Be- 
schneiden und  Eeiben  geglättet,  außerdem  gefärbt  (s.  S.  304  f.),  das  war  ihr 
honor;  die  umUUci  trugen  zur  Verschönerung  der  frons  nichts  bei.  Es 
ist  also  natui'gemäß,  die  Worte  so  abzuteilen: 

Cedro  nunc  licet  ambules  peninctus 
Et  frontis  gemino  decens  honore. 
Pictis  luxurieris  umbilicis  eqs. 

Es  ist  herkömmlich,  an  die  Besprechung  des  umbilicus  die  der  cornua 
anzuknüpfen.  Auch  neuerdings  wird,  obgleich  ich  dies  als  falsch  nach- 
gewiesen, die  Behauptung  aufrecht  erhalten,  w^o  man  cornua  erwähnt 
findet,  seien  Knöpfe  gemeint  und  der  umhiUcus  habe  eben  doch  Knöpfe 
gehabt.  1)  Daß  dies  falsch  ist,  wird  schon  durch  den  soeben  dargelegten 
Tatbestand  erwiesen,  und  ich  könnte  mich  dabei  beruhigen.  Aber  auch 
sprachlich  betrachtet,  berührt  die  Gleichung  cornu  =  „Knopf"  mehr  als 
sonderbar.  Man  sehe  den  reichen  Artikel  „comu"  im  lateinischen  Thesaurus 
durch.  Wo  cornua  in  tropischer  Anwendung  steht,  sind  immer  Gegen- 
stände gemeint,  die  die  gekrümmte  Form  des  Halbmondes  oder  des  Huf- 
eisens besitzen,  einerlei,  ob  sie  dabei  zugleich  aus  Hornmasse  bestehen 
oder  nicht:  so  werden  die  Pferdehufe  cornua  genannt,  ebenso  die  Ki-ebs- 
scheren,  die  Blasinstrumente,  die  Gießgefäße  für  Öl,  der  Bogen  des  Bogen- 
schützen. Das  Auffälligste  ist,  daß  auch  die  Laterne  cornu  liieß  (Plaut. 
Amph.  341;  Priapeen  32, 14).  Woher  das?  Symphosius  Nr.  67  gibt  uns 
die  Aufklärung,  der  von  der  Laterne  sagt,  sie  ist  cornibus  apta  cavis:  d.  h. 
sie  ist  aus  zw^ei  hohlen  HalbzyKndem  zusammengesetzt  (apta).  Das  Ge- 
sagte trifft  also  auch  hier  zu;  die  cornua  sind  cava.  Knöpfe  heißen  auf 
lateinisch  nicht  cornua,  sondern  buUae;  es  ist  nicht  einzusehen,  wieso 
Martial  sie  cornua  nennen  konnte,  da  sie  doch  schwerlich  eine  geschweifte 
Halbmondform  hatten.  Dafür,  daß  cornu  ledigHch  einen  Gegenstand  aus 
Hom,  ohne  daß  die  geschweifte  Form  hinzutritt,  bezeichnen  könne,  finde 
ich  keinen  zuverlässigen  Beleg.  Wäre  aber  dies  der  FaU,  so  w^e  man 
ebur  für  die  Flöte,  ferrum  füi'  Schwert  braucht,  so  w^ürde  der  Plural  cornua 
Anstoß  geben.  Denn  kein  Mensch  setzt  z.  B.  den  Plural  ferra  füi* 
SchAverter. 

Wohl  aber  verstand  nun  auch  noch  jeder  Römer  unter  cornua  im 
Plm-al  die  Endteile  größerer  geschweifter  Flächen  oder  bauhcher  Anlagen. 
Ich  habe  dies  „Buchrolle"  S.  235  und  Ehein.  Mus.  63  S.  44  ausführUcher 
erörtert  und  wiederhole  hier  die  Belege  nicht.  Vor  allem  gehört  daliin 
auch  das  Heer  mit  seiner  Schlachtordnung;  denn  auch  das  Heer  hat  Flügel, 
cornua,  und  dasselbe  Heer  wird  aufgerollt  wie  die  Rolle;  man  sagt  ex- 
plicare  aciem  wie  expUcare  librum  usque  ad  sua  cornua.  Ja,  sogar  ex- 
plicare  cornu  dextrum  wird  von  Livius  36,  44,  1  verbimden.  In  diesem 
Sinne  habe  ich  daher  oben  S.  299  die  cornua  der  Rolle  besprochen. 


1)  Leider  ist  auch  P.  Wolters,  Jahrb.    |   diesem  Irrtum  verfallen, 
d.  arch.  Inst.  24  (1909)  2.  Heft  S.  58  wieder   | 


332  I^s-s  antike  Buchwesen. 

Ganz  besonders  aber  befremdet  mich,  daß  man  auch  jetzt  noch 
glaubt,  eine  verfälschte  und  jedenfalls  ganz  unzuverlässige  "Wiedergabe 
des  pompejanischen  Bildes  Heibig  Nr.  1726  geltend  machen  zu  können, 
ja,  sie  auch  jetzt  noch  wieder  ohne  irgendwelche  Beanstandung  abbildet,  i) 
nachdem  ich  eine  nach  dem  wohlerhaltenen  Original  sorglich  hergestellte 
korrekte  Wiedergabe,  Buchrolle  Abb.  154,  vorgelegt  habe.  Ich  kann  nicht 
zugeben,  daß  man  diese  meine  Bemühung  so  ignoriert.  Ich  meinerseits 
verlasse  mich  auf  das  Original. 

Auf  der  unrichtigen  "Wiedergabe  dieses  Bildes  im  Museo  Borbonico 
I  12  sind  nun  Fäden  oder  Schleif chen,  die  aus  dem  Innern  der  beiden 
Konvolute  der  offenen  RoUe  heraushängen,  gezeichnet.  In  Wirldichkeit 
sind  diese  Fäden  oder  Schleif  chen  gar  nicht  vorhanden  und  ledigHch  eine 
Phantasieleistung  des  dekorationssüchtigen  Nachzeichners.  Wäre  diese 
Wiedergabe  nun  aber  auch  richtig,  so  sind  doch  Fäden  oder  Schleifen 
immer  noch  keine  Knöpfe.  Es  ist  fast  belustigend,  das  verzweifelte  Argu- 
mentationsverfahren zu  sehen :  die  Schleife  ist  ein  Knopf,  und  der  Knopf 
ist  ein  Hörn.     Also  hat  der  Rollenstab  Knöpfe  gehabt. 

Die  Hauptbelegstelle  Martial  XI  107  explicare  librum  usque  ad  sua 
cornua  „auseinanderrollen  bis  zu  beiden  Endblättern"  ist  oben  S.  272  er- 
örtert. Diese  cornua  oder  Endblätter,  die,  wie  S.  299  gezeigt,  niemals 
Schrift  trugen  und  die  aus  festerer  Papiermasse  bestanden,  ^Tirden,  wenn 
man  das  Buch  elegant  ausstattete,  auch  gefärbt.  Dies  sagt  ersthch  Lyg- 
damus  (Tibull  3,  1,  13)  mit  den  W^orten  inter  geminas  frontes  pingantur 
cornua  unzweideutig  (die  frontes  sind  der  Buchschnitt  der  Rolle,  oben 
und  unten);  sodann  Ovid,  der  in  den  Tristien  1,1,8  für  sein  trauerndes 
Buch  die  Bestimmung  trifft,  daß  es  keine  Candida  cornua  haben  soll  nigra 
fronte;  die  Verse  lauten: 

Nee  titulus  minio  nee  eedro  eharta  notetur 
Candida  nee  nigra  eomua  fronte  geras. 

Die  Scliluß Worte  heißen  auf  Deutsch :  dein  Anfangs-  und  Endblatt  soll  „nicht 
weiß"  sein,  während  der  Buchschnitt  schwarz  ist;  anders  ausgedrückt:  An- 
fangs- und  Endblatt  sollen  ebenso  schwarz  wie  der  Buchschnitt  gefärbt 
werden ;  auch  die  cornua  sollen  nigra  sein :  et  nigra  cornua  nigra  fronte  geras. 

13.  Aufbewahrung  der  Rollen. 

Die  Ausstattung  des  Buches  ist  endlich  vollendet.  Wie  wurde  es 
transportiert  und  aufbewahrt? 

Rolle  im  Handelte  es  sich  nur  um  eine  einzelne  Rolle,  so  nahm  man  sie  regel- 

mäßig geschlossen  in  die  unke  Hand  und  trug  sie,  da  die  sinistra  oft  im 
sinus  ruhte,  auch  im  sinus  mit  sich;  ein  Buch  vno  reo  IjuaTio)  Philostr. 
Apoll.  Tyan.  4,  30;  so  auch  ein  Brief  im  xöXjtog  ib.  3,  38;  fugis  in  sinum 
Martial  3,  2,  6;  sinu  te  excipiet  3,  5,  7.2) 

Bündel  Zum   Transport  mehrerer    zusammengehöriger   Rollen    aber    wurden 

Bündel,  fasces,  fasciculi,  öeojuai,  ovvdeojuoi  zu  je  3  bis  15  und  mehr  hergestellt. 


Sinus 


1)   Gardthausen   S.  145 ;    Blümner,    I  ^)  Weiteres  Buchrolle  S.  43 ;  vgl.  auch 

Privataltertümer  S.  473.  |   Horaz  Sat.  1,  6,  74  =  epist.  1,  1,  56. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.    B.  Litterarisches. 


333 


Capsa 


die  uns  auf  Bildwerken  unendlich  oft  in  der  Nähe  des  Vortragenden  oder 
Lesenden  erscheinen,  i)  Dahin  gehören  auch  die  chartae  alligatae  bei 
Petron  (oben  S.  329).  Der  Verscliluß  solcher  Bücherbtindel  wurde  auch 
versiegelt  (Horaz  epist.  1,  13,  2).  Natürlich  trug  man  dann  auch  diese 
Bündel  direkt  in  der  Hand  oder  auch  unter  der  Achsel ;  dies  zeigt  schon 
der  Horazbrief  I  13;  auch  Martial  5,  51, 1:  lihellis  praegravem  gerit  laevam; 
auch  Bildwerke,  die  „Buchrolle"  S.  258  besprochen  sind.  Über  Rollen- 
bündel bei  den  Ägyptern  ebenda  S.  15. 

Der  Sorgsamere  aber  legte  oder  stellte  die  EoUen  lieber  in  einen 
Hollenkasten,  xißoyTog,  xißcoriovy  xlorr},  auch  rev^og,  scriiiiiim,  capsa.  Das 
ist,  was  man  auch  ein  yQajUjuaroq^vXdxiov  ^)  oder  xaQToq)vXdxtov  3)  nennt,  das 
die  Griechen  wie  die  Buchrolle  selbst  von  den  Ägyptern  übernahmen 
(vgl.  Buchrolle  Abb.  10 — 12  u.  14)  und  das,  anfangs  eckig,  später  auch 
rund  geformt  war,  und  zwar  aus  Holz.  Übrigens  hat  der  Ägypter  die 
Rolle  auch  einfach  in  Töpfen  und  Krügen  aufbewahrt.*)  Bei  den  Griechen 
aber  läßt  sich  dann  weiter  ein  Wechsel  der  Gewohnheit  wahrnehmen.  In 
voralexandrinischer  Zeit  legte  der  Grieche  die  Rollen  flach  in  den  Kasten; 
als  aber  die  am  Kopf  der  Rollen  befestigten  Sittybi  aufkamen  (oben  S.  328), 
stellte  er  sie  vielmehr  aufrecht,  damit  letztere  gleich  ins  Auge  fielen. 
Ebendeshalb  begegnen  runde  Rollenkästen,  in  denen  ein  Flacliliegen 
nicht  möglich,  nicht  in  voralexandrinischer  Zeit;  vielleicht  aber  sind  die 
Rollensäcke  der  Ägypter  (Buchrolle  Abb.  15  u.  16),  in  denen  gleichfalls 
die  Rollen  nur  senkrecht  stehen  konnten,  für  die  runden  RoUenkästen  das 
Vorbild  gewesen. 

Solche  capsa  faßte  wiederum  etwa  5 — 15  Buchrollen,  die  man  lose, 
oft  aber  auch  verschnürt  0)  hineinstellte.  Aber  auch  diese  Kästen  haben 
wie  das  Bündel  nicht  etwa  den  AufbewahrungszAvecken  der  Bibliothek 
gedient,  sondern  vielmehr  dem  Transport.  Der  Gelehrte  nimmt  die  nötigen 
Schriften  darin  mit  auf  die  Reise  —  Capsula  me  sequitur,  sagt  Catull  — ; 
der  Advokat  nimmt  sie  darin  aufs  Forum  mit;  vgl.  Cicero  in  Caecilium  51: 
si  te  semel  ad  meas  capsas  admisero  (er  hat  sie  also  bei  sich  stelin)-,  wozu 
Ps.Asconius:  custodes  .  .  .  accusatori  solebant  dari  non  solum  chartarum 
causa  .  .  .,  sed  etiam  eqs.  Der  Diener,  der  den  Kasten  nachträgt,  heißt 
capsarius. 

Aber  auch  in  den  Buchläden  standen  die  zu  verhandelnden  Bücher 
in  capsae  oder  scmiia;^)  denn  der  Händler  sowohl  wie  der  Käufer  mußte  Kasten 
die  Ware  bequem  von  Ort  zu  Ort  schaffen  können.  Dabei  bildeten  die 
Rollen  in  der  Capsa  oft  auch  sachlich  eine  Einheit,  eine  Werkeinheit,  7) 
wie  z.  B.  der  Dichter  Krinagoras  in  solchem  Gefäß  (xevxog)  der  Antonia 
die  fünf  Rollen  des  Anakreon  übersendet  (Anthol.  Pal.  9,  239).   Auch  von 


Werk- 
einlieit  im 


»)  Vgl.  Buchrolle  S.  255  f. ;  S.  Ebinach 
über  den  Krieger  von  Cüli,  Eevue  archöol. 
1908  S.  118. 

2)  Plutarch  Aristid.  21. 

»)  Siehe  Lexica;  vgl.  Blümner,  Privat- 
altert. S.  132. 

4)  Gardthausen  S.  175;  Buchwesen 
S.  49. 


')  Buchrolle  S.  259  f. 

«)  Stat.  Silv.  4, 9, 21 ;  CatuU  14, 18 ;  Horaz 
Sat.  1,  4,  22. 

7)  Genaueres  s.  Buchrolle  S.  248  ff.  u. 
259  ff. ;  Daremberg-Saglio,  Dict.  des  anti- 
quit.  Artikel  „capsa";  E.Pfuhl  im  Jahr- 
buch d.  arch.  Inst.  22  S.  131  f.  und  meine 
Bemerkungen  ebenda  23  S.  122. 


334  I^as  antike  Buchwesen. 

der  Dichterin  Korinna  gab  es  just  fünf  Bücher.    Die  Statuette  der  Korinna 
von  Compiegne  hat  eine  Capsa  neben  sich,   in  der  man  nur  vier  Rollen 
gewahrt;   die  Frau  selbst  aber  liest  eben  in  einer  fünften;   der  Künstler 
setzt  also  voraus,  daß  die  Capsa  auch  hier  alle  fünf  umschloß,  i) 
Bibliothek  Eine  Aufbewahrung  und  Sicherung  des  Buchbestandes  gewährte  da- 

gegen die  Bibliothek,  ßvßho^i^xrj.^)  Auch  der  Plural  ßvßhod'fjxai  wird 
gelegentlich  von  einer  Bibliothek  gebraucht,  da  §ij>cr}  eigenthch  nur  das 
einzelne  Gestell  w^ar.  Aber  man  sagte  dafür  auch  einfach  rä  ßißUa,^) 
weshalb  der  Bibliothekar  auch  ad  lihros  oder  a  libris  heißt:  CIL.  VI  8877 f. 
Im  Yerwaltungswesen  Ägyptens  heißt  der  Auf bew^ahrer  der  Rechtsurkunden 

Geidkiste  Besonders   w^ertvoUe   Bücher  oder  Urkunden   legte   der  Privatmann 

allerdings  vielmehr  in  die  verschließbare  eiserne  Geldkiste;  vgl.  Appian 
b.  civ.  4, 44:  Oviviov  .  .  .  exQvipev  ev  XaQvaxi  äg  äno  oidrjQov  ig  ^Qrjjudrcov  i) 
ßißXicov  e^ovoi  (pvXaxi]v.  Ein  Mißbrauch  war  es  dagegen  und  ein  Zeichen 
Faß  der  Verwahrlosung,  wenn  ganze  Büchermassen  in  Tonfässern  aufbewahrt 
wurden,  wie  wir  dies  in  Anlaß  der  Hexapla  des  Origenes  erfahren;  be- 
treffs der  sogenannten  sechsten  exdooig,  die  Origenes  benutzte,  lesen  wir 
in  einer  Subskription,  die  auf  ilm  selbst  zurückgeht:  EVQs^eToa  juerd  xal 
äkkcov  ßißXicov  'EßQaixöjv  xal  EXXrjvixcbv  ev  xivi  nid^co  negl  rrjv  'leQixcb  xrX.^) 
Solches  Verstecken  von  Büchern  ist  gewiß  oft  in  Anlaß  der  Christen- 
verfolgungen geschehen. 

Bücher  in  WoUcn  wir  nichts  übersehen,   so  haben  wir  zu   den  „Bibliotheken" 

des  Altertums  auch  die  Gräber  zu  rechnen.  Es  war  Sitte,  dem  Toten 
seine  Lieblingsbücher  oder  die  von  ihm  selbst  verfaßten  Schriften  mit 
ins  Grab  zu  geben,  und  in  der  Tat  stammen  viele  der  in  Ägypten  ge- 
machten Pap3^rusfunde  litterarischen  Inhalts  aus  Gräbern.  Dafür  kommen 
vor  allem  die  Särge  selbst  in  Betracht.  Fhnders  Petrie  entdeckte,  daß 
die  Mumienkartonage  selbst,  aus  der  in  Ägypten  die  Särge  bestehn,  aus 
mehreren  Schichten  von  zusammengeklebtem  Papyrus  hergestellt  ist. 
Solche  Särge  sind  seitdem  massenhaft  ausgebeutet  worden,  wie  z.  B.  von 
Rubensohn  in  Abusir-el-Mäläk.  Ihnen  entsprechen  die  mumifizierten  und 
in  Papyrusrollen  eingewickelten  heiligen  Krokodile  in  Tebtunis.  Alles 
das  ist  beschriebene  Charta.  Zahlreiche  Textfunde,  z.  B.  Reste  der  euri- 
pideischen  Antiope  oder  des  Xenophon,  des  Demosthenes  sind  von  solcher 
Herkunft.  Sehen  wir  aber  von  dieser  Kartonage  ab  und  nehmen  die 
Bücherf linde,  die  nicht  zu  Pappe  verklebt  sind:  zwischen  den  Beinen 
einer  Mumie,  also  im  Grab,  fand  man  den  Alkman,  ebenso  Isokrates  ad 
Nicoclem;   in    einem   Sarkophag  Hyperides;^)   in   einem   Grabe   die   Hias 

1)  Siehe   Jahrbuch   d.  arch.  Instit.  23   |  s)  Poland  S.  10;  vgl.  The  Hibeh  Papyri 


(1908)  S.  122. 

2)  Auf  Inschriften  vorwiegend  so  mit 
f  geschrieben ;  s.  Poland  S.  9;  ebenso  auch 
auf  den  älteren  lateinischen,  wie  CIL.  VI 
8743 ;  X 1739 ;  7580 ;  XIV  2916 ;  vgl.  Immisch 
S.  525  Anm.  Auch  hubliothece  findet  sich, 
VI  2349.  Uebrigens  vgl.  Suidas  s.  v.  Aaf.i6- 
cpikog :  xavxd  fxoi  svQtjxm  km  xaXg  xcöv  ßißXloiv 
drjxaig. 


part  I  ed.  Grenfell  u.  Hunt  (1906)  Nr.  48: 
ab  yag  evqioxco  ev  xoTg  ßißkioig  „in  meinen 
Geschäftsbüchern". 

*)  Mitteis- WiLCKEN  a.  a.  0.  II 2  S.  54. 

5)  Siehe  Mercati,  Studi  e  Testi  5 
S.  28  f. ;  F.  ScHWARTZ,  Nachrichten  der  Göt- 
tinger GW.,  1903,  Heft  6  S.  5. 

6j  Häberlin  Nr.  94. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


335 


Bankesiana,  vor  allem  den  Dithyramb  des  Timotheos,   einen  der  ältesten 
griechischen  Buchschriftreste. 

Man  sollte  nun  glauben,  die  Gräber  seien  die  besten  Bibliotheken 
und  sichersten  Aufbewahrungsorte,  die  man  sich  wünschen  kann,  da  sie 
das  Buch  durch  Jahrtausende  vor  jeder  Unbill  bewahren.  Aber  alle  diese 
ägyptischen  Gräberfunde  haben  unvollständige  Exemplare  geUefert;  ja, 
offenbar  wurden  sie  schon  dereinst  dem  Toten  in  dieser  Weise,  als  Bruch- 
stücke, mit  ins  Grab  gelegt;  so  auch  der  Timotheos:  eine  Sitte  oder  Un- 
sitte, die  schwer  zu  erklären  ist.  Hat  man  diese  Buchfragmente  nur  im 
Dienst  des  Aberglaubens  als  Amulette  gebraucht,  woß.  den  Leichnam  zu 
schützen?  1)  Jedenfalls  ist  festzuhalten,  daß  dies  Verfahren  der  Ägypter 
mit  dem  der  echten  griechisch-römischen  Frömmigkeit  nichts  gemein  hat. 
Properz  schreibt  11  13  für  seinen  Todesfall  vor,  daß  ihm  seine  sämtlichen 
Dichtwerke  (drei  Rollen)  und  zwar  natürHch  vollständig  mit  ins  Grab 
gegeben  Averden  sollen,  damit  er  sie  der  Persephone  als  Geschenk  dar- 
bringe. Wirkhch  bringt  so  der  Musiker  Eutychides,  wie  A\dr  Anthol.  Pal. 
11, 133  hören,  seine  sämtlichen  Oden  und  dazu  noch  zwölf  Schachteln 
voll  vo^uoi  in  die  Unterwelt,  und  dem  Dictys  Cretensis  werden  nach  seinem 
Tode  seine  vollständigen  sechs  oder  neun  Eollen  vom  trojanischen  Krieg 
in  einer  arcula  aus  Zinn  oder  "Werkblei  mit  in  den  Grabhügel  gelegt.*) 
Dem  entspricht  die  arca,  in  der  man  im  Jahre  181  v.  Chr.  bei  Rom  ^der- 
zehn  sogenannte  „Bücher  des  Numa"  auffand,  und  nicht  anders  stand  es 
mit  der  Paulusapokalypse,  wie  diese  uns  selbst  überhefert:  ein  marmornes 
y/.cooo6xojuov  wurde  ausgegraben;  darin  lag  sie  intakt. »)  So  zeigen  uns 
denn  auch  griechische  Grabrehefs  in  Abbild  Rollenbücher  in  oder  auf 
dem  Grabe  des  Verstorbenen.*)  Diese  Bücher  sind  dem  Toten  mitgegeben; 
aber  es  sind  gewiß  überall  vollständige  Bücher. 

Kehren  wir  indes  zu  den  Lebenden  zurück.  Wir  unterscheiden 
Archiv  und  Bibliothek.  In  den  Archiven  werden  arndygacpa^  Geschäfts-  Archiv 
papiere  und  Verwaltungsakten,  in  der  Bibliothek  vornehmlich  litterarisches 
Gut  in  übersichtlicher  Ordnung  aufgehoben.  Beide  Institute  hat  auch  das 
Altertum  unterschieden,  ß)  Wir  aber  w^erden  von  den  Archiven,  die  übrigens 
auch  ygafi/uarelov,  yQafxijLaxo(pvMHiov,xQe(0(pvXdyAov,^)  lat.  tabularium'^)  heißen, 
hier  absehen. 

14.  Öffentliche  Bibliotheken. 

Wer  ein  Buch  kauft,  pflegt  es  auch  aufzuheben.  Wo  der  Buchkauf 
beginnt,    stellen  sich  also  Privatbibliotheken  von  selbst  her,  und  wir  be- 


1)  So  Blau,  Eivista  Israelit.  S.  50.  Vgl. 
Schubart  S.  32  u.  76. 

«)  Vgl.  Buchrolle  S.  83. 

3)  Ebenda  S.  255. 

4)  Vgl.  Jahrbuch  d.  arch.  Instit.  23  (1908) 
S.  123  f. 

5)  Nach  Script,  hist.  Aug.  Tacitus  10, 3 
wurden  in  archiis  Abschriften  angefertigt, 
die  dann  in  hyhliothecis  Aufstellung  fanden. 
In  diesem  Fall  heißen  archia  Eegierungs- 
gebäude.  Ueber  Tempelarchive  und  Archiv- 
beamte, ßißhwpvkaxsg,  s.  L.  MiTTEiS,  Archiv 


f.  Papyrusforsch.  I  S.  184  f.,  bes.  W.  Otto, 
Priester  und  Tempel  II  S.  21  f.  u.  156  f. 
Ueber  ßißho^rjxr]  eyxxrjoecov,  das  Central- 
archiv  in  den  größeren  Städten  oder  Metro- 
polen, MiTTEis-WiLCKEN  a.a.O.  1 2  S.  63.  Im 
allgemeinen  M.  Mimelsdorf,  De  archivis 
imperatorum  Eomanorum,  Halle  1890 ;  Pre- 
MERSTEiN  a.  a.  O.  S.  756. 

6)  Siehe  S.  Reinach,  Traitö  d'epigraphie 
grecque  S.  304 ;  Larfeld  S.  431. 

■>)  MoMMSEN,  Schriften  III  S.  309  ff. 


Privat- 
biblio- 
theken 


336 


Das  antike  Buchwesen. 


dürfen  nicht  erst  der  NachAveise  dafür,  daß  z.  B.  ein  Mann  wie  Euripides 
oder  Aiistoteles  eine  beträchtliche  Bücherei  besaß,  i)  Gleichwohl  ist 
solche  Erwähnung  von  Büchereien,  Avie  Avir  sie  schon  bei  Xenophon 
Memor.  4, 2, 8  f .  antreffen,  willkommen,  da  sie  die  Anschaulichkeit  steigert. 
Insbesondere  geht  aus  Xenophons  Scliilderung  hervor,  daß  da  die  Bücher 
schon  nach  Werkgattungen  gruppiert  und  geordnet  waren.  Über  sonstige 
ältere  Bibliotheken  redet  Athenaeus  p.  3  A.^)  Die  Auffindung  der  Volumina 
Herculanensia  Avar  ein  Griff  in  solche  Privatbibliothek,  aaIc  sie  im  1.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  in  einer  italienischen  Yillenstadt  bestanden  hat.  Aber  auch 
ganze  Massen  ägyptischer  Papyrusfunde  geben  uns  den  Bestand  der  Haus- 
büchereien oder  Hausarchive  ägyptischer  Kleinbürger;  dies  gilt  besonders 
von  den  Funden  aus  Dimeh.  Dort  sind  die  Chartae  unter  dem  Wüsten- 
sand noch  ganz  so  beisammen  gefunden  worden,  Avie  sie  um  300  n.  Chr. 
in  den  Häusern  lagen.  3) 
öffentiiciie  Das  größte  Ereignis  aber  in  der  Geschichte  des  BuchAvesens  und  der 

theken  Htterarischcn  Tradition  überhaupt,  ein  Werk  AA^eisester  Fürsorge  und  ein 
unschätzbarer  GcAvinn  für  die  Geschichte  des  Geisteslebens  Avar  die  Grün- 
dung öffentlicher  Bibliotheken.  Darin  gingen  um  das  Jahr  300  v.Chr. 
die  ptolemäischen  Könige  voran,  die  die  Doppelbibliothek  in  Alexandria 
gründeten.*)  Es  war  ein  Glück,  daß  dies  Beispiel  in  anderen  Haupt- 
städten bald  Nachahmung  fand,  da  der  Avichtigste  Teil  der  Gründung  der 
Ptolemäer,  die  Bibliothek  im  Brucheion,  Aviederholt  zerstört  AA^orden  ist. 
In  Antiochia  und  Pergamum,  wohl  auch  in  Pella,^)  entstanden  bald  kon- 
kurrierende Anstalten,  dann  endlich  auch  in  Rom. 

Es  versteht  sich,  daß  es  auch  in  Rom  anfangs  nur  Privatbibliotheken 
gab,  nacliAveisbar  besonders  für  Ciceros  Zeit.  Luculi  gab  dafür  das  vor- 
nehmste Beispiel,  der  seine  Sammlung  dem  Publikum  mit  einer  Liberahtät 
zugänglich  machte,  die  ihr  nahezu  den  Charakter  einer  öffenthchen  ver- 
lieh, ß)  Dem  folgten  bald  nach  Ciceros  Tod  in  Rom,  um  nur  das  Wich- 
tigste herauszuheben,  die  öffentliche  Bibliothek  im  Atrium  Libertatis,  die 
Asinius  Polio  bald  nach  a.  39  a^  Chr.  gründete;  die  von  Augustus  ge- 
gründete palatinische  (wohl  im  Jahr  28  v.  Chr.  fertig,  zugleich  mit  dem 
Apollotempel);  die  der  OctaAda  in  der  Porticus  gleichen  Namens.  Unter 
Vespasian  kam  die  im  Templum  Pacis,  die  Gellius  benutzte,  hinzu.  7)  Alle 
diese  überbot  die  Ulpia  des  Trajan.  Jedes  dieser  Depots  zerfiel  in  zAvei 
Abteilungen  für  griechische  und  lateinische  Bücher.  Im  ganzen  erwähnt 
die  constantinische  Regionenbeschreibung  in  ihrem  Anhang  für  Rom 
28  hibliothecae.^)  Aber  auch  für  manche  anderen  Plätze  der  griechischen, 
dann  auch  der  römischen  Welt   der  Kaiserzeit   lassen  sich  solche  Bibho- 


1)  Vgl.  Häberlin,  Oentralbl.  f.  Biblio- 
theksAvesen  VII  S.  295  f. 

2)  Uebrigens  Buchrolle  S.  244  ff. ;  Buch- 
wesen S.  360  f.;  363 f.;  434;  Dziatzkos  Ar- 
tikel „Bibliotheken". 

3)  Siehe  Mitteis-Wilcken  IIS.  XX. 
^)  lieber   diese   L.  E.  Lögdberg,    im 

Eranos,   Acta  phüol.  Suecana  III   (1899) 
S.  162  ff. 

^)  Auf  Pella  Aveist  die  Bücherbeute 


des  Aemilius  Paulus,  Isidor  Orig.  6,  5; 
Plutarch  Aem.  Paul.  28. 

Plut.  Luculi  fin. 

Auch  im  Pantheon  zu  Eom  gab  es 
eine  solche ;  \^on  ihr  redet  Julius  Africanus 
in  einem  Papyrusrest,  Oxyrhynch.  Pap.  III. 
8)  Siehe  Lanciani  Ancient  Eome  in  the 
light  of  recent  discoveries,  1888,  S.  178  f. ; 
M.  Ihm,  Centralblatt  f.  Bibliothekswesen  X 
S.  513  ff. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstofife.     B.  Litterarisches.  337 

theken  nachweisen,  die  teils  an  Heiligtümer,  teils  an  Gymnasien,  bis- 
weilen auch  an  Paläste  (domus)  angeschlossen  waren.  Die  Griechenlands 
hat  F.  Polandi)  aufgezählt;  die  in  Ephesus  ist  erst  neuerdings  bekannt 
geworden. 2)  In  ItaHen  finden  wir  z.  B.  eine  BibHothek  in  Tibur  (bei 
Gelhus),  in  Suessa  Aurunca  (CIL.  X  4760);  und  so  wie  Plinius  der  Stadt 
Comum  eine  BibHothek  stiftet  (epist.  1,  8,  2),  so  ist  ÄhnHches  auch  sonst 
oft  an  anderen  Plätzen  geschehen,  s)  Füi-  Afrika  haben  wir  das  Beispiel 
Tamugadis.*) 

Für  die  kaiserHchen  Bibliotheken  in  Eom  setzte  der  Fiskus  jährlich     Bibiio- 
bestimmte  Summen  aus,  6)  und  ihre  geschäfthche  Verwaltung  war  in  der  verwl^tüng 
Hand  eines  procurator.    Von  diesem  Prokurator  war  der  wissenschaftliche 
Leiter  der  Anstalt,  der  a  bybliotheca  heißt,  oftmals  verschieden.   Der  Aus- 
druck   bibliothecarius    steht    nui-    einmal    b^    Fronte,    außerdem    in    den 
Glossaren.  6) 

Daß  zu  letzterem  Amt  nur  Gelehrte  erster  Qualität  brauchbar,  hatten 
schon  die  ptolemäischen  Könige  erkannt,  und  so  große  Namen  wie  Zenodot, 
Eratosthenes,  Aristophanes  von  Byzanz  und  Aristarch  erscheinen  in  Ale- 
xandria in  dieser  Funktion.  Die  Bibliothek  galt  also  schon  in  dieser 
ersten  klassischen  Zeit  des  Bücherwesens  als  wissenschaftliches  In- 
stitut, sie  galt  als  Substrat  und  Dienerin  der  Forschung. 

Ebenso  wm*de  es  nach  Möglichkeit  wohl  auch  später  gehalten :  C.  Me- 
lissus  ordnete  in  Rom  die  Bibliothek  der  Octavia.  Wird  uns  Pompeius 
Macer  für  die  Palatina  genannt,  so  steht  auch  dieser  Mann  groß  da. 
Dieses  Pompeius  Nachfolger  Avar  Hyginus.  Julius  Vestinus  erscheint  in 
Hadrians  Zeit  als  kaiserlicher  Oberbibliothekar. '^) 

Daß   diese   öffentlichen  Anstalten  durch  Erwerb   seltener  Exemplare    bücIut- 
und  durch  Aufkauf  kleinerer  Sammlungen   sich   ihren  Grundbestand  ver-   iJfre^Her- 
schafften,   ist  wohl   eine    selbstverständhche  Voraussetzung,   imd  für  die^^""/^""^ 
alexandrinische  wird  es  uns  auch  mehrfach  erwähnt;  und  zwar  kaufen  da 
nicht    die    Bibliothekare,    sondern    die    Könige.      Aber    es    kamen    auch 
Schenkungen    liinzu,    und    das    betraf  vor   allem    die    Novitäten.     Denn 
die  Autoren  selbst  schenkten   ihr  Werk  bisweilen,    wir   dürfen   vielleicht 
sagen,  häufig  an  die  öff entheben  Bibhotheken,  resp.  an  die  Kaiser  selbst, 
und  die  Kaiser  pflegten  das  Werk  alsdann  in  ihrer  Bibliothek,    die,  wie 
die  Ulpia,   zugleich  kaiserlich  und  öffentlich  war,   niederlegen  zu  lassen. 
So   ist   es  z.  B.  mit   des  Josephus  Antiquitates  ludaicae   unter  Vespasian 
imd    Titus    geschehen.«)     Für    alle  Werke,    die    den    Kaisem    persönhch 
dediziert  worden  sind,  ist  gewiß  dasselbe  vorauszusetzen. 

Die  Verwaltung  sorgte  aber  augenscheinhch  nicht  nur  für  einen  mög- 
lichst vollständigen  Bestand  an  Werken,  auch  nicht  nur  für  möghchst 
gute  Exemplare,  sondern  es  lag  sogar  oftmals  ein  und  dasselbe  Werk  in 


^)  In  Historische  Untersuchungen,  E. 
Förstemann  gewidmet,  Leipz.  1894,  S.7ff. 

2)  Siehe  Wilberg  in  Oesterr.  Jahres- 
hefte XI  (1908)  S.  118  f. 

»)  Vgl.  Ihm  a.  a.  0.  S.  528  f. 

*)  R.  Cagnat,  Les  bibliotheques  muni- 
cipales  de  l'empire  Rom.,  Mem.  de  l'acad. 


inscr.beU.lettres  Bd. 38, 1(1906);  Berl.phü. 
W.schr.  1907  S.  563. 

»)  CIL.  VI  2132. 

«)  Diese  Glossare  haben  aber  dabei  nur 
Codicesbibliotheken  im  Auge ;  s.  unten. 

7)  Siehe  Ihm  S.  522  ff.  u.  517  f. 

8)  Siehe  Buchrolle  S.  246  Anm.  5. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswiäsenscliaft.    I,  3.    3.  Aufl.  22 


338 


Das  antike  Buchwesen. 


vielen  Exemplaren  vor.i)  Für  Alexandria  ^^drd  uns  überliefert,  daß  bald 
nach  ihrer  Gründung  in  der  sogenannten  „äußeren"  Bibliothek  daselbst 
sich  im  ganzen  42800  Rollen,  in  der  des  BqovxeTov  sich  einesteils  400000 
ßlßXoi  ovjujuiyeig,  andernteils  90000  ßißkoi  äjuiyeig  xal  änlaX  befanden.  2) 
Diese  ungeheuerlich  großen  Summen  sind  nur  unter  obiger  Annahme  be- 
greiflich; denn  die  griechische  Litteratur  hatte  damals  bei  weitem  nicht 
so  \dele  Schriftwerke,  daß  sie  solchen  Zahlen  entsprechen  könnten,  auf- 
zuweisen. 

Aus  dem  Mitgeteilten  ergibt  sich  aber  auch  noch  das  Folgende.  Die 
ßißXoL  ovjujuiyelg  waren  solche  Rollen,  die  mehrere  unter  sich  nicht  zu- 
sammenhängende Texte,  die  ajilal  waren  solche,  die  nur  einen  einzigen, 
in  sich  zusammenhängenden  Text  enthielten.  Wir  wissen,  daß  die  Rollen 
damals  oftmals  noch  im  altägyptischen  Stil  von  exorbitanter  Länge  waren 
(s.  oben  S. 295f.);  sie  konnten  also  noch  mehrere  Schriften  aufnehmen;  und 
in  den  umfangreicheren  Schriftwerken  fehlte  noch  jede  Buchteilung,  s)  Ein 
handgreifliches  Beispiel  jener  ovjujuiyeig  liegt  uns  in  dem  großen  Papyrus, 
den  Grenfell:  Revenue  laws  of  Ptolemy  Philadelphus,  Oxford  1896  heraus- 
gab, wirklich  vor;  dies  ist  eine  Aktensammlung  des  königlichen  Fiskus 
in  einer  Rolle  von  59  Fuß  Länge,  die  von  etwa  zwölf  verschiedenen 
Händen  geschrieben  ist.  Aus  der  Litteratur  aber  bieten  sich  die  zehn 
TÖjuoi  des  Antisthenes,  deren  jeder  nach  der  Registrierung  der  antiken 
Litteraturwissenschaft  etliche  Schriften  des  Antisthenes  enthielt,  als  frap- 
pierendstes  Beispiel.  Denn  Tojtioi  sind  Rollen.  Richtig  urteilt  über  diese 
Dinge  L.  Blau,  der,  Rivista  israelit.  S.  55,  mit  den  alexandrinischen  ßißXoi 
ovjujuiyeig  solche  hebräische  Mischrollen  wie  den  Jesaias  (cap.  1 — 39  und 
40 — 66)  sowie  den  Maleachi  als  Appendix  der  Rolle  des  Zacharia  ver- 
gleicht. 

Wenn  dagegen  die  pergamenische  BibHothek,  wie  die  Mitteilung 
Plutarchs,  Anton.  58  zeigt,  im  I.Jahrhundert  v.  Chr.  nur  noch  ßißUa  ajikä, 
Bücher  mit  einheithchem  Text,  aufwies,  so  verrät  sich  darin  die  ver- 
änderte Zeitgewohnheit.  Die  pergamenische  Bibliothek  war  über  hundert 
Jahre  jünger  als  die  alexandrinische. 

Jene  gewaltigen  Zahlen  aber  erklären  sich,  wie  gesagt,  nur,  wenn 
die  Bibliotheken,  ^vie  auch  Gellius  7,  17  ausdrücklich  meldet,  die  vor- 
handenen Werke  überdies  noch  durch  Abschrift  vervielfältigen  ließen. 
Damit  hängt  also  gewiß  auch  die  ausgedehnte  Editorentätigkeit  der  ale- 
xandrinischen Bibliothekare,  besonders  des  Aristophanes  von  Byzanz,  zu- 
sammen; sie  edierten  die  meisten  älteren  Texte  neu  und  hielten  gewisse 
Quanten  der  Neuabschriften  auf  Lager.  Die  Bibliothek  war  also  zugleich 
Depot,  Magazin,  ein  Bücherlager  zum  Zweck  des  Verkaufs  und  Aus- 
tausches. 

Es  darf  uns  nicht  wundern,  daß  war  von  solchem  Verkauf  und  Aus- 
tausch in  Wirldichkeit  kaum  etwas  erfahren;  schon  allein  aus  der  frühen 

1)  Genaueres  Buchwesen  S.  491.  S.215f.;  oben  S.295.   Ich  folge  in  der  Auf- 

2)  Siehe  Tzetzes  Prolegom.  zu  Aristo-  fassimg  dieser  Dinge  nicht  Dziatzko  bei 
phanes,  Ehein.  Mus.  VI  S.  117  (Buchwesen  Pauh^-Wissowa,EE.,„  Bibliotheken"  S.411f. 
S.  485).  und  Ehein.  Mus.  46  S.  362  f. 

3)  Vgl.  Buchwesen  S.  487  f.,  Buchrolle 


n.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.    B.  Litterarisches.  339 

Zerstörung  der  Brucheionbibliothek,  die  im  Jahr  46  v.  Chr.  geschah,  erklärt 
sich  das  hinlänglich.  Als  Kaiser  Domitian  für  die  römischen  Bibliotheken 
Bücher  brauchte,  dachte  er  jedenfalls  nicht  daran,  aus  den  Vorräten  der 
alexandrinischen  Bibliothek  vorrätige  Exemplare  zu  entnehmen,  sondern 
ließ  sie  in  Alexandria  vielmehr  neu  anfertigen,  i)  Die  betreffs  des  Brandes 
der  Brucheionbibliothek  geäußerten  Zweifel 2)  teile  ich  nicht;  vgl.  A.Butler, 
The  Arabik  conquest  of  Egypt,  1902,  der  S.  407  ff.  eine  Geschichte  der 
alexandrinischen  Bibliotheken  gibt.  Berühmt  war  im  Verlauf  der  Kaiserzeit 
die  des  Serapistempels  (Butler  S.  411  ff.),  die  im  Jahre  391  zerstört  wurde,  s) 

Eine  Inventarisierung  der  öffentlichen  Bibliotheken  durch  Herstellung  Kataloge  n. 
von  Katalogen  {mvaxeg)  Avar  bei  den  geschilderten  Verhältnissen  selbst- d^r^Büche^r 
verständlich  und  unentbehrlich.  Berühmt  sind  des  Callimachus  Ilivaxeg 
Tcbv  ev  Ttdor]  naideia  dialajuipdvrcov  xal  d>v  ovveyQaxpav  in  120  Büchern.  Dies 
Werk  Avar  freilich,  wie  der  Titel  zeigt,  der  Alexandria  nicht  nennt,  gar 
kein  eigentlicher  BibKothekskatalog,  sondern  beanspruchte  vielmehr  eine 
Inventarisierung  der  gesamten  Litteratur  überhaupt  zu  sein,  zu  der  frei- 
lich die  alexandrinische  Bibliothek  als  HiKe  diente.  Callimachus  gab  darin 
auch  Biographien  der  Autoren.  Zur  Identifizierung  der  Werke  zitierte  er 
auch  ihre  Anfangsworte,  um  sicher  zu  gehen  (oben  S.  299  f.) ;  er  gab  femer 
auch  die  Zahl  der  Stichen.  Aber  wieviel  Doubletten  etwa  von  diesem 
und  jenem  Werk  in  der  Bibliothek  vorhanden  waren,   gab  er  nicht  an.*) 

Auch  für  Rom  haben  wir  überall,  wo  im  Zusammenhang  dieser  Dinge 
das  Wort  ordinäre  vorkommt,  BibHothekskataloge  vorauszusetzen. 

Das  Bruchstück  eines  Bücherverzeichnisses  aus  dem  Anfang  des 
3.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  das  augenscheinlich  eine  kleine  PrivatbibUothek 
betrifft,  hat  sich  wirklich  in  Memphis  gefunden;  s.  Mitteis-Wilcken  I  2 
S.  182.  Bemerkenswert  ist,  daß  da  noch  „Simon  der  Sokratiker"  und 
„Kebes  der  Sokratiker"  erscheinen.  Man  kann  nach  der  Art  der  Registrie- 
rung nur  annehmen,  daß  jeder  der  beiden  nur  eine  RoUe  gefüllt  hat. 

Den  Grabungen  der  letzten  Zeiten  ist  es  zu  danken,  daß  wir  die  Be- 
schaffenheit der  Bibliotheken  von  Pergamon,  5)  Ephesos,«)  Timgad')  sowie 
derjenigen  im  templum  divi  Augusti  auf  dem  römischen  Forum «)  im  wesent- 
lichen erkennen  können.  Eben  jetzt  9)  geht  durch  die  Zeitungen  die  Nach- 
richt, daß  bei  den  Ausgrabungen  in  den  CaracaUathermen  Roms  gleichfalls 
eine  Bibliothek,  die  dem  BadepubHkum  diente,  freigelegt  worden  ist;  doch 
werden  über  die  dort  gemachten  Funde  noch  keine  Mitteilungen  gegeben. 


1)  Sueton  Domit.  20. 

2)  Y.  J.  Teggart,  Centralbl.  f.  Biblio- 
thekswesen XVI  S.  470  f. 

