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Full text of "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe : das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst"

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Presented  to  the 

LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

from 

the  estate  of 


JULIE  LANDMANN 


I 


KUNSTGESCHICHTLICHE 
GRUNDBEGRIFFE 


Druck  der  Graph.  Kunstanstalten   F.  Bruckmann  AG  ,   München 


Venedig,  Pal.  Labia  (G.  B.Tiepolo).    Zu  Kap.  i  und  2 


HEINRICH  WÖLFFLIN 


KU  N  STGESCH I CHTLICH  E 
GRUNDBEGRIFFE 


DAS  PROBLEM  DER 

STILENTWICKLUNG  IN  DER 

NEUEREN  KUNST 


ZWEITE  AUFLAGE 


By 


HUGO  BRUCKMANN,  VERLAG  •  MÜNCHEN  1917 


Alle  Rechte  vorbehalten. 
Copyright  1915  by  F.  Bruckmann  A.-G..  München 

(Ohne   diesen  Vermerk  ist   geistiges  Eigentum    in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  vogelfrei) 


Vorwort 


T^Vgentlich  hätte  das  Buch  anders  werden  sollen.  Nachdem  ich  über  die 
Grundgedanken  bereits  vor  einigen  Jahren  einmal  vorläufig  mich  aus- 
gesprochen hatte  (Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
schaften 19 12,  XXXI),  war  es  das  Natürliche,  die  einzelnen  Begriffe  nun  in 
erschöpfender  Darstellung  geschichtlich  durchzuführen.  Es  muß  endlich 
eine  Kunstgeschichte  kommen,  wo  man  Schritt  für  Schritt  die  Entstehung 
des  modernen  Sehens  verfolgen  kann,  eine  Kunstgeschichte,  die  nicht  nur 
von  einzelnen  Künstlern  erzählt,  sondern  in  lückenloser  Reihe  zeigt,  wie 
aus  einem  linearen  Stil  ein  malerischer  geworden  ist,  aus  einem  tektonischen 
ein  atektonischer  usw.  Diese  Entwicklung  in  der  Figurenzeichnung,  Gewand- 
zeichnung, Baumzeichnung  nachzuweisen,  wäre  noch  nicht  die  ganze  Auf- 
gabe, es  müßte  die  veränderte  Bildgestaltung  im  allgemeinen,  der  Wechsel 
der  Bildvorstellung  überhaupt  dargelegt  werden  und  die  Schilderung  bliebe 
immer  einseitig  und  wackelig,  wenn  nicht  Architektur  und  Dekoration  zu 
den  darstellenden   Künsten  hinzugenommen  würden. 

An  solche  weitschichtige  Darlegungen  aber  ist  jetzt,  mitten  im  Kriege, 
nicht  zu  denken.  Kein  Verleger  kann  auf  die  kostspieligen  Bilderhefte  sich 
einlassen,  die  die  unentbehrliche  Grundlage  einer  solchen  „Kunstgeschichte 
ohne  Namen"  sein  würden.  Darum  habe  ich  meine  Meinung  auf  einen 
möglichst  kurzen  und  einfachen  Ausdruck  gebracht  und  unter  Verzicht  auf 
alles  Zwischenwerk  nur  die  Grundbegriffe  der  Entwicklung  festzulegen 
versucht.  Die  Abbildungen,  die  das  ganz  Bekannte  beiseite  lassen,  sind 
immerhin  zahlreich  genug,  um  auch  für  sich  allein  ein  Interesse  wecken 
und  über  die  Andeutungen  des  Textes  hinaus  den  Leser  zu  eigenen 
Betrachtungen  anregen  zu  können.  Über  die  grundsätzliche  Schwierigkeit, 
daß  Bilder,  die  mit  der  Farbe  als  einem  selbständigen  Kompositionswert 
rechnen,  nicht  mehr  zu  photographieren  sind,  hilft  freilich  nichts  hinweg. 
Man  kann  klassische  Gemälde  photographieren  und  sie  werden  dem  Original 
zwar  nicht  entsprechen,  aber  ihm  doch  auch  nicht  widersprechen,  bei 
Bildern  des  Barock  dagegen  bedeutet  die  Photographie  fast  immer  eine 
Entstellung  des  Tatbestandes. 

VII 


VORWORT 

Die  Untersuchungen  beschränken  sich  auf  das  Gebiet  der  neueren  Kunst. 
So  sehr  ich  überzeugt  bin,  daß  sich  die  gleichen  Begriffe  auch  für  andere 
Zeitalter  als  brauchbar  erweisen  würden,  ist  mir  die  Analyse  des  einen  Falles 
doch  die  Hauptsache  gewesen.  Wie  weit  man  sich  mit  der  Idee  einer 
Periodizität  der  Entwicklung  befreunden  kann,  braucht  für  die  Hauptsätze 
des  Buches  gar  nicht  in  Betracht  zu  kommen. 

Der  ganze  Verlauf  der  neueren  Kunst  ist  den  zwei  Begriffen  Klassik 
und  Barock  untergeordnet.  Selbstverständlich  hat  das  Wort  klassisch  dabei 
keinen  qualitativen  Sinn.  Die  nachklassische  Zeit  bis  zum  geschichtlich 
zurückblickenden  neuklassischen  Stil  als  Barock  zu  bezeichnen,  entspricht 
vielleicht  noch  nicht  einer  ganz  allgemeinen  Übung,  ist  aber  in  der  bis- 
herigen Entwicklung  der  Bedeutung  des  Wortes  —  eines  der  merkwürdigsten 
Beispiele  von  Bedeutungswandel!         durchaus  vorbereitet. 

Die  begriffliche  Forschung  in  der  Kunstwissenschaft  hat  mit  der  Tat- 
sachenforschung nicht  Schritt  gehalten.  Während  die  Kunstgeschichte 
nach  ihrer  stofflichen  Grundlage  durch  die  Arbeit  der  letzten  Generation 
fast  überall  und  von  Grund  aus  eine  neue  geworden  ist,  haben  die  Be- 
griffe, mit  denen  diese  Tatsachen  für  die  geschichtliche  Erkenntnis  ver- 
arbeitet werden  sollen,  sich  weniger  verändert.  Ich  spreche  nicht  von  der 
Durchschnittsliteratur,  wo  ein  Gemisch  von  Feststellungen  verschiedenster 
Art  sich  als  Stilanalyse  gibt,  auch  in  bedeutenden  Büchern  verbindet 
sich  manchmal  die  strenge  Behandlung  des  Tatsächlichen  mit  einer  ober- 
flächlichen oder  geradezu  fahrlässigen  Behandlung  des  Begrifflichen,  ohne 
daß  davon  viel  Aufhebens  gemacht  würde.  Und  doch  sind  wir  ja  darin 
alle  einig,  daß,  wenn  der  Denkmälerbestand  vollkommen  geordnet  ist,  die 
eigentliche  kunstgeschichtliche  Arbeit  erst  beginnt. 

Sieht  man  ab  von  Julius  Lange,  dessen  Gedanken  mehr  der  antiken 
Kunstgeschichte  zugute  gekommen  sind,  so  ist  Alois  Riegl  wohl  der  auf- 
fallendste Typus  eines  Gelehrten,  der  über  die  Gründe  der  Stilbildung 
methodisch  nachgedacht  und  in  der  Arbeit  am  vollkommen  beherrschten 
Material  die  begrifflichen  Werkzeuge  beständig  zu  verfeinern  versucht  hat. 
Besonders    die    Begriffe    „optisch"   und    ,,haptisch"    (taktisch)  Sehwerte 

und  Tastwerte  —  sind,  nachdem  schon  Wickhoff  über  das  Malerische  aus 
starker  Anschauung  heraus  ein  paar  bedeutende  Seiten  geschrieben  hatte1), 

')  Wickhoff,  Die  Wiener  Genesis.  Jahrbuch  der  (Wiener)  kunsthistorischen  Samm- 
lungen, 1895.  Neugedruckt  in  den  Schriften  I   (1912)  unter  dem  Titel:  Römische  Kunst. 

VIII 


VORWORT 

von  ihm  wirkungsvoll  geprägt  worden.  Aber  auch  die  nach  andern 
Seiten  gerichtete  Gedankenarbeit  hat  sich  als  fruchtbar  erwiesen1).  Zu- 
sammenfassend hat  Schmarsow  in  einem  Buch,  das  den  Übergang  der 
Kunst  von  der  Antike  ins  Mittelalter  zum  Hintergrund  hat,  den  bisherigen 
Gewinn  kritisch  erörtert  und  zum  System  gefügt^).  Es  ergäbe  ein  Buch 
für  sich,  mit  diesen  Forschern  mich  auseinanderzusetzen.  Was  ich  hier 
bringe,  enthält  gar  nichts  Polemisches.  Ebensowenig  habe  ich  geglaubt, 
in  allen  Fällen  die  Übereinstimmung  mit  fremden  Ansichten  feststellen 
zu  sollen.  Ohne  der  Abhängigkeit  von  bestimmten  Schriften  mir  bewußt 
zu  sein  und  immer  mehr  das  Gegenteilige  der  Meinung  in  der  vorhandenen 
Literatur  heraushörend,  muß  ich  freilich  wünschen,  daß  andere  darin  anders 
urteilen  und  den  Gleichklang  beträchtlicher  finden  als  ich.  Denn  schließlich 
sind  doch  gerade  die  Gedanken  die  überzeugenden,  die  in  der  allgemeinen 
Richtung  liegen.  Gerade  unter  den  jüngeren  Gelehrten  gibt  es  offenbar  eine 
ganze  Anzahl,  die  die  Dinge  in  ähnlicher  Art  sehen.  Aus  einem  nah  ver- 
wandten geistigen  Bedürfnis  heraus  ist  ein  Buch  wie  Frankls  Stufen- 
geschichte der  neueren  Architektur  entstanden  3). 

Nichts  bezeichnet  eindrücklicher  den  Gegensatz  zwischen  alter  Kunst  und 
der  Kunst  von  heute  als  die  Einheitlichkeit  der  Sehform  dort  und  die 
Vielfältigkeit  der  Sehformen  hier.  In  einer  Weise,  die  einzig  ist  in  der 
bisherigen  Kunstgeschichte,  scheint  das  Widersprechendste  sich  miteinander 
vertragen  zu  können.  Man  schwärmt  für  Reliefbühne  und  baut  gleich- 
zeitig mit  barocken  Tiefenwirkungen.  Die  plastisch- lineare  Kunst  hat 
ebenso  Geltung  wie  jene  malerische,  die  auf  den  bloßen  Augeneindruck 
hinarbeitet.   In  jedem  Kunstblatt  durchläuft  die  Zeichnung  fast  alle  Möglich- 


')  Riegl,  Die  spätrömische  Kunstindustrie  im  Zusammenhange  mit  der  Gesamtent- 
wicklung der  bildenden  Künste  bei  den  Mittelmeervölkern,  1901. 

— ,  Das  holländische  Gruppenporträt.  Jahrbuch  der  (Wiener)  kunsthistorischen  Samm- 
lungen, 1902. 

— ,  Entstehung  der  Barockkunst  in  Rom,  1908. 

— ,  Lorenzo  Bernini,  1912.  —  Daneben  wären  noch  die  ganz  frühen  Studien  zu  nennen, 
die  einzelne  Probleme  der  antiken  Ornamentgeschichte  erörtern:  Stilfragen,  1893.  — 
Auf  die  Einseitigkeiten  und  Gefahren,  die  in  der  Riegischen  Betrachtungsweise  liegen, 
hat  Heidrich  in  einer  bedeutsamen  Besprechung  von  Jantzen,  Das  niederländische 
Architekturbild  1910,  hingewiesen  (Zeitschrift  für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissen- 
schaft VIII.  117  ff.). 

2)  Schmarsow,  Grundbegriffe  der  Kunstgeschichte,  1905. 

3)  Frankl,  Entwicklungsphasen  der  neueren  Architektur.  1914- 

IX 


VORWORT 

keiten.  Was  bedeuten  daneben  einzelne  auseinandergehende  Richtungen 
der  Vergangenheit!  Nur  ein  im  Kern  historisches  Zeitalter  hat  diese  Weit- 
herzigkeit großziehen  können.  Aber  die  Einbuße  an  Kraft  gegenüber  der 
einseitigen  Stärke  vergangener  Epochen  ist  unermeßlich.  Es  ist  eine  schöne 
Aufgabe  der  wissenschaftlichen  Kunstgeschichte,  wenigstens  den  Begriff 
eines  derartig  einheitlichen  Sehens  lebendig  zu  erhalten,  das  verwirrende 
Durcheinander  zu  überwinden  und  das  Auge  in  ein  festes  und  klares  Ver- 
hältnis zur  Sichtbarkeit  zu  bringen. 

In  dieser  Richtung  liegt  das  Ziel  des  vorliegenden  Buches.  Es  befaßt 
sich  mit  der  inneren  Geschichte,  sozusagen  mit  der  Naturgeschichte  der 
Kunst,  nicht  mit  den  Problemen  der  Künstlergeschichte.  (Freilich  könnte 
es  sein,  daß  man  beim  Studium  der  Einzelentwicklung  auf  dieselben  Gesetz- 
lichkeiten stieße  wie  bei  der  Gesamtentwicklung.)  Daß  nicht  alle  kunstge- 
schichtlichen Begriffe  zur  Sprache  kommen,  ist  schon  im  Titel  ausgedrückt. 
Das  Buch  gehört  aber  überhaupt  nicht  zu  den  abschließenden,  sondern  zu 
den  tastenden  und  eröffnenden,  die  möglichst  bald  durch  gründlichere 
Einzelstudien  überholt  werden  wollen. 

München,   im   Herbst    1915 


VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 

Gegen  Erwarten  ist  eine  starke  Auflage  rasch  vergriffen  gewesen.  Der 
Neudruck  gibt  den  Text  fast  unverändert,  nur  die  Bildbelege  sind  etwas 
vermehrt  worden.  Um  dem  Stoff  im  Grundsätzlichen  neue  Seiten  abge- 
winnen zu  können,  dazu  fehlt  dem  Verfasser  einstweilen  noch  der  nötige 
Abstand  und  so  wird  auch  eine  zusammenhängende  kritische  Auseinander- 
setzung mit  dem,  was  von  anderen  gebracht  worden  ist,  besser  auf  einen 
späteren  Zeitpunkt  verschoben  werden.  Es  sei  hier  nur  noch  einmal  ge- 
sagt, daß  in  der  Aufstellung  der  Begriffe  als  solcher  der  Schwerpunkt  der 
Arbeit  liegt  und  daß  die  Frage,  wieweit  diese  Begriffe  über  den  einen 
historischen  Fall  hinaus  Gültigkeit  behalten,  den  wesentlichen  Inhalt  des 
Buches  nicht  berührt.  Am  meisten  hat  mich  gefreut,  daß  auch  in  der 
Werkstatt  der  schaffenden  Kunst  die  klärende  Wirkung  solcher  Betrach- 
tungen anerkannt  worden  ist. 

München,   Sommer  1917.  H.W. 


Inhalts-Verzeichnis 


Die  Sternchen  (*)  hinter  den  im  Text  erwähnten  Künstlernamen  oder  Kunstwerken 
verweisen  auf  Abbildungen  im  Buche. 

Ein  alphabetisch  geordnetes  Verzeichnis  aller  Abbildungen  befindet  sich  auf  Seite  259. 

Vorwort      VII 

Einleitung 1 

1.  Das  Lineare  und  das  Malerische 20 

Allgemeines       20 

Zeichnung 37 

Malerei      45 

Plastik 58 

Architektur 68 

2.  Fläche  und  Tiefe 80 

Malerei       80 

Plastik 113 

Architektur 123 

3.  Geschlossene  Form  und  offene  Form 133 

Malerei      133 

Plastik 158 

Architektur 159 

4.  Vielheit  und  Einheit 167 

Malerei      167 

Architektur 198 

5.  Klarheit  und  Unklarheit 210 

Malerei      210 

Architektur 237 

Abschluß 243 

Abbildungsverzeichnis 258 


XI 


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Jan  van  Goyen 


I. 

Ludwig   Richter   erzählt   in   seinen   Lebenserinnerungen,    wie   er   in   Tivoli    Die  doppel 
J  einmal    als    junger    Mensch,    zusammen    mit    drei    Kameraden,    einen        urze 
J      °  Stils 

Ausschnitt  der  Landschaft  zu  malen  unternahm,  er  und  die  andern  fest  ent- 
schlossen, von  der  Natur  dabei  nicht  um  Haaresbreite  abzuweichen.  Und 
obwohl  nun  das  Vorbild  das  gleiche  gewesen  war  und  jeder  mit  gutem  Ta- 
lent an  das  sich  gehalten  hatte,  was  seine  Augen  sahen,  kamen  doch  vier 
ganz  verschiedene  Bilder  heraus,  so  verschieden  unter  sich  wie  eben  die 
Persönlichkeiten  der  vier  Maler.  Woraus  dann  der  Berichterstatter  den 
Schluß  zog,  daß  es  ein  objektives  Sehen  nicht  gäbe,  daß  Form  und  Farbe  je 
nach  dem  Temperament  immer  verschieden  aufgefaßt  werden  würden. 

Für  den  Kunsthistoriker  hat  diese  Beobachtung  nichts  Überraschendes. 
Man  rechnet  längst  damit,  daß  jeder  Maler  „mit  seinem  Blute"  male.  Alles 
Unterscheiden  der  einzelnen  Meister  und  ihrer  „Hand"  beruht  im  letzten 
Grunde  darauf,  daß  man  solche  Typen  individueller  Formgebung  anerkennt. 
Bei  gleicher  Orientierung  des  Geschmackes  (uns  würden  jene  vier  Tivoli- 
landschaften zunächst  wahrscheinlich  ziemlich  gleich,  nämlich  nazarenisch 
vorkommen)  wird  die  Linie  hier  mehr  eckigen,  dort  mehr  rundlichen  Cha- 
rakter haben,  hier  mehr  stockend  und  langsam,  dort  mehr  strömend  und 
drängend  in  der  Bewegung  empfunden  sein.    Und  wie  die  Proportionen  bald 


i  H.  W..  G.  2.  A. 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

mehr  ins  Schlanke,  bald  mehr  ins 
Breite  fallen,  so  stellt  sich  die 
körperliche  Modellierung  dem 
einen  vielleicht  voll  und  saftig  dar, 
während  dieselben  Vorsprünge 
und  Eintiefungen  von  andern 
zurückhaltender,  mit  viel  mehr 
Knappheit  gesehen  werden.  Und 
so  ist  es  mit  dem  Licht  und  mit 
der  Farbe.  Die  redlichste  Absicht, 
genau  zu  beobachten,  kann  nicht 
verhindern,  daß  eine  Farbe  das 
eine  Mal  mehr  nach  der  warmen 
Seite  hin,  das  andere  Mal  mehr 
nach  der  kalten  aufgefaßt  wird, 
daß  ein  Schatten  bald  weicher, 
bald  härter,  ein  Lichtgang  bald 
schleichend,  bald  mehr  lebhaft 
und  springend  erscheint. 

Botticelli  (Ausschnitt)  Läßt  man die  Verpflichtung  auf 

ein  gemeinsames  Vorbild  der  Natur  fallen,  so  treten  diese  individuel- 
len Stile  natürlich  noch  deutlicher  auseinander.  Botticelli  und  Lorenzo 
di  Credi  sind  zeit-  und  stammverwandte  Künstler,  beides  Florentiner 
des  späteren  Quattrocento,  aber  wenn  Botticelli*  einen  weiblichen  Kör- 
per zeichnet,  so  ist  es  nach  Gewächs  und  Formenauffassung  etwas,  das 
nur  ihm  eigentümlich  ist  und  was  von  jedem  Frauenakt  des  Lorenzo* 
sich  so  grundsätzlich  und  unverwechselbar  unterscheidet  wie  eine  Eiche 
von  einer  Linde.  In  Botticellis  ungestümer  Linienführung  gewinnt  jede 
Form  eine  eigentümliche  Verve  und  Aktivität  für  den  bedächtig  mo- 
dellierenden Lorenzo  erschöpft  sich  der  Anblick  wesentlich  im  Eindruck 
der  ruhenden  Erscheinung.  Nichts  lehrreicher  als  den  ähnlich  gebogenen 
Arm  hier  und  dort  zu  vergleichen.  Die  Schärfe  des  Ellenbogens,  der  zügige 
Strich  des  Unterarms  und  dann  wie  die  Finger  radiant  über  der  Brust  aus- 
einandergehen, jede  Linie  geladen  mit  Energie,  das  ist  Botticelli ;  Credi  wirkt 
lahmer  dagegen.  Sehr  überzeugend  modelliert,  das  heißt  im  Volumen  emp- 
funden, besitzt  seine  Form  doch  nicht  die  Stoßkraft  der  Botticellischen  Kon- 
tur.   Das    ist    ein   Temperamentsunterschied,    und    dieser  Unterschied    geht 


EINLEITUNG 

durch,  gleichgültig  ob  man  das  Ganze  ver- 
gleicht oder  die  Teile.  In  der  Zeichnung  eines 
bloßen  Nasenflügels  müßte  man  schon  das 
Wesentliche  des  Stilcharakters  erkennen. 

Bei  Credi  posiert  eine  bestimmte  Person, 
was  bei  Botticelli  nicht  der  Fall  ist;  trotzdem 
ist  es  nicht  schwer  zu  erkennen,  wie  die  Form- 
auffassung beiderseits  mit  einer  bestimmten 
Vorstellung  von  schöner  Gestalt  und  schöner 
Bewegung  zusammenhängt,  und  wenn  Botti- 
celli im  schlanken  Emporführen  der  Figur  sich 
ganz  seinem  Formideal  überläßt,  so  spürt  man 
doch  auch  bei  Credi,  daß  der  besondere  Fall 
von  Wirklichkeit  ihm  kein  Hindernis  gewesen 
ist,  in  Tritt  und  Formenmaß  seine  Natur 
zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Eine  ganz  besonders  reiche  Ausbeute  bietet 
dem  Formpsychologen  das  stilisierte  Gefält  in 
diesem  Zeitalter.  Mit  verhältnismäßig  wenigen 
Elementen  ist  hier  eine  ungeheure  Mannig- 
faltigkeit stark  differenzierten  individuellen 
Ausdrucks  erzeugt  worden.  Hunderte  von  Malern  haben  die  sitzende  Maria 
dargestellt  mit  dem  zwischen  den  Knien  sich  einsackenden  Gefält  und 
es  ist  jedesmal  eine  Form  gefunden  worden,  hinter  der  ein  ganzer  Mensch 
steckt.  Allein  auch  in  dem  malerischen  Stil  holländischer  Kabinettsbilder 
des  17.  Jahrhunderts,  nicht  nur  in  den  großen  Linien  italienischer  Renais- 
sancekunst, hat   die   Draperie  noch   die   gleiche  psychologische   Bedeutung. 

Terborch*  hat  bekanntlich  den  Atlas  besonders  gern  und  gut  gemalt.  Man 
meint,  der  vornehme  Stoff  könne  gar  nicht  anders  aussehen  als  wie  er  hier 
erscheint,  und  doch  ist  es  nur  die  Vornehmheit  des  Malers,  die  in  seinen 
Formen  zu  uns  spricht,  und  schon  Metsu*  hat  das  Phänomen  dieser  Falten- 
bildungen wesentlich  anders  gesehen :  das  Gewebe  ist  mehr  nach  Seite  des 
Schweren  empfunden,  des  Schwerfallenden  und  Schwerfaltenden,  der  Grat 
hat  weniger  Feinheit,  es  fehlt  der  einzelnen  Faltenkurve  die  Eleganz  und 
der  Faltenfolge  die  angenehme  Lässigkeit,  das  Brio  ist  entwichen.  Es  ist 
noch  immer  Atlas  und  von  einem  Meister  gemalt,  aber  neben  Terborch  ge- 
sehen, wirkt  der  Stoff  Metsus  beinahe  dumpf. 

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Lorenzo  di  Credi 


Terborch 


Und  nun  ist  das  in  unserm  Bild  nicht  etwa  bloß  der  Zufall  einer  schlechten 
Laune :  das  Schauspiel  wiederholt  sich,  und  so  sehr  ist  es  typisch,  daß  man  mit 
den  gleichen  Begriffen  fortfahren  kann,  wenn  man  zur  Analyse  von  Figur 
und  Figurenanordnung  weitergeht.  Der  entblößte  Arm  jener  musizierenden 
Dame  bei  Terborch  —  wie  fein  ist  er  empfunden  in  Gelenk  und  Bewegung, 
und  wie  viel  schwerer  wirkt  die  Form  bei  Metsu,  nicht  weil  sie  schlechter  ge- 
zeichnet wäre,  sondern  weil  sie  anders  gefühlt  ist.  Die  Gruppe  dort  ist  leicht 
gebaut  und  die  Figuren  behalten  viel  Luft,  Metsu  gibt  das  massiger  Zusam- 
mengedrängte. Eine  Häufung  wie  den  zusammengeschobenen  dicken  Tisch- 
teppich mit  dem  Schreibzeug  darauf  würde  man  bei  Terborch  kaum  finden. 

Und  so  kann  man  weitergehn.  Und  wenn  von  der  schwebenden  Leichtig- 
keit   der   malerischen  Tonstufen   bei  Terborch    in    unserm    Klischee    nichts 


Metsu 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

mehr  zu  spüren  ist,  so  spricht  der  Formenrhythmus  des  Ganzen  doch  noch 
eine  vernehmliche  Sprache  und  es  wird  keiner  besonderen  Überredung  be- 
dürfen, um  in  der  Art,  wie  die  Teile  sich  gegenseitig  in  Spannung  halten,  eine 
Kunst  anzuerkennen,  die  der  der  Faltenzeichnung  innerlich  verwandt  ist. 

Das  Problem  bleibt  identisch  bei  den  Bäumen  der  Landschafter:  ein  Ast, 
das  Fragment  eines  Astes  —  und  man  kann  sagen,  ob  Hobbema  oder  Ruys- 
dael  der  Autor  ist,  nicht  nach  einzelnen  äußerlichen  Merkmalen  der  „Manier", 
sondern  weil  alles  Wesentliche  der  Formempfindung  schon  im  kleinsten 
Bruchteil  vorhanden  ist.  Die  Bäume  Hobbemas*,  auch  wo  er  dieselbe  Spezies 
malt  wieRuysdael*,  werden  immer  leichter  erscheinen,  sie  sind  gelockerter  im 
Umriß  und  stehen  lichter  im  Raum.  Ruysdaels  ernstere  Art  belastet  den  Gang 
der  Linie  mit  einer  eigentümlich  wuchtigen  Schwere,  er  liebt  das  langsame 
Steigen  und  Fallen  der  Silhouette,  er  hält  die  Laubmassen  kompakter  zu- 
sammen und  es  ist  überaus  charakteristisch,  wie  er  die  einzelnen  Formen 
nicht  voneinander  loskommen  läßt  in  seinen  Bildern,  sondern  ein  zähes  In- 
einander gibt.  Ein  Stamm  silhouettiert  sich  selten  frei  gegen  den  Himmel. 
Viel  schwer  wirkende  Horizonthinterschneidung  und  dumpfe  Berührung  von 
Baum  und  Bergumriß.  Wo  Hobbema  umgekehrt  die  anmutig  springende 
Linie  liebt,  die  aufgelichtete  Masse,  das  geteilte  Terrain,  die  lieblichen  Aus- 
schnitte und  Durchblicke:  jeder  Teil  wieder  ein  Bildchen  im  Bild. 

Feiner  und  feiner  werdend  muß  man  in  dieser  Art  den  Zusammenhang  des 
Einzelnen  und  des  Ganzen  bloßzulegen  versuchen,  um  zur  Bestimmung  indi- 
vidueller Stiltypen  zu  gelangen,  nicht  nur  in  der  zeichnerischen  Form,  auch 
in  der  Lichtführung  und  Farbe.  Man  wird  begreifen,  wie  eine  bestimmte 
Formauffassung  sich  notwendig  mit  einer  bestimmten  Farbigkeit  verbindet 
und  wird  allmählich  den  ganzen  Komplex  persönlicher  Stilmerkmale  als  Aus- 
druck eines  bestimmten  Temperamentes  verstehen  lernen.  Für  die  beschrei- 
bende Kunstgeschichte  ist  hier  noch  sehr  viel  zu  tun. 

Nun  zerfällt  aber  der  Verlauf  der  Kunstentwicklung  nicht  in  lauter  ein- 
zelne Punkte:  die  Individuen  ordnen  sich  zu  größern  Gruppen.  Botticelli 
und  Lorenzo  di  Credi,  verschieden  unter  sich,  sind  sich  doch  ähnlich  als 
Florentiner  gegenüber  jedem  Venezianer,  und  Hobbema  und  Ruysdael,  so 
sehr  sie  auseinandergehen,  werden  sofort  gleichartig,  sobald  man  ihnen,  den 
Holländern,  einen  Flamen  wie  Rubens  gegenüberstellt.  Das  heißt :  neben 
den  persönlichen  Stil  tritt  der  Stil  der  Schule,  des  Landes, 
der   Rasse. 

Lassen  wir  holländische  Art  durch  den  Gegensatz  flämischer  Kunst  deutlich 

6 


EINLEITUNG 

werden!  Die  flache  Wiesenlandschaft  bei  Antwerpen  bietet  an  sich  kein 
anderes  Bild  als  die  holländischen  Weidegründe,  denen  die  heimischen  Maler 
den  Ausdruck  des  ruhigsten  Ausgebreitetseins  gegeben  haben.  Wenn  aber 
Rubens'-'  diese  Motive  behandelt,  so  scheint  der  Gegenstand  ein  ganz  anderer 
zu  sein :  das  Erdreich  wirft  sich  in  schwungvollen  Wellen,  Baumstämme 
winden  sich  leidenschaftlich  empor  und  ihre  Laubkronen  sind  so  sehr  als  ge- 
schlossene Massen  behandelt,  daß  Ruysdael*  und  Hobbema*  jetzt  gleichmäßig 
als  äußerst  feine  Silhouettierer  daneben  erscheinen.  Holländische  Subtilität 
neben  flämischer  Massigkeit.  Verglichen  mit  der  Bewegungsenergie  der 
Rubensschen  Zeichnung  wirkt  alle  holländische  Form  still,  gleichgültig  ob  es 
sich  um  den  Anstieg  eines  Hügels  handelt  oder  um  die  Art,  wie  ein  Blumen- 
blatt sich  wölbt.  Kein  holländischer  Baumstamm  hat  das  Pathos  der  flämi- 
schen Bewegung  und  selbst  die  mächtigen  Eichen  Ruysdaels  erscheinen 
noch  feingliedrig  neben  den  Bäumen  des  Rubens.  Rubens  geht  mit  dem 
Horizont  hoch  hinauf  und  macht  das  Bild  schwer,  indem  er  es  mit  viel  Ma- 
terie belastet,  bei  den  Holländern  ist  das  Verhältnis  von  Himmel  und  Erde 
grundsätzlich  anders:  der  Horizont  liegt  tief  und  es  kann  vorkommen,  daß 
vier  Fünftel  des  Bildes  der  Luft  überlassen  sind. 

Das  sind  Beobachtungen,  die  natürlich  erst  Wert  gewinnen,  wenn  sie  sich 
verallgemeinern  lassen.  Man  muß  die  Feinheit  holländischer  Landschaften 
zusammenhalten  mit  verwandten  Phänomenen  und  bis  in  das  Gebiet  der 
Tektonik  hinein  verfolgen.  Die  Schichtung  einer  Backsteinmauer  oder  das 
Flechtwerk  eines  Korbes  ist  in  Holland  ebenso  eigentümlich  empfunden  wor- 
den wie  das  Laubwerk  der  Bäume.  Es  ist  charakteristisch,  daß  nicht  nur  ein 
Feinmaler  wie  Dov,  sondern  auch  ein  Erzähler  wie  Jan  Steen  mitten  in  der 
ausgelassensten  Szene  für  die  reinliche  Zeichnung  eines  Korbgeflechtes  Zeit 
hat.  Und  das  Liniennetz  der  weiß  verstrichenen  Fugen  eines  Backstein- 
baues, die  Konfiguration  sauber  gesetzter  Pflastersteine,  alle  diese  kleintei- 
ligen  Muster  sind  von  den  Architekturmalern  recht  eigentlich  genossen  wor- 
den. Von  der  wirklichen  Architektur  Hollands  aber  wird  man  sagen  können, 
daß  der  Stein  eine  besondere  spezifische  Leichtigkeit  gewonnen  zu  haben 
scheine.  Ein  typischer  Bau  wie  das  Amsterdamer  Rathaus  vermeidet  alles, 
was  im  Sinne  flämischer  Phantasie  die  Erscheinung  der  großen  Steinmasse 
ins  Gewichtige  drängen  könnte. 

Man  stößt  hier  überall  auf  Grundlagen  nationalen  Empfindens,  wo  der 
Formgeschmack  sich  unmittelbar  berührt  mit  geistig-sittlichen  Momenten, 
und  die  Kunstgeschichte  hat  noch  dankbare  Aufgaben  vor  sich,  sobald  sie 


Hobbema 


diese  Frage  nationaler  Formpsychologie  systematisch  aufnehmen  will.  Alles 
hängt  zusammen.  Die  stillen  Situationen  der  holländischen  Figurenbilder 
bilden  die  Grundlage  auch  für  Erscheinungen  der  architektonischen  Welt. 
Zieht  man  aber  Rembrandt  heran  und  seine  Empfindung  für  das  Leben 
des  Lichtes,  das,  jeder  festen  Gestalt  sich  entziehend,  geheimnisvoll  in 
unbegrenzten  Räumen  sich  regt,  so  möchte  man  sich  leicht  verleiten  lassen, 
die  Betrachtung  zu  einer  Analyse  germanischer  Art  im  Gegensatz  zu  roma- 
nischer überhaupt  zu  erweitern. 

Allein  schon  gabelt  sich  das  Problem.  Wenn  im  17.  Jahrhundert  hollän- 
disches und  flämisches  Wesen  sehr  deutlich  sich  voneinander  scheidet,  so 
kann  man  doch  nicht  ohne  weiteres  eine  einzelne  Kunstperiode  zu  allgemeinen 
Urteilen  über  den  nationalen  Typus  verwerten.  Verschiedne  Zeiten  bringen 
verschiedne  Kunst  hervor,  Zeitcharakter  kreuzt  sich  mit  Volkscharakter.  Es 
muß  erst  festgestellt  werden,  wieviel  ein  Stil  an  durchgehenden  Zügen  ent- 
hält, bevor  man  ihn  als  nationalen  Stil  im  besonderen  Sinne  ansprechen  kann. 
So  beherrschend  Rubens  innerhalb  seiner  Landschaft  erscheint  und  so  viele 
Kräfte  nach  seinem  Pole  gerichtet  sind,  man  kann  doch  nicht  zugeben, 
daß  er  in  gleichem  Maße  Ausdruck  „bleibenden"  Volkscharakters  gewesen 
sei,  wie  man  das  von  der  zeitgenössischen  holländischen  Kunst  sagen  kann. 
Der    Zeiteinschlag   spricht    bei    ihm   stärker   mit.     Eine   besondere    Kultur- 

8 


Rubens 


Strömung,  die  Empfindung  des  romanischen  Barock  bedingt  stark  seinen 
Stil  und  so  empfangen  wir  von  ihm  mehr  als  von  den  „zeitlosen"  Holländern 
die  Aufforderung,  uns  von  dem,  was  man  als  Z  e  i  t  s  t  i  1  bezeichnen  muß, 
eine  Vorstellung  zu  machen. 

Man  gewinnt  diese  Vorstellung  am  besten  in  Italien,  weil  hier  die  Ent- 
wicklung unabhängig  von  außen  sich  vollzogen  hat  und  das  Durchgehende 
des  italienischen  Charakters  in  allem  Wechsel  sehr  wohl  erkennbar  bleibt. 
Der  Stilwandel  von  der  Renaissance  zum  Barock  ist  ein  rechtes  Schulbei- 
spiel, wie  ein  neuer  Zeitgeist  sich  eine  neue  Form  erzwingt. 

Hier  kommen  wir  auf  vielbegangene  Wege.  Nichts  liegt  der  Kunst- 
historie näher  als  Stil-  mit  Kulturepochen  parallel  zu  setzen.  Die  Säulen 
und  Bogen  der  Hochrenaissance  reden  so  vernehmlich  von  dem  Geist  der 
Zeit  wie  die  Figuren  Raffaels  und  eine  Barockarchitektur  gibt  die  Vorstel- 
lung von  dem  Wandel  der  Ideale  nicht  minder  deutlich,  als  wenn  man  die 
breit  ausladende  Gebärde  Guido  Renis  mit  der  edlen  Getragenheit  und  Größe 
der  Sixtinischen  Madonna  vergleicht. 

Es  sei  erlaubt,  diesmal  ausschließlich  auf  architektonischem  Boden  zu 
bleiben.  Der  Zentralbegriff  der  italienischen  Renaissance  ist  der  Begriff  der 
vollkommenen  Proportion.  Wie  in  der  Figur,  so  hat  diese  Zeit  im  Bauwerk 
versucht,  das  Bild  der  in  sich  ruhenden  Vollkommenheit  zu  gewinnen.    Jede 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Form  zu  abgeschlossenem  Dasein  herausgebildet,  frei  in  den  Gelenken; 
lauter  selbständig  atmende  Teile.  Die  Säule,  der  Flächenausschnitt  an  der 
Wand,  das  Volumen  eines  einzelnen  Raumgliedes  wie  des  Raumganzen,  die 
Massen  des  Aufbaues  insgesamt  —  es  sind  lauter  Gestaltungen,  die  den 
Menschen  ein  in  sich  befriedigtes  Dasein  finden  lassen,  über  menschliches 
Maß  hinausgehend,  aber  der  Phantasie  noch  immer  zugänglich.  Mit  unend- 
lichem Wohlgefühl  empfindet  der  Sinn  diese  Kunst  als  Bild  eines  erhöhten 
freien  Daseins,  an  dem  ihm  teilzunehmen  vergönnt  ist. 

Der  Barock  bedient  sich  desselben  Formensystems,  aber  er  gibt  nicht  mehr 
das  Vollkommene  und  Vollendete,  sondern  das  Bewegte  und  Werdende, 
nicht  das  Begrenzte  und  Faßbare,  sondern  das  Unbegrenzte  und  Kolossale. 
Das  Ideal  der  schönen  Proportion  verschwindet,  das  Interesse  hängt  sich 
nicht  an  das  Sein,  sondern  an  das  Geschehen.  Die  Massen  kommen  in  Be- 
wegung, schwere,  dumpf-gegliederte  Massen.  Die  Architektur  hört  auf  —  was 
sie  in  der  Renaissance  im  höchsten  Grade  gewesen  ist  —  eine  Gelenkkunst 
zu  sein  und  die  einst  zum  Eindruck  höchster  Freiheit  getriebene  Durch- 
gliederung des  Baukörpers  weicht  einer  Zusammenballung  von  Teilen  ohne 
eigentliche  Selbständigkeit. 

Diese  Analyse  ist  gewiß  nicht  erschöpfend,  aber  sie  kann  genügen,  um  zu 
zeigen,  in  welcher  Weise  Stile  Zeitausdruck  sind.  Es  ist  deutlich  ein  neues 
Lebensideal,  das  aus  der  Kunst  des  italienischen  Barock  spricht  und  wenn 
wir  die  Architektur  vorangestellt  haben,  weil  sie  die  eindrücklichste  Ver- 
körperung dieses  Ideals  gibt,  so  sagen  die  zeitgenössischen  Maler  und  Bild- 
hauer in  ihrer  Sprache  doch  dasselbe  und  wer  die  psychischen  Grundlagen 
des  Stilwandels  auf  Begriffe  bringen  will,  wird  hier  wahrscheinlich  rascher 
das  entscheidende  Wort  erfahren  als  bei  den  Architekten.  Das  Verhältnis 
des  Individuums  zur  Welt  hat  sich  verändert,  ein  neues  Gefühlsreich  hat  sich 
aufgetan,  die  Seele  drängt  nach  Auflösung  in  der  Erhabenheit  des  Über- 
großen und  Unendlichen.  „Affekt  und  Bewegung  um  jeden  Preis",  so  gibt 
der  Cicerone  in  kürzester  Formel  die  Charakteristik  dieser  Kunst.  — 

Wir  haben  mit  der  Skizzierung  der  drei  Beispiele  von  individuellem  Stil, 
von  Volksstil  und  von  Zeitstil  die  Ziele  einer  Kunstgeschichte  illustriert,  die 
den  Stil  in  erster  Linie  als  Ausdruck  faßt,  als  Ausdruck  einer  Zeit-  und 
Volksstimmung  wie  als  Ausdruck  eines  persönlichen  Temperaments.  Es  ist 
offenbar,  daß  damit  die  künstlerische  Qualität  der  Hervorbringung  nicht  an- 
gerührt ist:  das  Temperament  macht  wohl  kein  Kunstwerk,  aber  es  ist  das, 
was  man  den  stofflichen  Teil  der  Stile  nennen  kann,  in  dem  weiten  Sinne, 


10 


EINLEITUNG 

daß  auch  das  besondere  Schönheitsideal  (des  Einzelnen  wie  einer  Gesamt- 
heit) darunter  befaßt  wird.  Die  kunsthistorischen  Arbeiten  dieser  Art  sind 
noch  weit  entfernt  von  dem  Grad  der  Vollendung,  den  sie  haben  könnten, 
aber  die  Aufgabe  ist  lockend  und  dankbar. 

Künstler  freilich  sind  für  historische  Stilfragen  nicht  leicht  zu  interessieren. 
Sie  nehmen  das  Werk  ausschließlich  von  Seiten  der  Qualität:  ist  es  gut?  ist 
es  in  sich  geschlossen?  ist  die  Natur  zu  einer  starken  und  klaren  Darstellung 
gekommen?  Alles  andere  ist  mehr  oder  weniger  gleichgültig.  Man  lese,  wie 
Hans  von  Marees  von  sich  berichtet,  daß  er  immer  mehr  lerne,  von  Schulen 
und  Persönlichkeiten  abzusehen,  um  nur  die  Lösung  der  künstlerischen  Auf- 
gabe im  Auge  zu  behalten,  die  im  letzten  Grunde  dieselbe  sei  für  Michel- 
angelo wie  für  Bartholomäus  van  der  Helst.  Kunsthistoriker,  die  umgekehrt 
von  der  Verschiedenheit  der  Erscheinungen  ausgehen,  haben  sich  den  Spott 
der  Künstler  immer  wieder  gefallen  lassen  müssen :  sie  machten  die  Neben- 
sache zur  Hauptsache,  sie  hielten  sich,  indem  sie  die  Kunst  eben  nur  als 
Ausdruck  verstehen  wollten,  gerade  an  die  nicht-künstlerischen  Seiten  im 
Menschen.  Man  könne  das  Temperament  eines  Künstlers  analysieren  und 
habe  damit  doch  nicht  erklärt,  wieso  ein  Kunstwerk  zustande  gekommen 
sei,  und  der  Nachweis  aller  Verschiedenheiten  von  Raffael  und  Rembrandt 
sei  doch  nur  eine  Umgehung  des  Hauptproblems,  denn  es  käme  nicht  darauf 
an  zu  zeigen,  worin  sich  die  beiden  unterschieden,  sondern  wie  beide  auf 
verschiedenem  Wege  das  gleiche  hervorbrachten,  nämlich  große  Kunst. 

Es  wird  hier  kaum  nötig  sein,  für  die  Kunsthistoriker  einzustehen  und  ihre 
Arbeit  vor  einem  zweifelnden  Publikum  zu  verteidigen.  So  natürlich  für  den 
Künstler  der  Standpunkt  ist,  das  allgemein  Gesetzliche  in  den  Vordergrund 
zu  rücken,  so  wenig  wird  man  dem  historischen  Betrachter  das  Interesse  an 
der  Verschiedenartigkeit  der  Form  verargen  dürfen,  unter  der  die  Kunst 
auftritt  und  es  bleibt  ein  unverächtliches  Problem,  die  Bedingungen  aufzu- 
decken, die  als  stofflicher  Einschlag  —  man  nenne  es  Temperament  oder 
Zeitgeist  oder  Rassencharakter  —  den  Stil  von  Individuen,  Epochen  und 
Völkern  formen. 

Allein  mit  einer  Analyse  auf  Qualität  und  auf  Ausdruck  hin  ist  der  Tat- 
bestand überhaupt  noch  nicht  erschöpft.  Es  kommt  ein  drittes  hinzu  — 
und  damit  sind  wir  zu  dem  springenden  Punkt  dieser  Untersuchung  ge- 
langt — :  die  Darstellungsart  als  solche.  Jeder  Künstler  findet  bestimmte 
,, optische"  Möglichkeiten  vor,  an  die  er  gebunden  ist.  Nicht  alles  ist  zu  allen 
Zeiten  möglich.   Das  Sehen  an  sich  hat  seine  Geschichte  und  die  Aufdeckung 

ii 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

dieser  „optischen  Schichten"  muß  als  die  elementarste  Aufgabe  der  Kunst- 
geschichte betrachtet  werden. 

Versuchen  wir  durch  Beispiele  uns  deutlich  zu  machen,  —  Es  gibt  kaum 
zwei  Künstler,  die,  obwohl  Zeitgenossen,  ihrem  Temperament  nach  weiter 
auseinanderstehen  als  der  italienische  Barockmeister  Bernini  und  der  hol- 
ländische Maler  Terborch.  Unvergleichbar  wie  die  Menschen,  sind  denn  auch 
ihre  Werke.  Vor  den  stürmischen  Figuren  Berninis  wird  niemand  an  die 
stillen  feinen  Bildchen  Terborchs  denken.  Und  doch :  wer  etwa  Zeichnungen 
der  beiden  Meister  zusammenhielte  und  das  Generelle  der  Mache  vergliche, 
müßte  zugeben,  daß  darin  eine  vollkommene  Verwandtschaft  vorliegt.  Es 
ist  beidemal  jene  Manier  eines  Sehens  in  Flecken  statt  in  Linien,  etwas,  was 
wir  malerisch  nennen  und  was  ein  unterscheidendes  Merkmal  des  17.  Jahr- 
hunderts gegenüber  dem  16.  Jahrhundert  ist.  Wir  stoßen  also  hier  auf  eine 
Art  von  Sehen,  an  der  die  heterogensten  Künstler  teilnehmen  können,  weil 
sie  zu  einem  bestimmten  Ausdruck  offenbar  nicht  verpflichtet.  Gewiß,  ein 
Künstler  wie  Bernini  hat  des  malerischen  Stils  bedurft,  um  das  zu  sagen, 
was  er  zu  sagen  hatte,  und  es  ist  absurd  zu  fragen,  wie  er  sich  im  Linienstil 
des  16.  Jahrhunderts  ausgedrückt  haben  würde.  Aber  offenbar  handelt  es  sich 
hier  um  wesentlich  andere  Begriffe,  als  wenn  man  etwa  von  dem  Schwung  ba- 
rocker Massenbehandlung  im  Gegensatz  zu  der  Ruhe  und  Gehaltenheit  der 
Hochrenaissance  spricht.  Größere  oder  geringere  Bewegtheit  sind  Aus- 
drucksmomente, die  mit  einheitlichem  Maßstab  gemessen  werden  können: 
malerisch  und  linear  aber  sind  wie  zwei  verschiedene  Sprachen,  in  denen  man 
alles  mögliche  sagen  kann,  wenn  auch  jede  nach  einer  gewissen  Seite  hin 
ihre  Stärke  haben  und  aus  einer  besonderen  Orientierung  zur  Sichtbarkeit 
hervorgegangen  sein  mag. 

Ein  anderes  Beispiel.  Man  kann  die  Linie  Raffaels  auf  Ausdruck  hin 
analysieren,  ihren  großen  edlen  Gang  beschreiben  gegenüber  der  kleineren 
Geschäftigkeit  des  quattrocentistischen  Konturs;  man  kann  in  dem  Linien- 
zug der  Venus  des  Giorgione  die  Nachbarschaft  der  Sixtinischen  Madonna 
empfinden  und,  auf  die  Plastik  übergreifend,  etwa  in  Sansovinos  jugend- 
lichem Bacchus  mit  der  hochgehobenen  Schale  die  neue,  langhinlaufende 
Linie  aufweisen,  und  niemand  wird  widersprechen,  wenn  man  in  dieser 
großen  Formgebung  den  Hauch  der  neuen  Empfindung  des  16.  Jahrhunderts 
verspürt:  es  ist  kein  äußerliches  Historizieren,  Form  und  Geist  in  dieser  Art 
zusammenzubinden.  Allein  das  Phänomen  hat  noch  eine  andere  Seite.  Wer 
die  große  Linie  erklärt,  hat  noch  nicht  die  Linie  an  sich  erklärt.    Es  ist  kei- 

12 


EINLEITUNG 

neswegs  selbstverständlich,  daß  Raffael  und  Giorgione  und  Sansovino  Aus- 
druck und  Schönheit  der  Form  in  der  Linie  suchten.  Wieder  aber  handelt 
es  sich  um  internationale  Zusammenhänge.  Die  gleiche  Epoche  ist  auch  für 
den  Norden  die  Epoche  der  Linie  und  zwei  Künstler,  die  gewiß  als  Persön- 
lichkeiten wenig  Verwandtschaft  haben,  Michelangelo  und  der  jüngere  Hans 
Holbein,  sind  sich  darin  gleich,  daß  sie  den  Typus  der  ganz  strengen  Linear- 
zeichnung vertreten.  Mit  andern  Worten:  es  läßt  sich  in  der  Stilgeschichte 
eine  untere  Schicht  von  Begriffen  aufdecken,  die  sich  auf  die  Darstellung 
als  solche  beziehen,  und  es  läßt  sich  eine  Entwicklungsgeschichte  des  abend- 
ländischen Sehens  geben,  für  die  die  Verschiedenheit  des  individuellen  und 
nationalen  Charakters  von  keiner  großen  Bedeutung  mehr  ist.  Diese  innere 
optische  Entwicklung  herauszuholen,  ist  freilich  nicht  ganz  leicht,  deswegen 
nicht,  weil  die  darstellerischen  Möglichkeiten  eines  Zeitalters  nie  in  abstrak- 
ter Reinheit  sich  zeigen,  sondern,  wie  natürlich,  immer  an  einen  gewissen 
Ausdrucksgehalt  gebunden  sind,  und  der  Betrachter  ist  dann  meistens  ge- 
neigt, im  Ausdruck  die  Erklärung  für  die  ganze   Erscheinung  zu  suchen. 

Wenn  Raffael  seine  Bildarchitekturen  aufführt  und  mit  strenger  Gesetz- 
lichkeit den  Eindruck  von  Gehaltenheit  und  Würde  in  unerhörtem  Maße 
gewinnt,  so  kann  man  auch  dafür  in  seinen  besonderen  Aufgaben  den  An- 
stoß und  das  Ziel  finden;  und  doch  ist  die  „Technik"  Raffaels  nicht  ganz  auf 
Rechnung  einer  Stimmungsabsicht  zu  setzen,  es  handelt  sich  vielmehr  um 
eine  Darstellungsform  seiner  Zeit,  die  er  nur  in  besonderer  Weise  ausge- 
bildet und  seinen  Zwecken  dienstbar  gemacht  hat.  An  ähnlich  feierlichen 
Ambitionen  hat  es  auch  später  nicht  gefehlt,  ohne  daß  man  auf  seine  Sche- 
mata hätte  zurückgreifen  können.  Der  französische  Klassizismus  des  17.  Jahr- 
hunderts ruht  auf  einer  anderen  „optischen"  Grundlage  und  ist  deshalb  bei 
ähnlicher  Absicht  notwendig  zu  andern  Ergebnissen  gelangt.  Wer  alles  nur 
auf  Ausdruck  bezieht,  macht  die  falsche  Voraussetzung,  daß  jeder  Stim- 
mung immer  dieselben  Ausdrucksmittel  zur  Verfügung  gestanden  hätten. 

Und  wenn  man  von  den  Fortschritten  im  Imitativen  spricht,  von  dem,  was 
ein  Zeitalter  an  neuen  Naturbeobachtungen  gebracht  hat,  so  ist  auch  das 
ein  Stoffliches,  das  an  primär  gegebene  Darstellungsformen  gebunden  ist. 
Die  Beobachtungen  des  17.  Jahrhunderts  werden  nicht  einfach  in  das  Gewebe 
der  cinquecentistischen  Kunst  eingetragen,  die  Gesamtunterlage  ist  eine 
andere  geworden.  Es  ist  ein  Fehler,  daß  die  Kunstgeschichtsschreibung  so 
unbedenklich  mit  dem  stumpfen  Begriff  der  Naturnachahmung  operiert :  als 
ob  es  sich  dabei  um  einen  gleichartigen  Prozeß  zunehmender  Vervollkomm- 

13 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

nung  handelte.  Alle  Steigerung  in  der  „Hingabe  an  die  Natur"  erklärt  nicht 
die  Art,  wie  sich  eine  Landschaft  des  Ruysdael  von  einer  Landschaft  des 
Patenier  unterscheidet,  und  die  „fortgeschrittene  Bewältigung  des  Wirklichen" 
macht  den  Gegensatz  zwischen  einem  Kopf  des  Frans  Hals  und  einem  Kopf 
Albrecht  Dürers  noch  nicht  verständlich.  Der  stofflich-imitative  Gehalt  mag 
an  sich  noch  so  verschieden  sein,  das  Entscheidende  bleibt,  daß  der  Auf- 
fassung da  und  dort  ein  anderes  „optisches"  Schema  zugrunde  liegt,  ein 
Schema,  das  aber  viel  tiefer  verankert  ist  als  in  den  bloß  imitativen  Ent- 
wicklungsproblemen :  es  bedingt  die  Erscheinung  der  Architektur  ebensogut 
wie  die  der  darstellenden  Kunst  und  eine  römische  Barockfassade  hat  den- 
selben optischen  Nenner  wie  eine  Landschaft  des  van  Goyen. 


illgemein-        Mit  der  Erörterung  dieser  allgemeinsten  Darstellungsformen  beschäftigt 
Darstel- 


gsformen 


sich  unsere  Schrift.  Sie  analysiert  nicht  die  Schönheit  Lionardos  oder  Dürers, 
wohl  aber  das  Element,  in  dem  diese  Schönheit  Gestalt  gewonnen  hat.  Sie 
analysiert  nicht  die  Naturdarstellung  nach  ihrem  imitativen  Gehalt  und  wie 
sich  etwa  der  Naturalismus  des  16.  Jahrhunderts  unterscheidet  von  dem 
des  17.,  wohl  aber  die  Art  der  Auffassung,  die  den  darstellenden  Künsten 
in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  zugrunde  liegt. 

Auf  dem  Gebiet  der  neueren  Kunst  wollen  wir  versuchen,  diese  Grund- 
formen herauszusondern.  Man  bezeichnet  die  Folge  der  Perioden  mit  den 
Namen  Frührenaissance  —  Hochrenaissance  —  Barock,  Namen,  die  wenig 
besagen  und  in  ihrer  Anwendung  auf  Süden  und  Norden  notwendig  zu  Miß- 
verständnissen führen  müssen,  die  aber  kaum  mehr  zu  verdrängen  sind.  Un- 
glücklicherweise spielt  noch  die  Bildanalogie:  Knospe  —  Blüte  —  Verfall 
eine  irreführende  Nebenrolle.  Wenn  zwischen  15.  und  16.  Jahrhundert  in  der 
Tat  ein  qualitativer  Unterschied  besteht,  indem  das  15.  Jahrhundert  sich 
ganz  allmählich  erst  die  Wirkungseinsichten  hat  erarbeiten  müssen,  über  die 
das  16.  frei  verfügt,  so  steht  doch  die  (klassische)  Kunst  des  Cinquecento 
und  die  (barocke)  Kunst  des  Seicento  dem  Werte  nach  auf  einer  Linie.  Das 
Wort  klassisch  bezeichnet  hier  kein  Werturteil,  denn  es  gibt  auch  eine  Klas- 
sizität des  Barock.  Der  Barock,  oder  sagen  wir  die  moderne  Kunst,  ist 
weder  ein  Niedergang  noch  eine  Höherführung  der  klassischen,  sondern  ist 
eine  generell  andere  Kunst.  Die  abendländische  Entwicklung  der  neuen  Zeit 
läßt  sich  nicht  auf  das  Schema  einer  einfachen  Kurve  mit  Anstieg,  Höhe  und 
Abstieg  bringen,  sie  hat  zwei  Höhepunkte.    Man  mag  seine  Sympathien  dem 


EINLEITUNG 

einen  oder  dem  andern  zuwenden:  jedenfalls  muß  man  sich  bewußt  sein, 
dabei  willkürlich  zu  urteilen,  wie  es  willkürlich  ist,  zu  sagen,  der  Rosen- 
strauch erlebe  seine  Höhe  in  der  Bildung  der  Blüte  und  der  Apfelbaum  in 
der  Bildung  der  Frucht. 

Im  Interesse  der  Einfachheit  müssen  wir  die  Freiheit  in  Anspruch  nehmen, 
vom  16.  und  17.  Jahrhundert  als  Stileinheiten  sprechen  zu  dürfen,  trotzdem 
diese  Zeitabschnitte  keine  homogene  Produktion  bedeuten  und  namentlich 
die  Züge  der  seicentistischen  Physiognomie  schon  lang  vor  dem  Jahre  1600 
sich  zu  bilden  begonnen  hatten,  wie  sie  andrerseits  noch  weithin  das  Aus- 
sehen des  18.  Jahrhunderts  bedingen.  Unsere  Absicht  geht  darauf,  Typus 
mit  Typus  zu  vergleichen,  das  Fertige  mit  dem  Fertigen.  Natürlich  gibt  es 
im  strengen  Sinne  kein  „Fertiges",  alles  Geschichtliche  ist  einer  beständigen 
Wandlung  unterworfen,  aber  man  muß  sich  entschließen,  die  Verschieden- 
heiten an  einer  fruchtbaren  Stelle  festzuhalten  und  als  Kontraste  gegen- 
einander sprechen  zu  lassen,  wenn  einem  nicht  die  ganze  Entwicklung  zwi- 
schen den  Fingern  verlaufen  soll.  Die  Vorstufen  der  Hochrenaissance  dürfen 
nicht  ignoriert  werden,  aber  sie  stellen  eine  altertümliche  Kunst  dar,  eine 
Kunst  der  Primitiven,  für  die  eine  sichere  Bildform  noch  nicht  existiert. 
Die  einzelnen  Übergänge  aber  darzulegen,  die  vom  Stil  des  16.  Jahrhunderts 
zum  Stil  des  17.  führen,  muß  der  speziellen  historischen  Schilderung  vorbe- 
halten bleiben,  die  freilich  ihrer  Aufgabe  auch  erst  gerecht  werden  kann, 
wenn  sie  die  entscheidenden  Begriffe  in  der  Hand  hat. 

Irren  wir  uns  nicht,  so  läßt  sich  die  Entwicklung  in  provisorischer  For- 
mulierung auf  folgende  fünf  Begriffspaare  bringen. 

1.  Die  Entwicklung  vom  Linearen  zum  Malerischen,  das  heißt  die  Ausbil- 
dung der  Linie  als  Blickbahn  und  Führerin  des  Auges  und  die  allmähliche 
Entwertung  der  Linie.  Allgemeiner  gesagt :  die  Begreif ung  der  Körper  nach 
ihrem  tastbaren  Charakter  —  in  Umriß  und  Flächen  —  einerseits  und  andrer- 
seits eine  Auffassung,  die  dem  bloßen  optischen  Schein  sich  zu  überlassen 
imstande  ist  und  auf  die  „greifbare"  Zeichnung  verzichten  kann.  Dort  liegt 
der  Akzent  auf  den  Grenzen  der  Dinge,  hier  spielt  die  Erscheinung  ins 
Unbegrenzte  hinüber.  Das  plastische  und  konturierende  Sehen  isoliert  die 
Dinge,  für  das  malerisch  sehende  Auge  schließen  sie  sich  zusammen.  In 
einem  Fall  liegt  das  Interesse  mehr  in  der  Begreifung  der  einzelnen  körper- 
lichen Objekte  als  fester,  faßbarer  Werte,  im  andern  Fall  mehr  darin,  die 
Sichtbarkeit  in  ihrer  Gesamtheit  als  einen  schwebenden  Schein  aufzufassen. 

2.  Die  Entwicklung  vom  Flächenhaften  zum  Tiefenhaften.    Die  klassische 

15 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Kunst  bringt  die  Teile  eines  Formganzen  zu  flächiger  Schichtung,  die  ba- 
rocke betont  das  Hintereinander.  Die  Fläche  ist  das  Element  der  Linie, 
flächenhaftes  Nebeneinander  die  Form  der  größten  Schaubarkeit;  mit  der 
Entwertung  des  Konturs  kommt  die  Entwertung  der  Fläche  und  das  Auge 
bindet  die  Dinge  wesentlich  im  Sinne  des  Vor-  und  Rückwärts.  Das  ist  kein 
qualitativer  Unterschied :  mit  einer  höhern  Fähigkeit,  räumliche  Tiefe  darzu- 
stellen, hat  diese  Neuerung  direkt  nichts  zu  tun,  sie  bedeutet  vielmehr  eine 
grundsätzlich  andere  Art  der  Darstellung,  wie  denn  auch  der  ,, Flächenstil" 
in  unserem  Sinne  nicht  der  Stil  der  primitiven  Kunst  ist,  sondern  erst  im 
Moment  einer  völligen  Beherrschung  der  Verkürzung  und  des  Raumein- 
drucks erscheint. 

3.  Die  Entwicklung  von  der  geschlossenen  zur  offenen  Form.  Jedes  Kunst- 
werk muß  ein  geschlossenes  Ganzes  sein  und  es  ist  ein  Mangel,  wenn  man 
findet,  es  sei  nicht  in  sich  begrenzt.  Allein  die  Interpretation  dieser  For- 
derung ist  eine  so  verschiedene  gewesen  im  16.  und  17.  Jahrhundert,  daß 
man  gegenüber  der  aufgelösten  Form  des  Barock  die  klassische  Fügung  als 
die  Kunst  der  geschlossenen  Form  überhaupt  bezeichnen  kann.  Die  Locke- 
rung der  Regel,  die  Entspannung  der  tektonischen  Strenge  oder  wie  immer 
man  den  Vorgang  bezeichnen  mag,  bedeutet  nicht  eine  bloße  Reizsteigerung, 
sondern  ist  ein  konsequent  durchgeführter,  neuer  Darstellungsmodus  und 
darum  ist  auch  dieses  Motiv  unter  die  Grundformen  der  Darstellung  auf- 
zunehmen. 

4.  Die  Entwicklung  vom  Vielheitlichen  zum  Einheitlichen.  In  dem  System 
einer  klassischen  Fügung  behaupten  die  einzelnen  Teile,  so  fest  sie  dem  Gan- 
zen eingebunden  sind,  doch  immer  noch  ein  Selbständiges.  Es  ist  nicht  die 
herrenlose  Selbständigkeit  der  primitiven  Kunst :  das  Einzelne  ist  bedingt 
vom  Ganzen  und  doch  hat  es  nicht  aufgehört,  ein  Eigenes  zu  sein.  Für  den 
Betrachter  setzt  das  ein  Artikulieren  voraus,  ein  Fortschreiten  von  Glied  zu 
Glied,  das  eine  sehr  verschiedene  Operation  ist  gegenüber  der  Auffassung 
im  ganzen,  wie  sie  das  17.  Jahrhundert  anwendet  und  fordert.  In  beiden 
Stilen  handelt  es  sich  um  eine  Einheit  (im  Gegensatz  zu  der  vorklassischen 
Zeit,  die  den  Begriff  in  seinem  eigentlichen  Sinn  noch  nicht  verstand),  allein 
das  eine  Mal  ist  die  Einheit  erreicht  durch  eine  Harmonie  freier  Teile,  das 
andere  Mal  durch  ein  Zusammenziehen  der  Glieder  zu  einem  Motiv  oder 
durch  Unterordnung  der  übrigen  Elemente  unter  ein  unbedingt  führendes. 

5.  Die  absolute  und  die  relative  Klarheit  des  Gegenständlichen.  Es  ist  ein 
Gegensatz,  der  sich  zunächst  berührt  mit   dem  Gegensatz  von  linear  und 

16 


EINLEITUNG 

malerisch :  die  Darstellung  der  Dinge,  wie  sie  sind,  einzeln  genommen  und 
dem  plastischen  Tastgefühl  zugänglich,  und  die  Darstellung  der  Dinge,  wie 
sie  erscheinen,  im  ganzen  gesehen  und  mehr  nach  ihren  nicht-plastischen 
Qualitäten.  Allein  es  ist  etwas  Besonderes,  daß  die  klassische  Zeit  ein  Ideal 
vollständiger  Klarheit  ausbildete,  das  das  15.  Jahrhundert  nur  unbestimmt 
geahnt  hatte,  das  17.  aber  freiwillig  preisgab.  Nicht  daß  man  unklar 
geworden  wäre,  was  immer  ein  widriger  Eindruck  ist,  allein  die  Klar- 
heit des  Motivs  ist  nicht  mehr  Selbstzweck  der  Darstellung;  es  braucht 
nicht  mehr  die  Form  in  ihrer  Vollständigkeit  vor  dem  Auge  ausgebrei- 
tet zu  werden,  es  genügt,  die  wesentlichen  Anhaltspunkte  gegeben  zu 
haben.  Komposition,  Licht  und  Farbe  stehen  nicht  mehr  unbedingt  im 
Dienste  der  Formaufklärung,  sondern  führen  ihr  eigenes  Leben.  Es  gibt  Fälle, 
wo  eine  solche  teilweise  Verdunkelung  der  absoluten  Klarheit  im  Sinn  bloßer 
Reizsteigerung  verwendet  worden  ist,  allein  als  große,  alles  umfassende  Dar- 
stellungsform tritt  die  „relative"  Klarheit  in  dem  Moment  in  die  Kunstge- 
schichte ein,  wo  man  die  Wirklichkeit  auf  eine  generell  andere  Erscheinung 
hin  ansieht.  Auch  hier  ist  es  nicht  ein  Qualitätsunterschied,  wenn  der  Barock 
von  den  Idealen  Dürers  und  Raffaels  abfiel,  sondern  eben  eine  andere  Orien- 
tierung zur  Welt. 

3- 

Die  Darstellungsformen,  die  hier  beschrieben  worden  sind,  bedeuten  Imitation  und 
etwas  von  so  allgemeiner  Art,  daß  auch  weit  auseinanderliegende  Naturen  Dekoratlon 
wie  Terborch  und  Bernini  —  um  das  schon  gebrauchte  Beispiel  zu  wieder- 
holen —  unter  einem  und  demselben  Typus  Platz  finden.  Die  Stilgemein- 
samkeit dieser  Künstler  beruht  auf  dem,  was  für  Menschen  des  17.  Jahr- 
hunderts eben  das  Selbstverständliche  ist :  gewisse  Grundbedingungen,  an 
die  der  Eindruck  des  Lebendigen  geknüpft  ist,  ohne  daß  ein  bestimmterer 
Ausdruckswert  daran  hinge. 

Man  kann  sie  als  Darstellungsformen  oder  als  Anschauungsformen  behan- 
deln :  in  diesen  Formen  sieht  man  die  Natur  und  in  diesen  Formen  bringt  die 
Kunst  ihre  Inhalte  zur  Darstellung.  Aber  es  ist  gefährlich,  nur  von  gewissen 
„Zuständen  des  Auges"  zu  sprechen,  von  denen  die  Auffassung  bedingt  sei: 
jede  künstlerische  Auffassung  ist  schon  nach  bestimmten  Gesichtspunkten 
des  Gefallens  organisiert.  Darum  haben  unsere  fünf  Begriffspaare  sowohl 
eine  imitative  wie  eine  dekorative  Bedeutung.  Jede  Art  der  Naturwiedergabe 
bewegt  sich  schon  innerhalb  eines   bestimmten  dekorativen  Schemas.    Das 

2  H.W.,  G.  2.  A.  17 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

lineare  Sehen  ist  mit  einer  gewissen,  nur  ihm  eigenen  Vorstellung  von 
Schönheit  dauernd  verknüpft  und  das  malerische  ebenso.  Es  geschieht  nicht 
nur  im  Interesse  einer  neuen  Naturwahrheit,  wenn  eine  fortgeschrittene 
Kunst  die  Linie  auflöst  und  die  bewegte  Masse  dafür  einsetzt,  sondern  auch 
im  Interesse  einer  neuen  Schönheitsempfindung.  Und  ebenso  muß  man  sagen, 
daß  die  Darstellung  im  Flächentyp  allerdings  einer  gewissen  Stufe  der  An- 
schauung entspricht,  aber  auch  hier  hat  die  Darstellungsform  offenbar  eine 
dekorative  Seite.  Das  Schema  an  sich  gibt  freilich  noch  nichts,  aber  es  ent- 
hält die  Möglichkeit,  Schönheiten  der  Flächenordnung  zu  entwickeln,  wie  sie 
der  Tiefenstil  nicht  mehr  besitzt  und  nicht  mehr  besitzen  will.  Und  so  kann 
man  die  ganze  Reihe  entlang  fortfahren. 

Wie  aber?  wenn  auch  diese  Begriffe  der  untern  Schicht  auf  eine  be- 
stimmte Schönheit  zielen,  kommen  wir  dann  nicht  auf  den  Anfang  zurück, 
wo  der  Stil  als  unmittelbarer  Temperamentsausdruck  gefaßt  worden  war, 
sei  es  des  Temperaments  einer  Zeit  oder  des  Temperaments  eines  Volkes 
oder  eines  Individuums?  Und  das  Neue  wäre  nur  dieses,  daß  der  Schnitt 
weiter  unten  gemacht  worden  ist,  die  Phänomene  gewissermaßen  auf  einen 
größeren,  gemeinsamen  Nenner  gebracht  sind? 

Wer  so  spricht,  der  verkennt,  daß  unsere  zweite  Reihe  von  Begriffen  insofern 
von  Haus  aus  einer  anderen  Gattung  angehört,  als  diese  Begriffe  in  ihrer  Wand- 
lung eine  innere  Notwendigkeit  an  sich  haben.  Sie  stellen  einen  rationellen 
psychologischen  Prozeß  dar.  Der  Fortgang  von  der  handgreiflichen,  plasti- 
schen Auffassung  zu  einer  rein  optisch-malerischen  hat  eine  natürliche  Logik 
und  könnte  nicht  umgekehrt  werden.  Und  ebensowenig  der  Fortgang  vom 
Tektonischen  zum  Atektonischen,  vom  Streng-Gesetzlichen  zum  Frei-Ge- 
setzlichen, vom  Vielheitlichen  zum  Einheitlichen. 

Um  ein  Gleichnis  zu  gebrauchen:  der  Stein,  der  den  Berghang  herabrollt, 
kann  im  Fallen  ganz  verschiedene  Bewegungen  annehmen  je  nach  der  Nei- 
gungsfläche des  Berges,  dem  härteren  oder  weicheren  Boden  usw.,  aber  alle 
diese  Möglichkeiten  unterstehen  einem  und  demselben  Fallgesetz.  So  gibt 
es  in  der  psychologischen  Natur  des  Menschen  bestimmte  Entwicklungen,  die 
man  im  selben  Sinn  wie  das  physiologische  Wachstum  als  gesetzliche  bezeich- 
nen muß.  Sie  können  aufs  mannigfaltigste  variiert,  sie  können  teilweise  oder 
ganz  gehemmt  werden,  aber  wenn  der  Prozeß  ins  Rollen  kommt,  so  wird  eine 
gewisse  Gesetzmäßigkeit  überall  beobachtet  werden  können. 

Es  ist  eine  weitere  Frage,  inwiefern  ,,das  Auge"  Entwicklungen  für  sich 
durchmachen  kann  und  inwiefern  es  dabei   bedingt  und  bedingend  in  die 

18 


EINLEITUNG 
anderen  geistigen  Sphären  übergreift.  Gewiß  gibt  es  kein  optisches  Schema, 
das.  nur  aus  eignen  Prämissen  hervorgegangen,  der  Welt  gewissermaßen  wie 
eine  tote  Schablone  aufgelegt  werden  könnte;  man  sieht  wohl  jederzeit  so, 
wie  man  sehen  will,  aber  das  schließt  doch  die  Möglichkeit  nicht  aus,  daß  in 
allem  Wandel  ein  Gesetz  wirksam  bleibe.  Dieses  Gesetz  zu  erkennen  wäre  ein 
Hauptproblem,  das  Hauptproblem  einer  wissenschaftlichen  Kunstgeschichte. 
Wir  kommen  am  Ende  dieser  Untersuchung  darauf  zurück. 


Rom,  S.  Agnese 


19 


i.  Das  Lineare  und  das  Malerische 

Allgemeines 

i. 

linear  (zeich-   T  TT  Tenn  man   den  Unterschied  der  Kunst   Dürers  und  der  Kunst  Rem- 

nensch,  pla-      V  V    brandts  auf  einen  allgemeinsten  Ausdruck  bringen  will,  so  sagt  man, 
stisch)  und 
malerisch     Durer  sei  zeichnerisch  und  Rembrandt  sei  malerisch.    Dabei  ist  man  sich 

Tastbild  und  bewußt,  über  das  Persönliche  hinaus  einen  Unterschied  der  Zeiten  charak- 
terisiert zu  haben.  Die  abendländische  Malerei,  die  im  16.  Jahrhundert 
linear  gewesen  ist,  hat  sich  im  17.  Jahrhundert  nach  Seite  des  Malerischen 
im  besonderen  entwickelt.  Auch  wenn  es  nur  einen  Rembrandt  gibt,  so 
hat  doch  eine  einschneidende  Umgewöhnung  des  Auges  überall  stattgefun- 
den und  wer  irgend  ein  Interesse  daran  hat,  sein  Verhältnis  zur  Welt  des 
Sichtbaren  zu  klären,  wird  erst  mit  diesen  zwei  von  Grund  aus  verschiedenen 
Arten  des  Sehens  sich  auseinandersetzen  müssen.  Die  malerische  Art  ist  die 
spätere  und  ohne  die  erste  nicht  wohl  denkbar,  aber  sie  ist  nicht  die  absolut 
höherstehende.  Der  lineare  Stil  hat  Werte  entwickelt,  die  der  malerische 
Stil  nicht  mehr  besitzt  und  nicht  mehr  besitzen  will.  Es  sind  zwei  Weltan- 
schauungen anders  gerichtet  in  ihrem  Geschmack  und  ihrem  Interesse  an  der 
Welt  und  jede  doch  imstande,  ein  vollkommenes  Bild  des  Sichtbaren  zu  geben. 

Obgleich  in  dem  Phänomen  des  linearen  Stils  die  Linie  nur  einen  Teil  der 
Sache  bedeutet  und  der  Umriß  von  dem  Körper,  den  er  umschließt,  sich  nicht 
trennen  läßt,  kann  man  doch  die  populäre  Definition  benutzen  und  zum  An- 
fang einmal  sagen:  Der  zeichnerische  Stil  sieht  in  Linien,  der  malerische  in 
Massen.  Linear  sehen  heißt  dann,  daß  Sinn  und  Schönheit  der  Dinge  zu- 
nächst im  Umriß  gesucht  wird  —  auch  Binnenformen  haben  ihren  Umriß  — , 
daß  das  Auge  den  Grenzen  entlang  geführt  und  auf  ein  Abtasten  der  Ränder 
hingeleitet  wird,  während  ein  Sehen  in  Massen  da  statthat,  wo  die  Aufmerk- 
samkeit sich  von  den  Rändern  zurückzieht,  wo  der  Umriß  dem  Auge  als 
Blickbahn  mehr  oder  weniger  gleichgültig  geworden  ist  und  die  Dinge  als 
Fleckenerscheinungen  das  Primäre  des  Eindrucks  sind.  Es  ist  dabei  gleich- 
gültig, ob  solche  Fleckenerscheinungen  als  Farbe  sprechen  oder  nur  als  Hel- 
ligkeiten und  Dunkelheiten. 

Das  bloße  Vorhandensein  von  Licht  und  Schatten,  auch  wenn  ihnen  eine 
bedeutende  Rolle  zugewiesen  ist,  entscheidet  noch  nicht  über  den  malerischen 

20 


I.   DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

Charakter  eines  Bildes.  Auch  die  zeichnerische  Kunst  hat  es  mit  Körpern  und 
Raum  zu  tun  und  braucht  die  Lichter  und  die  Schatten,  um  den  Eindruck  des 
Plastischen  zu  gewinnen.  Die  Linie  bleibt  ihnen  aber  als  feste  Grenze  Über- 
oder wenigstens  beigeordnet.  Lionardo  gilt  mit  Recht  als  der  Vater  des  Hell- 
dunkels und  sein  Abendmahl  ist  im  besonderen  das  Bild,  wo  zum  ersten  Male 
in  der  neueren  Kunst  Helles  und  Dunkles  als  Kompositionsfaktor  im  großen 
verwendet  ist,  allein  was  wären  diese  Lichter  und  Dunkelheiten  ohne  die 
königlich  sichere  Führung,  die  in  der  Hand  der  Linie  liegt!  Alles  hängt  da- 
von ab,  wie  weit  den  Rändern  eine  führende  Bedeutung  zugeteilt  oder  ge- 
nommen ist,  ob  sie  linear  abgelesen  werden  müssen  oder  nicht.  In  einem 
Fall  bedeutet  der  Umriß  ein  gleichmäßig  die  Form  umfahrendes  Geleise,  dem 
sich  der  Betrachter  ruhig  überlassen  kann,  im  andern  Fall  sind  es  Hellig- 
keiten und  Dunkelheiten,  die  das  Bild  beherrschen,  nicht  gerade  unbegrenzt, 
aber  doch  ohne  Betonung  der  Grenzen.  Nur  noch  stellenweise  taucht  ein  Stück 
faßbarer  Umriß  empor,  als  gleichmäßig  sicherer  Führer  durch  das  Form- 
ganze hat  er  aufgehört  zu  sein.  Darum:  was  den  Unterschied  ausmacht 
zwischen  Dürer  und  Rembrandt,  ist  nicht  ein  Weniger  oder  Mehr  im  Auf- 
bieten von  Licht-  und  Schattenmassen,  sondern  daß  dort  die  Massen  mit  be- 
tonten Rändern  erscheinen  und  hier  mit  unbetonten. 

Sobald  die  Linie  als  Grenzsetzung  entwertet  ist,  beginnen  die  malerischen 
Möglichkeiten.  Dann  ist  es,  als  ob  es  plötzlich  in  allen  Winkeln  lebendig 
würde  von  einer  geheimnisvollen  Bev/egung.  Während  die  stark  sprechende 
Umrandung  die  Form  unverrückbar  macht,  die  Erscheinung  gleichsam  fest- 
legt, liegt  es  im  Wesen  einer  malerischen  Darstellung,  der  Erscheinung  den 
Charakter  des  Schwebenden  zu  geben:  die  Form  fängt  an  zu  spielen,  Lichter 
und  Schatten  werden  zu  einem  selbständigen  Element,  sie  suchen  sich  und 
binden  sich,  von  Höhe  zu  Höhe,  von  Tiefe  zu  Tiefe;  das  Ganze  gewinnt 
den  Schein  einer  rastlos  quellenden,  nie  endenden  Bewegung.  Ob  die  Be- 
wegung flackernd  und  heftig  sei  oder  nur  ein  leises  Zittern  und  Flimmern: 
sie  bleibt  für  die  Anschauung  ein  Unerschöpfliches. 

Man  kann  also  den  Unterschied  der  Stile  weiterhin  so  bestimmen,  daß 
das  lineare  Sehen  zwischen  Form  und  Form  fest  scheidet,  während  das 
malerische  Auge  umgekehrt  auf  jene  Bewegung  hin  visiert,  die  über  das 
Ganze  der  Dinge  hinweggeht.  Dort  gleichmäßig  klare  Linien,  die  trennend 
wirken,  hier  unbetonte  Grenzen,  die  die  Bindung  begünstigen.  Es  kommt 
mancherlei  dazu,  den  Eindruck  einer  durchgehenden  Bewegung  zu  erzeugen 
—  wir  werden  davon  reden  — ,  das  Freiwerden  aber  der  Massen  von  Hell 

21 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

und  Dunkel,  daß  sie  sich  in  selbständigem  Spiel  gegenseitig  haschen  kön- 
nen, bleibt  die  Grundlage  eines  malerischen  Eindrucks.  Und  damit  ist  auch 
gesagt,  daß  hier  nicht  das  Einzelne,  sondern  das  Gesamtbild  das  Entschei- 
dende ist,  denn  nur  im  Ganzen  kann  jenes  geheimnisvolle  Ineinanderfließen 
von  Form  und  Licht  und  Farbe  wirksam  werden  und  es  ist  offenbar,  daß 
das  Undingliche  und  Körperlose  hier  ebensoviel  bedeuten  muß  wie  das  Kör- 
perlich-Gegenständliche. 

Wenn  Dürer*  oder  Cranach  eine  Aktfigur  als  etwas  Helles  vor  schwarzen 
Grund  stellen,  so  bleiben  die  Elemente  grundsätzlich  geschieden:  Grund  ist 
Grund,  Figur  ist  Figur,  und  die  Venus  oder  Eva,  die  wir  vor  uns  sehen,  wirkt 
als  weiße  Silhouette  auf  schwarzer  Folie.  Umgekehrt,  wenn  bei  Rembrandt* 
ein  Akt  auf  dunklem  Grunde  steht,  so  scheint  das  Helle  des  Körpers  aus 
dem  Dunkel  des  Raumes  sich  gleichsam  herauszuentwickeln;  es  ist,  als  ob 
alles  aus  einem  Stoffe  wäre.  Die  Deutlichkeit  des  Gegenständlichen  braucht 
dabei  nicht  herabgesetzt  zu  sein.  Bei  völliger  Klarheit  der  Form  kann  sich 
zwischen  den  modellierenden  Lichtern  und  Schatten  jene  eigentümliche  Ver- 
bindung zu  eignem  Leben  vollzogen  haben  und  ohne  daß  die  sachliche  Forde- 
rung irgendwie  zu  kurz  gekommen  wäre,  können  Figur  und  Raum,  Ding- 
liches und  Nicht-Dingliches,  zum  Eindruck  selbständiger  Tonbewegung  zu- 
sammenschlagen. 

Aber  freilich  haben  die  „Maler"  —  um  das  vorauszusagen  —  kein  kleines 
Interesse  daran,  die  Lichter  und  Dunkelheiten  von  der  Funktion  der  bloßen 
Formerklärung  zu  erlösen.  Es  ist  die  leichteste  Art,  eine  malerische  Wir- 
kung zu  gewinnen,  wenn  die  Lichtführung  nicht  mehr  im  Dienst  der  gegen- 
ständlichen Deutlichkeit  steht,  sondern  sich  darüber  hinwegsetzt,  also  daß  die 
Schatten  nicht  mehr  an  der  Form  kleben,  sondern  daß  beim  Widerstreit  der 
gegenständlichen  Deutlichkeit  mit  der  Lichtführung  das  Auge  um  so  williger 
sich  dem  bloßen  Spiel  der  Tone  und  Formen  im  Bild  überläßt.  Eine  male- 
rische Beleuchtung  —  sagen  wir  in  einem  kirchlichen  Innenraum  —  wird 
nicht  die  sein,  die  die  Pfeiler  und  Wände  möglichst  deutlich  macht,  sondern 
sie  wird  im  Gegenteil  über  die  Form  weggehen  und  sie  teilweise  verhüllen. 
Und  ebenso  wird  man  die  Silhouetten  —  wenn  der  Begriff  hier  überhaupt 
noch  paßt  —  immer  gerne  ausdrucksarm  machen :  eine  malerische  Silhouette 
deckt  sich  nie  mit  der  Gegenstandsform.  Sobald  sie  zu  stark  gegenständlich 
spricht,  sondert  sie  sich  ab  und  bildet  ein  Hemmnis  für  das  Zusammen- 
fluten der  Massen  im  Bild. 