3)  Ich  füge  die  Notiz  hinzu,  die  sich 
bei  Johannes  Chn^sostomos  (Migne,  Patrol. 
Graeca48  S.  850)  findet:  zu  dieses  Johannes 
Chrysostomos  Zeit  existierten  noch  die 
Schriften  des  Alten  Testaments  als  Rollen 
nicht  nur  in  der  Synagoge  Alexandrias, 
sondern  auch  im  Serapistempel,  und  die 
letzteren   hielt  man  für  die  ehrwürdigen 


*■)  Vgl.  übrigens  0.  Schneider,  Calli- 
machea  II  S.  297  ff.;  F.  SuSEMraL,  Gesch. 
der  griech.  Litteratur  I  S.  337  ff. 

*)  Siehe  Conze,  Sitz.ber.  d.  Berl.  Akad. 
1884  n  S.  1259  ff.;  Dziatzko,  Sammlung 
bibliothekswissenschaftl.  Arbeiten  X  S.  38  f. 

•)  Siehe  Wilberg,  Oesterreich.  Jahres- 
hefte XI  S.  118  ff. 

')  Siehe  oben  S.  337  Anm.  4. 

8)  Siehe  Hülsen,  Rom.  Mitteü.  XVII 
S.  80  f.;  Neue  Jahrbb.  1904  S.  40  f.    Dazu 


Exemplare  der  Septuaginta,  die  angeblich   ;    Buchrolle  S.  244 ff.;  Archäol.  Jahrb.  XXIII 

noch   aus   des  zweiten  Ptolemaeus   Zeit  j   S.  121. 

stammten.  I  *)  September  1912. 

22* 


340  ^^s  antike  Buchwesen. 

Schränke  Zu  den  eigentlichen  Büchersälen  oder  Bücherkammern  kamen  für  die 

Benutzer  regelmäßig  ein  Wandelgang  {porticus)  sowie  auch  ein  eigent- 
hcher  Lesesaal,  endlich  Räume  für  die  zahlreiche  Dienerschaf 1 1)  hinzu. 
Die  Ausstattung  war  prunkvoll  und  eines  sakralen  Baues  würdig.  Die 
Fassade  des  Baues  in  Ephesus  ist  im  Aufriß  rekonstruiert.  Das  Innere 
zeigte  hier  einen  lichten  Saal  in  der  Höhe  zweier  Stockwerke,  so  daß  die 
drei  Fenster,  die  in  der  Höhe  des  zweiten  Stockwerks  standen,  ihr  Licht 
in  die  Tiefe  des  Saals  warfen.  Die  Nachrichten,  die  uns  die  Litteratur 
über  die  Einrichtung  der  Bibliotheken  gibt,  lassen  sich  hiermit  gut  ver- 
einigen. Auch  die  Kenntnis  der  Privatbibliothek  in  Herculaneum  kommt 
hierbei  zu  HiKe.  Das  Wichtigste  für  uns  ist  aber  nicht  der  äußere  Prunk, 
der  Statuenschmuck,  die  Bemalung,  2)  sondern  die  Art  der  Unterbringung 
der  Buchrollen  selber.  Sie  geschah  auf  Wandbörtern  (plutei),  die  in 
Fächer  (iiidi)  zerfielen,  und  in  Schränken  {armaria),  deren  Inneres  durch 
Börter  in  drei  oder  vier  Teile  zerlegt  war.  Diese  Schränke  standen  mitten 
in  der  Bücherkammer;  sie  Avurden  aber  auch  in  die  Wand  eingelassen. s) 
Das  armarium  heißt  griechisch  nvQyioxog. 

Ein  anderer  Ausdruck  für  nidi  ist  loculamenta.  Auch  foruli  bedeutet 
dasselbe.  Gestelle  heißen  pegmata,  der  Aufbau  dieser  pegmata  endlich 
nach  wahrscheinlicher  Lesung  bei  Cicero  ad  Att.  lY  5  structio',^)  Cicero 
ließ,  wie  er  in  diesem  Brief  mitteilt,  gleichzeitig  die  Bücherkammer,  den 
Aufbau  der  Büchergestelle  und  an  den  Büchern  die  Sittybi  malen  oder 
bunt  färben,  welche  Sittybi  das  einzige  sind,  was  von  der  Buchrolle,  wenn 
sie  im  nidus  liegt,  in  die  Augen  fällt.  Zum  fiidus  aber  verlohnt  es, 
Claudian  carm.  min.  19,  7  anzuführen,  wo  Claudian,  durch  eben  diesen 
Sprachgebrauch  angeregt,  seine  Gedichtexemplare  mit  Vögeln  vergleicht, 
die  sämtlich  aus  ihrem  nidus  ausgeflogen  sind,  so  daß  der  Dichter  für 
seinen  Freund  Gennadius  keine  Exemplare  mehr  übrig  hat.  Dies  verrät, 
daß  Claudian  sich  noch  der  PapyrusroUe  bediente  (s.  unten),  es  ven-ät 
aber,  wenn  ich  nicht  irre,  zugleich,  daß  der  Dichter  ähnlich  wie  ApoUi- 
naris  Sidonius  sein  eigener  Verleger  war,  d.  h.  den  Vertrieb  durch  eigene 
librarii  besorgen  ließ.^)  Hieronymus  ahmt  Epist.  47,  3  diese  Claudian- 
stelle  nach;  für  ilin  gilt  da  also  auch  dasselbe. 

Oruppie-  J)[q  meisten   litterarischen  Werke   zerfielen   in  mehrere  Bücher  oder 

Rollen  Rollen,  dio  Ilias  in  24  u.  s.  f.  In  jedem  nidus  und  in  jedem  Abteil  der 
Schränke  ließ  sich  die  Einheit  eines  solchen  Werkes  demnach  auf  das 
beste  sichern  und  verwirklichen,  indem  man  die  zusammengehörigen 
Rollen,  die  ein  einheitliches  Werk  ausmachten,  eben  in  solchem  „Nest" 
zusammenlegte.  Der  Kopf  der  Rollen,  mit  dem  bunten  Sittybos,  lag 
dabei,  wie  wir  es  bei  Cicero  sahen,  regelmäßig  nach  vorne,  und  so 
machten  Titel  und  Numerierung  für  den  Benutzer  die  Zusammengehörig- 

^)  Auch  ein  medicus  a  hyhliotlieeis  (ein  \  Schwarz,  De   ornamentis  librorum,   Dis- 
Arzt für  das  Personal?)  findet  sich;   Ihm  |  putat.  II. 
S.  527.  I  *)  Daß  hier  Uhliothecam  mihi  tui  pin- 

2)  Hierzu  Ehein.  Mus.  64  S.  469  f.  xerunt  cum  structione  et  sittyhis  (cum  struc- 

3)  Buchrolle   S.  245  f.;   J.W.  Clark,  |  tione  statt  constnwtione)  zu  lesen,  habeich 
The  care  of  books  S.  15  ff.     Eine   andere  j  Ehein.  Mus.  64  S.  469  f.  begründet. 
Abbildung   bei    dem    alten    Ohr.  Gottl.  j  ^)  Ueber  Selbstverlag  oben  S.  320  f. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  341 

keit  der  betreffenden  Bücher  sofort  kenntlich.  Am  besten  ^\drd  uns  dies 
durch  das  Relief  von  Neumagen  veranschaulicht  (Buchrolle  Abb.  159  und 
S.  339),  wennschon  wir  nicht  sicher  zu  entscheiden  vermögen,  ob  dies 
Bild,  das  die  Rollen  in  den  loculamenta  geordnet  und  außerdem  eine 
Rolle  aufgeschlagen  auf  einem  Pulte  (manuale)  zeigt,  uns  Einblick  in  ein 
Archiv  oder  in  eine  Bibliothek  gewährt. 

Daß  man  sehr  umfangreiche  Werke  gern  in  Dekaden  oder  Pentaden,  Dekaden, 
d.  h.  in  Gruppen  zu  je  zehn  oder  fünf  Rollen  ordnete  oder  schichtete, 
erklärt  sich  nun  auch  aus  dem  Gesagten.  Wie  die  zehn  Rollen  als  Pyra- 
mide aufgebaut  im  Schrank  lagen,  zeigt  uns  ein  Relief  (Buchrolle  S.  266 
und  Abb.  171).  Jeder  erinnert  sich  dabei  an  die  Dekaden  des  Livius.i) 
Man  wollte  mögHchst  gleichmäßige  Haufen  von  Rollen  haben.  Überdies 
A\Tirde  aber  auch  das  Herausfinden  eines  Einzelbuchs  durch  dies  System 
bedeutend  erleichtert.  Man  denke  sich  nur  den  Fall,  daß  der  Diener  aus 
den  142  Rollen  des  Livius  etwa  die  siebenundachtzigste  rasch  heraus- 
suchen sollte :  er  wandte  sich  sofort  zum  neunten  Haufen,  der  die  neunte 
Dekade  umfaßte,  und  hatte,  was  er  wollte. 

Von  drolliger  Anschaulichkeit  ist  einmal  Vitruv,  der  sein  Vorwort  schrank- 
zum  siebten  Buch  De  architectura  mit  folgender  Anekdote  ausgeschmückt  Aiexandna 
hat,  §  5 — 7.  Als  der  hochgelehrte  Aristophanes  von  Byzanz  noch  nicht 
Bibliothekar  war,  las  er  in  der  alexandrinischen  Bibliothek  täglich  „omnes 
libros  ex  ordine"  durch.  Er  folgte  also,  wie  ex  ordine  zeigt,  bei  dieser 
Lektüre  der  Reihenfolge  in  der  Aufstellung  der  Bücher,  die  gewiß  mit 
der  Anordnung  des  Katalogs  übereinstimmte.  Schon  bei  Xenophon  erschien 
uns  so  (oben  S.  336)  eine  Bibliothek  nach  den  Materien  geordnet.*)  Die 
Freiheit  in  der  Benutzung  der  BibHotheken  aber  scheint  im  Altertum 
überhaupt  sehr  groß  gewesen  zu  sein.  Dann  heißt  es  weiter,  daß  Aristo- 
phanes bei  einer  anderen  Gelegenheit  fretus  memoria  e  certis  armanis  in- 
finita  (!)  Volumina  eduxit.  Also  hatte  jene  berühmte  Bibliothek  vorwiegend 
Schranksystem.  Daß  die  Schränke,  armaria,  ebenso  wie  die  nidi,  numeriert 
waren,  ist  an  und  für  sich  wahrscheinlich.  Der  kluge  Mann  aber  wußte 
inzwischen  auch  ohne  Katalog  (fretus  memoria)  in  „bestimmten"  Schränken 
zu  finden,  was  er  suchte,  und  er  holte  „unendliche"  Rollen  aus  ihnen 
herv-or.  Hier  ist  nur  fraglich,  was  „unendhch",  infinita,  bedeuten  soll. 
Heißt  es  „zahllos"?  Aber  die  Rollen  konnten  nicht  zahllos  sein,  wenn 
sie  nur  in  einer  gewissen  Anzahl  von  Schränken  lagen.  Oder  heißt  in- 
finita  Volumina  Rollen  von  endloser  Länge?  oder  waren  es  „unfertige 
Schriften"?  Als  Aristophanes  sich  auf  diese  Weise  ausgezeichnet  hat, 
wird  er  dann  selbst  BibHothekar:  supra  bybliothecam  constitutus. 

15.  Neueditionen  und  Bücherverluste. 

Trotz  aUer  bibUothekarischen  Sorgfalt  gab  es  jedoch  schon  früh  Aus-    <^^~^^- 
fälle  und  Verluste,  zunächst  von  Werkteilen.     Ein  mehrbücheriges  Werk 
heißt  jiQayjuateia,  es  heißt  vom  Zusammenordnen  der  Rollen  auch  ovvtaiig, 

1)  Genaueres  Buchrolle  S.  265  ff.  '   blatt  f.  Bibliothekswesen  6  S.  494  ff.  Ver- 

2)  Zur   Anordnung    der    alexandrini-   j   mutungen, 
sehen  Bibliothek  gibt  Häberlin,  Central-   | 


342 


Das  antike  Buchwesen. 


Verlust 

einzelner 

Bücher 


ovvrayjua,  ein  Ausdruck,  der  unverkennbar  der  Militärsprache  entlelint  ist.i) 
Hesych  erklärt  ovvrayjua  als  ex  Xöycov  rdyjua,  auch  dies  militärisch ;  2)  und 
derselbe  Tropus  liegt  auch  im  lateinischen  corpus  lihrorum  vor,  was  das 
Gegenteil  einer  Körpereinheit  ist  und  den  Haufen  von  selbständigen  Eollen, 
die  nebeneinander  gelegt  ein  Werk  ausmachen,  bedeutet;  vgl.  corpus  mili- 
tum,^)  Es  ereignete  sich  aber  nur  zu  leicht,  daß  von  einem  solchen  Corpus  von 
15  oder  20  oder  100  RoUen  einzelne  oder  auch  ganze  Gruppen  versprengt 
^\airden  und  verloren  gingen.  Schon  Diodor  vermißte  von  Theopomp  die 
EoUen  VI,  YII,  XXIX,  XXX  (und  wohl  auch  XU).  Berühmter  ist  der 
Verlust  so  vieler  Dekaden  des  Livius.  Daß  Cornificius  der  Verfasser  der 
Rhetorik  ad  Herennium,  bleibt  eine  Annalime  höchster  Wahrscheinlich- 
keit; Quintilian  aber  fand  nur  das  vierte  Buch  dieses  Werkes,  das  auch 
das  wertvollste  war,  vor,  was  sich  aus  den  liier  besprochenen  Umständen 
sehr  natürlich  erklärt;  dies  besonders  umfangreiche  vierte  Buch  wurde 
dann  als  ein  Werk  für  sich  betrachtet  und  wieder  in  drei  bequeme  Bücher 
zerlegt,  was  nach  dem  S.  294  Ausgeführten  zu  beurteilen  ist.  Ganz  ebenso 
ging  es  mit  Sevius  Nicanor;  auch  von  seinen  commentarii  war  ein  großer 
Teil  untergegangen :  magna  pars  intercepta ;  *)  und  von  des  Origenes  Kom- 
mentar zu  den  Evangelien  sagt  Eusebius  liist.  eccl.  6,  24,  1 :  nur  zweiund- 
zwanzig TOjuoi  elg  ^juäg  jiegifjX^ov. 

Aber  auch  ganze  Schriftwerke  gerieten  in  Vergessenheit  und  ver- 
schwanden. War  ein  Werk  ausverkauft  und  bestand  weitere  rege  Nach- 
frage, so  wurde  es  allerdings  —  damals  wie  heut  —  neu  aufgelegt  und 
blieb  in  Kurs.  So  gab  es  schon  früh  eine  exdooig  devrega  der  Argolika 
des  Deinias.5)  So  beschäftigte  sich  Fronto  mit  einer  Neuausgabe  Ciceros 
(S.  190  Nab.) ;  so  wurden  zu  Frontos  Zeit  sogar  auch  noch  Varros  gelehrte 
Schriften  neu  ediert  (in  volgus  exeunt:  Gell.  19,14,3);  so  wurde  im  3.  Jahr- 
hundert der  Text  des  Tacitus  durch  den  gleichnamigen  Kaiser  erneut,  ß) 
Ebendahin  gehören  ja  schLießHch  auch  aUe  Neuausgaben  Homers,  daliin 
auch  die  sogenannten  'Arrixiavä  avclygacpa  der  griechischen  Prosaiker,  die 
textrezensierende  Tätigkeit  des  Valerius  Probus  und  die  aller  andern 
Philologen  des  Altertums. 

UnterbUeb  jedoch  solche  Neuauflage,  so  war  es  unausbleibHch,  daß 
die  Werke  rar  und  teuer  wurden')  —  daher  die  nalaia  und  nollov  a^ia 
ßißXia  bei  Lucian  58,  1  (vgl.  60,  30)  —  und  schließlich  nicht  mehr  auf- 
zutreiben waren.  Manche  Altlateiner  waren  schon  im  3.  Jahrhundert  n.  Chr. 
verschollen;  der  Beispiele  dafüi-  ließen  sich  viele  bringen. s) 

Es  gab  aber  noch  eine  andere  Art,  die  Schriftsteller  zu  retten:  das 
schoUenen  Exzcrpt  Und  die  Auslese,  wofür  ich  im  Abschnitt  über  Kritik  und  Her- 
meneutik (S.  34  f. ;  172)  Beispiele  zusammengestellt  habe.  Hier  sei  zunächst 
an  Theokrit  und  vor  allem    an   das  Epigramm  des  Artemidoros  erinnert. 


Neu- 
editionen 


Verlust 
ganzer 
Werke 


Rettung 
der  ver 


^)  Siehe  A.  Schümrick,  Observationes 
ad  rem  librariam  pertinentes  de  ovvxa^ig 
avvxayfia  Jigayf^arsia  vji6fxvr}fj,a  vocabulis,  Mar- 
burg 1909,  S.  21  f. 

2)  Ebenda  S.  44. 

3)  Buchwesen  S.  36  f.;  503;  Buchrolle 
8.264:267  f. 


*)  Sueton  de  gramm.  6. 

5)  Weiteres  s.  Buchwesen  S.  35, 1 ;  105 ; 
285;  356. 

6)  Buchrolle  S.  24  Anm. 

7)  Vgl.  Buchrolle  S.  31  f. 

8)  Buchwesen  S.  356  u.  82;  oben  S.  323. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoflfe.     B.  Litter  arisches.  343 

das  mit  der  Theokritüberliefemng  verknüpft  ist  und  der  Interpretation 
SchAvierigkeiten  bereitet.  Eingehender  habe  ich  es  schon  Buchrolle  S.267f. 
besprochen. 

Vorauszuschicken  ist  die  Frage,  wie  man  sich  die  erste  Edition  der  Bukoiika- 
neun  oder  zehn  echten  Nummern  der  Bukolika  des  Theokrit  zu  denken  hat.  "''^"'"'^''"^ 

Bei  Suidas  steht  das  Buch  Bovxohxd  des  Theokrit  als  ein  selbständiges 
in  sich  abgesclilossenes  Buch  für  sich.  Hat  nun  der  Dichter  die  Samm- 
lung dieser  ländlichen  Szenen,  die  just  eine  Buchrolle  füllte,  nicht  selbst 
hergestellt,  sondern  nur  die  einzelnen  Idyllien,  jedes  imter  besonderem 
Titel,  ausgegeben  und  es  anderen  überlassen,  etwa  erst  nach  seinem 
Tode  die  Stücke  in  ein  Buch  zu  sammeln?  Das  ist,  wie  ich  meine, 
angesichts  des  Verfahrens  anderer  Dichter  im  höchten  Grade  unwahr- 
scheinlich, i)  Vor  allem  sind  des  Moschos  und  des  Bion  Bovxohxd  zu 
vergleichen,  die  durchaus  nur  als  in  sich  gesclilossene  Bücher  auftreten. 
Auch  sind  die  Titel,  die  die  einzelnen  Idjllien  in  den  vorliegenden  Hand- 
schriften Theokrits  tragen,  von  zweifelhafter  Echtheit  (oben  S.  13;  154),  so 
daß  sie  ein  Separaterscheinen  der  IdyUien  keineswegs  garantieren  können; 
endlich  sind  diese  ländlichen  Gedichte  selbst  bei  aller  anmutigen  Ab- 
wechslung, die  sie  bieten,  doch  unter  sich  so  artgleich,  daß  wir  nicht  ver- 
kennen können:  sie  sind  füreinander  konzipiert  und  gedichtet  und  soUten 
grade  durch  ihr  Nebeneinanderstehen  wirken.  Ja,  daß  das  erste  planvoU 
vorangestellt  und  für  die  weiteren  präparativ  sei,  erkannten  schon  die 
antiken  Erklärer.  Das  Buch  Bovxohxd  war  also  gewiß  von  vorneherein 
als  Buch  gedacht.     Theokrit  muß  es  als  solches  ediert  haben,   wie  Calli- 

machus  seine  Hvmnen. 

t/ 

Um  so  sicherer  ist,  daß  jenes  Epigramm  des  Artemidor,  nach  dessen 
Aussage  verstreute  Hirtengedichte  jetzt  alle  gesammelt  sind: 

Bovxohxal  Möioac  OTiogaöeg  :ioxd,  vvv  <5'  äga  Jiäoai 
evtl  fuäg  /Mxvdgag,  evtl  fitäg  dysXag, 

nicht  auf  Theokrit  selbst  Bezug  hat.  Wäre  hier  speziell  Theokrit  gemeint, 
so  würde  er  auch  genannt  sein.  Es  kann  sich  hier  also  nm*  um  eine 
Zusammenstellung  sämtHcher  bukolischen  Dichter  handeln,  verstreute 
Eollen,  die  in  Gefahr  waren,  verloren  zu  gehen  und  jetzt  in  der  judvdga 
des  EoUenkastens  (s.  a.  a.  0.)  sicher  vereinigt  sind. 

Es  liegt  nahe,  hiermit  zu  vergleichen,   was  Vitruv  IV  1,  1    von  sich       zu- 
aussagt:    Vitruv  hat  die  Volumina   anderer  Autoren   über  Ai'chitektur  als  fasTiSgen 
particulas  errabundas  (vgl.  onoQddeg  noxd)   in  seinem    eigenen  Werk   wie  '^  Exzerpt 
in  einem  corpus  (sie)  gesammelt.    Aber  auch  Vegetius  äußert  sich  De  re 
militari  p.  13,11  f.  und  5,3  (ed.  Lang)   genau  ebenso   über  das  Verhältnis 
seines  kui^zen  Werks  zu  seinen  ausführlicheren  Quellen;    und  eine  dritte 


^)  Wenn  v.  Wilamowitz  sagt,  „im  |  Perzeption  des  einen  die  des  anderen  stört. 
Wesen  des  sidv^liov  liegt  die  Einzelpublika-  !  Aber  das  betraf  nur  den  Akt  der  Vorlesung, 
tion"  (Hermes  13  S.279),  so  teile  ich  diese  i  die  aus  den  Büchern  geschah.  Man  las  und 
Ansicht  nicht.  Mit  demselben  Kecht  könnte  i  genoß  gewiß  immer  jedes  Gedichtchen  ein- 
man  sagen:  zum  Wesen  des  Epigramms  \  zeln.  Gleichwohl  haben  die  griechischen 
gehört  die  Einzelpublikation.  Richtig  ist  :  Epigrammatiker  ihre  Epigramme  selbst  m 
nur,  daß  jedes  Epigramm  oder  Idyll  ge-  Büclier  gesammelt;  dasselbe  tat  auch  Theo- 
sondert betrachtet  sein  will  und  daß  die   \  krit  mit  seinen  Bukolika. 


344  ^^^  antike  Buchwesen. 

Analogie  gibt  Philostrat,  Apollon.  Tyan.  1,  3  mit  den  Worten:  iwrjyayov 
ravra  (nämlich  rd  ßißXia  diacpögcov)  dieojiaojueva.  Diese  Worte  sind  eine 
genaue  Umschreibung  dessen,  was  Artemidor  über  seine  E-ettung  der 
verstreuten  Bukolika  sagt:  auch  die  letzteren  waren  ßißXia  öia(pÖQa)vA) 

In  allen  diesen  Fällen  zeigt  sich  gleicherweise  das  Streben  antiker 
Bücherfreunde,  dem  Verschwinden  und  der  Zerstreuung  wertvoller  Bücher 
dadurch  vorzubeugen,  daß  diese  Männer  sämtliche  Werke,  die  einer  be- 
stimmten Gattung,  wie  der  Strategie,  der  Architektur,  der  Hirtenpoesie, 
angehören,  sammelten  und  ihren  Inhalt  zusammenfaßten.  Sie  wollten 
damit  das  geistige  Eigentum  vergangener  Zeiten  retten.  Nahm  diese  Zu- 
sammenfassung jedoch  den  Charakter  des  Auszugs  an,  so  wurden  die 
Originalwerke  selbst,  die  sie  auszogen,  grade  dadurch  vielfach  dem  Unter- 
gang geweiht. 
Verfall  der  Aber  uicht  nur  die  Einzelwerke  verschwanden;    auch   von  den  zahl- 

BibL-  reichen  und  zum  Teil  so  großartigen  antiken  Büchereien  selbst  mit  ihren 
theken  vielhunderttausend  Papyrusrollen  hat  sich  keine  einzige  bis  in  unsere  Zeit, 
ja,  auch  nur  bis  in  die  Zeit  Karls  des  Großen  erhalten.  Sie  sind  alle 
entweder  durch  Brandkatastrophen  oder  schnöde  Vernachlässigung  zu- 
grunde gegangen.  Für  das  4.  Jahrhundert  erhalten  wir  die  erschreckende 
Äußerung  des  Ammianus  Marcellinus  14,  6,  18,  die  gewiß  stark  übertreibt, 
aber  dabei  doch  bestimmte  Tatsachen  voraussetzt,  daß  in  gegenwärtiger  Zeit 
alles  sich  nur  für  Musikaufführungen  interessiere  und  die  BibHotheken 
wie  die  Gräber  für  immer  geschlossen  seien:  bibliothecis  sepulchrorum  ritu 
in  perpetuum  clausis.  Und  dies  bestätigt  das  Beamtenverzeichnis  der 
„Notitia  dignitatum"  vollauf;  denn  in  dieser  „Notitia"  fehlen  die  Biblio- 
theksprokuratoren ganz.  Es  gab  keine  mehr.  Die  Kaiser  hatten  sie 
kassiert,  schon  im  4.  Jahrhundert.  Es  gab  in  den  großen  Bibliotheken, 
die  bisher  der  Öffentlichkeit  dienten,  kein  Personal  mehr.  Sie  waren  ge- 
schlossen und  mochten  verfallen. 

Angesichts  dieses  Untergangs  des  HoUenbuchwesens  ist  es  endlich  an 
der  Zeit,  uns  noch  einmal  zur  Membrane  zurückzuwenden.  Denn  durch  sie, 
durch  die  Einführung  der  gehefteten  Membrane  ist  uns  ja  die  antike  Lit- 
teratur  in  Wirklichkeit  erhalten  worden.  Wir  handeln  schließlich  noch  vom 
Pergamentcodex,  einer  der  bedeutsamsten  Erfindungen  des  Altertums. 

16.  Das  Aufkommen  des  gehefteten  Pergamentbuchs. 

Auf-  Es  herrscht  noch  immer  die  Neigung,  die  Zeit  des  Aufkommens  des 

des  Perga-  Pcrgamentcodcx  zu  früh  anzusetzen.     Man  muß   die   litterarischen  Zeug- 

mentcodox  nigge  sorglich  wägen  und  auch  die  Bildwerke  zu  Eate  ziehen.     Für   das 

1.  Jahrhundert  n.  Chr.,   genauer  für  die  Jahre  70 — 79,   ist  die  Äußerung 

des   PHnius   nat.  bist.  13,  70   entscheidend,    der   erzählt,    Ptolemäus  habe 

dereinst   die  Ausfuhr   der   Charta   aus  Ägypten   verhindert,    darum   seien 


^)  Der  uns  erhaltene  Theokritnachlaß  |  und  Bion,  in  seiner  Capsa;  zweitens  sam- 
ist  sicher  nicht  mit  der  äßgocoig  Artemidors  ;  melte  er  nur  ßovxohxd,   und   alles  Nicht- 
identisch ;  denn  erstlich  vereinigte  Artemi-  bukolische,  das  uns  von  Theokrit  vorliegt, 
dor  „sämtliche"  bukolischen  Musen,  also  |  fehlte  bei  ihm. 
auch  die  vollständigen  EoUen  des  Moschos  | 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


345 


damals  die  memhranae  erfunden  worden,  und  fortfährt :  postea  promiscue  Piiniws- 
repatuit  usus  rei  qua  constat  inmortalitas  hominum.  Hier  hat  Schubart  '''"'^'''^ 
(S.  101)  das  promiscue  gar  nicht  verstanden,  wenn  er  es  mit  „wechselweise" 
übersetzt.  Das  Wort  heißt  „ allgemein ",i)  und  dieser  Satz,  der  von  der 
Charta  handelt,  besagt:  „hernach  wurde  der  Gebrauch  des  Gegenstandes 
wieder  allgemein  freigegeben,  eines  Gegenstandes,  auf  dem  die  un- 
vergängliche Erinnerung  der  Menschheit  und  ihrer  Geschichte 
beruht";  dieser  Gegenstand  ist,  wie  gesagt,  die  charta;  von  ihr  redet 
Plinius.  Von  ihr  allein  hing  also  noch  in  den  genannten  Jahren,  laut 
Plinius,  die  inmortalitas  hominum  ab. 

Die  von  Plinius  erwähnten  memhranae  aber  sind  natürlich  keine 
Codices ;  sie  sind  als  Pergamentrollen  zu  denken  (vgl.  oben  S.  282  f. ;  289). 

Es  folgen  die  memhranae  des  Neratius.    Wenn  Schubart  S.  106  urteilt,    Xeratius 
so,  memhranae,  könne  das  betreffende  Werk  dieses  Juristen  in  Wirklich- 
keit nicht  geheißen  haben,  übrigens  aber  setze  der  Titel  Codexform  voraus, 
so  ist  das  letztere  gänzKch  unerwiesen  und  beide  Bemerkungen  verfehlt; 
s.  Centralblatt  f.  Bibliothekswesen  17  S.  562  und  Buchrolle  S.  20  Anm.  3. 

Auf  den  Reliefs  und  sonstigen  Schildereien  der  griechisch-römischen  Bildwerke 
Kunst  w^erden  Bücher  massenhaft  abgebildet;  diese  Darstellungen,  wie 
ich  sie  in  der  „Buchrolle  in  der  Kunst"  gesammelt,  sind  die  anschau- 
lichsten Zeugen  und  ergänzen  das,  was  wir  sonst  wissen,  in  \deler  Be- 
ziehung erheblich;  das  Lesebuch  aber  erscheint  auf  ihnen  vom  6.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  bis  zum  Ende  des  4.  Jahrhunderts  n.  Chr.  stets  nur  als 
EoUe.  Neben  der  Eolle  erscheint  auf  ihnen  nur  die  Wachstafel,  die  überall 
als  solche  deutlich  genug  charakterisiert  ist,  aber  natürhch  mit  litterarischer 
Lektüre  nichts  zu  tun  hat.  Einen  Pergamentcodex  erkenne  ich  nur  ein- 
mal auf  der  athenischen  Grabstele  des  Timokrates  aus  dem  2. — 3.  Jahr- 
hundert n.  Chr.; 2)   doch  sieht  Brinkmann s)  auch  hierin  eine  Wachstafel. 

Gleichwohl  hat  sich  die  Buchform,  von  der  wir  jetzt  handeln,  in  ge- 
wissen Schichten  der  Bevölkerung  schon  etw^a  hundert  Jahre  vor  dem  ge- 
nannten Termin  des  4.  Jahrhunderts  n.  Chr.  allmählich  durchgesetzt.  Daß 
sie  bis  zu  dieser  Zeit  auf  Bildwerken  noch  gar  nicht  erscheint,  wird  den 
nicht  befremden,  der  erwägt,  daß  skulpierte  marmorne  Sarkophage  und 
verwandte  Monumente  nur  die  reichen  Familien  sich  herstellen  Heßen, 
der  Pergamentcodex  dagegen  von  Haus  aus  das  Lesebuch  der  ärmeren 
Bevölkerung  war. 

Er  taucht  zum  allererstenmal^)  im  Jahr  84/85  bei  Martial  14, 184—192    Zeugnis 
auf,  wo  aber  Martial  den  Ausdruck  codex  dafür  noch  nicht  zu  verwenden 
wagt;   denn  codex  bedeutete  Holz,   und  Holz  kann  nicht  aus  Leder  sein. 


*)  promiscuus  heißt  „gemeinschaftlich", 
aber  nie  „wechselweise".  Daraus  ent- 
wickelte sich  aher  die  angegebene  Bedeu- 
tung; vgl.  capere  cibum  promiscuum  „ganz 
gewöhnliche,  allgemein  übliche  Nahrung" ; 
so  Plinius  in  den  Briefen ;  promiscua  mer- 
cari  im  selben  Sinn  Tacitus  Germ.  5 ;  vgl. 
auch  Tac.  Annal.  16, 16.  Vor  allem  schreibt 
der  ältere  Plinius  selbst  21, 7 :  in  promiscuo 
um  esse ;  derselbe  5, 15  victum  promiscum, 


u.  ä.  m.  Kurz,  promiscuus  heißt  im  sUbemen 
Latein  soviel  wie  communis. 

2)  Siehe  Comptes  rendus  du  congr^s 
intern,  d'archeol.,  Athen  1905,  S.  192  f. ; 
Rhein.  Mus.  66  S.  147. 

«)  Rhein.  Mus.  66  S.  152,  wie  ich  glaube, 
mit  Unrecht. 

*)  Ueber  den  pergamentnen  Homer 
in  der  Nuß  oben  S.  282. 


346  ^^^  antike  Buchwesen. 

Augensclieinlich  war  die  Sache  damals  noch  ganz  neu;  denn  während 
Martial  über  die  Beschaffenheit  der  gleichzeitig  dort  erwähnten  Bücher 
auf  Papyrus  kein  Wort  verliert,  hält  er  für  nötig,  die  Pergamentbücher 
sorgHch  zu  beschreiben.  Er  nennt  sie  pugillares  membranei.  Weil  die 
Wachstafeln  in  der  Faust  ruhten,  hießen  sie  pugiUares;  diese  waren  also 
jetzt  in  Membrane  nachgeahmt,  an  die  Stelle  der  Wachsfläche  die  Perga- 
mentfläche getreten.     Martial  selbst  sagt  das  deuthch,  14,  7: 

Esse  puta  ceras,  licet  haec  membrana  vocetur. 
Delebis  quotiens  scripta  novare  voles. 

Ebendieselbe  Buchform  hat  dann  Martial,  wie  er  uns  I  2  mitteilt,  hernach 
auch  auf  seine  eigenen  Epigramme  übertragen. 

17.  Ober  Martial  I  2. 

Martial  12  Das  Epigramm  Martials  I  2  bedarf  der  Interpretation.    Zu  seinem  Ver- 

ständnis und  zur  Klarlegung  des  Sachverhalts,  der  uns  hier  beschäftigt, 
sei  es  mir  gestattet,  etwas  weiter  auszuholen.  Es  handelt  sich  zugleich 
um  das  Verständnis  der  Praefatio  des  ersten  Martialbuchs.i) 

Daß  Martial  seine  Bücher  gelegentlich,  nachdem  er  sie  ediert,  noch 
umgestaltete,  zeigt  sein  zehntes  Buch,  das  er  zweimal  herausgab,  und 
zwar,  wie  alle  seine  Sachen,  auf  charta  (s.  X  2, 11).  Aus  Buch  X  und  XI 
stellte  er  ferner  einen  Auszug,  und  zwar  mit  ganz  persönlicher  Adresse 
für  Kaiser  Nerva,  her.  2)  Es  war  das  eine  Auslese  der  besseren  oder 
dezenteren  Stücke,  die,  in  nur  einem  Exemplar  hergestellt,  augenschein- 
lich nicht  in  den  Buchhandel  kam  und  der  also  für  die  Textgeschichte 
des  Martial  schwerlich  mit  Recht  Bedeutung  beigemessen  wird. 

So   redet  nun   auch   das  Gedicht  I  2  von  einer   besonderen  Ausgabe 
irgendwelcher  Martialgedichte  unbestimmter  Anzahl  und  Abgrenzung,  die 
beträchthch  später  als  das  Buch  I  selbst  hergestellt  worden  ist. 
und  Eben  hierauf   hat  auch   die  Vorrede   zu  Buch  I  Bezuff.     Martial   hat 

Praefatio  I        .  .  ... 

seine  Bücher  nur  selten  mit  Prosavorreden  versehen.  Weil  er  dies  in 
seinem  zweiten  Buche  tut,  hält  er  es  für  nötig,  sich  dort  wegen  dieser 
Neuerung  ausdrückhch  zu  rechtfertigen,  s)  Schon  deshalb  ist  die  Prae- 
fatio zu  Buch  I  sicher  später  abgefaßt  als  die  zu  Buch  II.  In  der  Tat 
gehört  sie,  wie  ihr  Inhalt  zeigt,  gar  nicht  zu  dem  Buch,  das  sie  eröffnet. 
Ebenhierauf  führt  auch,  daß  die  übrigen  Praefationen,  die  bei  Martial  ein 
Einzelbuch  eröffnen,  einen  bestimmten  Adressaten  anreden,  was  in  der  zu 
Buch  I  nicht  der  Fall  ist. 

Aber  auch  mit  den  Gedichten  I  1  und  I  2  steht  es  ebenso.  Letzteres 
erwähnt  das  forum  Nervae  sive  Minervae,  ist  also  frühestens  unter  Nerva 
und  sicher  \del  später  als  Buch  I  geschrieben;  und  I  1  setzt  voraus,  daß 
Martial  schon  ein  berühmter  Dichter ;  auch  das  paßte  nicht  in  sein  erstes  Buch. 

^)  Unannehmbare  Aufstellungen,  die   ]   u.  217. 
auf  der  Kombination  mehrerer  Fehlinter-  ^)  Alles,  was  Immisch  a.  a.  0.  in  bezug 

pretationen  beruhen,  hat  O.  IisfMiscH,  Her-      hierauf    vermutet,    beruht   auf   seltsamen 


mes  46  S.  481  ff.  gemacht.  Ich  hoffe,  daß 
sie  durch  das  Obige  berichtigt  sind.  Vgl. 
auch  den  „Anhang  I". 

2)  Siehe  Friedländer,  Martial  S.  63 


Trugschlüssen.  Darauf  einzugehen  ist  an 
dieser  Stelle  unmöglich,  doch  findet  man 
im  „Anhang  I"  das  Grenauere. 


I 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  347 

Nun  redet  nicht  nur  das  Gedicht  12  in  v.  1  von  mehreren  libelli  die 
Martial  dem  Leser  jetzt  in  knapper  Fassung  vorlegen  will,  sondern  ebenso 
auch  II  V.  3,  und  auch  die  Praefatio  redet  von  lihelli  mei  im  Plural. 
Daraus  ergibt  sich,  daß  alle  diese  Stücke,  I  1  und  I  2  und  das  Prosa- 
vorwort, gleicherweise  nicht  das  Buch  I,  sondern  eine  Kollektion  von 
mehreren  libelli  oder  eine  solche  aus  mehreren  lihelli  einzuleiten  bestimmt 
waren.  Und  das  „erste"  Buch  des  Martial  hebt  also  in  WirkHchkeit  ohne 
alles  Vorwort  mit  der  Nummer  I  3  Argiletanas  mavis  habitare  tabernas  eqs. 
an  und  liegt  in  den  Nummern  3 — 118  vollständig  vor. 

Die  besprochene  Prosapraefatio  aber  geht  in  ihrem  Schlüsse  selbst  in 
Verse  über;  und  zwar  schließen  die  Gedichte  I  1  und  I  2  in  der  hand- 
schriftlichen Überlieferung!)  unmittelbar  an  den  Prosatext  an,  und  erst 
darauf  folgen  die  vier  choHambischen  Verse  an  den  gestrengen  Cato,  die 
die  Praefatio  abschließen  und  die  ich  als  3  a  bezeichne.  In  allen  Aus- 
gaben wird  das  umgestellt;  aber  es  fehlt  zu  solcher  Umstellung  an  hin- 
reichendem Anlaß.     Es  ist  also  überHefert: 

Spero  me  secutum  in  libellis  meis  tale  temper amentum,  ut  de  Ulis 
queri  non  possit  quisquis  de  se  bene  senserit,  cum  salva  infimarum  quoque 
personarum  reverentia  ludant;  quae  adeo  antiquis  auctoribus  defuit  ut  nomi- 
nibus  non  tantum  veris  abusi  sint,  sed  magnis.  Mihi  fama  vilius  constet  et 
probetur  in  me  novissimum  ingenium.  Absit  a  iocorum  nostroriim  simplicitate 
malignus  interpres  nee  epigrammata  mea  f  scribat.^)  Improbe  facit  qui  in 
alieno  libro  ingeniosus  est.  Lascivam  verborum  veritatem,  id  est  epigrammaton 
linguam  excusarem  si  meum  esset  exemplum;  sie  scribit  Catullus,  sie  Marsus, 
sie  Pedo,  sie  Gaetulicus,  sie  quicunque  perlegitur.  Si  quis  tamen  tam  ambitiöse 
tristis  est  ut  apud  illum  in  nulla  pagina  latine  loqui  fas  sit,  potest  epistola 
vel  potius  titulo  eontentus  esse.  Epigrammata  Ulis  scribuntur  qui 
solent  spectare  Florales.  Non  hitret  Cato  theatrum  meum  aut  si  in- 
traverit  spectet.  Videor  mihi  meo  iure  facturus  si  epistolam  versibus  clusero: 

I  1, 1  Hie  est  quem  legis  ille,  quem  requiris, 
Toto  notus  in  orhe  Martialis 
Argutis  epigrammaton  lihellis: 
Cui,  lector  studiose,  quod  dedisti 
5  Viventi  decus  atqiie  sentienti, 
Bari  post  cineres  habent  poetae. 
12,1  Qui  tecum  cupis  esse  meos  ubicunque  lihellos 
Et  comites  longae  quxieris  habere  viae, 
Hos  eme,  quos  artat  hrevihus  memhrana  täbellis. 
Scrinia  da  inagnis,  me  munus  una  capit. 
5  Ne  tamen  ignores  ubi  sim  venalis  et  erres 
TJrbe  vagus  tota,  me  duce  certus  eris: 
Libertum  docti  Lucensis  quaere  Secundum 
Limina  post  Pacis  Palladiumque  forum. 

1)  In  der  zweiten  Handschriftenklasse  1  exzerpte  und  kommt  hier  also  nicht  in 
(BA  bei  Lindsay)  fehlen  die  Gedichte  I  u.  II,   |    Betracht 


die  dritte  Klasse  (CA)  bietet  sie  so,  wie 
ich  es  oben  angegeben.  Durch  den  Aus- 
fall der  Stücke  in  BA  wird  die  Eeihen- 
folge  des  Textes  in  CA  durchaus  nicht 
verdächtigt.  Die  erste  Klasse  der  Hand- 
schriften   gibt    überhaupt    nur    Martial- 


2)  scribat  ist  sinnlos  und  Friedländers 
Erklärungsversuch  vergeblich.  Der  inter- 
pres kann  nur  der  sein,  der,  ein  malignus, 
für  die  Pseudonyme  Martials  die  wirklichen 
Namen  einsetzt,  resp.  über  die  Epigramme 
setzt.  Also  ist  m.  E.  inscribat  zu  lesen. 


348  ^^s  antike  Buchwesen. 

I  3  a,  1  Nosses  iocosae  didce  cum  saerum  Florae 
Festosque  lusus  et  licentiam  vulgi, 
Cur  in  theatrum,  Cato  severe,  venisti? 
An  ideo  tantum  veneras,  ut  exires? 

Der  Prosatext  schließt  also  mit  demselben  Gedanken  ab,  den  auch 
das  Gedicht  3  a  ausführt.  Dies  ist  der  Grund,  weshalb  die  Ausgaben  die 
Verse  3  a  im  Widerspruch  mit  der  Überlieferung  unmittelbar  auf  jenen 
folgen  lassen.  Das  ist  aber  verfehlt  und  die  Umstellung  eine  Entstellung. 
Denn  Martial  versteift  sich  durchaus  nicht  darauf,  ZAveimal  genau  dasselbe 
dicht  hintereinander  zu  sagen,  sondern  schiebt,  wo  das  vorkommt,  grade 
gern  ein  paar  andere  Stücke  dazwischen.  Hätte  die  Umstellung  recht,  so 
hätte  er  femer  auch  nicht  gesagt :  videor  mihi  meo  iure  facturus  si  epistolam 
versibus  clusero,  sondern:  si  id  quod  dixi  etiam  versibus  proposuero.  Martial 
ist  der  Prosa  überdrüssig  und  will  als  Dichter  „suo  iure"  das  Vorwort  nur 
mit  irgendwelchen  netten  Versen  abschließen,  und  diese  Verse  nennen 
nun,  wie  sich  gebührt,  zuerst  den  Verfasser  (I  1),  dann  den  Ort,  wo  die 
Buchkollektion  zu  kaufen  (I  2),  und  repetieren  dann  den  Gedanken  vom 
gestrengen  Cato,  der  die  sündigen  Spaße  der  Florales  sich  anhört. 

Daß  die  Verse  zuerst  den  Verfasser  nennen:  Hie  est  quem  legis  eqs., 
womit  durchaus  nicht  etwa  auf  ein  Porträt  Martials  hingewiesen  werden 
soll,i)  entspricht  genau  dem  Verfahren  des  Apulejus,  Metam.  I  1,  der, 
nachdem  er  vorausgeschickt  hat,  daß  er  milesische  Schlüpfrigkeiten  vor- 
tragen will,  sogleich  fortfährt:  quis  ille?  paucis  accipe,  um  dann  seine 
eigenen  Personalien  zu  geben.  Auch  Apulejus  denkt  nicht  entfernt  daran, 
daß  sein  Werk  mit  seinem  Porträtbild  eröffnet  werde.  Beide  Werkeröff- 
nungen sind  sich  genau  analog. 
Sammlung  Betreffs  der  hier  angekündigten  Kollektion  von  Epigrammen  ist  nun 

Gedichte  aber  erstUch  klar,  daß  sie  nur  lauter  Lüsternes  enthalten  haben  kann.  Sie 
Avar  also  mit  den  Martialsammlungen,  wie  sie  uns  in  Buch  I — XII  vor- 
liegen, keinesfalls  identisch.  Denn  das  Prosavorwort  beschäftigt  sich, 
genau  betrachtet,  ausschließlich  mit  diesem  Umstand.  Es  hebt  mit  der 
Zusicherung  an,  daß  der  Dichter  in  seinen  Versen  vorsichtig  ist  und  keine 
Personen  mit  wahren  Namen  nennt;  und  er  dringt  darauf,  daß  nicht  etwa 
ein  andrer  diese  wahren  Namen  einsetze.  Worin  aber  besteht  die  Be- 
denklichkeit der  Epigramme,  die  solche  Vorsicht  nötig  macht?  Das  Vor- 
wort gibt  nur  die  eine  Antwort:  in  ihrer  Laszivität.  Diese  Laszivität  aber, 
beteuert  Martial,  sei  sein  Hecht  als  Nachfolgers  des  Catull ;  und  darauf  folgt 
die  summarische  Mitteilung:  die  Epigramme,  die  er  jetzt  zusammenstellen 


)  Dies  die  durch   nichts  empfohlene   \   (S.489, 1),  das  Wort  j^a^rma  könne  bei  Mar 


Annahme  von  Immisch  S.  484.  Granz  un- 
möglich ist,  daß  das  titulo  in  der  Praefatio 
{potest  epistula  vel  potius  titulo  contentus 
esse)  auf  ein  Porträt  hinweisen  soll,  titulus 
heißt  nie  Titelblatt,  sondern  nur  „Ueber- 


tial  „natürlich"  auch  die  Seite  im  Codex- 
buch bedeuten.  Martial  spricht  nur  von 
tabellae  der  pugillares  membranei,  und  zwar 
dreimal,  12,3;  XW186,2;  192,1;  außer- 
dem  von  pelles   XIY  190,1;  184,2.     Wir 


Schrift",  resp.  titulus  ist  der  Zettel  (Sit-  j  müssen  die  Zeiten  sondern  und  dürfen 
tybus),  auf  dem  der  Titel  als  Lemma  i  einen  Sprachgebrauch  des  4.  oder  5.  Jahr- 
stand. Noch  weniger  kann  titulus  ein  mit  |  hunderts  nicht  gleich  auf  das  1.  Jahrhun- 
einem  Porträt  ausgestattetes  erstes  Buch-  i  dert  übertragen,  ^vo  bei  der  Neuheit  der 
blatt  bedeuten.  Durchaus  zweifelhaft  ist  ^  Sache  eine  Terminologie  sich  erst  bilden 
mir  auch  die  These  desselben  Gelehrten  mußte. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  349 

will,  gleichen  den  Spaßen  an  den  ludi  Florales,  d.  h.  sie  sind  hoch  obszön 
und  sie  sind  nur  obszön:  epigrammata  Ulis  scribuntur  qui  solent  spedare 
Florales;  d.  h.  „die  Epigramme  werden  von  mir  jetzt  nur  für  die  zu- 
sammengeschrieben, die  auf  Unanständigkeiten  Jagd  machen".  Auch  die 
Verse  3  a  kommen  deshalb  ausdrücklich  nochmals  auf  diese  ludi  Florales 
zurück.  Die  Obszönität  ist  das  Charakteristicum  der  hier  angekündigten 
Gedichtsammlung  gewesen. 

Die  Worte  der  Praefatio:  cum  salva  infimarum  quoque  personarum 
reverentia  liidant  (sc.  Hbelli  mei)  führen  sogar  zu  der  Annahme,  daß  in  ihr 
kein  einziger  wahrer  Eigenname  vorkam;  selbst  die  untergeordnetsten 
Personen  waren  in  ihr  mit  Pseudonym  benannt.  Auch  diese  Durchführung 
der  Pseudonymität  stimmt  mit  keinem  der  erhaltenen  Martialbücher  überein. 

Dazu  kommt  nun  noch  folgende  Wahrnehmung,  und  sie  ist  das  Wich-  ""'^  ^"^'^^ 
tigste  und  Entscheidendste.    Die  Kollektion,  von  der  hier  die  Eede  ist,  war   aus  den 
gar  keine  Zusammenstellung  vollständiger  Bücher,  wie  man  gewöhnlich  an-  np^gn^ien 
ninunt,  sondern  nur  eine  Auslese.    Alles  Freche  war  darin  aus  sämthchen   Bdchem 
Mai-tialbüchem  ausgelesen.    Das  beweist  das  Verbum  artare  12  v.  3,  das 
ganz  speziell  „verkürzen,  ausziehen"  bedeutet.  In  diesem  Sinn  gebraucht  es 
Martial  auch  12,5,2;  im  selben  Sinn  schreibt  Plinius  epist.  1,20, 8  coartare 
in  librum.    Vor  allem  aber  ist  das  Martialgedicht  14,  190  zu  vergleichen, 
das  klärlich  zu  dem  Gedicht  I  2  als  Vorbild  gedient  hat.    14,  190  lautet: 
Pellibus  exiguis  artatur  Livius  ingens. 
Quem  mea  non  totum  bibliotheca  capit. 

Wie  man  sieht,  kehrt  hier  nicht  nur  das  artare  wieder,  sondern  das  j)^^- 
libus  exiguis  entspricht  auch  sachlich  genau  den  hrevibus  tabellis,  von  denen 
wir  I  2,  3  lesen.  Das  artatur  Livius  bedeutet  „Livius  wird  exzerpiert" ; 
und  daß  Martial  in  dem  Epigramm  14,  190  nur  an  eine  Liviusepitome 
denkt,  bezweifelt  niemand,  i)  Also  steht  es  mit  der  I  2  geschilderten 
Martialkollektion  ebenso.  Denn  es  ist  nicht  gestattet,  die  eine  Stelle 
anders  als  die  andere  zu  interpretieren. 

In  I  2  spricht  das  Buch  selbst;  denn  das  me  in  7ne  manus  una  capit,  im  kleinen 

'  1  1  Tir        •    1    1  •  •  Codex 

V.  4,  kann  nur  auf  den  Membrancodex  selbst  gehen,  den  Martial  hier  ein- 
führt; und  7neos  libeUos  im  v.  1  heißt:  „die  Bücher,  die  ich  enthalte".  Der 
Codex  selbst  sagt  also  im  v.  3 :  „kaufe  diese  Büchlein,  die  das  Pergament 
auf  kleinen  Blättern  im  Exzerpt  enthält":  quos  artat  membrana  hrevibus 
tabelhs.  Zu  magnis  aber  im  v.  4  kann  nicht  etwa  tabellis  ergänzt  werden, 
denn  das  Wort  steht  unverkennbar  zum  folgenden  me  in  Gegensatz ;  wir 
müssen  also  zu  magnis  vielmehr  operibus  ergänzen.  „Eollenkästen  {scriniä) 
überlaß  den  umfangreichen  Werken"  sagt  Martial  im  v.  4.  Er  betont 
also  auch  hier  wie  im  Epigramm  14, 190  ganz  ausdrücklich  die  Kleinheit 
des  verwendeten  Pergamentcodex,  der  demnach  auch  nicht  viel  Text  um- 
fassen konnte.  Daher  ist  dieser  Codex  endlich  speziell  für  Reisezwecke 
geeignet;  denn  er  ist  klein  und  zugleich  dauerhaft  und  kann  einen  Stoß 
vertragen.  Dies  besagt  v.  2.  Auch  heutzutage  ist  die  an  den  Bahnhöfen 
ausgebotene  Reiselektüre  nicht  die  zahmste.  Für  den  Reisenden  sind  von 
Martial  alle  Frivolitäten  in  diesen  Codex  zusammengetragen  worden. 

1)  Vgl.  WöLFFLiN,  Archiv  f.  Lexik.  14  S.  222;  Buchrolle  S.  32. 


350  ^^^  antike  Buchwesen. 

Das  me  manus  una  capit  im  v.  4  ist  aber  ferner  in  Hinblick  auf  die 

vielen  Papyrusrollen  gesagt,  in  denen  sich  des  Martial  Gedichte  sonst  zu 

befinden  pflegen.     Diese   vielen  E-ollen,   ob   fünf,   ob   zehn,   kann   eine 

Hand  nicht  zugleich  umfassen;  den  Codex  hält  eine  Hand.    Aus  wie  vielen 

Martialbüchern  enthielt  er  nun  Exzerpte?     Aus  allen  denen,   die  bis  zur 

Zeit  Nervas,  bis  zur  Zeit  der  Vollendung  des  forum  Minervae  (I  2,  8),  also 

bis  zum  Jahre  98  erschienen  waren. 

Eine  Durch   das  Obige  ist   nun,    wie   ich   denke,    die  auch   sonst  gänzHch 

bücher-    haltloso  Hypotheso  abgetan,    daß   das  Gedicht  I  2   auf   eine   vollständige 

un^^f^sen  Sammlung  von  sieben  Martialbüchern,  Buch  I — VH,  Bezug  habe. 

Seine  Bücher  hat  Martial  nicht  als  einzelne  opera,  sondern  als  zu- 
sammenhängende Serie,  als  ein  einheitHches  Opus,  das  in  Bücher  zerfällt, 
aufgefaßt;  allmählich  kommt  dies  Opus  durch  jährliche  "Weiterdichtung 
zustande.  Daher  bhckt  er  YH  11  auf  alle  bisherigen  Rollen,  ohne  zu 
sagen,  wieviel  es  sind,  zurück,  als  wären  sie  eine  Einheit,  und  dem  Julius 
MartiaUs  schenkt  er  VII  17  seine  bisherigen  „sieben"  Bücher,  die,  wie  er 
sagt,  zusammen  in  einem  nidus  untergebracht  werden  sollen  (v.  5),  also 
sicher  Hollen  sind.  Er  schenkt  diesem  Mann  nur  deshalb  nicht  acht 
E/oUen,  weil  er  bisher  nur  sieben  fertig  hat.  Daraus  folgt  doch  nicht,  daß 
es  eine  Separatausgabe  von  sieben  Büchern  müsse  gegeben  haben.  Weiter 
steht  VIII  3:  „Fünf  Bücher  genügten,  o  Muse.  Mein  sechstes  und  siebtes 
Buch  waren  schon  zu  viel.  Warum  diktierst  du  mir  ein  achtes?"  Auch 
diese  Worte  besagen  durchaus  nicht,  daß  Buch  I — VH  etwa  eine  Samm- 
lung für  sich  bildeten.  Viel  eher  müßte  man  aus  ihnen  schließen,  daß 
Buch  I — V  zunächst  als  abgeschlossene  Sammlung  für  sich  standen,  daß 
Martial  dann  noch  überflüssigerweise  Buch  VI  und  VII  hinzudichtete  und 
nun  noch  weiter  fortfährt.  Aber  auch  das  wäre  eine  absolut  müßige  An- 
nahme. Die  Zahl  qiiinque  war  ja  überhaupt  eine  Pauschzahl,  i)  insbeson- 
dere aber  im  Buchwesen  war  sie  typisch,  weil  man  die  BücherroUen  gern 
nach  Pentaden  disponierte  (oben  S.  341). 

Endlich  braucht  Martial  in  der  Praefatio  zum  Buch  VIH  von  allen 
seinen  bisher  erschienenen  Büchern  den  Ausdruck  opus  nostrum  (operis 
nostri  odavus  inscribitur).  Er  schrieb  also  an  dem  mehrbücherigen  „Opus" 
seiner  Epigramme  in  der  Weise,  daß  er  jedes  Buch  desselben,  sobald  es 
fertig,  gleich  publizierte,  wie  auch  z.  B.  ColumeUa  De  re  rustica  jedes 
Buch,  sobald  er  es  fertig  hatte,  herausgab,  unbekümmert  darum,  daß  das 
Ganze  doch  ein  einheitliches  Opus  Avar. 

Dann  aber  hat  Martial,  wie  wir  aus  I  2  entnehmen  —  und  liiermit 
kommen  wir  zum  Abschluß  dieser  Ausführungen  — ,  nach  dem  Jahr  98 
eine  Auslese  von  Epigrammen  in  Codexform  zusammengestellt,  in  der  die 
frecheren  Stücke  aus  allen  bisher  vollendeten  Büchern  enthalten  waren; 
und  dieser  Auszug  sollte,  vde  der  pergamentene  Cicero,  den  er  14,  188 
beschreibt,  speziell  zur  Reiselektüre  dienen. 
^^Codex^^  Solche    Codices   waren   damals    etwas  Neues;   Plinius   in   der  Natur- 

geschichte, in  den  Jahren  70 — 79,  weiß  noch  nichts  von  ihnen.    Und  sie 


1)  Siehe  H.  Hollstein,   De   Properti   1   Herondas  1, 10 ;  Juvenal  1, 105  und  Fried- 
monobiblo,  1912,  S.  73  f.    Vgl.  dazu  auch   |   Länder  zu  Juvenal  11,  206. 


% 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  351 

waren  nun  auch  gleich  kauf Hch ;  sie  lagen  gleich  auch  im  Buchladen  aus. 
Aber  nicht  jeder  Buclihändler  führte  die  neue  AVare.  Martial  gibt  I  2,  7 
die  Adresse  des  Händlers  Seeundus  genau  an,  bei  dem  allein  sie  zu 
haben  sind. 

So  viel  über  das  Problem  des  Martialcodex,  bei  dem  ich  so  ausführlich  Codifizie- 
verweilt,  weil  es  galt,  falsche  Vorstellungen  abzuwehren,  die  sich  an  das  "tilfs  im 
Martialgedicht  I  2  geknüpft  haben  und  die  zu  unmöglichen  Konsequenzen  ^-  ^^^'' 
führten.  Eine  Frage  aber  bleibt  noch  übrig.  Wie  sind  die  Gedichte  I  1, 
I  2  und  I  3a  nebst  der  Praefatio  I,  deren  Teil  sie  waren,  an  den  Anfang 
des  ersten  Martialbuchs,  mit  dem  sie  doch  nichts  zu  schaffen  hatten,  ge- 
kommen? Wir  antworten:  als  im  5.  Jahrhundert  die  Codexform  über  das 
Rollenbuchwesen  endgültig  siegte  und  man  es  unternahm,  alle  Bücher 
des  Martial  vollständig  in  die  Buchform  des  Codex  zu  übertragen,  da 
griff  man  zu  dem  kleinen  Martialcodex  selbst,  der  uns  im  Gedicht  I  2 
erwähnt  wird,  behielt  dessen  einführende  Stücke  (II,  12  und  I  3a  mit 
Praefatio)  bei,  ließ  dann  aber  nicht  die  kargen  Exzerpte,  die  er  enthielt, 
sondern  vielmehr  den  vollen  Inhalt  der  MartialroUen  I — XII,  sowie  XIII 
und  XIY  folgen,  die  es  zu  konservieren  galt  und  neben  denen  jene  Ex- 
zerpte, weil  überflüssig,  für  immer  verschwunden  sind.  Die  weitere 
Folge  aber  war,  daß  die  Stücke  Praefatio  I,  carm.  1 1,  12  und  I3a  mit 
dem  Buch  I,  vor  dem  sie  standen,  für  immer  zu  einer  Einheit  ver- 
wachsen sind. 


Martial 
14, 184—192 


18.  Der  Codex  das  Buch  der  Ärmeren. 

Martial  disponiert  die  Satumaliengeschenke  seines  14.  Buches,  wie  ich 
„Buchwesen"  S.  71  ff.  dargelegt,  in  wechselnder  Folge  nach  reich  und 
arm.  Diese  Reihenfolge  ist  in  den  Handschriften  Martials  fast  überall 
treu  gewahrt;  sie  lehrt  aber,  daß  die  dortselbst  14,  184 — 192  erwähnten 
Pergamentbücher  die  Geschenke  des  Ärmeren,  die  Chartabücher  die  des 
Reicheren  sind. 

Ich  habe  dies  a.  a.  0.  als  überlieferte  Tatsache  aufgedeckt  und.  zu  er- 
klären versucht  und  späterhin  meine  Argumente,  die  zur  Erklärung  des 
ÜberHeferten  dienen,  wie  ich  glaube,  nicht  unerhebhch  verstärkt.  Trotz- 
dem verstummen  dagegen  die  Zweifel  nicht,  und  es  gibt  immer  noch 
solche,  die  nicht  glauben  wollen,  daß  ein  Gvid-Metamorphosencodex,  der 
obendrein  mutmaßlich  nur  ein  Compendium  gab,«)  damals  billiger  gewesen 
sein  soll  als  ein  Sallust  in  Papyrusrollen.  Daher  stellte  Friedländer  die 
betreffenden  Epigramme  fröhlich  um,  verfälschte  also  das  einzige  Zeugnis, 
das  wir  zunächst  in  dieser  Frage  besitzen,  und  man  stellt  nun  die  An- 
sicht, die  ich  vertrete,  zu  Friedländer  in  Gegensatz,  als  ob  Friedländer 
und  ich  zwei  gleichartige  Autoritäten  wären,  zwischen  denen  man  wählen 
könne.  0  Das  ist  aber  eine  Verdrehung  der  Sachlage.  Ich  für  meine 
Person  lehre  liier  nichts,  sondern  die  Martialhandschriften  lehren.  Fried- 
länder steht  also  gegen  die  Martialhandschriften. 

Dafür,  daß  das  Pergament  in  der  Kaiserzeit  etwa  teurer  als  die  Charta,  ^.^^^[^*;^.^ 
war  oder  überhaupt  als  etwas  Wertvolles  galt,  ist  aus  den  alten  Autoren  de8  Codex 

und  der 

.)Gardthaü8ekS.98.  |  •)  Vgl.  .Anhang  II-.  C'-""™»° 


352  ^^s  antike  Buchwesen. 

noch  keine  einzige  Belegstelle  beigebracht  worden.  Ein  bloßes  Gutdünken 
soll  also  genügen,  um  die  gute  Überlieferung  umzuwerfen. 

Was  ich  zur  weiteren  Rechtfertigung  dieser  Überlieferung  „Buchrolle" 
S.  26  f.  und  31  ff.  eingehender  ausgeführt  habe,  brauche  ich  hier  nicht  in 
extenso  zu  wiederholen.  Niemand  hat  es  widerlegt.  Daß  die  Charta  etwas 
Kostbares,  ergab  sich  uns  schon  oben  S.  278 ff.;  323 ff.  Daher  betont  Martial 
auch  14, 10,  daß  ein  leerer  xdgrrjg  kein  geringes  Geschenk  sei :  munera  non 
pusilla.  Vor  allem  war  für  die  Chartabereitung  selbst  und  insbesondere  für 
das  Loslösen  der  inae  aus  den  Stengeln  des  Schilfes  ein  zahlreiches  Arbeiter- 
personal nötig,  und  ein  solches,  das  die  feinste,  subtilste  Arbeit  ohne  Er- 
müdung zu  leisten  imstande  war  (oben  S.  266  ff.).  Das  setzt  ein  gewaltiges 
Betriebskapital  voraus.  Die  Herstellung  des  Pergaments  erforderte  keines- 
falls denselben  Aufwand.  Dazu  kommt  aber  noch,  daß  die  Chartafabriken 
sich  ja  nicht  in  aller  Welt,  sondern  ausschließlich  nur  im  Nildelta  be- 
fanden. Das  kleine  Nildelta  hatte  also  nicht  nur  Ägypten,  sondern  Klein- 
asien, Syrien  und  halb  Europa,  Griechenland,  Rom  und  ganz  Italien, 
bald  auch  Gallien,  Nordafrika,  Spanien  allein  mit  dem  alltäglich  gebrauchten 
Schreibmaterial  zu  versorgen.  Man  denke,  daß  ein  paar  Städte  an  den 
Rheinmündungen,  Gent,  Antwerpen,  Brügge,  heute  allein  für  ganz  Deutsch- 
land, England,  Frankreich,  Italien,  Rußland  das  nötige  Papier  liefern  und 
herstellen  sollten  aus  einem  Material,  das  nur  an  den  Rheinmündungen 
wüchse.  Ich  wollte  sehen,  ob  da  solches  Papier  nicht  sehr  kostbar  würde 
und  ob  nicht  viele  vorziehen  würden,  wieder  zum  ungefügen  Tierfell  zu 
greifen,  mit  dem  sich  das  Mittelalter  begnügen  mußte,  i)  In  Wirklichkeit 
steht  heute  die  Sache  so,  wie  ich  einer  Notiz  in  der  Leipziger  illustrierten 
Zeitung  (1885,  7.  März,  Nr.  2175  S.  241)  entnehme,  daß  um  das  Jahr  1885 
auf  der  Erde  3985  Papierfabriken  arbeiteten  (dagegen  im  Nildelta  zur 
Zeit  des  Plinius  vielleicht  nur  etwa  ein  Dutzend);  jährlich  werden,  nach 
derselben  Notiz,  in  modernen  Zeiten  952  Millionen  Kilogramm  Papier 
erzeugt,  für  jeden  Tag  also  822000  Kilogramm.  Was  sind  dagegen  die 
Papyrusfunde  aus  dem  Faijüm,  aus  den  Kehrichthaufen  und  Mumien- 
kartonagen  von  Oxyrhynchos,  Tebtunis,  Hibeh  u.  s.  f.,  deren  Masse,  seien 
es  selbst  eine  halbe  Million,*)  sich  auf  viele  Jahrhunderte  verteilt?  Ein 
Sandkorn  gegen  eine  Wüste. 

Daß  auch  das  Tierfell  im  Handel  seinen  Wert  hat,  entgeht  mir  durch- 
aus nicht;  denn  man  braucht  kein  Schuster  von  Beruf  zu  sein,  um  das 
Leder  zu  respektieren.  Der  große  merkantile  Vorteil  der  Membrane  bestand 
aber,  von  allem  bisher  Erwogenen  abgesehen,  auch  noch  darin,  daß  man 
sie  so  gut  wie  nie  zu  erneuern  brauchte ;  sie  zerriß  nicht.  Eine  häufig  ge- 
lesene PapyrusroUe  war  dagegen  unglaublich  rasch  zerlesen;  sie  zerfiel  nur 
zu  schnell.  Daher  Avaren  rd  TzaXaid  ßißUa,  rä  aQxcua  so  überaus  wertvoll; 
es  war  schon  ein  Wunder,  wenn  sie  eine  Generation  überdauert  hatten. 
Wert-  Auch  bei  den  Wertbestimmungen,  die  Martial  in  seinem  14.  Buche  gibt, 

bei  Martial  wirkt  die  Rücksiclit  auf  die  Generationen,  denen  der  Autor  angehört,  ent- 
scheidend mit.     Das  zeigen  die  beiden  Epigramme  14,  193  und  194,    wo 

»)  Nach  Buchrolle  S.  27.  1   publiziert ;s.Mitteis-WilckenI1S.XXIII. 

')  Gegen  10000  Papyri  sind  bis  jetzt   | 


im 
der 


f 


II,  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  353 

Tibull  wertvoller  als  Lucan  erscheint.    Beide  Dichter  stehen  da  in  Papyrus- 
rollen.   Tibull  ist  wertvoller  nur,  weil  er  älter  ist. 

Übrigens  sind  dort,  14,  183  ff.  die  Geschenke  des  Reicheren  die  fol- 
genden: Homers  Batrachomachie ,  Vergils  Culex,  Mevdvdgov  ßak,  die 
Monobiblos  des  Properz;  sie  stehen  alle  auf  Charta,  und  das  waren  gewiß 
nicht  etwa  erst  neu  hergestellte  Exemplare.  Vielmehr  spricht  alles  dafür, 
daß  dies  im  Buchhandel  selten  gewordene  Sachen  waren,  worüber  das 
Nähere  „Buchrolle"  S.  31  f.  Folgendes  sind  dagegen  die  Geschenke  des 
Ärmeren,  und  sie  stehen  alle  in  Pergamentcodices :  Homer,  Vergils  Aeneis, 
eine  Cicerorede,  eine  Liviusepitome,  Ovids  Metamorphosen.  Diese  Perga- 
mentcodices  aber  waren  damals  zweifellos  etwas  Neues  (s.  oben  S.  345). 

Was  ist  nun  der  erste  Anlaß  zur  Herstellung  dieser  Codices  gewesen?  ^!"^^'' ' 
Martial  verrät  uns  auch  das.i)  Alle  soeben  aufgezählten  Autoren,  die  im  Knaben- 
Codex  standen,  waren,  wie  jeder  sieht,  Schulautoren.  Es  sind  nur  ""''umdeT 
solche,  die  auf  den  Knaben-  und  Rhetorenschulen  gelesen  wurden.  Bücher 
für  Knaben  und  Studenten  müssen  aber  durabel  sein;  denn  man  weiß, 
Avie  in  Schülerhänden  solch  ein  Exemplar  schon  nach  einem  Halbjahr 
zugerichtet  ist.  Der  Schulzweck  ist  es  also  gewesen,  der  zur  Er- 
findung des  dauerhaften,  gehefteten  Pergamentcodex  geführt 
hat.    Keine  Eleganz  haftete  ihm  an,  sondern  die  banausische  NützHchkeit. 

Aber  ein  zweiter  praktischer  Zweck  stand  von  vorneherein  daneben:  !^^ 
Das  Codexbuch  sollte  auch  den  Eeisenden  dienen.  Es  gibt  ReHefs,  die 
uns  zeigen,  wie  der  Reisende,  um  sich  auf  der  langen  Fahrt  nicht  zu 
langweilen,  im  engen  Wagen  in  einer  Rolle  liest  (Buchrolle  S.  32  u.  132). 
Die  Rolle  wurde  dabei  aber  nur  zu  leicht  ramponiert;  denn  ein  antiker 
Wagen  hatte  keine  Federn;  der  Wagen  stieß;  bei  der  stoßenden  Be- 
wegung und  Erschütterang  schabte  sich  die  Rolle  zu  oft  am  Kleide,  was 
man  sonst  streng  vermied  (oben  S.  304;  Martial  14,  84).  Daher  soll  nach 
Martials  Vorschrift  die  Cicerorede  (14,  188),  daher  soU  auch  die  pikante 
Martialauslese  selbst  (12;  s.  oben  S.  349)  nicht  als  Rolle,  sondern  im  festen 
Codexbuch  zur  Reiselektüre  dienen. 

Daß  endlich  der  Homer,  der  Vergil  und  Ovids  Metamorphosen  voll- 
ständige Exemplare  waren,  brauchen  wir  durchaus  nicht  anzunehmen. 
Das  Gegenteil  wird  durch  die  Beobachtung  erzwungen,  daß  alle  diese 
pugiUares  nur  klein  w^aren  (s.  S.  359).  Da  der  14,  190  erwähnte  Codex 
den  Livius  jedenfalls  nur  im  knappen  Exzerpt  enthielt,  so  kann  das  von 
den  übrigen,  die  ich  nannte,  ganz  ebenso  gelten.  Die  Ilias  latina  und 
tabulae  Iliacae  zeigen  uns  ja,  wie  man  tatsächhch  zu  Schulzwecken  den 
Homertext  gewaltig  verkürzte  (oben  S.  212).  Vor  aUem  verrät  14, 186  der 
Wortlaut  deutlich,  daß  Martial  von  der  Aeneis  nur  ein  enges  Compendium 
vor  sich  hatte;  Genaueres  hierüber  im  „Anhang  II".  Man  memorierte  den 
Inhalt  dieser  Werke  mit  Hilfe  von  Compendien.  Das  Staunen,  das 
Martial  in  diesen  Epigrammen  darüber  ausspricht,  daß  ein  so  umfangreicher 


^)  Von  den  pugiUares  membranei  bei 
Martial  14,  7  (oben  S.  346)  sehe  ich  hier 
natürlich  ab,  da  es  sich  dort  um  un- 
beschriebenes   Pergament    handelt,    eine 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl.  23 


Nachahmung  der  cerae  in  Membrane,  die 
nicht  etwa  Briefzwecken  (s.  oben  S.  286  f.), 
sondern  dem  Brouillon  dienen  sollte. 


354  ^^^  antike  Buchwesen. 

Autor  von  der  „kleinen"  Membrane  zusammengefaßt  wird,  betrifft  dem- 
nach nicht  eine  größere  Aufnahmefähigkeit  dieser  Buchform,  sondern  die 
Abkürzung  des  Textes  im  Dienst  der  Schule. 

SeinFehien  Pauporis  sortcs  i  die  geheftete  Membrane  war  das  Buch  der  ärmeren 

Monu-  Klassen,  das  bestätigt  uns  nun  auch  noch  die  weitere  Folgezeit,  und  zu- 
menten  j^ächst  die  Bildwerke.  Wir  sahen  schon  S.  345,  daß  auf  den  Marmormonu- 
menten, die  uns  nur  reichere  Leute  im  Abbild  zeigen,  dieser  Codex  die 
Papyrusrolle  nirgends  aus  der  Hand  des  Porträtierten  verdrängt.  Er  fehlt  da 
überall;  die  Monumente  aber  archaisieren  nur  ganz  selten  und  ausnahms- 
weise; sie  zeigen  uns  das  Leben,  wie  es  tatsächlich  war.  Aber  auch 
und  bei  Lucian  ergibt  einen  zwingenden  Schluß  ex  silentio.  Er  schildert  in  der 
Schrift  Adv.  indoctum  die  Bibliothek  des  reichen  Bibliomanen  und  gibt 
dabei  die  geringfügigsten  Details.  Aber  da  erscheint  in  der  Bibliothek 
ausschließhch  nur  die  Papyrusrolle,  die  zu  konservieren  die  ängstliche 
Sorge  des  Besitzers  ist.  Wäre  der  Codex  damals  wirklich,  wie  man  sich 
einbildet,  Sache  des  Luxus  gewesen,  hätte  er  der  Charta  wirklich  an  Wert 
vorangestanden,  so  hätte  dieser  Bücherrenommist  doch  auch  solche  kost- 
baren Codices  in  seiner  Bibliothek  haben  müssen.  Denn  der  Codex  war 
damals,  im  2.  Jahrhundert,  schon  durchaus  in  Aufnahme.  Es  nützt  nichts, 
diese  Tatsache  totzuschweigen.  Wäre  der  Codex  Sache  des  Reichen  ge- 
wesen, so  müßten  wir  ihn  hier  bei  Lucian  antreffen.  Also  hat  das  Gegen- 
teil zu  gelten. 

Buch  rolle  Suchcu  wir   wcitor  und  gehen  von  Ulpians  Zeit  aus,    so   findet  sich 

"bei  den'^  ^or  „Codex"  im  3.  Jahrhundert,  nicht  bei  dem  Dichter  Commodian,  von 
Christen  ^qj^  ^vir  jotzt  wisscu,  daß  er  erst  in  das  5.  Jahrhundert  gehört,  i)  aber 
doch  in  der  Hand  des  jüngeren  Maximin,  der  damals  den  Homer  auf 
Pergament  las,  2)  Besonders  deutlich  aber  redet  sodann  die  christliche 
Kirche.  Allerdings  läßt  sich  nicht  bestreiten,  daß  sich  auch  die  christliche 
Gesellschaft  noch  lange  Zeit,  wie  die  heidnische  Welt,  und  zwar  nicht  nur 
zu  administrativen  und  sonstigen  amtlichen  Zwecken,  der  Charta  und  des 
E/Ollensystems  bedient  hat.  Dafür  sind  die  Belege  leicht  zu  finden; 3)  im 
2.  Jahrhundert  ist  es  Irenaeus,  der  Bischof  von  Lyon,  der  auch  für  den  heiligen 
Text  den  Gebrauch  der  Charta  voraussetzt,  adv.  haereses  HI  4:  multae 
gentes  harharoriim  eorum  qui  in  Christum  credimt^  sine  charta  et  atramento 
scriptam  habentes  per  spiritum  in  cordihus  suis  salutem.  Im  4.  Jahrhundert 
aber  ist,  zwar  nicht  bei  den  Hochvornehmen  unter  den  Christen,  aber  in  den 
unteren  Schichten  der  Gemeinden  der  codex  weit  verbreitet,  ja,  vollständig 
zur  Herrschaft  gelangt.  Während  so  vornehme  Christen,  wde  Ausonius 
und  Apollinaris  Sidonias,  ihre  verschiedenen  Werke  noch  ausschließlich  in 
Papyrusrollen  niederschrieben  (dies  steht  heute  fest),  so  erzählt  Hieronymus 

Der  Codex  adv.  Rufiuum  1,  9  dagegen,  wie  Pamphilus  von  Cäsarea  Bibeln  in  Codex- 
'jj  form  auf  Yorrat  anfertigen  läßt,  um  sie  an  die  Bedürftigen  in  der  Ge- 
meinde als  Geschenk  gelangen  zu  lassen:  scripturas  sanctas  .  .  .  trihuehat 
promptissime  nee  sohtm  viris  sed  et  feminis;   unde  et  midtos  Codices  prae- 


im  Dienst 
1er  Arme 


1)  Siehe  H.  Brewer,  Kommodian  von   i  ^)  Buchrolle  S.76  ff. ;  241 ;  316  ff. ;  Buch- 


Gaza,  Paderborn  1906. 

2)  Siehe  unten  S.  356. 


wesen  S.  102  f. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  355 

parabat  tif,  cum  necessitas  poposcisset,  volentibus  largiretur.  Wer  will  glauben, 
daß  zu  solcher  Gratisverteilung  an  arme  Leute  von  Pamphilus  grade  der 
teurere  Beschreibstoff  sollte  verwendet  worden  sein?  Codices  ohne  Zu- 
satz sind  in  dieser  Spätzeit  immer  Pargamentcodices.  Also  war  das  Perga- 
ment damals  tatsächlich  billiger  zu  haben.  Bei  Augustinus  Confess. 
8,  6,  15  sehen  wir,  wie  ein  „Codex"  mit  dem  Leben  des  hl.  Antonius 
sich  in  einer  ärmlichen  Einsiedelei  befindet.  Aber  auch  Optatus  bezeugt 
VIII  dasselbe:  manus  omnium  codicibus  plenae  sunt;  denn  das  besagt:  Tägliches 
jeder,  auch  der  ärmste  Clirist,  hat  einen  heiligen  Text  in  Codexform  in 
Händen;  und  dazu  stimmt  weiter,  daß  Pseudo-Cyprian  adv.  Jud.  10  be- 
hauptet: „auch  Kinder  und  Bauern  sind  bibelkundig".  Das  war  es,  wohin 
die  Kirche  strebte:  jeder  Christ  soll  im  codex  lesen  (Hieron.  epist.  22, 17), 
und  zwar  täglich. i)  Das  Buchwesen  des  Christentums  verwuchs  auf  diesem 
Wege  mit  dem  Codex,  und  so  kommt  es,  daß  der  Sieg  des  einen  zugleich 
auch  der  Sieg  des  anderen  gewesen  ist. 

Man  kann  vielleicht  sagen,  daß  der  Christ  die  heidnische  Litteratur 
damals  gradezu  am  Gebrauch  der  Papyrusrolle  erkannte.  Stellen  wie  bei 
Sedulius  Carm.  pasch.  I  22 : 

Plurima  Niliacis  tradant  mendacia  bibhs 
erwecken   diese  Vorstellung.    Das   trifft  aber  wohl   erst  für   das   5.  Jahr-  die  BucIi- 
hundert,  dem  Sedulius  angehört,  ganz  zu.    Im  selben  5.  Jahrhundert  gibt    4*^jah™ 
uns  Sidonius  Apolhnaris    epist.  II  9,  4  Einblick   in   eine   Bibliothek,   und    hundert 
wir  sehen,  wie  da  wirklich  die  altheidnischen  Autoren,  Varro  und  Horaz, 
noch  auf  (Papjrus-)Ilollen,  die  heiligen  Schriften  der  Kirche  dagegen  in 
Codices  gelesen  werden.    Anders  im  4.  Jahrhundert ;  da  haben  die  christ- 
lichen Dichter,  wie  Paulinus  Nolanus,  für  ihre  frommen  Verse  sich  zweifellos 
noch  derselben  Chartarolle  wie  Ausonius   bedient  (vgl.  Paulin.  Nol.  carm. 
29,  17),  ja,  auch  die  Prosaautoren,  wie  Hieronymus,  haben  es  damals  noch 
ab  und  an  mit  ihren  Kommentaren  und  Streitschriften  ebenso  gehalten.  2) 
Von  seinem  Ezechielkommentar  sagt  Hieronymus,  daß  er  jedes  der  Bücher 
dieses  Werkes   mit   einem  Vorwort   versehe,    damit   die   E-eihenfolge   der 
Rollen   nicht   in  Unordnung  komme.  ^)     Vornehmlich  waren   es   also   nur 
die  heiligen  Texte    selbst,    die  scripturae  sanctae,   nebst  den  eben  damals 
aufkommenden  Heiligenleben,  die  man  im  4.  Jahrhundert  im  Codex  sicherte. 

Dabei  erhalten  wir  nun  noch  in  dieser  Spätzeit  einige  Äußerungen  ihre  Kost- 
über  die  Kostbarkeit  der  Charta.  So  fürchtet  Ausonius  epist.  VII  2,  56, 
daß  sie  ihm,  wenn  er  zuviel  von  ihr  verbraucht,  teurer  zu  stehen  kommt 
als  Austern  (ne  sit  Charta  mihi  carior  ostreis).  Des  Hieronymus  Geldbörse 
ist  „leer"  geworden,  weil  er  sich  den  Origenes  auf  Charta  gekauft  hat 
(epist.  84,  3);  Hieronymus  erwähnt  das  „auf  Charta"  ausdrückhch;  dadurch 
erklärt  sich  eben  die  große  Geldausgabe;  und  Sidonius  Apolhnaris  nennt 
die  Charta  rara,  d.  h.  teuer  und  selten,  auf  der  er  eines  seiner  Gedichte 


^)  Vgl.  Ad.Harxack,  Beiträge  zur  Ein- 
leitung in  das  Neue  Testament  Bd.V:  über 
den  privaten  Gebrauch  der  heiligen  Schrif- 
ten, Leipz.  1912,  S.  104. 

2)  M.  Krämer  S.  57  f. 


3)  Buchwesen  S.  112  Anm.  2.  Epist,  47, 3 
redet  Hieronymus  von  seinen  Büchern,  die 
aus  dem  niduhis  auffliege'n;  auch  diese  Art 
der  Edition  (vgl.  oben  S.  340)  deutet  auf 
Papyrusrollen; 

23* 


356 


Das  antike  Buchwesen. 


niederschreibt  (carm.  9,  319).  Das  ist  ein  wichtiges  Zeugnis.  Nie  wird 
uns  etwas  Ähnliches  über  die  Membrane  gesagt.  So  begreift  sich  denn 
auch,  daß,  als  Sidonius  der  Königin  Ragnahilda  ein  Gedicht  widmen  soll, 
er  es  nicht  etwa  auf  Membrane,  sondern  wiederum  auf  Charta  schreibt,  i) 
Nur  Charta  ziemte  sich  für  die  Fürstin. 
Prunkrolle  AUcs  dics  führt  ZU  derselben  Anschauung;  das  geheftete  Pergament- 

tung  des  bucli  War  das  Buch  der  ärmeren  Klassen.  Daher  erschien  z.  B.  auch  das 
Codex  Arzneibuch  des  Marcellus  von  vornherein  als  solches.  2)  Gleichwohl  ist 
es  natürlich,  daß  auch  die  Vornehmen,  ja,  auch  die  Kaiser  Roms  selbst 
die  ganz  eminenten  Vorteile,  die  das  neuaufkommende  Codexbuchwesen 
bot,  bemerkten,  und  so  begannen  auch  sie  bald,  es  sich  nutzbar  zu  machen ; 
aber  dies  Buch  war  für  die  Gewohnheiten  der  E/Cichen  zu  ordinär;  man 
mußte  es  irgendwie  hoffähig  machen  und  stellte  Purpurpergament  her 
und  schrieb  darauf  mit  Goldschrift.  Einen  so  ausgestatteten  Homer  besaß 
schon  der  Kaisersohn  Maximin  der  jüngere  um  das  Jahr  235  ;8)  hernach 
wurde  das  auf  die  Prachtbibeln  in  den  vornehmen  Häusern  übertragen: 
inficiuntur  membranae  colore  piirpu7X0,  aiirum  Uquescit  in  litteras,  gemmis 
Codices  vestiuntur;  das  bezeugt  Hieronymus  für  den  Occident,  Johannes 
Chrysostomos  für  den  Orient.*)  Gewiß  war  das  ein  Unfug;  denn  wer 
kann  in  einem  Buch  solcher  Ausstattung  wirklich  lesen?  Aber  erst  so 
und  durch  mit  Gemmen  geschmückte  Einbanddeckel  wurde  der  Codex  zu 
einem  Gegenstand,  an  dem  sich  der  Luxus,  der  nun  einmal  nie  rastet, 
üben  konnte.  Auch  die  Charta  vertrug  sowohl  Purpurbemalung  wie  Gold- 
schrift (oben  S.305f.);  aber  jenes  barbarische  Verfahren  ist  auf  sie  doch  wohl 
sehr  selten  5)  angewandt  worden.    Sie  war  an  und  für  sich  kostbar  genug. 


19.  Beschaffenheit  der  Codices. 

Erfindung:  Über  die  Beschaffenheit  der   perpamentenen  Codices   kann  ich  mich 

dos  firGlicf-   •  •  •  --"- 

teten  Buchs  im  übrigen  sehr  kurz  fassen.  Das  Geniale  an  ihrer  Erfindung  war  eben 
die  Heftform  selbst.  Daß  dies  Heften  etwa  in  Pergammn  erfunden  sei, 
ist  durch  nichts  erwiesen.  In  der  Zeit  vor  Martial  wurde  das  Pergament 
überall  nur  gerollt  (s.  oben  S.  345).  Es  ist  demnach  sehr  wohl  möglich, 
daß  diese  Erfindung  in  Rom  selbst,  avo  sie  zuerst  erwähnt  wird,  gemacht 
worden  ist.  Vielleicht  Avar  jener  Secundus,  der  Freigelassene  des  Lucensis, 
selbst  der  Erfinder,  der  in  Rom  hinter  dem  templum  Pacis  und  forum 
Nervae  wohnte  und  bei  dem  allein  zur  Zeit  Martials  solche  geheftete 
Pergamentbücher  zu  kaufen  waren  (oben  S.  351). 

Blattlagen  T)ies  Buch  beruht   auf  dem  Doppelblatt.     Man  legte  etliche  Doppel- 

blätter, je  drei  bis  fünf,  als  Ternionen,  Quatemionen,  Quinionen  ineinander 
und  heftete  dann  mehrere  solche  Blattlagen  an  einen  gemeinsamen  Rücken, 
eine  multiplex  pellis  und  massa,  wie  Martial  es  nennt.  Daraus  erklärt  sich 
wohl  auch  der  Ausdruck  Codices  componere  (s.  unten  S.  364).  Ohne  solchen 
Buchrücken,  der  einen  festen  Halt  gab,  sind  die  Schulbücher  und  Reise- 
bücher, die  Martial  beschreibt,  kaum  denkbar.    Doch  kam  auch  das  Primi- 


1)  Sid.Aponin.epist.IV8,5.  Diese  Be- 
lege stellte  M.Krämer  a.a.O.  zusammen. 

2)  Buchrolle  S.  35. 


8)  Script,  hist.  Aug.,  Maximin.  30. 
*)  Buchwesen  S.  108,  3. 
5)  Oben  S.  306. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches. 


357 


tive  vor,  daß  er  fehlte  und  daß  man  die  verschiedenen  Blattlagen  einfach 

lose   zusammen    in    eine   Kapsel    oder   Ledertasche i)    steckte.     Vielleicht  }^^^Si^l' 

stellt  sich  uns  ein  so  primitiv  beschaffener  Codex  in  jener  Bleikapsel  im      lagen 

Museo  Kircheriano  dar,  die  die  Form  eines  Codex  nachahmt  und  in  der 

sich   sieben   lose  Bleitafeln  mit  Schrift   befinden.  2)     So  würde   sich  noch 

besonders  erklären,  daß  die  Griechen  dies  neue  Buch  vorzugsweise  „Gefäß", 

Tf  1';^ og,  nannten.  Die  Pergamentdoppelblätter  aber  wurden  in  jedem  Quaternio 

in  der  Weise  gelegt,  daß  immer  Haarseite  auf  Haarseite  zu  liegen  kam.  3) 

Einen  Einband,  operculum,  der  die  pugiUares  memhranacei  umschloß.  Einband 
erwähnt  schon  die  Inschrift  CIL.  X  6.  Diesen  Einband  hat  man  bei 
leichteren  Exemplaren  wohl  auch  aus  Leder,*)  sonst  aber  ohne  Frage 
schon  früh  regelmäßig  aus  Holz  hergestellt.  Nach  Suidas  s.  v.  cpelXdg 
war  dafür  das  Holz  der  Korkeiche  beliebt.  Solche  festen  Holzdeckel 
setzen  auch  die  zahlreichen  Abbildungen  voraus,  die  wir  vom  Codex  aus 
dem  5.  Jahrhundert  besitzen,  aber  auch  schon  die  Bilder,  die  uns  die 
Notitia  dignitatum  gibt.  Erhalten  ist  von  diesen  alten  Einbänden  nichts. &) 
Der  Einband  heißt  zumeist  tegiimentum,  ord^/co/ua,  das  Einbinden  cooperire^ 
oraichvEiv.  Cassiodor  hatte  ein  Bilderbuch,  in  dem  die  verschiedensten 
Muster  für  den  Bucheinband  zur  Auswahl  gezeichnet  waren. ß)  Daß  die 
Üppigen  den  Deckel  mit  Edelsteinen  schmückten,  sagt  uns  Hieronymus 
(epist.  18).  Die  Bilder  in  der  Notitia  dignitatum  zeigen  uns  Codices  mit 
Medaillons  der  Kaiser  auf  farbigem  Deckel  (übrigens  auch  solche  mit 
Schlingen  oder  Haken,  Codices  ansati\  vgl.  oben  S.  262).  Vor  allem  aber 
geben  uns  die  zahlreichen  christlichen  Heiligen  des  5.  und  6.  Jahrhunderts 
Anschauung,  die  farbenprächtig  an  den  Wänden  der  Basiliken  und  Bap- 
tisterien  in  Rom  und  Ravenna  glänzen;  dazu  kommen  auch  einige  Wand- 
bilder in  den  Katakomben  mit  prächtigem  Detail.  Wer  sich  all  diese 
Bilder  zusammenstellt,  bedarf  keiner  weiteren  Beschreibungen  des  Codex 
jener  Zeiten.  Denn  da  sieht  man  Buchdeckel,  Buchschnitt,  Buchver- 
schluß, auch  die  Edelsteine  auf  den  Deckeln,  auch  das  Band  als  Lese- 
zeichen, das  sog.  registriifrij^)  auf  das  deutlichste. 