Mit  alldem  ist  aber  das  Entscheidende  noch  nicht  gesagt.     Wir  müssen 

22 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 

auf  den  Grundunterschied  linearer  und  malerischer  Darstellung  zurück- 
gehen, wie  ihn  schon  das  Altertum  erkannt  hat :  daß  jene  die  Dinge  gibt  wie 
sie  sind,  diese  wie  sie  zu  sein  scheinen.  Es  klingt  diese  Definition  etwas 
grob  und  für  philosophische  Ohren  fast  unerträglich.  Ist  denn  nicht  alles 
Erscheinung?  und  was  soll  es  für  einen  Sinn  haben,  von  einer  Darstellung 
der  Dinge,  wie  sie  sind,  sprechen  zu  wollen?  In  der  Kunst  haben  diese  Be- 
griffe allerdings  ihr  dauerndes  Recht.  Es  gibt  einen  Stil,  der,  wesentlich 
objektiv  gestimmt,  die  Dinge  nach  ihren  festen,  tastbaren  Verhältnissen  auf- 
faßt und  wirksam  machen  will,  und  es  gibt  im  Gegensatz  dazu  einen  Stil, 
der,  mehr  subjektiv  gestimmt,  der  Darstellung  das  Bild  zugrunde  legt,  in  dem 
die  Sichtbarkeit  dem  Auge  wirklich  erscheint  und  das  mit  der  Vorstellung 
von  der  eigentlichen  Gestalt  der  Dinge  oft  so  wenig   Ähnlichkeit  mehr  hat. 

Der  lineare  Stil  ist  ein  Stil  der  plastisch  empfundenen  Bestimmtheit.  Die 
gleichmäßig  feste  und  klare  Begrenzung  der  Körper  gibt  dem  Beschauer 
eine  Sicherheit,  als  ob  er  sie  mit  den  Fingern  abtasten  könnte  und  alle 
modellierenden  Schatten  schließen  sich  der  Form  so  vollständig  an,  daß  der 
Tastsinn  geradezu  herausgefordert  wird.  Darstellung  und  Sache  sind  sozu- 
sagen identisch.  Der  malerische  Stil  dagegen  hat  sich  von  der  Sache,  wie 
sie  ist,  mehr  oder  weniger  losgesagt.  Für  ihn  gibt  es  keinen  fortlaufenden 
Umriß  mehr  und  die  tastbaren  Flächen  sind  zerstört.  Lauter  Flecken  stehen 
nebeneinander,  unzusammenhängende.  Zeichnung  und  Modellierung  decken 
sich  nicht  mehr  im  geometrischen  Sinne  mit  der  plastischen  Formunterlage, 
sondern  geben  nur  den  optischen  Schein  der  Sache. 

Wo  die  Natur  eine  Kurve  zeigt,  rinden  wir  jetzt  vielleicht  einen  Winkel  und 
statt  einer  gleichmäßig  fortschreitenden  Ab-  und  Zunahme  des  Lichtes  er- 
scheint das  Hell  und  Dunkel  jetzt  stoßweise,  in  unvermittelten  Massen.  Nur  die 
Erscheinung  der  Wirklichkeit  ist  aufgefangen,  etwas  ganz  anderes  als 
was  die  lineare  Kunst  mit  ihrem  plastisch  bedingten  Sehen  gestaltete,  und  eben 
darum  können  die  Zeichen,  die  der  malerische  Stil  verwendet,  keine  direkte 
Beziehung  mehr  zur  objektiven  Form  haben.  Das  eine  ist  eine  Kunst  des 
Seins,  das  andere  eine  Kunst  des  Scheins.  Die  Bildgestalt  bleibt  eine  schwe- 
bende und  soll  sich  nicht  in  Linien  und  Flächen  verfestigen,  die  mit  der 
Tastbarkeit  der  wirklichen  Dinge  zusammengehen. 

Das  Umreißen  einer  Figur  mit  gleichmäßig  bestimmter  Linie  hat  noch 
etwas  von  körperlichem  Greifen  an  sich.  Die  Operation,  die  das  Auge  aus- 
führt, gleicht  der  Operation  der  Hand,  die  tastend  am  Körper  entlang  geht, 
und  die  Modellierung,  die  in  der  Lichtabstufung  das  Wirkliche  wiederholt, 

23 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

wendet  sich  ebenso  an  den  Tastsinn.  Eine  malerische  Darstellung  dagegen 
in  bloßen  Flecken  schließt  diese  Analogie  aus.  Sie  wurzelt  nur  im  Auge  unc5 
wendet  sich  nur  an  das  Auge  und  wie  das  Kind  sich  abgewöhnt,  alle  Dinge 
auch  anzufassen,  um  sie  zu  ,, begreifen",  so  hat  die  Menschheit  sich  abge- 
wöhnt, das  Bildwerk  auf  das  Tastbare  hin  zu  prüfen.  Eine  entwickeltere 
Kunst  hat  gelernt,  der  bloßen  Erscheinung  sich  zu  überlassen. 

Damit  hat  die  ganze  Idee  des  Bildwerks  sich  verschoben:  das  Tastbild  ist 
zum  Sehbild  geworden,  die  kapitalste  Umorientierung,  die  die  Kunst- 
geschichte kennt. 

Nun  braucht  man  natürlich  nicht  gleich  an  die  letzten  Formulierungen 
der  modernen  impressionistischen  Malerei  zu  denken,  wenn  man  sich  die 
Umwandlung  des  linearen  Typs  in  den  malerischen  vorstellen  will.  Das 
Bild  einer  belebten  Straße,  wie  es  etwa  von  Monet  gemalt  worden  ist  und  wo 
nichts,  aber  auch  gar  nichts  mehr  in  der  Zeichnung  sich  mit  jener  Form  deckt, 
die  wir  aus  der  Natur  zu  kennen  glauben,  ein  Bild  mit  dieser  verblüffenden 
Entfremdung  des  Zeichens  von  der  Sache  findet  sich  freilich  noch  nicht  im 
Zeitalter  Rembrandts,  allein  grundsätzlich  ist  der  Impressionismus  doch 
schon  da.  Jedermann  kennt  das  Beispiel  des  rollenden  Rades.  Es  verliert 
für  den  Eindruck  die  Speichen,  statt  dessen  erscheinen  unbestimmte  konzen- 
trische Ringe  und  auch  das  Rund  des  Reifes  hat  nicht  mehr  die  reine  geo- 
metrische Form.  Nun  —  sowohl  Velasquez  wie  der  stille  Nicolaes  Maes 
haben  diese  Impression  gemalt.  Erst  die  Verundeutlichung  macht  das  Rad 
laufen.  Die  Zeichen  der  Darstellung  haben  sich  vollständig  getrennt  von 
der  realen  Form.    Ein  Triumph  des  Scheins  über  das  Sein. 

Doch  das  ist  schließlich  nur  ein  peripherischer  Fall.  Die  neue  Darstellung 
umfaßt  aber  das  Unbewegte  so  gut  wie  das  Bewegte.  Wo  der  Umriß  einer 
ruhenden  Kugel  nicht  mehr  als  geometrisch-reine  Kreisform  gegeben  ist,  son- 
dern mit  gebrochener  Linie  und  wo  die  Modellierung  der  Kugeloberfläche 
in  einzelne  Licht-  und  Schattenklumpen  sich  zersetzt  hat,  statt  mit  unmerk- 
lichen Abstufungen  gleichmäßig  fortzuschreiten,  da  stehen  wir  überall  schon 
auf  impressionistischem  Boden. 

Und  wenn  es  nun  wahr  ist,  daß  der  malerische  Stil  nicht  die  Sachen  an 
sich  gestaltet,  sondern  die  Welt  als  eine  gesehene  darstellt,  das  heißt,  so  wie 
sie  dem  Auge  wirklich  erscheint,  so  ist  damit  auch  gesagt,  daß  die  verschie- 
denen Teile  eines  Bildes  einheitlich,  aus  gleicher  Distanz  gesehen  sind.  Das 
scheint  zwar  selbstverständlich,  ist  es  aber  durchaus  nicht.  Die  Distanz  für 
deutliches   Sehen   ist   etwas   Relatives :   verschiedene    Dinge   verlangen   ver- 

24 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

schiedene  Augennähe.  In  einem  und  demselben  Formkomplex  können  für 
das  Auge  ganz  verschiedene  Aufgaben  liegen.  Man  sieht  die  Formen  eines 
Kopfes  zum  Beispiel  ganz  klar,  aber  das  Muster  des  Spitzenkragens  dar- 
unter verlangt  ein  näheres  Hinzutreten  oder  wenigstens  eine  besondere 
Einstellung  des  Auges,  wenn  ihm  die  Figuren  deutlich  werden  sollen.  Der 
lineare  Stil  als  Darstellung  des  Seins  hat  der  sachlichen  Deutlichkeit  diese 
Konzession  ohne  weiteres  gemacht.  Es  war  ganz  natürlich,  daß  man  die 
Dinge,  jedes  in  seiner  besonderen  Gestalt,  so  gab,  daß  sie  vollkommen  deut- 
lich sind.  Die  Forderung  der  einheitlichen  optischen  Auffassung  existiert  für 
diese  Kunst  gerade  in  ihren  reinsten  Ausprägungen  grundsätzlich  nicht. 
Holbein  geht  bei  seinen  Bildnissen  der  Form  von  Stickereien  und  kleinem 
Goldschmiedewerk  bis  ins  einzelnste  nach.  Umgekehrt  hat  Frans  Hals  einen 
Spitzenkragen  gelegentlich  nur  noch  als  einen  weißen  Schimmer  gemalt. 
Er  wollte  nicht  mehr  geben  als  das,  was  der  Blick  auffaßt,  der  das  Ganze 
übersieht.  Der  Schimmer  muß  dann  freilich  so  aussehen,  daß  man  über- 
zeugt ist,  im  Grunde  sei  alles  Detail  vorhanden  und  nur  die  Entfernung 
bewirke  für  diesen  Augenblick  die  undeutliche  Erscheinung. 

Das  Ausmaß  dessen,  was  einheitlich  gesehen  werden  kann,  ist  sehr  ver- 
schieden genommen  worden.  Wenn  man  nur  die  höheren  Grade  als  Im- 
pressionismus zu  bezeichnen  pflegt,  so  ist  doch  daran  festzuhalten,  daß  diese 
nicht  etwas  wesentlich  Neues  bedeuten.  Es  wäre  schwer,  den  Punkt  an- 
zugeben, wo  das  „Bloß-Malerische"  aufhört  und  das  Impressionistische  be- 
ginnt. Alles  ist  Übergang.  Und  so  läßt  sich  auch  kaum  ein  letzter  Aus- 
druck des  Impressionismus  festlegen,  der  als  seine  klassische  Vollendung 
gelten  könnte.  Viel  eher  ist  das  auf  der  Gegenseite  denkbar.  Was  Hol- 
bein gibt,  ist  in  der  Tat  eine  unüberbietbare  Verkörperung  der  Kunst  des 
Seins,  aus  der  alle  Elemente  des  bloßen  Scheins  ausgeschieden  sind.  Merk- 
würdigerweise gibt   es  für  diese   Darstellungsform  kein  besonderes   Wort. 

Noch  etwas.  Das  einheitliche  Sehen  ist  natürlich  an  eine  gewisse  Distanz 
gebunden.  Distanz  bedingt  aber,  daß  das  körperlich  Runde  mehr  und  mehr 
flach  wird  in  der  Erscheinung.  Wo  die  Tastempfindungen  auslöschen,  wo 
nur  noch  helle  und  dunkle  Töne  nebeneinander  liegend  wahrgenommen  wer- 
den, da  ist  der  malerischen  Darstellung  der  Boden  bereitet.  Nicht  daß  der 
Eindruck  von  Volumen  und  Raum  fehlte,  im  Gegenteil,  die  körperliche 
Illusion  kann  viel  stärker  sein,  aber  diese  Illusion  ist  gerade  dadurch  er- 
reicht, daß  in  das  Bild  nicht  mehr  von  Plastizität  hineingetragen  ist  als 
die  Erscheinung  des  Ganzen  wirklich  enthält.    Das  ist  es,  wodurch  eine  Ra- 

25 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

dierung  Rembrandts  sich  von  jedem  Stich  Dürers  unterscheidet.  Bei  Dürer 
überall  das  Bemühen,  Tastwerte  zu  gewinnen,  eine  Zeichnung,  die,  so  lange 
es  irgend  geht,  mit  ihren  modellierenden  Linien  der  Form  folgt,  bei  Rem- 
brandt  umgekehrt  die  Tendenz,  das  Bild  der  Tastzone  zu  entrücken  und  in 
der  Zeichnung  alles  fallen  zu  lassen,  was  auf  unmittelbare  Erfahrungen 
der  Tastorgane  zurückgeht,  so  daß  unter  Umständen  die  gewölbte  Form  als 
ein  völlig  Flaches  mit  einer  Lage  gerader  Striche  gezeichnet  wird,  ohne  doch 
im  Zusammenhang  des  Ganzen  flach  zu  wirken.  Nicht  von  Anfang  an  ist 
dieser  Stil  da.  Innerhalb  des  Werkes  von  Rembrandt  gibt  es  eine  deutliche 
Entwicklung.  So  ist  die  frühe  badende  Diana  noch  in  einem  (relativ)  plasti- 
schen Stil  mit  gewölbten  Linien  auf  die  Einzelform  hin  durchmodelliert,  die 
späten  Frauenakte  dagegen,  im  großen  gesehen,  gebrauchen  fast  nur  noch 
flaches  Lineament.  Dort  drängt  sich  die  Figur  vor,  in  den  späten  Kom- 
positionen dagegen  ist  sie  in  das  Ganze  der  raumschaffenden  Töne  einge- 
bettet. Was  aber  im  Strichwerk  der  Zeichnung  offen  zutage  liegt,  ist 
natürlich  auch  die  Basis  für  das  gemalte  Bild,  wenn  sich  auch  der  Laie  hier 
vielleicht  schwerer  Rechenschaft  davon  zu  geben  imstande  ist. 

Über  der  Feststellung  solcher  Tatsachen,  die  der  Kunst  der  Darstellung 
auf  der  Fläche  eigentümlich  sind,  wollen  wir  aber  nicht  vergessen,  daß  wir 
auf  einen  Begriff  des  Malerischen  zielen,  der  über  das  Sondergebiet  der 
Malerei  hinaus  verbindlich  ist  und  für  die  Architektur  ebensoviel  bedeutet 
wie  für  die  Künste  der  Naturnachahmung. 

2. 

bjektiv-        In  den  bisherigen  Sätzen  ist  das  Malerische  wesentlich  als  eine  Sache  der 

lensche    Auffassung  behandelt  worden,  in  dem  Sinne,  daß  es  auf  das  Objekt  nicht 

nd  sein 

gensatz    ankomme,  sondern  daß  das  Auge  nach  seinem  Willen  alles  so  oder  so,  male- 
risch oder  nicht-malerisch  auffassen  könne. 

Nun  ist  aber  nicht  zu  leugnen,  daß  wir  schon  in  der  Natur  gewisse  Dinge 
und  Situationen  als  malerisch  bezeichnen.  Der  malerische  Charakter  scheint 
ihnen  anzuhaften,  unabhängig  von  der  besonderen  Auffassung  durch  ein 
malerisch  gestimmtes  Auge.  Natürlich  gibt  es  kein  Malerisches  an  und  für 
sich  und  auch  das  sogenannte  Objektiv-Malerische  wird  erst  malerisch  für 
ein  auffassendes  Subjekt,  aber  deswegen  kann  man  doch  diese  Motive,  deren 
malerischer  Charakter  in  nachweisbaren  tatsächlichen  Verhältnissen  beruht, 
als  etwas  Besonderes  herausheben.  Es  sind  Motive,  wo  die  einzelne  Form 
in  einen  großen  Zusammenhang  so  verflochten  ist,  daß  der  Eindruck  einer 

26 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 

durchgehenden  Bewegung  entsteht.  Kommt  die  wirkliche  Bewegung  hinzu, 
um  so  besser,  aber  nötig  ist  sie  nicht.  Es  können  Verschlingungen  der 
Form  sein,  die  derart  malerisch  wirken  oder  besondere  Ansichten  und 
Beleuchtungen,  immer  wird  die  feste,  ruhende  Körperlichkeit  überspielt 
sein  von  dem  Reiz  einer  Bewegung,  die  nicht  im  Objekt  liegt  und  damit  ist 
zugleich  gesagt,  daß  das  Ganze  nur  als  „Bild"  für  das  Auge  existiert  und 
daß  es  sich  nie,  auch  nicht  im  ideellen  Sinne,  mit  Händen  fassen  läßt. 

Man  nennt  den  zerlumpten  Bettler  eine  malerische  Figur,  mit  dem  ver- 
witterten Hut  und  den  aufgebrochenen  Schuhen,  während  die  Stiefel  und 
Hüte,  die  eben  aus  dem  Laden  kommen,  als  unmalerisch  gelten.  Es  fehlt 
ihnen  das  reiche,  rieselnde  Leben  der  Form,  das  dem  Wellengekräusel  ver- 
gleichbar ist,  wenn  ein  Windhauch  über  die  Wasserfläche  streift.  Und 
wenn  dieses  Bild  zu  den  Lumpen  des  Bettlers  nicht  gut  paßt,  so  denke  man 
an  kostbarere  Kostüme,  wo  mit  der  gleichen  Wirkung  die  Flächen  durch 
Schlitze  aufgebrochen  oder  durch  die  bloße  Faltenschiebung  bewegt  ge- 
macht sind. 

Aus  denselben  Gründen  gibt  es  eine  malerische  Schönheit  der  Ruine. 
Die  Starrheit  der  tektonischen  Form  ist  gebrochen  und  indem  die  Mauer 
bröckelt,  indem  Risse  und  Löcher  entstehen  und  Gewächse  sich  ansetzen, 
entwickelt  sich  ein  Leben,  das  wie  ein  Schauer  und  Schimmer  über  die 
Fläche  hingeht.  Und  wenn  nun  die  Ränder  unruhig  werden  und  die  geo- 
metrischen Linien  und  Ordnungen  verschwinden,  kann  der  Bau  mit  den 
frei  bewegten  Formen  der  Natur,  mit  Bäumen  und  Hügeln,  eine  Bindung 
zu  einem  malerischen  Ganzen  eingehen,  wie  sie  der  nicht-ruinenhaften 
Architektur  versagt  ist. 

Ein  Binnenraum  gilt  als  malerisch,  wenn  nicht  das  Gerüste  von  Wand 
und  Decke  das  Wort  hat,  sondern  wenn  das  Dunkel  in  den  Winkeln  liegt 
und  vielerlei  Gerät  vermittelnd  die  Ecken  füllt,  so  daß  über  alles  hinweg, 
bald  lauter,  bald  leiser,  der  Eindruck  einer  das  Ganze  erfüllenden  Bewegung 
lebendig  wird.  Schon  die  Stube  in  Dürers*  Hieronymus-Stich  sieht  male- 
risch aus,  vergleicht  man  aber  damit  jene  Hütten  und  Höhlen,  in  denen  die 
Bauernfamilien  des  Ostade*  nisten,  so  ist  der  malerisch-dekorative  Gehalt  hier 
so  viel  größer,  daß  man  das  Wort  erst  für  diese  Fälle  aufgespart  wissen 
möchte. 

Fülle  in  Linien  und  Massen  wird  schon  immer  zu  einer  gewissen  Be- 
wegungsillusion führen,  vorzüglich  sind  es  aber  die  reichen  Gruppierungen, 
die  malerische  Bilder  liefern.     Was  ist  es,  was  den  Reiz  eines  malerischen 

27 


KUNSTGESCHICHTLICHE    GRUNDBEGRIFFE 

Winkels  in  einem  alten  Städtchen  ausmacht?  Neben  den  bewegten  Achsen- 
stellungen spricht  hier  offenbar  sehr  stark  das  Motiv  der  Deckung  und 
Überschneidung  mit.  Das  heißt  nicht  nur,  daß  ein  Geheimnis  zu  erraten 
bleibt,  sondern  daß  bei  der  Verflechtung  der  Formen  eine  Gesamtfigur  ent- 
steht, die  etwas  anderes  ist  als  die  bloße  Summe  der  Teile.  Der  malerische 
Wert  dieser  neuen  Figur  wird  um  so  höher  anzuschlagen  sein,  je  mehr  sie 
der  bekannten  Form  der  Dinge  gegenüber  etwas  Überraschendes  enthält. 
Jedermann  weiß,  daß  unter  den  möglichen  Ansichten  eines  Gebäudes  die 
frontale  am  wenigsten  malerisch  ist :  hier  deckt  sich  Sache  und  Erschei- 
nung vollständig.  Sobald  aber  die  Verkürzung  eintritt,  scheidet  sich  die 
Erscheinung  von  der  Sache,  die  Bildform  wird  eine  andere  als  die  Gegen- 
standsform und  man  spricht  von  einem  malerischen  Bewegungsreiz.  Gewiß 
spielt  bei  einer  solchen  Verkürzung  der  Tiefenzug  eine  wesentliche  Rolle 
im  Eindruck :  das  Gebäude  geht  in  die  Tiefe  hinein.  Der  optische  Tat- 
bestand ist  aber  der,  daß  hier  die  gegenständliche  Klarheit  hinter  einer  Er- 
scheinung zurücktritt,  in  der  Umriß  und  Flächen  sich  der  reinen  Sachform 
entfremdet  haben.  Sie  ist  nicht  unerkennbar  geworden,  allein  ein  Rechteck 
ist  nicht  mehr  ein  Rechteck  und  die  parallel  laufenden  Linien  haben  ihre 
Parallelität  verloren.  Indem  nun  alles  sich  verschiebt,  Silhouette  und  Bin- 
nenzeichnung, entwickelt  sich  ein  ganz  selbständiges  Spiel  der  Formen,  das 
man  um  so  mehr  genießt,  je  mehr  die  Grund-  und  Ausgangsform  bei  allem 
Wechsel  der  Erscheinung  doch  noch  durchschlägt.  Nie  kann  eine  male- 
rische Silhouette  mit  der  Gegenstandsform  sich  decken. 

Natürlich  werden  bewegte  Architekturformen  von  Haus  aus  einen  Vor- 
sprung in  der  malerischen  Wirkung  vor  ruhigen  Formen  haben.  Handelt 
es  sich  um  eigentliche  Bewegung,  so  stellt  sich  die  Wirkung  noch  leichter  ein. 
Es  gibt  nichts  Malerischeres  als  die  bewegte  Menge  eines  Marktes,  wo  nicht 
nur  durch  die  Fülle  und  das  Ineinander  von  Menschen  und  Dingen  die  Auf- 
merksamkeit vom  Einzel-Gegenständlichen  abgezogen  wird,  sondern  wo  an 
den  Beschauer,  eben  weil  es  sich  um  ein  Bewegtes  handelt,  die  Aufforderung 
ergeht,  sich  ohne  plastische  Einzelkontrolle  dem  bloßen  Augeneindruck  zu 
überlassen.  Nicht  alle  folgen  dieser  Aufforderung  und  wer  es  tut,  kann  es 
in  verschiedenem  Grade  tun,  das  heißt,  die  malerische  Schönheit  der  Szene 
kann  auf  mehr  als  eine  Weise  verstanden  werden.  Selbst  bei  einer  rein 
linearen  Darstellung  aber  —  und  das  ist  das  Entscheidende  —  bliebe  eine 
gewisse  dekorativ-malerische  Wirkung  immer  übrig. 

Endlich  wird  in  diesem  Zusammenhang  das  Motiv  der  malerischen  Be- 

28 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

leuchtungen  nicht  übergangen  werden  dürfen.  Auch  hier  handelt  es  sich 
um  objektive  Tatbestände,  denen  man,  abgesehen  von  der  besonderen  Art 
der  Auffassung,  einen  malerisch-dekorativen  Charakter  zuspricht.  Es  sind 
für  das  gewöhnliche  Gefühl  vor  allem  die  Fälle,  wo  das  Licht  oder  der 
Schatten  über  die  Form  weggeht,  das  heißt,  im  Widerspruch  zur  Sachklar- 
heit steht.  Wir  brachten  bereits  das  Beispiel  eines  malerisch  beleuchteten 
Kirchenraumes.  Wenn  hier  der  einfallende  Sonnenstrahl  die  Dunkelheit 
durchbricht  und  scheinbar  willkürlich  seine  Figuren  auf  Pfeiler  und  Boden 
zeichnet,  so  ist  das  so  recht  ein  Schauspiel,  bei  dem  der  volkstümliche  Ge- 
schmack befriedigt  sagt:  „wie  malerisch!"  Aber  es  gibt  Situationen,  in 
denen  das  Huschen  und  Weben  des  Lichtes  im  Raum  ebenso  eindrücklich 
wirkt,  ohne  daß  der  Widerspruch  zwischen  Form  und  Beleuchtung  so  grell 
sichtbar  wird.  Schon  die  malerische  Dämmerstunde  ist  ein  solcher  Fall. 
Hier  ist  das  Gegenständliche  auf  andere  Art  überwunden:  die  Formen  lösen 
sich  auf  in  der  lichtschwachen  Atmosphäre  und  statt  einer  Anzahl  von  iso- 
lierten Körpern  sieht  man  unbestimmte  hellere  und  dunklere  Massen,  die  zu 
einer  gemeinsamen  Tonbewegung  zusammenfließen. 

Die  Beispiele  für  derartig  objektiv-malerische  Tatbestände  bieten  sich 
jedem  in  Menge.  Lassen  wir  es  bei  diesen  Stichproben  bewenden.  Sie  sind 
offenbar  nicht  alle  von  gleichem  Kaliber:  es  gibt  gröbere  und  feinere  male- 
rische Bewegungsreize,  je  nachdem  das  Plastisch-Gegenständliche  mehr 
oder  weniger  am  Eindruck  beteiligt  ist.  Alle  miteinander  haben  sie  die 
Eigenschaft,  daß  sie  sich  leicht  einer  malerischen  Behandlung  anbieten, 
aber  sie  sind  nicht  unbedingt  darauf  angewiesen.  Auch  wo  wir  ihnen  im 
linearen  Stil  begegnen,  ergibt  sich  ein  Eindruck,  der  nicht  gut  anders  als 
mit  dem  Begriff  malerisch  bezeichnet  werden  kann,  wie  man  das  etwa  beim 
Hieronymus-Stich  Dürers*  feststellen  kann. 

Die  eigentlich  interessante  Frage  ist  nun  diese:  Wie  verhält  sich  ge- 
schichtlich der  malerische  Darstellungsstil  zu  diesem  Malerischen  des 
Motivs? 

Klar  ist  zunächst  soviel,  daß  der  Sprachgebrauch  jedes  Formganze  als 
malerisch  bezeichnet,  das,  auch  wenn  es  ein  Ruhendes  ist,  einen  Bewegungs- 
eindruck auslöst.  Der  Bewegungsbegriff  gehört  aber  auch  zum  Wesen  des 
malerischen  Sehens:  das  malerische  Auge  faßt  alles  als  ein  Vibrierendes 
auf  und  läßt  nichts  in  bestimmten  Linien  und  Flächen  sich  verfestigen.  In- 
sofern liegt  eine  grundsätzliche  Verwandtschaft  vor.  Jeder  Blick  auf  die 
Kunstgeschichte   zeigt   aber,   daß   die   Blüte   malerischer   Darstellung   nicht 

29 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

zusammenfällt  mit  der  Ausbildung  der  gemeinhin  als  malerisch  empfunde- 
nen Motive.  Ein  feiner  Architekturmaler  braucht  keine  malerischen  Ge- 
bäulichkeiten,  um  ein  malerisches  Bild  zu  machen.  Die  steifen  Kostüme 
der  Prinzessinnen,  die  Velasquez  hat  malen  müssen,  mit  ihren  linearen 
Musterungen,  sind  ganz  und  gar  nicht  das,  was  man  im  populären  Sinne 
malerisch  nennt,  aber  Velasquez  hat  sie  so  malerisch  gesehen,  daß  sie  die 
zerlumpten  Bettler  des  jungen  Rembrandt  übertreffen,  obwohl  Rembrandt, 
wie  es  zunächst  scheint,  die  größere  Gunst  des  Stoffes  für  sich  hatte. 

Gerade  das  Beispiel  Rembrandts  zeigt,  daß  der  Fortschritt  in  der  male- 
rischen Auffassung  mit  immer  größerer  Einfachheit  zusammengehen  kann. 
Einfachheit  aber  heißt  hier  Abkehr  von  dem  populären  Ideal  des  Motivisch- 
Malerischen.  Als  er  jung  war,  ja,  damals  meinte  er,  im  zerlumpten  Bett- 
lermantel da  liege  die  Schönheit.  Und  unter  den  Köpfen  gefielen  ihm  am 
besten  die  viel  durchfurchten  Greisenköpfe.  Er  bringt  ruinöses  Gemäuer, 
gewundene  Treppen,  Schrägansichten,  gewaltsame  Beleuchtungen,  das  Ge- 
wimmel des  Vielen  usw.,  später  verliert  sich  das  Pittoreske  —  ich  gebrauche 
absichtlich  das  Fremdwort  zur  Unterscheidung  —  und  in  gleichem  Maße 
nimmt  das  Eigentlich-Malerische  zu. 

Dürfen  wir  demnach  ein  Imitativ-Malerisches  unterscheiden  von  einem 
Dekorativ-Malerischen?  Ja  und  nein.  Es  gibt  offenbar  ein  Malerisches  von 
mehr  gegenständlich-objektivem  Charakter  und  es  ist  zunächst  nichts  dagegen 
einzuwenden,  wenn  man  dieses  als  das  Dekorativ-Malerische  bezeichnet. 
Allein  es  hört  nicht  auf,  wo  das  Gegenständliche  aufhört.  Auch  der  späte 
Rembrandt,  dem  die  pittoresken  Dinge  und  das  pittoreske  Arrangement 
gleichgültig  geworden  sind,  bleibt  malerisch-dekorativ.  Nur  sind  es  eben 
nicht  mehr  die  einzelnen  Körper  im  Bilde,  die  die  malerische  Bewegung 
tragen,  sondern  sie  liegt  nur  wie  ein  Hauch  über  dem  beruhigten  Bilde. 

Das  was  man  gemeinhin  als  malerisches  Motiv  bezeichnet,  ist  mehr  oder 
weniger  nur  eine  Vorstufe  zu  den  höheren  Formen  des  malerischen  Ge- 
schmackes, historisch  von  größter  Wichtigkeit,  denn  gerade  an  diesen 
mehr  äußerlichen,  gegenständlich-malerischen  Effekten  scheint  sich  das  Ge- 
fühl für  eine  allgemein  malerische  Auffassung  der  Welt  großgezogen  zu 
haben. 

Wie  es  aber  eine  Schönheit  des  Malerischen  gibt,  so  gibt  es  natürlich  auch 
eine  Schönheit  des  Nicht-Malerischen.  Es  fehlt  uns  nur  das  besondere  Wort 
dafür.  Lineare  Schönheit,  plastische  Schönheit  sind  keine  schlagenden  Be- 
zeichnungen.    Innerhalb  unserer  Darlegung  hier  aber  ist  es  ein   Satz,  auf 

30 


I.  DAS  LINEARE  UND   DAS  MALERISCHE 

den  wir  von  allen  Seiten  zurückkommen  werden,  daß  alle  Wandlungen  des 
Darstellungsstils  begleitet  sind  von  Wandlungen  der  dekorativen  Empfin- 
dung. Linearer  Stil  und  malerischer  Stil  sind  nicht  nur  Probleme  der  Imi- 
tation, sondern  auch  der  Dekoration. 

3- 

Der  große  Gegensatz  des  linearen  und  des  malerischen  Stils  entspricht  Synthese 
einem  grundsätzlich  verschiedenen  Interesse  an  der  Welt.  Dort  ist  es  die 
feste  Gestalt,  hier  die  wechselnde  Erscheinung;  dort  ist  es  die  bleibende 
Form,  meßbar,  begrenzt,  hier  die  Bewegung,  die  Form  in  Funktion;  dort 
die  Dinge  für  sich,  hier  die  Dinge  in  ihrem  Zusammenhang.  Und  wenn 
man  sagen  kann,  dort  habe  sich  die  Hand  die  Körperwelt  wesentlich  nach 
ihrem  plastischen  Gehalt  ertastet,  so  ist  jetzt  das  Auge  für  den  Reichtum 
verschiedenartigster  Stofflichkeit  empfindlich  geworden  und  es  ist  kein 
Widerspruch,  wenn  auch  hier  noch  die  optische  Empfindung  durch  das 
Tastgefühl  genährt  erscheint,  jenes  andere  Tastgefühl,  das  die  Art  der 
Oberfläche,  die  verschiedene  Haut  der  Dinge  kostet.  Über  das  Greifbar- 
Gegenständliche  dringt  aber  jetzt  die  Empfindung  auch  in  das  Reich  des 
Ungreifbaren:  erst  der  malerische  Stil  kennt  eine  Schönheit  des  Körper- 
losen. Aus  dem  verschieden  orientierten  Interesse  an  der  Welt  entspringt 
jedesmal  eine  andere  Schönheit. 

Es  ist  wahr,  erst  der  malerische  Stil  gibt  die  Welt  als  eine  wirklich  ge- 
sehene und  man  hat  ihn  deswegen  als  Illusionismus  bezeichnet.  Allein  man 
darf  nicht  glauben,  daß  erst  diese  spätere  Kunststufe  sich  mit  der  Natur 
zu  vergleichen  gewagt  habe  und  daß  der  lineare  Stil  nur  eine  vorläufige  An- 
weisung auf  das  Wirkliche  gewesen  sei.  Auch  die  lineare  Kunst  ist  eine 
absolute  gewesen  und  ist  keiner  Steigerung  nach  Seite  der  Illusion  bedürf- 
tig erschienen.  Für  Dürer  war  die  Malerei,  wie  er  sie  verstand,  ein  voll- 
kommener „Augenbetrug"  und  Raffael  würde  angesichts  des  Papstbild- 
nisses von  Velasquez  sich  nicht  für  überwunden  erklärt  haben:  seine  Bil- 
der sind  eben  nur  auf  ganz  anderen  Grundlagen  aufgebaut.  Die  Verschie- 
denheit dieser  Grundlagen  aber,  ich  wiederhole  es,  ist  nicht  nur  imitativer, 
sondern  auch,  und  ganz  wesentlich,  dekorativer  Art.  Nicht  so  hat  sich  die 
Entwicklung  vollzogen,  daß  man  immer  das  gleiche  Ziel  vor  Augen  gehabt 
hätte  und  daß  sich  in  der  Bemühung  um  den  „wahren"  Ausdruck  des  Wirk- 
lichen die  Manier  allmählich  gewandelt  hätte.  Das  Malerische  ist  nicht  eine 
höhere  Stufe  in  der  Lösung  der  einen  Aufgabe  der  Naturnachahmung,  son- 

3i 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

dem  eine  generell  andere  Lösung.  Erst  wo  das  dekorative  Gefühl  ein 
anderes  geworden  ist,  hat  man  eine  Wandlung  in  der  Art  der  Darstellung 
zu  erwarten.  Nicht  aus  dem  kühlen  Entschluß  heraus,  im  Interesse  der 
Wahrhaftigkeit  oder  der  Vollständigkeit  die  Dinge  auch  einmal  von  einer 
anderen  Seite  her  aufzufassen,  bemüht  man  sich  um  die  malerische  Schön- 
heit der  Welt,  sondern  getroffen  von  dem  Reiz  des  Malerischen.  Daß  man 
lernte,  das  zarte  malerische  Scheinbild  von  der  tastbaren  Sichtbarkeit  abzu- 
lösen, ist  nicht  ein  Fortschritt,  der  einer  konsequenteren  naturalistischen  Ge- 
sinnung verdankt  werden  muß,  sondern  ist  bedingt  durch  das  Erwachen 
eines  neuen  Schönheitsgefühls,  des  Gefühls  für  die  Schönheit  jener  ge- 
heimnisvoll das  Ganze  durchzitternden  Bewegung,  die  für  die  neue  Gene- 
ration zugleich  das  Leben  war.  Alle  Prozeduren  des  malerischen  Stils  sind 
nur  Mittel  zum  Zweck.  Auch  das  einheitliche  Sehen  ist  nicht  eine  Errungen- 
schaft von  selbständigem  Wert,  sondern  ist  ein  Verfahren,  das  mit  dem 
einen  Ideal  entstand  und  mit  ihm  auch  wieder  gefallen  ist. 

Von  hier  aus  versteht  man  auch,  daß  es  den  wesentlichen  Punkt  nicht 
trifft,  wenn  etwa  jemand  einwirft:  jene  formentfremdeten  Zeichen,  deren 
sich  der  malerische  Stil  bediene,  bedeuteten  nichts  Besonderes,  denn  in 
der  Anschauung  von  weitem  einigten  sich  die  unzusammenhängenden 
Flecken  doch  wieder  zur  geschlossenen  Form,  und  die  eckig  gebrochenen 
Linien  beruhigten  sich  zur  Kurve,  so  daß  der  Eindruck  schließlich  der 
gleiche  sei,  wie  in  der  älteren  Kunst,  nur  eben  auf  anderen  Wegen  gewon- 
nen und  darum  intensiver  wirkend.  So  liegt  die  Sache  in  der  Tat  nicht.  Es 
kommt  nicht  nur  ein  Kopf  von  stärkerer  Illusionskraft  heraus  im  Bildnis  des 
17.  Jahrhunderts:  was  Rembrandt  von  Dürer  wesentlich  unterscheidet,  ist 
das  Vibrieren  des  Bildes  im  ganzen,  das  sich  auch  dann  behauptet,  wenn 
die  Formzeichen  dem  Auge  nicht  mehr  im  einzelnen  erkennbar  sein  sollten. 
Gewiß  unterstützt  es  die  illusionäre  Wirkung  mächtig,  daß  dem  Betrachter 
eine  selbständige  Arbeit  im  Zusammenbauen  des  Bildes  zugewiesen  ist, 
daß  die  einzelnen  Pinselstriche  bis  zu  einem  gewissen  Grad  erst  im  Akt  der 
Anschauung  zusammenschmelzen.  Allein  das  Bild,  das  entsteht,  ist  grund- 
sätzlich nicht  mehr  vergleichbar  dem  Bild  des  linearen  Stils:  die  Erschei- 
nung bleibt  eine  schwebende  und  soll  sich  nicht  in  jene  Linien  und  Flächen 
verfestigen,  die  für  den  Tastsinn  eine  Bedeutung  haben. 

Ja  man  kann  mehr  sagen,  die  formentfremdete  Zeichnung  braucht  gar 
nicht  zu  verschwinden.  Die  malerische  Malerei  ist  nicht  ein  Fernstil  in 
dem   Sinne,   daß   die   Faktur   unsichtbar   werden   soll.     Man   hat   das   Beste 

32 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 

nicht  gesehen,  wenn  bei  Velasquez  oder  Frans  Hals  der  Pinselstrich  verloren 
gegangen  ist.  Und  ganz  klar  liegt  das  Verhältnis  bei  der  bloßen  Zeichnung 
vor  Augen.  Kein  Mensch  denkt  daran,  eine  Rembrandtsche  Radierung  so 
weit  von  sich  wegzuhalten,  bis  er  die  einzelnen  Linien  nicht  mehr  sieht. 
Allerdings,  es  ist  nicht  mehr  die  schönlinige  Zeichnung  des  klassischen 
Kupferstichs^  aber  das  heißt  durchaus  nicht,  daß  die  Linien  nun  plötzlich 
nichts  mehr  zu  bedeuten  hätten;  im  Gegenteil,  man  soll  sie  sehen,  diese 
neuen,  wüsten  Linien,  gebrochen  und  zerstreut,  vervielfacht,  wie  sie  sind. 
Die  beabsichtigte  Formwirkung  wird  dennoch  sich  einstellen. 

Ein  Letztes.  Da  auch  die  vollkommenste  Nachbildung  der  natürlichen 
Erscheinung  immer  noch  unendlich  verschieden  bleibt  von  der  Wirklich- 
keit, kann  es  keine  grundsätzliche  Minderwertigkeit  bedeuten,  wenn  der 
Linearismus  mehr  das  Tastbild  als  das  Sehbild  gestaltet.  Die  rein  optische 
Auffassung  der  Welt  ist  eine  Möglichkeit,  aber  nicht  mehr.  Daneben 
wird  sich  immer  wieder  das  Bedürfnis  nach  einer  Kunst  melden,  die  nicht 
den  bloßen  bewegten  Schein  der  Welt  auffängt,  sondern  den  Tasterfahrungen 
über  das  Sein  gerecht  zu  werden  versucht.  Jeder  Unterricht  wird  gut  daran 
tun,  die  Darstellung  nach  beiden  Seiten  hin  zu  üben. 