Die  ersten  Pergamentcodices,  die  wir  einigermaßen  vollständig  be- 
sitzen, reichen  kaum  über  das  4.  Jahrhundert  zurück.  Aus  Ägypten  sind 
vereinzelte  beschriebene  Pergamentblätter  aufgefunden,  die  früher  als  das 
4.  Jahrhundert  zu  fallen  scheinen .  und  dabei  wirklich  Reste  gehefteter 
Bücher  sind.  In  keinem  Fall  aber  ist  von  ihnen  der  ursprüngliche  Ein- 
band und  die  Heftung  selbst  noch  erhalten. 

Dieser  Codex  heißt  bei  den  Griechen  jetzt  ßißlog  (z.  B.  bei  Libanius  I  ^^^^^:  Q"*- 
p.  100 H.),  vor  allem  revxog  (Euseb.  bist.  eccl.  4,  37  und  sonst)  und  ocojud-       etc. 
Tiov.    Die   Seiten   der   Papyrusrolle   hießen   nie   folia   (vgl.  oben  S.  252); 
folittj   (pvXla,   heißen  nur  die  Blätter   im  Membrancodex.     Deutlich  macht 
dies  der  Dichter  Orientius,  Commonitor.  I  114  (ed.  Ellis): 


1)  Gardthausen  S.  176. 

2)  Buchrolle  S.  342. 


3)  Gardthausen  S.  158. 
^)  Ein  Umschlag  aus  Leder,  in  Aegyp- 
ten  gefunden:  Gardthausen  S.  157. 

'")  Nachweise  bei  Gardthausen  S.  177. 


ß)  Wattenbach  S.  387.  Ueber  Buch- 
einbände vgl.  u.  a.  auch  W.  Nissen,  Die 
Diataxis  des  Michael  Attaleiates,  Jena  1894, 
S.  83. 

^)  Ueber  dieses  Wattenbach  S.  396  f. 


358  ^^^  antike  Buchwesen. 

Omnis  honor  pretii  est;  ibis  pro  pondere  numi 
Carta  seu  foliis  sive  petes  tabulis. 

Der  Arzt  Marcellus  bediente  sich  des  Codex  und  sagt  in  Bezug  auf  ein 
Gedicht,  das  er  einfügt  und  das  er  nugae  nennt:  {ut)  nugas  nostras  multi- 
plex foliorum  celet  obiectus  (praef.  p.  2,  33  ed.  Helmreich).  Wenn  der 
codex  Laurentianus  des  Sophokles  für  jedes  Stück  des  Dichters  die  Zahl 
der  cpvlla  und  der  oiiyoi  notiert,  also  z.  B.  für  den  Ajax  (pvXla  iq  orixov? 
,afjiö\  so  können  diese  Angaben  nicht  als  Reste  antiker  Stichometrie  be- 
trachtet werden;  denn  der  Ausdruck  cpvlXa  weist  auf  Codex,  nicht  auf 
Papyrusrolle.  1)  Bei  den  Byzantinern  heißen  die  Pergamentblätter  dann 
auch  ^agrla,  genauer  xaQxia  juejußgiva/'^)  Der  Ausdruck  quaternio  für  die 
Lage  von  vier  Doppelblättern  begegnet  uns  bei  späten  Kirchenautoren,») 
bei  denselben  auch  quinio ;  ^)  das  griechische  xergdöiov  schon  auf  Diokletians 
Edikt;  entsprechend  dann  jzEvrddioy  u.s.i.^)  Zweifelhaft  ist  die  Deutung 
der  TQLood  und  retgaood  bei  Eusebius,  Yita  Const.  4,  37. ß) 

Nicht  die  einzelnen  Folia,  aber  die  Quaternionen  wurden  numeriert, 
eine  Numerierung,  die  z.  B.  im  Codex  Sinaiticus  der  Bibel  noch  vorliegt, 
die  aber  auch  schon  auf  gehefteten  Papyrusblättern,  die  aus  dem  Faijüm 
stammen,  angetroffen  worden  isf^)  und  die  unbedingt  beweist,  daß  die 
Blattlagen  oft  längere  Zeit  unverbunden  aufbewahrt  wurden. 

Anordnung  Was  die  Stellung  der  Schrift   im  Buch   anlangt,    so  herrscht  in  den 

ältesten  Pergamenthandschriften,  die  wir  besitzen,  noch  mehrfach  die 
Sitte,  mit  dem  Prosatext  nicht  einfach  in  ganzer  Breite  die  Seiten  aus- 
zufüllen, sondern  ihn  in  schmale  Spalten  zu  zerteilen:  so  z.  B.  im  Sinai- 
ticus und  Yaticanus  B  der  griechischen  Bibel.  Dies  geschah  in  Nach- 
ahmung der  Papyrusrollen  mit  ihrer  Kolumnenteilung.  Die  Rollen  wurden 
also  möglichst  treu  in  den  Codex  auf  genommen. «)  Ja,  auch  der  Umstand, 
daß  im  Pergamentcodex  die  Zeilen  in  der  uns  gewohnt  gewordenen  Rich- 
tung laufen,  d.  h.  parallel  mit  den  schmäleren  Rändern  des  Blattes  und 
rechtwinklig  zur  Heftung,  entspricht  der  Richtung  der  Schriftkolumne, 
wie  sie  in  der  Papyrusrolle  dem  Leser  vor  Augen  stand.  Der  Pergament- 
codex war  aus  der  Wachstafel  hervorgegangen;  auf  der  Wachstafel  hatte 
man  aber  die  Schrift  anders  gestellt  und  vielmehr  parallel  mit  der  Richtung 
des  längeren  Tafelrandes  laufen  lassen  (oben  S.  260).  Die  Schriftrichtung 
im  Pergamentcodex,  die  also  von  der  im  Wachscodicill  abging,  folgte  dem 
Vorbild  der  Papyrusrolle, 9)  aber  natürlich  deshalb,  weil  das  so  für  den 
Lesenden  bequemer  w^ar. 

Seitenüber-  'Etine  EigentümHchkeit  des  CodexbuchAvesens  aber  sind  die  Seitenüber- 

scliriften  ^ 

*)  Buchwesens.  193. Uebrigens ebenda   I   gelienhandschriften  verstehen,  in  denen  je 
S.  288,1  ;WATTENBACHS.185)GrARDTHAUSEN   |    drei  oder  Je  vier  Evangelien  verbunden 


S.  161. 

2)  W.  Nissen  a.  a.  O.  S.  86. 

3)  Marius  Mercator  bei  Migne,  Patrol. 
lat.  48  S.  811 :  auch  Oassiodor  u.  a. 

^)  Gesta  apud  Zenophilum,  s.  Harnack 
a.  a.  O.  S.  57,  4. 

ö)  Wattexbach  S.  176  f. 

®)  Nach  E.  ScHWARTZ  bei  Pauly- Wis- 
se wa,  RE.  VI  S.  1437  kann  man  hier  Evan- 


waren. 

7)  Gardthausen  S.  157. 

8J  Daß  der  Titel  des  Werks  im  Codex 
auf  der  ersten  Seite  stand,  folgerte  ich 
(oben  S.  300)  aus  dem  in  Uminari  pagina 
bei  Hieronymus  epist.  67,  2 ;  doch  ist  dies 
unsicher,  s.  „Zusätze"  zu  S.  300. 

9)  Vgl.  A.  Brinkmann,  Rhein.  Mus.  66 
S.  155. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  359 

Schriften,  die  wir  schon  früh  antreffen.  Dziatzko  setzte  „Untersuchungen" 
S.  178  ff.  mit  Recht  an,  daß  unter  den  Codices  antiquissimi,  die  aus  der  Antike 
auf  uns  gekommen  sind,  diejenigen  das  höhere  Alter  haben,  die  solcher 
Überschriften  noch  entbehren ;  denn  das  Papyrusbuchwesen  besaß  sie  nicht, 
und  jenes  ist  zunächst  aus  diesem  durch  möghchst  treue  Nachahmung 
entstanden.  In  den  ältesten  Membrancodices,  wie  z.  B.  den  Schedae 
Vaticanae  und  Berolinenses  des  Vergil,  im  Yergil-Vaticanus  Nr.  3225,  im 
Gelliuspalimpsest  und  Gaius  fehlen  deshalb  noch  die  Seitenüberschriften. 
Im  5.  Jahrhundert  sind  sie  dagegen  entweder  von  der  Hand  selbst,  die 
den  Text  schrieb,  wie  im  Vergil-Mediceus  und  vielen  andern  Hand- 
schriften, oder  von  einer  andern  Hand  nachträglich  eingetragen. 

Allerdings  haben  sich  Seitenüberschriften  doch  auch  einmal  in  einer 
Papyrusrolle  gefunden:  es  ist  der  Didymuspapyrus.i)  Aber  sie  sind 
da  von  ganz  anderer  Beschaffenheit,  und  der  Schreiber  verfolgte  mit 
ihnen  eine  andere  Absicht.  Denn  sie  geben  jedesmal  nur  den  Inhalt  des 
untenstehenden  Textabschnittes  an,  sind  also  vielmehr  nur  Kapitelüber- 
schriften und  lauten  daher  immer  wechselnd  über  jeder  Kolumne  anders; 
so  z.  B.  Kol.  YIII  erster  Teil:  rig  fjv  XQovog  ev  w  xtL;  zweiter  Teil:  Tiegi 
Tov  V  rdkavra  jiqoooöov  lajußäveiv  ktX.,  Kol.  IX:  öti  ß' 'ÄQiorojuijdeig,  6  juev 
0€gaiog,  6  d'  'Äßrjvmog  xrX.^)  In  den  gehefteten  Codices  wird  dagegen 
eintönig  auf  allen  Seiten  immer  nur  der  Verfasser  und  der  Titel  des  Ge- 
samtbuchs genannt,  auf  der  linken  Seite  z.  B.  immer  wieder  PLIN.  8EG. 
NATVR.  RIS.,  auf  der  rechten  immer  wieder  LIB.  XIII  oder  links 
T.  MACCI  PLAÜTI,  rechts  TRINVMMVS.  Es  leuchtet  ein,  daß  sich 
dieser  Usus  nicht  aus  jenem  entwickelt  haben  kann,  da  er  einem  ganz 
anderen  Zwecke  dient;  er  ist  erst  im  Dienst  des  gehefteten  Buches  ent- 
standen, s) 

Das  Format  der  ältesten  Codices  membrmiei,  die  Martial  erwähnt,  war  Formate 
noch  sehr  klein;  denn  Martial  nennt  sie,  wie  wir  sahen,  pugillares,  d.  h. 
von  Faustgröße,  sagt  von  einem  solchen  Exemplar  manus  una  capit  {1,2,^) 
und  betont  auch  sonst  das  exiguum  derselben  (14,  190  u.  186;  1,  2,  3).  Die 
Kleinheit  betrifft  vor  allem  ihre  Höhe  und  Breite;  ihre  Dicke  mag  immer- 
hin gelegentlich  beträchtlich,  auch  ihre  Schrift  eng  und  klein  gewesen 
sein.  Zur  YeranschauHchung  läßt  sich  etwa  der  Rest  einer  Pergament- 
handschrift des  Demosthenes  (nach  Kenyon  aus  dem  2.  Jahrhundert)  heran- 
ziehen, deren  Seiten  nur  71/2  engl.  Zoll  Höhe  haben  und  dabei  in  zwei 
Kolumnen  beschrieben  sind,  die  nicht  weniger  als  je  36  Zeilen  umfassen.*) 

Später  wuchs  aber  auch  das  Format  erheblich,  und  die  onera,  non  Codices, 
von  denen  Hieronymus  redet,  0)  nahmen  eine  Menge  antiker  Rollenbücher 
in  sich  auf.  Auch  Libanius  redet  I  p.  21411.  von  schwer  lastenden  Codices 
juristischen  Inhaltes.  Daher  sagt  Isidor  Orig.  6,  13,  1:  codex  multorum 
lihrorum  est.  Über  unius  voluminis.  Der  Nachlaß  des  Plotinos  wurde  nach 
Enneaden  gruppiert,  d.  h.  auf  sechs  Codices  zu  je  9  ßißUa  verteilt  (Suidas). 


^)  Siehe  Berl.  Klassikertexte   Heft  1.  I  ■•)  Kenyon  im  Journal   of  philol.  22 

2)  Vgl. MuTSCHMANN,  Hermes  46  S.98.      S.  247  f.;  Gardthausen  S.  159. 

3)  Siehe  R.  Friderici,  De  libr.  antiqu.  ^)  I  p.  797  ed.  Benedict, 
capitum  divisione,  Marburg  1911,  p.  36  adn. 


360 


Das  antike  Buchwesen. 


Neben  jenen  onera  blieb  indes  auch  noch  im  4.  und  5.  Jahrhundert 
ein  geringes  Format  behebt,  in  der  Weise,  daß  z.  B.  die  einzelnen  Evan- 
gelien in  je  einem  Codex  standen,  i)  Auch  der  Apostel  Paulus  bildete 
nachweislich  einen  Codex  für  sich. 2)  Dagegen  schrieb  Hilarion  sich 
eigenhändig  alle  vier  Evangelien  in  einen  Codex  zusammen,  den  er  später 
statt  Geldes  verausgabt.  3) 

Endlich  schildern  uns  die  Gesta  apud  Zenopliilum  die  Bibelkonfis- 
kationen, die  bei  einer  Christen  Verfolgung  stattfanden;  da  lesen  wir,  daß 
in  den  verschiedenen  Häusern  bald  Codices  quattuor^  bald  Codices  quinquCy 
bald  Codices  maiores,  bald  minores  konfisziert  werden;  einmal  entdeckt  man 
da  codicem  unum  pernimium  ^naiorem;*)  übrigens  Victor  grammaticus  (ein 
Christ)  obtulit  Codices  II  et  quiniones  quattuor.  Die  Quinionen  lagen  also 
bei  diesem  Grammatiker  Victor  noch  lose  und  unverbunden  (aus  solchen 
Quinionen  besteht  z.  B.  der  mit  Bildern  geschmückte  Codex  Rossanensis). 
Fand  man  nun,  wie  wir  es  hier  sehen,  in  einem  Hause  vier  oder  fünf 
Bibelcodices,  so  setze  ich  an,  daß  der  Bibeltext  sich  in  diesen  Fällen  auf 
vier  oder  fünf  Codices  verteilt  hat.  Das  Wichtigste  aber  ist,  daß  es,  wie 
diese  Mitteilung  zeigt,  drei  Formate  gab:  Codices  minores ^  Codices  maiores 
und  Codices  nimium  maiores. 

20.  Die  allmähliche  Übertragung  der  Litteratur  in  den  Codex. 

Aufkom-  j)^     neue  Buchform,    das  geheftete  Buch,  u^e^^'ann  lanp^sam,  aber  an- 

men  des  _  _     '  o         _  '    o       ..  ö  '  ^ 

Ausdrucks  scheinend  in  allen  Provinzen  des  E/oichs  und  auch  in  Ag^^pten  gleichmäßig  an 
codex  -Qq^qj^  Doch  soll  man  sich  hüten,  ägyptische  Pergamentfunde  oder  auch 
Funde  von  geheftetem  Papyrus^)  zu  früh  zu  datieren;  diese  Warnung 
Traubes  sei  hier  wiederholt;  denn  die  paläographischen  Indizien,  die 
dazu  veranlassen,  können  täuschen,  ß)  Nächst  Martial  sind  die  Juristen 
Ulpian  und  Paulus,  etwa  in  den  Jahren  200 — 228,  für  diesen  Gegenstand 
wichtige  Zeugen.  Von  ihnen  wird  für  den  Fall,  daß  den  Erben  eine 
„Bibliothek"  vermacht  wird,  die  Existenz  von  Codices  memhranacei  vel  char- 
tacei  schon  mit  in  Erwägung  gezogen,  allerdings  so,  daß  das  nur  neben- 
her geschieht.')  Auf  alle  Fälle  ist  dies  eine  wichtige  Etappe;  denn  diese 
Codices  w^erden  von  den  Juristen  ausdrücklich  mit  als  libriy  d.  h.  als  Eollen, 
gerechnet  (oben  S.  283) ;  und  zugleich  taucht  eben  hier  zum  erstenmal  die 
Bezeichnung  codex  in  dem  uns  geläufigen  Sinne  auf.  Die  Übertragung 
oder  Ausweitung  dieses  Terminus,  der  ursprünglich  nur  Holztafeln  be- 
zeichnete, hatte  sich  also  zwischen  den  Jahren  86 — 200  n.  Chr.  vollzogen 
(vgl.  oben  S.  345;  283;  260). 
tIng'X's  I^  Verlauf   des  2.  Jahrhunderts  steigerte   sich  im  ganzen  Westreich 

Codex  zxiT  unter  der  Fürsorge  des  Hadrian  und  der  Antonine  das  Unterrichtswesen, 
de*r  Tox"?  das  der  staatHchen  Aufsicht  und  Fürsorge  unterstellt  wurde.    Im  3.  Jahr- 


1)  Vgl.  Gregor  von  Tours,  Hist.  Franc. 
4, 16:  5, 14:  Buchwesen  S.  116 f.:  Buchrolle 
S.  267,  2:  M.  Krämer  S.  52  f. 

2)  Paulinus  Nol.  carm.  24,  273. 
ä)  Hieronym.  Vita  Hilar.  35  f. 

*)  Harnack  a.  a.  O.  S.  56  macht  hieraus 
irrtümlich  den  Nominativ  codex  pernimiiis 


inaior,  während  peniimium  Adverb  ist. 

^)  lieber  die  Beste  gefalteter  Papyrus- 
blätter Gardthausen  S.  156. 

6)  L.  Traube,  Vorles.  S.  95. 

')  Ulpian,  Digest.  32,  52;  Paullus  Sen- 
tent.  3,  6,  51  f. 


II.  Verwendimg  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  361 

hundert  drang  das  Bücherlesen  darum  in  noch  breitere  Schichten.  Wie 
der  von  mir  anderen  Orts  gegebene  Überblick  über  die  Bildwerke  lehrt, 
ist  der  Mensch  mit  dem  Buch  wohl  in  keiner  Periode  von  der  bil- 
denden Kunst  so  massenhaft  dargestellt  worden  wie  im  3 — 5.  Jahrhundert 
n.  Chr.  Dazu  kam  nun,  daß  sich  eben  damals  zugleich  auch  die  christ- 
Hche  Propaganda  gewaltig  steigerte,  die  auch  ihrerseits  ganz  auf  dem 
Buch,  auf  den  yqacpai,  auf  der  Massenverbreitung  des  bibhschen  Textes  be- 
ruhte (s.  oben  S.  354  f.).  Wir  haben  aber  S.  353  gesehen,  daß  es  das  Schul- 
wesen, der  Betrieb  der  Knabenschulen,  war,  der  das  dauerhafte  Pergament- 
buch begünstigte  und  die  zarte  Papyrusrolle  zurückdrängte.  Nun  tat 
auch  das  Christentum  dasselbe.  Denn  seine  Propaganda  bemächtigte 
sich  vor  allem  der  ärmeren  Bevölkerungsklassen,  and  gerade  die  Armeren 
waren  es,  die  nachweislich  das  Pergamentbuch  benutzten.  Dem  4.  Jahr- 
hundert gehören  dann  aber  auch  schon  die  Konstitutionensammlungen 
an,  die  sich  codex  Hermogenianus,  codex  Gregorianus  benannten;  der 
Gregorianus  zerfiel  in  Bücher,  und  diese  Bücher  gingen  wohl  auch  als 
E-ollen  im  Publikum  um;i)  doch  erwies  sich,  da  es  sich  um  dauernde 
Konsei-vierung  von  Rechtsquellen  handelte,  ihre  Zusammenfassung  im 
Codex  als  besonders  zw^eckmäßig.  Im  selben  4.  Jahrhundert  hat  dann 
Kaiser  Konstantin  selbst  die  biblischen  Schriften  für  kirchliche  Zwecke 
im  Codex  verbreiten  lassen. 2)  Eben  damals  wird  auch  schon  hin  und 
wieder  von  veteres  Codices,  die  also  etwa  hundert  Jahre  alt  sein  mußten, 
geredet  (so  nicht  nur  Hieronymus,  sondern  auch  Servius  zu  Aen.  5,  871 
und  sonst).  Dazu  kommt  das  Valentinianische  Zitiergesetz  im  Cod. 
Theodos.  I  4,  3;  dies  Zitiergesetz  spricht  nur  denjenigen  Texten  der  römi- 
schen Juristen  Geltung  zu,  die  in  Codices  stehen  und  die  keine  Un- 
sicherheit der  Lesungen  bieten,  wie  sie  die  alt  gewordenen  Papyrusrollen 
leicht  mit  sich  brachten.  Hierauf  wurde  ich  durch  R.  Samter  aufmerksam 
gemacht.  Das  Zitiergesetz  spricht  dem  Papinian,  Paulus,  Ulpian,  Modestin 
und  Gaius  uneingeschränkt,  den  von  diesen  zitierten  Juristen  dagegen 
mit  folgendem  Vorbehalt  Geltung  zu:  si  tarnen  eorum  lihri  propter  an- 
tiquitatis  incertum  codicum  coUatione  firmentur.  Hier  sind  libri,  wie  stets, 
Rollen,  und  diese  Rollen  w^aren  im  Verfall  wie  die  xagTidia  aQ^aia  oajiQÖ. 
bei  Alkiphron  1,  26.  Samter  bemerkte  mir  hierzu  einleuchtend,  daß  jene 
fünf  aufgezählten  Juristen  damals  ausschließlich  in  Codexform  benutzt 
wurden,  die  älteren,  die  sich  bei  ihnen  zitiert  fanden,  dagegen  sowohl  in 
alten  Chartarollen  —  lihri  —  wde  in  Codexform  vorgelegen  haben  werden. 
Nur  soweit  diese  in  der  letzteren  Gestalt  vorlagen,  sollte  ihren  Ent- 
scheidungen Gültigkeit  zukommen. 

Gleichwohl   dichtet   und  pubHziert   ein  Mann  wie  Ausonius  in  dem-  ^^^'J^^äs 
selben  4.  Jahrhundert  noch  ausschließlich  in  der  vornehmeren  Papyrusrolle ;    5.  Jahr- 
d.  h.  die   eigentliche   schöpferische   Literatur   bewegte   sich   auch   damals 
noch  in  gerollten  Chartae  (oben  S.  354;  355);  ja,  auch  die  voraufliegende 
Literatur    las    man   damals   noch   ebenso;   vgl.  Auson.  Epist.  10,  40:    tota 
siipellex  vaüim  priorum  chartea  est ;  Epist.  14, 13 :  tot  saecula  condita  chartis ; 


•)  Buchrolle  S.  26.  .  |  2)  Euseb.  Vita  Const.  4,  36  f. 


362 


Das  antike  Buchwesen. 


fabrikation 


und  nicht  das  vierte,  sondern  das  fünfte  Jahrhundert  hat  als  die 
Epoche  zu  gelten,  in  der  das  Papyrusrollenbuchwesen  wirklich 
einging.     Das  lehren  uns  auch  die  Bildwerke  (oben  S.  345). 

Um  das  Jahr  350  n.  Chr.  war  die  Fabrikation  der  Charta  anscheinend 

noch  gar  nicht  wesentlich   zurückgegangen;    denn  wir   hören   in  der  Ex- 

positio  totius  mundi  (ed.  Riese  p.  113):  weder  iudicia  noch  privata  negotia 

Rückgang  können  ohne  die  Charta  des  Nil  bestehen;  die  hominum  natura  scheint  auf 

der 

Papyrus-  die  charttt  gegründet,  und  sine  invidia  schickt  sie  Alexandria  omni  mundo. 
Gibt  dagegen  Cassiodor  in  seinen  Yariae  XI  38,  2  f.  im  Jahr  534 — 535 
eine  begeisterte  Schilderung  von  ihr,  wie  sie  dem  Pergament  nie  zuteil 
geworden  ist,  so  wäre  es  verfehlt,  daraus  noch  auf  eine  Alleinherrschaft 
der  Charta  zu  schließen.  Derselbe  Cassiodor,  der  seine  Klosterbibliothek 
ausschließlich  aus  Codices  zusammensetzte,  rühmt  a.  a.  0.  die  Charta  wesent- 
lich nur,  insofern  sie  als  das  kostbarere  Material  immer  noch  der  kaiserlichen 
Kanzlei  diente  und  für  die  kaiserlichen  Diplome  auch  noch  im  6.  Jahr- 
hundert Verwendung  fand:  solches  Diplom  hieß  beiläufig  voliimen  publi- 
cum (Ammian.  Marcellin.  22,  3,  4).  In  der  Tat  muß,  seit  dem  Jahr  400 
die  Papyrusfabrikation  und  der  Papyrusexport  in  Ägypten  doch  merkUch 
zurückgegangen  sein.  Ägypten  gehörte  nach  der  Teilung  des  Reichs 
dem  Ostreich  an,  und  Alexandria  wird,  sobald  Ostreich  und  Westreich 
sich  verfeindeten,  auch  nicht  mehr  sine  invidia  seine  Ware  nach  dem 
Westen  exportiert  haben,  i) 

Jedenfalls  aber  erklärt  sich  im  Hinblick  auf  Cassiodor,  daß  im  5.  Jahr- 
hundert so  hochvornehme  Leute  wie  ApoUinaris  Sidonius  in  Frankreich, 
um  ihre  Vornehmheit  zu  markieren,  die  kostbare  Chartarolle  für  ihre  littera- 
Vornehm-  rischon  Zwccke  doch  noch  zu  benutzen  fortfahren ;  aber  Sidonius  tut  das 
nur  so  lange,  als  er  Einzelbücher  oder  einzelne  Gedichte  erstmalig  heraus- 
gibt. Als  derselbe  Sidonius  eine  Gesamtausgabe  macht,  trägt  er  aUes  in 
einen  Codex  zusammen ;  2)  und  schon  bei  Claudian  ist  der  Hergang  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  derselbe  gewesen;  ursprünglich  erschienen  seine 
Verse  auf  Charta;^)  dann  aber  sind  gleich  nach  seinem  Tod,  jedoch  noch 
bei  Lebzeiten  Stilichos,  zwischen  a.  404  und  408,  seine  sämtlichen  Gedichte, 
mit  Ausnahme  des  Raptus  Proserpinae  und  des  Panegyricus  Olybrii  et 
Probini,  zu  einer  Sammlung  im  Codex  vereinigt  worden,  die  durch  das 
Mittelalter  als  „Claudianus  maior"  weiterging.  Die  beiden  genannten 
Nebenwerke  wurden  deshalb  ausgeschlossen,  weil  sie  nicht  zum  Ruhme 
des  Stilicho  dienten. 4)  Das  Sammelwerk  der  Scriptores  historiae  Augustae 
ist  dagegen  in  der  uns  vorliegenden  Redaktion  von  vornherein  für  Codices 
abgefaßt  worden, 5)  und  damit  bestätigt  sich  die  Ansicht  der  Gelehrten 
auf  das  beste,  die  diese  kindische  und  seichte  Arbeit  in  eine  möglichst 
späte  Zeit  hinabrücken,  ß) 

Dies  der  langsame,  aber  endgültige  Sieg  des  Pergamentbuchs  im 
Westreich,  vom  2.  bis  zum  5.  Jahrhundert  n.  Chr.    Im  Ostreich  dürfte  der 


Papyrus- 
rolle  im 
5.  Jahr- 
hundert 
Zeichen  der 


1)  Buchrolle  S.  36. 

2)  Siehe  M.  Krämer  a.  a.  O. 

3)  Oben  S.  340. 

"*)  vSiehe  Claudian  praef .  p.  78  u.  147 


^)  Siehe  Grordiani  1,  4. 
«)  In   das   5.  Jahrhundert    0.  Seeck, 
Ehein.  Mus.  67  S.  600  f. 


n.  Verwendung  der  Beschreibstofife.     B.  Litterarisches. 


363 


Uber- 


Veiiauf  im  wesentlichen  derselbe  gewesen  sein.  Von  Interesse  scheint 
mir  ein  Zeugnis  des  Palladas,  Anthol.  Pal.  XI  378,  6,  aus  dem  5.  Jahr- 
hundert, der  uns  sagt,  daß  zu  seiner  Zeit  der  Grammatiker  sich  noch  des 
XOQT^^?  bedient. 

Die  Übertragung  aus  den  Papyrusrollen  in  die  Codices,  dieser  wich- 
tigste Prozeß  in  der  Geschichte  der  antiken  Texte,  vollzog  sich  allmählich.  Texte  in 
Viele  berufene  und  unberufene  Hände  beteiligten  sich  daran,  und  die  ^^^'^ciodex 
Gefahr  der  Verunstaltung  war  dabei  groß.  Scheute  man  sich  doch  ge- 
legentlich nicht,  die  Rolle,  die  als  Textvorlage  diente,  zu  zerschneiden, 
um  sie  bequemer  kopieren  zu  können,  i)  Auf  die  Numerierung  der  Rollen- 
bücher war  bei  der  Kopie  möglichst  acht  zu  geben,  um  die  Bücher  in 
der  richtigen  Reihenfolge  hintereinander  zu  stellen;  doch  ist  auch  dabei 
geirrt  worden.  Die  21  Stücke  des  Plautus  waren  in  21  Rollen  in  alpha- 
betischer Folge  überliefert;  in  dem  alten  Codex  Ambrosianus,  der  im 
5.  Jahrhundert  geschrieben  worden  ist,  sind  die  Stücke,  deren  Titel  mit 
T  und  V  anfängt,  verstellt  und  vor  denen  mit  P  eingetragen  worden. 
Ebenso  haben  in  dem  gleichzeitigen  Codex  Bembinus  des  Terenz  der 
Heautontimorumenos  und  Eunuch  ihre  Plätze  vertauscht,  und  die  Nume- 
rierung der  Dramen  selbst  ist  danach  verändert.  2) 

Um  so  mehr  muß  uns  die  AVahrnehmung  erfreuen,  daß  in  den  späten  Fürsorge 
Jahrhunderten,  von  denen  wir  handeln,  und  kurze  Zeit  vor  dem  Zu-  nehmen 
sammenbruch  der  antiken  Kultur,  da  alle  Bildung  sich  in  die  Klöster 
flüchtete,  vornehme  Männer  weltlicher  Stellung  für  die  Sicherung  der 
Texte  noch  vielfach  Sorge  trugen.  Es  handelt  sich  um  jene  Subskriptionen 
mit  ihrem  legi  distinxi  emendavi,  die  in  den  Handschriften  des  Livius, 
Terenz,  Horaz  und  vieler  anderer  Autoren  sich  finden.  3)  Wenn  in  früheren 
Zeiten  Thras^dl  den  Plato,  Fronto  den  Cicero  neu  herausgab  oder  geben 
wollte  (oben  S.  342),  so  steht  fest,  daß  damit  eine  neue  Vervielfältigung 
des  irgendwie  verbesserten  Textes  gemeint  war.  Wenn  dagegen  jene 
Subskriptionen  uns  sagen,  daß  ein  Torquatus  Gennadius  den  Text  des 
Martial,  Junianus  Tryfonianus  den  des  Persius,  CaUiopius  den  des 
Terenz,  Mavortius  den  Horaz  revidierte,  so  werden  wir  damit  in  das  4. 
bis  5.  Jahrhundert  geführt,  und  es  erscheint  zweifelhaft,  ob  der  Text  hier 
noch  in  Rollen  und  nicht  vielmehr  schon  im  Codex  gebucht  wurde,  noch 
zweifelhafter,  ob  damit  auch  noch  eine  Vervielfältigung  im  Dienst  des 
Buchhandels  verbunden  war.  Den  codex  nennt  gradezu  jener  Turcius 
RufiusApronianus  Asterius  im  Mediceus  Vergils,  der  hinter  den  vergiHschen 
Bucolica  sein  legi  et  distinxi  codicem  fratris  Macharii  setzte.  Erst  wer 
den  Inhalt  des  valentinianischen  Zitiergesetzes,  über  das  ich  S.  361  be- 
richtete, vergleicht,  wird  die  Absichten  dieser  Männer  voll  verstehen. 

Wie   aber   stand   es   jetzt   mit  der  Verbreitung  der  Texte    und.   ihrer    Zurück- 
Mitteilung   an   das  Publikum?     Mit  dem  Sieg   des  Pergamentcodex  über  ^^bucH-^^ 
die  Papyrusrolle  hat  jedenfalls  zugleich  auch  die  Privatabschrift  über    Mandela 


^)  Traube,  Vorles.  S.  93. 
')  DziATZKO,  Untersuchungen  S.  142. 
')  Siehe  O.  Jahx,  Sitz.ber.d.sächs.GrW. 
1851  S.  327  ff.,  sowie  Haase  und  Reiffbr- 


SCHEID,  De   codicum  subscriptionibus  in 
Breslauer  Programmen  v.  J.  1860/61  und 

1872/73. 


364 


Das  antike  Buchwesen. 


den  Buchhandel  gesiegt;  denn  es  läßt  sich  nicht  bezweifeln  und  A\-ir  sehen 
es  mitunter  mit  Augen,  wie  grade  die  Privatabschrift  sich  des  Codex  be- 
dient ;  1)  selbst  Kaiser  Julian  hat  sich  vom  alexandrinischen  Bischof  Georgios 
Bücher  jzQog  juerayQa(p7]v  entlehnt  und  sie  dann  zurückgegeben  (Epist.  9). 
Seit  dem  4.  Jahrhundert  dürfte  der  Buchhandel  also  stark  zurückgegangen 
sein.  Gleichwohl  bestand  er  noch  fort;  ein  Sidonius  hat,  wie  wir  oben 
S.  320  sahen,  noch  seinen  eigenen  hibliopola.  Daß  auch  der  Codex  lit- 
terarischen Inhalts  Gegenstand  des  Buchhandels  war,  bezeugt  uns  schon 
Martial  1,  2;  die  Glossare,  deren  diese  Dinge  anbetreffender  Wortschatz 
nachweislich  dem  5.  Jahrhundert  angehört,'^)  definieren  hibliopola  mit  qiii 
Codices  vendit,  und  auch  sonstige  Zeugnisse  fehlen  nicht.  :^)  Vom  Verkauf 
der  Briefe  des  Cyprian  in  Codexform  redet  z.  B.  Rufin  ;■*)  und  zwar  hören 
wir  da,  daß  unter  diese  Briefe  auch  eine  häretische  Tertullianschrift  ge- 
mischt worden  w^ar;  sodann  waren  von  dem  Ganzen  möglichst  viele 
Codices  hergestellt  worden  (quam  plurimos  Codices  de  talibus  exemplariis 
descrihentes),  und  diese  wurden  in  Konstantinopel  zu  billigerem  Kaufpreis 
verbreitet,  damit  die  Leute  das  schädliche  Tertullianwerk  leichter  kaufen 
könnten. 

Daß  Kirchenbüchereien  nur  aus  Codices  bestanden  (Hieron.  epist. 
48,  3),  wundert  uns  nicht.  Wie  aber  im  4.  Jahrhundert  auch  in  private 
RoUen  und  Bibliotheken  der  Codex  eindrang,  zeigt  Ammianus  Marcellinus  29, 1,  41; 
neben-  ©s  finden  sich  da  Codices  und  volumina  haufenweise  nebeneinander;  und 
einander  dassolbc  gilt  scliou  von  einer  kaiserlichen  Hausbibliothek  etwa  des 
Jahres  300. 0)  Im  4.  Jahrhundert  erwies  sich  die  Papyrusrollenbibliothek 
des  Pamphilus  in  Caesarea  als  schadhaft;  sie  wurde  von  zwei  Priestern 
auf  Membrane  erneuert,  ß)  In  einer  BibHothek,  die  im  5.  Jahrhundert 
ApolHnaris  Sidonius  beschreibt,  sehen  wir,  daß  die  Frauen  Codices 
kirchlichen  Inhalts,  die  Männer  dagegen  die  weltlichen  Autoren  aus- 
scliließlich  oder  zum  Teil  noch  in  Hollen  lesen. '^)  Dagegen  könnte  auf 
den  ersten  Blick  befremden,  wenn  wir  für  die  kaiserliche  Bibliothek  in 
Konstantinopel  in  einer  Verfügung  aus  dem  Jahr  372  (cod.  Theodos.  14, 9, 2) 
nur  Codices  erwähnt  finden.  Es  heißt  dort:  antiquarios  ad  hihliotliecae 
Codices  componendos  vel  pro  vetustate  reparandos  quattuor  graecos  et  tres 
latinos  scribendi  peritos  legi  iuhemus.  Dies  bedarf  einer  näheren  Aufklärung. 
Die  kaiserliche  BibHothek  zerfiel,  wie  selbstverständlich,  in  eine  griechische 
und  eine  lateinische  Abteilung.  In  beiden  Abteilungen  gab  es,  wie  wir 
sehen,  damals  schon  Codices,  die  der  Reparatur  bedurften.  Aber  nicht 
nur  „reparieren"  sollen  die  sieben  antiquarii,  die  da  Beschäftigung  finden, 
sondern  die  Aufgabe,  Codices  zu  „komponieren",  steht  voran.  Der  Aus- 
druck  ad   Codices   componendos    fülirt   aber    unbedingt   zu   der   Annahme, 


In  den 
Biblio- 
theken 


1)  Buchwesen  S.  110. 

2)  Mit  Ausnahme  der  großen  Herme- 
neumata  im  dritten  Band  des  Corp,  gloss. ; 
dies  wird,  wie  ich  hoffe,  demnächst  in 
einer  Marburger  Arbeit  dargelegt  werden. 

3)  Buchwesen  S.103f, ;  über  Sulpicius 
Severus  oben  S.  319. 

*)  Epilogus  in  Apologet.  S.  Pamphüi, 


bei  Origenes  ed.  Lomm.  XXV  S.  395. 

°)  Buchwesen  S.  113. 

^)  Hieronym.  epist.  141  ad  Marcellam. 

0  Sidon.  epist.  2,  9,  4  ff.  Die  Biblio- 
thek des  Claudianus  Mamertus  zerfällt  in 
Romana,  Attica  und  Christiana,  ebenda 
4,  11,  6. 


II.  Verwendung  der  Beschreibstoffe.     B.  Litterarisches.  365 

daß  da  in  der  kaiserlichen  Bibliothek  noch  viele  ältere  Litteratur  in 
E/oUen  vorlag,  aus  denen  durch  Abschrift  jetzt  Codices  „komponiert" 
werden  sollen.  Denn  nur  aus  Schriftwerken,  die  noch  nicht  Codices  sind, 
kann  solches  „Zusammensetzen"  geschehen.  Für  den  Akt  der  Übertragung 
der  Texte  aus  der  Rolle  in  den  Codex  haben  wir  auch  hierin  ein  will- 
kommenes Zeugnis. 

Die  schließlichen  Erben  der  Litteratur  aber  wurden  im  Westreich  codex- 
die  Mönche;  die  Zukunft  gehörte  der  Klosterbibliothek,  und  den  "Weg  tbeken 
der  Zukunft  beschritt  zuerst  Cassiodorius  Senator,  „der  letzte  Römer", 
der  gegen  das  Jahr  550  seine  Klosterbibliothek  gründete,  die  in  zwei 
Abteilungen  der  kirchlichen  und  heidnischen  Autoren  zerfiel ;  vgl.  Cassiodor, 
Institutiones  1 1 — 9.^)  Codex  und  Buchschrift  gehören  hinfort  zum  Pflicht- 
leben des  Mönchtums,  2)  und  nicht  nur  die  divini,  sondern  auch  die  scrip- 
tores  saeculares  retteten  sich  damals,  und  zwar  für  ein  volles  Jahrtausend,  // 

in  die  Klöster.     Der  Codex  hatte  definitiv  die  Rolle  verschlungen.  ■/ 

Bezeichnend  für  ihre  späte  Abfassung  ist,  daß  die  Glossare  den  biblio- 
tJiecarius  nirgends  mit  qui  lihros  servat,  sondern  nur  mit  qui  Codices  servat 
definieren:  s.  Corp.  gloss.  lat.  IV  488,  37.  Daneben  bieten  sie  die  auf- 
fällige Erklärung  hibliothecarius :  qui  Codices  secat  oder  resecat.  Das  ist  ein 
Nonsens.  Wie  der  Irrtum  entstand,  sagt  uns  G.  Löwe  in  seinem  Pro- 
dromus  S.  72  nicht.  Er  kann  aber  m.  E.  nur  darauf  zurückgehn,  daß  man 
im  6.  Jahrhundert  das  griechische  Q  in  ßißho&rjxr]  schon  wie  die  Neu- 
griechen in  einer  Weise  aussprach,  die  dem  s  nahe  kam  (vgl.  lakonisch  oiog 
für  §e6g).  Man  hörte  also  bibliosecarius  und  machte  daraus:  qui  Codices  secat. ^) 

Es  ist  noch  zu  erwähnen,  daß  die  Papyrusfabrikation  in  Ägypten  Gebrauch 
auch  dann  noch  fortbestand,  als  die  Araber  dort  herrschten,  wennschon  p^  ^^^^^  j^ 
sie  stark  zurückgegangen  war.  Sie  währte  bis  ins  10.  Jahrhundert.  *)t.—io.  Ja  in - 
Eustathius,  der  zur  Odyssee  XXI  p.  1913  ed.  Rom.  darüber  spricht,  daß 
die  Charta  nicht  mehr  fabriziert  wird,  gehört  dem  12.  Jahrhundert  an. 
Inzwischen  aber  Avar  das  moderne  Papier  aus  China  zu  den  Arabern  ge- 
langt; das  Hadernpapier  w^urde  durch  sie  im  9.  Jahrhundert  in  Ägypten 
selbst  eingeführt.  Nicht  durch  das  Pergament,  sondern  durch  dies  neue 
chinesische  Papier  ist  damals  in  Ägypten  die  altehrwürdige  Chartafabri- 
kation ertötet  worden.  Gleichzeitig  waren  am  Anapus  in  Sizilien  jene 
Papyruspflanzungen  entstanden,  die  dort  heute  noch  vorhanden  sind.  Im 
Occident  beobachtet  man  die  Verwendung  der  Charta  für  Urkunden  in 
Rollenform  —  chartae  oder  tomi  genannt  —  noch  im  10.  Jahrhundert; 
eine  päpstliche  Urkunde  auf  Papyrus  stammt  noch  aus  dem  Jahre  1011. 
Aber  die  Päpste  haben  dazu  keine  ägyptische,  sondern  nur  noch  die 
siziHsche  Charta  verwandt.  &)   Die  Wahl  dieses  Materials  galt  damals  ohne 


»)  Vgl.  hierzu  Neue  Jahrbb.  27  (1911) 
S.  360. 

J)  Vgl.  Cassiodor,  Institutiones  I  30 


im  allgemeinen  Gr.  Marini,  I  papiri  diplo- 
matici,  Rom  1805;  Bresslau  in  Oesterr. 
Mitteilungen  1888  S.  1  ff. ;  Wattenbach 


das  Bücherabschreiben  sei  für  den  Mönch   |    S.  87;  Paoli  S.  47  u.  53f.;  Gardthausen 


wichtiger  als  der  Ackerbau. 

3)  So  wird  Anthol.  lat.  338, 8  für  Perse- 
phone  sogar  persenece(m)  geschrieben,  weil 
(povog  —   nex  (Eiese). 

4)  Siehe  U.Wilcken,  Hermes  23  S.  629  f.; 


S.50u.78f. 

^)  Vgl.  hierzu  Karabacek  u. Wiesner 
in  Mitteilungen  aus  der  Sammlung  Erz- 
herzog Rainer  II  u.  III  S.  87  f.;  IV  S.  75  f. 


366 


Das  antike  Buchwesen. 


Codices 
chartacei 


Frage    als    erlesen,    die    Charta    als    größte   Kostbarkeit.     Die    päpstliche 
Kanzlei  bediente  sich  ihrer  aus  diesem  Grunde  besonders,  i) 

Auch  auf  die  Charta  ist  endlich  im  Altertum  die  Form  des  gehefteten 
Buches  angewandt  worden,  und  zwar  ist  das  schon  früh,  und  gewiß  schon 
im  2.  Jahrhundert  geschehen;  dies  zeigt  Ulpian,  Digest.  32,  52  (Buchwesen 
S. 97;  oben  S.360).  Daß  man  dies  versucht  hat,  war  nur  zu  natürlich;  denn 
die  Vorteile  des  gehefteten  Lesebuchs  sprangen  in  die  Augen ;  warum  sollte 
man  die  Heftung  auf  das  Pergament  beschränken?  Daher  also  die  Arielen  in 
Ägypten  gefundenen  Reste  gefalteter  Charta,  die  aus  der  römischen  Kaiser- 
zeit stammen.  Aber  vornehmlich  nur  in  Ägypten,  der  Heimat  der  Charta, 
scheint  das  häufiger  geschehen  zu  sein.^)  Im  ganzen  betrachtet,  sind  die 
Codices  chartacei,  die  Ulpian  a.  a.  0.  erwähnt,  im  litterarischen  Betriebe  doch 
immer  eine  Seltenheit  geblieben, »)  und  dies  erklärt  sich  eben  daraus,  daß 
sie  kostbarer  als  die  memhranacei  und  dabei  soviel  weniger  haltbar  waren. 
Denn  schon  der  Faden,  mit  dem  die  Heftung  geschah,  genügte,  um  dm-ch 
seine  Reibung  die  zarte  Charta  zu  zersplittern  und  ernstlich  zu  beschädigen, 
und  daher  mußte  gelegentlich  in  solchem  Chartacodex  das  Pergament  mit 
aushelfen,  indem  man  z.  B.  gefaltete  Pergament  stücke  als  Falz  unter  den 
Faden  schob,  um  den  Faden  zu  isolieren  und  die  Chartablätter  vor  ihm 
zu  schützen. 4)  Läßt  Hieronymus  (epist.  71)  für  seinen  Gebrauch  Codices 
chartacei  herstellen,  so  hebt  er  das  als  etwas  Außergewöhnliches  und  auch 
gewiß  als  etwas  Wertvolles  besonders  hervor.  0)  Wo  wir  bei  ihm  und 
anderen  Autoren  seines  Zeitalters  von  Codices  ohne  Zusatz  lesen,  Avird 
jedenfalls  überall  nur  an  Pergamentbücher  gedacht. ß)  Sie  sind  es,  denen 
im  Occident  die  Papyrusrolle  unterlegen  ist. 


1)  Nach  Gardthausen  S.79  hätten  die 
Päpste  das  Pergament  nicht  verwenden 
wollen,  weil  es  ketzerischen  Ursprungs 
war.  Aber  es  diente  doch  seit  langem 
dem  Gottesdienst  in  allen  Kirchen  des 
Orients  und  Occidents. 

2)  Gardthausen  S.  156. 

3)  Traube,  Vorles.  S.  89 ;  derselbe  in 


Bibl.de  l'ecole  des  chartes  Bd.64  (1903)  S.6  ff. 

*)  Gardthausen  S.  175. 

5)  Vgl.  dazu  auch  Hieron.  epist.  5,  2: 
eos  libros  quos  non  habere  me  brevis  suhditus 
edocebit,  librarii  manu  in  cJuirta  scribi  iubeas. 
Hier  wissen  wir  indes  nicht,  ob  Eollen 
oder  Codices  gemeint  sind. 
.    «)  Buchrolle  S.  36. 


ANHANG  I 

zu  S.  346  ff. 


Martial  hat  seine  sämtlichen  Bücher  als  Papyrusrollen  ins  Publikum 
gegeben,  und  er  bringt  uns  deshalb  auch  für  die  Kenntnis  der  Beschaffen- 
heit des  antiken  Rollenbuchs  das  reichste  Detail.  Trotzdem  ist  Martial 
auch  für  die  Frage  nach  den  Anfängen  des  Codexbuchwesens  der  wich- 
tigste Autor.  Deshalb  habe  ich  oben  S.  346  ff.  über  den  I  2  von  ihm  er- 
Avähnten  Sammelcodex  eingehend  handeln  müssen,  indem  ich  mich  dabei 
gegen  0.  Immisch  wandte,  dessen  Aufsatz  im  Hermes  46  S.  481  ff.  nach 
meiner  Meinung  eine  gi'oße  Anzahl  kühner  Aufstellungen  enthält,  die 
sich  nicht  aufrecht  erhalten  lassen.  Füi'  die  Bücher  Martials,  die  einer 
Prosapraefatio  entbehren,  setzt  Immisch  an,  daß  sie  sämtlich  solche  Prae- 
fationen,  die  in  der  Überlieferung  verloren  gegangen  seien,  besaßen.  Der 
Bew^eis  dafür  aber  ist  hinfällig;  für  die  Bücher  I  und  III  habe  ich  das 
oben  S.  346  und  S.  314  gezeigt;  für  die  übrigen  soll  es  im  Nachfolgenden 
dargelegt  werden.  Denn  diese  von  Immisch  vertretene  Annahme  hängt 
mit  der  anderen  Aufstellung  zusammen,  daß,  so  wie  Martial  seine  ersten 
sieben  Bücher  in  einen  Codex  gesammelt  habe  (auch  diese  Annahme  ist 
oben  S.  350  widerlegt),  auch  die  Bücher  8 — 11  oder  8 — 12  vom  Dichter 
nachträghch  noch  einmal  in  einem  gleichen  Codex  ausgegeben  sein  sollen. 
Füi'  diesen  Ansatz  vermisse  ich,  wie  schon  angedeutet,  jede  Spur  eines 
wirkhch  nötigenden  Nachweises.  Was  ich  im  Folgenden  gebe,  sind  zum 
größten  Teil  die  Ausfülii-ungen  meines  Schülers  F.  Schuchardt,  zu  denen 
ich  ihn  anregte  und  deren  Inhalt  ich  im  wesentHchen  vertreten  kann. 
Ich  habe  indes  von  den  Ausführungen  Schuchardts  mehreres  weggelassen, 
anderes  meinerseits  hinzugesetzt. 

„Ebensowenig  wie  im  dritten  Buch  Martials  findet  sich  in  den  folgenden 
Büchern  Anlaß,  den  Ausfall  von  Prosaepisteln  anzunehmen.  Nach  Immisch 
sind  nämlich  auch  in  den  Büchern  4 — 7  die  nicht  vorhandenen  Episteln 
unterdrückt,')  und  sie  sollen  deshalb  vorhanden  gewesen  sein,  weil  sie 
bei  Statins  in  keinem  Buch  der  Silven  fehlen.  Dies  Argument  kann  aber 
nicht  überzeugen;  denn  Statins  ist  eben  nicht  Martial,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  zwischen  Martial  und  Statins  grade  ein  gespanntes  Ver- 
hältnis 2)  bestanden  haben  mag.  Denn  Martial,  der  all  die  übrigen  litte- 
rarisch berühmten  Zeitgenossen,  Plinius  Secundus,  Sihus  Italiens,  Juve- 
nalis,  QuintiHanus,  Sulpicia,  SteUa,  Valerius  Flaccus,  Canius  Rufus  u.  a. 
reichlich  nennt,    schweigt   den   Statins   ganz    tot.     Man   könnte    also   gar 

')  a.  a.  O.  S.  490.  |  2)  sjehe  Friedländer,  Ausg.  I  p.  8/9. 


368  Das  antike  Buchwesen. 

im  Gegenteil  schließen,  daß  er  mit  Absicht  von  seines  Gegners  Art 
abging.  So  ist  auch  des  Decianus  Verwundern  über  die  dem  zweiten 
Buch  vorangestellte  Praefatio  und  Martials  wenn  auch  scherzhafte  Ver- 
teidigung dieses  ausnahmsweise  zugelassenen  Prosastücks  verständlich. 
Jedenfalls  liegt  kein  Anlaß  vor,  an  das  ursprüngliche  Dasein  dieser  weiteren 
Episteln  zu  glauben. 

„Warum  aber  erscheint  dem  genannten  Gelehrten  das  Unbeweisbare 
so  wünschenswert,  daß  ursprünglich  in  allen  Martialbüchern  in  Prosa  ab- 
gefaßte Praefationen  vorhanden  Avaren?  Immisch  glaubt,  i)  daß  auch  die 
Bücher  8 — 11,  wie  die  Bücher  1 — 7,  in  Codexform,  und  zwar  noch  von 
Martial  selbst,  ediert  worden  seien.  In  den  Büchern  1 — 7  seien  nämlich 
von  dem  Eedaktor  des  Archetyps  V  alle  Episteln  mit  Ausnahme  der  dem 
ganzen  Codex  zur  Einleitung  dienenden,  dem  ersten  Buche  vorangestellten 
mit  Absicht  unterdrückt.  2)  In  den  Büchern  8 — 11  seien  ebenso  von  V 
alle  Episteln  mit  Ausnahme  der  dem  achten  Buche  vorangestellten  mit 
Absicht  unterdrückt.  Daraus  folge,  daß  auch  Buch  8  an  der  Spitze  eines 
seit  Alters  zusammengestellten,  die  Bücher  8 — 11  umfassenden  Pergament- 
codex gestanden  habe. 

„Wie  verhält  es  sich  nun  aber  zunächst  mit  dem  achten  Buche  und 
seinem  Vorwort?  Immisch  selbst  s)  gesteht,  über  dies  Buch  nicht  viel 
sagen  zu  können;  während  wir  doch,  wenn  Buch  8  einen  neuen  Codex 
eröffnet  haben  soll,  grade  für  dies  Buch  den  Nachweis  bestimmter  An- 
zeichen erwarten  müssen.  Und  wenn  Immisch  später  sagt,  4)  das  neunte 
Buch  könne  nicht  mit  zureichenden  Gründen  als  Eingangsbuch  des  zweiten 
Codex  betrachtet  werden,  so  scheint  er  selber  einen  Augenblick  gezweifelt 
zu  haben,  ob  er  jenen  zweiten  Pergamentcodex  bei  Buch  8  oder  9  eröffnen 
solle.  Ferner,  die  Epistel  des  ersten  Buches  kann,  da  sie  ohne  bestimmten 
Adressaten  ist  und  von  Uhelli  in  der  Mehrzahl  spricht,  zu  der  Annahme 
führen,  daß  sie  später  einem  mehrere  Bücher  umfassenden  Codex  voran- 
gesetzt sei  (s.  oben  S.  347).  Die  Epistel  des  achten  Buches  dagegen  bietet 
dergleichen  Anhaltspunkte  nicht.  Aus  dem  hoc  libro,  qui  operis  nostri 
octavus  inscribitur,  geht  deuthch  genug  hervor,  daß  dieses  Vorwort  —  das 
dann  doch  eigentlich  nach  Immischs  Anschauung,  wie  das  des  ersten 
Buches,  dem  Codex  später  zugefügt  worden  wäre  —  umgekehrt,  schon  der 
Einzelpublikation  des  achten  Buches,  also  diesem  Buch  allein  beigegeben 
war;  was  ja  auch  schon  daraus  folgt,  daß  die  Epistel  noch  dem  im  Jahr  96 
verstorbenen  Domitian  gewidmet  ist,  während  sie,  einem  die  Bücher  8 — 11 
umfassenden  Codex  vorangestellt,  erst  nach  der  Redaktion  des  zehnten 
Buches  hätte  veröffentlicht  werden  können,  also  erst  im  Jahre  99,  in  das 
Stobbe,  oder  im  Jahre  98,  in  das  Friedländer  die  Redaktion  des  zehnten 
Buches  setzt.  All  dies  läßt  uns  aber  von  vornherein  an  dem  einstmaligen 
Vorhandensein  des  die  Epigrammenbücher  8 — 11  umfassenden  Codex  voll- 
ständig irre  werden. 

„Und  wie  verhält  es  sich  mit  der  bloß  in  G  überlieferten  Epistel  des 
neunten  Buches?   Denn  auf  die  Unterdrückung  von  Episteln  legt  Immisch 

1)  S.  515.  I  3)  s.  494. 

•-')  S.  496.  I  *)  S.  496. 


Anhang  I.  369 

ja,  Avie  wir  sahen,  großen  Wert.  Das  kleine  Prosavorwort  des  neunten 
Buches  ist  nun  nach  Immischi)  das  Bruchstück  eines  längeren  Briefes,  der 
gleich  dem  zu  Buch  1  und  dem  hj^pothetischen  zu  Buch  3  dazu  bestimmt 
war,  dem  auf  ihn  folgenden  metrischen  Stücke  zur  Erläuterung  zu  dienen." 

In  "Wirklichkeit  liegt  aber  die  Sache  doch  anders.  Das  Vorwort,  um 
das  es  sich  handelt,  lautet,  kurz  genug:  Have,  mi  Torani,  f rater  carissime. 
Epigramma,  quod  extra  ordinem  paginarum  est,  ad  Stertinhim  clarissimum 
virum  scripsimus,  qui  imaginem  meam  ponere  in  hihliotheca  sua  voluit.  De 
quo  scribendum  tibi  piitavi  ne  ignorares,  Ävitus  iste  quis  vocaretur.  Vale  et 
para  hospitium.  Es  betrifft  also  nur  ein  einzelnes  Epigramm,  mit  w^elchem 
Epigramm  es  anders  stand  als  mit  den  sonstigen  Gedichten,  mit  denen 
Martial  seine  Bücher  füllt. 

Das  betreffende  Epigramm  stand,  wie  Martial  sagt,  extra  ordinem 
paginarum.  Dasselbe  kann  und  muß  auch  von  der  Praefatio  gelten,  die 
sich  mit  ihm  beschäftigt.  Früher^)  habe  ich  dies  so  gedeutet,  daß,  Avas 
sich  extra  ordinem  paginarum  befand,  opisthographisch  auf  dem  Rücken 
der  Rollen  eingetragen  war.  Für  die  Frage,  die  uns  an  dieser  Stelle  be- 
schäftigt, ist  die  Entscheidung  hierüber  freilich  ziemlich  gleichgültig;  doch 
möchte  ich  erwähnen,  daß  vielleicht  folgende  Annahme  den  Vorzug  verdient. 

Halten  wir  uns  die  Tatsache  gegenwärtig,  daß  die  Endseiten  in  den 
antiken  Buchrollen  der  Regel  nach  keine  Schrift  zu  tragen  pflegten,  sondern 
leer  standen  (oben  S.  299;  332).  Die  paginae  oder  Schriftkolumnen  begannen 
in  der  Rolle  erst  nach  einem  solchen  ausgesparten  und  leer  gelassenen 
Raum.  Auf  diesen  leeren  Platz,  extra  ordinem  paginarum,  hat  Martial,  wie 
ich  meine,  das  Epigramm  Note  licet  nolis  eqs.,  das  wir  vor  der  ersten 
Nummer  des  neunten  Buches  antreffen  und  mit  dem  es  seine  besondere 
Bewandtnis  hatte,  gestellt.  Denn  die  wirkliche  Eröffnung  des  neunten 
Buches  bildet  ohne  Frage  das  Stück,  das  wir  nach  dem  Herkommen  als 
Nr.  1  zählen  und  das  die  kaiserliche  Regierung  feiert.  In  jenem  vor- 
geschobenen Epigramm  aber  erwähnt  Martial,  daß  er  porträtiert  worden 
ist,  und  gibt  Verse  zum  Besten,  die  in  der  Bibliothek  des  Avitus  als 
Unterschrift  seines  Porträts  zu  dienen  bestimmt  sind.  Das  Prosabriefchen 
an  Toranius  aber  stand  in  der  Papyrusrolle,  die  Martial  hier  voraussetzt, 
auf  demselben  leeren  Anfangsblatt  mit  dem  Epigramm  Note  licet  nolis 
vereint,  und  zwar  unmittelbar  über  ihm  angeordnet:  was  daraus  zu  ent- 
nehmen ist,  daß  es  im  Archetyp  unsrer  handschriftlichen  Tradition  eng 
mit  dem  Titel  des  neunten  Buches  selbst,  respektive  mit  der  Subscriptio 
des  Torquatus  Gennadius  verwachsen  ist. 

Dies  Briefchen  ist  zwar  kurz,  aber  es  ist  vollständig.  Daß  es  kurz, 
erklärt  sich  aus  seinem  Zweck,  daß  es  vollständig,  beweist  seine  Fassung. 
Denn  das  Billet  beginnt  mit  dem  have  und  schließt  mit  dem  vale.  Das 
„Guten  Tag"  ist  der  Anfang,  das  „Adieu"  ist  der  Schluß.  Dabei  hat  es, 
obschon  es  gut  gefeilt  ist  und  die  üblichen  rythmischen  Satzklauseln  zeigt, 
doch  den  Charakter  des  Gelegenheitsbriefchens :  denn  es  fügt  noch  den 
Wunsch  hinzu  „wenn  ich  nächstens  zu  dir  komme,  nimm  mich  gut  auf". 


1)  S.  494—496.  I  2)  Antikes  Buchwesen  S.  142,  3. 

Handbuch  der  klass.  Altertumswissenscliaft.    I,  3.     3.  Aufl.  24 


370  ^^s  antike  Buchwesen. 

2)ara  hospitium.  Die  kurze  Fassung  aber  erklärt  sich  eben  daraus,  daß 
Martial  nichts  weiter  als  den  außerordentlichen  Charakter  und  Standort 
des  gleich  nachfolgenden  Epigramms  Xote  licet  nolis  rechtfertigen  und 
erläutern  will.  Diese  Epistel  sollte  also  nicht  auf  das  ganze  Buch  9, 
sondern  nur  auf  ein  einziges  Poem  Bezug  haben.  Toranius,  und  mit  ihm 
auch  das  Publikum  Eoms,  soll  erfahren,  daß  der  edle  Avitus,  der  Martials 
Büste  bei  sich  aufstellte,  der  diese  Büste  also  gOAviß  auch  anfertigen  ließ, 
mit  vollem  Namen  Stertinius  Avitus  hieß.  Der  Mann,  der  eine  so  große 
Sache  zum  E,uhm  Martials  getan,  war  natürlich  ewig  denkwürdig  und 
sein  Name  mußte  der  Nachwelt  unzweideutig  erhalten,  er  mußte  gesichelt 
werden.  Daher  ist  das  Briefchen  und  das  zugehörige  Epigramm  selbst 
vom  Dichter  in  die  öffentliche  Ausgabe  seines  neunten  Buches,  und  zwar 
an  außerordentlicher  Stelle,  mit  aufgenommen  worden.  — 

„Wenn  nun  aber  die  Epistel  des  neunten  Buches,  wie  aus  dem  Ge- 
sagten hervorgeht,  auf  ganz  anderer  Stufe  steht,  als  die  übrigen  Episteln 
(denn  sie  bezieht  sich  eben  nicht  auf  das  neunte  Buch  selbst,  sondern  auf 
ein  Stück  außerhalb  des  Contextes  dieses  neunten  Buches),  so  ist  damit  auch 
die  von  Immisch  gegebene,  den  zweiten  Martialkodex  betreffende  Beweis- 
führung, die  sich  ganz  auf  die  den  einzelnen  Büchern  ursprünglich  mit- 
gegebenen Praefationen  bezieht,  entkräftigt.  Denn  nun  ist  ja  auch  Buch  9, 
obwohl  mit  einer  Epistel  versehen,  dennoch  ohne  Praefatio.  Daß  aber  die 
Bücher  10  und  11,  wie  Immisch  meint,  i)  dereinst  auch  Episteln  auf- 
wiesen, dafür  bietet  sich  nicht  die  geringste  Stütze.  Und  selbst  Avenn  die 
Bücher  1 — 7  und  8 — 11  alle  ursprünglich  ja  eine  solche  gehabt  hätten, 
die  nachher  bis  auf  die  des  ersten  und  achten  Buches  von  F  mit  Absicht 
unterdrückt  Avorden  wären:  nicht  einmal  daraus  würde  folgen,  daß  die 
Bücher  8 — 11  in  Codexform,  und  zAvar  noch  von  Martial  selbst,  ver- 
öffentlicht seien.  Einen  anderen  Beweisgrund  aber  hat  Immisch  für  den 
die  Bücher  8 — 11  umfassenden  Codex  nicht  beigebracht. 

„Hinzu  kommt,  daß  in  den  ersten  Martialbüchern  zwar  Adelleicht 
Epigramme  sind,  von  denen  man  annehmen  kann,  daß  sie  erheblich  später 
abgefaßt  und  veröffentKcht  seien  als  diejenigen,  in  deren  Nachbarschaft 
sie  uns  jetzt  überliefert  sind.  Yon  Buch  8  an  aber  fehlen,  abgesehen  von 
dem  zweimal  redigierten  zehnten  Buche,   dergleichen  Epigramme  ganz.  2) 

„Wie  indeß  Immisch  selber  über  das  Anfangsbuch  seines  zweiten 
Martialcodex  im  Zweifel  gewesen  zu  sein  scheint,  so  auch,  Avie  mich  dünkt, 
über  das  Sclilußbuch.  Denn  das  ZAvölfte  Buch  hat  er  doch  aus  jenem 
ZAveiten  Codex  vielleicht  bloß  desAvegen  ausgeschlossen,  Aveil  in  diesem 
ZAA^ölften  Buche  —  zufällig,  könnte  man  sagen  —  wiederum  eine  Epistel, 
und  zAvar  in  O  soAvohl  Avie  in  T^,  überliefert  ist. 

„Nun  aber  vermutet  Immisch  S.  516  f.,  daß  bald  nach  Martials  Tod 
ein  dritter  Codex,  der  die  Bücher  8 — 12  umfaßte,  ediert  Avorden  sei  als 
Ersatz  für  den  ohne  das  ZAvölfte  Buch  umlaufenden  zAveiten  Codex.  Die 
Existenz  dieses  dritten  Codex,  A^on  A^ornherein  nur  für  den  Verteidiger 
des  ZAveiten  glaublich,  ist  schon  mit  der  Beseitigung  dieses  zAveiten  Avider- 


^)  S.  496.  •  j    libellorum  rationc  temporibusque,  Eostock 

2)  Siehe  Dau,  De  M.  Valerii  Martialis   |    1887,  p.  74. 


Anhang  I.  371 

legt.  Denn  gesetzt  den  Fall,  es  seien,  wie  Immisch  S.  514  behauptet, 
einige  Epigramme  aus  dem  zehnten  Buch,  in  das  sie  gehören,  in  das 
zwölfte  fälschlich  umgestellt:  folgt  denn  daraus,  daß  sie  dorthin  umgestellt 
wurden  durch  denjenigen,  der  bald  nach  Martials  Tod  jenen  dritten,  die 
Bücher  8 — 12  umfassenden  Pergamentcodex  redigierte?  Es  fehlt  dafür 
in  AVirklichkeit  jedes  Anzeichen. 

„Die  Frage,  ob  überhaupt  Gedichte  aus  dem  zehnteü  Buch  in  das 
zwölfte  versetzt  worden,  ist  nach  dem  Gesagten  ohne  Belang.  Doch  sei 
auch  auf  sie  eingegangen.  Welche  Stücke  soUen  das  sein?  Nach  Immisch 
(S.  504 — 511)  zunächst  die  Epigramme  aus  der  Nervaanthologie  XII  4; 
5;  6a;  8;  11;  sodann  das  Gedicht  an  Priscus  XII  4:  -{-  ßh  und  die  zwei 
Spottverse  auf  Ligia,  XII  7.  All  diese  Stücke  stünden  zu  Unrecht  in 
Buch  12;  denn,  erst  in  diesem  Buch  veröffentlicht,  wären  diese  Sachen 
(abgesehen  von  dem  zeitlosen  Ligiaepigramm)  nicht  mehr  aktuell  gewiesen. 
Das  Ligiagedicht  falle  zudem  ganz  aus  der  Stimmung  i)  und  stehe 
außerdem  «unglückselig  isolierte, 2)  während  es,  an  den  Schluß  von  Buch  10 
gestellt,  durch  das  auf  dieselbe  Ligia  gedichtete  Epigramm  X  90  besser 
in  den  Buchzusammenhang  verwoben  würde.  3) 

„Freilich  waren  die  Gedichte,  im  zwölften  Buche  ediert,  nicht  mehr 
aktuell.  Aber  Martial  hat  doch  auch,  als  er  im  Jahre  98  das  zehnte  Buch 
zum  zweitenmal  herausgab,  dem  Publikum  nicht  bloß  Gedichte,  die  er 
vor  mindestens  drei  Jahren  verfaßt,  vorgesetzt,  sondern  sogar  solche,  die 
teilweise  schon  lange  gelesen  und  belacht  w^aren.  Soll  er  also  nicht  im 
Jahre  101  Gedichte  veröffentlicht  haben  können,  die  zum  Teil  schon  vier 
Jahre  alt,  aber  doch  noch  nicht  vorher  publiziert  waren?  Das  eine  muß 
uns  für  so  mögHch  gelten  wie  das  andere,  und  mir  scheint  also  kein 
Grund  vorhanden,  anzunehmen,  Martial  habe  die  von  Immisch  auf- 
gezählten Gedichte  der  Xervaanthologie  und  das  Priscusbriefchen  schon 
im  zehnten  Buch  edieren  müssen  und  wirklich  ediert. 

„Ebensowenig  vermag  ich  die  «lächerlich  deplazierte>  Stellung-*)  des 
Ligiagedichtchens  in  Buch  12  einzusehen.  Vereinzelt  steht  es  ja  zwar  an 
seiner  jetzigen  Stelle  XII  7,  und  es  mag  wohl  gar  der  Färbung  der  um- 
liegenden Gedichte  widerstreiten.  Aber  was  verschlägt  das  in  einem 
Epigrammenbuch?  Hat  doch  sogar  Catull,  der  Liebling  des  Martial,  seine 
zwei  Kußlieder  durch  das  Flaviusgedicht,  scheinbar  gewaltsam,  getrennt. 
Ja,  man  kann  wohl  sagen,  daß  die  römischen  Dichter,  der  AbAvechslung 
halber,  Gegensätzliches  zuweilen  gern  nebeneinanderstellten,  und  auch 
wohl  ab  und  zu  ein  Fremdes,  gleichsam  als  Interpunktionszeichen,  mitten 
unter  Andersartiges  hineinschoben.  Catull  bietet  noch  mehr  Beispiele  der 
Art,ö)  und  Martial  selbst  handelt  z.  B.  VI  2  u.  4u.  7  von  der  pudicitia,  die 
Domitian  in  Rom  wiederhergestellt  habe;  er  stellt  die  Anulkung  der 
Paula  VI  6  mitten  dazwischen.  Ebenso  Avendet  sich  Martial  VII  1  u.  2  u.  5 
gleicherweise  an  den  Kaiser;  durch  die  zwischengeworfenen  Spaße  über 
Pontilianus  und  Oppianus  VII  3  u.  4  stört  er  absichtlich  den  Zusammenhang. 

I  4)  s.  513. 

^)  Siehe  Philolog.  63  S.  432;  468  ff. 

24* 


') 

s. 

512. 

') 

s. 

514. 

') 

8. 

513. 

372  ^^^  antike  Buchwesen. 

„Dazu  kommt,  daß  Immisch,  wie  mir  scheint,  doch  wieder  dem  Martial 
dasselbe  vorwirft,  wovon  er  ihn  freisprechen  will:^)  denn  der  Zweizeiler 
auf  Ligia  stand  jedenfalls  auch  in  der  Nervaanthologie,  in  der  er  ja  ent- 
halten w^ar,  ebenso  «unglückselig  isoliert»  wie  nun  im  zw^ölften  Buch.  Auch 
das  Gedicht  X  90  handelt  zwar  schon  von  der  Ligia;  aber  dies  furcht- 
bar unanständige  Stück  hat  gewiß  nicht  mit  in  der  Nervaanthologie  ge- 
standen, weil  es  erstens  denn  doch,  wie  wdr  zu  sagen  pflegen,  etwas  zu 
stark  ist;  weil  es  zweitens  auch  an  einem  ganz  anderen  Ort,  oline  Zu- 
sammenhang mit  den  Ner vagedichten,  überliefert  steht.  x4.1so  hätte  dann 
doch  auch  in  dem  kaiserlichen  Papyrus,  wo  zudem  solche  Sünde  noch 
viel  sündhafter  gewesen  wäre,  jenes  Epigramm  XII  7  unglückselig  isoliert 
gestanden. 

„Und  so  kann  denn,  meiner  Meinung  nach,  aus  mehreren  Gründen 
von  einer  Umsetzung  jener  Gedichte  aus  dem  zehnten  in  das  zAvölfte 
Buch  nicht  ernstlich  die  Rede  sein.  Welche  Gründe  hätten  denn  auch 
zu  einer  solchen  Umstellung  führen  können? 

„Nach  Immisch  hat  der  E-edaktor,  der  für  solche  Umstellung  ver- 
antwortlich zu  machen  wäre,  zunächst  das  im  Auge  gehabt,  daß  er  das 
dem  älteren  Priscus  gewidmete,  jetzt  als  XII  4  -|-  6b  gezählte  Gedicht  aus 
dem  zehnten  in  das  dem  jüngeren  Priscus  gewidmete  ZAVölfte  Buch  ver- 
setzte. Aber  mir  scheint  doch  der  Redaktor  sehr  wunderlich,  der  zugleich 
so  zartfühlend  war,  Vater  und  Sohn  zusammenzubringen,  und  zugleich 
so  wenig  zartfühlend,  die  Ligia,  wde  sie  jetzt  im  zwölften  Buch  steht,  von 
der  Ligia  des  zehnten  Buches  so  schmählich  zu  trennen!  Aber  Immisch 
glaubt,  daß  der  Redaktor  noch  einen  zweiten  Grund  für  die  Umstellung 
hatte.  Das  zehnte  Buch  schien  ihm  nämhch  zu  lang  zu  sein;  und  so  hat 
er  es  zugunsten  des  zwölften  beschnitten.  Doch  auch  dies  leuchtet  nicht 
ein;  denn  ob  die  einzelnen  Bücher  länger  oder  kürzer  sind,  das  ist  doch 
eben  in  der  Codexform  viel  gleichgültiger  als  in  der  einzelnen,  durch 
technische  Gründe  begrenzten  Papyrusrolle.  Da  man  aber  das  allerdings 
auch  jetzt  noch  etwas  längere  zehnte  Buch  in  der  Papyrusrolle  anstands- 
los und  ungeschmälert  überlieferte,  so  lag  doch  später,  bei  Gelegenheit 
der  von  Immisch  angenommenen  Codexredaktion,  um  so  weniger  Ver- 
anlassung vor,  das  Buch  zu  verkürzen. 

„All  dies  läßt  uns  an  der  Umstellungstheorie  irre  Averden.  Daß  aber 
selbst,  w^enn  solche  Umstellung  stattfand,  sie  nicht  von  dem  herrülirt,. 
der  nach  dem  angeblichen  zweiten  Codex  den  angeblichen  dritten  Codex 
redigierte,  das  habe  ich  schon  oben  berührt."  — 

So  wenig  es  also  einen  Martialcodex  gab,  der  zu  des  Dichters  Leb- 
zeiten seine  ersten  sieben  Bücher  umschloß,  so  wenig  haben  damals  seine 
Bücher  8 — 11  oder  8 — 12  in  einem  zweiten  Codex  beisammen  gestanden. 

')  S.  514. 


Anhang  II.  373 

ANHANG  II 

zu  S.  353. 


Es  ist  notwendig,  die  wichtigen  Martialepigramme  XIY  184;  186; 
190;  192,  in  denen  uns  zum  erstenmal  Litteraturbücher  in  der  Form  des 
gehefteten  Pergamentcodex  entgegentreten,  noch  einmal  eingehender  zu 
betrachten,  und  ich  tue  dies  hier  im  Anhang,  um  die  im  Vorstehenden 
gegebene  zusammenfassende  Darstellung  nicht  durch  disputatorische  Ab- 
schnitte zu  sehr  zu  zerreißen.  Es  ist  das  dritte  Mal,  daß  ich  in  meinen 
Arbeiten  über  Fragen  des  antiken  Buchwesens  diese  interessanten  Ge- 
dichte bespreche;  die  Vermutung,  daß  wir  es  hier  überall  nur  mit  Aus- 
zügen zu  tun  haben,  hat  sich  allmählich  in  mir  befestigt  und  ist  zur 
Überzeugung  geworden.     Nur  den  Cicerocodex: 

XIY  188 :  Cicero  in  membranis. 

Si  comes  ista  tibi  fuerit  membrana,  putato 
Oarpere  te  longas  cum  Cicerone  vias, 

nehme  ich  aus;  er  kann  immerhin  eine  der  kürzeren  Ciceroreden  voll- 
ständig enthalten  haben.  Im  übrigen  haben  wir  S.  346  ff.  gesehen,  daß 
auch  der  von  Martial  im  Gedicht  I  2  erwähnte  kleine  Codex  keine  Samm- 
lung von  Martialbüchern,  sondern  nur  Exzerpte  aus  ihnen  enthielt.  Also 
auch  da  ein  Exzerptencodex.  Da  nun  ferner  unter  den  im  Buch  XIV  be- 
sprochenen Pergamentbüchern  der  Livius,  XIV  190,  sicher  und  zweifellos 
nur  periocliae  des  Livius  enthalten  hat  (oben  S.  349),  so  liegt  bei  der 
Ähnlichkeit  und  engen  Zusammengruppierung  der  hier  vorliegenden  Epi- 
gramme schon  an  und  füi'  sich  der  Analogieschluß  äußerst  nahe,  auch 
für  Homer,  Vergil  und  Ovids  Metamorphosen  ebendasselbe  anzunehmen. 
In  der  Tat  wüßte  ich  nicht,  was  dagegen  sprechen  könnte.  Dazu  kommt 
aber  noch  der  zwingende  Umstand,  daß,  wie  ich  S.  359  ausgeführt,  das 
Format  dieser  Codices  nur  sehr  klein  war  und  es  gradezu  unvorstellbar 
ist,  wie  ein  so  kleines  Buch  alle  15  Metamorphosenbücher  Ovids  oder  gar 
die  48  Bücher  Homers  vollständig  enthalten  haben  sollte,  i)  Bei  der  ge- 
ringen Blatthöhe  dieser  Codices,  die  die  Größe  einer  Hand  nicht  über- 
troffen hat,  hätte  die  Dicke  der  Exemplare  ganz  exorbitant  sein  und  alle 
Grenzen  des  Möglichen  und  Ausdenkbaren  überschreiten  müssen. 
Für  Homer,  der  folgendermaßen  eingeführt  wird: 

XIV  184:  Homerns  in  pugillaribus  membraneis. 

Ilias  et  Priami  regnis  inimicus  Ulixes 
Multiplici  pariter  condita  pelle  latent, 

geben  uns  nun,  Avie  schon  S.  353  gesagt,  die  tabulae  Iliacae  und  die 
lateinische  IHas  des  Homerus  latinas  von  1070  Versen  eine  erwünschte 
Bestätigung.  Aber  auch  jene  Periochae  aus  Homer,  die  man  in  den  Aus- 
gaben des  Ausonius  findet,  bieten  uns  für  das,  was  Martial  hier  meint, 
die  trefflichste  Anschauung;  denn  in  diesen  Periochae  sind,  so  Avie  auch 
Martial  es  voraussetzt,  beide  Werke,  Ilias  und  Odj^ssee,  in  kurzer  und 
anschaulicher  Nacherzählung   nacheinander   vorgeführt.     Es   handelt   sich 

^)  Der  Inhalt  des  Menandercodex  von  Kairo  wird  auf  6000  Verse  berechnet. 


374  ^^s  antike  Buchwesen. 

somit  in  XIY  184  mutmaßlich  gleichfalls  um  ein  Buch  in  lateinischer 
Sprache. 

Wenden  wir  uns  zu  Yergils  Aeneis.  Hier  scheint  es  ganz  besonders 
evident,  daß  Martial  das  ganze  Epos  nicht  im  Auge  gehabt  haben  kann. 
Wer  die  beiden  Martialepigramme : 

XIV  186:  Vergilius  in  membranis. 

Quam  brevis  inmensum  cepit  membrana  Maronem! 
Ipsius  et  vultus  prima  tabella  gerit. 
XIV  190:  Titus  Livius  in  membranis. 

Pellibus  exiguis  artatur  Livius  ingens 
Quem  mea  non  totum  bibliotheca  capit, 

unter  sich  vergleicht,  dem  kann  ihre  auffällige  Übereinstimmung  nicht 
entgehen;  denn  in  beiden  herrscht  dieselbe  Kontrastierung  hrevis  mem- 
hrana  und  inmensus  Maro,  exiguae  peUes  und  mgens  Livius.  Da  nun, 
wie. gesagt,  der  kleine  Membrancodex  des  Livius,  den  der  Dichter  hier 
als  Geschenk  des  Armen  vorführt,  sicher  eine  Liviusepitome  war,  so  er- 
zwingt schon  die  Analogie  auch  für  die  Aeneis  ganz  denselben  Ansatz; 
und  in  der  Tat  hätte  eine  hrevis  membrana  des  oben  S.  359  festgestellten 
Formats  den  vollständigen  Text  des  Epos  ja  auch  nimmermehr  aufnehmen 
können,  es  sei  denn,  daß  es  sich  um  ein  Kunststück  in  Notenschrift 
handelte,  gleich  dem  Homer  in  der  Nuß  (oben  S.  282).  Nach  meiner 
Meinung  genügt  zur  Erklärung  dessen,  was  Martial  voraussetzt,  schon 
durchaus  der  Vergleich  der  zehnzeiligen  Aeneisargumenta,  Anthol.  lat.  N.  1, 
die  unter  Ovids  Namen  gehn.  Es  scheint  mir  wichtig,  daß  diese  Argu- 
menta mit  Vergil  schon  in  einer  hochehrwürdigen  Handschrift,  dem  alten 
Vergilvaticanus  3867  (i?)  des  5.  oder  6.  Jahrhunderts  verbunden  sind.  Dies 
Aeneiscompendium,  das  fälschlich  Ovids  Namen  trägt,  umfaßt  im  ganzen 
142  Zeilen,  hat  also  in  einem  kleinen  gehefteten  Büchlein  immerhin  6 
bis  7  Seiten  zu  24  Zeilen  anfüllen  können,  und  es  handelte  sich  also  bei 
Martial  XIY  186  eventuell  nur  um  ein  pergamentenes  Triptychon.  Man 
beachte  noch,  daß  auch  jener  „Ovidius"  selbst  im  Vorwort  seines  Aeneis- 
auszugs  V.  7  f.  gradeso  wie  Martial  die  Vorstellung  erwecken  will,  daß  es 
das  totum  corpus  der  Aeneis  sei,  das  er  gebe: 

Bis  quinos  feci  legerent  ut  carmine  versus, 
Aeneidos  totum  corpus  ut  esse  putent. 

Ich  halte  sonach  für  möglich,  daß  Martial  eben  diese  Argumenta  des 
„Ovidius"  wirklich  vor  sich  hatte.  Die  Verstechnik  derselben  entspricht 
der  Zeit  des  Nero;  das  o  in  cupio  und  adfirmo  wird  da  noch  lang  ge- 
messen, i) 

Nicht  ganz  so  dünn  ist  dagegen  der  von  Martial  XIV  184  voraus- 
gesetzte Homercodex  gewesen,  wie  die  AVorte  multiplici  pelle  condita  ver- 
raten; er  mag  demnach  einen  Text  von  2000  bis  3000  Versen  enthalten 
haben;   und  ebenso   stand  es  endlich   mit  Ovid,   wie  Martials  Epigramm: 

XIV  192:       Ovidi  Metamorphoses  in  membranis. 

Haec  tibi  multiplici  quae  structa  est  massa  tabella, 
Carmina  Nasonis  quinque  decemque  gerit 

0  lieber  dies  Kriterium  vgl.  J.MiDDEN-   1  1912,  S.  16  f. 
DOEF,   Elegiae  in  Maecenatem,  Marburg   | 


Anhang  II. 


375 


ergibt.  Der  Livius  und  Vergil  waren  dünne  Hefte,  der  Homer  und  Ovid 
hatten  gleicherweise  muUiplicem  pellem  und  multiplicem  tdbulam.  Gleich- 
wohl können  wir  nicht  ansetzen,  daß  in  diesem  Fall  das  Format  der 
massiger  zusammengelegten  memhranae  größere  Seitenhöhen  und  Blatt- 
flächen hatte  als  in  den  anderen  Fällen;  das  Pergamentbuch  kann  die 
Höhe  und  Breite  einer  Wachstafel  damals  überhaupt  noch  nicht  über- 
schritten haben.  Denn  in  der  Überschrift  des  ersten  dieser  Epigramme, 
XIY  184,  das  den  Homer  betrifft,  finden  wir  die  Bezeichnung  pugillares, 
die  eben  dies  Größenmaß  voraussetzt,  ausdrücklich  erwähnt;  und  nur  um 
die  Monotonie  zu  vermeiden,  hat  Martial  das  m  imgülarihus^  das  über 
Xr.  184  steht,  über  den  folgenden  Nummern  186,  188,  190,  192  nicht  noch 
einmal  hinzugesetzt.  Dagegen  macht  er  über  XIV  7  wieder  denselben 
Zusatz  und  befestigt  uns  dadurch  in  der  Überzeugung,  daß  er  hier  überall 
das  gleiche  Format  der  pugülares  vor  sich  hatte.  Das  esse  pitta  ceras 
(XIV  7)^)  gilt  hier  wie  dort.  Der  Ovidcodex  würde  nun  also,  wenn  er 
das  angezeigte  Werk  vollständig  enthielt,  bei  einer  Höhe  von  nur 
14  Zentimeter  (vgl.  S.  260)  aus  etwa  231  Blättern  oder  30  Quaternionen,  der 
Homer  gar  bei  gleicher  Blatthöhe  aus  535  Blättern  oder  67  Quaternionen  2) 
bestanden  haben  müssen,  was  gradezu  undenkbar  ist.  Dabei  sind  von  mir 
füi'  die  Seite  26  Zeilen  berechnet,  ein  Ansatz,  der  für  das  Format  der 
piigillares  wahrscheinlich  noch  zu  hoch  ist.  In  Wirklichkeit  würde  also 
die  Zahl  der  Quaternionen  sogar  noch  höher  anzusetzen  sein.  Auf  alle 
Fälle  wären  die  Codices  ungefähr  so  dick  wde  breit  gewesen,  wahre 
Monstra,  sie  hätten Jnahezu  die  Form  des  Kubus  gehabt,  und  jeder  Ver- 
nünftige würde  sie  in  mehrere  Codices  zerlegt  haben.  Wir  haben  bisher 
versäumt,  uns  die  Sache  klar  vorzustellen;  sonst  wäre  das  Richtige  längst 
ausgesprochen  worden:  es  kann  auch  in  diesen  Fällen  sich  nur  um  eine 
Epitome  handeln.  In  der  Tat  hat  es  im  Altertum  auch  vom  ovidischen 
Metamorphosentext  wirklich  Abkürzungen  gegeben;  eine  solche  hreviatio 
desselben  in  Prosa  besitzen  wir  noch; 3)  über  ein  anderes  Compendium 
von  Verwandlungsgeschichten,  das  früh  vorhanden  war  und  vielleicht  aus 
Ovids  Werk  selbst  seinen  Inhalt  geschöpft  hatte,  handelt  A.  Leuschke, 
De  metamorphoseon  in  scholiis  Vergilianis  fabulis,  Marburg  1895.  Wer  die 
von  Leuschke  erörterte  Frage  aufnimmt,  wird  das  von  Martial  14,  192 
erwähnte  Metamorphosencompendium,  wie  ich  meine,  hinfort  mit  in  Er- 
wägung zu  ziehen  haben. 

Der  in  Ägypten  aufgefundene  Auszug  aus  Livius,  der  mit  den  uns 
sonst  erhaltenen  Liviusperiochae  nicht  identisch  ist,  verrät,  daß  in  der 
Kaiserzeit  die  Breviarien  sich  wiederholten,  sich  häuften  und  verschiedene 
Form  annahmen  und  daß  uns  keineswegs  alles  Klägliche,  was  in  dieser 
Gattung  existierte,  erhalten  ist.  Man  wird  demnach  auch  nicht  verlangen, 
daß  die  im  vierzehnten  Buch  von  Martial  aufgeführten  Epitomen  aus 
Homer,  Vergil  und  Ovid,  auch  dies  ohne  Frage  armselige  Bücher,  in  der 


1)  Oben  S.  346. 

2)  Homer  hat  27  803  Verse,  das  sind 
1069  Seiten  zu  26  Zeilen,  also  535  Blätter; 
Ovids    Metamorphosen     enthalten    11996 


Verse,   also   462  Seiten  oder  231  Blätter 
des  gleichen  Umfangs. 

3)  Siehe  M.  Schanz,  Gesch.  der  röm. 
Litt.  §  313. 


376  I^as  antike  Buchwesen.     Anhang  II. 

Litteraturgeschichte  des  Altertums  breitere  Spuren  hinterlassen  haben 
müßten.  Nur  ein  blinder  Zufall  ist  es  gewesen,  der  uns  die  Liviusperiochae 
und  die  Aeneisperiochae,  von  denen  Martial  redet,  wirklich  doch  in  die 
Hände  gespielt  hat. 

Justin  epitomierte  den  Pompejus  Trogus.  Dabei  zeigt  uns  Justin, 
wie  ich  noch  hervorheben  möchte,  daß  in  solchem  Fall  trotz  der  großen 
Textverkürzung  die  Buchteilung  und  Buchzählung  der  Vorlage  vom  Epi- 
tomator  doch  sorglich  beibehalten  zu  werden  pflegte;  und  eben  dies  scheint 
auch  Martial  für  das  Ovidcompendium  vorauszusetzen,  indem  er,  XIY  192 
V.  2,  ausdrücklich  die  Zahl  der  fünfzehn  Bücher,  die  in  dem  Compendium 
enthalten  seien,  erwähnt.  Daher  glaube  ich,  daß  Vollmer  in  seiner  neuen 
Ausgabe  des  Homerus  latinus,  des  lateinischen  Iliascompendiums,  die 
Buchteilung  und  Buchzählung  der  Ilias,  die  von  den  Handschriften  dar- 
geboten wird,  nicht  hätte  unterdrücken  sollen,  i)  Auch  in  den  vorhin  an- 
geführten Periochae  des  Pseudo-Ausonius  ist  sie  gewahrt  und  der  Dar- 
stellung zugrunde  gelegt. 


^)  Ueber  das  Verhältnis  dieses  Home-   1    den  ilischen  Tafeln  gibt  Brünings  S.  212 
ms  latinus   zu  Homer  und   zugleich   zu    |    zitierter  Aufsatz  genauere  Auskunft. 


Zusätze  und  Berichtigungen. 


S.  12  Anm.  4:  vgl.  auch  W.  Ohrist,  Sitz.ber.  Münchener  Akad.  1893  S.  100  f. 

S.  12  f. :  Daß  hn  Kranz  des  Meleagros  Einzelüberschriften  standen,  die  den  Namen 
des  Dichters,  aber  nur  ihn  nannten,  bestätigt  der  Papyrus  etwa  des  1.  Jahrhunderts 
n.  Chr.  (Berl.  Ivlassikertexte  V  1  S.  75),  wo  Mshaygov  und  liernach  rovavzov  als  Ueber- 
schriften  zwischengestellt  sind;  ähnlich  das  ä?j.o  auf  einem  Ostrakon  (ebenda  S.  78). 
Eine  Art  Anthologie  sind  auch  die  Epicharmsprüche  auf  dem  Hibehpapyrus  (ca.  a.  250 
V.  Chr.),  wo  zwischen  den  Einzelsprüchen,  die  durch  jragdygacpog  getrennt  sind,  solche 
Sachanzeigen  wie  jtorL-Tovrjgov,  Jioxayooixm'  u.  a.  als  üeberschriften  stehen  (Crönert, 
Hermes  47  S.  402  ff.;  oben  S.  300). 

S.  21:  Zu  den  Pausaniashandschriften  auch  H.  Hitzig  in  Melanges  Nicole,  Genf 
1905,  S.  261  f. 

S.  30:  Zu  Seneca  vgl.  H.  Wirth,  De  Vergili  apud  Senecam  philos.  usu,  Freiburg 
1900.    Weiteres  über  ungenaue  Zitate  O.  Eibbeck,  Proleg.  ad  Yergil.  p.  201  f. 