Gewiß,  es  gibt  Sachen  in  der  Natur,  die  dem  malerischen  Stil  mehr  ent- 
gegenkommen als  dem  zeichnerischen:  aber  es  ist  ein  Vorurteil,  zu  glauben, 
daß  die  ältere  Kunst  sich  deswegen  beengt  habe  fühlen  müssen.  Sie  hat 
alles  darstellen  können,  was  sie  darstellen  wollte,  und  man  bekommt  erst 
die  rechte  Vorstellung  von  ihrer  Gewalt,  wenn  man  sich  erinnert,  wie  sie 
schließlich  auch  für  ganz  unplastische  Dinge  einen  linearen  Ausdruck  ge- 
funden hat:  für  Gebüsch  und  Haar,  für  Wasser  und  Wolken,  für  Rauch 
und  Feuererscheinungen.  Ja,  hat  die  Behauptung  überhaupt  recht,  daß  die- 
sen Dingen  mit  der  Linie  schwerer  beizukommen  sei  als  den  plastischen 
Körpern?  Wie  man  in  das  Geläute  der  Glocken  alle  möglichen  Worte  hin- 
einhören kann,  so  kann  man  sich  das  Sichtbare  auf  sehr  verschiedene  Weise 
und  Art  zurechtlegen  und  niemand  darf  sagen,  die  eine  sei  wahrer  als  die 
andere. 

4- 

Wenn  irgend  eine  kunstgeschichtliche  Tatsache  populär  geworden  ist,  so    Historisches 

ist   es  die   von  dem  zeichnerischen   Wesen   des   Primitiven   und   daß   dann  und  Natlo_ 

nales 
Licht  und  Schatten  dazugetreten  seien,  um  schließlich  die  Führung  zu  über- 
nehmen, das  heißt,  die  Kunst  dem  malerischen  Stil  auszuliefern.     Man  sagt 

3  H.W.,  G.  2.  A.  33 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

also  niemandem  etwas  Neues,  wenn  man  das  Lineare  voranstellt.  Allein 
indem  wir  uns  nun  anschicken,  die  typischen  Beispiele  von  Linearismus 
vorzuführen,  müssen  wir  sagen,  daß  diese  nicht  bei  den  Primitiven  des 
15.  Jahrhunderts  zu  finden  sind,  sondern  erst  bei  den  Klassikern  des  16. 
Lionardo  ist  in  unserm  Sinne  linearer  als  Botticelli  und  Holbein  der  Jün- 
gere linearer  als  sein  Vater.  Der  Linientyp  hat  die  moderne  Entwicklung 
nicht  eröffnet,  sondern  hat  sich  aus  einer  noch  unreinen  Stilgattung  erst 
allmählich  herausgearbeitet.  Daß  Licht  und  Schatten  als  bedeutender  Faktor 
auftritt  im  16.  Jahrhundert,  ändert  nichts  an  dem  Prinzipat  der  Linie.  Sicher, 
auch  die  Primitiven  sind  zeichnerisch,  aber  ich  würde  sagen:  sie  haben  die 
Linie  wohl  benützt,  aber  nicht  ausgenützt.  Es  ist  etwas  anderes,  an  ein 
linienhaftes  Sehen  gebunden  sein  und  bewußt  auf  Linie  hin  arbeiten.  Die 
vollkommene  Freiheit  der  Linie  gegenüber  kommt  genau  in  dem  Augen- 
blick, wo  das  Gegenelement,  Licht  und  Schatten,  zur  Reife  gekommen  ist. 
Nicht  daß  überhaupt  Linien  da  sind,  entscheidet  über  den  linearen  Stil- 
charakter, sondern  —  wie  schon  gesagt  —  erst  der  Nachdruck,  mit  dem  sie 
sprechen,  die  Macht,  mit  der  sie  das  Auge  zwingen,  ihnen  zu  folgen.  Der 
Kontur  der  klassischen  Zeichnung  übt  eine  unbedingte  Gewalt  aus:  er  hat 
den  Sachakzent  und  ist  der  Träger  der  dekorativen  Erscheinung.  Er  ist  ge- 
laden mit  Ausdruck  und  in  ihm  ruht  alle  Schönheit.  Wo  immer  uns  Bilder 
des  16.  Jahrhunderts  begegnen,  da  springt  uns  ein  entschiedenes  Linien- 
thema entgegen  und  Schönheit  und  Ausdruck  der  Linie  sind  eins.  In  dem 
Gesang  der  Linie  offenbart  sich  die  Wahrheit  der  Form.  Es  ist  die  große 
Leistung  der  Cinquecentisten,  die  Sichtbarkeit  ganz  konsequent  der  Linie 
unterworfen  zu  haben.  Verglichen  mit  der  Zeichnung  der  Klassiker  ist  der 
Linearismus  der  Primitiven  nur  eine  Halbheit1). 

In  diesem  Sinne  haben  wir  gleich  anfangs  Dürer  als  den  einen  Ausgangs- 
punkt genommen.  —  Was  den  Begriff  malerisch  anbelangt,  so  wird  zwar 
niemand  widersprechen,  wenn  man  ihn  mit  Rembrandt  zusammenbringt,  allein 
die  Kunstgeschichte  braucht  ihn  schon  viel  früher,  ja,  er  hat  sich  ein- 
genistet in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Klassiker  der  Linienkunst.  Man 
nennt  Grünewald  malerisch  im  Vergleich  zu  Dürer,  unter  den  Florentinern 
ist  Andrea  del  Sarto  der  erklärte  „Maler",  die  Venezianer  insgesamt  sind 

')  Dabei  muß  man  sich  klar  machen,  daß  das  Quattrocento  als  Stilbegriff  keine  Einheit 
bildet.  Der  Prozeß  der  Linearisierung,  der  im  16.  Jahrhundert  mündet,  beginnt  erst 
um  die  Mitte  des  Jahrhunderts.  Die  erste  Hälfte  ist  weniger  linienempfindlich  oder, 
wenn  man  will,  malerischer  als  die  zweite.  Erst  nach  1450  wird  das  Gefühl  für  Silhouette 
lebendiger.    Im  Süden  natürlich  früher  und  durchgreifender  als  im  Norden. 

34 


I.   DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

die  malerische  Schule  gegenüber  den  Florentinern  und  vollends  den  Cor- 
reggio  wird  man  nicht  anders  als  mit  den  Bestimmungen  des  malerischen 
Stils  charakterisieren  wollen. 

Hier  rächt  sich  die  Armut  der  Sprache.  Man  müßte  tausend  Worte 
haben,  um  alle  Übergänge  bezeichnen  zu  können.  Immer  handelt  es  sich 
um  relative  Urteile:  verglichen  mit  jenem  Stil  kann  man  diesen  malerisch 
nennen.  Grünewald  ist  freilich  malerischer  als  Dürer,  aber  neben  Rem- 
brandt  kennzeichnet  er  sich  doch  gleich  als  Cinquecentisten,  das  heißt,  als 
Mann  der  Silhouette.  Und  wenn  man  dem  Andrea  del  Sarto  ein  spezifisch 
malerisches  Talent  zuschreibt,  so  ist  zwar  zuzugeben,  daß  er  den  Umriß 
mehr  dämpft  als  die  andern  und  daß  es  in  seinen  Gewandflächen  hie  und  da 
schon  ganz  eigentümlich  zuckt,  und  doch  hält  auch  er  sich  immer  noch 
innerhalb  einer  wesentlich  plastischen  Empfindung  und  es  wäre  gut,  wenn 
man  den  Begriff  malerisch  noch  etwas  zurückbehalten  könnte.  Auch  die 
Venezianer  dürfen,  wenn  man  einmal  unsere  Begriffe  anwenden  will,  von 
dem  Linearismus  nicht  ausgenommen  werden.  Giorgiones  ruhende  Venus 
ist  ein  Kunstwerk  der  Linie  so  gut  wie  Raffaels  Sixtinische  Madonna. 

Am  weitesten  von  allen  seinen  Volksgenossen  hat  sich  Correggio  von 
der  herrschenden  Meinung  freigemacht.  Bei  ihm  merkt  man  deutlich,  wie 
er  die  Linie  als  führendes  Element  zu  überwinden  versucht.  Es  sind  zwar 
immer  noch  Linien,  lange,  durchlaufende  Linien,  mit  denen  er  arbeitet, 
allein  er  kompliziert  ihren  Gang  meist  derart,  daß  es  dem  Auge  schwer 
wird,  ihnen  zu  folgen,  und  in  die  Schatten  und  Lichter  kommt  jenes  Lecken 
und  Züngeln,  als  ob  sie  eigenmächtig  einander  entgegenstrebten  und  sich 
von  der  Form  freimachen  wollten. 

Der  italienische  Barock  hat  an  Correggio  anknüpfen  können.  Wichtiger 
für  die  europäische  Malerei  aber  ist  die  Entwicklung  geworden,  die  der 
spätere  Tizian  und  Tintoretto  genommen  haben.  Hier  sind  die  entschei- 
denden Schritte  gemacht  worden,  die  zur  Darstellung  des  Scheins  hin- 
überführten, und  ein  Sprößling  dieser  Schule,  Greco,  hat  dann  auch  als- 
bald Konsequenzen  daraus  gezogen,  die  in  ihrer  Art  nicht  mehr  zu  über- 
bieten waren. 

Wir  geben  hier  nicht  die  Geschichte  des  malerischen  Stils,  sondern  be- 
mühen uns  um  den  allgemeinen  Begriff.  Man  weiß,  daß  die  Bewegung  nach 
dem  Ziel  keine  gleichmäßige  ist  und  daß  auf  einzelne  Vorstöße  immer  auch 
wieder  Rückschläge  erfolgen.  Es  dauert  lange,  bis  das,  was  einzelne  er- 
reicht haben,  der  Allgemeinheit  zugute  kommt  und  hie  und  da  scheint  die 

3*  35 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


Entwicklung  überhaupt  rückläufig  zu 
werden.  Im  allgemeinen  aber  handelt  es 
sich  um  einen  einheitlichen  Prozeß,  der 
bis  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
andauert  und  der  in  den  Bildern  eines 
Guardi  oder  Goya  seine  letzten  Blüten 
treibt.  Dann  kommt  der  große  Abschnitt. 
Ein  Kapitel  abendländischer  Kunstge- 
schichte ist  zu  Ende  und  das  neue  wird 
wieder  eingeleitet  durch  die  Anerkennung 
der  Linie  als  Herrscherin. 

Der  Gang  der  Kunstgeschichte  ist,  von 
weitem  betrachtet,  ungefähr  gleich  im  Sü- 
den und  im  Norden.  Beide  haben  im  An- 
fang des  1 6.  Jahrhunderts  ihren  klassischen 
Linearismus  und  beide  erleben  im  17.  ein 
malerisches  Zeitalter.  Es  ist  möglich, 
Dürer  und  Raf fael,  Massys  und  Giorgione, 
Holbein  und  Michelangelo  im  Grundsätz- 
lichen als  sich  verwandt  zu  erweisen  und 
andrerseits  kreisen  Rembrandt,  Velasquez 
und  Bernini,  bei  aller  Verschiedenheit,  um 
ein  gemeinsames  Zentrum.  Sieht  man  genauer  zu,  so  spielen  freilich  von 
Anfang  an  sehr  bestimmte  Gegensätze  des  nationalen  Empfindens  mit.  Italien, 
das  schon  im  15.  Jahrhundert  eine  sehr  klar  ausgebildete  Linienempfindung 
besitzt,  ist  im  16.  recht  eigentlich  die  hohe  Schule  der  ,, reinen"  Linie  und 
in  der  (malerischen)  Zertrümmerung  der  Linie  ist  der  italienische  Barock 
später  nie  so  weit  gegangen  wie  der  Norden.  Für  das  plastische  Gefühl  der 
Italiener  ist  die  Linie  immer  mehr  oder  weniger  das  Element  gewesen,  in  dem 
sich  alle  künstlerische  Gestalt  formte. 

Daß  man  das  gleiche  von  der  Heimat  Dürers  nicht  sagen  kann,  ist 
vielleicht  auffällig,  da  wir  doch  gerade  in  der  festen  Zeichnung  die  eigentüm- 
liche Kraft  der  alten  deutschen  Kunst  zu  erkennen  gewöhnt  sind.  Allein 
die  klassische  deutsche  Zeichnung,  die  sich  nur  langsam  und  mühsam  spät- 
gotisch-malerischem Knäuelwerk  entwindet,  kann  wohl  auf  Augenblicke  an 
italienischem  Lineament  ihr  Muster  suchen,  im  Grunde  aber  ist  sie  der 
isolierten  reinen  Linie  abhold.     Die  deutsche  Phantasie  läßt  alsbald  Linie 


Dürer 


36 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

mit  Linie  sich  verflechten,  statt  der  klaren,  einfachen  Bahn  erscheint  der 
Linienbündel,  das  Liniengewebe;  Hell  und  Dunkel  treten  früh  zu  einem 
malerischen  Eigenleben  zusammen,  und  die  einzelne  Form  geht  unter  im 
Wogenschlag  der  Gesamtbewegung. 

Mit  andern  Worten:  Rembrandt,  den  die  Italiener  so  gar  nicht  verstehen 
konnten,  ist  im  Norden  frühe  vorbereitet.  Was  aber  hier  beispielsweise 
für  die  Geschichte  der  Malerei  vorgebracht  worden  ist,  gilt  natürlich  ebenso 
für  die  Geschichte  der  Plastik  oder  der  Architektur. 

Die  Zeichnung 

Um  den  Gegensatz  von  linearem  und  malerischem  Stil  anschaulich  zu 
machen,  wird  es  sich  empfehlen,  die  ersten  Beispiele  auf  dem  Felde  der 
reinen  Zeichnung  zu  suchen. 

Wir  stellen  zunächst  ein 
Blatt  Dürers*  mit  einemBlatt 
Rembrandts^zusammen.Der 
Gegenstand  beidemal  der- 
selbe: eine  weibliche  Akt- 
figur. Und  nun  möge  man 
einen  Augenblick  davon  ab- 
sehen, daß  wir  es  im  einen 
Fall  mit  einer  Naturstudie 
zu  tun  haben,  im  andern 
mit  einer  mehr  abgeleiteten 
Figur,  und  daß  Rembrandts 
Zeichnung  zwar  bildmäßig 
geschlossen,  aber  doch  rasch 
hingestrichen  ist,  während 
die  Arbeit  von  Dürer  sorg- 
fältig durchgeführt  ist  als 
die  Vorzeichnung  zu  einem 
Kupferstich,  auch  der  Unter- 
schied des  technischen  Ma- 
terials —  dort  Feder,  hier 
Kreide  —  ist  nur  etwas  Se- 
kundäres. WasdasAussehen 
dieser  Zeichnungen  so  ver-    Rembrandt 


37 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

schieden  gestaltet,  ist  vor  allem  dies :  daß  der  Eindruck  dort  auf  Tastwerte  und 
hier  auf  Sehwerte  abgestellt  ist.  Eine  Figur  als  Helligkeit  vor  dunklem  Grund, 
ist  die  erste  Empfindung  bei  Rembrandt;  in  der  älteren  Zeichnung  ist  die  Figur 
auch  auf  eine  schwarze  Folie  gebracht,  aber  nicht,  um  das  Licht  aus  dem 
Dunkel  hervorgehen  zu  lassen,  sondern  nur  um  die  Silhouette  noch  schärfer 
herauszuheben :  die  ringsum  laufende  Randlinie  hat  den  Hauptakzent.  Bei 
Rembrandt  hat  sie  ihre  Bedeutung  verloren,  sie  ist  nicht  mehr  der  wesent- 
liche Träger  des  Formausdrucks  und  es  liegt  keine  besondere  Schönheit 
in  ihr.  Wer  ihr  entlang  gehen  wollte,  würde  bald  merken,  daß  dies  kaum 
mehr  möglich  ist.  An  Stelle  der  zusammenhängenden  gleichmäßig  durch- 
laufenden Konturlinie  des  16.  Jahrhunderts  ist  die  gebrochene  Linie  des 
malerischen  Stils  getreten. 

Und  nun  werfe  man  ja  nicht  ein,  das  sei  eben  Skizzenmanier  und  das- 
selbe suchend-tastende  Verfahren  könne  man  zu  allen  Zeiten  finden.  Gewiß 
wird  die  Zeichnung,  die  rasch  nur  die  ungefähre  Figur  auf  das  Papier  setzt, 
auch  mit  unzusammenhängenden  Linien  arbeiten,  Rembrandts  Linie  bleibt 
aber  gebrochen  selbst  in  ganz  durchgeführten  Blättern.  Sie  soll  sich  nicht 
verfestigen  zum  tastbaren  Umriß,  sondern  immer  den  schwebenden  Charak- 
ter behalten. 

Analysiert  man  die  Striche  der  Modellierung,  so  bewährt  sich  das  ältere 
Blatt  auch  darin  als  ein  Produkt  der  reinen  Linienkunst,  daß  die  Schatten- 
lagen vollkommen  durchsichtig  gehalten  sind.  Linie  um  Linie  ist  gleich- 
mäßig klar  gezogen  und  jede  einzelne  scheint  zu  wissen,  daß  sie  eine  schöne 
Linie  ist  und  schön  mit  den  Gespielen  zusammengeht.  In  ihrer  Gestalt  aber 
schließen  sie  sich  der  Bewegung  der  plastischen  Form  an  und  nur  die  Li- 
nien der  Schlagschatten  gehen  über  die  Form  hinweg.  Für  den  Stil  des 
17.  Jahrhunderts  gelten  diese  Rücksichten  nicht  mehr.  Sehr  verschieden- 
artig, bald  mehr,  bald  weniger  erkennbar  nach  Führung  und  Schichtung, 
haben  die  Striche  jetzt  nur  das  eine  gemeinsam:  daß  sie  als  Masse  wirken 
und  daß  sie  bis  zu  einem  gewissen  Grad  im  Eindruck  des  Ganzen  unter- 
gehen. Nach  welcher  Regel  sie  gebildet  sind,  wäre  schwer  zu  sagen,  nur 
das  ist  klar:  Sie  folgen  nicht  mehr  der  Form,  das  heißt,  sie  wenden  sich 
nicht  an  das  plastische  Tastgefühl,  sondern  geben,  ohne  die  Wirkung  des 
Körperlichen  zu  schädigen,  mehr  die  rein  optische  Erscheinung.  Einzeln  ge- 
sehen, müßten  sie  uns  ganz  sinnlos  vorkommen,  für  den  summierenden  Blick 
aber,  wie  gesagt,  schießen  sie  zu  einer  eigentümlich  reichen  Wirkung  zu- 
sammen. 

38 


H.  Aldegrever  (Ausschnitt) 


Und  merkwürdig:  sogar  über  die  Art  der  Materie  weiß  diese  Zeichnungs- 
weise Mitteilung  zu  machen.  Je  mehr  sich  die  Aufmerksamkeit  von  der 
plastischen  Form  als  solcher  zurückzieht,  um  so  lebhafter  regt  sich  das 
Interesse  für  die  Oberfläche  der  Dinge:  wie  sich  die  Körper  anfühlen.  Das 
Fleisch  ist  bei  Rembrandt  deutlich  als  ein  weicher  Stoff  kenntlich  gemacht, 
dem  Druck  nachgebend,  während  die  Figur  Dürers  in  dieser  Hinsicht  neu- 
tral bleibt. 

Und  nun  mag  man  ruhig  eingestehen,  daß  Rembrandt  nicht  ohne  wei- 
teres mit  dem  17.  Jahrhundert  gleichgesetzt  werden  kann  und  daß  es  noch 
weniger  zulässig  wäre,  die  deutsche  Zeichnung  der  klassischen  Zeit  nach 
dem  einen  Muster  zu  beurteilen,  aber  gerade  durch  seine  Einseitigkeit  ist 
es  für  eine  Vergleichung  lehrreich,  die  den  Gegensatz  der  Begriffe  zunächst 
recht  grell  wirksam  machen  möchte. 

Was  der  Stilwandel  für  die  Formauffassung  im  einzelnen  bedeutet,  wird 
deutlicher  werden,  wenn  wir  vom  Thema  der  ganzen  Figur  zum  Thema 
eines  bloßen  Kopfes  übergehen. 

39 


Jan  Lievens  (Ausschnitt) 

Das  Besondere  einer  Dürerschen  Kopfzeichnung  hängt  durchaus  nicht 
nur  an  der  künstlerischen  Qualität  seiner  individuellen  Linie,  sondern  daß 
überhaupt  Linien  herausgearbeitet  worden  sind,  große,  gleichmäßig  füh- 
rende Linien,  in  denen  alles  steckt  und  die  man  bequem  fassen  kann,  diese 
Eigenschaft,  die  Dürer  mit  seinen  Zeitgenossen  gemein  hat,  ergibt  den  Kern 
des  Schauspiels.  Die  Primitiven  haben  die  Aufgabe  auch  zeichnerisch  be- 
handelt und  ein  Kopf  kann  in  der  allgemeinen  Anlage  sehr  ähnlich  sein,  aber 
die  Linien  kommen  nicht  heraus;  sie  haben  nicht  das  in  die  Augen  Sprin- 
gende der  klassischen  Zeichnung;  die  Form  ist  nicht  auf  die  Linie  hin  ge- 
preßt worden. 

Wir  nehmen  als  Beispiel  eine  Porträtzeichnung  Aldegrevers*,  die,  verwandt 
mit  Dürer,  noch  mehr  mit  Holbein,  die  Form  in  entschiedenen  und  sicher  füh- 
renden Umrissen  festlegt.  In  ununterbrochener,  rhythmischer  Bewegung,  als 
lange,  gleichmäßig  starke  Linie  fließt  der  Gesichtsumriß  von  der  Schläfe  zum 


40 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

Kinn;  Nase  und  Mund  und  die  Lidspalten  sind  ebenso  mit  einheitlich  durch- 
laufenden Linien  gezeichnet:  das  Barett  fügt  sich  als  reine  Silhouettenform 
dem  System  ein,  und  selbst  für  den  Bart  ist  ein  homogener  Ausdruck  ge- 
funden. l)  Die  gewischte  Modellierung  aber  schließt  sich  vollständig  der  tast- 
mäßig kontrollierbaren  Form  an. 

Den  vollkommensten  Gegensatz  dazu  bietet  dann  ein  Kopf  des  Lievens*, 
Rembrandts  Altersgenossen.  Aller  Ausdruck  ist  von  den  Rändern  zurück- 
gezogen und  sitzt  in  den  Binnenteilen  der  Form.  Zwei  dunkle,  lebhaft 
blickende  Augen,  ein  Zucken  der  Lippen,  da  und  dort  blitzt  die  Linie  auf. 
aber  gleich  verschwindet  sie  wieder.  Die  langen  Bahnen  des  linearen  Stils 
fehlen  völlig.  Einzelne  Linienfragmente  charakterisieren  die  Form  des  Mun- 
des, ein  paar  versprengte  Striche  die  Form  der  Augen  und  der  Brauen. 
Manchmal  setzt  die  Zeichnung  völlig  aus.  Die  modellierenden  Schatten  haben 
keine  objektive  Gültigkeit  mehr.  In  der  Behandlung  des  Konturs  von  Wange 
und  Kinn  aber  ist  alles  eetan.  um  zu  verhindern,  daß  die  Form  sich  silhouet- 
tiere,  das  heißt,  auf  Linien  hin  abgelesen  werden  könne. 

Weniger  auffällig  als  bei  dem  Beispiel  des  Rembrandtschen  Frauenaktes 
ist  doch  auch  hier  das  Visieren  auf  Lichtzusammenhänge  auf  das  Gegen- 
spiel heller  und  dunkler  Massen  entscheidend  für  den  Habitus  der  Zeichnung. 
Und  während  der  ältere  Stil  im  Interesse  der  Formenklarheit  die  Erschei- 
nung verfestigt,  verbindet  sich  mit  dem  malerischen  Stil  von  selber  der  Ein- 
druck der  Bewegung  und  er  folgt  seinem  innersten  Wesen,  wenn  er  die  Dar- 
stellung des  Sichverändernden  und  Vorübergehenden  zu  seinem  besonderen 
Problem  macht. 

Ein  weiterer  Fall:  das  Gewand.  Für  Dürer  war  der  Faltenwurf  eines  Stoffes 
ein  Schauspiel,  dem  mit  Linien  beizukommen  er  nicht  nur  für  möglich  hielt, 
sondern  das  ihm  in  linearer  Fassung  seinen  Sinn  erst  eigentlich  auszuspre- 
chen schien.  Unser  Auge  steht  auch  hier  zunächst  auf  entgegengesetzter 
Seite.  Was  sehen  wir  anderes  als  wechselnde  Helligkeiten  und  Dunkelheiten, 
in  denen  sich  eben  die  Modellierung  zu  erkennen  gibt?  Und  wenn  schon  einer 
mit  Linien  kommen  wollte,  so  könnte  damit,  scheint  es,  nur  etwa  der  Ver- 
lauf des  Randes  bezeichnet  werden.  Aber  auch  dieser  Rand  spielt  keine 
wesentliche  Rolle:  bald  mehr,  bald  weniger  wird  man  an  den  einzelnen 
Stellen  das  Aufhören  der  Fläche  als  etwas  Besonderes  wahrnehmen,  keines- 
falls das  Motiv  als  führendes  Motiv  empfinden.    Es  ist  offenbar  wieder  eine 


])  Gewisse  Unsauberkeiten  in  der  Reproduktion   kommen  von  einer    farbigen  Tönung 
des  Blattes  an  einzelnen  Stellen. 

41 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


grundsätzlich  andere  Anschauung,  wenn 
die  Zeichnung  dem  Verlauf  des  Randes 
für  sich  nachgeht  und  ihn  mit  gleich- 
mäßig durchgeführter  Linienmarkie- 
rung zur  Sichtbarkeit  zu  bringen  unter- 
nimmt. Und  nicht  nur  den  Rand  des 
Stoffes,  da  wo  er  zu  Ende  ist,  sondern 
ebenso  die  Binnenformen  der  Falten- 
gräben und  Faltenhügel.  Überall  klare, 
feste  Linien.  Licht  und  Schatten  aus- 
giebig verwendet,  aber  —  und  daran 
liegt  der  Unterschied  zum  malerischen 
Stil  durchaus  der  Botmäßigkeit  der 
Linie   unterstellt. 

Eine  malerische  Kostümierung  —  wir 
bringen   als    Beispiel    eine  Radierung 
van  Dycks*  —   wird    umgekehrt  das 
Element    der  Linie    zwar   nicht  ganz 
Van  Dyck  (Radierung)  ausschalten,  aber  ihm  nicht  die  Führung 

überlassen :  das  Auge  wird  grundsätzlich  zuerst  für  das  Leben  der  Fläche  inter- 
essiert. Man  kann  daher  mit  Umrissen  den  Inhalt  nicht  mehr  herausholen.  Und 
die  Hebungen  und  Senkungen  dieser  Flächen  gewinnen  sofort  eine  andere  Be- 
weglichkeit, sobald  die  Binnenzeichnung  sich  in  freien  Massen  von  Hell  und 
Dunkel  ergeht.  Man  merkt,  daß  die  geometrische  Figur  solcher  Schattenflecken 
nicht  streng  verbindlich  ist;  es  erzeugt  sich  die  Vorstellung  einer  Form,  die 
innerhalb  gewisser  Grenzen  veränderlich  bleibt  und  eben  damit  dem  bestän- 
digen Wechsel  der  Erscheinung  gerecht  wird.  Dazu  kommt,  daß  der  stoffliche 
Charakter  der  Materie  stärker  mitspricht  als  früher.  Dürer  hat  zwar  schon 
manche  Beobachtung  verwertet,  wie  man  die  Art  des  Sichanfühlens  geben 
könne,  doch  neigt  der  klassische  Zeichnungsstil  eher  zu  einer  neutralen 
Stoffar.gabe.  Für  das  17.  Jahrhundert  aber  ergibt  sich  mit  dem  Interesse 
für  das  Malerische  wie  selbstverständlich  auch  das  Interesse  für  die  Qualität 
der  Oberflächen.  Man  zeichnet  nichts,  ohne  Weichheit  und  Härte,  Rauhigkeit 
und  Glätte  mit  anzudeuten. 

Am  interessantesten  bewährt  sich  das  Prinzip  des  Linienstils  da,  wo  das 
Objekt  ihm  am  wenigsten  entgegenkommt,  ja  ihm  eigentlich  widerstrebt. 
Das  ist  der   Fall   beim   Baumschlag.      Man   kann  das   einzelne   Blatt   linear 


42 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 

fassen,  aber  die  Laubmasse,  das  Laubdickicht,  in  dem  die  Einzelform  als 
solche  unsichtbar  geworden  ist,  bietet  der  linearen  Auffassung  kaum  eine 
Grundlage.  Nichtsdestoweniger  ist  diese  Aufgabe  vom  16.  Jahrhundert 
nicht  als  unlösbar  empfunden  worden.  Man  findet  bei  Altdorfer,  Wolf 
Huber*  und  anderen  prachtvolle  Lösungen :  das  scheinbar  Unfaßbare  ist 
auf  eine  Linienform  gebracht,  die  sehr  energisch  spricht,  und  das  Charak- 
teristische des  Gewächses  vollkommen  wiedergibt.  Wer  solche  Zeichnungen 
kennt,  dem  wird  die  Wirklichkeit  sehr  oft  die  Erinnerung  daran  wecken 
und  sie  werden  ihr  Recht  behalten  neben  den  verblüffendsten  Leistungen  einer 
mehr  malerisch  orientierten  Technik.  Sie  repräsentieren  nicht  eine  unvoll- 
kommenere Stufe  der  Darstellung,  sondern  es  ist  nur  eben  die  Natur  von 
einer  andern  Seite  gesehen. 

Als  Vertreter  der  malerischen  Zeichnung  soll  Ruysdael*  dienen.  Hier  geht 
die  Absicht  nicht  mehr  darauf,  das  Phänomen  auf  ein  Schema  mit  klarem  ver- 
folgbarem Strich  zu  bringen,  hier  ist  das  Unbegrenzte  Trumpf  und  die  Linien- 
masse, die  es  ganz  unmöglich  macht,  die  Zeichnung  nach  ihren  einzelnen  Ele- 
menten zu  fassen.  Mit  einer  Strichführung,  die  mit  der  objektiven  Form  kaum 
mehr  einen  erkennbaren  Zusammenhang  bewahrt  und  nur  intuitiv  gewonnen 
sein  kann,  ist  die  Wirkung  erreicht,  daß  wir  das  bewegliche  Blattwerk  großer 
Bäume  von  einer  bestimmten  Dichtigkeit  vor  uns  zu  sehen  glauben.  Und 
es  ist  ganz  genau  gesagt,  daß  es  Eichen  sind.  Das  Unbeschreibliche  einer 
Formenunendlichkeit,  die  sich  jeder  Festlegung  zu  versagen  scheint,  ist 
hier  mit  malerischen  Mitteln  bewältigt. 

Wirft  man  den  Blick  endlich  auf  die  Zeichnung  eines  landschaftlichen 
Ganzen,  so  ist  das  Aussehen  eines  rein  linearen  Blattes,  das  die  Gegenstände 
auf  Weg  und  Steg,  in  Nähe  und  Ferne  mit  sauber  sonderndem  Umriß  gibt, 
leichter  zu  erraten  als  jene  Form  der  Landschaftszeichnung,  die  das  Prinzip 
der  malerischen  Verschmelzung  der  Einzeldinge  konsequent  durchführt. 
Es  gibt  solche  Blätter  z.  B.  von  van  Goyen.  Sie  sind  die  Äquivalente  seiner 
tonigen  und  fast  monochromen  Bilder.  Und  wie  die  dunstige  Verschleierung 
der  Dinge  und  ihrer  Lokalfarben  als  ein  malerisches  Motiv  im  ausgezeich- 
neten Sinne  gilt,  so  darf  eine  solche  Zeichnung  als  besonders  typisch  für 
malerischen  Stil  hier  angezogen  werden.   (Abb.  auf  S.  i,  datiert  1646.) 

Die  Schiffe  auf  dem  Wasser,  das  Ufer  mit  Bäumen  und  Häusern,  Figür- 
liches und  Nichtfigürliches  —  es  ist  alles  in  ein  nicht  leicht  zu  entwirrendes 
Liniengewebe  verflochten.  Nicht  daß  die  Formen  der  einzelnen  Gegenstände 
unterdrückt  wären  —  man  sieht  vollkommen,  was  man  zu  sehen  braucht  — , 

43 


Wolf  Huber 

allein  sie  greifen  in  der  Zeichnung  so  ineinander,  als  ob  alle  aus  demselben 
Elemente  wären  und  von  derselben  Bewegung  durchzittert  würden.  Es 
kommt  auch  gar  nicht  darauf  an,  daß  man  das  eine  oder  das  andere  Schiff 
sieht  und  wie  das  Haus  am  Ufer  beschaffen  ist :  das  malerische  Auge  ist 
auf  die  Wahrnehmung  der  Gesamterscheinung  eingestellt,  in  der  das  ein- 
zelne Objekt  als  Gegenstand  keine  wesentliche  Bedeutung  mehr  hat.  Es 
geht  unter  im  Ganzen  und  das  Vibrieren  aller  Linien  befördert  den  Prozeß 
der  Verflechtung  zu  einer  gleichartigen  Masse. 


44 


iäit 


. 


J.  Ruysdael  (Ausschnitt) 

Die  Malerei 
i. 
Im  Traktat  von  der  Malerei  warnt  Lionardo  die  Maler  zu  wiederholten   Malerei  und 
Malen,    die    Form    nicht   mit  Linien    zu    umreißen1)-     Das    klingt    wie    ein   Zeichnung 
Widerspruch  zu  allem,  was  bisher  über  Lionardo  und  das  16.  Jahrhundert 
behauptet  worden  ist.  Allein  der  Widerspruch  ist  nur  ein  scheinbarer.  Was 
Lionardo  meint,  ist  eine  Sache  der  Technik  und  es  ist  leicht  möglich,  daß 
sich  die  Bemerkung  auf  Botticelli  bezieht,  bei  dem  die  Manier  des  schwar- 
zen Konturierens  besonders  im  Schwange  war,  in  einem  höheren  Sinn  aber 
ist  Lionardo  viel  linearer  als  Botticelli,  trotzdem  er  weicher  modelliert  und 
das  harte  Aufsitzen  der  Figuren  auf  dem  Grunde  überwunden  hat.     Ent- 
scheidend ist  eben  die  neue  Gewalt,  mit  der  der  Umriß  aus  dem  Bilde  spricht 


J)  Vgl.  Lionardo,  Buch  von  der  Malerei,  ed.  Ludwig  140  (116). 


45 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

und  den  Beschauer  zwingt,  ihm 
zu  folgen. 

Indem  wir  somit  zur  Analyse 
von  Bildern  übergehen,  emp- 
fiehlt es  sich,  den  Zusammen- 
hang von  Malerei  und  Zeich- 
nung nicht  aus  dem  Auge  zu 
verlieren.  Wir  sind  so  sehr  ge- 
wöhnt, alles  nach  der  maleri- 
schen Seite  hin  zu  sehen,  daß 
wir  auch  Kunstwerken  der  Li- 
nie gegenüber  die  Form  gern 
etwas  laxer  auffassen  als  sie 
gedacht  ist,  und  wo  gar  bloße 
Photographien  zur  Verfügung 
stehen,  ist  der  malerischen  Ver- 
wischung noch  weiterer  Vor- 
Frans  Hals  schub  geleistet,  von  den  klei- 

nen Zinkklischees  unserer  Bücher  (Reproduktionen  nach  Reproduktionen)  nicht 
zu  reden.  Es  gehört  Übung  dazu,  Bilder  so  linear  zu  sehen,  wie  sie  gesehen 
werden  wollen.  Die  bloße  gute  Absicht  genügt  nicht.  Selbst  wenn  man  glaubt, 
der  Linie  sich  bemächtigt  zu  haben,  wird  man  nach  einer  Weile  systematischer 
Arbeit  finden,  daß  es  zwischen  linearem  Sehen  und  linearem  Sehen  noch  Un- 
terschiede gibt  und  daß  die  Intensität  der  Wirkung,  die  von  diesem  Element 
der  Formbezeichnung  ausgeht,  wesentlich  gesteigert  werden  kann. 

Man  sieht  ein  Holbeinsches  Porträt  besser,  wenn  man  vorher  Holbeinsche 
Zeichnungen  gesehen  und  auswendig  gelernt  hat.  Die  ganz  einzige  Steige- 
rung, die  der  Linearismus  hier  erfahren  hat,  indem  unter  Auslassung  alles 
anderen  nur  die  Teile  der  Erscheinung,  „wo  die  Form  sich  umbiegt",  auf 
Linie  gebracht  sind,  wirkt  in  der  Zeichnung  am  unmittelbarsten  und  doch 
beruht  auch  das  gemalte  Bild  durchaus  auf  dieser  Basis  und  das  Schema 

der  Zeichnung  muß  im  Bildeindruck  noch  immer  als  das  Wesentliche  durch- 
schlagen. 

Wenn  es  aber  schon  für  die  bloße  Zeichnung  gilt,  daß  der  Ausdruck  li- 
nearer Stil  nur  den  einen  Teil  des  Phänomens  deckt,  weil  doch,  wie  das  bei 
Holbein  so  gut  wie  bei  dem  oben  gebrauchten  Beispiel  Aldegrevers  der 
Fall  ist,  die  Modellierung  auch  mit  nicht-linearen  Mitteln  gegeben  werden 
46 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

kann,  so  wird  einem  bei  der  Malerei 
erst  recht  zum  Bewußtsein  kommen, 
wie  sehr  die  herkömmliche  Stilbezeich- 
nung sich  einseitig  auf  ein  einzelnes 
Merkmal  stützt.  Die  Malerei  stellt 
mit  ihren  alles  deckenden  Pigmenten 
grundsätzlich  Flächen  her  und  unter- 
scheidet sich  dadurch,  auch  wo  sie 
monochrom  bleibt,  von  jeder  Zeich- 
nung. Linien  sind  da  und  überall  fühl- 
bar, aber  eben  nur  als  die  Grenzen  der 
plastisch  empfundenen  und  tastbar 
durchmodellierten  Flächen.  Auf  die- 
sem Begriff  liegt  der  Nachdruck.  Die 
Tastbarkeit  der  Modellierung  ent- 
scheidet über  die  Einordnung  einer 
Zeichnung  auf  seiten  der  linearen 
Kunst,  auch  wenn  die  Schatten  voll- 
kommen unlinear,  als  ein  bloßer  Hauch 

auf  dem  Papier  liegen.  Für  die  Malerei  ist  die  Art  von  Abschattierung  von 
vornherein  selbstverständlich.  Im  Gegensatz  zur  Zeichnung  aber,  wo  die  Rän- 
der der  Flächenmodellierung  gegenüber  unverhältnismäßig  stark  zur  Geltung 
kommen,  ist  hier  das  Gleichgewicht  hergestellt.  Dort  funktioniert  das  Linea- 
ment  wie  ein  Rahmenwerk,  in  das  die  modellierenden  Schatten  eingespannt 
sind,  hier  erscheinen  beide  Elemente  als  Einheit  und  die  durchgehend  gleiche 
plastische  Bestimmtheit  der  Formgrenzen  ist  nur  das  Korrelat  der  durch- 
gehend gleichen  plastischen  Bestimmtheit  der  Modellierung. 


Dürer 


2. 
Nach  dieser  Einleitung  können  wir  ein  paar  Beispiele  von  linearer  und  Beispiele 
malerischer  Malerei  einander  gegenüberstellen.  Der  gemalte  Kopf  Dürers" 
von  1521  ist  auf  einem  ganz  ähnlichen  Grundriß  aufgebaut  wie  der  gezeich- 
nete des  Aldegrever,  dessen  Abbildung  wir  oben  gebracht  haben.  Die  Sil- 
houette von  der  Stirn  herunter  sehr  stark  zum  Sprechen  gebracht,  die  Mund- 
spalte eine  sichere,  ruhige  Linie,  Nasenflügel,  Augen,  alles  gleichmäßig  be- 
stimmt bis  in  den  letzten  Winkel.  Im  gleichen  Grade  aber,  wie  die  Form- 
grenzen für  das  Tastgefühl  festgelegt  sind,  sind  die  Flächen  im   Sinne  der 


47 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Auffassung  durch  die  Tastorgane  modelliert,  glatt  und  fest,  die  Schatten 
als  die  der  Form  unmittelbar  anhaftenden  Dunkelheiten  verstanden.  Sache 
und  Erscheinung  gehen  völlig  ineinander  auf.  Der  Anblick  aus  der  Nähe  gibt 
kein  anderes  Bild  als  der  Anblick  aus  der  Ferne. 

Demgegenüber  ist  die  Form  bei  Frans  Hals*  grundsätzlich  der  Greifbar- 
keit entzogen.  Sie  ist  so  wenig  faßbar  wie  ein  vom  Winde  bewegter  Busch 
oder  wie  die  Wellen  eines  Flusses.  Nahbild  und  Fernbild  treten  auseinander. 
Ohne  daß  man  den  einzelnen  Strich  verlieren  soll,  fühlt  man  sich  vor  dem 
Bilde  doch  mehr  auf  eine  Betrachtung  von  weitem  hingewiesen.  Der  ganz 
nahe  Anblick  ist  sinnlos.  Die  vertriebene  Modellierung  ist  einer  stoßweisen 
Modellierung  gewichen.  Die  rauhen,  zerklüfteten  Flächen  haben  alle  un- 
mittelbare Vergleichbarkeit  mit  der  Natur  abgestreift.  Sie  wenden  sich  nur 
an  das  Auge  und  wollen  nicht  als  tastbare  Flächen  zur  Empfindung  spre- 
chen. Die  alten  Formlinien  sind  zertrümmert.  Man  darf  keinen  einzelnen 
Strich  mehr  wörtlich  nehmen.  Am  Nasenrücken  zuckt  es,  die  Augen  zwin- 
kern, der  Mund  spielt.  Es  ist  genau  dasselbe  System  der  formentfremdeten 
Zeichen,  wie  wir  es  früher  bei  Lievens  analysiert  haben.  Unsere  kleinen  Ab- 
bildungen können  natürlich  den  Tatbestand  nur  sehr  unvollkommen  deut- 
lich machen.  Vielleicht  wirkt  die  Behandlung  des  Weißzeuges  am  überzeu- 
gendsten. 