S.  33  Z.  5  von  unten:  es  ist  „Sisenna"  statt  „Scaurus"  zu  lesen. 

S.  36:  Die  Beispiele  für  den  Nutzen  der  üebersetzungen  ließen  sich  leicht  ver- 
mehren; ich  nenne  noch  die  lateinische  zum  Sextus  Empiricus  (ed.  Mutschmann). 

S.  47:  Nieschmidt  hat  gezeigt,  daß  Cicero  in  seinen  philosophischen  Schriften 
griechische  Vokabeln  stets  mit  lateinischen  Lettern  schrieb;  daher  also  auch  care  für 
yaXge  cod.  Erlang.  De  fin.  1, 9.  Minder  konsequent  war  darin  Seneca:  zu  den  von 
Nieschmidt  gegebenen  Beispielen  ist  Sen.  Epist.  51  fin.  quos  stylitas  Aegyptü  vocant 
hinzuzufügen  (Eadermacher  in  Wiener  Stud.  32  S.  210).  Die  Mahnung,  daß  unsere 
Editoren  auf  diese  Dinge  mehr  acht  zu  geben  haben,  möchte  ich  angesichts  der 
Hilbergschen  Ausgabe  der  Hieronymusbriefe  wiederholen.  Hilberg  druckt  Epist. 
18,  18,  4  äv&gay.a,  wo  die  Handschriften  antea;  der  Archetyp  hatte  also  antraca,  was 
zu  antraea,  antrea  verlesen  worden  ist;  Epist.  22,  28,5  ysgcov  vulgo  Ji07invt,03v,  wo  deut- 
lich lateinische  Schrift ;  ebenso  Epist.  41,  3,  2  quos  appellant  caenonus,  u.  a.  m.  Wird 
Epist.  108,  8,  1  odoeporieum  vom  Editor  so  beibehalten,  so  muß  dies  auch  für  jenes 
caenonus  gelten;  ebenso  für  trionymum  Epist.  108,9,1. 

S.  67  Anm.  4:  Ludwichs  Ausgabe  des  Musaeus  ist  inzwischen  (Bonn  1912)  er- 
schienen; sie  befriedigt  die  von  mir  geäußerten  Wünsche  indes  nur  zum  Teil. 

S.  72:  Zu  den  angeführten  Längungen  in  Hebung  können  noch  folgende  Bei- 
spiele hinzugefügt  werden: 

Vergil  Aen.  3,  702:  Inmanisque  Gela  fluvii  cognomine  dicta 
Tibull  1,  6,  34:  Servare,  frustra  clavis  inest  foribus. 
Ueber  die  zitierte  Vergilstelle  Aen.  3,  702  urteile  ich  jetzt   anders   als   im  Philol.  57 
S.  616.   Dagegen  glaube  ich  an  den  Spondeus  forte  im  Aetna  291  auch  Jetzt  noch  nicht 
(s.  ebenda  S.  629).    Wohl  aber  finden  in  diesem  Zusammenhang  auch  noch  die  Verse : 
Aetna  433:  Quam  vis  aetemum  pingue  scatet  ubere  sulp  hur, 
Aetna  471:  Pars  lapidum  domita,  stanti  pars  robora  pugnae, 
ganz  abgesehen  vom  Einfluß  der  sogenannten  Position,  ihre  Erklärung. 

S.  76:  Der  Reim,  das  Homoeoteleuton  benachbarter  gleichartiger  Verse,  wurde 
gemieden ;  daher  ist  bei  Horaz  Od.  IV  8,  15  celeris  fuga  zu  lesen.  Ausnahmen  wie 
Verg.  Aen.  10,  804  f. ;  Horaz  Od.  II  20,  21  f.  dürften  sich  selten  finden.  Unbedenklich 
gestattet  ist  solcher  Reim  dagegen  bei  Versen  ungleicher  Länge  wie  Hör.  Epod.  1, 12 
u.  13;  Od.  IV  1,22  f. 

S.  77 :  Die  Klanganapher  steht  bei  Theokrit  und  seinesgleichen  im  Hexameter 
nicht  nur  bei  bukolischer  Cäsur,  sondern  ebenso  auch,  wo  diese  fehlt  und  der  Vers 
nur  im  dritten  Fuß  Einschnitt  hat.  Immerhin  begünstigte  die  Klanganapher  die  Ver- 
wendung der  bukolischen  Cäsur  und  hat  sie  oft  hervorgerufen. 

S.  78:  Betreffs  des  Sigmatismus  sei  noch  an  Euripides  erinnert;  Eustathius  gibt 


378  Zusätze  und  Berichtigungen. 

uns  p.  1170  eine  Anekdote  über  den  cpiXooiy^iaxo?  EvgiJiiötjg  und  die  oiy/Liaia  Evgimöov. 
Das  Getadelte  betraf  in  diesem  Fall  aber  vielmehr  das  s  im  Wortinnern,  wie  in 
y.oooaßog  für  xorraßog. 

S.  82:  Die  Redner  bildeten  bisweilen  absichtlich  auch  unregelmäßige  Klauseln, 
um  durch  die  Härte  im  Silbenfall  Hartes  und  Schmerzliches  zum  Ausdruck  zu  bringen ; 
dies  sagt  uns  Ps.Asconius  p.  192,  28  ed.  Stangl. 

S.  83:  Für  antike  Kommentare,  die  den  zu  erklärenden  Text  nicht  mitenthielten, 
ist  übrigens  Asconius    das  bekannteste  Beispiel;    auch   an  den  Didymuspapyrus  (ed. 
Diels)  sei  noch  als  Beispiel  eines  Demostheneskommentars  erinnert.  —  Was  den  S.  83 
von  mir  angeführten  Horazkommentar  des  Terentius  Scaurus  betrifft,  so  liegt  es  bei 
flüchtiger  Betrachtung  nahe,  ihn  nur  auf  die  Ars  poetica  allein  zu  beziehen;   so  die 
Früheren,    so    auch  Vollmer    (Philol.  Suppl.  Bd.  X   S.  278  Anm.).     Oharisius    zitiert 
p.  202  K.  so:  „imparitei'"  Horatiiis  epistoJaruni  „versibus  impariter  imictis"  ubi  Q.  Terentius 
Scaurus  in  commentariis  in  artem  poeticam  libro  X  ,.adverhium''  inquit  ..figiDYivit'- ;  genau 
entsprechend   derselbe  p.  210:  primus  pro    in  primis  ut  Maro  „Troiae  qui  primiis  ab 
oris",  ubi  Q.  Terentius  Scaurus  coinmentariis  in  artem  poeticam  libro  X  eqs.    Gegen  jene 
Auffassung  habe   ich  jedoch  De  halieuticis  S.  199  und  Ehein.  Mus.  38  S.  199  Anm.  2 
unabhängig  von  Zangemeister  geltend  gemacht,    daß  ein  zehnbücheriger  Commentar 
zu  einem  Büchlein  wie  die  Ars  poetica   innerhalb    der  lateinischen  Grammatik  wohl 
etwas   ganz  Unerhörtes   und  Unglaubliches  ist,    daß    aber    die  Zahl  X  hier   in  einem 
ganz    anderen    Sinne    mit    ihr    verbunden    sein    kann ;    denn    Horaz    hat    just    zelm 
Bücher  hinterlassen;    schrieb  Scaurus  zu  jedem  dieser  Bücher  einen  Kommentar,    so 
war  der  zur  Ars  just  der  zehnte.     Daher  auch  der  Plural  commentariis;  wäre  es  nur 
ein  Kommentar  zur  Ars  gewesen,    so  wäre  commentarii  in  artem  poeticam  libro  X  zu 
erwarten.   Auf  alle  Fälle  hat  es  mit  diesem  Titel  seine  besondere  Bewandtnis;  denn 
es    kommt   meines  Wissens   bei   den   lateinischen  Grammatikern   sonst   nie  vor,    daß 
Kommentare  mit  so  genauer  Titelgebung  angeführt  werden.   Ich  entsinne  mich  nicht, 
daß  bei  ihnen  sonst  Kommentare  mit  Buchzahlen  erscheinen.   Wir  haben  also  nichts, 
was  wir  vergleichen  könnten   und   müssen   den  obigen  Wortlaut  aus  ihm   selbst  er- 
klären.    Ich  weise  darauf  hin,   wie  Eufinus  VI  K.  561,  1  die  Plautuskommentare  ein- 
führt:   Sisenna   in  commentario  Poenuli  Plautinae  fabulae   sie  .  .  .  in   Pseuduto   sie  .  .  . 
Scatirus   in   eadem  fabula,  sie  eqs.     Diese  Kommentare   haben   den  Plautustext   selbst 
gewiß   nicht   mit   enthalten.     Die  Kommentarrolle    zum   Pseudolus  war    aber   selbst 
augenscheinlich  auch  Pseudolus  überschrieben,  und  so  konnte  in  Kurzform  Sisenna  in 
Pseudido,  Scaurus  in  Pseiidulo  zitiert  werden.     Es  ergibt  sich  hiernach,    daß  auch  die 
Einzelbücher  des  Horazkommentars,  von  dem  wir  handeln,  entsprechend  mit  Separat- 
titeln versehen  sein  konnten:  in  carminum  I,  in  epistularum  I,  in  artem  poeticam,  und 
dazu  trat  dann  in  diesem  Fall  noch  eine  Durchzählung  der  Bücher  des  Kommentars, 
die    der  richtigen  Anordnung   der  Rollen   diente,   hinzu.     Diese  Durchzählung   aber 
erklärt  sich  daraus,  daß  auch  die  Horazbücher  selbst  wirklich  so  durchgezählt  worden 
sind,   eine  Tatsache,   die  uns  z.  B.  Diomedes  S.  527  mit  den  Worten  Über  quintus  qui 
epodon  inseribitur  sicher  stellt.     Es  ist  danach  klar,    daß  es    auch   einen   über  decimns 
qui  Ars  poetica  inseribitur  gegeben   haben  muß.     Das  Charisiuszitat,    von    dessen  Be- 
sprechung  ich   ausging,    ist   also,   genau   genommen,   so   wiederzugeben:    „Terentius 
Scaurus  in  seinen  Kommentaren,  und  zwar  zur  Ars  poetica,  das  ist  im  zehnten  Buch." 

S.  100:  Zu  Herodot  sei  jetzt  W.  W.  How  und  J.  Wells,  A  commentary  on  Hero- 
dotos,  2  Bände,  Oxford  1912,  hinzugefügt. 

S.  107:  J.  Marouzeau  hat,  wie  ich  sehe,  in  seiner  trefflichen  Arbeit  L'emploi  du 
participe  present  latin  (Extrait  des  Mem.  de  la  soc.  de  linguistique  XVI,  1910)  den 
passivischen  Gebrauch  des  Participium  praesentis  in  Zweifel  gezogen ;  doch  beschränkt 
er  seine  Sprachbeobachtung  auf  die  Zeit  der  Republik.  Ueber  passivisches  intolerans 
s.  Schmalz  in  Berl.  philol.  W.schr.  Bd.  33  S.  785.  Auch  an  das  ^^ilgärlateinische  aman- 
tissimus  für  amatissimus  ließe  sich  noch  erinnern. 

S.  108  f. :  Ueber  das  Verhältnis  des  Sophokles  zu  Herodot  handelt  neuerdings 
JOH.  Rasch,  Sophocles  quid  debeat  Herodoto  eqs.,  Leipzig  1913  (Commentat.  philol. 
Jenenses  X  2) ;  s.  bes.  S.  92  ff.  Indes  hat  Rasch  für  die  Antigonestelle  das,  was  wesent- 
lich, nicht  gesagt. 

S.  112  Anm.  1:  Nicht  Wilhelm,  sondern  Häuser  ist  der  Verfasser  des  Aufsatzes 
in  Oesterr.  Jahreshefte  1909  S.  81  f.  Ablehnend  äußert  sich  H.  Blümxer,  Technologie 
und  Terminologie  I2  S.  113. 

S.  114:  Für  das  Problem  der  Bühne  des  attischen  Theaters  kommt  C.  Fenster- 
busch, Die  Bühne  des  Aristophanes,  Leipzig  1912,  hinzu,  der  das  ävaßaiveir  richtig 
auffaßt.   , 

S.  122:  Das  Trinkgefäß  als  Braut  im  Catalepton  XII  ist  zustimmend  besprochen 
von  de  Witt  im  American  journ.  of  phil.  32  (1911)  S.  452. 


Zusätze  und  Berichtigungen.  379 

S.  127f. :  Zur  Interpunktion  in  griechischen  Texten  vgl.  das  Fragment  jieol  oTr/fi(7)v 
bei  Bachmanx,  Anecdota  II  S.  316  und  Norden,  Hermes  27  S.  622  f. 

S.  129:  Dem  obiektlosen  tu  ne  quaesieris  bei  Horaz,  Od.  I  11, 1  entspricht  am 
schlagendsten  das  absolut  gesetzte  qiiaere  bei  Plautus,  Miles  200;  Persa  47. 

S.  130  f. :  Ueber  die  Notation  der  alexandrinischen  Philologen,  die  die  Personen- 
verteilung im  griechischen  Drama  betraf,  s.  A.  Römer,  Abhandl.  d.  bayer.  Akad.  19 
(1892)  S.  633  f. 

S.  130  ff.:  Die  Zahlen  vor  den  Ueberschriften  sind  zu  hoch;  statt  6  ist  5  zu 
lesen  u.  s.  f. 

S.  133:  Die  Frage  nach  der  Umschrift  älterer  griechischer  Texte  ist  Jetzt  wesent- 
lich geklärt  durch  Eudolf  Herzog,  „Die  Umschrift  der  älteren  griechischen  Litteratur 
in  das  jonische  Alphabet",  Programm  zur  Rektoratsfeier  der  Universität  Basel,  Leipzig 
1912.  Die  Grammatiker  Aristophanes  und  Aristarch  setzen  solche  Umschrift  für 
Homer,  Pindar  und  andere  Texte  als  Tatsache  voraus,  und  in  der  handschriftlichen 
Ueberlieferung  selbst  sind  Reste  der  älteren  Schreibart,  besonders  o  für  co,  z.  B.  bei 
Hesiod  und  Pindar,  noch  zahlreich  vorhanden.  Die  Umschrift  muß  in  Griechenland 
im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  durchweg  erfolgt  und  allerorts  von  den  Schullehrern  auf 
staatliche  Anregung  hin  ausgeführt  worden  sein.  Gilt  dies  nun  auch  für  Homer,  so 
folgt  daraus,  daß  auch  der  Homertext  dereinst  in  altattischer  Schrift  aufgesetzt  war, 
und  dies  führt  nicht  allein  zu  der  Annahme,  daß  die  Buchung  Homers  durch  Pisi- 
stratus  oder  Hipparch  (vgl.  oben  S.  277)  doch  ernst  zu  nehmen  ist  (Herzog  S.  61), 
sondern  auch  zu  der  wiclitigeren,  daß  die  Staatsexemplare  von  Massilia,  Kreta  und 
anderen  Plätzen,  die  jene  alexandrinischen  Grammatiker  ihren  homerischen  Text- 
studien zugrunde  legten  (oben  S.  309),  von  der  athenischen,  voreuklidischen  Homer- 
ausgabe stark  beeinflußt  und  gradezu  durch  Abschrift  von  ihr  abhängig  gewesen  sind. 

S.  138 :  Daß  bei  der  Elision  im  Latein  der  Vokal  vollständig  verklingt,  sagt  uns 
auch  Hieronymus  Epist.  20,  5,  2. 

S.  139 :  So  wie  M.  Accius  Plautus  aus  Maccivs  Plautus  wurde,  schrieb  auch  Oassius 
Dio  57,  20,  3  räiog  AovTcooiog  Ugioxog,  während  in  seiner  Vorlage  Clutorius  Priscus  ge- 
standen haben  muß:  s.  Prosopographia  imp.  Rom.  I  S.  425. 

S.  139  Anm.  4:  Zu  den  notae  iuris  vgl.  Steffens,  Lat.  Paläogr.^  (1909)  S.  XXXIV 
und  Johnen  a.  a.  0.  S.  159. 

S.  145:  Zu  Theophrast  Charakt.  4,  11:  mit  Unrecht,  wie  ich  meine,  setzte  Diels 
das  Zeichen  der  Lücke  hinter  avai.uf.atjoy.oixevog.  Denn  das  ajiaitelv  gehört  sachlich  zu 
tfjg  wxrog  und  muß  also  auch  mit  ihm  zusammenstehn ;  denn  darin  liegt  das  Rüpel- 
hafte des  Benehmens  des  Bauern,  daß  er  den  Gegenstand  „nachts  zurückfordert", 
„indem  er  schlaflos  daran  denkt",  nicht  aber,  daß  er  ihn  „zurückfordert",  „indem  er 
nachts  sclilaflos  daran  denkt".  Wenn  Theophrast  den  Infinitiv  sonst  gern  an  den 
Schluß  der  Sätze  stellt,  so  pflegt  alsdann  doch  keine  so  breite  Partizipialkonstruktion, 
wie  hier,  voraufzugehen. 

S.  146:  Ueber  die  Lücke  in  Tacitus'  Dialog  aufklärend  K.  Barwick,  Rhein.  Mus. 
68  S.  279  ff. 

S.  149  Z.  1:  Es  ist  Tibull  I  4  statt  Tibull  I  3  zu  lesen. 

S.  149:  evQeg  war  neben  rjvgeg  auch  schon  attisch;  die  Bj^zantiner  aber  brachten 
es,  wie  gesagt,  auch  da  in  die  Texte,  wo  ein  r]VQsg  überliefert  stand. 

S.  154:  Ueber  Doppeltitel  in  der  Komödie  handelt  Nicola  Terzaghi,  Fabula, 
Mailand  1911,  Bd.  I  S.  23  ff.,  doch  ohne  die  Arbeit  von  W.  Bender,  De  graeca  comoediae 
titulis  duplicibus,  Marburg  1904,  zu  kennen. 

S.  173  f.:  Zur  Erläutening  der  Schwierigkeiten,  die  grade  oft  kleinere  Gedicht- 
kompositionen bereiten,  hätte  ich  vor  allem  das  erste  Gedicht  in  der  Monobiblos  des 
Properz  anführen  sollen,  von  dessen  Interpretation  die  Properzchronologie  ausgehen 
muß.  Denn  es  ist  besonders  erstaunlich,  daß  dies  vielgelesene  Gedicht  von  den 
wenigsten  richtig  verstanden  worden  ist;  das  Zutreffende  hat  H.  Hollstein,  De  Prop. 
monobibli  sermono  etc.  (Marburg  1911)  S.  61  ff.  nach  dem  Vorgang  von  Giac.  Giri  ge- 
geben, und  erst  dadurch  ist  die  richtige  Datierung  des  „ersten  Buchs"  des  Properz 
möglich  geworden,  über  die  ich  S.  86  referiert  habe.  Seine  Abfassung  erstreckte  sich 
über  die  Jahre  40 — 31.  Daß  in  der  Monobiblos  Gedichte  ganz  verschiedenen  Stils 
vereinigt  sind,  muß  jeder  achtsame  Leser  wahrnehmen;  dieser  Umstand  erklärt  sich 
nur  daraus,  daß  sie  sich  auf  etwa  neun  Jahre  verteilen. 

S.  178  Anm.  3 :  Zur  Ars  poetica  vgl.  auch  Jon.  Vahlen,  Sitz.Ber.  Berl.  Akad.  1906 
S.  589  ff.  und  Cauer,  Rhein.  Mus.  61  S.  232  ff. 

S.  180:  Zum  Verständnis  der  Mosella  des  Ausonius  ist  auch  noch  an  die  gleich- 
zeitigen Peregrinationen  zu  erinnern,  wie  die  der  Silvia  ad  loca  sancta. 

S.  181  Anm.  1:  Zur  Theorie  des  Briefes  vgl.  auch  Rabe,  Rhein.  Mus.  64  S.  289  ff. 

S.  183:    Bühnenanweisungen    für    den  Schauspieler    kommen    in   den   erhaltenen 


380  Zusätze  und  Berichtigungen. 

Dramentexten  nicht  vor,  wohl  aber  in  den  Ueberresten  des  Mimos,  die  O.  Crustus 
im  Anhang  seines  Herodas  abdruckt. 

S.  186  Anm.  5:  lies:  Freilich  nicht  immer  die  neuere  Komödie. 

S.  190  Zeile  9  von  unten:  lies  evos.Ttov  statt  oevsjTTov. 

S.  190 — 194:  Meine  Ausführungen  über  den  Oedipus  Eex  und  seinen  Grund- 
gedanken waren  schon  gesetzt,  als  ich  die  Eektoratsrede  von  S.  Sudhaus,  „König 
Oedipus"  Schuld",  Kiel  1912,  durch  die  Güte  des  Verfassers  erhielt.  Ich  freue  mich, 
in  wesentlichen  Punkten  mit  ihm  zusammengetroffen  zu  sein. 

S.  203:  Meine  Auffassung  des  Verhältnisses  des  Quintus  Sm^-rnaeus  zu  Vergil 
findet  in  dem  Aufsatz  von  P.  Becker,  Ehein.  Mus.  68  S.  68  ff.  eine  Bestätigung.  Daß 
die  Aeneis,  wie  ich  dargelegt  habe,  auch  bei  den  Griechen  gelesen  wurde,  Ja,  ziem- 
lich verbreitet  war,  lehrt  jetzt  auch  unter  den  Oxj^rhj-nch.  Pap.  Bd.  8  die  Nr.  1099, 
wo  wir  sehen,  wie  ein  Grieche  in  Oxyrhynchos  sich  die"  lateinische  Aeneis  vornimmt 
und  einzelne  Worte  des  4.  und  5.  Buches  ins  Griechische  übersetzt.  Das  Blatt  stammt 
aus  dem  5.  Jahrhundert;  so  wird  also  auch  der  Grieche  und  Aegypter  Claudian  ver- 
ständlich, der  als  fertiger  poeta  Vergilianus  von  Alexandria  nach  Eom  übersiedelte. 
Der  Text  wird  übrigens  dortselbst  durch  expl  lih.  IUI,  ine  Üb.  V  unterbrochen. 

S.  203  Anm.  6 :  Ueber  Tryphiodor  und  Vergil  ist  von  Noack  im  Hermes  27  S.  459 
gehandelt  worden.  Der  von  mir  dort  zitierte  Aufsatz  Noacks  im  Ehein.  Mus.  48  be- 
trifft die  Helenaepisode  und  war  zu  S.  160  anzuführen. 

S.  206:  Im  Gegensatz  zu  Eeitzenstein  und  zugunsten  meiner  Auffassung  erwähne 
ich  noch,  daß  der  Tropus,  der  den  Eros  in  seinen  Wirkungen  mit  der  Schlange  ver- 
gleicht, in  der  Sprache  der  Erotik  so  verbreitet  und  so  naturgemäß  war,  daß  Plutarch 
De  amore  (Bd.  VII  S.  135  ed.  Bernadakis)  auch,  ohne  die  Sclüange  selbst  zu  nennen, 
schreibt:  rot  S'  eocoxLxa  bi]ynaxa,  xär  a:iooxr]  t6  &r]oiov,  ovx  i^avitjoi  zov  löv.  Das  drjQim'  ist 
eben  6  egcog.     Auch  dies  dient  zum  Verständnis  des  Orakels  bei  Apuleius. 

S.  213f.:  Ein  Problem  bildet  die  Anordnung  der  Bücher  des  Sextus  Empiricus; 
dies  ist  trefflich  aufgeklärt  von  Mutschmann  ed.  I  S.  XXV  f.  Eühmenswert  war  die 
Leistung  Lachmanns,  der  aus  dem  zerrütteten  Corpus  der  Gromatiker  den  Agennius 
herstellte;  vgl.  Mommsen,  Hermes  27  S.  114. 

S.  214:  Vielleicht  habe  icli  oben  über  die  Heroideji  Ovids  zu  kurz  referiert.  An 
der  Echtheit  der  ersten  14  Stücke  dieser  Sammlung  zu  zweifeln,  fehlt  ein  hinläng- 
licher Grund;  zu  diesen  14  kommt  aber  noch  der  Sapphobrief  Ov^ids  (ob  wir  nun  den 
erhaltenen  Sapphobrief  als  echt  einsetzen  oder  nicht)  hinzu.  Für  diese  15  Nummern 
reichte  eine  Pap^^rusrolle  nicht  aus;  sie  ergeben  vielmehr  drei  richtige  Buchumfänge 
zu  Je  fünf.  Die  Briefe  16 — 21  halte  ich  für  unecht.  Stammen  sie  aber  dennoch  von 
Ovid,  so  schrieb  sie  der  Dichter  doch  Jedenfalls  sehr  viel  später,  zu  einer  Zeit,  als 
die  Nr,  1 — 15  längst  im  Publikum  waren.  Für  die  Frage  nach  deren  Bucheinteilung 
ist  also  die  Existenz  der  Nr.  16 — 21  ohne  Belang. 

S.  218  f.:  Als  Beispiel  für  den  durch  sorgfältige  Analyse  des  Textes  gewonnenen 
Nachweis  doppelter.  Ja,  häufigerer  Eedaktion  eines  Werkes  kann  Jetzt  neben  Eusebius' 
Kirchengeschichte  auch  des  Polj-bius  Geschichtswerk  angeführt  werden;  dies  danken 
wir  der  glänzenden  Untersuchung  Laqueurs;  s.  E.  Laqueur,  Polj^bius,  Leipzig  1913; 
vgl.  die  Besprechung  Soltaus  im  Litterar.  Centralblatt  64  (1913)  Nr.  18. 

S.  221:  Aehnlich  wie  im  Hesiod  Erga  v.  383  steht  es  aucli  im  Aristoteles;  öfters 
fehlt  bei  ihm,  besonders  in  der  Metaphysik,  eine  L^eberleitungspartikel  von  Buch  zu 
Buch;  wo  dies  der  Fall,  ist  ursprünglicher  Eollenanfang  anzusetzen  (W.  W.  Jäger, 
Entstehungsgeschichte  der  Metaphysik,  Berlin  1912,  S.  156). 

S.  223  ff.:  Zum  Thema  A^om  Plagiat  vgl.  Jetzt  auch  0.  Hosius  in  Neue  Jahrbb. 
Bd.  31  (1913)  S.  176  ff. 

S.  223:  Betreffs  der  Piatobriefe  vgl.  auch  A.  Brinkmann,  Ehein.  Mus.  66  S.  226  ff . 

S.  225  Anm.  2:  Ich  möchte  noch  bemerken,  daß  die  auffällige  Wendung  deponere 
oculos  bei  Horaz  Od.  I  36, 18  im  Thesaurus  1.  lat.  keine  Beachtung  gefunden  und  nicht 
angeführt  ist.     Manilius  4,  875  scheint  sich  aus  der  Horazstelle  zu  erklären. 

S.  234  Anm.  5 :  Die  Arbeit  von  W.  Holtschmidt,  De  Culicis  carminis  sermone  et 
de  tempore  quo  scriptum  sit,  ist  inzwischen,  Marburg  1913,  erschienen. 

S.  236:  Interessant  ist,  wie  Hieronymus  epist.  84,  11  die  einzige  Schrift,  die  von 
Pamphilos  existierte,  für  unecht  erklärt:  date  quodlibet  aliud  opus  Pamphili,  nusquam 
repperietis;  hoc  unum  est;  unde  igitur  scinm  quod  Pamphili  sit?  eqs. 

S.  239:  Die  Ausführungen  Middendorfs  werden  durch  Schmalz  in  der  Wochen- 
schrift f.  kl.  Phil.  1913  S.  515  ff.  weiter  erhärtet;  ebenso  urteilt  auch  H.  Oldecop,  De 
consolatione  ad  Liviam,  Göttingen  1911;  belanglos  die  Bemerkungen  von  JuL.  Ziehen 
in  Deutsche  Litt.Ztg.  1913  S.  350.  Der  Aufsatz  von  E.  Ellis  über  die  Mäcenaselegien, 
den  MiDDENDORF  S.  18  zitiert  hat,  ergibt  nichts,  wodurch  sich  der  von  mir  vertretene 
Zeitansatz  erschüttern  ließe. 


Zusätze  und  Berichtigungen.  381 

S.  242:  Zu  den  modernen  Fälschungen  gehört  auch  das  Palimpsestblatt,  das  Giac. 
CoRTESE  in  Rivista  di  filol.  12  S.  396  in  ungeschickter  Nachahmung  veröffentlichte; 
der  Inhalt  betrifft  den  römischen  Historiker  Postumius  Albinus,  der  sein  Werk  dem 
Ennius  gewidmet  habe ;  den  Nachweis  der  Unechtheit  gab  L.  Traube  in  Abhandl.  d. 
baver.  Akad.  24,  1  S.  47  f. 

S.  247:  Wenn  ich  mit  Hinweis  auf  das  „Buchrolle  in  der  Kunst"  Abb.  80  vor- 
geführte Yasenbild  kurzweg  von  Stesichoros  rede,  der  die  Eolle  im  Schoß  hat,  so 
kann  man  diese  Benennung  beanstanden ;  es  handelt  sich  um  einen  Kylix  aus  Naukratis, 
der  uns  einen  alten  Mann  sitzend  zeigt;  auf  der  Fläche  der  offenen  Buchrolle,  die 
er  hält,  stehen  Buchstaben,  die  nicht  wirklich  den  Namen  jenes  Dichters  selbst,  son- 
dern vielmehr  nur  die  Worte  ergeben :  ot7]oixooov  hv^ivov  äyoioai.  Da  nun  aber  das  Ad- 
jektiv oTTjoi/ogog  in  der  Litteratur  sonst  nirgends  vorkommt  und  da  der  sitzend  vor- 
tragende Mann  auf  dem  Bilde  zugleich  als  alter  Mann  und  als  Sänger  mit  Sorgfalt 
charakterisiert  ist,  so  ist  es  wolil  klar,  daß  nur  Stesichoros  gemeint  sein  kann  und 
daß  jene  Worte  deshalb  gewählt  sind,  weil  eben  er  hier  hat  dargestellt  sein  sollen. 
Die  Worte  sollten  und  mußten  jeden  Betrachter  an  ihn  erinnern.  Zurückhaltend 
äußert  sich  hierüber  E.Herzog,  Die  Umschrift  der  älteren  griechischen  Litteratur  S.  16. 

S.  255 :  Der  Tatsache,  daß  bei  den  Griechen  der  Gebrauch  der  öicpMoaL  nicht  alt, 
widerspricht  nicht  das  Sprichwort  do/aiörsga  Öicpdsoa  ?MÄ.stg  (Erasmus  Chiliad.  I  cent.  5), 
das  nur  darauf  hinweist,  daß  Membrane  sehr  alt  werden  kann:  „du  redest  Dinge,  die 
älter  oder  alberner  sind,  als  altes  Leder." 

S.  258 :  Auch  Hieronj-mus  setzt,  Epist.  107, 10, 1,  aurum,  wo  er  von  Goldwebereien 
redet:  aurum  in  fila  lentescens. 

S.  260 :  Für  das  Tilgen  der  Schrift  auf  der  Wachstafel  sei  noch  das  Sprichwort 
zitiert:  imis,  quod  aiunt,  ceris  eradcre,  Hieron.  epist.  9,  2. 

S.  260  Zeile  11:  lies  tabula  statt  hibiila. 

S.  263:  Auch  umfangreiche  Inschriften  auf  Erz  zerfielen  nicht  nur  in  verschiedene 
Tafeln,  sondern  diese  wieder  in  paginae  und  loci;  vgl.  die  Zitierweise  tob.  I  pag.  II 
loc.  XXXXIIII  auf  den  Militärdiplomen  CIL.  HI  2,  850. 

S.  266  Anm.  2:  lies  ita  sint  statt  ita  sini. 

S.  269:  Die  These,  dsiß  pagitia  ein  kleiner  ^a^^ws  ist,  wird  durch  fiscina  „Körbchen" 
bestätigt;  denn  fiscina  ist  ein  kleiner  fiscus. 

S.  275:  Ueber  AÖyog  im  Sinne  von  ölov  ßißXiov  s.  auch  W.W.  Jäger,  Entstehungs- 
geschichte der  Metaphysik,  Berlin  1912,  S.  153  f. 

S.  279  Anm.  5 :  Die  charta  Augusta  wurde  in  honorem  Äugusti  ganz  in  derselben 
Weise  benannt,  wie  Herodes  Samaria  üsßaox?]  nannte  in  honorem  Äugusti  (Hieronvm. 
epist.  108,  13,  4). 

S.  290:  scedula  braucht  Hieronymus  öfter  vom  Brief:  scedulae  angustia  Epist.  11,  1; 
cartae  scedulam  Epist.  8,  3.  Hilberg  pflegt  gegen  die  guten  Handschriften  schedula  zu 
drucken;  vgl.  auch  Epist.  83,1  und  sonst;  dagegen  in  scidulis  Epist.  114,  2.  Das  deutsche 
„Zettel"  wird  von  schedula  hergeleitet,  setzt  aber  eben  dieselbe  Orthographie  scedula 
voraus  (zum  Doppel-^  in  „Zettel"  vgl.  das  in  Quitte:  Glotta  III  S.  244). 

S.  292:  Daß  lihellus  von  dei  tabula  sorglich  unterschieden  wird,  also  prinzipiell 
nicht  das  Tafelbuch,  sondern  das  gerollte  Büchlein  bedeutet,  zeigt  uns  auch  noch 
im  4.  Jahrhundert  auf  das  schönste  das  Edikt  des  Diocletian  CIL.  III  S.  831,  wo 
25  Denar  als  zu  zahlender  Preis  für  je  100  Zeilen  angesetzt  werden  tdbellanioni  in 
scriptura  lihelli  vel  tabulanmi. 

S.  294:  Zur  monohiblos  verlohnt  es  Hieronym.  epist.  33,  4,  4  anzuführen,  wo  es  in 
der  Aufzählung  der  Werke  des  Origenes  heißt:  in  Canticum  Canticormn  libros  X  et 
alios  tomos  II  quos  super  scripsit  in  adulescentia,  in  Lamentationes  Hieremiae  tomos  V, 
item  inquit  Monobihla;  hier  ist  das  inquit  sinnlos,  aber  nicht  etwa  zu  tilgen,  sondern 
aus  quinque  verschrieben;  daß  quinque  zu  lesen  ist,  wird  durch  das  item  bewiesen. 
Es  waren  also  fünf  zusammenhängende  tomi  zu  den  Lamentationes,  die  ein  Werk 
ausmachten,  imd  außerdem  fünf  Monographien,  die  unter  sich  nicht  zusammenhingen ; 
ähnliche  Sammlungen  oder  Serien  von  Monobibla  habe  ich  Ehein.  Mus.  64  S.  394  f. 
besprochen.  Der  lateinische  Ausdruck  für  Monobiblos  ist  liber  singularis;  er  findet 
sich  besonders  häufig  im  Schriftenkatalog  der  Digesten.  So  lehrt  uns  auch  derselbe 
Brief  des  Hieronymus  c.  2,  daß  Varro  10  singulares  (sc.  libri)  hinterlassen  hatte. 

S.  297  f. :  Öekxog  in  der  Bedeutung  liber  steht  Corp.  gl.  lat.  HI  277,  38 :  rj  ßißlog  i6 
ßißXiov  fj  behog  Über. 

S.  298  Zeile  4:  Statt  „Schriftwerk"  ist  „größeres  Schriftwerk"  gemeint  und  zu  lesen. 

S.  300:  Daß  die  Eolle  mit  dem  Titel  eröffnet  wurde,  scheint  auch  das  praenotari 
bei  Hieronymus  Epist.  107,  12,  3  anzudeuten:  caveat  omnia  apocrypha  et  .  .  .  sciat  non 
eorum  esse  qiiorum  titulis  praenotantur;  denn  die  Apokry^phen  wurden  damals  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  einzeln  in  Eollen  gelesen.   Aber  auch  auf  die  Titel  tragende 


382  Zusätze  und  Berichtigungen. 

Uminarls  pagina,  die  Hieronj'mus  Epist.  112,  3,  1  erwähnt,  möchte  ich  noch  einmal  die 
Aufmerksamkeit  lenken;  oben  S,  300  habe  ich  sie  auf  einen  Codex  bezogen;  sie  kann 
aber  ebensowohl  eine  Eolle  anbetreffen  (vgl.  S.  358,  5);  es  "wird  dort  von  dem  Über 
des  Hieronj-mus  De  viris  iUustribus  oder  De  scn'ptorihus  ecdesiastkis  gesprochen,  dessen 
Uminaris  imgina  Hieronymus  selbst  unbeschrieben  ließ  und  der  darum  des  titidus 
entbehrte. 

S.  308:  Dazu,  daß  Ennius  die  charta  schon  erwähnt,  stimmt  Cicero  Orator  160; 
wenn  von  Cicero  dort  antiqui  lihri  des  Ennius  benutzt  werden,  so  hat  Ennius,  da 
lihri  nur  Bast-  oder  Chartarollen  bedeuten,  seine  Annalen  schon  bei  Lebzeiten  in 
solche  Rollen  eingetragen. 

Ebenda,  S.  308:  Die  Ausführungen  über  „edieren"  bei  Jäger  a.  a.  O.  S.  185  ver- 
fehlen das  Richtige:  des  Aristoteles  Abhandlungen  wurden  in  der  Schule  des  Peri- 
patos  vorgelesen ;  dies  Vorlesen,  das  in  der  Schule  stattfand,  habe  schon  als  s'y.dooi; 
gegolten;  alles  Vorlesen  sei  endooig  gewesen  und  die  Bibliopolen  für  diese  Dinge 
etwas  Sekundäres.  G.  Pasquali,  Hermes  48  S.  161  f.,  nennt  diese  Aufstellungen  Jägers 
grundlegend  für  alles  Buchwesen.  Sie  werden  aber  durch  alles  oben  Vorgetragene 
und  auch  schon  durch  Aristoteles  selbst  hinlänglich  widerlegt,  der  gelegentlich  die 
Ausdrücke  exöedo/nsvoi  löyoi  oder  /.6yoi  iv  xoivdo  yiyvo/uevoi  gebraucht  (p.  1454  B  u.  407  B  29) 
und  diese  „herausgegebenen"  Schriftwerke  augenscheinlich  zu  seinen  eigenen  Prag- 
matien  und  Scliulschriften  in  Gegensatz  stellt,  diese  letzteren  also  als  nicht  publi- 
ziert betrachtet  hat;  eben  darauf  führt  im  Testament  des  Lykon  die  Erwähnung  der 
drf:?<doza,  die  ein  gewisser  Kallinos  herausgeben  soll,  womit  wiederum  nur  wissen- 
schaftliche Abhandlungen  des  Lj^kon,  die  der  Benutzung  in  der  Schule  dienten,  ge- 
meint sein  können  (Buchwesen  S.  435  f.);  diese  galten  also  trotz  solcher  Benutzung 
als  nicht  herausgegeben.  Ein  Vorlesen  kam  dem  „Edieren"  nur  gleich,  wenn  es  vor 
großem  Publikum  geschah  (oben  S.  310). 

S.  328:  tituhis  bedeutet  den  aus  der  Rolle  heraushängenden  Zettel,  Deminutiv  zu 
titus,  worüber  BCcheler,  Archiv  f.  Lex.  II  S.  118  f.  Welcher  Wortsinn  ursprünglich 
zugrunde  lag,  bleibt  zweifelhaft;  doch  könnte  die  Bedeutung  penis,  die  Büclieler  für 
titus  feststellte,  durch  tltulus  eine  Bestätigung  erhalten,  da  der  titulus  an  der  Rolle 
als  ein  membrum  prominens  erscheint.  Anstoß  gibt  der  Pleonasmus  der  Ausdrucks- 
weise in  den  Scholia  Bobiens.  Ciceron.  p.  169  ed.  Stangl:  oratio  .  .  .  cuius  inscriptionis 
titulum  .  .  .  explanandmn  puto;  hernach  folgt:  si  orationis  titulum  .  .  .  7ion  indocte  per- 
spexerint. 

S.  336 :  Eine  Bibliothek  des  Euripides  setzt  auch  Aristophanes  Ran.  943  mit  den 
Worten  a:io  ßvßlkov  djirj&cöv  voraus  (worüber  Buchrolle  S.  214,  3).  Vgl.  dazu  aucii 
oben  S.  90. 

S.  363:  Man  muß,  wie  gesagt,  zu  der  Annahme  sich  sehr  geneigt  fülilen,  .daß  die 
Urheber  der  besprochenen  Textrevisionen,  ein  Calliopius  oder  Mavortius  oder  die 
Nicomachi,  den  Terenz-,  Horaz-  oder  Liviustext  schon  im  Codex  niedergeschrieben 
hatten.  Doch  ist  hier  jeder  Fall  besonders  zu  prüfen.  In  der  ersten  Dekade  des 
Livius  hat  z.  B.  jedes  der  zehn  Bücher  seine  besondere  Subscriptio,  und  das  hatte 
nur  rechten  Sinn,  wenn  jedes  der  Bücher  noch  für  sich  ging  und  abgesondert  von 
den  übrigen  neun  traktiert  wurde.  Der  vornehme  „domnus  S^-mmachus"  wird  sie 
sich  zunächst  auf  kostspieligem  Papyrus  haben  vorlegen  lassen,  und  ein  Zehnbücher- 
codex dürfte  aus  den  zehn  Liviusrollen  erst  hernach  hervorgegangen  sein;  ebenso 
war  damals,  wie  wir  S.  362  sahen,  auch  bei  Claudian  und  Apollinaris  Sidonius  der 
Hergang;  ebenso  stand  es  auch  schon  bei  Ausonius. 

S.  364  f. :  Bemerkenswert  scheint  noch,  daß  Hieronj-mus  das  hebräische  alte  Testa- 
ment in  Codices  benutzt  und  liest  (Ant.  Buchwesen  S.  106);  kommt  dagegen  ein 
Hehraeiis  zu  ihm,  so  bringt  dieser  aus  seiner  Sj-nagoge  Volumina  mit,  um  den  hebrä- 
ischen Text  daraus  vorzulesen:  Epist.  36, 1.  Uebrigens  erscheint  Jesaias  als  ein  voIumen 
Hieron.  Epist.  18  A,  4,  3. 

S.  369 :  Das  extra  ordinem  paginarum  setzt  voraus,  daß  man  die  Stellung  der 
Kolumnen  in  der  Buchrolle  als  einen  bestimmten  ordo  auffaßte,  der  gewisse  Plätze 
in  ihr  ausschloß.  In  anderer  Rücksicht  wird  der  ordo  im  Buch  auch  sonst  noch 
erwähnt:  des  Origenes  Hexapla  hatte  sechs  ordines  auf  der  Buchseite;  wir  lesen 
Corp.  gloss.  lat.  V  619,  19:  exapla  est  bihliotheca  sex  ordines  habens,  nam  exa  VI  (sie); 
qida  Origenes  VI  ordinibus  diversas  interpretum  editiones  in  una  pagina  constituit.  Durch 
diese  Stelle  scheint  erwiesen,  daß  des  Origenes  Hexapla  nicht  in  Rollen,  sondern  im 
Codex  umging;  denn  der  Codex  hieß  bibliotlieca  (vgl.  oben  S.  274, 1).  Im  aufgeschlagenen 
Codex  der  Hexapla  sah  man  also  auf  jeder  Seite  je  sechs  schmale  Textspalten  oder 
Kolumnen. 


INHALTSVERZEICHNISSE. 


1.  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriftsteller  und  anonymen  Werke. 


Aeliaii  171. 
Aelius  Stilo  303. 
Aemilius  Macer  201. 
Aeschines  25. 
Aeschines,  Sokratiker  197. 
Aeschvlus  56.  65.  84.  90.  91  f. 

167.183. 184. 188. 189. 195. 

208  f.  218  f.  225. 277 ;  üeber- 

lieferung  10.  21. 
Aesop    174;     latein.  Aesop 

211. 
Aetna  92.  98.  228.  239.  317. 
Agennius  380. 
x4Lgon  des  Homer  undHesiod 

90. 
Alexander  Aetolus  211. 
Alexis  185. 

Alkaeus  85.  167.  277,  1. 
Alkman  57.  74. 133. 167.  277. 

326,  4. 
Altes  Testament,    Buchtei- 
lung 296. 
Ambrosius  171. 
Anakreon  333 :  Anakreontea 

237. 
Anaxagoras  307. 
Andokides  118. 
AndrokA^des  l'ragm.  132. 
Andronikos  218. 
Antigonos  Karj^stios  171. 
Antiphanes  185. 
Antiphon  90.  149,  7. 
Antisthenes  49. 197.  208. 222. 

236.  338. 
Anthologia    latina    38.    92. 

216. 
Anthologia  Palatina  13.  16  f. 

35.  64.  172. 
Antonius,  Eedner  310. 
Apion  jregi  riig  'Pwi^iaixfjq  öia- 

Uy.Tov  276, 
Apokah^psen,   Petri,   Pauli: 

237. 
ApollinarisSidonius  11.  150. 

154.   180.  320.  325  f.  330. 

354.  355.  362. 
Apollodor,  Chronik.  90. 
Apolloniusroman  158. 


I  Apollonius  Ehodius  10.  21. 
I       202.  219. 

Apollonius  Sophista  33. 
I  Appian  173.  204. 
I  Apuleius  61.  81.  170.    173. 
!       174.  205  ff.  225.  348.  380. 
'  Arat  36. 

Archilochos  56.  167.  277. 
'  Argumenta  zu  Plautus  240. 

Aristainetos  181.  210. 

Aristarch  31.  32.  44.  99.  337. 

Aristeasbrief  237. 

Aristides  rhetor  87. 

Aristides  Miles.  106  f. 
'  Aristobulos  223.  237. 

Aristomache  257. 

Aristophanes  58.  75  f.  91.  94. 
101.167.184.185.196.218; 
!       Ueberlieferung  23.  25.  26. 
1       32. 

Aristophanes  von  B^^zanz  42. 
224.  337.  341. 

Aristoteles  31  f.  37. 195. 197  f. 

213.  217  f.  222.  227.  276. 

I      296.  315.  380.  382. 

j  Ps.Aristoteles  de  mundo  36. 

I       92.227.  237;  Rhetorik  ad 

Alexandrum  240.  312. 
,  Arrian  65.  214. 