Läßt  man  die  großen  Stilgegensätze  gegeneinander  wirken,  so  verlieren 
die  individuellen  Unterschiede  an  Bedeutung.  Man  sieht  dann,  daß  das, 
was  Frans  Hals  gibt,  im  Grunde  auch  bei  van  Dyck  und  Rembrandt  vor- 
handen ist.  Es  sind  nur  Gradunterschiede,  die  sie  trennen,  und  verglichen 
mit  Dürer,  einigen  sie  sich  zu  einer  geschlossenen  Gruppe.  Statt  Dürer  aber 
kann  man  auch  Holbein  setzen  oder  Massys  oder  Raffael.  Andrerseits  wird 
man  bei  isolierter  Betrachtung  des  einzelnen  Malers  es  nicht  vermeiden 
können,  die  gleichen  Stilbegriffe  zur  Kennzeichnung  von  Anfang  und  Ende 
seiner  Entwicklung  heranzuziehen.  Die  Bildnisse  des  jungen  Rembrandt 
sind  (relativ)  plastisch  und  linear  gesehen  gegenüber  den  Bildnissen  des  rei- 
fen Meisters. 

Wenn  es  aber  immer  die  spätere  Entwicklungsstufe  bedeutet,  sich  der 
bloßen  optischen  Erscheinung  überlassen  zu  können,  so  ist  damit  keineswegs 
gesagt,  daß  der  reine  plastische  Typ  am  Anfang  stehe.  Der  Linienstil  Dürers 
ist  nicht  nur  die  Steigerung  einer  vorhandenen  gleichlautenden  Tradiiton, 
sondern  bedeutet  zugleich  die  Ausscheidung  aller  widersprechenden  Elemente 
in  der  Stilüberlieferung  des   15.  Jahrhunderts. 

48 


I.  DAS  LINEARE  UND   DAS   MALERISCHE 

Wie  sich  dann  der  Übergang  vom  reinen  Linearismus  zum  malerischen 
Sehen  des  17.  Jahrhunderts  im  einzelnen  vollzieht,  läßt  sich  gerade  am  Porträt 
sehr  klar  nachweisen.  Wir  können  hier  aber  nicht  darauf  eingehen.  Allge- 
mein darf  man  so  viel  sagen,  daß  es  ein  immer  stärkeres  Zusammengehen 
von  Licht  und  Schatten  ist,  das  der  entschieden  malerischen  Auffassung 
die  Wege  bereitet.  Was  das  heißt,  wird  jedem  deutlich  werden,  der  etwa 
einen  Antonis  Moor  mit  dem  ihm  ja  immer  noch  verwandten  Hans  Holbein 
vergleicht.  Ohne  daß  der  plastische  Charakter  aufgehoben  wäre,  beginnen 
da  doch  schon  die  Helligkeiten  und  die  Dunkelheiten  zu  selbständigerem 
Leben  zusammenzutreten.  Im  selben  Moment,  wo  die  gleichmäßige  Schärfe 
der  Formenränder  nachläßt,  gewinnt  das,  was  nicht  Linie  ist,  eine  stärkere 
Bedeutung  im  Bild.  Man  sagt  wohl  auch,  die  Form  sei  breiter  gesehen: 
das  heißt  nichts  anderes,  als  daß  die  Massen  mehr  Freiheit  bekommen  haben. 
Es  ist  dann,  als  ob  Lichter  und  Schatten  in  lebhaftere  Berührung  miteinander 
gerieten  und  an  diesen  Wirkungen  hat  das  Auge  zunächst  gelernt,  dem  Schein 
sich  anzuvertrauen  und  schließlich  eine  vollständig  formentfremdete  Zeich- 
nung für  die  Form  selbst  zu  nehmen.  — 

Wir  fahren  fort  mit  zwei  Beispielen,  die  den  typischen  Gegensatz  der 
Stile  am  Thema  der  Kostümfigur  illustrieren.  Es  sind  Beispiele  der  roma- 
nischen Kunst,  Bronzino*  und  Velasquez*.  Wenn  sie  nicht  am  selben  Stamm 
gewachsen  sind,  so  ist  das  ohne  Belang  für  uns,  die  wir  ja  nur  Begriffe  deut- 
lich machen  wollen. 

Bronzino  ist  gewissermaßen  der  Holbein  Italiens.  Sehr  charakteristisch 
in  der  Zeichnung  der  Köpfe  mit  der  metallischen  Bestimmtheit  von  Linien 
und  Flächen  ist  sein  Bild  namentlich  bemerkenswert  als  Darstellung  eines  reich- 
ornamentierten Kostüms  im  Sinne  eines  exklusiv  linearen  Geschmackes. 
Kein  menschliches  Auge  kann  die  Dinge  so  sehen,  ich  meine  mit  dieser  gleich- 
mäßigen Bestimmtheit  der  Linie.  Nicht  auf  einen  Augenblick  ist  der  Maler 
vom  Pfade  der  unbedingten  gegenständlichen  Deutlichkeit  abgewichen.  Es  ist, 
als  ob  man  bei  der  Darstellung  einer  Bücherwand  Buch  um  Buch  und  jedes 
gleich  klar  umrandet  malen  wollte,  während  doch  ein  auf  die  Erscheinung 
eingestelltes  Auge  nur  den  Schimmer  aufnimmt,  der  über  das  Ganze  hin- 
spielt und  wo  die  einzelne  Form  bald  mehr  bald  weniger  in  diesem  Schim- 
mer untergeht.  Ein  solches  auf  die  Erscheinung  eingestelltes  Auge  hat 
Velasquez  besessen.  Das  Kleidchen  seiner  kleinen  Prinzessin  war  mit  Zick- 
zackmustern bestickt,  aber  was  er  uns  gibt,  ist  nicht  das  Ornament  an  sich, 
sondern  das  flimmernde  Bild  des  Ganzen.    Einheitlich  von  weitem  gesehen 

4  H.  W.,  G.  2.  A.  49 


Bronzino 

haben  die  Muster  ihre  Klarheit  verloren,  ohne  doch  undeutlich  zu  wirken. 
Man  sieht  durchaus,  was  gemeint  ist,  aber  die  Formen  sind  nicht  zu  fassen,  sie 
kommen  und  gehen,  sie  werden  überspielt  von  den  Glanzlichtern  des  Stoffes 
und  für  das  Ganze  ist  der  Rhythmus  der  Lichtwellen  entscheidend,  der  auch 
noch  (in  der  Abbildung  unerkennbar)  den  Grund  erfüllt. 

Man  weiß,  daß  das  klassische  16.  Jahrhundert  Stoffe  nicht  immer  so  ge- 
malt hat  wie  Bronzino  und  daß  auch  Velasquez  nur  eine  Möglichkeit  male- 
rischer Interpretation  darstellt,  aber  neben  dem  großen  Stilkontrast  spielen 
die  einzelnen  Varianten  keine  große  Rolle.  Grünewald  ist  innerhalb  seiner 
Zeit  ein  Wunder  malerischen  Stils  und  die  Disputation  des  heiligen  Eras- 
mus  mit  Mauritius  (in  München)  gehört  zu  seinen  letzten  Bildern,  aber  ver- 
gleicht man  die  goldgestickte  Kasula  dieses  Erasmus  auch  nur  mit  Rubens, 
so  ist  die  Kontrastwirkung  so  stark,  daß  man  nicht  daran  denkt,  Grünewald 
vom  Boden  des  16.  Tahrhunderts  ablösen  zu  wollen. 


50 


Velasquez 

Die  Haare  bei  Velasquez  wirken  mit  vollendeter  Stofflichkeit,  dargestellt 
ist  aber  weder  die  einzelne  Locke  noch  das  einzelne  Haar,  sondern  eine 
Lichterscheinung,  die  zu  dem  objektiven  Substrat  nur  noch  eine  ganz  lose 
Beziehung  hat.  So  ist  die  Materie  nie  vollkommener  dargestellt  worden, 
als  wenn  der  alte  Rembrandt  einen  Greisenbart  mit  breit  hingestrichenen 
Pigmenten  gemalt  hat  und  doch  fehlt  jene  greifbare  Aehnlichkeit  der  Form 
vollständig,  um  die  sich  Dürer  und  Holbein  bemüht  haben.  Auch  im  graphi- 
schen Werk,  wo  die  Versuchung  nahe  liegt,  mit  dem  einzelnen  Strich  das 
einzelne  Haar  —  wenigstens  da  und  dort  —  herauszuholen,  entfernen  sich 
die  späteren  Radierungen  Rembrandts  durchaus  von  jeder  Vergleichbarkeit 
mit  dem  Faßbar- Wirklichen  und  halten  sich  lediglich  an  den  Schein  des 
Ganzen. 


4* 


5i 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Und  so  ist  es  —  um  auf  ein  anderes  Gebiet  überzugehen  —  mit  der  Dar- 
stellung der  Blätterunendlichkeit  von  Baum  und  Busch.  Die  klassische 
Kunst  hat  auch  da  den  Typus  des  reinen  Blätterbaumes  zu  gewinnen  ge- 
sucht, das  heißt,  wenn  immer  möglich,  das  Laub  mit  einzeln  sichtbar  ge- 
machten Blättern  gegeben.  Aber  diesem  Verlangen  sind  natürlich  enge 
Grenzen  gezogen.  Schon  in  geringer  Entfernung  schlägt  die  Summe  der 
Einzelformen  zur  Massenform  zusammen  und  kein  noch  so  spitzer  Pinsel 
kann  da  detaillierend  nachkommen.  Und  doch  hat  die  bildende  Kunst  des 
linearen  Stils  auch  hier  sich  durchgesetzt.  Wenn  es  nicht  möglich  ist,  das 
einzelne  Blatt  mit  begrenzter  Form  zu  geben,  so  gibt  man  eben  den  Blatt- 
büschel, die  einzelne  Laubgruppe  mit  begrenzter  Form.  Und  aus  solchen 
zunächst  klar  geschiedenen  Blattbüscheln  ist  dann  allmählich,  befördert 
durch  eine  immer  lebhafter  werdende  Strömung  zwischen  den  hellen  und 
den  dunklen  Massen,  der  unlineare  Baum  des  17.  Jahrhunderts  hervorgewach- 
sen, wo  einzelne  Farbflecke  nebeneinander  gesetzt  sind,  ohne  daß  der  ein- 
zelne Fleck  Anspruch  machte,  mit  der  zugrunde  liegenden  Blattform  kon- 
gruent zu  sein. 

Schon  der  klassische  Linearismus  hat  aber  auch  eine  Darstellungsart  ge- 
kannt, wo  der  Pinsel  eine  Formzeichnung  in  ganz  freien  Linien  und  Tupfen 
gibt.  Albrecht  Altdorfer  hat,  um  ein  hervorragendes  Beispiel  zu  nennen,  das 
Laubdickicht  seiner  Georgslandschaft  in  der  Münchner  Pinakothek  (15 10)  so 
behandelt.  Sicher,  diese  zierlichen  Linienmuster  decken  sich  nicht  mit  einem 
körperlichen  Tatbestand,  aber  es  sind  eben  doch  Linien,  klare  ornamentale 
Muster,  die  für  sich  gesehen  werden  wollen  und  sich  nicht  nur  im  Eindruck 
des  Ganzen  behaupten,  sondern  auch  dem  nächsten  Nahblick  standhalten. 
Darin  liegt  der  grundsätzliche  Unterschied  zum  malerischen  Baumschlag  des 
17.  Jahrhunderts. 

Wenn  man  von  Vorahnungen  des  malerischen  Stils  reden  will,  so  findet 
man  sie  eher  im  15.  als  im  16.  Jahrhundert.  Dort  gibt  es,  trotz  der  vorherr- 
schenden Richtung  auf  das  Lineare,  in  der  Tat  einzelne  Ausdrucksweisen, 
die  zum  Linearismus  nicht  stimmen  und  später  denn  auch  als  unrein  aus- 
geschieden worden  sind.  Sie  haben  auch  in  die  Graphik  Eingang  gefunden. 
So  kommen  zum  Beispiel  im  alten  Nürnberger  Holzschnitt  (Wohlgemut) 
Gebüschzeichnungen  vor,  die  mit  ihrer  formentfremdeten,  wirren  Linie  einen 
Eindruck  machen,  den  man  kaum  anders  als  impressionistisch  nennen 
kann.  Erst  Dürer  hat  dann  —  wie  gesagt  —  den  ganzen  Inhalt  der  Sichtbar- 
keit konsequent  der  formbezeichnenden  Linie  unterworfen. 

52 


Dürer 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

Abschließend  stellen  wir  noch 
den  Hieronymus-Stich  Dürers* 
als  lineares  Interieurbild  mit  der 
malerischen  Fassung  des  gleichen 
Motivs  bei  Ostade  zusammen. 
Das  gewöhnliche  Abbildungsma- 
terial reicht  nicht  mehr  aus,  wenn 
man  an  einem  szenischen  Ganzen 
die  Linearität  in  ihrer  vollen 
Bestimmtheit  demonstrieren  will. 
Alles  erscheint  verwischt  in  den 
kleinen  Nachbildungen  nach  Ge- 
mälden. Wir  müssen  schon  zu 
einem  Stich  greifen,  um  es  deut- 
lich zu  machen,  wie  der  Geist 
der  festgerandeten  Körperlichkeit 
über  die  Einzelfigur  hinaussichauf 
der  tiefen  Bühne  behauptet.  Und 


trotz  der  Ungleichartigkeit  bringen  wir  das  Bild  Ostades*  in  einer  (modernen) 
Radierung,  weil  auch  hier  die 
Photographie  zu  viel  schul- 
dig bleibt.  Aus  einem  sol- 
chen Vergleich  springt  dann 
das  Wesentliche  des  Gegen- 
satzes mit  großer  Kraft  her- 
vor. Ein  und  dasselbe  Motiv 
—  geschlossener  Raum  mit 
seitlich  einfallendem  Licht  — 
ist  hüben  und  drüben  zu 
ganz  verschiedener  Wirkung 
gebracht.  Dort  alles  Grenze, 
tastbare  Fläche,  isolierte  Ge- 
genständlichkeit, hier  alles 
Übergang  und  Bewegung. 
Das  Licht  hat  das  Wort, 
nicht  die  plastischeForm :  ein 
dämmeriges  Ganzes,   in  dem       Ostade 


53 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

einzelne  Gegenstände  deutlich  werden,  während  man  dort  die  Gegenstände  als 
die  Hauptsache,  das  Licht  als  etwas  Dazutretendes  empfindet.  Was  Dürer  in 
erster  Linie  gesucht  hat,  die  einzelnen  Körper  nach  ihren  plastischen  Grenzen 
fühlbar  zu  machen,  ist  hier  grundsätzlich  vermieden:  alle  Ränder  sind  un- 
fest, die  Flächen  entziehen  sich  der  Tastbarkeit,  und  das  Licht  wogt  frei 
dahin,  wie  ein  Strom,  der  seine  Dämme  durchbrochen  hat.  Das  Gegen- 
ständliche ist  nicht  unerkennbar,  allein  es  ist  gewissermaßen  in  eine  über- 
gegenständliche Wirkung  aufgelöst.  Man  sieht  den  Mann  an  der  Staffelei 
und  sieht  in  seinem  Rücken  die  vorspringende  dunkle  Ecke,  beide  deutlich 
genug,  aber  die  dunkle  Masse  der  einen  Form  bindet  sich  mit  der  dunklen 
Masse  der  anderen  und  leitet  mit  den  dazwischen  erscheinenden  Lichtflecken 
eine  Bewegung  ein,  die,  mannigfaltig  sich  verzweigend,  den  Bildraum  als 
eine  selbständige  Kraft  durchwaltet. 

Kein  Zweifel:  dort  spürt  man  eine  Kunst,  die  auch  Bronzino  umschließt, 
und  hier  heißt  die  Parallele  —  trotz  aller  Unterschiede  —  Velasquez. 

Dabei  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  der  Stil  der  Darstellung  zusammengeht 
mit  einer  auf  die  gleiche  Wirkung  hinzielenden  Anordnung  der  Form.  Wie 
das  Licht  als  einheitliche  Bewegung  wirkt,  so  ist  die  gegenständliche  Form 
in  einen  ähnlichen  Strom  von  Bewegung  einbezogen.  Die  Starrheit  ist  um- 
gesetzt in  das  lebendig  Sich-Rührende.  Die  Kulisse  links,  bei  Dürer  ein  toter 
Pfeiler,  ist  eigentümlich  flackernd  geworden,  die  Decke  nicht  mehr  glatt  und 
geschlossen,  sondern  bewegt  im  Verfall  und  von  Anfang  an  vielfältig  in  der 
Form,  die  Winkel  nicht  mehr  klar  und  sauber,  sondern  geheimnisvoll  ver- 
stellt mit  vielerlei  Gerumpel  —  ein  Musterbeispiel  „malerischer  Anordnung". 
Das  im  Raum  verdämmernde  Licht  ist  an  sich  ein  stofflich-malerisches  Motiv 
im  ausgezeichneten  Sinn. 

Malerisches  Sehen  ist  nun  aber  —  wie  schon  gesagt  —  an  eine  male- 
risch-dekorative Szenerie  nicht  notwendig  geknüpft.  Das  Thema  kann 
viel  einfacher  sein,  ja  des  pittoresken  Charakters  völlig  entbehren  und  es 
kann  durch  die  Behandlung  doch  einen  Reiz  von  unendlicher  Bewegung  erhal- 
ten, der  über  alles  Malerische,  das  im  Stoff  liegt,  hinausgeht.  Gerade  die 
eigentlich  malerischen  Talente  haben  das  „Pittoreske"  immer  bald  abge- 
streift.   Wie  wenig  davon  ist  bei  Velasquez  zu  finden! 


54 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

3- 

Malerisch  und  farbig  sind  zwei  ganz  verschiedene  Dinge,  aber  es  gibt  eine 
malerische  und  eine  nicht-malerische  Farbe  und  davon  soll  hier  noch  --  wenig- 
stens andeutungsweise  —  die  Rede  sein.  Der  Mangel  an  Demonstrations- 
möglichkeiten mag  die  Kürze  der  Behandlung  entschuldigen. 

Die  Begriffe  Tastbild  und  Sehbild  sind  hier  nicht  mehr  direkt  verwendbar, 
aber  der  Gegensatz  von  malerischer  und  nicht-malerischer  Farbe  geht  doch 
auf  einen  ganz  ähnlich  gearteten  Unterschied  der  Auffassung  zurück,  indem 
die  Farbe  das  eine  Mal  als  festgegebenes  Element  genommen  wird,  das  an- 
dere Mal  aber  der  Wechsel  in  der  Erscheinung  wesentlich  ist :  das  einfarbige 
Objekt  „spielt"  in  den  verschiedensten  Farben.  Schon  immer  hatte  man  nach 
der  Stellung  zum  Licht  gewisse  Wandlungen  der  Lokalfarbe  angenommen, 
jetzt  aber  geschieht  mehr:  die  Vorstellung  von  gleichmäßig  sich  behaup- 
tenden Grundfarben  ist  erschüttert,  die  Erscheinung  oszilliert  in  den  mannig- 
faltigsten Tönen  und  über  der  Gesamtheit  der  Welt  liegt  die  Farbe  nur  noch 
wie  ein  Schein,  als  etwas  Schwebendes  und  Ewig-Bewegtes. 

Wie  in  der  Zeichnung  erst  das  ig.  Jahrhundert  die  ferneren  Konsequenzen 
einer  Erscheinungsdarstellung  gezogen  hat,  so  ist  auch  in  der  Behandlung 
der  Farbe  der  neuere  Impressionismus  weit  über  den  Barock  hinausgegangen. 
Immerhin  kommt  in  der  Entwicklung  vom  16.  zum  17.  Jahrhundert  der 
grundsätzliche  Unterschied  schon  vollkommen  klar  zutage. 

Für  Lionardo  oder  Holbein  ist  die  Farbe  die  schöne  Materie,  die  auch  im 
Bilde  eine  körperliche  Wirklichkeit  besitzt  und  ihren  Wert  in  sich  selbst 
trägt.  Der  gemalte  blaue  Mantel  wirkt  durch  dieselbe  materielle  Farbe,  die 
der  Mantel  in  Wirklichkeit  hat  oder  haben  könnte.  Trotz  gewisser  Unter- 
schiede in  den  lichten  und  dunklen  Teilen  bleibt  die  Farbe  im  Grunde  sich 
selbst  gleich.  Darum  verlangt  Lionardo,  daß  die  Schatten  nur  durch  eine  Bei- 
mischung von  Schwarz  zur  Lokalfarbe  gemalt  werden  sollten.    Das  sei  der 

„wahre"  Schatten1). 

Das  ist  um  so  merkwürdiger,  als  Lionardo  die  Erscheinung  von  Komple- 
mentärfarben in  den  Schatten  bereits  genau  kannte.  Es  fiel  ihm  aber  nicht  ein, 
von  dieser  theoretischen  Einsicht  einen  künstlerischen  Gebrauch  zu  machen. 
Genau  so  hatte  schon  L.  B.  Alberti  beobachtet,  daß  eine  Person,  die  über 
eine  grüne  Wiese  geht,  sich  grün  färbt  im  Gesicht2),  allein  auch  ihm  ist  diese 
Tatsache  als  unverbindlich  für  die  Malerei  vorgekommen.    Man  sieht  hier, 


*)  Lionardo,  a.a.O.,  729  (703):  quäl' e  in  se  vera  ombra  de' colori  de' corpi. 
2)  L.  B.  Alberti,  della  pittura  libri  tre  ed.  Janitschek  p.  67  (66). 


55 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

wie  wenig  der  Stil  durch  Naturbeobachtungen  allein  bestimmt  wird  und  daß 
es  immer  dekorative  Grundsätze  sind,  Überzeugungen  des  Geschmacks,  denen 
die  letzte  Entscheidung  zusteht.  Daß  der  junge  Dürer  in  seinen  farbigen  Na- 
turstudien sich  so  ganz  anders  benimmt  als  in  seinen  Gemälden,  hängt  mit 
demselben  Prinzip  zusammen. 

Wenn  nun  umgekehrt  die  spätere  Kunst  diese  Vorstellung  vom  Wesen  der 
Lokalfarbe  aufgibt,  so  ist  das  nicht  ein  bloßer  Erfolg  des  Naturalismus,  son- 
dern ist  durch  ein  neues  Ideal  von  farbiger  Schönheit  bedingt.  Es  wäre  zu- 
viel gesagt,  es  gäbe  keine  Lokalfarbe  mehr,  allein  gerade  darauf  beruht  die 
Wendung,  daß  der  einzelne  Stoff  in  seiner  materiellen  Existenz  zurücktritt 
und  das,  was  an  ihm  geschieht,  zur  Hauptsache  wird.  Rubens  so  gut  wie 
Rembrandt  springen  im  Schatten  in  eine  ganz  andere  Farbe  über  und  es  ist 
nur  ein  gradueller  Unterschied,  wenn  etwa  diese  andere  Farbe  nicht  selbständig, 
sondern  nur  als  Mischungskomponente  erscheint.  Wenn  Rembrandt  einen 
roten  Mantel  malt  —  ich  denke  an  den  Überwurf  der  Hendrickje  Stoffels  in 
Berlin  — ,  so  ist  das  Wesentliche  nicht  das  Rot  der  Naturfarbe  an  sich,  son- 
dern wie  die  Farbe  dem  Beschauer  sich  gleichsam  unter  den  Augen  verändert : 
in  dem  Schatten  stehen  intensive  grüne  und  blaue  Töne  und  nur  auf  Mo- 
mente hebt  sich  das  reine  Rot  ansLicht  empor.  Man  merkt,  daß  der  Akzent  nicht 
mehr  auf  dem  Sein  liegt,  sondern  auf  dem  Werden  und  Sich- Wandeln.  Dadurch 
hat  die  Farbe  ein  ganz  neues  Leben  bekommen.  Sie  entzieht  sich  der  Bestimm- 
barkeit und  ist  an  jedem  Punkt  und  in  jedem  Augenblick  wieder  eine  andere. 

Dazu  kann  dann  die  Zersetzung  der  Fläche  kommen,  wie  wir  sie  schon 
früher  beobachtet  haben.  Während  der  Stil  der  ausgesprochenen  Lokalfarbe 
vertreibend  modelliert,  können  hier  die  Pigmente  unvermittelt  nebeneinander 
stehen.  Dadurch  verliert  die  Farbe  noch  mehr  das  Materielle.  Das  Wirkliche 
ist  nicht  mehr  die  Farbfläche  als  etwas  Positiv-Existierendes,  sondern  das 
Wirkliche  ist  jener  Schein,  der  sich  von  den  einzelnen  Farbflecken,  -strichen, 
-punkten  ablöst.  Es  ist  dabei  wohl  notwendig,  den  Standpunkt  in  einiger 
Ferne  zu  nehmen,  aber  doch  ist  die  Meinung  nicht  die,  daß  nur  der  verschmel- 
zende Fernblick  berechtigt  wäre.  Es  ist  mehr  als  ein  bloßes  Vergnügen  für 
den  Techniker,  wenn  man  das  Nebeneinanderstehen  der  Farbstriche  wahr- 
nimmt: in  letzter  Linie  ist  es  auf  jene  Wirkung  des  Unfaßbaren  abgesehen, 
die  wie  in  der  Zeichnung  so  hier  im  Kolorit  ganz  wesentlich  bedingt  ist  durch 
die  formentfremdete  Faktur. 

Will  man  sich  an  einem  elementaren  Phänomen  die  Entwicklung  bildlich 
klar  machen,  so  stelle  man  sich  das  Schauspiel  vor,  wenn  in  einem  Gefäß  das 

56 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

Wasser  bei  bestimmter  Temperatur  in  Wallung  kommt.  Es  ist  noch  immer 
dasselbe  Element,  aber  aus  dem  ruhenden  ist  ein  bewegtes  geworden  und  aus 
dem  Faßbaren  ein  Unfaßbares.  Und  nur  in  dieser  Gestalt  hat  der  Barock  das 
Lebendige  anerkannt. 

Wir  hätten  den  Vergleich  schon  früher  brauchen  können.  Gerade  das  In- 
einanderströmen  von  Helligkeiten  und  Dunkelheiten  im  malerischen  Stil  muß 
auf  solche  Vorstellungen  führen.  Was  aber  jetzt  bei  der  Farbe  neu  ist,  ist 
die  Mehrheit  der  Komponenten.  Licht  und  Schatten  ist  schließlich  etwas 
Einheitliches,  im  Kolorit  aber  handelt  es  sich  um  das  Zusammengehen  ver- 
schiedener Farben.  Unsere  bisherige  Darlegung  setzt  diese  Mehrheit  noch 
nicht  voraus,  wir  sprachen  von  der  Farbe,  nicht  von  Farben.  Wenn  wir  jetzt 
den  Gesamtkomplex  ins  Auge  fassen,  so  sehen  wir  von  der  farbigen  Har- 
monie ab  —  das  ist  der  Gegenstand  eines  späteren  Kapitels  —  und  halten 
uns  nur  an  die  Tatsache,  daß  in  der  klassischen  Farbgebung  die  einzelnen 
Elemente  alsetwas  Isoliertes  nebeneinanderstehen,  während  beim  malerischen 
Kolorit  die  einzelne  Farbe  im  allgemeinen  Grunde  so  verankert  erscheint  wie 
die  Seerose  im  Grunde  des  Teiches.  Das  Email  der  Holbeinschen  Farben 
ist  in  sich  geschieden  wie  die  einzelnen  Zellen  einer  Schmelzarbeit,  bei  Rem- 
brandt  bricht  die  Farbe  stellenweise  aus  geheimnisvoller  Tiefe  hervor,  wie 
wenn  —  um  ein  anderes  Bild  zu  brauchen  —  ein  Vulkan  den  glühenden 
Strom  entläßt,  wobei  man  weiß,  daß  im  nächsten  Moment  der  Schlund  an 
einer  neuen  Stelle  sich  öffnen  könnte.  Die  verschiedenen  Farben  sind  getra- 
gen von  einer  einheitlichen  Bewegung  und  dieser  Eindruck  geht  offenbar  auf 
dieselben  Ursachen  zurück  wie  die  einheitliche  Bewegung  in  Licht  und  Schat- 
ten, die  wir  kennen.  Man  spricht  dann  von  einer  tonigen  Haltung  des  Ko- 
lorits. 

Indem  wir  diese  weitere  Bestimmung  des  Farbig-Malerischen  geben,  wird 
freilich  der  Einwand  gemacht  werden,  das  sei  nicht  mehr  Sache  des  Sehens, 
sondern  nur  noch  Sache  einer  bestimmten  dekorativen  Anordnung.  Hier  liege 
eine  gewisse  Farbenwahl  vor,  nicht  eine  besondere  Auffassung  der  Sichtbar- 
keit. Wir  sind  auf  diesen  Einwand  gerüstet.  Gewiß  gibt  es  ein  Objektiv- 
Malerisches  auch  auf  dem  Gebiet  der  Farbe,  aber  die  Wirkung,  die  mit  den 
Mitteln  der  Auswahl  und  Anordnung  gesucht  wird,  ist  doch  nicht  unverein- 
bar mit  dem,  was  das  Auge  der  bloßen  Wirklichkeit  entnehmen  kann.  Auch 
das  farbige  System  der  Welt  ist  nichts  Festes,  sondern  läßt  sich  so  oder  so 
interpretieren.  Man  kann  auf  isolierte  Farbe  hin  sehen  und  kann  auf  Bindung 
und  Bewegung  hin  sehen.  Freilich  enthalten  einzelne  farbige  Situationen  von 

57 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

vornherein  einen  höheren  Grad  von  einheitlicher  Bewegung  als  andere,  aber 
schließlich  läßt  sich  alles  malerisch  auffassen  und  man  braucht  nicht  in  eine 
farbverzehrende,  dunstige  Atmosphäre  auszuweichen,  wie  das  gewisse  hollän- 
dische Meister  des  Übergangs  gerne  tun.  Daß  aber  auch  hier  das  imitative 
Verhalten  von  einer  bestimmten  Forderung  des  dekorativen  Gefühls  begleitet 
ist,  ist  ja  nur  in  der  Ordnung. 

Gemeinsam  mit  dem  Bewegungseffekt  der  malerischen  Zeichnung  ist  dem 
malerischen  Kolorit,  daß,  wie  dort  das  Licht,  so  hier  die  Farbe  ein  von  den 
Gegenständen  abgelöstes  Leben  bekommt.  Daher  denn  auch  diejenigen  Na- 
turmotive vorzugsweise  malerisch  genannt  werden,  wo  die  Sachunterlage  der 
Farbe  schwerer  erkennbar  geworden  ist.  Eine  ruhig  hängende  Fahne  mit  drei 
farbigen  Streifen  ist  nicht  malerisch  und  auch  eine  Versammlung  solcher 
Fahnen  ergibt  noch  kaum  einen  malerischen  Anblick,  obwohl  in  der  Wieder- 
holung der  Farbe  mit  perspektivischen  Abstufungen  ein  günstiges  Moment 
liegt;  sobald  aber  die  Fahnen  im  Winde  wehen,  die  klar  begrenzten  Bahnen 
sich  verlieren  und  nur  da  und  dort  einzelne  Farbstücke  erscheinen,  ist  das 
volkstümliche  Urteil  bereit,  ein  malerisches  Schauspiel  anzuerkennen.  Noch 
mehr  ist  das  der  Fall  beim  Anblick  eines  belebten  bunten  Marktes :  die  Bunt- 
heit tut  es  nicht,  wohl  aber  das  Durcheinanderschießen  der  Farben,  die  kaum 
mehr  auf  einzelne  Objekte  lokalisiert  werden  können  und  wo  man,  im  Gegensatz 
zum  bloßen  Kaleidoskop,  von  der  gegenständlichen  Bedeutung  der  einzelnen 
Farbe  doch  überzeugt  ist.  Es  geht  das  zusammen  mit  Beobachtungen  über 
malerische  Silhouette  und  dergleichen,  wie  sie  früher  schon  angestellt  worden 
sind.  Umgekehrt  gibt  es  im  klassischen  Stil  keinen  Farbeneindruck,  der  nicht 
an  einen  Formeindruck  gebunden  wäre. 

Die  Plastik 
i. 

llgemeines  X  TT  Tenn  Winckelmann  über  die  Plastik  des  Barock  aburteilt,  so  ruft  er 
V  V  höhnend:  „Was  für  ein  Kontur!"  Er  nimmt  die  in  sich  geschlossene, 
sprechende  Konturlinie  als  ein  wesentliches  Moment  aller  Plastik  und  wen- 
det sich  ab,  wenn  ihm  der  Umriß  nichts  gibt.  Allein  neben  einer  Plastik  mit 
betontem,  sinnvollem  Umriß  ist  doch  auch  eine  Plastik  mit  entwertetem  Um- 
riß denkbar,  wo  der  Ausdruck  sich  nicht  in  der  Linie  formt,  und  der  Barock 
hat  eine  solche  Kunst  besessen. 

Im  wörtlichen  Sinn  kennt  die  Plastik  als  Kunst  körperlicher  Massen  keine 
Linie,  aber  der  Gegensatz  einer  linearen  und  einer  malerischen  Plastik  ist 

58 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

doch  vorhanden  und  die  Wirkung  der  beiden  Stilarten  kaum  weniger  ver- 
schieden als  in  der  Malerei.  Die  klassische  Plastik  visiert  auf  die  Grenzen: 
keine  Form,  die  sich  nicht  innerhalb  eines  bestimmten  Linienmotivs  aus- 
spräche, keine  Figur,  von  der  man  nicht  sagen  könnte,  auf  welche  Ansicht 
hin  sie  konzipiert  ist.  Der  Barock  negiert  den  Umriß;  nicht  in  dem  Sinn,  daß 
Silhouettenwirkungen  überhaupt  ausgeschlossen  wären,  aber  die  Figur  weicht 
der  Fixierung  innerhalb  einer  bestimmten  Silhouette  aus.  Man  kann  sie 
nicht  auf  eine  bestimmte  Ansicht  festlegen,  sie  entwindet  sich  gleichsam  dem 
Beschauer,  der  sie  fassen  will.  Natürlich  kann  man  auch  die  klassische  Pla- 
stik von  verschiedenen  Seiten  her  ansehen,  aber  die  anderen  Ansichten  sind 
deutlich  Neben  ansichten  neben  der  Hauptansicht.  Es  gibt  einen  Ruck, 
wenn  man  wieder  in  das  Hauptmotiv  zurückfällt,  und  es  ist  offenbar,  daß 
hier  die  Silhouette  mehr  ist  als  das  zufällige  Aufhören  des  Sichtbarseins  der 
Form:  sie  behauptet  neben  der  Figur  eine  Art  von  Selbständigkeit,  eben 
weil  sie  ein  in  sich  Geschlossenes  darstellt.  Umgekehrt  ist  das  Wesentliche 
der  barocken  Silhouette,  daß  sie  diese  Selbständigkeit  nicht  hat,  es  soll  sich 
nirgends  ein  Linienmotiv  zu  etwas  Eigenem  verfestigen.  In  keiner  Ansicht 
geht  die  Form  ganz  auf.  Ja,  man  kann  mehr  sagen :  erst  der  formentfrem- 
dete Umriß  ist  der  malerische  Umriß. 

Und  so  sind  die  Flächen  behandelt.  Es  ist  nicht  nur  der  objektive  Unter- 
schied vorhanden,  daß  die  Klassik  die  ruhigen  Flächen  liebt  und  der  Barock 
die  bewegten:  die  Behandlung  der  Form  ist  eine  andere.  Dort  lauter  be- 
stimmte tastbare  Werte,  hier  alles  Übergang  und  Wandlung;  dort  Gestal- 
tung des  Seienden,  der  bleibenden  Form,  hier  der  Schein  stetiger  Verände- 
rung, die  Darstellung  rechnet  mit  Wirkungen,  die  nicht  mehr  für  die  Hand, 
sondern  nur  noch  für  das  Auge  existieren.  Während  in  der  klassischen  Kunst 
Helligkeiten  und  Dunkelheiten  der  plastischen  Form  untergeordnet  sind, 
scheinen  die  Lichter  jetzt  zu  selbständigem  Leben  erwacht  zu  sein.  In  schein- 
bar freier  Bewegung  überspielen  sie  die  Flächen  und  es  kann  jetzt  wohl  auch 
vorkommen,  daß  die  Form  einmal  vollständig  im  Schattendunkel  untergeht. 
Ja,  ohne  die  Möglichkeiten  zu  besitzen,  die  der  zweidimensionalen  Malerei 
als  der  Kunst  des  grundsätzlichen  Scheines  offen  stehen,  greift  die  Plastik 
doch  auch  ihrerseits  zu  Formbezeichnungen,  die  mit  der  objektiven  Form 
nichts  mehr  zu  tun  haben  und  nicht  anders  denn  als  impressionistisch  be- 
zeichnet werden  können. 

Indem  damit  die  Plastik  mit  dem  bloß  optischen  Scheine  ein  Bündnis 
schließt  und  aufhört,  das  Greifbar- Wirkliche  als  das  Wesentliche  hinzustellen, 

59 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

werden  ihr  ganz  neue  Gebiete  zugänglich.  Sie  wetteifert  mit  der  Malerei  in 
der  Darstellung  des  Momentanen  und  der  Stein  wird  der  Illusion  von  jeder 
Art  von  Stofflichkeit  dienstbar  gemacht.  Man  weiß  den  Glanzblick  des  Auges 
wiederzugeben  ebenso  wie  den  Schimmer  der  Seide  oder  die  Weichheit  des 
Fleisches.  So  oft  seither  eine  klassizistische  Richtung  wieder  aufgekommen 
und  für  das  Recht  der  Linie  und  des  tastbaren  Volumens  eingetreten  ist,  hat 
sie  auch  gegen  diese  Stofflichkeit  im  Namen  der  Stilreinheit  Einspruch  er- 
heben zu  müssen  geglaubt. 

Malerische  Figuren  sind  nie  isolierte  Figuren.  Die  Bewegung  muß  weiter- 
klingen und  darf  nicht  in  unbewegter  Atmosphäre  erstarren.  Schon  der  Ni- 
schenschatten ist  jetzt  für  eine  Figur  von  anderer  Bedeutung  als  früher,  ist 
nicht  mehr  bloße  Folie,  sondern  springt  in  das  Bewegungsspiel  ein:  das  Dun- 
kel der  Tiefe  bindet  sich  mit  dem  Schatten  der  Figur.  Meist  muß  die  Archi- 
tektur bewegungsvorbereitend  oder  -fortleitend  mit  der  Plastik  zusammen- 
arbeiten. Kommt  dann  die  große  objektive  Bewegung  dazu,  so  entstehen 
jene  wunderbaren  Gesamtwirkungen,  wie  wir  sie  namentlich  in  nordischen 
Barockaltären  finden,  wo  die  Figuren  mit  dem  Gerüste  so  zusammengehen, 
daß  sie  wie  der  Schaumkamm  im  heftigen  Wogenschlag  der  Architektur  er- 
scheinen. Herausgerissen  aus  dem  Zusammenhang  verlieren  sie  alle  Bedeu- 
tung, wofür  einige  unglückliche  Aufstellungen  in  modernen  Museen  zum 
Zeugnis  anzurufen  sind. 

Für  die  Terminologie  bietet  die  Geschichte  der  Plastik  dieselben  Schwie- 
rigkeiten wie  die  Geschichte  der  Malerei.  Wo  hört  das  Lineare  auf  und  wo 
fängt  das  Malerische  an?  Schon  innerhalb  der  Klassik  wird  man  zwischen 
einem  Mehr  oder  Weniger  von  Malerisch  zu  unterscheiden  haben,  und  wenn 
dann  die  Bedeutung  von  hell  und  dunkel  wächst  und  die  begrenzte  Form 
mehr  und  mehr  hinter  der  unbegrenzten  zurücktritt,  so  kann  man  den  Pro- 
zeß wohl  im  allgemeinen  als  eine  Entwicklung  zum  Malerischen  bezeichnen, 
es  ist  aber  schlechterdings  unmöglich,  den  Finger  auf  den  Punkt  zu  legen,  wo 
die  Bewegung  in  Licht  und  Form  jene  Freiheit  erreicht  hat,  daß  der  Begriff 
malerisch  im  eigentlichen  Sinne  in  Geltung  treten  muß. 

Nicht  unnötig  aber  ist  es,  auch  hier  festzustellen,  daß  der  Charakter 
ausgesprochener  Linearität  und  plastischer  Begrenzung  erst  der  Gewinn 
einer  längeren  Entwicklung  ist.  Erst  im  Verlauf  des  15.  Jahrhunderts  ent- 
wickelt die  italienische  Plastik  eine  klarere  Linienempfindlichkeit  und  ohne 
daß  gewisse  malerische  Bewegungsreize  ganz  ausgeschaltet  wurden,  fangen 
die  Formgrenzen  an,  sich  zu  verselbständigen.   Freilich,  es  gehört  zu  den  hei- 

60 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 

kelsten  Aufgaben  der  Stilgeschichte,  den  Grad  der  Silhouettenwirkung  richtig 
einzuschätzen  oder,  nach  der  anderen  Seite  hin,  die  flimmernde  Erscheinung 
etwa  eines  Reliefs  von  Antonio  Rossellino  nach  ihrem  originalen  malerischen 
Gehalt  zu  beurteilen.  Dem  Dilettantismus  ist  hier  noch  Tür  und  Tor  geöff- 
net. Jeder  meint,  wie  er  die  Dinge  sieht,  so  sei  es  gut  und  um  so  besser,  je 
mehr  man  im  modernen  Sinne  malerische  Wirkungen  herausblinzeln  könne. 
Statt  aller  Einzelkritik  sei  auf  das  üble  Kapitel  der  Abbildungen  in  Büchern 
unserer  Zeit  hingewiesen,  wo  nach  Auffassung  und  Ansicht  der  wesentliche 
Charakter  oft  so  völlig  verfehlt  ist. 