Artemidoros'  BovyMliHd  342  f. 
344, 1. 
I  Artemon   von   Kassandreia 
;       322, 2. 
I  Asconius  378. 
I  Ateius  3. 
I  Athenaeus  18.  276. 

Augustinus  165.  168. 
!  Ausonius  38.  47.  51.  98.  118. 
i  170.  179  f.  229.  258.  300. 
!  320.  354.  361.  379;  Epi- 
1  gramme  13.  143.  154;  Ps.- 
Ausonius  Periochae  373. 
j  376. 
j  Avien  313. 

I  Babrios  20.  81.  214.  242.  254. 

t       261. 

I  Bakchylides  58.  174.  225. 


Barnabasbrief  120. 
Basilius  171. 
Batrachomachie    226;     vgl. 

Pigres. 
Bellum     Actiacum,     Epos: 

326. 
Bibelübersetzungen,  lat.42  f. 

203;      Bibelhandschriften 

354  ff.;  vgl.  Septuaginta. 
Bion,  Bukoßker  343.  344, 1. 
Bion,  Cyniker  157.  179. 
Bolo3  Mendesius  237. 
Brutus  311;    sjiioxoXwv  ovva- 

ycoyt]  236. 

Caecilius,  Komiker  202. 
Oaecilius,  Rhetor  208.  228. 
Caesar  61. 156. 165.  222.  311. 
Caesius  Bassus  235. 
Callimachus  s.  Kallimachos. 
Calpurnius  240. 
Calvus  64.  177.  211  f. 
Cassius  Dio  34.  199. 
Cassiodor  357.  362.  365. 
Cato  312.  323;  de  agri  cult. 

12.  154;  Disticha  Catonis 

238. 
Catull  63.  64.  69.  74.  77.  87. 

101.  109.  116.  171.  181,8. 

188.195.204.216.225.371; 

Ueberlieferung  15. 17. 19. 

24.35.140.213.253.301,3. 
Charisius  20. 
XgcoTog  jidoycov  38. 
Chrj^sippos  322. 
Cicero  86  f.  98. 101. 154.  156. 

174. 175. 177.  223.  237.  238. 

241  f.  276.  310.  320.  325. 

pro  Mil.  301:    Briefe  21. 

29.  94.  148.  180.  181.  287. 

328;  Dialoge  26.  34.  197  f. 

201.  276.  294;  De  republ. 

87;  De  fin.96;  De  deorum 

nat.  154;  Fälschung  241; 

Ueberlieferung     17.    158. 

321.  342.  363.  373:  Sprache 

46.  47.  61.  65.  82. 
Ciceroscholien  82. 


384 


Inhaltsverzeichnisse. 


Ciris  181.   204.   228.   239  f. 

276. 
Claiidian  94  f.  100.  118.  154. 

175. 176. 181. 182.  203.  204. 

209.  216.  221.  229  f.  340. 

380 ;  Ueberlief  erang  16. 17. 

19.  26.  27  f.  28.  362. 
Codex  Gregorianus  361. 
Coelius  Antipater  139. 
Commodian  20.  80.  354. 
Consolatio  adLiviam29. 239. 

241. 
Copa  131.  229.  276,  3. 
Cornelius  Gallus  279,  6. 
(Cornificius)  ad  Herennium  i 

46.  140.  176.  201.  228.  240.  ' 

312.  342. 
Corpus  glossar.  lat.  34.  37  f. 

124. 143. 158.  213.  275. 364. 

365. 
Culex  160.  224.  232  ff.  238. 

276.  353.  380. 
Curtius  Eufus  89. 
Cyprian  364. 
Ps.Cyprian  Heptateuch  80. 

Dares  100.  238. 
Declamatio  in  Sergium  Cati- 

linam  241. 
De  dubiis  sermonibus  liber 

33. 
De  generibus  nominum  33. 
Deinias  Argolika  342. 
Demetrius  Phalereus  226. 
Demokrit     63.     208.     223. 

237. 
Demosthenes  24  f.  26.  39.  82. 

93  f.  101.  158.  168.  301,  2. 

324.   325.   334.    359;    Ps.- 

Demosthenes     227.     228. 

239. 
Dictys  238.  253.  335. 
Digesten    (Pandekten)    98. 

135.  172. 
Didj^mos  42.  159 ;  Didymos- 

papyrus  359.  378. 
Dio  von  Prusa  87. 
Diodor  173.  200.  294.  315. 
Diogenes  Laertius  200  f. 
Dionys.  v.  Halicarnaß  65. 98. 

228. 
Dionysios  Chalkus  312. 
Dionj^sios  KaAXtcpwvxog  93. 
Dionysios  periegeta  93. 
Dioskurides  93. 

Empedokles  312,  5. 
Ennius  78.  382;  Sota  323. 
Ephoros  172.  198.  199.  213. 

296. 
Epicharm  56. 196. 300.  326, 4. 

377. 
Epiktet  179. 


Epikur  159.  214. 
Eratosthenes    3.    214.    236. 

337. 
Etvmologica  33.  213. 
Euripides  75.  90.  91  f.  108. 

147. 169. 184. 185. 186. 187. 

188. 189. 194. 195.  217.  218. 
307.  377  f.  382;  Ueberlief e- 
rung  14.  334. 

Ps.Euripides  Danae  124. 241 ; 

vgl.  Rhesos. 
Eusebius  31.  36.  219. 
Eutrop  36.  203. 
Evangelien  200.  358,  3.  359. 

Fannius  175. 

Festus  17.  93.  124.  171. 

Fimiicus  Maternus  313.  315. 

324. 
Flavius  Caper  32. 
Floras  201. 
Fronto  47.  300.  328. 
Fulgentius  33. 

Gaius  358.  361. 
Galen31.98.  227.  230.  314f. 
Gellius  171.  199.  276.  358. 
Germanicus,     Phaenomena 

230. 
Gorgias  53.  56.  65.  236. 
Gracchen,  Reden  328. 

Harpokration  33. 
Hekataeus  200. 
Heliodor,  Roman  85. 
Heliodoros,     Metriker    25. 

183,  5. 
Hellanikos  207. 
Helvius  Cinna  204.  253. 
Heraklides    Ponticus     223. 

238. 
Heraklit  97.  247. 
Hermagoras  227. 
Hero  41.  93. 
Herodes  Atticus  236. 
Herodot  56.  58.  64  f.  87. 100. 

108. 149. 172. 196.  200.  278. 
295.  378. 

Herondas  41.  57.  81,  3.  196. 
225. 

Hesekiel  277. 

Hesiod  167.  220  f.  258.  277. 
312.  379. 

Hesych  20.  33.  126.  137. 

Hieronymus  36.  83.  319.  340. 
355.  366.  377.  382. 

Hippias  196. 

Hippokrates  58.  224.  227. 
230. 

Homer  88  f.  98  f.  100.  117. 
133.  219  f.  247  f.;  Ueber- 
lief erung  16. 26.  30  f.  147,3. 
277.  278.  295.  309.  326.  353. 
355.356.379;  Buchteilung 


296 ;  Homerperiochae  353. 

373  ff. :  Sprache  und  Me- 
trik 53.  57.  62.  70  f.   78. 

81.  —  Hymnen  38. 89. 177. 

181. 
Homerus  latinus  92. 212.373. 

376. 
Horaz  73  f.  84.  89.  156.  166. 

180.  225.  289.  316  f.  318; 

Ars  poet.  149.  176.  181,  8. 

217. 378 :  Carmen  saec.  294 ; 

Ueberlieferung  12.  18.  24. 

28.  145.  238.  363.  378. 
Hosidius  Geta  38.  201. 
j  Hyginus  337. 
Hj^erides  334. 

Ibykos  240. 
Ion  167. 

Isidor,  Quellen  279,  6. 
Isokrates  82.  169.  208.  215. 
300.  307.  312.  334. 

Jamblichos  85. 

Jesaias  325.  338. 

Johannesapokalypse  200. 

Johannes  Damascenus  155. 

Josephus  34,  337. 

Juba  313^ 

Julian,  Kaiser  165.  207. 

Julius  Valerius  150. 

Justin  89.  214.  376. 

Juvenal  84. 91. 100. 169. 216. 
229.317.  319;  Ueberliefe- 
rung 19.  22  f.  27. 

Kallimachos  301,  2;  Uivaxeg 
11.  295  f.  299.  339:  Dich- 
tungen 174.  210.  235;  Fou- 
cpEiov  305.  3 ;  Pap3^rus  294. 
309.  326  f. 

Ps.Kallisthenes  120.  173. 

Kallistratos  180. 

Kebes  339. 

Konstantinos  Porphyrogen- 
netos,  exloycd  20.  214. 

Korinna  56.  247.  334. 

Krates  von  Mallos  281,  2. 

Kratinos  101. 

Krinagoras  333. 

Laevius  174. 
Laus  Pisonis  228. 
lex  Tappula  293. 
Libanios  215,  4.  311. 
Livius  61.  65.  99.  173.  199; 

Ueberlieferung  28. 34. 321. 

341.  342.  363.  382;  Livius- 

epitome  353.  373. 
Livius  Andronicus  276. 
Lobon  223.  238.^ 
Ps.Longin  .Tf^t  mpovg  10.  82. 

92.  208.  228.  240. 
Longos,  Daphn.  u.  Chloe  20. 


1.  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriftsteller  und  anonymen  Werke. 


385 


Lucan  89. 154.  182.  204.  209. 

224;    Ueberlieferung   28. 

353. 
Lucian  90. 100. 175. 187.  203. 

224.  227.  238  f. 

Lucrez  21.  46.  78.  176.  202. 

217. 
Lucilius  95.  174.  211.  323. 
Luxorius  136.  314. 
Lvgdamus  228.  240. 
Lvkon  315. 

Lvkophron  36.  97.  211.  222. 
LVkurg  293. 
Lysias  65.  170.  227.  228. 

Maecenaselegien   68  f.   226. 

239.  380. 
Macrobius  83. 
:Manilius  92. 
]\IarceUus   (empiricus)   355. 

357. 
Mark  Aurel  28.  165. 
Martial  84. 86. 289. 300. 301, 2. 

313.   319.    346  ff.    351  ff. 

367  ff. ;  Ueberschriften  13 ; 

Ueberlieferung  35.  347, 1. 

363.  367  ff. 
Martianus  Capella3. 150. 169. 
Märtyrerakten  237. 
Matius  201. 
Meleagros  Zxecfavog  12.  172. 

377. 
Melissus  337. 
Menander  85.  168.  185.  186. 

225.  238.  353. 
Menander  rhetor  176. 
Menippos  174.  223.  321. 
Menonpapj^rus  224. 
Merobaudes  20. 
Mimnermos  60.  64. 
Minucius  Felix  64.  197. 
Modestinus  361. 
Monumentum    Ancvranum 

42.  293.  329. 
Moretum  228.  239. 
Moschos  343.  344, 1. 
Musaeus  67.  210.  377. 
Musonius  179. 

Naevius  64.  91.  104.  165. 

Nemesianus  240. 

Nepos,    Cornelius   11.   174. 

311. 
Nepotianus,  Januarius  315. 
Keratins  345. 
Xero  235. 

Neues   Testament  66.   200. 
Nikander  312. 
Nikephoros       Constantino- 

politanus  324,  4. 
Nonius  32.  171. 
Nonnos  67.  78.  81.  175. 

Optatianus  Porf.  135. 
Oribasios  172. 


Origenes   83.  334.  342.  355. 

381.  382. 
Orphika  238. 
Ovid  35. 49.  98. 119. 148. 155. 

174.    176.    180.    181.   225. 

226.  317 ;  Metamorphosen 
14.  203.  315:  im  Auszug 
353.  373 ff.:  Heroides  19. 
29.155.210.214.239.380; 
Amores  19;  Ibis  97;  Nux 
239. 

Ps.Ovid  Halieutica   19.  98. 
155.  231  f.  238.  239. 

Pacuvius  121. 
Palladius  83. 
Pampliilos  380. 
Papinian  361. 
Paris  34. 

Pastor  Hermae  311.  324. 
Patricii   Epithalamium  241. 
Paulinus  Nolanus  355. 
Paulus  Silentiarius  204. 
Paulus,  Jurist  361. 
Paulus,  Apostel  359  f. 
Pausanias  21.  93.  176.  294. 

377. 
Persius  19.  89.  145. 164.  170. 

178.  317.  363. 
Petron   64.    173.    174.   203. 

210. 
Pliaedrus  35.  149. 
Phalarisbriefe  236. 
Philistion  238. 
Philitas,  Philetas  137. 
Pliilodem  20.  40.  294. 
Philon  von  Byblos  322. 
Philostrate  20*:  27.  175.  180. 

344;  Grymnasticus  226. 
Phoinix   von  Koloplion  12. 

179, 1. 
Phokj'lides ,    Ps.Phokylidea 

227.  237. 

Photius   Lex.   33.   37.   132. 

137. 
Phrynichos  189. 
Pigres  247;  vgl.  353. 
VPindar  57.  65.  94.  100.  111. 
i    167.    168.    179.   242.   247. 

Plato'31.  64  f.  96  f.  100.  169. 
197.208.215.217;  Ueber-  I 
liefemng  10.  20.  23  f.  36. 
39.    275.    295.    321.    363;  I 
Sprache  62  f.;  Briefe  223.  i 
380;Ps.Platonica224.226f.  ' 

228.  229.  230.  I 
Plautus  46. 91.  104.  118. 153.  \ 

159. 165. 169. 186. 188. 189.  | 
196.202.287.316;  Ueber- 
lieferung 14.  15.  18  f.  130. 
363 ;  Sprache  und  Metrik 
56.  72.  76.  80  f. 
Plinius,  bist.  nat.  119.  176. 
201.  230.  294. 


Handbuch  der  klass.  Altertumswissenschaft.    I,  3.    3.  Aufl. 


Plinius,  Briefe  29. 87. 94. 165. 
180. 

Plutarch  29.  65. 168. 171. 174. 
199.  218. 

Plotinos  359. 

PoUux  171. 

PolybiuslOO.  173.200;Ueber- 
lieferung  14.  19.  380. 

Polykrates  207.  215. 

Pompeius  Macer  337. 

Pompeius  Trogus  37.  242. 
376. 

Pontica  155. 

Porphj^rios  83. 

Posidippos  168. 

Postumius  Albinus  380. 

Priapea  170. 

Priscian  23. 

Probus,  Valerius  58.  342. 

Prodikos  47.  196. 

Proklos  83. 

Properz  60.  86. 144. 147. 169. 
177.  204.216;  Ueberliefe- 
rung 11. 13. 15. 17.  22. 23  f. 
155.  162.  214.  353. 

Protagoras  62  f. 

Ptolemaeus  Cheiinos  238. 

Publilius  Syrus  36.  220. 

Quintilian  31.65.98.290. 311. 

315.   321;   Declamationes 

92. 
Quintus     Smvrnaeus     203. 

380. 

Reposianus  174. 
Ehesos  228. 
Ehinton  59. 
Eomulus  211. 
Eufinus  237. 
Eutilius  Lupus  11. 
Eutilius  Namatianus  29. 

Sabinus  239.  241. 

Saliarlieder  14. 

Sallust  64.  66.  162.  170. 174. 
203.  211;  Ps.Sallust,  In- 
vektive  240  f. 

Sappho  56.  58.  59.  85.  109. 
149.  167.  247. 

Satyros  85,  1.  90.  198.  276. 

Scaurus,  grammat.  83.  378. 

Scipio,  Eeden  294. 

Scriptores  historiae  Augus- 
tae  100.  150.  260  f.  362. 

Seleukos  42. 

Seneca  rhetor  34. 

Seneca  28.  30.  87.  109.  179. 
214.  217.  229;  Tragödien 
85.  183.  195.208.216.224; 
Ueberlieferung  derselben 
14.  18.22;  Apotheosis  10. 
53.  95.  100.  154.  174;  Oc- 
tavia  226.  228.  240;  Epi- 
gramme 235  f. ;  Brief- 
25 


386 


Inhaltsverzeichnisse. 


Wechsel  mit  Paulus  226. 

237. 
Septuaginta  339,  3. 
Servius  82,  8.  102.  160.  213. 
Sevius  Nicanor  342. 
Sextus  Empiricus  200  f.  377. 

380. 
Sibyllinen  237. 
Sidonius  s.  Apollinaris. 
Sieben  Weisen  238. 
Silius  Italicus  92  f.  170. 
Simon,  Sokratiker  339. 
Simonides  13, 1.  167.  227. 
Sisenna  106  f. 
Sisenna     zu    Plautus    377. 

^78 
Sokratesbriefe  236.  238. 
Solinus  38.  155. 
Solon  58.  64.  85. 
Sophokles   47.  58.  90.   108. 

188.189.190ff.378;Ueber- 

lieferung  21.  357  f. 
Sophron  56.  196. 
Sosylos  328. 
Spurinna  241. 
Statins  12.  19.  28.  171.  177. 

182.  2ia  301,  2.  314.  316. 

367. 
Stesichorus  240. 247. 277. 381. 
Stobaeus  36. 
Strabo  93.  117. 
Sueton  42. 156. 166. 171. 174. 

224. 
Suidas  33.  37.  98. 
Sulpicius  Severus  319. 
Susarion  238. 
Symmachus  180. 
Symphosius  13.  121. 

Tacitus  64.  66.  89.   96.  99. 
100.162.173.175.197.200. 


204  f.  227;  Ueberlieferung  ; 

20.  214.  342.  379.  [ 

Teles  179.  I 

Terentianus  Maurus  28. 66, 4.  ! 

89.  151.  : 

Terentius  Scaurus  378.  i 

Terenz  85.  89.  105.  118.  183.  I 

186.  202.287;  Ueberliefe- 
rung 24.  363. 
Terpander  238. 
Tertullian  364. 
Testamentum  porcelli   272. 
Theodoros  von  Gadara  82. 
Theodosios  philosophos  306. 
Theognis  24.  64.  220.  329. 
Theokrit  57.  58.  59.  66.  101. 

181.  196.  213  f.  216.  229. 

235.236.  342  f.  377;  Titel 

13.  154.  343. 
Theopomp  211.  296.  342. 
Theophrast  34.  93.  211. 
Thespis  238. 
Thukvrdides  56.  64  f.  90.  100. 

167. 168. 172. 197.  207.  215. 

301;    Ueberlieferung   26. 

31.  295. 
Tibull  11. 15. 17.  35.  86.  147. 

149. 162. 178. 228. 353;  Pan- 

egyricus    Messallae    179. 

235. 
Timaeus,  Lex.  33. 
Timon  von  Phlius  211. 
Timotheos  225.  335. 
Traian  212. 
Tribonian  98. 
Tryphiodor  203.  380. 
Tjrrtäus  57.  85. 
Tzetzes  Prolegomena  zu  Ari- 

stophanes  338,  2. 

Ulpian  361. 


Valerius    Maximus    14.    24. 

34.  172. 
Valerius  Soranus  12. 
Valgius  19. 
Varius     und     Tucca     160. 

216. 
Varro  28.  91.  154.  174.  183. 

301.  306.  342.  355. 
Vegetius  343. 
Velleius  29.  276.  294. 
Vergil  89.  98.  99.  110.  117. 

202.  203  f.  216  f.  226.  250. 

317.  380;  Ueberlieferung 

15  f.  160  f.  165  f.  196.  353. 

358.363:  Belogen  13.  101; 

Georgica  294 ;  Catalepton 

13.   166  f.   170.   201.  221; 

Aeneisepitome  353.  374  f. ; 

Sprache  46.  61  f.  68.  77. 

126. 
Vergil  viten  106. 
Verrius  Flaccus  171. 
Vestinus,  Julius  337. 
Vincentius       Bellovacensis 

35. 
Vitruv  93.  343. 
Vorsokratiker ,     fragm.    41. 

58. 

Xenophanes  301,  2. 
Xenophon  17.  64  f.  87.  100. 

161.   169  f.   172.  173.  174. 

197.  200.  207  f.  208.  215  f. 

222.  229.  295.  334;  'Aßf]v. 

jiohreia  92.  226.  240;  Cyn- 

egeticus  230  f. 
Xenophon  Ephesius  85.  173. 

214. 

Zenodot  337. 


2.  Verzeichnis  der  Stellen,  die  Besprechung  gefunden. 


Aeschylus 
Agam.  113 :  38 
294:  33 
1469:  120 
Choeph.  349:  32 
403:  142 
424:  33 
449:  138 
Eum.  730:  32 
Hiket.947:  273.  277.  288  f. 
Prom.  2:  32 

665:  45 
Aetna  6:  72 

433:  377 
471:  377 
Afranius  187:  135 


Afranius  300:  138 
357:  138 

Anthol.  lat.  1:  374 

253,  154:  22 
259:  44 
286,27:  151 
303,1:  136 
338,8:  365,3 
687,54:  22 

Anthol.  Palat. 
1X239:  333 

XII  208:  304,  1 

XIII  21:  249 
Apuleius 

met.  1,  1:  105 
4,33:  205  f. 


Apostelgeschichte 

19,  19:  322. 
Aristophanes 

Acharn.  3  f . :  67 
24  f.:  113 
61:  25 
69  f.:  128 
78:  45 
197:  67 
203:  25 
2581:  76 
885  ff.:  75 

Ekkles.  89ff.:  111 
405:  126 

Fried.  214:  127 

Frösche  245:  50. 


2.  Verzeichnis  der  Stellen,  die  Besprechung  gefunden. 


387 


Aristophanes 

Vesp.  1342:  114. 
Aristoteles 
Hist.  anim.  p.  598  A  25:  37 
P.598B8:  37 
Poetik  1,3:  37 
4,  12:  37 
6,  18:  156 
9,9:  37 
9,11:  151 
c.  13:  194 
Ehetor.  p.  1361 A  u.  1400  B : 
133 
Athenaeus 
p.  75D:  127 
p.  153  F:  127 
p.  287C:  125 
p.  308E:  37 
p.  329A:  33 
p.  457B:  123,4 
p.  558  B:  125 
Augustinus: 

Confess.  IV4,  7:  152 
Ausonius  Bissula  145. 

Bakchylides  15,  56:   134. 

Caesius  Bassus 

carm.fr.  2,  6:  235,4 
Calpurnius  4,  96  f . :  145 
Carm.  lat.  epigraph. 
938:  306 
946:  55,6 
Cassius  Dio  57.20,3:  379 
62,17,2:  119 
OatuU  1,8:  147 

2:  131 

3,  12:  233 

5:  130.  150 

14:  3101 

17,1:  137 

22, 5  f.:  290. 298. 329 

47,  2:  116 

49:  116 

51,11:  120 

54:  129 

55:  122 

57:  76 

58  b:  123 

62,  1:  126 

62,45:  31 

63,75:  120 

64,309:  126 

64,368:  145,  1 

65,9:  153 

67:  250 

68Au.B:  177.  179 

68A7:  311 

68B47:  144 

68B61:  34 

68B68:  55 

80,8:  138 

84:  50 

111,2:  141 

116,  1:  138 


Cicero 

pro  Milone  2:  40 
Orator  108:  155 
de  nat.  deor.  1, 13 ; 


30 


1,19:  157 
1,20:  128 
2,125:  119 
2,126:  152 
2,153:  158 
de  f in.  4,72:  62,1 
ad  famil.  9,16:  152 
ad  Att.  4,  5:  340 

12,19,2:  103,4 
13,12,2:  103.320 
13,25,3:  320 
15,3,1:  51 
Schol.  Bob.  p.l69  Stangl: 
382. 
Ciris  57:  72,2 
189:  72 
204:  135 
397:  138 
408:  145 
477:  145 
Claudian 

Eutrop.  I  358  ff . :  51 

II  347:  49 
Fescenn.  3:  182 
Nupt.  136:  128 
Codex  Theodosianus 
14,3:  361 
Xiy9,2:  364 
Copa  28:  119 
Corp.  gl.  lat.  n  569,24: 119 
Culex  5:  233,5 
26  f.:  143 
35:  79. 

Demosthenes 
Androt.  p.590:  132 

Digesten 
12,1:  139 
XXXII  52,  2 f.:  270 f. 

Ennius  Annal.  186:  52 

366:  126. 
Eubulos  frg.  206K.:  142 
Euripides 
Alkest.  86  ff. :  60 

366  u.  607:  112 
El.  489  ff.:  115 
lonl:  163 

Iphig.  Aul.  1580:  163 
Med.  40  ff.:  159 
759:  130 
262:  162 
Orest  505:  147 
547:  157 
667:  29 
1024:  159 
Eutrop  6,  9:  155. 

Fronto 

p.  156,1  ed.  Nab.:  47 
p.  155:  135. 


Galen 

Bd.XVni2S.630K.:  281 
Gellius  4,  13:  151. 

Herodot  1,  181:  155 
2,  94:  151 
2,  116:  156 
3,53:  152 
4,  127:  156 

7,  25  ff.:  45 
7,220:  151 

8,  60:  152 
8,  104:  156 

Hesiod  Erga  344:  33 
Hieronymus 

Epist.  33,  4,  4:  381 
Homer  11.  E 291  f.:  128 

Odyss.  <24f.:  117 
Odyss. /I593f.:  79 
hymn.  1,31:  71 
Horaz 

Od.  12:  95.119 
17:  177 
17, 17 f.:  51 
17,22:  139 
111,1:  129.379 
112,20:  129 
112,41:  31 
112,45:  102 
113,2:  32 
I  14:  174 
116,  5  ff.:  141 
118:  182 
122,2:  79 
126,1:  79 
128:  131 

136,18:  225,2.  380 
111,21:  102 
1111,23:  125 
1118,14:  51 
ini4,19:  32 
IV  6:  177 
lY  8, 15:  377 
IV  8, 17:  102.118.  163 
Sat.  I  5,  52 :  126 

110, 1  ff.:  161 

Epist.  17,29:  119 

Ars  poet.  139:  52 

253:  66. 

Jesaias  30,8:  288 
Johannesapokalypse 

5,  2:  329 

13,  18:  120 
Josephus 

Archaeol.  18,  3 :  162 
20fin.:  132 
Josephus  latinus 

c.  Apion.  II202:  36 
I  s  i  d  o  r  Origin.  6, 12, 3 :  305, 1 
Julius  Valerius 

p.  153,  10  K.:  143 
Juvenal: 

4,  67:  22 

4,  120:  22 

25* 


388 


Inhaltsverzeichnisse . 


Juvenal 

5,  158:  23 
6,365,  11:  291,3 

6,  365,  28 :  166,  1 
7,4:  22 

7,  23  ff.:  22.291 
7,  80:  133 
7,87:  34 

7,  98  f.:  317 
7,  105:  131 
7,  124:  131 

7,  130:  104 

8,  126:  252 
8,148:  148 
10,54:  72. 

Kallimachos,  Oxyrh.Pap. 
VII  1011  V.  102:  309 
V.  89:  326 
K  rat  es  com.  frg.  15:  127 
Kratinos  frg.  74:  131. 

Laberius  55  E.:  321,2 

Laevius  frg.  4:  51 

Livius  9,40:  111 

21,63,7:  135 
45,29,1:  151. 

Ps.Longin 

jr.  vtpovg  cap.  4,  4:  140 
4,5:  30 
9,6:  30 
43,2:  264,4 
Ps.Lucian 

De  astrolog.  10:  139 
"EgcoTsg  13:  118 
Lucilius  V.  54:  49 

V.  668:  310,3 
Lucrez  1,454:  163 
2,44:  32 
4,229:  159 
5,606:  79 
5,  1112:  66. 

Maecenaselegien 

1,8:  68 

1,37:  69 

1,  139:  72 

2,33:  142 
Martial 

Spectac.  28,  10:  72 

I  praefat.:  3471  368 

12:  349  f. 

166,8:  304,1 

III  1,3  f.:  276 

III  2  u.  5:  314 

III  2,  7  f.:  330 

V16:  319 

VI  3:  96 

VI  6:  371 

VI  17:  118 

VII  3  u.  4:  371 

VII  51,  5:  49 

VIII  praef.:  368 

VIII  3:  350 

IX  praef. :  368  ff. 


Martial 
X93,6:  304,1 
XI  107:  272.  299.  332 
Xn4  +  6b:  372 
Xn7:  371  f. 

XIII  3:  318  f. 

XIV  84:  303 
XIV  190:  349 

XIV 184—192 :  35 1  ff.  373  ff. 
Martianus  Capeila 

p.  125— 129EYSS.:  139 

II  219:  269 
M  e  n  a  n  d  e  r 

frg.  69  K:  138 

frg.  109:  155 

frg.  249:  130 

frg.  223:  127 

Epitrep.  575 :  127 
Minucius  Felix  14,  1:  52 
Musaeus  17  f.:  67 
101:  68. 

Nikomaclios  com.  f  r.l :  130. 

Ovid 

Am.  1,10,  9:  138 
heroid.  9,  80f.:  153 
Metam.  14,215:  150 
Trist.  1,1,8:  332 
1,1,90:  39 
1,11,31:  126 
2,413:  106 
2,443:  106  f. 
Ps.Ovid,  Halieut.  1:  155 

2:  232,1 
45  f.:  144 
75:232,1 
95:  232. 
Palladius 

p.  64  u.  65  ed.  Schm. :  148 
Pausanias  1,  35,  8:  140 
Persius  3,  10:  282 
Petron  47,  4:  151 

75,11:  151 
Phaedrus  4,  7:  177 
Pindar  Nem.  10,  62:  133 
Plautus 

Amph.  429:  50 
Capt.  846:  129 

997:  33 
Ourc.  99:  32 

470:  140 
Men.  1089:  66 
Merc.  272:  50 

709:  147 
Mü.  24:  142.  151 

92:  136 
Most.  1 :  32 
40:  34 
629:  138 
Persa  173:  133 
843:  144 
Poen.  554:  136 
Pseud.  242:  138 
Tmc.  121:  32. 


Plato 

Hipp,  mai.p.  283  A:  155 
P.289A:  139 
Hipp.  min.  p.370C:  31 
Phaedr.  p.230A:  52 
P.245A:  251 
P.274F:  150 
P.278E:  269 
Protag.  p.  320  f.:  63 
Tim.  p.43A:  37 
Plin.  n.  hist. 
12,7:  119 
13,68:  280  f.  I 
13,  70:  114     '' 
13,  74  ff.:  265—272;   vgl. 
279,6 
14,58:  143 
32,  148:  140 
Plin.  epist.  7,  17,  11:  155 
Polyb  4,  36,  6^:  133 
Pomponius  70:  150 
ProperzI  1:  379 
18:  177 
116,10:  250 
121:  132 
111,22:  135 
113,24:  23 
114,3:  142 
114,24:  132 
1X9,44:  23 
niO:  177 
1110,11:  138 
1113,25:  72 
1113,58:  23 
1115,49:  23 
n29:  123.177 
1129,39:  72 
1134,42:  50  f. 
1134,64:  39 
11120,28:  107,1 
IV  1:  177 
R^3,51:  141 
IV  5,  64:  72 
IV  8, 15:  39 
IV  10,27:  142 
Plutarch 

De  sollert.  anim.  p.  977  E : 
37. 

Quintilian  8,6,  10:  141 

Sappho  frg.  28:  133 
Seneca 

De  benef .  7, 1, 1 :  30 

7,30,1:  304 
Epist.  10,4:  30 
82, 18 :  30 
92,30:  30 
Apotheos.  4:  51 
9:  151 
10:  148 
Herc.  Oet.  1319:  141 
Oedip.  687ff.:  85 
Phoen.  650f.:  131 
Thyest.  486:  135 


3.  Sach-,  Wort-  und  Personenverzeichnis. 


389 


Sophokles 
Ajax  172  f.:  60.79 

341:  159 
Antig.  100—116:  146  f. 
127  ff.:  110  f. 
141  ff.:  178 
794:  52 
802:  190 
905  ff. :  108  f. 
Oed.  Col.  337ff.:  109 
367:  134 
678  f.:  107 
704:  107 
719:  120 
1199:  33 
1604:  107 
Oed.  Eex  495  u.  510:  178 
862  ff.:  190  ff. 
1031:  134 
1505:  141 
Sophoklesvita  132 
Statins  Silv.  4,8,26:  138 
Strabo  p.  389:  134 
p.  614:  49 
Sueton 
Horazvita  p.  45  Eeiff . :  287 
Nero  39:  121. 

Tacitus 
Dial.  8:  144 
15:  144 
17:  103.118 
Annal.  15,44:  162 
Terenz 
Adelph.  470:  148 

766:  138,5 
Eun.  25:  104 
Heaut.  4f.:  105 
Theognis  299:  133 
1135:  116 
Theokrit  c.  8:  131 
8,53:  127 
9,  10:  134 
15,13:  131 


Theokrit  16,6:  273 

c.  17:  95.  120  f. 
18,  18:  141 
c.  21:  143 
21,58:  140 
28,  14:  134 
23,16:  138 
Theophrast 
Charact.  1,  1:  35 

1,2:  35,2 
1,4:  35 
2,3:  35 
3,4:  35,2 
4,  11:  145.  379 
5,4:  35 
6,8:  262 
Thukydides 
1       1,  74:  142 
I       2,  15,  3  f.:  112  f. 
I       2,23:  33 
I       3.4,5:  118 
j       4,56:  33 
!  Tibull 
14:  19 
16,34:  377 
115,47:  110 

(Lygdamus)  ni  1,  13:  332 
(Lvgdamus)  III  6,  3:  140 
Titinius81:  125 
Turpilius  137:  150 
192:  140. 

Valerius  Maximus 

VI  9, 14:  142 
Yarro  Menipp.  fr.  197:  47,3 
Yergil 

Oatal.  IIa3:  138 

IIb  4:  47 

nia3:  34 

VII  2  f.:  46.47 

IX  1:  139 

1X60:  72 

c.  X:  145 

c.  XII:  121  f.  378 


Vergil 

Catal.  XIII24f.:  51 
Ecl.  1,28:  128 

2,9:  119 

3,  104  f.:  123 

4:  95  f. 
Georg.  1,85:  79 
Aen.  I  prooem.:  160.  234 

1,2:  38  f. 

1,333:  148 

1,667  f.:  68 

2,462:  78 

2,  567  ff.:  160  f. 
2,577:  131 
2,798:  125 

3,  204  f.:  160 
3,661:  160 
3,702:  377 
4,427:  79 
5,595:  160 
6,95:  30 
6,199:  128 
6,254:  68 
9,667:  137 
10,  144:  137 
10,819:  79 
12,541:  69 
12,  605  :  137 
12,648:  72 

Velleius  2,  84:  125 
VitruvVn  praef.  5ff.:  341. 

Xenophon 

De  rep.  Laced.  1,  5 :  149 
3,  5:^140 
Anabas.  Prooem. :  157  f. 
Hellen.  2,  4,  26:  127 
Memor.  1,  2,  48:  142 
2,7,8:  127 
3,  5,  4:  156 
Oekon.  7,  16:  148 
10,8:  157 
20,25:  150 
Sympos.  2,  29:  127. 


3.  Sach-,  Wort-  und  Personenverzeichnis. 


ab  epistulis  287. 
ahietinus  44. 
Ablativ-fZ  126. 
actum  285,  4. 
adglutinare  269. 
adorare  65. 
adplicare  269. 
Adressatenverzeichnisse    in 

Brief büchern  328. 
Adverbien  auf  -Mg  53  f.;  lat. 

auf  -e  vermieden  234. 
Aegäische  Kultur  99.  248. 
Aegyptisches     Buch-     und 

Schriftwesen  254. 255. 256. 


257. 274.  295. 302. 305. 329. 

333. 
Aeolisch  57. 
Aesop  90. 

Aetiologische  Dichtung  194. 
Agon  in  der  Komödie  185. 
äyoQsveiv  54. 
ai'viyfta  121. 
Akropolis  112. 
Akrosticha  92  f. 
Akte  183. 
Akzentuation  127. 
Album  256  f. 
Alcäische  Strophe  73. 


Alexandria  266.  307;  Biblio- 
thek 296.  336  ff. 

Alexandrinische  Dichtung 
225.  233. 

a  libris  334. 

alii  für  ceteri  65. 

Allegorische  Auslegung  101 . 

Allegorische  Dichtung  207. 

Alliteration  50.  76  f. 

Alphabet  248.  Euklidisches 
133.  Umschrift  133.   379. 

amicus  54. 

Amor  als  Schlange  206.  380. 

Amphibolien  50  f. 


390 


Inhaltsverzeichnisse. 


312. 


311. 


342. 


afxcpiJioXeXv  107. 

Amphitheos  101. 

avaßaiveiv  114.  378. 

dvayvcoQioig  189. 

dvdyvcooig  7. 

dvayvcooxy]Qioi'  303. 

dvayvMorrjg  303. 

dva).oy£Tov  303. 

Anapher  77. 

dvcmxvooeiv  212. 

dvaxißrjfxi  „widmen 

dvögeia  54. 

Androkydes  143. 

Anekdota  315.  382. 

anima  138. 

annalis,  Über  263. 

dvoiyeiv  329. 

Anordnung  der  Gedichte  im 

Buch  371. 
Anthologien  172 
Antinoe  305. 
Antiochia  336. 
Antiphrasis  116. 
Antiquaria  322  f. 

dvCMÖTj    184. 

Antonius,  Marcus  101.  237. 
djiaXeiqjEiv,  djidXmxog  290. 
djiTjXsyscog  77. 
Apfel,  beschrieben  249. 
Apokrj^phen  237. 
djiohkvfisvov  184. 
'Ajr6U.CL>v  53. 

Apollonios  von  Tyana  286. 
,  311. 

djxöojiaojua   153,  2. 
Apotropäisches  255  f.  257. 
Apposition  69. 
Araber  365. 
arca,  arcula  335. 
Archäologie  212. 
Archetyp  17  ff. 
Archive  288.  335. 
Aretalogie  175. 
dgext)  54. 
armaria  340  f. 
artare  349. 
Artikel  53. 
Asclepiadeus  74. 
Assimilationen  45. 
d^dvaxog  62. 
Atellanen  294. 
Athen  56 ;  Topographie  112  f. 
Athenisclies  Tlieater  182. 
Athetese,  d&exsTv  149. 
'ArxiMavd  dvxi'ygacpa  342. 
Atticus,  Pomponius  307. 310. 

320. 
Attisch  56.  149. 
au,  av  Diphthong  134. 
Aufhängen  der  Codices  262. 
Auftreten  der  Personen  186. 
August eus  279,  6. 
Aurelian  259. 

Aussprache  134  f. :  des  ß :  365.  j 
autem  228. 


Autobiographie  165. 
avxöygacpa  303.  335. 
Automatentheater  306. 
aveo,  habeo  135. 
ä^orsg  255.  257. 

baiulus  287. 
Ballade  173  f. 
Barbarismus  118. 
bassus  =  pinguis  34. 
Baumstämme,    beschrieben 

249. 
Beschreibende    Dichtkunst 

179  f. 
Bestattungswesen  112. 
Bibliomane  354. 
ßißh'm'  Eolle  262.  264.  276. 

282.  290.  292.  297;   ßißUa 

äyga^a  269.  270.  318.  325. 

352;  ö2ov  ßißUov  294. 
bibliopola,  bibliographus  307. 

309.     364 ;     mercennarius 

bibliopola  320. 
hibliothecarius  337.  365. 
Bibliotheken  255.  280  f.  322. 

325.  334. 336  ff.  344.  364  ff. 
bibliotheca    —    Bibel  274,  1; 

in  bybliothecas  referre  311. 
Bibliothekskataloge  339.341. 
ßißkog  ßvßkog  264.  273.  276. 

277. 280  f.  293 ;  ßlßXoi  d/uysTg 

und    ov/ii/iuyeTg   338;   ßißkog 

„Codex"  357. 
Bilderbücher  101.  250.  293. 

305.  310. 
Bimstein,  pumex  299. 
Biographie  173.  174.  339. 
ßiovv,  fßicooa  149. 
Bleiplatten  258.  356. 
honus  54. 

Breviarien  s.  Epitome. 
Brief   180.   225.  258.  286  f. 

303.  379. 
Brieftafel  247.  286  f. 
Bronzetafeln  251.  259. 
Brouillon  289  ff. 
Buch  10.  226.  247  ff. ;  Aus- 
stellung desselben  327  ff. ; 

Alter  der  Exemplare  323. 

328. 
Bücher  geweiht  257. 
Bücherdekaden,    -pentaden 

341.  350. 
Buchhandel  313.  319  ff.  351. 

363  f. 
Buchläden  312. 
Buchpreise  322  f.  325.  352  f. 
Buchrolle   198;    Buchgröße 

293  f.:    Eaumzwang  176. 

177 ;        Zusammenkleben 

derselben  270  ff. 
Buchteilung  171.  213  f.  295  f. 

340. 
Bülmenwesen  114  ff.  183  f. 

378.  379. 


Cäsur  70  f.  73  f.  377. 

calamus  302. 

capsa,  scrinium,  xißcoxög  333. 

capsarius  333. 

Caput  12.  263. 

carbasiim  volumina  258  f. 

carmina  figurata  182. 

cavtus  134. 

Cednisöl  328.  330  f. 

Centone  38.  201. 

cera,  tabula  cerata  260.  284. 

379. 
cerarii  284. 
ceromata  262. 
Charakterzeichnung  187. 
xdox7]g,  clwrta  253.  264.  273. 
'  279,  6.  281.  282.  287  f.  308. 

323.328.345.352;  Sorten 

der  Charta  270.  271.  298. 

381:    Fabrikation    264  ff. 

278.  361f.  365;Eectound 

Verso  268 ;  Geldwert  278  f. 

353  ff. 
chartarii  266. 
Xagxla  als  Pergamentblätter 

368.^ 
/aQxojicoXrjg  270. 

XStQCOV   49. 

Xtgcov  49.  137. 

Chinesen,  Buchwesen  306; 
ihr  Hadernpapier  365. 

chirographa  285.  287. 

Chorlyrik  146.  183.  189. 

yor]ox6g  54. 

Christen,  Xgrjoxcaroi  137. 

Christliches  Buchwesen  311. 
334.  354  ff.  360  ff. 

Christus,  Xgtjoxög  137.  162. 

cicirrus  126. 

circumcidere  libros  305,  1. 

civitas  48. 

Cliententum  in  der  Littera- 
tur  316  ff. 

cludere  statt  claudere  22. 

Codex  10.  260.  284.  308.  345. 
360.  373  f. :  codex  ansatus 
262. 357;  Codexbuchwesen 
350  ff. ;  codicem  componere 
356.364;  Codices  antiquis- 
simi  359;  Codexformate  bis 
zum  5.  Jahrh.  359  f. ;  Co- 
dices chartacei  360.  365  f. ; 
Codex  als  Kapsel  356. 

codicillus  260.  288.  289. 

comma  127  Anm.  4. 

commentum,  commentarius 
83.  285. 

Compendien  139  f. 

confectura  266. 

Conlatinus  150. 

Consecutio  temporum  56. 

conserere  106. 

constitutiones  der  Kaiser  285. 

contaminare  105 ;  Contami- 
nieren  188. 


3.  Sach-,  Wort-  und  Personenverzeichnis. 


391 


cooperire  357. 

cordoUum  45. 

cornu,  Laterne  331. 

cornua  der  Eolle  299.  331  ff. 

Corpus  iuris  98. 

corpus  (librorum)  342.  343. 

cottidie  45. 

eroceus  291. 

cruces  interpretum  143. 

Clin  nos,  Clin  nobis  45.  78. 

Cursor  287. 

Custodenzahlen  358. 

Cynismus  49. 

Daktylen  59. 
Daktylo-Epitriten   59  f.   70. 

74  f. 
Dative   auf  -i   gelängt   71; 

Dativ    qui    für    cui    135; 

Dativ  ei  232. 
dedicave  312  f.  318. 
dedici  für  didici  136. 
dem  150. 

delere,  charta  deleticia  290. 
dehoq  259,  4.  262.  263.  284. 

297  f.  381;  öehow  298. 
Deminutiva  253. 
ötjfwoieveiv  puhlicare  308,  2. 
denuo  45. 

dentare  chartam  299,  1. 
deponere  oculos  225,  2;   380. 
derat  für  deerat  136. 
Dialekte  5.  48.  55  f.  188. 
Dialog  96.  188.  196  ff.  216. 

229.  276. 
diaoxEvr]  218. 
Diatribe  179. 
dicare  313. 

Didaskalische  Xotizen  90. 
Digamma  70. 
ÖixaioovvT]  54. 
Diktat  134.  309  f.  324. 
Diktion  188. 
bioodcozixov  jusoog  7. 
dicfüsgai  254  ff  r259. 264. 280  f. 

329. 
diq)&eoaloi(pog  254. 
biffdegägiog  280. 
Diphthong  ae  49. 
Diptychon,  Triptychon  261. 
Disposition  der  Eeden  176. 
öidvQog  251.  257. 
Dit\ographie  140. 
divus  279,  6. 
Dochmien  59.  72. 
domina  54  f. 

donatio  Constantini  237. 
Doppelte  Niederschrift  von 

Texten  288. 
Doppeltitel  154.  379. 
Dramaturgie  182  ff. 
Dramen,    Kürze    derselben 

182. 
duellum  134. 
duplex  105. 


Edition,  edere  292.  307  ff. 
313.  338.  342.  350.  382. 

educere  für  educare  62. 

ey-ygäcpeiv  302. 

Ehekontrakte  285. 

siöv?2iov  343,  1. 

Eigennamen  126  f.  146. 

elh]täoiov,  £veiXr]f.ia  214:. 

elv  für  Ev  62. 

Einband  der  Bücher  357. 

Eindichtung  219. 

Einheitlichkeit  der  Hand- 
lung 185. 

Einsilbige  Wörter  78.  234. 

sI'qcov  54. 

£XyQd(pElV   256. 

EHÖooig  307.  334;  Exöooig  xax 

ävöga  309. 
ixloyai  214. 
ExcpQaoig  von  Kunstwerken 

EX^Xiyng  138. 

Elegie  164.  225. 

Elegisches  Distichon  60. 

elementum  55. 

Eleusinien  167.  189. 

Elfenbein  290;  Elfenbein- 
tafel 260.  261.  289,  5. 