Das  sind  Bemerkungen  zur  italienischen  Kunstgeschichte.  Für  die  deutsche 
stellt  sich  die  Sache  etwas  anders.  Es  hat  lange  gedauert,  bis  sich  hier  ein 
plastisches  Liniengefühl  aus  der  spätgotisch-malerischen  Tradition  hat  her- 
auswickeln können.  Bezeichnend  ist  die  deutsche  Vorliebe  für  Altarschreine 
mit  enggereihten  und  ornamental  verbundenen  Figuren,  wo  der  Hauptreiz 
eben  in  der  —  malerischen  —  Verflechtung  liegt.  Hier  ist  aber  die  Warnung 
doppelt  am  Platz,  diese  Dinge  nicht  malerischer  zu  sehen  als  sie  gesehen 
werden  wollen.  Der  Maßstab  liegt  immer  in  der  zeitgenössischen  Malerei. 
Andere  malerische  Wirkungen,  als  wie  sie  von  den  Malern  der  Natur  abge- 
wonnen worden  sind,  hat  das  Publikum  vor  der  spätgotischen  Plastik  natür- 
lich nicht  erlebt,  mag  uns  diese  auch  noch  so  sehr  locken,  sie  in  ganz  aufge- 
lösten Bildern  zu  sehen. 

Aber  etwas  von  malerischem  Wesen  bleibt  der  deutschen  Plastik  auch 
später.  Die  Linearität  der  lateinischen  Rasse  ist  der  deutschen  Empfindung 
leicht  kalt  vorgekommen  und  es  ist  bezeichnend,  daß  es  ein  Italiener  ge- 
wesen ist,  Canova,  der  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  die  abendländische 
Plastik  aufs  neue  unter  die  Fahne  der  Linie  gesammelt  hat. 

2. 

Wir  beschränken  uns  zur  Illustrierung  der  Begriffe  im  wesentlichen  auf    Beispiele 
italienische  Beispiele.    Der  klassische  Typ  ist  hier  in  unübertrefflicher  Rein- 
heit ausgebildet  und   innerhalb  des  malerischen    Stils  bedeutet   Bernini   die 
stärkste  künstlerische  Potenz  des  Abendlandes. 

Analog  der  bisherigen  Folge  der  Analysen  sollen  zwei  Büsten  den  Vor- 
tritt haben.  Benedetto  da  Majano*  ist  nun  freilich  kein  Cinquecentist,  aber 
die  Schärfe  der  plastisch  geschnittenen  Form  läßt  nichts  zu  wünschen  übrig. 
Vielleicht,  daß  in  der  Photographie  die  Einzelheiten  zu  stark  sprechen.  We- 
sentlich ist,  wie  das  Gesamtbild  in  eine  feste  Silhouette  eingespannt  ist  und 

61 


Benedetto  da  Majano 
wie  jede  Sonderform  —  Mund,  Augen,  die  einzelnen  Runzeln  —  ihre  völlig 
sichere,  unbewegte,  auf  den  Eindruck  des  Bleibenden  gebaute  Erscheinung 
bekommen  hat.  Die  folgende  Generation  würde  die  Formen  zu  größeren  Ein- 
heiten zusammengenommen  haben,  aber  der  klassische  Charakter  des  durch- 
wegs tastbaren  Volumens  ist  auch  hier  schon  vollkommen  ausgesprochen. 
Was  etwa  im  Gewand  als  Flimmern  gedeutet  werden  könnte,  ist  nur  eine 
Wirkung  der  Abbildung.  Ursprünglich  waren  die  einzelnen  Figuren  des 
Stoffes  mit  Farbe  zu  gleichmäßiger  Klarheit  gebracht.  Ebenso  waren  die 
Augensterne,  deren  seitliche  Schiebung  man  leicht  übersieht,  durch  Bemalung 
herausgeholt. 

Bei  Bernini*  ist  die  Arbeit  so  gehalten,  daß  man  mit  linearer  Analyse  nir- 
gends zukommen  kann  und  das  heißt  zugleich,  daß  das  Kubische  sich  der 
unmittelbaren  Faßbarkeit  entzieht.  Die  Flächen  und  Falten  des  Rockes  sind 
nicht  nur  von  Hause  aus  bewegter  Natur  —  was  etwas  Äußerliches  ist  — , 
sondern  sind  grundsätzlich  auf  das  Plastisch-Unbegrenzte  hin  gesehen.  Es 
zuckt  über  die  Flächen  und  die  Form  verliert  sich  unter  der  tastenden  Hand. 


62 


Bernini 
Blitzschnell  wie  Schlänglein  huschen  die  Glanzlichter  der  Höhen  dahin,  ganz 
in  der  Art  wie  Rubens  seine  weißgehöhten  Lichter  in  die  Zeichnungen  ein- 
trägt. Die  Gesamtform  ist  nicht  mehr  auf  Silhouette  hin  gesehen.  Man  ver- 
gleiche die  Erscheinung  der  Achseln:  bei  Benedetto  eine  ruhig  fließende 
Linie,  hier  ein  Kontur,  der,  bewegt  an  sich,  überall  über  den  Rand  hinübet 
weist.  Dasselbe  Spiel  setzt  sich  fort  im  Kopf.  Alles  ist  auf  den  Eindruck 
des  Sich-Wandelnden  angelegt.  Nicht  daß  der  Mund  geöffnet  ist,  entscheidet 
über  den  barocken  Charakter,  aber  daß  der  Schatten  der  Mundspalte  als 
etwas  Plastisch-Unverbindliches  behandelt  ist.  Trotzdem  wir  es  hier  mit  der 
vollrund  modellierten  Form  zu  tun  haben,  ist  es  im  Grunde  dieselbe  Art  von 
Zeichnung,  die  wir  schon  bei  Frans  Hals  und  Lievens  gefunden  haben.  Für 
die  Umsetzung  der  greifbaren  Form  in  die  ungreifbare,  die  nur  eine  optische 
Realität  hat,  sind  dann  immer  Haar  und  Augen  besonders  charakteristisch. 
Hier  ist  der  „Blick"  mit  je  drei  Bohrlöchern  gewonnen  worden. 

63 


Jacopo  Sansovino 


KUNSTGESCt  XICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Barocke  Büsten  scheinen  immer 
nach  reicher  Draperie  zu  verlangen. 
Der  Eindruck  der  Bewegung  im 
Gesicht  bedarf  dieser  Unterstützung 
von  weit  her.  In  der  Malerei  ist  es 
ebenso  und  Greco  wäre  verloren, 
wenn  er  nicht  die  Figurenbewegung 
im  eigentümlichen  Zug  der  Wolken 
am  Himmel  weiterleiten  könnte. 

Wer  nach  den  Übergängen  fragt, 
sei  auf  einen  Namen  wie  Vittoria 
verwiesen.  Seine  Büsten  basieren, 
ohne  im  letzten  Sinne  malerisch 
zu  sein,  durchaus  auf  der  volltö- 
nenden Wirkung  von  Hell  und 
Dunkel.  Die  Entwicklung  der  Pla- 
stik deckt  sich  auch  hier  mit  der 
Malerei,  insofern  eben  der  rein- 
malerische Stil  durch  eine  Behand- 
lung, wo  ein  reicheres  Spiel  von 
Licht  und  Schatten  die  plastische 
Grundform  überspielt,  eingeleitet 
wird.  Sie  ist  noch  immer  da,  die 
Plastizität,  aber  das  Licht  bekommt 


eine  starke  Sonderbedeutung.  An  solchen  dekorativ-malerischen  Wirkungen 
scheint  sich  das  Auge  zu  einem  malerischen  Sehen  im  imitativen  Sinne 
erzogen  zu  haben. 

Für  die  plastische  Vollfigur  bringen  wir  die  Parallele  von  Jacopo  Sanso- 
vino* und  Puget*.  Die  Abbildung  ist  zu  klein,  als  daß  man  von  der  Behand- 
lung der  Einzelform  einen  deutlicheren  Eindruck  bekäme,  trotzdem  macht 
sich  der  Stilgegensatz  mit  größter  Entschiedenheit  fühlbar.  Zunächst  ist  der 
Jacobus  des  Sansovino  ein  Beispiel  klassischer  Silhouettenwirkung.  Leider 
ist  —  wie  so  oft  —  die  Aufnahme  nicht  rein  auf  die  typische  Frontansicht 
eingestellt  und  dadurch  kommt  der  Rhythmus  etwas  verwischt  heraus.  Man 
sieht  an  der  Fußplatte,  wo  der  Fehler  liegt :  daß  der  Photograph  zu  weit 
nach  links  ausgewichen  ist.  Die  Folgen  dieses  Fehlers  machen  sich  überall 
fühlbar,  am  meisten  vielleicht  bei  der  Hand,  die  das  Buch  hält:  das  Buch  ver- 


64 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

kürzt  sich  so  stark,  daß  man  nur 
noch  den  Schnitt  und  nicht  mehr 
seinen  Körper  sieht  und  der  Zu- 
sammenhang von  Hand  und  Unter- 
arm ist  so  unklar  geworden,  daß 
ein  gebildetes  Auge  Einspruch  er- 
heben muß.  Nimmt  man  den  rich- 
tigen Standpunkt  ein,  so  wird  mit 
einem  Male  alles  klar  und  die  An- 
sicht der  höchsten  Klarheit  ist  auch 
die  Ansicht  der  vollendeten  rhyth- 
mischen Geschlossenheit. 

Die  Figur  des  Puget  zeigt  da- 
gegen die  charakteristische  Negation 
des  Umrisses.  Auch  hier  silhouettiert 
sich  natürlich  die  Form  irgendwie 
gegen  den  Hintergrund,  aber  man 
soll  der  Silhouette  nicht  entlang 
gehen.  Sie  bedeutet  nichts  in  bezug 
auf  den  Inhalt,  den  sie  umschließt, 
sie  wirkt  als  ein  Zufälliges,  das  sich 
für  jeden  Standpunkt  ändert,  ohne 
dadurch  besser  oder  schlechter  zu 
werden.  Das  Spezifisch-Malerische 
liegt  nicht  darin,  daß  die  Linie  stark 
bewegt  ist,  sondern  darin,  daß  sie 
die  Form  nicht  faßt  und  festlegt.    Das  gilt  vom  Ganzen  wie  vom  Einzelnen. 

Und  was  den  Lichtgang  anbetrifft,  so  ist  er  allerdings  von  vornherein  viel 
bewegter  als  bei  Sansovino  und  man  sieht  auch,  wie  er  sich  stellenweise  trennt 
von  der  Form,  während  Licht  und  Schatten  dort  ganz  im  Dienste  der  Sach- 
erklärung stehen,  der  malerische  Stil  offenbart  sich  aber  eigentlich  erst  darin, 
daß  dem  Licht  jenes  Leben  für  sich  zugeleitet  ist,  das  die  plastische  Form  dem 
Bereich  der  unmittelbaren  Tastbarkeit  entrückt.  Es  wäre  hier  auf  die  Aus- 
führungen bei  Anlaß  der  Büste  Berninis  zurückzuverweisen.  In  einem  anderen 
Sinne  als  in  der  klassischen  Kunst  ist  die  Gestalt  als  eine  Erscheinung  für  das 
Auge  gedacht.  Die  körperliche  Form  verliert  nicht  das  Merkmal  der  Tastbar- 
keit, aber  der  Reiz,  den  sie  auf  die  Tastorgane  ausübt,  ist  nicht  mehr  das 

5  H.  W.,  G.  2.  A.  65 


Puget 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Primäre.  Das  hindert  nicht,  daß  der  Stein  in  der  Oberflächenbehandlung  eine 
größere  Stofflichkeit  gewonnen  hat  als  früher.  Auch  diese  Stofflichkeit  —  die 
Unterscheidung  von  Härte  und  Weichheit  usw.  —  ist  ja  eine  Illusion,  die  wir 
nur  dem  Auge  verdanken  und  die  vor  der  prüfenden  Hand  sich  sofort  ver- 
flüchtigen würde. 

Was  an  weiteren  Momenten  zur  Steigerung  des  Bewegungseindrucks  hin- 
zukommt :  die  Sprengung  des  tektonischen  Gerüstes,  die  Umsetzung  der  Flä- 
chenkomposition in  eine  Tiefenkomposition  und  dergleichen  muß  einstweilen 
außer  Betracht  bleiben,  dagegen  gehört  hierher  noch  die  Bemerkung,  daß  der 
Nischenschatten  in  der  malerischen  Plastik  zum  integrierenden  Bestandteil 
der  Wirkung  geworden  ist.  Er  greift  mit  ein  in  die  Lichtbewegung  der  Figur. 
So  findet  man  bei  den  Zeichnern  des  Barock,  daß  sie  keine  noch  so  flüchtige 
Porträtskizze  auf  das  Papier  setzen,  ohne  einen  Hintergrundschatten  dazu- 
zugeben. 

Es  liegt  in  der  Konsequenz  einer  Plastik,  die  bildmäßige  Wirkungen  ver- 
folgt, daß  ihr  die  Wand-  und  Reihenfigur  sympathischer  sein  muß  als  die  all- 
seitig umgehbare  Freifigur.  Trotzdem  gerade  der  Barock  es  ist  —  wir  kom- 
men darauf  zurück  — -,  der  sich  dem  Bann  der  Fläche  entwindet,  so  hat  er  ein 
grundsätzliches  Interesse  daran,  die  Ansichtsmöglichkeiten  zu  beschränken. 
Dafür  sind  gerade  die  Meisterschöpfungen  Berninis*  sehr  bezeichnend,  vor 
allem  diejenigen,  die,  in  der  Art  der  heiligen  Therese,  in  ein  halboffenes  Ge- 
häuse eingeschlossen  sind.  Überschnitten  durch  die  Rahmenpfeiler  und  von 
oben  her  aus  einer  eigenen  Lichtquelle  beleuchtet,  wirkt  diese  Gruppe  durch- 
aus bildmäßig,  das  heißt,  als  etwas,  das  der  tastbaren  Wirklichkeit  in  einem 
gewissen  Sinne  entrückt  ist.  Und  nun  ist  durch  eine  malerische  Behandlung 
der  Form  des  weiteren  dafür  gesorgt,  dem  Stein  das  unmittelbar  Tastbare  zu 
nehmen.  Die  Linie  als  Grenze  ist  ausgeschaltet  und  die  Flächen  sind  mit  so 
viel  Bewegung  durchsetzt,  daß  der  Charakter  der  Greifbarkeit  im  Eindruck 
des  Ganzen  mehr  oder  weniger  zurücktritt. 

Man  denke  als  Gegensatz  an  die  liegenden  Gestalten  Michelangelos  in  der 
Medicäerkapelle.  Da  sind  es  reine  Silhouettenfiguren.  Auch  die  verkürzte 
Form  ist  in  die  Fläche  aufgenommen,  das  heißt,  auf  sprechende  Silhouetten- 
wirkung gebracht.  Bei  Bernini  umgekehrt  ist  alles  getan,  daß  die  Form  sich 
nicht  zeichne  im  Umriß.  Der  Gesamtumriß  seiner  verzückten  Heiligen  ergibt 
eine  völlig  sinnlose  Figur  und  das  Gewand  ist  so  modelliert,  daß  keine  lineare 
Analyse  ihm  beikommen  könnte.  Die  Linie  blitzt  auf  da  und  dort,  aber  nur 
auf  Augenblicke.    Nichts  Festes  und  Faßbares,  alles  Bewegung  und  ewiger 

66 


Bernini 


Wechsel.  Der  Eindruck  wesentlich  abgestellt  auf  das  Spiel  von  Licht  und 
Schatten. 

Licht  und  Schatten  —  auch  Michelangelo  läßt  sie  sprechen  und  sogar  in 
reichen  Gegensätzen,  aber  sie  bedeuten  für  ihn  immer  noch  plastische  Werte. 
Als  begrenzte  Massen  bleiben  sie  der  Form  untergeordnet.  Bei  Bernini  da- 
gegen haben  sie  den  Charakter  des  Unbegrenzten  und  als  ob  sie  nicht  mehr 
hafteten  an  bestimmten  Formen  jagen  sie,  ein  entbundenes  Element,  in  wil- 
dem Spiel  über  Flächen  und  Klüfte  dahin. 

Wie  große  Zugeständnisse  an  den  bloß  optischen  Schein  jetzt  gemacht  wer- 
den, zeigt  die  höchst  stoffliche  Wirkung  des  Fleisches  und  der  Gewebe  (das 

5*  67 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Hemd  des  Engels!).  Und  aus  demselben  Geist  sind  die  illusionär  behandelten 
Wolken  hervorgegangen,  die  scheinbar  freischwebend  der  Heiligen  als  Unter- 
lage dienen. 

Was  für  Folgerungen  für  das  Relief  aus  solchen  Prämissen  sich  ergeben,  ist 
leicht  einzusehen  und  bedarf  kaum  mehr  der  Illustrierung.  Es  wäre  töricht, 
zu  glauben,  daß  ihm  der  rein  plastische  Charakter  immer  versagt  bleiben 
müßte,  weil  es  nicht  mit  einer  vollrunden  Körperlichkeit  arbeitet.  Auf  diese 
grob-materiellen  Unterschiede  kommt  es  nicht  an.  Auch  Freifiguren  können 
ja  reliefmäßig  abgeplattet  sein,  ohne  den  Charakter  des  körperlich  Vollen  zu 
verlieren :  die  Wirkung  ist  das  Entscheidende,  nicht  der  sinnliche  Tatbestand. 


Die  Architektur 

i. 

allgemeines  -|— -v  ie  Untersuchung  des  Malerischen  und  Nicht-Malerischen  in  den  tekto- 
J— /  nischen  Künsten  bietet  das  besondere  Interesse,  daß  hier  erst  der  Be- 
griff, losgelöst  aus  der  Vermischung  mit  den  Forderungen  der  Imitation,  als 
reiner  Begriff  der  Dekoration  sichtbar  wird.  Natürlich  liegen  die  Verhältnisse 
nicht  ganz  gleich  für  Malerei  und  Architektur  —  die  Architektur  kann  ihrer 
Natur  nach  nicht  im  selben  Grade  wie  die  Malerei  zur  Kunst  des  Scheins 
werden  — ,  allein  der  Unterschied  ist  doch  nur  ein  gradueller  und  die  wesent- 
lichen Momente  der  Definition  des  Malerischen  können  unverändert  herüber- 
genommen werden. 

Das  elementare  Phänomen  ist  dieses:  daß  zwei  ganz  verschiedene  Wir- 
kungen der  Architektur  zustande  kommen,  je  nachdem  wir  die  architekto- 
nische Gestalt  als  etwas  Bestimmtes,  Festes,  Bleibendes  auffassen  müssen, 
oder  als  etwas,  das  bei  aller  Stabilität  doch  umspielt  ist  von  dem  Schein  stän- 
diger Bewegung,  das  heißt  Veränderung.  Daß  wir  uns  nicht  mißverstehen! 
Natürlich  rechnet  alle  Architektur  und  Dekoration  mit  gewissen  Bewegungs- 
suggestionen:  die  Säule  wächst  empor,  in  der  Mauer  sind  lebendige  Kräfte 
wirksam,  die  Kuppel  hebt  sich  und  die  bescheidenste  Ranke  im  Ornament  hat 
ihr  Teil  von  bald  schleichender,  bald  lebhaft  sich  werfender  Bewegung.  Aber 
bei  all  dieser  Bewegung  bleibt  in  der  klassischen  Kunst  das  Bild  dasselbe, 
während  die  nachklassische  Kunst  den  Schein  erweckt,  als  müßte  es  sich 
unter  unseren  Augen  verändern.  Das  ist  der  Unterschied  zwischen  einer  Ro- 
kokodekoration und  einem  Renaissanceornament.  Eine  Pilasterfüllung  hier 
mag  noch  so  lebendig  gezeichnet  sein,  die  Erscheinung  bleibt,  die  sie  ist,  wäh- 
rend das  Ornament,  wie  es  das  Rokoko  über  die  Flächen  streut,  den  Eindruck 

68 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS  MALERISCHE 
erweckt,  als  befinde  es  sich  in  ständiger  Wandlung.  Und  ähnlich  ist  die  Wir- 
kung der  großen  Architektur.  Die  Gebäude  laufen  nicht  davon  und  Mauer 
bleibt  Mauer,  aber  es  besteht  ein  sehr  fühlbarer  Unterschied  zwischen  der  fer- 
tigen Erscheinung  klassischer  Baukunst  und  dem  nie  ganz  faßbaren  Bilde  der 
späteren  Kunst :  es  ist,  als  hätte  der  Barock  sich  gescheut,  jemals  ein  letztes 
Wort  auszusprechen. 

Dieser  Eindruck  des  Werdenden,  Ungestillten  hat  verschiedene  Gründe, 
alle  späteren  Kapitel  werden  uns  zur  Erklärung  Beiträge  liefern,  hier  soll  nur 
das  erörtert  werden,  was  in  einem  spezifischen  Sinne  malerisch  heißen  kann, 
während  der  populäre  Sprachgebrauch  alles  malerisch  nennt,  was  sich  irgend- 
wie mit  dem  Eindruck  des  Bewegten  verbindet. 

Man  hat  mit  Recht  gesagt,  die  Wirkung  eines  schön  proportionierten  Rau- 
mes müßte  empfunden  werden,  auch  wenn  man  mit  verbundenen  Augen  hin- 
durchgeführt würde.  Der  Raum  als  etwas  Körperliches  kann  nur  wieder  mit 
körperlichen  Organen  aufgefaßt  werden.  Diese  Raumwirkung  ist  aller  Archi- 
tektur eigen.  Wenn  nun  aber  ein  malerischer  Reiz  dazu  kommt,  so  ist  das 
etwas  Rein-Optisches,  Bildhaftes  und  darum  auch  jener  allgemeinsten  Art 
von  Tastgefühl  nicht  mehr  zugänglich.  Ein  Raumdurchblick  ist  malerisch 
nicht  durch  die  architektonische  Qualität  der  einzelnen  Räume,  sondern  durch 
das  Bild,  das  Augenbild,  das  der  Beschauer  empfängt.  Jede  Überschneidung 
wirkt  durch  das  Bild,  das  aus  der  überschneidenden  und  der  überschnittenen 
Form  sich  ergibt :  die  einzelne  Form  für  sich  läßt  sich  ertasten,  das  Bild  aber, 
das  aus  dem  Hintereinander  der  Formen  entsteht,  kann  nur  gesehen  werden. 
Wo  immer  also  mit  „Ansichten"  gerechnet  wird,  stehen  wir  auf  malerischem 
Boden. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  auch  die  klassische  Architektur  gesehen 
werden  will  und  daß  ihre  Tastbarkeit  nur  eine  ideelle  Bedeutung  hat.  Und  eben- 
so kann  man  natürlich  auch  hier  das  Bauwerk  auf  vielerlei  Art  ansehen,  ver- 
kürzt oder  unverkürzt,  mit  viel  oder  mit  wenig  Überschneidung  usw.,  allein 
es  wird  in  allen  Ansichten  doch  die  tektonische  Grundform  als  das  Entschei- 
dende durchschlagen  und  wo  diese  Grundform  sich  entstellt,  da  wird  man  das 
Zufällige  einer  bloßen  Nebenansicht  empfinden  und  nicht  lange  dulden  wol- 
len. Umgekehrt  hat  die  malerische  Architektur  ein  besonderes  Interesse,  die 
Grundform  in  möglichst  vielen  und  verschiedenartigen  Bildern  erscheinen  zu 
lassen.  Während  im  klassischen  Stil  die  bleibende  Form  den  Akzent  hat  und 
die  wechselnde  Erscheinung  daneben  keinen  selbständigen  Wert  besitzt,  ist 
hier  die  Komposition  von  vornherein  auf  „Bilder"  angelegt.  Je  vielfacher  sie 

69 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

sind  und  je  mehr  sie  sich  von  der  objektiven  Form  entfernen,  für  um  so  male- 
rischer wird  die  Architektur  geschätzt. 

Im  Treppenhaus  eines  reichen  Rokokoschlosses  sucht  man  nicht  nach  der 
festen,  bleibenden,  körperlichen  Gestalt  der  Anlage,  sondern  man  überläßt  sich 
dem  Wogen  der  wechselnden  Ansichten,  überzeugt,  daß  dies  nicht  zufällige 
Nebenwirkungen  sind,  sondern  daß  in  diesem  unendlichen  Bewegungsschau - 
spiel  das  eigentliche  Leben  des  Baues  zum  Ausdruck  gelangt. 

Der  Bramantesche  St.  Peter  als  Rundbau  mit  Kuppeln  hätte  auch  viele  An- 
sichten ergeben,  allein  die  malerischen  in  unserem  Sinne  wären  für  den  Archi- 
tekten und  seine  Zeitgenossen  die  bedeutungslosen  gewesen.  Das  Seiende  war 
das  Wesentliche,  nicht  die  so  oder  so  verschobenen  Bilder.  Im  strengeren 
Sinne  könnte  die  architektonische  Architektur  prinzipiell  gar  keinen  Stand- 
punkt des  Beschauers  anerkennen  —  es  ergeben  sich  immer  gewisse  Verschie- 
bungen der  Form  —  oder  alle;  die  malerische  Architektur  dagegen  rechnet 
immer  mit  dem  betrachtenden  Subjekt  und  darum  ist  es  ihr  gar  nicht  er- 
wünscht, allseitig  umgehbare  Gebäude  zu  bekommen,  wie  Bramante  sich  sei- 
nen St.  Peter  gedacht  hatte;  sie  beschränkt  den  Platz  für  den  Beschauer,  um 
sicherer  zu  den  Ansichtswirkungen  zu  kommen,  die  ihr  am  Herzen  liegen. 

Wenn  die  Frontansicht  immer  eine  Art  Ausschließlichkeit  für  sich  in  An- 
spruch nehmen  wird,  so  trifft  man  jetzt  doch  überall  Kompositionen,  die  deut- 
lich darauf  ausgehen,  die  Bedeutung  dieser  Ansicht  zu  entwerten.  Sehr  klar 
ist  das  etwa  bei  der  Karl-Borromäus-Kirche  in  Wien  mit  den  zwei  der  Front 
vorgestellten  Säulen,  deren  Wert  erst  in  den  nichtfrontalen  Ansichten  sich 
offenbart,  wenn  die  Säulen  unter  sich  ungleich  werden  und  die  zentrale  Kup- 
pel überschnitten  wird. 

Aus  demselben  Grunde  ist  es  nicht  als  Unglück  empfunden  worden,  wenn 
eine  Barockfassade  in  die  Gasse  so  eingestellt  war,  daß  sie  überhaupt  kaum 
frontal  übersehen  werden  konnte,  Die  Theatinerkirche  in  München,  ein  be- 
rühmtes Beispiel  einer  Doppelturmfassade,  ist  erst  von  Ludwig  I.  im  Zeit- 
alter des  Klassizismus  freigelegt  worden,  ursprünglich  steckte  sie  zur  Hälfte 
in  der  engen  Gasse.  Die  Erscheinung  mußte  also  immer  eine  optisch-asymme- 
trische sein.  — 

Man  weiß,  daß  der  Barock  den  Reichtum  der  Form  gesteigert  hat.  Die  Fi- 
guren werden  komplizierter,  die  Motive  schieben  sich  ineinander,  die  Ord- 
nung der  Teile  ist  schwerer  zu  fassen.  So  weit  das  mit  der  grundsätzlichen 
Vermeidung  des  Absolut-Klaren  zusammenhängt,  wird  später  noch  von  die- 
sen Dingen  zu  reden  sein,  hier  soll  das  Phänomen  nur  insofern  behandelt  wer- 

70 


I.  DAS  LINEARE  UND   DAS   MALERISCHE 

den,  als  darin  die  spezifisch  malerische  Umsetzung  der  reinen  Tastwerte  in 
Sehwerte  zur  Geltung  kommt.  Der  klassische  Geschmack  arbeitet  durchweg 
mit  linienklaren,  tastbaren  Grenzen;  jede  Fläche  ist  bestimmt  gerandet;  jeder 
Kubus  spricht  als  völlig  tastbare  Form,  es  ist  nichts  da,  was  nicht  in  seiner 
Körperlichkeit  rein  auffaßbar  wäre.  Der  Barock  entwertet  die  Linie  als 
Grenzsetzung,  er  vervielfacht  die  Ränder  und  indem  die  Form  an  sich  sich 
kompliziert  und  die  Ordnung  eine  verwickeitere  wird,  wird  es  den  einzelnen 
Teilen  immer  schwerer,  als  plastische  Werte  zur  Geltung  zu  kommen:  es  ent- 
zündet sich,  unabhängig  von  der  besonderen  Ansicht,  eine  (rein-optische)  Be- 
wegung über  die  Gesamtheit  der  Formen  hin.  Die  Wand  vibriert,  der  Raum 
zuckt  in  allen  Winkeln. 

Ausdrücklich  soll  hier  davor  gewarnt  werden,  diesen  malerischen  Bewe- 
gungseffekt mit  der  großen  Massenbewegung  gewisser  italienischer  Bau- 
werke gleichzusetzen.  Das  Pathos  geschwungener  Mauern  und  gewaltiger 
Säulenhaufen  ist  nur  ein  Sonderfall.  Malerisch  ist  ganz  ebensogut  das  leise 
Flimmern  einer  Front  mit  kaum  merklichen  Ausladungen.  Was  ist  nun  aber 
der  eigentliche  Antrieb  bei  dieser  Stilwandlung?  Mit  dem  bloßen  Hinweis  auf 
den  Reiz  gesteigerten  Reichtums  ist  nicht  auszukommen,  es  handelt  sich  ja 
auch  nicht  um  eine  Wirkungssteigerung  auf  gleicher  Basis,  auch  im  reichsten 
Barock  sind  nicht  nur  mehr  Formen  da,  sondern  Formen  von  einer  generell 
anderen  Wirkung.  Offenbar  haben  wir  dasselbe  Verhältnis  vor  uns  wie  in  der 
Entwicklung  der  Zeichnung  von  Holbein  zu  van  Dyck  und  Rembrandt.  Auch 
in  der  tektonischen  Kunst  soll  sich  nichts  mehr  verfestigen  in  tastbaren  Li- 
nien und  Flächen,  auch  in  der  tektonischen  Kunst  soll  der  Eindruck  des  Blei- 
benden aufgehoben  werden  durch  den  Eindruck  des  Sich-Verändernden,  auch 
in  der  tektonischen  Kunst  soll  die  Form  atmen.  Das  ist,  abgesehen  von  allen 
Ausdrucksverschiedenheiten,  die  Grundidee  des  Barock. 

Der  Eindruck  der  Bewegung  aber  wird  erst  dann  erreicht,  wenn  an  Stelle 
der  körperlichen  Realität  der  optische  Schein  tritt.  Das  ist,  wie  schon  be- 
merkt, in  der  tektonischen  Kunst  nicht  im  gleichen  Maße  möglich  wie  in  der 
Malerei,  man  wird  vielleicht  von  einer  impressionistischen  Ornamentik,  aber 
nicht  von  einer  impressionistischen  Architektur  sprechen  können.  Aber  immer 
hin  stehen  der  Baukunst  genügende  Mittel  zur  Verfügung,  um  dem  klassi- 
schen Typ  den  malerischen  Kontrast  entgegenzusetzen.  Immer  kommt  es 
darauf  an,  wie  weit  die  Einzelform  der  (malerischen)  Gesamtbewegung  sich 
gefügig  zeigt.  Die  entwertete  Linie  verflicht  sich  leichter  in  das  große  For- 
menspiel als  die  plastisch  bedeutsame,  grenzbezeichnende  Linie.    Licht  und 

7i 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Schatten,  die  an  jeder  Form  hängen,  werden  in  dem  Augenblick  zu  einem  male- 
rischen Element,  wo  sie  etwas  Selbständiges  neben  der  Form  zu  bedeuten 
scheinen.  Im  klassischen  Stil  sind  sie  an  die  Form  gebunden,  im  malerischen 
erscheinen  sie  als  entbunden  und  zu  freiem  Leben  erwacht.  Es  sind  nicht 
mehr  die  Schatten  der  einzelnen  Pilaster  und  Gesimse  und  Fensterverdachun- 
gen,  die  man  wahrnimmt  oder  wenigstens  nicht  mehr  sie  allein:  die  Schatten 
binden  sich  untereinander  und  die  plastische  Form  kann  anf  Augenblicke  ganz 
untergehen  in  der  Gesamtbewegung,  die  die  Fläche  überspielt.  Bei  Innen- 
räumen kann  diese  freie  Lichtbewegung  in  Kontrasten  des  Blendend-Hellen 
und  des  Nächtlich-Dunkeln  geführt  sein  oder  in  lauter  hellen  Tönen  erzittern : 
das  Prinzip  bleibt  dasselbe.  Dort  wird  man  an  die  starke  plastische  Bewegung 
italienischer  Kirchenräume  denken,  hier  an  die  flimmernde  Helligkeit  eines 
ganz  leise  modellierten  Rokokozimmers.  Daß  das  Rokoko  die  Spiegelwände 
geliebt  hat,  heißt  nicht  nur,  daß  es  die  Helligkeit  liebte,  sondern  daß  es  auch 
die  Wand  als  körperliche  Fläche  durch  den  Schein  der  unfaßbaren  Nicht- 
Fläche, des  spiegelnden  Glases,  zu  entwerten  wünschte. 

Der  Todfeind  des  Malerischen  ist  die  Isolierung  der  einzelnen  Form.  Damit 
die  Bewegungsillusion  zustande  kommt,  müssen  die  Formen  zusammen- 
rücken, sich  verflechten,  ineinander  verschmelzen.  Ein  malerisch  komponiertes 
Möbel  braucht  immer  Atmosphäre :  man  kann  eine  Rokokokommode  nicht  an 
einer  beliebigen  Wand  aufstellen,  die  Bewegung  muß  weiterklingen.  Es  ist 
der  besondere  Reiz  einheitlicher  Rokokokirchen,  daß  jeder  Altar,  jeder  Beicht- 
stuhl in  das  Ganze  eingeschmolzen  ist.  Wie  weit  in  folgerichtiger  Weiterent- 
wicklung der  Forderung  auch  die  tektonischen  Schranken  aufgehoben  wer- 
den, lernt  man  mit  Erstaunen  an  Beispielen  höchster  malerischer  Be- 
wegung, wie  etwa  der  Johann-Nepomuk-Kapelle  der  Brüder  Asam  in 
München. 

Sobald  der  Klassizismus  wieder  erscheint,  treten  die  Formen  augenblicklich 
auseinander.  An  der  Palastfront  sieht  man  wieder  Fenster  neben  Fenster, 
einzeln  faßbar.  Der  Schein  ist  zerstoben.  Die  körperliche  Form,  die  feste 
und  bleibende,  soll  sprechen  und  das  heißt,  daß  die  Elemente  der  tastbaren 
Welt  wieder  die  Führung  bekommen,  die  Linie,  die  Fläche,  der  geometrische 
Körper.  Alle  klassische  Architektur  sucht  die  Schönheit  in  dem,  was  ist,  barocke 
Schönheit  ist  Schönheit  der  Bewegung.  Dort  haben  die  „reinen"  Formen  ihre 
Heimat  und  man  sucht  der  Vollkommenheit  ewig-gültiger  Proportionen  sicht- 
bare Gestalt  zu  geben,  hier  verblaßt  der  Wert  des  vollendeten  Seins  vor  der 
Vorstellung  des  atmenden  Lebens.    Die  Beschaffenheit  des  Körpers  ist  nicht 

72 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

gleichgültig,   aber  das  erste  ist,   daß  er  sich  bewege:  in  der  Bewegung  vor 
allem  liegt  der  Reiz  des  Lebendigen. 

Das  sind  Grundunterschiede  der  Weltanschauung.  Was  wir  hier  über 
malerisch  und  nichtmalerisch  auseinandergesetzt  haben,  bildet  einen  Teil  des 
Ausdrucks,  den  die  Weltanschauung  sich  in  der  Kunst  gegeben  hat.  Der 
Geist  des  Stiles  ist  aber  gleichmäßig  gegenwärtig  im  großen  wie  im  kleinen. 
Ein  bloßes  Gefäß  genügt,  den  weltgeschichtlichen  Gegensatz  zu  illustrieren. 
Wenn  Holbein*  einen  Krug  zeichnet,  so  ist  es  die  plastisch-geschlossene  Ge- 
stalt in  absoluter  Vollendung;  eine  Kanne  des  Rokoko*  gibt  die  malerisch  un- 
begrenzte Erscheinung;  sie  legt  sich  in  keinem  faßbaren  Umriß  fest  und  die 
Flächen  sind  von  einer  Lichtbewegung  überspielt,  die  ihre  Greifbarkeit  illuso- 
risch macht;  die  Form  erschöpft  sich  nicht  in  einer  Ansicht,  sondern  behält 
für  den  Betrachter  etwas  Unendliches  (Abb.  S.  242). 

Mag  man  noch  so  haushälterisch  mit  den  Begriffen  umgehen,  die  zwei  Worte 
malerisch  und  nichtmalerisch  genügen  schlechterdings  nicht,  die  zahllosen 
Nuancen  der  geschichtlichen  Entwicklung  zu  bezeichnen. 

Zunächst  scheiden  sich  landschaftliche  und  nationale  Charaktere;  der  ger- 
manischen Rasse  steckt  von  vornherein  das  malerische  Wesen  im  Blute  und 
sie  hat  in  der  Nähe  der  „absoluten"  Architektur  sich  nie  lange  wohl  gefühlt. 
Man  muß  nach  Italien  gehen,  um  den  Typus  kennen  zu  lernen.  Jener  Baustil, 
der  die  neuere  Zeit  beherrscht  und  im  15.  Jahrhundert  seinen  Anfang  genom- 
men hat,  ist  in  der  klassischen  Epoche  von  allen  malerischen  Nebenabsichten 
befreit  und  zu  einem  reinen  ,,Linear"-Stil  ausgebildet  worden.  Bramante 
hat,  dem  Quattrocento  gegenüber,  immer  folgerichtiger  die  architektonische 
Wirkung  auf  rein  körperliche  Werte  zu  stellen  unternommen.  Aber  schon  im 
Italien  der  Renaissance  gibt  es  wieder  Unterschiede.  Oberitalien,  im  beson- 
dern Venedig,  ist  immer  malerischer  gewesen  als  Toskana  und  Rom,  und  es 
hilft  nichts,  man  muß  den  Begriff  schon  innerhalb  der  linearen  Epoche  ver- 
wenden. 

Die  barocke  Wandlung  ins  Malerische  hat  in  Italien  ebenfalls  in  einer 
glänzenden  Entwicklung  sich  vollzogen,  aber  man  darf  nicht  vergessen,  daß 
die  letzten  Konsequenzen  erst  im  Norden  gezogen  worden  sind.  Hier  scheint 
die  malerische  Empfindung  am  Boden  zu  haften.  Schon  in  der  sogenannten 
deutschen  Renaissance,  die  doch  mit  soviel  Ernst  und  Nachdruck  die  neuen 
Formen  auf  ihren  plastischen  Gehalt  hin  empfand,  ist  der  malerische  Effekt 
oft  das  Beste.  Die  fertige  Form  bedeutet  der  germanischen  Phantasie  zu 
wenig,  sie  muß  immer  überspielt  sein  von  dem  Reiz  der  Bewegung.  So  kommt 

73 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

es,  daß  innerhalb  des  Bewegungsstiles  Deutschland  Bauten  von  unvergleich- 
licher malerischer  Art  hervorgebracht  hat.  Gemessen  an  solchen  Mustern, 
läßt  der  Barock  in  Italien  immer  noch  die  plastische  Grundempfindung  durch- 
spüren und  für  die  in  lauter  Lichtblitzen  versprühende  Kunst  des  Rokoko  ist 
die  Heimat  Bramantes  nur  in  sehr  bedingter  Weise  zugänglich  gewesen. 

Was  die  zeitliche  Folge  anbetrifft,  so  sind  die  Tatsachen  natürlich  auch 
nicht  mit  zwei  Begriffen  zu  fassen.  Die  Entwicklung  verläuft  in  unmerklichen 
Übergängen  und  was  ich  im  Vergleich  zu  einem  älteren  Beispiel  malerisch 
nenne,  kann  mir  im  Vergleich  zu  einem  jüngeren  unmalerisch  vorkommen. 
Besonders  interessant  sind  die  Fälle,  wo  innerhalb  einer  malerischen  Gesamt- 
anschauung lineare  Typen  auftreten.  Das  Rathaus  von  Amsterdam  z.  B.  mit 
seinen  glatten  Mauern  und  den  nackten  Rechtecken  seiner  Fensterreihen 
scheint  ein  unüberbietbares  Muster  von  Linearismus  zu  sein.  In  der  Tat  ist 
es  einer  klassizistischen  Reaktion  entsprungen,  aber  die  Verbindung  nach 
dem  malerischen  Pol  fehlt  doch  nicht:  wie  die  Zeitgenossen  den  Bau  gesehen 
haben,  darauf  kommt  es  an  und  das  erfährt  man  aus  den  vielen  Bildern,  die 
im  17.  Jahrhundert  darnach  gemalt  worden  sind  und  die  alle  ganz  anders  aus- 
sehen, als  wenn  etwa  später  ein  entschlossener  Linearist  sich  des  Themas  be- 
mächtigt. Lange  Reihen  von  gleichmäßigen  Fensterscheiben  sind  an  sich 
nicht  unmalerisch,  es  fragt  sich  nur,  wie  sie  gesehen  werden.  Der  eine  sieht 
nur  die  Linien  und  die  rechten  Winkel,  für  den  anderen  sind  es  die  höchst 
reizvoll  in  Hell  und  Dunkel  vibrierenden  Flächen. 