Elision  234.  235.  379;  aus- 
gedrückt in  der  Schriftl38. 

eXiooeiv  und  Oomposita  272. 

Ellipse  des  Eivai  230. 

emendatio  7.  271.  290.  313. 

enarratio  7. 

Enkomien  179  f. 

Enneakrunosquelle  113. 

entheatus  47,  3. 

Entlehnungen  202  f. 

Epeisodien  183.  196. 

EjTt]  Prosazeilen  323. 

Ephemeriden  285. 

Ephesos  337.  339  f. 

EJiiygafi'ia,  Titel:  328. 

Epigrammenbücher  343,  1. 

Epigraphik  6.  251. 

'EjTixoyxvXog  143. 

Epilog  176. 

Epimenides  254. 

Episode  186. 

Epistolographie  165.  180  f. 
293. 

Epitheton  ornans  188. 

Epitome  34.  214.  353. 

ijioJiTideg  {ßißkoi)   12. 

Epos  186.  187  f.  202  f. 

Epyllion  174. 

ergo  228.  ^ 

£Q/iir]VSV£lV    7.    41. 

Erotik  204. 

etenim  228. 

Etmsker  259.  288.  307. 

Etymologie  7.  48. 

EV/LiikEia  184. 

EVOEßrjg  54. 

evenat  150. 


exceptores  284. 

E^ijyrjoig  7. 

explere  c.  gen.  161, 1. 

explicare,  explicit,  expUcitus 

10.  272.  299.  304.  331. 
Exultetrollen  283,  1 ;  296. 
Exzerpte  172.  210.  214.  342. 

344.  349  f. 

fädlest   für   facilis  est  u.  ä. 

138  f. 
Fälschungen  222  f.  226  ff. 
Familienchronik  284. 
Fannius,  Fabrikant  270.  278. 
Farbensinn  116. 
fasciculi  288.  332  f. 
Felsinschriften  249. 
ferhuit  134. 
Fescenninen  122. 
Firmus,   Kaiser  263,  5.  279. 
Florilegien  35  f. 
folium,  qjvllov  im  Buch  252. 

357. 
fores  48. 
formitatus  34. 
fornus  für  furnus  22. 
foruli  340. 

Fragmente  210.  211. 
Frauencharaktere  100. 
Freigelassene   als  Verleger 

311.  356. 
Fries  293. 
Freie  Erfindung  im  Drama 

185. 
frons   der   Buchrolle   304  f. 

331.  332. 
Fuficius  129,  1. 
functus  für  mortuus  239. 
Futur  mit  dV  149. 

Galliamben  69  f. 
Gedankenlosigkeiten       der 

Autoren  117  f. 
Gefäße,  mit  Schrift  252. 
Geistiges  Eigentum  318. 
yEloTov  59.  189.  195. 
Genetiv  Plur.  der  Partie,  act. 

62. 
Genius  188,  1. 
yi'vofiat  137. 
Glossare  42. 
Glossatoren  98. 
Glosse  und  Glossem  7.  33. 

149.  152. 
ykcooooxojiiov  335. 
glutinum,  gluten  267,  2 ;  glu- 

tinatores  269. 
Glykoneus  70.  73. 
gnatus  136. 
Goldne  Bücher  257  f. 
Goldschrift  258.  306.  356. 
Goldweberei  258.  381. 
Gracchen  109. 
Gräber,  Bücher  in  Gräbern 

334  f. 


392 


Inhaltsverzeichnisse. 


Graffiti  249. 

yQa^Haxixr]  3. 

Grammatischer  Eeim  71. 76. 

grammatici  officia  7. 

ygäcfsiv  248;  bei  Homer  53. 

gratari  62. 

Griechen  als  Nachahmer  der 

Eömer  203  f. 
Griechische  Wörter   latein. 

flektiert  52. 
yglcpog  121.  206. 
Großrollensvstem  198.  295  f. 
gida,  gyla  23.  135.  136. 
yvfxvaolaoxo?  226. 
yvfivoi,  Ol  123. 

h,  Aussprache  50  f.  135. 

hahitior  34. 

Hadrian  233. 

haediliae  34. 

Hämmern  des  Papiers  268. 

Halbchöre  184. 

Handtuch  des  Ehampsinit 
258. 

Haplographie  140. 

haucl  135. 

Heftung  259.  261. 

Heldenbiographie  173. 

Herculaneum ,  Bibliothek 
340. 

Herculanensische  Eollen 
326.  330.  336. 

Hermodoros  223.  321. 

Hexameter  59.  70  f.  80  f.  148. 
231  f.  234 ;  Elision  im  Hexa- 
meter 160,  2. 

Hiat  70.  144.  168. 

hie  und  is,  Ms  und  eis  ver- 
wechselt 136. 

Hipponakteischer  Vers   81. 

hircum,  circum  50. 

hirnea  122. 

Historische  Monographie 
174. 

Historische  Stoffe  der  Tra- 
gödie 185. 

Historische  Werke ,  Dis- 
position 172  f. 

Holzplatten  256  f. 

Homonyme  48  ff. 

Honorarfrage  315  ff. 

honos,  onus  135. 

horrea  cJmrtaria  269.  279. 

'Yyla  für  'Yyieia  137. 

Hymnen  173. 

vjrayoQSVio  309. 

V7i6fivi]^a  83. 

Hypotaxis,   Entstehung  56. 

/  der  Konsonant,  als  ii  ge- 
schrieben 133. 
Jambenkürzungsgesetz    80. 
Jambischer  Trimeter  59. 75  f. 
Icherzählungen  220. 
Hie  gekürzt  80. 


Hlustrierte  Bücher  101. 

Imitationen  38.  202  f. 

immortalis  und  deus  207. 

implere  291. 

inae  266. 

index  223.  328. 

induere  330,  4. 

Infinitiv  statt  Imperativ  230. 

Inhaltsübersichten  (Sum- 
marien) 11  f. 

Initialen,  entstellt  155. 

inserere  106. 

integer  105. 

interductus  127. 

Interpolationen  149  ff.  221. 

interpretari  7. 

Interpunktion  127  f.  379. 

invideor  62. 

Jonici  69  f.  74. 

Josuarolle  306. 

Ironie  116. 

ista  haec  für  istaec  150. 

Itacismus  137. 

Jüdisches  Buch- und  Schrift- 
wesen 255.  275.  277.  282. 
283.  296.  304.  324, 1.  329. 
338.  366  Anm.  382. 

ins  49. 

ius  iurandnm  45. 

Justinian  98. 

Kaiser  und  Könige  mit  dem 
Buch  285. 

Kakophonien  u.  xaxsfiq^axov 
78. 

kalendarium  285. 

Kapitel  11. 

xaxä  MatdaXov  309. 

xazaßaivBiv  114. 

Katharsis  196. 

Kaufmännische  Buchfüh- 
rung 284  f. 

xetvog  statt  EHEivog  31.  126. 

Hsgdiorog  53. 

xsq^aleiov  12. 

xe(fa/.ig  329. 

Kinn :  Hilfe  des  Kinns  beim 
Lesen  303. 

Klanganapher  77.  377. 

Klauseln  82.  378. 

Klebungen  im  Buch  269. 297. 

Kleine  Wörter  im  Vers  77  f. 

Kleinrollensj^stem  294  f. 

Kleister  267. 

Kloster-  und  Kirchenbiblio- 
theken im  4.  und  5.  Jahrh. 
362  ff. 
I  Koine  56  f.  149.  230. 
'  Kollation  14. 
I  Kolometrie  324  f. 
i  Kommentare  83.  170  f.  213. 
[        q-Tö 

I  Kommos  184.  185. 

I  xatjucoöia  164;    Komödie   56. 

i     nOO.  185  f.  204. 


Komödientitel  153. 
xottäxia  329. 
xovzoqpoQOi  329,  8. 
Kontraktion    von    Vokalen 

(Synizese)  136.  150. 
Kopieren  nach  Vorlage  310. 
xogda^  184. 
Krasis  126.  149. 
Kritik,  xgi'otg  7  f. 
Kursivschrift  13. 
Kurze     offene     Silben     in 

Hebung  72.  377. 
Kustoden  15. 
xvdvsog  62. 
xvgßeig  257. 

Labdacismus  135. 

lacuna  144. 

Landkarte  282.  286.  292. 

Lateinische  Sprache  46 ;  Aus- 
dehnung des  L.  55;  Alt- 
latein 56.  150;  Afrikani- 
sches L.,  Plattlatein  55; 
Volkslatein  50. 

Latein.  Wörter  griechisch 
flektiert  47. 

lauta  für  kdfxßöa  135. 

Lavinus  39. 

lectio  7. 

Lehnwörter  46  f.  80. 

Lehrschriften  175  f.  215.  23L 

lemma  328. 

Lesen,  Lautlesen  102;  Hal- 
tung des  Buchs  beim. 
Lesen  303  f. 

Leukas  und  Ithaka  117. 

kei'xcofxa  256  f. 

Lexikographie  41  ff. ;  Lexika 
213. 

Xe^ig  eioofimn]  61. 

lihellus  „Bast«  253;  ,Eolle« 
274.  276.  289. 291.  292.  308. 
381;  Teil  der  Eolle:  libri 
libellomm  270. 

liher  „Bast"  252  ff. 

liber  „Eolle«  260.  270  f.  273. 
276.  280.  282.  283.  293. 
361. 

liber  singularis  381. 

librarius  253.  303.  309. 

Liebesbrief  181. 

Lineal,  plumhum  299. 

lintei,  libri  258  f. 

Litterarisches  Eigentum 
nicht  geschützt  198  f. 

Litteraturgattungen  164  f. 

Litteraturgeschichte  und 
Altertum  174. 

Liturgische  Texte  325. 

loculamenta  340. 

locus  381. 

Aoyoygdq-oi  170. 

Xoyog  für  öid/Myog  196;  Xöyog- 
=  Buch  275.  381. 

Loucana  für  Lucania  39. 


3.  Sach-,  Wort-  und  Personenverzeichnis. 


393 


luci  claro  150. 

Lücken  im  Text  144  ff.  153. 

Maecius  Plaidus  139. 
fid^sioa  53. 
macrocoUum  320. 
Märchen  174.  232  f. 
Märtyrerlitteratiir  175. 
Maesoleum   für   Mausoleum 

135. 
Magier  323. 
Magistratsakten  285. 
Malerei  248.  258  f.  305  f. 
maUeiis,  malleare  libros  271. 

302. 
Malvenbast  252.  253. 
maniiale  lectorium  303.  341. 
Masken  259. 
Matris  152. 
membranae  273.  280  ff.  285. 

289  f.  291,  2.  305.  306.  329. 
memhranariiis  280. 
memhranum  291, 1. 
/Moog  54. 

Metaplasmus  118. 
Milesische  Erzählungen  105. 

174. 
Militärdiplome  251. 261. 381. 
miluics,  Messung  232. 
Mimus  59.  196.  379. 
mittere  {libros)  313. 
mom'für  muri  137. 
fioXvßdog  258. 
momen  66. 
monobiblos  11.  154.  241.  294. 

381. 
Monodien  184. 
Monolog  187. 
Mosaiken  261. 
Münzen  5. 

Mumienkartonage  334. 
Mj^tacismus  79. 

Nähen  der  Pergamentrollen 

282  f. 
Narbo,  Narbonam  150. 
narratio  176. 
narrator  u.  exornator  rerum 

200. 
Narthex-Ilias  296. 
NsaJioXtrrjg  45. 
ne  car  für  val  yäo  138. 
Nekrologien  296? 
nempe  gekürzt  80. 
Nereiden  120. 
Nero  238. 
nidus  340.  350. 
Nilwasser  267. 
vo^og  des  Terpander  179. 
non  sanus  für  insanus  u.  ähnl. 

231. 
nonscit  für  nescit  55. 
notae  iuris  139,  4.  379. 
notarii  139.  284. 
va&sverai  159.  226. 


Normalzeile  323  f. 

Novelle  174. 

Numa,  Bücher  des  237. 

Oblatio  für  ablatio  135. 
H  Obszönes  51. 170.  229.  348  ff. 

Octavian  96. 

oe  und  y  vertauscht  137,  8. 

offerre  für  auferre  135. 

officiales    rationis  chartariae 
279. 
i   oidafiev  149. 
}  operculum  290.  356. 
I  Opisthographa  292. 301  f.  326. 
!  optimus  54. 

Orakel  52.  205  f.  258. 286. 328. 

orare  55. 

ÖQ^iaßoi  262. 

Orthographie  5. 15.  47.  135  f. 
\  -OS  statt  -US  136. 

Ostraka  254.  259.  325. 

Ostracismus  254. 

oMvy]  259. 

ovvofia  62. 

paenula  291.  329.  331. 

Päon  82. 

Päpstliche  Urkunden  auf 
Charta  365. 

pagiiia  269.  297 ;  pagina  limi- 
naris  358,5.  382;  ordopagi- 
narum  301.  369.  382. 

Paläographie  13.  133. 
i  Palamedes  249. 
!  Palimpseste  20.  290. 

Jidhv  53. 
I  Palmblätter  252. 
I  Pamphilos  354.  364. 
I  üiartoöajid  171. 

Pantomimentexte  316. 
I  Papier  364. 

Papierfabriken,  moderne 
352. 

Papvrologie  6. 
I  papyrum  265.  266.  264,  5. 
I  Papyrus  263.  278. 
i  Papyrussteuer  263. 
:  parabsis  für  paropsis  135. 

jiagaöiögßcootg  152. 

jiagddooig  6. 

jiaqayQaqjrj  127. 

Paraphrasen  36. 

TcaQajioisTv  170. 

Tiagädeoig  45. 

Parechese  77. 

jiaoeyyQaqrsiv  221. 

Tiaosxßaoig  186. 

Parenthese  240. 

nagen lygacpai  183,  5. 

Parodie  174.  201. 

Parodos  60.  183.  186. 

Paronomasie  52. 

Parrhasios  282.  305. 

particip.  praes.,  z.  B.  ferens, 
passivisch  107.  378. 


pegmata  340. 

Pella  336. 

Pentameter  71. 

nenksy/Liert]  188. 

Pergament  256.  280  ff.  292. 
344  ff. ;  Purpurpergament 
356;  pergamena  280;  Per- 
gamentrollen des  Mxl. 
296  f.  Vgl.  membranae,  dicp- 
Mgai. 

Pergamum  336.  338  f. 

Periakten  258. 

periculum,  Concept  289,  3. 

Peripetie  189. 

Persischer  Eeisewagen  128. 

Persisches  Schriftwesen  254. 
256.  282. 

Persönlichkeiten  100  f.  226. 

Personenverteilung  im  Dia- 
log 130. 

neCog  326  f. 

(patvöhjg  paenida  137. 

(pdaizazog  149. 

Philologie  3. 

q?iX6koyog  3. 

(piXovixog   und  (fdoveixog  137. 

(pdvga  252  f.  257.  281. 

Photographie  15. 

(pQaCeiv  53. 

Pilz  249. 

niva§  12.  257.  259, 4.  260. 286. 
297.  339. 

Piraeiis  für  Piraeeus  137. 

Pisistratus  277.  379. 

niOTOi  52. 

Plagiate  199.  223  f.  380. 

nkdtr]  249. 

plicare  272. 

pluteus  340. 

Pnyx  113  f. 

noirjoig,  jromv  „dichten"  227  f. 

noEiv  für  noielv  137. 

Polemische  Schriften  207  f. 

noAig  48. 

Polybius,  Claudii  lib.  311. 

nokvoTixog  ijy.öooig)   31.   160. 

Pompejanisches  Gemälde 
332. 

Pompeji  249.  260.  261. 
popina  48. 

porta  48. 

Porträts  369  f. 

praefatio   301.   367  ff.;    vgl. 

Proöm. 
praesse  für  praeesse  136. 
praenotare  289.  381. 

Präpositionen  45. 

Predigt  179. 
primaetas  138. 

Privatabschriften  13.  315. 
322.  325  ff.  363  f. 

procurator     bibliothecarum 

337.  344. 
p7'ode  est,prode  ambulare  138. 
150. 


394 


Inhaltsverzeichnisse. 


prodes.  Ad].  150. 

jtQOSxdooig  219.  315. 

jiQoex'&eoig  301,  3. 

3iQOYQaq)rj  301,  3. 

Prolog  186. 

promiscuus  345. 

Proöm  173.  175  f.  176.  198. 
199.  228.  231.  346  ff. 

proponere  308. 

Prosa  60. 82. 136. 277 ;  Kunst- 
prosa 61. 

jiQooxoU.äv  269. 

Prosodie  und  ihre  Verände- 
rung 79  f.  374. 

Pseudepigrapha  222  ff. 

Pseudonyme  349. 

tpoyog  59. 

jiTvooeiv  257.  272. 

pueri  minuti  123. 

pugülares  260.  288.  289  f.  346. 
356.  375;  Yitelliani  287. 

pumex,  pumicare  305,  1. 

Punisch  188. 

Purismus  46. 

purus  166. 

Putten  123. 

jivlac  48. 

JivgyioHog  340. 

jiv^cov  260.  288. 

quaternio  385. 

que  für  quoque  68. 

quia  einsilbig  151. 

Quinio,  jisviddtw  358.  360. 

quinque  Pauschzahl  350. 

Quintipor  45. 

Quitte  381. 

Rätsel  13.  120  ff.  257,  8. 

ratio  chartaria  279. 

Eavennatische  Papyri  268,7. 

registrum  357. 

Eeim  76.  377. 

Eeisende  mit  dem  Buch  353. 

Eekomposition  45.  135. 

reliquus,  Messung  62. 

Eesponsion  147. 

Eesümees  157  f. 

Ehapsoden  247  f. 

Ehapsodie  173. 

Ehetorik  81  f.  176. 

Ehinozeros  104. 

Ehythmik  61.  82  f. 

Eiegel  am  Codex  261. 

Eiemenverschluß  der  Bü- 
cher 329. 

Qo8odd}irv/.og  116. 

Eollenbündel  332  f. 

Eollenkasten  333. 

Eom,  Bibliotheken  336;  Cen- 
trale des  Buchwesens  307. 
311. 

Roma  50. 

Eoman  188.  293. 

Romana,  die  Eömerin  65. 


ruhens  116.  | 

rubrica  11.  | 

Euder,  beschrieben  249.  j 
rullus  34. 

Sais  271. 

salarium  317. 

Samniten  259. 

oavidsg  251.  256.  260;  oaviötov 

257.  288.  297. 
Sapphische  Strophe  73  f.       j 
Satire  59.  95.  100.  101.  174.  I 

178. 
Saturnaliengeschenke  351  f. 
Saturnischer  Vers  69.  70.  71. 
Satyrspiel  188.  195. 
Satzklauseln  30. 
scapus  268.  269. 
Schauspieler,  Zalil  derselben 

184. 
S  chauspielerinterpolationen 

159. 
schedae  288.  290. 
schedula,  scedula  381. 
Schicksalsidee  189. 
Schild  des  Achill,  karischer 

SchUd  99. 
Schlachtfelder  99. 
Schlangenhaut  255. 
Sclilangensäule,  delphische 

255. 
Sclilußsilbe,    offene,    kurze 

71  f. 
Scholien   33.   83.    159.   171. 

213.  326. 
Schreiberlohn  322  f.  324. 
Schreibtafel  253.  257;   vgl. 

Brieftafel. 
Schrift  89. 138. 247  f.  260. 358 ; 

scriptura  continua  125  f. ; 

das  Schreiben  302.  305. 
Schriftwesen  10. 
Schüler,      Schreibübungen 

257    292 
Schulwesen  353.  360. 
Schwämme  111.  290. 
sdlicet  45. 
scissurae  266. 
scribae  mercennarii  303 ;  anti- 

quarii  364. 
Scribonia  96. 
scrinia  288. 
secum  iungere  106. 
Seidene  Bücher  259. 
Seife  46. 

Seitengespräche  184. 
Seitenzählung,    Kolumnen- 
zählung 297. 
Seitenüberschriften  359. 
Selbstgespräch     212     (vgl. 

Monolog). 
Selbstverlag  310.  319.  320. 

340. 
aeXig  269.  297.  298. 
Senatsakten  200.  284. 


Seriphos  145. 
sermonem  severe  105. 
Sibyllen  252. 
Sicilia  61. 

Siegel  261.  286.  287.289.  329. 
Sigmatismus  23, 4.  78  f.  277. 
377  f. 

oixivi'ig  184. 

Silbenzählung  324. 

Silber-  und    Goldplättchen 

257. 
oiXXvßog,  oizrvßog  328. 331.  333. 

340. 
similis  c.  gen.  66. 
sinistra  im  siniis  332. 
Siron  96.  137. 
oxvx6.kr]  255. 
Sokrates   47.    90.    100.    101. 

169.  187,  1.  197.  229. 
Soldatensprache  55. 
Solözismus  118. 
oöj^a  53. 

OCO/MXtlOV  357. 

ooifiorrjg  54.  231. 

sortes  257. 

spectare  für  exspectare  22. 

ojiavöoysloiov  174.   195. 

Spruchdichtung  227.  238. 

ozdxcofia  357. 

Stasima  183. 

statio  103. 

Stenographie  284. 

Sterben  auf  der  Bühne  184. 

Stichometrie  39  f.  145.  323  f. 

Stichomythie  188. 

Stichworte ,       musikalische 

111.  146,  2.  178. 
stilus  260.  302  f. 
ariCeiv,  oicy/ut]  127. 
Stoa  201.  222. 
subscriptio    293.    327.    363. 

382. 
arQS(peiv  269. 
Strophen  in  Gedichten  xard 

OTiyov  182. 
Sufficius  129. 
Sulla,  Sylla  136. 
superlectüis  150. 
ovyygacpoqpvka^  334. 
ovyxoV.rjoifiog  zö/tiog  270. 
ovjUjuezQia  zov  /.oyov  181, 6.  294. 
ovv  und  juszd  63,  1. 
Synaphie  71.  73. 
Synizese  38  f. 
Synonji-ma  47  f. 
ovvoifig  12. 

ovvza^ig,  ovvzayjua  342. 
ovv&eoig  45. 

tahellurius  286,  1.  287. 
tabula,  tahella  260.  284 ff.  286. 
tabulae  censiis  263. 
tabulae  Iliacae  212.  353. 373. 
Tachygraphen,Stenographie 
139.  309.  314  f. 


3.  Sach-,  Wort-  und  Personenverzeichnis. 


395 


tarnen  nachgestellt  161,  1. 

rafiTov  für  xafiieiov  137. 

Tamugadi  (Timgad)  337. 339. 

tantocius  138. 

Taubenbecher  des  Nestor  99. 

rdya  53. 

tegumentum  357. 

xeXog  301. 

xsigdöiov  358. 

Tempelarcliive  277. 

Tendenzstücke  194  f. 

Testamente  285. 

t  est  es  49. 

tevxog  275.  282.  333.  356.  357. 

Theaterstücke,  Geldwert 
316. 

Themistokles  254. 

^Bog,  fj   150. 

d^vyareoEg  62. 

Thyle  ^136. 

ik^oibeg  251. 

Tiere,  ihr  Fortleben  im 
Hades  233. 

tüia  252  f. 

tinea  291. 

Tisch  312. 

Titel  193.  209.  223.  327  f. 
343.348,1.  381;  Titelver- 
änderungen 153 ;  Titel- 
blatt 224.  299  f.;  inscriptio 
293;  Ueberschriften  von 
Gedichten  12 ;  titellose 
Werke  301:  Doppeltitel 
154.  301.  379. 

titulus,  titus  382. 

Töpfereien  252. 

xöfiog,  tomus  268.  270.  274. 
280. 295. 322;  tumulus  268. 

Tontafeln  252. 


Tragödie ,  Ursprung  der- 
selben 189 ;  Definition  194. 

XQaycpdia   164. 

traditio  6. 

„traditio  legis"  304. 

Trajanssäule  212.  293.  306. 

Transkription  des  Griechi- 
schen 47. 

Triadengesetz  178. 

tripudium  69. 

xQiood,  xsxgaood  der  Bibel  358. 

Trochäen  59. 

Trust  der  Fabrikanten  280. 

tum  in  der  Aufzählung  231. 

xvgawog  193. 

Türen,  mit  Schrift  oder  Re- 
lief 249  ff. 

Ueberschriften  von  Gedich- 
ten 121. 

Uebersetzungen  36.  41.  105. 
201  f.  203. 

ultima  verba  175. 

ultrix  faina  für  ultionisl^l,  1. 

umhilieus,  Rollenstab  329  f. 

Umbrische  Tafeln  41. 

unde  gekürzt  80. 

urhanus  54. 

vagax  32. 

Varia  171. 

varium  Carmen  171  f. 

vasculum  275,  5. 

Vaseninschriften  251  f. ;  Va- 
senbilder 259. 

vel  147,  1. 

vendere  103. 

Verleger  von  Büchern  307. 
310  f.  316  ff. 


Versschlüsse  78. 
Vesper  für  Hesperus  126. 
vocare  für  vacare  135. 
volvere  und  Oomposita  272. 
Volumen  274.  276.  282.  285. 

294 ;  Volumen  publicum  362. 
Vorhang  184. 
Vorlesung   der  Werke  310. 

319,  1.  382. 

Wachstafel    259  ff.    284  ff. 

289  f.  345. 
Wappenkunde  111. 
Wappenrollen  296. 
Widmung  der  Werke  312  f. 

314.  318  f. 
Widmungsexemplare     313. 

318.  330. 
Wort,  Wortbedeutung  44ff. 

53  f. 
Wortakzent  81. 
Wortkomposition  45.  59. 
Wortstellung  im  Vers  71. 
Worttrennung  125. 
Wortwitz  48  ff. ;  Witzlitte- 

ratur  322. 

Xerses  für  Xerxes  135. 

vygog  53. 

Zahlzeichen  132. 
Zaubersprüche  250.  258. 
Zeileninhalt  der  Seiten  19. 
Zeilenstellung  in  der  Buch- 
rolle 297. 
„Zettel"  381. 
Zinn,  gerollt  257,  9. 
Zitate  30.  377. 


Vorlesungen  und  Abhandlungen 

aus  dem  Nachlaß  von  Ludwig  Traube 

weiland  o.  Professor  der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters  an  der  Universität  München 

Herausgegeben  von  Dr.  FRANZ  BOLL 

0.  Professor  der  klassischen  Philologie  in  Heidelberg 

Erster  Band:   Zur  Paläographie  und  Handschriftenkunde.    Herausgegeben  von  PAUL 

LEHMANN.  Mit  biographischer  Einleitung  von  FRANZ  BOLL.   1909.  LXXV,  263  Seiten 

gr.80.   Geheftet  M  15.—,  in  Halbfranzband  M  18.— 
Zweiter  Band:  Einleitung  in  die  lateinische  Philologie  des  Mittelalters.  Herausgegeben 

von  PAUL  LEHMANN.  IX,  176  Seiten  gr.8«.  Geheftet  M8.—  in  Halbfranzband  M  IL— 
Dritter  Band:  Überlieferungsgeschichte  der  römischen  Literatur.    Herausgegeben  von 

FRANZ  BOLL. 
Vierter  Band:  Geschichte  der  Halbunciale.  Herausgegeben  von  PAUL  LEHMANN. 
Fünfter  Band:  Gesammelte  kleine  Schriften.  Herausgegeben  von  SAMUEL  BRANDT. 
Der  Preis  der  Bände  richtet  sich  nach  dem  Umfang.  Als  Subskriptionspreis  sind  für  den 
Druckbogen  etwa  70  Pfennig  angesetzt.  Die  Verlagsbuchhandlung  behält  sich  eine  Erhöhung 
dieses  Preises  nach  Abschluß  der  gesamten  Publikation  vor. 

Quellen  und  Untersuchungen 
zur  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters 

Begründet  von  LUDWIG  TRAUBE 

weiland  o.  Professor  der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters  an  der  Universität  München 

Subskriptionspreis  für  jeden  Band  M  15. — 
Es  liegen  vor: 

L  Band,  1.  Heft:  Sedulius  Scottus  von  Dr.  S.  HELLMANN,  a.  o.  Professor  der  Geschichte 
an  der  Universität  München.    XV,  203  Seiten  Lex.  8^    Einzelpreis  geheftet  M  8.50 

2.  Heft:  Johannes  Scottus  von  E.  K.  RAND,  Assistant-Professor  of  Latin  at  Harvard- 
University.    XIV,  106  Seiten  Lex.  8*^.    Einzelpreis  geheftet  M  6. — 

3.  Heft:  Untersuchungen  zur  Überlieferungsgeschichte  der  ältesten  lateinischen 
Mönchsregeln  von  Dr.  HERIBERT  PLENKERS.  XI,  100  S.  Lex.  8«  und  zwei  Tafeln  in 
Folio.    Einzelpreis  geheftet  M  7. — 

II.  Band:  Nomina  sacra.  Versuch  einer  Geschichte  der  christlichen  Kürzung  von 
Dr.  LUDWIG  TRAUBE,  Professor  der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters  an  der 
Universität  München.   Mit  Traubes  Porträt.    X,  287  S.  Lex.  8".    Einzelpreis  geh.  M  15. — 

III.  Band,  1.  Heft:  Franciscus  Modius  als  Handschriftenforscher  von  Dr.  PAUL  LEHMANN. 
XIII,  151  Seiten  Lex.  8°.    Einzelpreis  geheftet  M  7.— 

2.  Heft:  Die  Textgeschichte  Liudprands  von  Cremona  von  Dr.  JOSEPH  BECKER. 
VII,  46  Seiten  Lex.  8«.    Mit  2  Tafeln.    Einzelpreis  geheftet  M  2.50 

3.  Heft:  Die  ältesten  Kaiendarien  aus  Monte  Cassino  von  Dr.  E.  A.  LOEW. 
XVI,  84  Seiten  Lex.  8°.    Mit  3  Tafeln.    Einzelpreis  geheftet  M  6.— 

4.  Heft:  Die  Gedichte  des  Paulus  Diaconus.  Kritische  und  erklärende  Ausgabe  von 
Dr.  KARL  NEFF.     XX,  231  Seiten  Lex.S».     Mit  1  Tafel.    Einzelpreis  geheftet  M  10.— 

IV.  Band,  1.  Heft:  Johannes  Sichardus  und  die  von  ihm  benutzten  Bibliotheken  und  Hand- 
schriften von  Dr.  PAUL  LEHMANN.  X,  237  Seiten  Lex.  8».  Einzelpreis  geheftet  M  10.— 
2.  Heft:  Isidor- Studien  von  CHARLES  HENRY  BEESON,  Associate  Professor  of 
Latin  in  the  University  of  Chicago.    VII,  174  Seiten  Lex.  8°.    Einzelpreis  geheftet  M  7. — 

C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


Griechische  Grammatik 

(Lautlehre,  Stammbildungs-  und  Flexionslehre,  Syntax) 
Von  Dr.  KARL  BRUGMANN 

ord.  Professor  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  in  Leipzig 
4.,  vermehrte  Auflage  bearbeitet  von 

Dr.  Albert  Thumb 

ord.  Professor  der  indogermanischen  Sprachwissenschaften  in  Strassburg 

Mit  Anhang  über  Griechische  Lexikographie  von 

Professor  Dr.  LEOPOLD  COHN,  Bibliothekar  der  Universitätsbibliothek  zu  Breslau 

XX,  772  Seiten  Lex.  8"  Geheftet  M  14.50,  in  Halbfranzband  M  16.50 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissenschaft.    II.  Band,  I.  Abteilung] 

„Was  aber  kann  man  dem  klassischen  Philologen  Empfehlenderes  sagen,  als  daß  diese 
neueste  Auflage  noch  mehr  nach  der  philologischen  Seite  erweitert  worden  ist  als  die 
früheren?  Im  einzelnen  finden  sich  auf  Schritt  und  Tritt,  fast  in  jedem  Paragraphen,  Er- 
weiterungen und  Zusätze:  das  Buch  ist  so  von  632  auf  772  Seiten  angewachsen!  Auch 
durch  manch  glückliche  Umstellung  und  durch  Verwendung  verschiedener  Satzarten  ist 
eine  recht  übersichtliche  Gliederung  des  Stoffes  erzielt  worden.  Die  Beispiele  sind  ver- 
mehrt und  besonders  wertvoll  sind  die  reichen  Literaturangaben.  Auch  die  vierte  Auflage 
von  Brugmanns  Buch  ist  nicht  eine,  sondern  d  i  e  wissenschaftliche  griechische  Grammatik 
geblieben. "  Wodiensdirift  für  klassisdie  Philologie. 

Lateinische  Grammatik 

Laut-  und  Formenlehre  von  Dr.  FRIEDRICH  STOLZ,  ord.  Professor  der  ver- 
gleichenden Sprachwissenschaft  in  Innsbruck. 

Syntax   und   Stilistik   von  J.  H.  SCHMALZ,   Direktor  des  Großh.  Bertholdsgym- 

nasiums  zu  Freiburg  i.  B. 

Mit  einem  Anhang  über  Lateinische  Lexikographie  von   Dr.  FERDINAND  HEERDEGEN, 

0.  Professor  an  der  Universität  Erlangen.    4.  Auflage.     1910.    XVI,    779  Seiten   Lex.  8°. 

Geheftet  M  15.—,  in  Halbfranzband  M  17.50 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.   IL  Band,  2.  Abteilung] 

„Was  zu  der  Bezeichnung  der  Auflage  nicht  hinzugefügt  ist,  »vermehrt  und  verbessert',  war 
bei  diesem  Buch,  wenn  bei  irgendeinem  am  Platz.  Die  Art,  wie  Stolz  und  Schmalz  hier 
eine  Lebensarbeit  mit  Berücksichtigung  aller  ihnen  zugänglichen  inzwischen  erschienenen 
Literatur  weitergeführt  haben,  kann  nicht  genug  gerühmt  werden."  Das  humanistisdie 
Gymnasium.  —  „Was  seither  die  Verfasser  auf  dem  ihnen  im  Handbuch  zugewiesenen  Ge- 
biete gearbeitet  haben,  um  ihrerseits  dasselbe  auf  der  Höhe  der  Forschung  zu  erhalten, 
kommt  äußerlich  in  einer  Erweiterung  der  vierten  Auflage  um  12  Druckbogen  zum  Aus- 
druck, entspricht  aber  auch  inhaltlich  selbst  hochgespannten  Forderungen  in  einer  Weise, 
die  jedem  billig  Denkenden  das  Geständnis  abnötigt,  daß  in  gewissenhaftere  Hände  die 
Bearbeitung  der  im  vorliegenden  Bande  behandehen  Disziplinen  nicht  hätte  gelegt  werden 
können."  Zeitsdirift  für  die  österreidiisdien  Gymnasien. 

C.  H.  ßeck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


Geschichte  der  griechischen  Litteratur 

Von  WILHELM  VON  CHRIST 

In  Verbindung  mit  Dr.  OTTO  STÄHLIN,  ord.  Professor  an  der  Universität  Würzburg, 

neu  bearbeitet  von 
Dr.  WILHELM  SCHMID,  ord.  Professor  an  der  Universität  Tübingen 

I.Teil:  Die  klassische  Periode  der  griechischen  Litteratur,  6.  Auflage.    1912.    XIV, 

771  Seiten  Lex.  8°.     Geheftet  M  13.50,  in  Halbfranzband  M  15.80 
2.  Teil,  erste   Hälfte:    Die  nachklassische  Periode  der  griechischen  Litteratur  von 

320  V.   Chr.    bis    100  n.  Chr.     S.Auflage.     1911.    VIII,    506   Seiten   Lex. 8». 

Geheftet  M  9.—,  in  Halbfranzband  M  10.80 
2.  Teil,  zweite  Hälfte:  Die  nachklassische  Periode  der  griechischen  Litteratur  von 

100  bis  527  n.  Chr.   (nebst  Register   über   das  ganze  Werk)  wird  im  Herbst  1913 

das  Werk  in  der  Neubearbeitung  zum  Abschluß  bringen. 

[Handbuch  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.     VII.  Band] 

Geschichte  der  römischen  Litteratur 

bis  zum  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian 
Von  MARTIN  VON  SCHANZ 

1.  Teil:  Die  römische  Litteratur  in  der  Zeit  der  Republik.  Erste  Hälfte:  Von  den 
Anfängen  der  Litteratur  bis  zum  Ausgang  des  Bundesgenossenkrieges.    Mit 

Register.  3.,  gänzlich  umgearbeitete  und  stark  vermehrte  Auflage.  1907.  XII,  362  Seiten 
Lex.8^  Geheftet  M  7.—,  in  Halbfranzband  M  8.80.  —  Zweite  Hälfte:  Vom  Ausgang  des 
Bundesgenossenkrieges  bis  zum  Ende  der  Republik.  Mit  Register.  3.,  ganz  um- 
gearbeitete und  stark  vermehrte  Auflage.  1909.  XII,  531  Seiten  Lex. 8".  Geheftet  MIO.-, 
in  Halbfranzband  M  12.— 

2.  Teil :  Die  römische  Litteratur  in  der  Zeit  der  Monarchie  bis  auf  Hadrian.  Erste 
Hälfte:  Die  augustische  Zeit.  Mit  Register.  3.,  ganz  umgearbeitete  und  stark  ver- 
mehrte Auflage.  1911.  X,  604  Seiten  Lex.8o.  Geheftet  M  10.—,  in  Halbfranzband 
M  12.— .  —  Zweite  Hälfte:  Vom  Tode  des  Augustus  bis  zur  Regierung  Hadrians. 
3.,  ganz  umgearbeitete  und  stark  vermehrte  Auflage.  1913.  XII,  601  Seiten  Lex.  8". 
Geheftet  M  10.—,  in  Halbfranzband  M  12.— 

3.  Teil:  Die  römische  Litteratur  von  Hadrian  bis  auf  Constantin  (324  n.  Chr.). 
Mit  Register.  2.  Auflage.  1905.  XVI,  512  Seiten  Lex.S».  Geheftet  M  9.—  in  Halb- 
franzband M  10.80 

4.  Teil,  erste  Hälfte:  Die  Litteratur  des  4.  Jahrhunderts.  2.  Auflage  im  Druck.  (Die 
zweite,  das  ganze  Werk  abschließende  Hälfte  des  4.  Teils  erscheint  baldmöglichst.) 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    VIII.  Band] 

Geschichte  der  lateinischen  Literatur  des  Mittelalters 

Von  MAX  MANITIUS 

Erster  Teil:  Von  Justinian  bis  zur  Mitte  des  zehnten  Jahrhunderts 

1911,  XIII,  766  Seiten  Lex.8o  Geheftet  M  15.—,  in  Halbfranzband  M  17.50 

]Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    IX.  Band.  2.  Abteilung.  1.  Teil] 

C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


Kleine  Schriften  von  Adolf  Furtwängler 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  CURTIUS  und  Dr.  JOHANNES  SIEVEKING 
Erster  Band.    VIII,  516  Seiten  gr.S".    Mit  46  Textillustrationen  und  20  Tafeln 
Geheftet  M  20.—  In  Halbleder  gebunden  M  23.50 

Inhalts verzeiclmis:  Eros  in  der  Vasenmalerei  (1874)  —  Der  Dornauszieher  und  der  Knabe  mit  der 
Gans  (1876)  —  Intomo  a  due  tipi  d'Amore  (1877)  —  Cista  Prenestina  e  Teca  di  specchio  con  rappresen- 
tazioni  bacchiche  (1877)  —  Büste  Pans  in  Teiracotta  (1878)  —  Der  Satyr  aus  Pergamon  (1880)  —  Arianna 
dormente  e  Bacco  sopra  cratere  etrusco  (1878)  —  Aus  der  Umgebung  Olympias  (1880)  —  Eine  Ausgabe 
der  Funde  von  Olympia  in  einem  Bande  (1882)  —  Zum  Batliron  des  Anatliems  des  Praxiteles  (1879)  — 
Inschriften  aus  Olympia  (1879)  —  Von  der  Reise:  Olympia  (1888) —  Zum  Ostgiebel  von  Olympia,  mit 
Anhang  (1891)  —  Zum  Ostgiebel  des  Zeustempels  in  Olympia  (1892)  —  Der  Ostgiebel  des  olympischen 
Zeustempels  (1903)  —  Zu  den  olympischen  Skulpturen  (1893)  —  Bronze  aus  Olympia  (1879)  —  Die 
Bronzefunde  aus  Olympia  und  deren  kunstgeschichtliche  Bedeutung  (1879)  —  Hektors  Lösung  (188-1)  — 
Bronzi  arcaici  provenienti  dalla  Grecia  (1880)  —  Das  Alter  des  Heraion  und  das  Alter  des  Heilig- 
tums von  Olympia  (1906)  —  Archaischer  Goldschmuck  (1884)  —  Der  Goldfund  von  Vettersfelde  (1883). 

Verzeichnis  der  Tafeln:!.  Cista  Prenestina.  2.  Due  testine  di  bronzo.  3.  Teca  di  specchio.  4.  Bronze- 
statuette aus  Pergamon  in  Berlin.  5.  Marmortorso  in  Berlin.  6.  Sechs  Satyrdarstellungen.  7.  Cratere 
trovato  presso  Filacciano.  8.  Cratere  rappresentante  Bacco  ed*  Arianna.  9.  Due  vasi  rappresentanti 
Satiri  e  Baccanti.  Pansbüste  aus  Athen.  10.  Bronze  aus  Olympia.  11.  Fragment  eines  Sarkophags  in 
Berlin.  Kopf  aus  dem  olympischen  Westgiebel.  12.  Kopf  von  Brauron  in  Attika.  13.  Fibula  e  diadema 
trovati  presso  Tebe.  14.  Frammenti  di  bronzo  trovati  ad  Atene  e  nella  Beozia.  15.  Archaischer  Gold- 
schmuck aus  Korinth.  16.  Archaischer  Goldschmuck  aus  Athen,  Kameiros,  Melos  und  Delos.  17.  Ar- 
chaischer Goldschmuck  aus  Athen  und  Etrurien.   18.  19.  20.  Goldfund  von  Vettersfelde. 

Zweiter  Band.    IV,  532  Seiten  gr.S«.    Mit  158  Textillustrationen  und  30  Tafeln 
Geheftet  M  24. — .    Soeben  neu  erschienen!    In  Halbleder  gebunden  M  28. — 

Inhaltsverzeichnis:  Plinius  und  seine  Quellen  über  die  bildenden  Künste  (1877/78)  —  Zu  Plinius 
Katuralis  Historia  (1876)  —  Weiße  attische  Lekythos  (1880)  —  Notizen  aus  England:  Vasen  (1881)  — 
Zwei  Tongefäße  aus  Athen  (1881)  —  Schüssel  %'on  Aegina  (1882)  —  Kentaurenkampf  und  Löwenjagd 
auf  zwei  archaischen  Lekythen  (1883)  —  Griechische  Vasen  des  sog.  geometrischen  Stils  (1885)  —  My- 
kenische  Vase  in  Marseille  (1893)  —  Charon,  eine  altattische  Malerei  (1905)  —  Ein  Wirtshaus  auf  einem 
italischen  Vasenbilde  (1905)  —  Prometheus  (1885)  —  Nebukadnezar  (1885)  —  Phrygillos  (1885)  —  Eine 
Eros-  und  Psyche-Gemme  (1888)  —  Studien  über  die  Gemmen  mit  Künstlerinschriften  (1888,89)  — 
Gemme  des  Künstlers  Skopas  (1893)  —  Der  Augustus-Kameo  des  Aachener  Lotharkreuzes  (1906)  — 
Über  ein  auf  Cypern  gefundenes  Bronzegerät  (1899)  —  Bronzewagen  von  Monteleone  (1905)  —  Bronze- 
reliefs aus  Perugia  (1905)  —  Über  einige  Bronzestatuetten  vom  Rhein  und  von  der  Rhone  (1891)  — 
Römische  Bronzen  aus  Deutschland  (1898)  —  Römisch-ägj'-ptische  Bronzen  (1901)  —  Apis  und  Hermes- 
Thoth  (1902)  —  Noch  einmal  zu  Hermes-Thoth  und  Apis  (1906)  —  Die  Bronzeeimer  von  Mehrum  (1891)  — 
Zu  den  Köpfen  der  griechischen  Kolüenbecken  (1891)  —  Zwei  griechische  Terrakotten  (1907)  —  Neue 
Denkmäler  antiker  Kunst  I.  IL  in.  (1897.  1900.  1905)  —  Orpheus,  attische  Vase  aus  Gela  (1890). 

Verzeichnis  der  Tafeln:  21.  22.  Schüssel  aus  Aegina.  23.  Salbgefäß  in  Berlin.  24.  Vasen  des  geo- 
metrischen Stils  in  Kopenhagen.  25.  26.  27.  28.  Gemmen  mit  Künstlerinschriften.  29.  Der  Augustus- 
Kameo  des  Aachener  Lotharkreuzes.  30.  31.  32.  Bronzewagen  von  Monteleone  New  York.  33.  34.  Bronze- 
relief aus  Perugia  in  München.  35.  Bronze  der  Sammlung  Forst  in  Köln.  36.  Merkurstatuetten  in 
Köln  und  Berlin,  Erosstatuette  in  Bonn.  37.  Bronzestatuette  in  Regensburg.  38.  Bronzestatuette  eines 
Stieres.  39.  Bronzestier  im  Museum  Wallraf-Richartz  Köln.  Bronzestier  im  Provinzialmuseum  Bonn. 
40.  Terrakottastatuette  des  Hermes.  41.  Doppelherme  von  Marmor  aus  Cypern.  42.  43.  Die  Bronzeeimer 
von  Mehrum.  44.  Bronzestatuette  aus  Olympia.  Bronzekopf  aus  Sparta.  45.  Bronzestatuette  in  Boston. 
46.  Zwei  Bronzestatuetten  im  British  Museum.  47.  Zwei  Terrakottaköpfe  aus  Tarent.  48.  Altjonischer 
Terrakottafries.    Kalksteinkopf  von  Cypern.    49.  Bronzekopf  aus  Rom.    50.  Orpheus,  Vase  aus   Gela. 

C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


PA    Birt,  Theodor 

39       Kritik  land  Hermeneutik 

B5 


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