Jede  Zeit  faßt  die  Dinge  mit  ihren  Augen  auf  und  niemand  wird  ihr  das 
Recht  dazu  bestreiten,  der  Historiker  aber  muß  jedesmal  fragen,  wie  ein  Ding 
von  sich  aus  gesehen  zu  werden  verlangt.  In  der  Malerei  ist  das  leichter  als 
in  der  Architektur,  wo  der  willkürlichen  Auffassung  keine  Schranken  gesetzt 
sind.  Unser  kunsthistorisches  Abbildungsmaterial  ist  durchsetzt  mit  falschen 
Ansichten  und  falschen  Wirkungsinterpretationen.  Hier  hilft  nur  die  Kon- 
trolle durch  das  zeitgenössische  Bild. 

Ein  vielformiger,  spätgotischer  Bau,  wie  das  Rathaus  von  Löwen,  darf 
nicht  so  gezeichnet  werden,  wie  ein  modernes,  impressionistisch  erzogenes 
Auge  ihn  sieht  (wenigstens  ergibt  das  keine  wissenschaftlich  brauchbare  Auf- 
nahme) und  eine  flachgeschnitzte,  spätgotische  Truhe  darf  nicht  in  der  glei- 
chen Art  aufgefaßt  werden  wie  eine  Rokokokommode:  beide  Objekte  sind 
malerisch,  allein  der  zeitgenössische  Bildervorrat  gibt  dem  Historiker  ge- 
nügend deutliche  Weisungen,  wie  das  eine  Malerische  vom  andern  unter- 
schieden bleiben  soll. 

74 


Rom,  Ss.  Apostoli 


2. 

Von  dem  Unterschied  malerischer  und  nicht-malerischer  (oder  strenger) 
Architektur  wird  man  eine  anschauliche  Vorstellung  am  bequemsten  da  ge- 
winnen können,  wo  der  malerische  Geschmack  mit  einem  Bauwerk  des  alten 
Stils  sich-  hat  auseinandersetzen  müssen,  das  heißt  wo  ein  Umbau  ins  Male- 
rische vorliegt. 

Die  Kirche  Ss.  Apostoli*  in  Rom  besitzt  einen  Vorbau,  der  im  Stil  der  Früh- 
renaissance als  zweigeschossige  Bogenhalle  ausgebildet  war,  mit  Pfeilern 
unten  und  dünnen  Säulen  oben.  Im  18.  Jahrhundert  ist  die  obere  Halle  ge- 
schlossen worden.  Ohne  das  System  zu  zerstören  wurde  eine  Wand  geschaf- 
fen, die,  durchaus  auf  den  Eindruck  der  Bewegung  abgestellt,  in  typischem 
Gegensatz  zum  strengen  Charakter  des  Erdgeschosses  steht.  Insofern  dieser 
Eindruck  der  Bewegung  mit  Mitteln  der  Atektonik  erreicht  ist  (Hinauf- 
rücken der  Fenstergiebel  über  die  Linie  des  Bogenansatzes)  oder  aus  dem 
Motiv  der  rhythmischen  Gliederung  sich  herleitet  (ungleiche  Akzentuierung 

75 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

der  Felder  durch  die  Statuen  der  Balustrade),  lassen  wir  die  Sache  auf  sich 
beruhen;  auch  die  eigentümliche  Gestaltung  des  Mittelfensters,  das  aus  der 
Fläche  herausdrängt  —  am  Rande  unserer  Abbildung  — ,  darf  uns  hier  noch 
nicht  beschäftigen;  wurzelhaft  malerisch  aber  ist  das,  daß  die  Formen  hier 
durchweg  das  Isolierte  und  Tastbar-Körperliche  verloren  haben,  so  daß  die 
Pfeiler  und  Bogen  der  unteren  Halle  daneben  wie  etwas  ganz  anderes,  als 
die  einzigen  wirklich-plastischen  Werte  erscheinen.  Das  liegt  nicht  an  der 
stilistischen  Einzelbildung,  der  Geist  der  Formgebung  ist  ein  anderer.  Nicht 
die  bewegte  Führung  der  Linie  an  sich  (in  der  Brechung  der  Giebelecken)  ist 
das  Entscheidende,  noch  die  Vervielfachung  der  Linie  an  sich  (in  den  Bogen 
und  den  Trägern),  sondern  daß  eine  Bewegung  sich  erzeugt,  die  über  das 
Ganze  hinzittert.  Diese  Wirkung  setzt  voraus,  daß  der  Beschauer  von  dem 
bloß  tastbaren  Charakter  der  architektonischen  Formen  abzusehen  vermag 
und  imstande  ist,  dem  optischen  Schauspiel  sich  hinzugeben,  wo  Schein  mit 
Schein  sich  verflicht.  Die  Formbehandlung  leistet  dieser  Auffassung  allen 
denkbaren  Vorschub.  Es  ist  schwer,  fast  unmöglich,  der  alten  Säule  als  pla- 
stischer Form  habhaft  zu  werden,  und  die  ursprünglich  einfache  Archivolte 
ist  der  unmittelbaren  Greifbarkeit  nicht  minder  entzogen.  Durch  Ineinander- 
schachtelung  der  Motive  —  Bogen  und  Giebel  —  kompliziert  sich  die  Er- 
scheinung vollends  derart,  daß  man  immer  mehr  die  Gesamtbewegung  der 
Fläche  als  die  einzelne  körperliche  Form  aufzufassen  getrieben  wird. 

In  der  strengen  Architektur  wirkt  jede  Linie  als  Kante  und  jedes  Volumen 
als  fester  Körper;  in  der  malerischen  Architektur  setzt  der  Eindruck  der 
Körperlichkeit  nicht  aus,  aber  mit  der  Vorstellung  des  Tastbaren  verbindet 
sich  jene  Illusion  von  durchgehender  Bewegung,  die  sich  gerade  aus  den 
nicht-tastmäßigen  Momenten  des  Eindruckes  herleitet. 

Eine  Balustrade  des  strengen  Stils  ist  die  Summe  von  soundso  viel  Balu- 
stern, die  sich  als  tastbare  Einzelkörper  im  Eindruck  behaupten,  bei  einer 
malerischen  Balustrade  dagegen  ist  es  das  Geflimmer  des  Formganzen,  das  in 
der  Wirkung  voransteht. 

Eine  Decke  der  Renaissance  ist  ein  System  von  klar  begrenzten  Feldern; 
im  Barock,  auch  wo  die  Zeichnung  sich  nicht  verwirrt  und  die  tektonischen 
Grenzen  nicht  aufgehoben  sind,  ist  es  die  Bewegung  des  Ganzen,  auf  die  die 
künstlerische  Absicht  eingestellt  ist. 

Was  solch  eine  Bewegung  im  großen  bedeutet,  erhellt  nun  ganz  überzeu- 
gend aus  einem  Beispiel  wie  der  Prachtfassade  von  S.  Andrea*  in  Rom.  Un- 
nötig, das  klassische  Gegenstück  daneben  abzubilden.  Form  um  Form  ist  hier 

76 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

gleich  einzelnen  Wellen  derart  in  das  Gesamtgewoge  übergeführt,  daß  sie 
darin  vollständig  untergeht.  Ein  Prinzip,  das  dem  der  strengen  Architektur 
direkt  zuwiderläuft.  Man  kann  absehen  von  den  besonderen  dynamischen 
Mitteln,  die  hier  zugunsten  der  starken  Bewegung  aufgeboten  sind  —  das 
Vortreten  der  Mitte,  die  Häufung  der  Kraftlinien,  die  Brechung  von  Gesim- 
sen und  Giebeln  — ,  als  unterscheidendes  Merkmal  gegenüber  aller  Re- 
naissance bleibt  immer  übrig,  wie  die  Formen  ineinander  spielen,  so  daß  un- 
abhängig vom  einzelnen  Wandfeld,  unabhängig  von  den  besonderen  füllen- 
den, rahmenden,  gliedernden  Formen  ein  Bewegungsschauspiel  entsteht,  das 
rein  optischer  Art  ist.  Man  stelle  sich  vor,  wie  viel  von  dem  wesentlichen 
Eindruck  dieser  Fassade  in  einer  Zeichnung  mit  bloßen  Pinseltupfen  aufge- 
fangen werden  könnte  und  wie  umgekehrt  alle  klassische  Architektur  die  be- 
stimmteste Wiedergabe  von  Proportion  und  Linie  verlangt. 

Die  Verkürzung  tut  ein  übriges.  Der  malerische  Bewegungseffekt  wird 
um  so  leichteres  Spiel  haben,  wenn  die 
Flächenproportionen  sich  verschieben  und 
der  Körper  als  Erscheinungsform  von  seiner 
wirklichen  Form  sich  scheidet.  Barockfas- 
saden gegenüber  fühlt  man  sich  immer  auf- 
gefordert, den  Standpunkt  seitlich  zu  neh- 
men. Indessen  ist  hier  nochmals  daran  zu 
erinnern,  daß  jede  Epoche  ihr  Maß  in  sich 
selbst  trägt  und  daß  nicht  alle  Ansichten 
zu  allen  Zeiten  erlaubt  sind.  Wir  sind  immer 
gern  geneigt,  die  Dinge  noch  malerischer 
zu  nehmen  als  sie  gemeint  sind,  ja  das  aus- 
gesprochen Zeichnerische,  wenn  es  irgend 
geht,  ins  Malerische  hinüberzudrängen.  Man 
kann  eine  Fassade  wie  den  Otto-Heinrichs- 
bau des  Heidelberger  Schlosses  auf  das 
Flimmernde  hin  sehen,  aber  es  ist  zweifel- 
los, daß  für  seine  Erbauer  diese  Möglich- 
keit keine  Bedeutung  gehabt  hat. 

Mit  dem  Begriff  der  Verkürzung  haben 
wir  das  Problem  der  perspektivischen  An- 
sicht angeschnitten.  Es  spielt  in  der  male- 
rischen Architektur       ■  wie  gesagt  —  eine       Rom,  S.  Andrea  della  Valle 


77 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

wesentliche  Rolle.   Wir  verweisen  für  das  früher  Ausgeführte  auf  das  Beispiel 
von   S.  Agnese  in  Rom   (Abb.   S.  19).     Eine   Zentralkirche  mit  Kuppel  und 
zwei  Fronttürmen.  Der  reiche  Formenapparat  begünstigt  eine  malerische  Wir- 
kung, ist  aber  an  sich  noch  nichts  Malerisches.    S.  Biagio  in  Montepulciano 
setzt  sich  aus  denselben  Elementen  zusammen,  ohne  stilistisch  verwandt  zu 
sein.  Was  hier  den  malerischen  Charakter  der  Komposition  ausmacht,  ist  jenes 
Einbeziehen  der  wechselnden  Ansicht  in  die   künstlerische   Rechnung,    das 
natürlich  nie  ganz  fehlt,   aber  bei  einer  von  vornherein  auf  optische  Effekte 
gerichteten  Formbehandlung  ganz  anders  legitimiert  ist  als  bei  einer  Architek- 
tur des    reinen   Seins.     Jede  Abbildung  bleibt    unzulänglich,    weil  auch  das 
überraschendste   perspektivische  Bild  eben   nur    eine  Möglichkeit  darstellt 
und  der  Reiz  gerade  in  der  Unerschöpflichkeit  der  möglichen  Bilder  liegt. 
Während  die  klassische  Architektur  ihre  Bedeutung  im  Körperlich-Wirklichen 
sucht  und  die  Schönheit  der  Ansicht  nur  als  das  selbstverständliche  Resultat 
aus  dem  baulichen   Organismus  hervorgehen  läßt,  ist  hier  die  optische  Er- 
scheinung von  Anfang  an  etwas  Bestimmendes  für  die  Konzeption:  die  An- 
sichten, nicht  bloß  die  Ansicht.     Das  Gebäude  geht  in  sehr  verschiedene  Ge- 
stalten ein  und  dieser  Wechsel  der  Erscheinungsweise  wird  als  Bewegungsreiz 
genossen.    Die  Ansichten  drängen  einander  entgegen  und  das  Bild  mit  Ver- 
kürzung und  Überschneidung  einzelner  Teile  wird  so  wenig  als  ungehöriger 
Nebenfall  beurteilt  wie  etwa  die  perspektivisch  ungleiche  Erscheinung  von 
zwei  symmetrischen  Türmen.     Die  Kunst  sorgt  dafür,  das  Bauwerk  für  den 
Beschauer  in  bildmäßig  ergiebigen  Situationen  festzulegen.  Das  bedingt  immer 
eine  Beschränkung  der  Standpunkte.    Es  liegt  nicht  im  Interesse  der  male- 
rischen Architektur,  den  Bau  allseitig  umgehbar,  das  heißt  betastbar  hinzu- 
stellen, wie  das  das  Ideal  der  klassischen  Architektur  gewesen  ist. 

Seine  höchste  Steigerung  erfährt  der  malerische  Stil  in  Innenräumen.  Die 
Möglichkeiten,  das  Tastbare  mit  dem  Reiz  des  Untastbaren  zu  verbinden, 
liegen  hier  am  günstigsten.  Hier  erst  kommen  die  Motive  des  Unbegrenzten 
und  Unübersehbaren  recht  zur  Geltung.  Hier  ist  der  eigentliche  Platz  für 
Kulissen  und  Durchblicke,  für  Lichteinfälle  und  Tiefendunkel.  Je  mehr  das 
Licht  als  selbständiger  Faktor  in  die  Komposition  aufgenommen  ist,  um  so 
mehr  wird  die  Architektur  eine  optisch-bildmäßige. 

Nicht  als  ob  die  klassische  Baukunst  auf  Lichtschönheit  und  auf  die  Wir- 
kung reicher  Raumkombinationen  verzichtet  hätte.  Aber  da  steht  das  Licht 
im  Dienst  der  Form  und  auch  bei  der  reichsten  perspektivischen  Erscheinung 
ist  der  räumliche  Organismus,  die  Daseinsform   das  durchschlagende,   und 

78 


I.  DAS  LINEARE  UND  DAS   MALERISCHE 

nicht  das  malerische  Bild.  Der  Bramantesche  S.  Peter  ist  herrlich  in  seinen 
Durchblicken,  allein  man  wird  deutlich  spüren,  wie  aller  bildmäßige  Effekt 
nur  Nebensache  ist  gegenüber  der  gewaltigen  Sprache,  die  die  Massen  als 
Körper  sprechen.  Das  Wesentliche  dieser  Architektur  ist  das,  was  man  ge- 
wissermaßen mit  dem  Leib  erlebt.  Für  den  Barock  aber  ergeben  sich  neue 
Möglichkeiten  gerade  dadurch,  daß  neben  der  Wirklichkeit  für  den  Körper 
auch  eine  Wirklichkeit  für  das  Auge  anerkannt  wird.  Man  braucht  nicht 
an  eigentliche  Scheinarchitekturen  zu  denken,  Architekturen,  die  etwas  an- 
deres vortäuschen  wollen  als  was  da  ist,  sondern  nur  an  das  grundsätzliche 
Ausbeuten  von  Wirkungen,  die  nicht  mehr  plastisch-tektonischer  Natur  sind. 
Im  letzten  Grunde  geht  die  Absicht  darauf,  die  schließende  Wand  und  die 
deckende  Decke  ihres  tastbaren  Charakters  zu  entkleiden.  Dadurch  entsteht 
ein  höchst  merkwürdiges  Illusionsprodukt,  das  die  Phantasie  des  Nordens 
noch  unvergleichlich  viel  „malerischer"  ausgebildet  hat  als  die  Phantasie  des 
Südens.  Es  bedarf  nicht  der  überraschenden  Lichteinfälle  und  der  geheim- 
nisvollen Tiefen,  um  einen  Raum  malerisch  erscheinen  zu  lassen.  Auch  bei 
übersichtlichem  Grundriß  und  völlig  klarer  Lichtführung  hat  das  Rokoko 
verstanden,  seine  Schönheit  des  Ungreifbaren  zu  gestalten.  — 
Für  Abbildungen  sind  diese  Dinge  unzugänglich. 

Wenn  dann  um  1800  im  neuen  Klassizismus  die  Kunst  wieder  einfach 
wird,  das  Verworrene  sich  schlichtet,  die  gerade  Linie  und  der  rechte  Win- 
kel wieder  zu  Ehren  kommt,  so  hängt  das  allerdings  mit  einer  neuen  Andacht 
zur  „Simplizität"  zusammen,  allein  gleichzeitig  hat  sich  die  Basis  der  gesam- 
ten Kunst  verschoben.  Einschneidender  als  die  Wandlung  des  Geschmackes 
zum  Einfachen  war  die  Wandlung  des  Gefühls  vom  Malerischen  zum  Pla- 
stischen. Jetzt  ist  die  Linie  wieder  ein  Tastwert  und  jede  Form  findet  ihre 
Reaktion  in  den  Berührungsorganen.  Die  klassizistischen  Häuserblöcke  der 
Ludwigstraße  in  München  mit  ihren  großen,  einfachen  Flächen  sind  der  Pro- 
test einer  neuen  Tastkunst  gegenüber  der  sublimierten  Augenkunst  des 
Rokoko.  Die  Architektur  suchte  ihre  Wirkung  wieder  im  reinen  Kubus,  in 
der  bestimmt-faßbaren  Proportion,  in  der  plastisch-klaren  Form  und  aller 
Reiz  des  Malerischen  fiel  als  Afterkunst  der  Verachtung  anheim. 


79 


ii.  Fläche  und  Tiefe 

Malerei 

i. 

Mlgemeines  "T  TT  Tenn  man  sagt,  es  habe  eine  Entwicklung  vom  Flächenhaften  zum  Tie- 
»  *  fenhaften  stattgefunden,  so  sagt  man  damit  nichts  Besonderes,  denn 
es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Darstellungsmittel  für  den  Ausdruck  des 
Körperlich- Vollen  und  des  Räumlich-Tiefen  sich  erst  allmählich  ausgebildet 
haben.  Allein  in  diesem  Sinne  soll  hier  auch  gar  nicht  von  den  zwei  Begriffen 
gehandelt  werden.  Das  Phänomen,  das  wir  im  Auge  haben,  ist  jenes  andere: 
daß  gerade  diejenige  Kunststufe,  die  sich  in  den  vollen  Besitz  der  bildneri- 
schen Raummittel  gesetzt  hat,  das  16.  Jahrhundert,  den  flächenmäßigen  Zu- 
sammenschluß der  Formen  als  Grundsatz  anerkennt,  und  daß  dieses  Prinzip 
der  Flächenkomposition  vom  17.  Jahrhundert  zugunsten  einer  ausgesproch- 
nen  Tiefenkomposition  fallen  gelassen  wurde.  Dort  ein  Wille  zur  Fläche,  der 
das  Bild  in  Schichten  bringt,  die  parallel  zum  Bühnenrand  stehen,  hier  die 
Neigung,  dem  Auge  die  Fläche  zu  entziehen,  sie  zu  entwerten  und  unschein- 
bar zu  machen,  indem  die  Verhältnisse  des  Vor-  und  Rückwärts  betont  wer- 
den und  der  Beschauer  zu  Bindungen  nach  der  Tiefe  hin  gezwungen  wird. 

Es  scheint  paradox  und  entspricht  doch  vollkommen  den  Tatsachen:  das 
16.  Jahrhundert  ist  flächenhafter  als  das  15.  Während  die  unentwickelte  Vor- 
stellung der  Primitiven  zwar  im  allgemeinen  an  die  Fläche  gebunden  ist,  aber 
doch  beständig  Versuche  macht,  diesen  Bann  der  Fläche  zu  durchbrechen, 
sehen  wir  die  Kunst,  sobald  sie  erst  einmal  vollständig  die  Verkürzung  und 
die  tiefe  Bühne  sich  erobert  hat,  bewußt  und  konsequent  zur  Fläche  als  der 
eigentlichen  Anschauungsform  sich  bekennen,  die  im  einzelnen  da  und  dort 
durch  Tiefenmotive  aufgehoben  sein  kann,  aber  doch  als  verbindliche  Grund- 
form durch  das  Ganze  durchschlägt.  Was  die  ältere  Kunst  an  Tiefenmotiven 
vorbringt,  wirkt  dort  meist  zusammenhanglos  und  die  horizontale  Schich- 
tung erscheint  als  bloße  Armut,  jetzt  dagegen  ist  Flaches  und  Tiefes  zu 
einem  Element  geworden  und  eben  weil  alles  mit  Verkürzung  durchsetzt 
ist,  empfinden  wir  das  flächenmäßige  Sich-Bescheiden  als  ein  freiwilliges  und 
man  gewinnt  den  Eindruck  eines  zur  größten  Ruhe  und  Schaubarkeit  ver- 
einfachten Reichtums. 

Niemand,  der  von  den  Quattrocentisten  herkommt,  wird  den  Eindruck  ver- 

80 


.  II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

gessen,  den  Lionardos  Abendmahl  gerade  nach  dieser  Seite  hin  macht.  Trotz- 
dem ja  schon  immer  der  Tisch  mit  der  Gesellschaft  der  Jünger  parallel  zum 
Bild-  und  Bühnenrand  orientiert  war,  bekommt  das  Nebeneinander  der  Fi- 
guren und  ihr  Verhältnis  zum  Raum  hier  erst  und  hier  zum  erstenmal  jene 
mauermäßige  Geschlossenheit,  daß  einem  die  Fläche  förmlich  aufgedrängt 
wird.  Denkt  man  dann  weiter  an  Raffaels  „Wunderbaren  Fischzug",  so  ist 
es  auch  da  ein  generell  neuer  Eindruck,  wie  die  Figuren  in  eine  zusammen- 
hängende, „reliefmäßige"  Schicht  gebracht  sind,  und  es  bleibt  dieselbe  Sache, 
wo  nur  einzelne  Figuren  in  Frage  kommen  wie  in  den  Darstellungen  einer 
liegenden  Venus  bei  Giorgione  oder  Tizian*:  überall  das  Einstellen  der  Form 
in  die  bestimmt  sich  aussprechende  Hauptfläche  des  Bildes.  Man  wird  diese 
Darstellungsform  auch  in  den  Fällen  nicht  verkennen,  wo  der  Flächenzusam- 
menhang nicht  durchlaufend,  sondern  gewissermaßen  nur  punktiert  erscheint, 
mit  einzelnen  Intervallen,  oder  wo  die  gerade  Reihe  innerhalb  der  Schicht  zur 
flachen  Kurve  sich  vertieft  wie  in  Raffaels  Disputa.  Ja,  auch  eine  Komposi- 
tion wie  der  Raffaelsche  Heliodor  fällt  noch  nicht  aus  dem  Schema  heraus, 
trotzdem  eine  Bewegung  von  der  Seite  her  stark  schräg  in  die  Tiefe  geht: 
das  Auge  wird  eben  doch  aus  der  Tiefe  wieder  zurückgeführt  und  wird  in- 
stinktiv die  linke  und  die  rechte  Vordergruppe  als  die  wesentlichen  Punkte 
unter  einen  Bogen  zusammennehmen. 

Allein  der  klassische  Flächenstil  hat  seine  gemessene  Zeit  gehabt,  genau 
so  wie  der  klassiche  Linienstil,  mit  dem  er,  weil  alle  Linie  auf  Fläche  ange- 
wiesen ist,  eine  natürliche  Verwandtschaft  besitzt.  Es  kommt  der  Augenblick, 
wo  der  Flächenzusammenhang  sich  lockert  und  die  Tiefenfolge  der  Bild- 
elemente anfängt  zu  sprechen.  Wo  der  Bildinhalt  nicht  mehr  in  Flächen- 
schnitten sich  fassen  läßt,  sondern  der  Nerv  in  den  Beziehungen  der  vorderen 
zu  den  rückwärtigen  Teilen  liegt.  Das  ist  der  Stil  der  entwerteten  Fläche. 
Eine  vordere  Ebene  wird  immer  ideell  vorhanden  sein,  aber  man  läßt  die 
Möglichkeit  nicht  mehr  aufkommen,  daß  die  Form  sich  flächenmäßig  zusam- 
menschließt. Was  irgend  in  diesem  Sinne  wirken  könnte,  sei  es  bei  der  Ein- 
zelfigur, sei  es  im  vielfigurigen  Ganzen,  wird  unterbunden.  Selbst  wo  diese 
Wirkung  unausweichlich  scheint  —  z.  B.  wenn  eine  Anzahl  von  Menschen 
dem  Bühnenrand  entlang  steht  —  ist  dafür  gesorgt,  daß  sie  sich  nicht  reihen- 
mäßig verfestigen  und  daß  das  Auge  beständig  zu  Bindungen  nach  der  Tiefe 
gezwungen  wird. 

Sehen  wir  ab  von  den  unreinen  Lösungen  des  15.  Jahrhunderts,  so  gewin- 
nen wir  also  auch  hier  zwei  Typen  von  Darstellungsarten  so  verschieden  wie 

6  H.  W.,  G.  2.A.  81 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

der  lineare  und  der  malerische  Stil.  Zwar  kann  man  billig  fragen,  ob  es 
wirklich  zwei  Stile  sind,  jeder  von  eigenem  Wert  und  keiner  ersetzbar  durch 
den  andern?  Oder  ob  die  tiefenmäßige  Darstellung  nicht  eben  nur  ein  Mehr 
von  raumschaffenden  Mitteln  enthält,  ohne  eine  wesentlich  neue  Darstel- 
lungsart zu  sein?  —  Richtig  verstanden  sind  die  Begriffe  generelle  Gegen- 
sätze, die  in  der  dekorativen  Empfindung  wurzeln,  und  aus  der  bloßen  Imita- 
tion heraus  gar  nicht  verständlich  zu  machen  sind.  Es  kommt  nicht  auf  das 
Maß  der  Tiefe  an  im  dargestellten  Raum,  sondern  darauf,  wie  die  Tiefe  wirk- 
sam gemacht  ist.  Selbst  da,  wo  das  17.  Jahrhundert  sich  scheinbar  in  reinen 
Breitkompositionen  ergeht,  muß  die  nähere  Vergleichung  den  grundsätzlich 
verschiedenen  Ausgangspunkt  erweisen.  Die  wirbelnde  Bildeinwärtsbewe- 
gung, wie  sie  Rubens  liebt,  wird  man  in  holländischen  Bildern  allerdings  um- 
sonst suchen,  allein  dieses  System  des  Rubens  ist  auch  nur  eine  Art  der  Tie- 
fenkomposition. Es  brauchen  überhaupt  keine  plastischen  Kontraste  des  Vor- 

und  Rückwärts  zu  sein: 
die  lesende  Frau  des  Jan 
Vermeer  (Amsterdam), 
die  profilmäßig  vor  der 
gerade  geführten  Rück- 
wand steht,  ist  haupt- 
sächlich dadurch  ein 
Tiefenbild  im  Sinn  des 
17.  Jahrhunderts,  daß 
das  Auge  das  eine  höch- 
ste Licht  auf  der  Wand 
mit  der  Figur  zusam- 
menbindet. Und  wenn 
Ruysdael  in  seinem 
Fernblick  auf  Haarlem* 
(Haag  u.  ö.)  die  Felderin 
lauter  ungleich  be- 
lichteten, horizontalen 
Streifen  ordnet,  so  ist 
es  darum  doch  kein  Bild 
von  der  alten  Flächen- 
schichtung geworden; 
Palma  Vecchio  deswegennicht,weildas 

82 


Tintoretto 

Hintereinander  der  Streifen  stärker  spricht  als  der  einzelne  Streifen,  den  der 
Beschauer  sachlich  nicht   isolieren  kann. 

Schlagwortmäßig,  mit  oberflächlicher  Anschauung  läßt  sich  der  Sache 
nicht  beikommen.  Es  ist  leicht  zu  sehen,  wie  Rembrandt  als  junger  Mann 
mit  reicher  Tiefenstaffelung  der  Figuren  der  Zeit  seinen  Tribut  entrichtet;  in 
seinen  Meisterjahren  aber  ist  er  davon  abgegangen,  und  wenn  er  die  Ge- 
schichte vom  barmherzigen  Samariter  einmal  mit  künstlichem  Hintereinan- 
der der  schraubenartig  geordneten  Figuren  erzählte  (Radierung  von  1632), 
so  gab  er  sie  später  in  dem  Bilde  des  Louvre  von  1648*  in  ganz  einfachem 
Nebeneinander.  Und  doch  ist  das  kein  Zurückgreifen  auf  alte  Stilformen  ge- 
wesen. Gerade  in  der  schlichten  Streifenkompostion  wird  das  Prinzip  des 
Tiefenbildes  doppelt  klar:  wie  alles  getan  ist,  die  Folge  der  Figuren  sich 
nicht  zur  Reihenschicht  verfestigen  zu  lassen. 

2. 
Versuchen  wir  die  typischen  Umformungen  zusammenzustellen,  so  wäre   Die  typischen 
der  einfachste  Fall  die  Umsetzung  des  Nebeneinander  bei  Zweifiguren-Szenen  Motlve 
in  ein  schräges  Hintereinander.    Das  geschieht  beim  Thema  von  Adam  und 
Eva,  beim  englischen  Gruß  der  Verkündigung,  bei  der  Geschichte,  wie  Lucas 

6*  83 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

die    Maria   malt, 
und  wie  diese  Si- 
tuationen    sonst 
noch  heißen  mö- 
gen.    Nicht   daß 
jedes      derartige 
Bild   im    Barock 
den     diagonalen 
Zug  in  der  Stel- 
lung   der    Figu- 
renhaben müßte, 
aber  esistdasGe- 
wöhnliche,     und 
wo  er  fehlt,  daist 
sicher  auf  irgend 
eine  andere  Wei- 
se dafür  gesorgt, 
den    Flächenein- 
druck des  Neben- 
einander     nicht 
aufkommen      zu 
lassen.       Umge- 
kehrt gibt  es  wohl 

Dirk  Bouts  auch      Beispiele, 

wo  die  klassische  Kunst  ein  Loch  in  die  Fläche  bricht,  das  Wesentliche  ist 
dann  aber  eben  dies,  daß  der  Beschauer  das  Loch  als  Durchbrechung  der 
normalen  Fläche  empfindet.  Es  muß  nicht  alles  in  einer  Ebene  ausgerichtet 
sein,  man  muß  nur  die  Abweichung  als  solche  verspüren. 

Wir  geben  als  erstes  Beispiel  das  Adam-  und  Eva-Bild  des  Palma  Vecchio*. 
Was  uns  hier  als  Flächenordnung  entgegentritt,  ist  durchaus  nicht  ein  fort- 
dauernder primitiver  Typus,  sondern  die  wesentlich  neue,  klassische  Schön- 
heit eines  energischen  Sich-Einstellens  in  die  Fläche,  so  daß  die  Raumschicht 
in  allen  Teilen  gleichmäßig  belebt  erscheint.  BeiTintoretto*  ist  dieser  Relief- 
charakter zerstört.  Die  Figuren  haben  sich  tiefenmäßig  verschoben,  von  Adam 
zu  Eva  geht  ein  diagonaler  Zug,  den  die  Landschaft  mit  dem  fernen  Licht 
am  Horizont  festhält.  Die  Flächenschönheit  ist  ersetzt  durch  eine  Tiefen- 
schönheit, die  immer  mit  dem  Eindruck  der  Bewegung  verbunden  ist. 

84 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 


Durchaus  analog  läuft  die  Entwicklung  bei  dem  Thema  des  Malers  mit 
seinem  Modell,  ein  Stoff,  den  die  ältere  Kunst  als  Lucas  mit  der  Maria  kennt. 
Wenn  wir  hier  den  Vergleich  an  nordischen  Bildern  anstellen  wollen  und 
dabei  das  zeitliche  Intervall  etwas  größer  nehmen,  so  kann  man  dem  barocken 
Schema  des  Vermeer*  das  Flächenschema  des  Dirk  Bouts*  entgegensetzen, 
wo  in  vollkommener  Reinheit,  aber  allerdings  noch  etwas  unfrei,  das  Prinzip 
der  Schichtung  des  Bildes  in  parallelen  Ebenen  durchgeführt  ist  —  in  den 
Figuren  und  in  der  Lokalität  — ,  während  bei  der  gleichen  Gegebenheit  für 
Vermeer  die  Umstellung  nach  der  Tiefe  zu  das  Selbstverständliche  gewesen 
ist.  Das  Modell  ist  ganz  in  den  Raum  zurückgeschoben,  es  lebt  aber  nur  im 
Verhältnis  zu  dem  Manne,  für  den  es  posiert,  und  so  kommt  von  vornherein 
eine  lebhafte  Tiefenbewegung  in  die  Szene,  die  durch  die  Lichtführung  und 
die  perspektivische  Erscheinung  noch  wesentlich  unterstützt  wird.  Das 
höchste  Licht  sitzt  in  der  Tiefe,  und  in  dem  Zusammenstoßen  der  stark  kon- 
trastierenden Größenwerte  des  Mädchens  und  des  nahgesehenen  Vorhangs 
mit  Tisch  und  Stuhl 
liegt  wieder  ein  Er- 
scheinungsreiz von 
ausgesprochenem 
Tiefencharakter  [). 
Eine  abschließende 
Wand  parallel  zur 
Bildebene  ist  wohl 
vorhanden,  aber  sie 
hat  keine  wesent- 
liche Bedeutung  für 
die  optische  Orien- 
tierung. 

Wie    es    möglich 
ist,  das  profilmäßige 


0  Um  die  Lichtfüh- 
rung ganz  deutlich 
werden  zu  lassen,  ist 
der  Abbildung  statt 
einer  Photographie  ei- 
ne moderne  Radierung 
(W.  Unger)  zugrunde 
gelegt  worden.  Vermeer 


85 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Gegenüber  von  zwei  Figuren  zu  behalten  und  dabei  doch  die  Fläche  zu  über- 
winden, lehrt  ein  Bild  wie  die  Begegnung  des  Abraham  mit  Melchisedek  von 
Rubens*.  Dieses  Gegenüber,  das  das  15.  Jahrhundert  nur  locker  und  unsicher 
formuliert  hatte  und  das  dann  unter  der  Hand  des  16.  Jahrhunderts  in  eine 
höchst  bestimmte  Flächenform  gebracht  worden  war,  wird  von  Rubens  so 
behandelt,  daß  die  zwei  Hauptfiguren  in  Reihen  stehen,  die  eine  nach  der 
Tiefe  sich  öffnende  Gasse  bilden,  wodurch  denn  das  Motiv  des  Hinüber  und 
Herüber  überboten  ist  durch  das  Tiefenmotiv.  Man  sieht  Melchisedek,  die 
Hände  ausbreitend,  und  er  steht  auf  derselben  Stufe  wie  der  gewappnete 
Abraham,  dem  er  sich  zuwendet.  Nichts  einfacher  als  auch  hier  ein  relief- 
mäßiges Bild  zu  gewinnen.  Aber  gerade  dieser  Erscheinung  weicht  das  Zeit- 
alter aus  und  indem  eben  die  zwei  Hauptfiguren  in  Reihen  verflochten  wer- 
den mit  entschiedener  Tiefenbewegung,  wird  es  unmöglich,  sie  flächig  zu 
binden.  Die  Architektur  der  Rückwand  kann  diesen  optischen  Tatbestand 
nicht  mehr  gegenteilig  beeinflussen,  auch  wenn  sie  weniger  holperig  wäre  und 
nicht  ins  lichte  Weite  sich  öffnete. 

Durchaus  ähnlich  liegt  der  Fall  in  dem  Bilde  der  letzten  Kommunion  des 


Rubens 


86 


Van  Dyck  nach  Rubens 

heiligen  Franziskus  von  Rubens  (Antwerpen).  Der  Priester,  der  sich  mit  der 
Hostie  dem  vor  ihm  knienden  Manne  zuwendet  —  wie  leicht  kann  man  sich 
die  Szene  im  Stile  Raffaels  vorstellen!  Es  scheint  kaum  anders  möglich,  als 
daß  die  Gestalt  des  Empfangenden  und  des  Sich-Beugenden  zum  Flächenbild 
sich  einigen.  Allein  als  Agostino  Carracci  und  nach  ihm  Domenichino  die 
Geschichte  redigierten,  da  war  es  schon  eine  entschiedene  Sache,  daß  die  flä- 
chenmäßige  Schichtung  zu  vermeiden  sei :  sie  untergruben  den  optischen  Zu- 
sammenschluß der  Hauptfiguren,  indem  sie  zwischen  ihnen  eine  Gasse  nach 
der  Tiefe  schlugen.  Und  Rubens  geht  noch  weiter,  er  verschärft  die  Bin- 
dung zwischen  den  begleitenden  Figuren,  die  sich  bildeinwärts  aneinander- 
reihen, so  daß  die  natürliche  Sachbeziehung  zwischen  dem  Priester  zur 
Linken  und  dem  sterbenden  Heiligen  zur  Rechten  durch  eine  durchaus  kon- 
träre Formfolge  gekreuzt  wird.  Die  Orientierung  hat  sich  gegenüber  dem 
klassischen  Zeitalter  vollkommen  verschoben. 

Sollen  wir  Raffael  wörtlich  zitieren,  so  ist  ein  besonders  schönes  Beispiel 
des  Flächenstils  jener  Wunderbare  Fischzug  des  Teppichkartons,  wo  die  zwei 
Kähne  mit  den  sechs  Personen  zu  einer  ruhigen  Flächenfigur  zusammen- 
genommen sind  mit  prachtvollem  Anlauf  der  Linie  von  links  her  zur  Höhe 
des  stehenden  Andreas  und  höchst  wirkungsvollem  Absturz  unmittelbar 
vor  Christus.  Rubens  hat  dieses  Bild  sicher  vor  Augen  gehabt.  Er  wieder- 
holt (Mecheln)  alles  Wesentliche,  nur  mit  dem  Unterschied,  daß  er  die  Fi- 

87 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

gurenbewegung  steigert.  Diese  Steigerung  aber  ist  für  die  stilistische  Er- 
scheinung noch  nicht  das  Entscheidende.  Viel  mehr  bedeutet,  wie  er  der 
Fläche  entgegenarbeitet  und  durch  die  Schiebung  der  Kähne,  vor  allem  aber 
durch  die  vom  Vordergrund  her  eingeleitete  Bewegung  das  alte  Flächenbild 
in  stark  sprechende  Tiefenfolgen  sich  zersetzen  läßt.  Unsere  Abbildung  gibt  die 
freie,  mehr  insBreiteauseinandergenommeneKopie des vanDyck nachRubens*. 

Als  weiteres  Beispiel  dieser  Art  nennen  wir  die  „Lanzen"  des  Velasquez, 
wo  wieder,  ohne  daß  in  der  Disposition  der  Hauptfiguren  das  alte  Flächen- 
schema aufgegeben  wäre,  durch  die  beständig  wiederholte  Weisung,  Vorderes 
und  Rückwärtiges  zusammenzubeziehen,  für  das  Bild  doch  eine  wesent- 
lich neue  Erscheinung  gewonnen  worden  ist.  Die  Darstellung  der  Übergabe 
von  Festungsschlüsseln  mit  profilmäßiger  Begegnung  der  Hauptfiguren.  Im 
Grunde  nichts  anderes  als  was  die  kirchlichen  Schlüsselübergaben  —  Chri- 
stus und  Petrus:  „Weide  meine  Lämmer'*  —  enthielten.  Allein  wenn  man 
die  Komposition  Raffaels  aus  der  Folge  der  Teppiche  heranzieht  oder  gar  das 
Fresko  des  Perugino  aus  der  Sixtinischen  Kapelle,  so  merkt  man  sofort,  wie 
wenig  mehr  bei  Velasquez  jene  profilmäßige  Begegnung  für  den  Gesamt- 
habitus des  Bildes  bedeutet.  Die  Gruppen  sind  nicht  in  die  Fläche  ausge- 
richtet, überall  sprechen  die  Tiefenverbindungen,  und  wo  die  flächenmäßige 
Verfestigung  kommen  müßte,  beim  Motiv  der  zwei  Feldherrn,  da  ist  die  Ge- 
fahr dadurch  beseitigt,  daß  gerade  an  dieser  Stelle  der  Blick  auf  die  hellen 
Truppen  in  der  Tiefe  sich  öffnet. 

Und  so  steht  es  mit  einem  anderen  Hauptbild  des  Velasquez,  den  Spinne- 
rinnen. Wer  sich  nur  an  das  Gerüste  hält,  dem  mag  es  scheinen,  als  ob  der 
Maler  des  17.  Jahrhunderts  hier  die  Komposition  der  Schule  von  Athen 
wiederholt  habe:  ein  Vordergrund  mit  ungefähr  gleichgewichtigen  Gruppen 
zu  beiden  Seiten,  und  hinten,  genau  in  der  Mitte,  ein  erhöhter  engerer  Raum. 
Das  Bild  Raffaels  ist  ein  Hauptbeispiel  für  den  Flächenstil,  lauter  horizon- 
tale Schichten  hintereinander.  Bei  Velasquez  ist  ein  ähnlicher  Eindruck,  so- 
weit die  einzelnen  Figuren  in  Frage  kommen,  durch  die  andere  Zeichnung 
natürlich  ausgeschlossen,  allein  auch  der  Gesamtaufbau  hat  bei  ihm  einen 
anderen  Sinn,  indem  der  sonnige  Mittelgrund  mit  einem  einseitig  rechts  lie- 
genden Licht  des  Vordergrundes  korrespondiert  und  damit  von  vornherein 
eine  das  Bild  beherrschende  Lichtdiagonale  geschaffen  ist. 

Jedes  Bild  hat  Tiefe,  aber  die  Tiefe  wirkt  verschieden,  je  nachdem  der 
Raum  in  Schichten  sich  gliedert  oder  als  einheitliche  Tiefenbewegung  erlebt 
wird.    In 'der  ^nordischen  Malerei  des  16.  Jahrhunderts  ist  es  Patenier*,  der 

88 


Van  Goyen 

mit  einer  bis  dahin  unerhörten  Ruhe  und  Klarheit  die  Landschaft  im  Hin- 
tereinander einzelner  Streifen  sich  dehnen  läßt.  Besser  vielleicht  als  irgendwo 
kann  man  hier  fühlen  lernen,  daß  es  sich  um  ein  dekoratives  Prinzip  handelt. 
Dieser  Streifenraum  ist  nicht  ein  Notbehelf,  die  Tiefe  darzustellen,  sondern 
man  hat  Freude  am  Geschichteten.  Es  ist  die  Form,  in  der  das  Zeitalter 
räumliche   Schönheit  überhaupt  genoß.    Auch  in  der  Architektur. 

Ebenso  bleibt  die  Farbe  eine  geschichtete.  In  klaren,  ruhigen  Abstufungen 
folgen  sich  die  einzelnen  Zonen  hintereinander.  So  wichtig  ist  die  Mitarbeit 
der  farbigen  Schichten  für  den  Gesamteindruck  einer  Patenierschen  Land- 
schaft, daß  es  sich  kaum  lohnt,  eine  Abbildung  ohne  Farbe  hierher  zu  setzen. 

Wenn  dann  später  die  Farbstufen  der  Gründe  immer  weiter  auseinander- 
gelegt werden,  und  ein  System  von  heftiger  Farbenperspektive  daraus  ge- 
macht wird,  so  sind  das  Erscheinungen  des  Überganges  zum  Tiefenstil,  ganz 
analog  der  Streifung  der  Landschaft  mit  starken  Lichtkontrasten.  Es 
sei  auf  das  Beispiel  des  Jan  Brueghel  verwiesen.  Der  eigentliche  Gegensatz 
aber  ist  erst  da  gewonnen,  wo  man  gar  nicht  mehr  auf  die  Vorstellung  kom- 
men kann,  eine  Folge  von  Streifen  vor  sich  zu  haben,  sondern  wo  die  Tiefe 
unmittelbar  zum  Erlebnis  gebracht  wird. 

Das  braucht  nicht  notwendig  mit  plastischen  Mitteln  zu  geschehen.  In 
Lichtführung,  Farbverteilung  und  Art  der  zeichnerischen  Perspektive  besitzt 
der  Barock  Mittel,  den  Tiefengang  zu  erzwingen,  auch  wenn  ihm  objektiv  mit 

89 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

den  plastisch-räumlichen  Motiven  nicht  vorgearbeitet  ist.  Wenn  van  Goyen 
seine  Dünenhügel*  diagonal  durch  das  Bild  führt,  -  -  gut!  der  Eindruck  der 
Tiefe  ist  unzweifelhaft  so  auf  direktem  Wege  erreicht.  Und  wenn  Hobbema 
in  der  „Allee  von  Middelharnis"  den  bildeinwärts  führenden  Weg  zum 
Hauptthema  macht,  so  sagen  wir  wieder:  gut!  auch  das  ist  typischer  Barock. 
Aber  wie  gering  ist  schließlich  die  Anzahl  der  Bilder,  die  auf  diese  stofflichen 
Tiefenmotive  sich  eingelassen  haben.  In  der  wundervollen  Ansicht  der  Stadt 
Delft  von  Vermeer  (Haag)  sind  die  Häuser,  das  Wasser  und  das  diesseitige 
Ufer  in  fast  reinen  Streifen  ausgebreitet.  Worin  liegt  da  das  Moderne? 
Man  kann  das  Bild  nach  der  Photographie  nicht  gut  beurteilen.  Die  Farbe 
erklärt  erst  vollkommen,  wieso  das  Ganze  so  ausgesprochen  im  Tiefensinn 
wirkt  und  wie  der  Gedanke,  als  ob  die  Komposition  in  Streifenfiguren  sich 
erschöpfe,  gar  nicht  aufkommen  kann.  Über  den  beschatteten  Vorderraum 
springt  man  gleich  auf  das  Rückliegende,  und  die  hell  leuchtende  Gasse,  die 
an  einer  Stelle  in  die  Tiefe  der  Stadt  führt,  würde  allein  genügen,  jede  Ähn- 
lichkeit mit  Bildern  des  16.  Jahrhunderts  auszuschließen.  Ebensowenig  hat 
Ruysdael  mit  alten  Typen  etwas  zu  tun,  wenn  er  in  der  Fernsicht  auf  Haarlem* 
einzelne  Lichtzungen  über  das  beschattete  Land  gehen  läßt.  Das  sind  nicht 
—  wie  bei  den  Ubergangsmeistern  —  Lichtstreifen,  die  sich  mit  bestimmten 
Formen  decken  und  das  Bild  in  einzelne  Teile  zerlegen,  sondern  es  sind  frei 
hinhuschende  Helligkeiten,  die  nur  mit  dem  Raumganzen  zusammen  aufge- 
nommen werden  können. 

In  diesen  Zusammenhang  würde  dann  auch  das  Motiv  der  „übergroßen" 
Vordergründe1)  zu  stellen  sein.  Die  perspektivische  Verkleinerung  hat  man 
immer  gekannt,  aber  das  Kleine  neben  das  Große  setzen,  heißt  noch  lange  nicht, 
den  Beschauer  zwingen,  die  zwei  Größen  im  räumlichen  Sinne  zusammenzu- 
denken. Lionardo  rät  gelegentlich,  durch  Vorhalten  des  Daumens  sich  zu  über- 
zeugen, wie  unglaublich  klein  die  ferneren  Personen  erscheinen,  wenn  man  sie 
unmittelbar  mit  der  nahgesehenen  Form  zusammenhält.  Er  selbst  hat  sich  durch- 
aus gehütet,  als  Darsteller  auf  solche  Erscheinungsweisen  einzugehen.  Der 
Barock  dagegen  hat  das  Motiv  gern  aufgegriffen  und  durch  sehr  nahe  gewählten 
Standpunkt  die  Jähheit  des  perspektivischen  Zusammenschrumpfens  erhöht. 

Das  ist  der  Fall  bei  der  „Musikstunde"  des  Vermeer*.  Die  Komposition 
scheint  sich  zunächst  nur  wenig  von  dem  Schema  des  16.  Jahrhunderts  zu 
entfernen.     Wenn    man    an  Dürers    Hieronymus    denkt    (vgl.  Abb.  S.  53), 


')  Jantzen,  Die  Raumdarstellung  bei  kleiner  Augendistanz  (Zeitschrift  für  Ästhetik  und 
allgemeine  Kunstwissenschaft  VI,  S.  119  ff.). 

90 


Vermeer 
so  ist  das  Zimmer  nicht  unähnlich.  Die  verkürzte  Wand  zur  Linken, 
der  geöffnete  Raum  zur  Rechten  ;  die  Rückwand  selbstverständlich 
parallel  zum  Beschauer  und  die  Decke  mit  ihrem  ebenfalls  parallel 
geführten  Balkenwerk  scheinbar  noch  mehr  im  Sinn  der  alten  Kunst 
als  das  von  vorn  nach  hinten  laufende  Brettergefüge  Dürers.  Auch 
in  der  flächenmäßigen  Konsonanz  von  Tisch  und  Spinett,  die  durch  den 
schrägen  Stuhl  dazwischen  nicht  wesentlich  gestört  wird,  liegt  nichts  Moder- 
nes. Die  Figuren  vollends  halten  sich  im  reinen  Verhältnis  des  Neben- 
einander. Würde  die  Abbildung  mehr  von  Licht  und  Farbe  enthalten,  so 
müßte  sich  allerdings  die  stilistisch  neue  Haltung  des  Gemäldes  sofort  ver- 
raten, aber  auch  so  kommen  gewisse  Motive  zum  Vorschein,  die  unbedingt 
auf  barocken  Stil  weisen.  Dahin  gehört  vor  allem  die  Art  der  perspektivischen 
Größenfolge,  die  auffallenden  Dimensionen  des  Vordergrundes  gegenüber 
dem  Hintergrund.    Diese  jähe  Größenabnahme,  wie  sie  bei  nahem   Stand- 

9i 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


punkt  sich  ergibt,  wird 
eine  Tiefenbewegung  im- 
mer erzwingen.  Die  Wir- 
kung ist  dieselbe  in  der 
Folge  der  Möbel  wie  in 
der  Erscheinung  der  Fuß- 
bodenmuster. Daß  der  of- 
fene Raum  als  eine  Gasse 
mit  überwiegender  Tie- 
fenerstreckung sichtbar 
gemacht  ist,  ist  ein  stoff- 
liches Motiv,  das  im  glei- 
chen Sinne  arbeitet.  — 
Natürlichergibt  sich  auch 
eine  analoge  Schärfung 
des  Tiefeneffekts  für  die 
Farbperspektive. 

Selbst  ein  so  gehaltener 
Charakter  wie  Jakob 
Ruysdael  verwendet  gern 
diese  „übergroßen"  Vor- 
dergründe, um  die  Tiefenbeziehung  zu  verstärken.  Bei  keinem  Bilde  des 
klassischen  Stils  ist  ein  Vordergrund  denkbar,  wie  ihn  das,,SchloßBentheim"* 
zeigt.  Blöcke,  an  sich  unbedeutend,  sind  zu  einer  Größenerscheinung  ge- 
bracht, die  eine  raumperspektivische  Bewegung  erzeugen  müssen.  Der  Hügel 
des  Hintergrundes  mit  dem  Schloß,  auf  dem  denn  doch  ein  starker  Sachakzent 
liegt,  wirkt  auffallend  klein  daneben.  Man  wird  nicht  umhin  können,  die 
zwei  Maße  miteinander  in  Beziehung  zu  setzen,  d.  h.  das  Bild  nach  der  Tiefe 
zu  abzulesen. 

Das  Gegenstück  zu  dem  gesteigerten  Nahblick  ist  die  ins  Ungewöhnliche 
gesteigerte  Fernansicht.  Es  ist  dann  so  viel  Raum  zwischen  die  Szene  und 
den  Beschauer  gelegt,  daß  die  Verkleinerung  der  gleichen  Größen  in  ver- 
schiedenen Plänen  unerwartet  langsam  vor  sich  geht.  Auch  dafür  bieten 
Vermeer  (in  der  Ansicht  von  Delft)  und  Ruysdael*  (in  dem  Blick  auf  Haar- 
lem,  Abb.  S.  157)  gute  Beispiele. 

Daß  Hell  und  Dunkel,  als  kontrastierende  Folie  verwendet,  die  plastische 
Illusion  erhöht,  ist  immer  bekannt  gewesen  und  Lionardo  fordert  im  beson- 


J.  Ruysdael 


92 


II.  FLACHE  UND  TIEFE 

deren,  daß  man  dafür  sorgen  solle,  die  hellen  Teile  der  Form  auf  Dunkel  und 
die  dunkeln  auf  Hell  abzusetzen.  Aber  es  ist  etwas  anderes,  wenn  nun  ein 
dunkler  Körper  sich  vor  den  hellen  schiebt,  ihn  teilweise  deckend,  wo  das 
Auge  das  Helle  sucht  und  es  doch  nur  fassen  kann  in  seinem  Verhältnis  zu 
der  vorgelagerten  Form,  der  gegenüber  es  also  stets  als  etwas  Zurückliegen- 
des erscheinen  muß.  Aufs  Ganze  übertragen  ergibt  sich  daraus  das  wichtige 
Motiv  des  dunkeln  Vordergrundes. 

Überschneidung  und  Rahmung  sind  beide  alter  Kunstbesitz.  Aber  die 
Barockkulisse  und  der  Barockrahmen  haben  eine  besondere  zurücktreibende 
Kraft,  die  man  früher  nicht  gesucht  hat.  So  ist  es  ein  typisch  barocker  Ein- 
fall, wenn  Jan  Steen  eine  Schöne  malt,  die,  hinten  im  Zimmer  mit  ihren 
Strümpfen  beschäftigt,  in  der  dunklen  Umrahmung  der  Eingangstüre  sicht- 
bar wird  (Buckingham-Palast).  Auch  die  Stanzenbilder  Raffaels  haben  die 
Torbogenumrahmung,  aber  das  Motiv  ist  dort  gar  nicht  im  Tiefensinn  wirk- 
sam gemacht.  Wenn  dagegen  jetzt  die  Figur  von  vornherein  als  etwas  Zu- 
rückgeschobenes gegenüber  einem  Vorgelagerten  erscheint,  so  ist  das  der- 
selbe Gedanke,  den  die  barocke  Architektur  im  großen  durchgeführt  hat.  Die 
Kolonnaden  des  Bernini  sind  erst  auf  der  Basis  solcher  Tiefenempfindung 
möglich  gewesen. 

3- 

Die  Betrachtung  nach  formalen   Motiven   läßt   sich   ergänzen  durch   eine    Betrachtung 
rein  ikonographisch  angelegte  Betrachtung  nach  einzelnen  Bildstoffen.  Wenn   n  en 

eine  Vollständigkeit  im  bisherigen  sowieso  nicht  erreicht  werden  konnte,  so 
wird  eine  solche  ikonographische  Gegenprobe  wenigstens  den  Verdacht  zer- 
streuen, als  seien  nur  einseitig  gewisse  außerordentliche  Fälle  aufgegriffen 
worden. 

Das  Porträt  scheint  am  wenigsten  ergiebig  zu  sein  für  unsere  Begriffe, 
da  es  sich  hier  ja  gewöhnlich  nur  um  eine  einzelne  Figur  handelt  und  nicht 
um  mehrere,  die  in  das  Verhältnis  des  Neben-  oder  Hintereinander  gebracht 
werden  könnten.  Allein  darauf  kommt  es  ja  gar  nicht  an.  Auch  bei  der  Ein- 
zelfigur lassen  sich  die  Formen  so  anordnen,  daß  der  Eindruck  einer  Flächen- 
schicht entsteht,  und  die  objektiv-räumlichen  Schiebungen  sind  ja  nur  der 
Anfang,  aber  nicht  das  Ende.  Ein  auf  die  Brüstung  gelegter  Arm  wird  bei 
Holbein  immer  so  verwertet  sein,  daß  sich  die  bestimmte  Vorstellung  einer 
vorderen  Raumebene  erzeugt;  wenn  Rembrandt  das  Motiv  wiederholt,  so 
kann  im  Materiellen  alles  gleich  sein,  aber  der  Flächeneindruck  kommt  doch 

93 


Baroccio 
nicht  zustande,  soll  nicht  zustande  kommen.  Die  optischen  Akzente  sind  so 
gesetzt,  daß  alle  anderen  Bindungen  dem  Beschauer  natürlicher  sind  als  ge- 
rade die  Bindungen  in  der  Fläche.  Fälle  von  reiner  Frontalität  finden  sich 
hüben  und  drüben,  aber  Holbeins  Anna  von  Cleve(Louvre)  wirkt  ganz  mauer- 
mäßig, während  Rembrandt  dieser  Wirkung  auch  dann  entgeht,  wenn  er  nicht 
von  vornherein,  etwa  durch  einen  nach  außen  gestreckten  Arm,  ihr  entgegen- 
arbeitet. Es  sind  die  Jugendbilder,  wo  er  mit  solchen  gewaltsamen  Mitteln 
modern  sein  will :  ich  denke  an  die  blumenreichende  Saskia  der  Dresdner 
Galerie.  Später  ist  er  überall  ruhig  und  hat  doch  die  barocke  Tiefe.  Fragt 
man  aber,  wie  der  klassische  Holbein  das  Saskiamotiv  behandelt  haben 
würde,  so  könnte  man  auf  das  reizvolle  Bild  des  Mädchens  mit  dem  Apfel  in 
der  Berliner  Galerie  (No.  570)  verweisen:  es  ist  kein  Holbein,  sondern  steht 
dem  jungen  Moro  nahe,  aber  diese  flächenmäßige  Behandlung  des  Themas 
würde  von  Holbein  grundsätzlich  gebilligt  worden  sein. 

Für  elementare  Demonstrationszwecke  bleiben  natürlich  die  reicheren  The- 
mata   der   Erzählung,   des   Landschafts-   und   Sittenbildes   die   dankbareren. 


94 


Tiepolo 

Wir  wollen,  nachdem  einzelnes  schon  oben  analysiert  worden  ist,  noch  ein 
paar  Querschnitte  im  ikonographischen  Sinne  machen. 

Lionardos  Abendmahl  ist  das  erste  große  Beispiel  des  klassischen  Flächen- 
stils. Stoff  und  Stil  scheinen  dabei  so  sehr  sich  gegenseitig  zu  bedingen,  daß 
es  sein  besonderes  Interesse  hat,  gerade  hier  das  Gegenbeispiel  der  entwer- 
teten Fläche  aufzusuchen.  Sie  kann  mit  der  Schrägstellung  des  Tisches  er- 
zwungen werden  und  Tintoretto  z.  B.  hat  es  so  versucht,  aber  es  ist  nicht 
notwendig,  zu  diesem  Mittel  zu  greifen.  Ohne  darauf  zu  verzichten,  den 
Tisch  parallel  zum  Bildrand  zu  orientieren  und  dieser  Orientierung  in  der 
Architektur  eine  Resonanz  zu  geben,  hat  Tiepolo  ein  Abendmahl*  komponiert, 
das  als  Kunstwerk  mit  Lionardo  sich  nicht  vergleichen  darf,  aber  stilistisch 
rein  das  Gegenspiel  darstellt.  Die  Figuren  binden  sich  nicht  in  der  Fläche 
und  das  entscheidet.  Man  kann  Christus  nicht  lösen  aus  der  Beziehung  zu  der 
Gruppe  der  Jünger  schräg  vor  ihm,  die  wegen  ihrer  Masse  und  wegen  des 
Zusammentreffens  von  tiefem  Schatten  und  höchstem  Licht  optisch  den 
Hauptakzent  haben.   Man  mag  wollen  oder  nicht :  mit  allen  Mitteln  wird  das 

95 


Pieter  Brueghel  d.  Ä. 


Auge  auf  diesen  Punkt  geleitet  und  neben  der  Tiefenspannung  zwischen  die- 
ser Vorgruppe  und  der  rückwärtigen  Zentralfigur  treten  die  Elemente  der 
Ebene  durchaus  in  zweite  Linie  zurück.  Das  ist  etwas  ganz  anderes  als  jene 
isolierten  Judasfiguren  der  primitiven  Kunst,  die  nur  als  kümmerliches  An- 
hängsel erscheinen,  unfähig,  den  Blick  weiterzuführen.  Daß  das  Motiv  der 
Tiefe  bei  Tiepolo  dann  nicht  bloß  einmal  angeschlagen  wird,  sondern  in 
mannigfaltigem  Echo  weiterklingt,  ist  selbstverständlich. 

Von  entwicklungsgeschichtlichen  Zwischengliedern  nehmen  wir  nur  den 
einen  Baroccio*  heraus,  der  in  lehrreicher  Weise  zeigt,  wie  sich  zunächst  der 
Flächenstil  mit  Tiefe  durchsetzt.  Das  Bild  geht  mit  großer  Dringlichkeit  auf 
Tiefengänge  ein.  Von  links  vorn,  namentlich  aber  von  rechts  vorn  werden  wir 
über  verschiedene  Stationen  zu  Christus  hingeführt.  Wenn  dadurch  Baroccio 
mehr  Tiefe  besitzt  als  Lionardo,  so  ist  er  ihm  doch  darin  noch  verwandt, 
daß  die  Schichtung  in  einzelnen  Raumstreifen  deutlich  erhalten  geblieben  ist. 

Das  unterscheidet  den  Italiener  von  einem  nordischen  Maler  des  Über- 
gangs wie  Pieter  Brueghel*.  Seine  Bauernhochzeit  ist  dem  Stoff  nach  dem 
Abendmahl  nicht  ungleich:  ein  langer  Tisch  mit  der  Braut  als  Mittelfigur. 
Die  Komposition  hat  aber  mit  Lionardos  Bild  kaum  einen  Faden  gemein.  Die 
Braut  ist  zwar  ausgezeichnet  durch  den  hinter  ihr  aufgehängten  Teppich, 
in  der  Größenerscheinung  ist  sie  aber  sehr  klein.    Dabei  ist  nun  das  stilge- 

96 


IL  FLÄCHE  UND  TIEFE 

schichtlich   Wichtige,   daß   sie    unmittelbar   mit    den   großen    Vordergrunds- 
figuren zusammen  gesehen  werden  muß.    Der  Blick  sucht  sie  als  den  ideellen 
Mittelpunkt  und  wird  schon  darum  das  Perspektivisch-Kleine  mit  dem  Per- 
spektivisch-Großen zusammennehmen;  damit  man  aber  ja  nicht  ausweichen 
kann,   ist  durch  die   Bewegung  des   Sitzenden,   der  die   Schüsseln  von  dem 
Servierbrett  —  einer  ausgehängten  Türe  —  nimmt  und  weitergibt,  für  die 
Verbindung  von  vorn  nach  hinten  auf  weitere  Art  gesorgt   (vgl.  das  ganz 
ähnliche  Motiv  bei  Baroccio).    Kleine  Figuren  in  den  zurückliegenden  Grün- 
den hat  es  auch  früher  gegeben,  aber  sie  binden  sich  nicht  mit  den  vorderen 
großen.   Hier  ist  geschehen,  was  Lionardo  theoretisch  kannte,  aber  praktisch 
vermied:  die  Nebeneinanderstellung  real  gleicher  Größen  in  sehr  ungleicher 
Erscheinung,  wobei  das  Neue    in   dem    Zwang    des   Zusammensehens    liegt. 
Brueghel  ist  noch  nicht  Vermeer,  aber  er  hat  den  Vermeer  vorbereitet.  Das 
Motiv  der  Schrägstellung  von  Tisch  und  Wand  kommt  hinzu,  das  Bild  der 
Fläche  zu  entfremden.    Dafür  nimmt  die  Füllung  der  beiden  Ecken  wieder 
darauf  Bezug. 

Die  große  Beweinung  des  Quinten  Massys*  von  151 1  (Antwerpen)  ist 
„ klassisch",  weil  die  führenden  Personen  alle  ganz  deutlich  in  die  Fläche  sich 
einstellen.  Christus  begleitet  ganz  rein  die  horizontale  Grundlinie  des  Bildes, 
Magdalena  und  Nicodemus  ergänzen  die  Schicht  zur  vollen  Breite  der  Tafel. 
Die  Körper  sind  mit  ihren  Extremitäten  reliefhaft-flächig  auseinandergezo- 
gen, und  auch  aus  den  hinteren  Reihen  unterbricht  kaum  eine  Gebärde  diese 
Stimmung  des  Ruhig-Geschichteten.  Sie  wird  schließlich  auch  von  der  Land- 
schaft aufgenommen. 

Nach  dem  Vorausgeschickten  ist  es  kaum  nötig  zu  erklären,  daß  diese 
Planimetrie  keine  primitive  Form  ist.  Die  Generation  vor  Massys  hatte  ihren 
großen  Meister  in  Hugo  van  der  Goes.  Nimmt  man  sein  bekanntes  Haupt- 
werk, die  Anbetung  der  Hirten  in  Florenz,  so  sieht  man  gleich,  wie  wenig 
Vorliebe  für  die  Fläche  diese  nordischen  Quattrocentisten  gehabt  haben,  wie 
sie  mit  den  Mitteln  des  Einwärtsrückens  und  Hinterstellens  der  Figur  sich 
die  Tiefe  zu  erschließen  suchen  und  dabei  eben  zerstreut  und  brüchig  wir- 
ken. In  dem  kleinen  Bild  von  Wien*  haben  wir  dann  die  genaue  stoffliche 
Parallele  zur  Beweinung  des  Massys:  auch  da  ist  es  eine  ausgesprochene 
Tiefenstaffelung  und  der  Leichnam  ist  schräg  bildeinwärts  genommen. 

Diese  Schrägführung  ist,  obwohl  nicht  die  einzige  Formel,  doch  typisch. 
Mit  dem  16.  Jahrhundert  verschwindet  sie  dann  fast  vollständig.  Wird  der 
Leichnam  dennoch  verkürzt  dargestellt,  so  ist  auf  andere  Weise  dafür  ge- 

7  H.  W.,   G.  2.  A.  97 


Quinten  Massys 


sorgt,  daß  er  den  „planimetrischen  Habitus"  des  Bildes  nicht  störe.  Dürer, 
der  in  seinen  frühen  Beweinungen  sich  entschieden  zu  einem  Christus  in  der 
Fläche  bekennt,  hat  später  auch  hie  und  da  den  Körper  verkürzt  gegeben,  am 
schönsten  in  der  großen  Zeichnung  in  Bremen  (L.  117).  Ein  malerisches 
Hauptbeispiel  ist  die  Beweinung  mit  Stiftern  des  Joos  van  Cleve  (Meister  des 
Marientodes)  im  Louvre.  In  solchen  Fällen  wirkt  die  verkürzte  Form  dann 
eben  wie  eine  Öffnung  in  der  Mauer;  entscheidend  bleibt,  daß  eine  Mauer 
überhaupt  da  ist.  Diese  Wirkung  haben  die  Früheren  auch  dann  nicht  er- 
reicht, wenn  sie  sich  dem  Bildrand  parallel  halten. 

Als  klassisches  Gegenstück  aus  dem  Süden  kann  man  Fra  Bartolommeos 
Beweinung  von  1517  (Florenz,  Pitti)  anführen.  Noch  mehr  flächige  Gebun- 
denheit. Noch  mehr  der  Stil  des  strengen  Reliefs.  Vollkommen  frei  bewegt, 
gehen  die  Figuren  doch  so  nah  zusammen,  daß  man  die  vordere  Schicht  leib- 
haftig zu  spüren  glaubt.  Das  Bild  gewinnt  dadurch  eine  Ruhe  und  Stille, 
der  sich  kaum  ein  moderner  Betrachter  verschließen  wird,  allein  es  wäre  doch 
falsch  zu  sagen,  nur  um  der  Stille  der  Leidensgeschichte  willen  sei  die  Er- 
scheinung zu  dieser  Geschlossenheit  gesammelt  worden.  Man  darf  nicht  ver- 
gessen, daß  dieser  Modus  damals  ein  allgemeiner  war,  und  wenn  eine  Ab- 

98 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

sieht  auf  besonders  feierliche  Gehaltenheit  nicht  geleugnet  werden  soll,  so 
kann  der  Eindruck  für  das  damalige  Publikum  doch  nicht  der  gleiche  ge- 
wesen sein  wie  für  uns,  die  wir  ganz  andere  Voraussetzungen  mitbringen.  Der 
springende  Punkt  im  Problem  aber  ist  der,  daß  das  17.  Jahrhundert  selbst  da, 
wo  es  die  Ruhe  suchte,  nicht  mehr  auf  diesen  Darstellungsstil  zurückgreifen 
konnte.    Das  gilt  selbst  für  den  Archaisten  Poussin. 

Die  echt  barocke  Umkehrung  im  Beweinungsbild  finden  wir  bei  Rubens  in 
dem  Stück  von  1614  (Wien,  s.  Abb.  S.  132),  wo  die  Verkürzung  des  Leich- 
nams fast  erschreckend  wirkt.  Die  Verkürzung  an  sich  macht  das  Bild  noch 
nicht  zum  Barockbild,  allein  hier  haben  nun  die  Tiefenelemente  im  Bild  ein 
so  bedeutendes  Gewicht  bekommen,  daß  jener  renaissancemäßige  Flächen- 
eindruck vollständig  aufgehoben  ist,  und  der  verkürzte  Körper  ganz  allein 
stößt  allerdings  auch  durch  den  Raum  mit  einer  Gewalt,  die  früher  nicht 
bekannt  war. 

Am  stärksten  spricht  die  Tiefe,  wenn  sie  sich  als  Bewegung  offenbaren 
kann,  daher  denn  ein  rechtes  Bravourstück  des  Barock  die  Umsetzung  des 
Themas  einer  bewegten  Menge 
aus  der  Fläche  in  die  dritte  Di- 
mension gewesen  ist.  Die  Kreuz- 
tragung  enthält  dieses  Thema. 
Wir  besitzen  es  in  klassischer 
Redaktion  in  dem  sog.  Spasimo 
di  Sicilia  (Madrid),  ein  Bild, 
über  dem  noch  die  ordnende 
Kraft  Raffaels  gewaltet  hat. 
Der  Zug  kommt  aus  der  Tiefe, 
aber  die  Komposition  ist  ganz 
fest  in  die  Fläche  eingestellt. 
Die  wundervolle  Zeichnung  Dü- 
rers in  der  kleinen  Holzschnitt- 
passion, die  Raffael  für  das 
Hauptmotiv  benützt  hat,  ist 
trotz  aller  Unscheinbarkeit  der 
Dimension  ebenso  wie  die  ge- 
stochene kleine  Kreuztragung 
ein  vollkommen  reines  Beispiel 
klassischen     Flächenstils.     Und       Van  der  Goes 


99 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Dürer  hat  sich  hier  weniger  als  Raffael  auf  eine  schon  bestehende  Tradi- 
tion stützen  können.  Unter  seinen  Vorgängern  hat  zwar  Schongauer  schon 
ein  merkwürdig  waches  Gefühl  für  Fläche,  aber  doch  hebt  sich  bei  jeder 
Vergleichung  mit  ihm  die  Dürersche  Kunst  immer  als  die  erst  eigentlich 
flächenmäßige  heraus  und  gerade  die  große  Kreuztragung  Schongauers  ist 
noch  wenig  zur  Fläche  geeint. 

Das  barocke  Gegenstück  zu  Raffael  und  Dürer  —  wir  geben  es  in  der 
Kreuztragung  des  Rubens*  (Stich  des  P.  Pontius,  mit  einer  dem  Gemälde  in 
Brüssel  vorausgehenden  Variante).  Höchst  brillant  der  Zug  nach  der  Tiefe 
zu  entwickelt  und  durch  eine  Aufwärtsbewegung  noch  interessanter  gemacht. 
Das  Stilistisch-Neue,  das  wir  suchen,  liegt  nun  freilich  nicht  im  bloßen  stoff- 
lichen Motiv  des  Bewegungszuges,  sondern,  da  es  sich  um  ein  Prinzip  der 
Darstellung  handelt,  in  der  Art  der  Durchführung  des  Themas:  wie  alle  in 
die  Tiefe  führenden  Momente  für  das  Auge  herausgeholt  sind  und  umge- 
kehrt alles,  was  die  Fläche  betonen  würde,  zurückgedrängt  ist. 

Eben  darum  können  auch  Rembrandt  und  seine  holländischen  Zeitgenos- 
sen, ohne  daß  sie  so  stürmisch  wie  Rubens  mit  plastischen  Mitteln  den  Raum 
erschließen,  an  dem  barocken  Prinzip  tief enhaf ter  Darstellung  teilnehmen :  in 
der  Entwertung  der  Fläche  oder  dem  Unscheinbarmachen  der  Fläche  treffen 
sie  sich  mit  Rubens,  den  Reiz  der  Tiefenbewegung  aber  gewinnen  sie  vor- 
züglich mit  malerischen  Mitteln. 

Auch  Rembrandt  hat  ursprünglich  mit  einem  lebhaften  Hintereinander  der 
Figuren  gearbeitet  —  wir  haben  oben  bereits  auf  seine  Radierung  des  barmher- 
zigen Samariters  hingewiesen  — ,  wenn  er  später  die  gleiche  Geschichte*  mit 
einer  fast  völlig  streifenförmigen  Abwicklung  der  Figuren  erzählt,  so  bedeu- 
tet das  keine  Umkehr  zur  Form  eines  vergangenen  Jahrhunderts:  durch  die 
Führung  des  Lichtes  wird  die  von  den  Gegenständen  markierte  Fläche  im 
Eindruck  wieder  aufgehoben  oder  doch  zum  sekundären  Motiv  herabge- 
drückt. Keinem  Menschen  wird  es  einfallen,  das  Bild  reliefmäßig  auffassen 
zu  wollen.  Zu  deutlich  merkt  man,  wie  die  Figurenschicht  mit  dem  eigent- 
lichen Lebensinhalt  des  Bildes  gar  nicht  zusammenfällt. 

Das  große  Ecce  homo  (Radierung  von  1650)  ist  ein  analoger  Fall.  Be- 
kanntlich geht  das  Schema  der  Komposition  auf  einen  Cinquecentisten,  den 
Lucas  van  Leyden  zurück.  Eine  Hauswand  und  eine  Terrasse  davor,  ganz 
frontal  gesehen;  Leute,  die  sich  auf  der  Terrasse,  vor  der  Terrasse  reihen- 
mäßig nebeneinandergestellt  haben  —  wie  ist  daraus  eine  Barockerscheinung 
zu  gewinnen?  Man  lernt  bei  Rembrandt,  daß  es  nicht  auf  die  Sache  ankommt, 

100 


Rubens 


101 


Rembrandt 

sondern  auf  die  Behandlung.  Während  Lucas  van  Leyden  sich  in  lauter  Flä- 
chenbildern erschöpft,  ist  die  Zeichnung  Rembrandts  so  sehr  mit  Tiefen- 
motiven durchsetzt,  daß  der  Beschauer,  was  materiell  an  Fläche  vorkommt, 
zwar  sieht,  aber  doch  nur  als  das  mehr  oder  weniger  zufällige  Substrat  einer 
ganz  anders  gearteten  Erscheinung  gelten  lassen  wird. 

Für  die  holländischen  Genremaler  des  16.  Jahrhunderts  haben  wir  in  dem- 
selben Lucas  van  Leyden,  in  Pieter  Aertsen  und  Averkamp  ein  breites  Ver- 
gleichsmaterial. Auch  hier,  in  sittenbildlichen  Darstellungen,  wo  eine  Ver- 
pflichtung zu  irgend  einer  feierlichen  Art  der  Inszenierung  gewiß  nicht  vor- 
lag, halten  sich  die  Maler  des  16.  Jahrhunderts  an  das  Schema  des  strengen 
Reliefs.  Die  Figuren  am  Rand  bilden  eine  erste  Schicht,  bald  vollständig  durch- 
geführt durch  die  Breite  des  Bildes,  bald  nur  als  Andeutung,  und  was  nach 
rückwärts  weiter  folgt,  gliedert  sich  in  derselben  Weise.  So  behandelt  Pieter 
Aertsen  seine  Interieurszenen  und  so  sind  noch  bei  dem  etwas  jüngeren 
Averkamp  die  Bilder  mit  Schlittschuhläufern  gebaut.  Allmählich  aber  löst 
sich  der  Zusammenhang  der  Fläche,  die  Motive  mehren  sich,  die  entschieden 
von  vorn  nach  hinten  weisen,  bis  schließlich  das  ganze  Bild  in  dem  Sinne  um- 


102 


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103 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

modelliert  ist,  daß  horizontale  Bindungen  nicht  mehr  möglich  sind  oder  nicht 
mehr  als  dem  Sinn  der  Erscheinung  entsprechend  empfunden  werden.  Man 
muß  ein  Eisbild  des  Adrian  van  de  Velde  mit  Averkamp  vergleichen  oder  ein 
ländliches  Interieur  des  Ostade  mit  einem  Küchenbild  des  Peter  Aertsen*. 
Am  interessantesten  aber  werden  die  Beispiele  sein,  wo  nicht  mit  dem  Reich- 
tum „malerischer"  Räumlichkeiten  operiert  wird,  sondern  wo  schlicht  und 
klar  die  frontal  gesehene  Rückwand  eines  Zimmers  die  Szene  schließt.  Es  ist 
das  Lieblingsthema  des  Pieter  de  Hooch.  Da  ist  es  dann  wieder  die  Art  dieses 
Stils,  das  räumliche  Gerüste  seines  Schichten-  und  Flächencharakters  zu  ent- 
kleiden und  durch  Lichtführung  und  Farbe  das  Auge  auf  andere  Wege  zu 
leiten.  In  dem  Berliner  Bild  des  Pieter  de  Hooch,  die  Mutter  mit  dem  Kind  in 
der  Wiege*,  geht  die  Bewegung  diagonal  nach  der  Tiefe,  dem  hellen  Licht  an 
der  Ausgangstüre  entgegen.  Trotzdem  der  Raum  frontal  gesehen  ist,  wäre 
dem  Bild  mit  Breitenschnitten  nicht  beizukommen. 

Zum  Problem  der  Landschaft  ist  oben  bereits  einiges  beigebracht  worden, 
um  zu  zeigen,  wie  der  klassische  Typ  des  Patenier  in  mehrfacher  Weise  in 
den  Barocktyp  übergeführt  worden  ist.  Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig, 
noch  einmal  auf  das  Thema  zurückzukommen  im  Sinne  der  Mahnung,  die 
zwei  Typen  als  in  sich  geschlossene  Mächte  in  ihrer  ganzen  historischen  Be- 
deutung sich  vorzustellen.  Man  muß  erkannt  haben,  daß  die  Raumform,  die 
Patenier  vorträgt,  identisch  ist  mit  dem,  was  Dürer  z.  B.  in  der  (radierten)  Land- 
schaft mit  der  Kanone*  gibt  und  daß  der  größte  italienische  Landschafter  der 


Aertsen 


104 


105 


Dürer 


Renaissance,  Tizian*,  in  dem  Streifenschema  sich  mit  Patenier  vollkom- 
men deckt. 

Was  auf  den  unhistorischen  Betrachter  bei  Dürer  als  Befangenheit  wirkt, 
die  parallele  Ordnung  von  Vordergrund,  Mittelgrund,  Hintergrund,  ist  ge- 
rade der  Fortschritt  einer  sehr  klaren  Übertragung  des  Zeitideals  auf  die  be- 
sondere Aufgabe  der  Landschaft.  So  bestimmt  muß  der  Boden  sich  schichten, 
so  flächenmäßig  muß  das  Dörfchen  innerhalb  seiner  Zone  sich  darstellen.  Ge- 
wiß hat  Tizian  die  Natur  freier  und  größer  aufgefaßt,  aber  —  man  sieht  das 
vor  allem  in  seinen  Zeichnungen  —  die  Auffassung  ist  durchweg  getragen 
von  dem  gleichen,  das  Flächige  suchenden  Geschmack. 

So  verschieden  dann  auf  der  andern  Seite  Rubens  und  Rembrandt  uns  er- 
scheinen mögen,  für  beide  hat  sich  doch  in  ganz  übereinstimmender  Weise 
die  Raumdarstellung  verschoben:  "der  Tiefenzug  dominiert  und  nichts  ver- 
festigt sich  streifenmäßig.  Einwärts  führende  Wege,  verkürzt  gesehene  Alleen 
kommen  auch  früher  vor,  aber  sie  haben  nie  das  Bild  beherrscht.  Jetzt  sind 
es  gerade  solche  Motive,  auf  denen  der  Ton  liegt.  Das  Hintereinander  der 
Formen  ist  die  Hauptsache,  nicht  wie  sich  die  Dinge  von  rechts  und  links  her 
die  Hand  reichen.  Das  Gegenständliche  kann  aber  auch  ganz  fehlen  und  dann 
triumphiert  die  neue  Kunst  erst  ganz,  dann  ist  es  die  allgemeine  Raum- 
tiefe, die  der  Beschauer  als  ein  einheitliches  Ganzes  in  einem  Atemzug  auf- 
nehmen soll. 

106 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Je  deutlicher  der  Gegensatz  der  Typen  erkannt  ist,  um  so  interessanter 
wird  die  Geschichte  des  Übergangs.  Schon  die  nächste  Generation  nach 
Dürer,  die  Hirschvogel  und  Lautensack,  haben  mit  dem  Ideal  der  Fläche  ge- 
brochen. In  den  Niederlanden  ist  der  alte  Pieter  Brueghel  auch  hier  der  ge- 
niale Neuerer,  der  von  Patenier  weg  unmittelbar  auf  Rubens  hinweist.  Wir 
können  uns  nicht  versagen,  auch  seine  Winterlandschaft*  mit  den  Jägern  noch 
als  Vollbild  in  diesem  Abschnitt  zu  bringen,  sie  kann  nach  beiden  Polen  hin  auf- 
klärend wirken.  Auf  der  rechten  Seite,  im  Mittel-  und  Hintergrund  hat  das 
Bild  noch  manches,  was  an  den  alten  Stil  gemahnt,  aber  mit  dem  gewaltigen 
Motiv  der  Bäume,  die  von  links  her  über  den  Rücken  des  Hügels  zu  den  per- 
spektivisch schon  sehr  kleinen  Häusern  der  Tiefe  führen,  ist  ein  entscheiden- 
der Schritt  in  die  neue  Zeit  gemacht.  Durchgreifend  von  unten  bis  oben,  das 
Bild  füllend  bis  zur  Mitte,  erzeugen  sie  eine  Tiefenbewegung,  die  auch  die 
widerstrebenden  Teile  nicht  unberührt  läßt.  Der  Trupp  der  Jäger  mit  den 
Hunden  läuft  im  selben  Bewegungszug  und  stärkt  die  Kraft  der  Baumreihe. 
Häuser  und  Hügellinien,  gegen  den  Rand  hin,  schließen  sich  begleitend  an. 


Rembrandt 


107 


Botticini 


storisches 
id  Natio- 
nales 


Es  ist  ein  überaus  merkwürdiges  Schauspiel,  wie  sich  um  das  Jahr  1500  über- 
all der  Wille  zur  Fläche  durchsetzt.  Je  mehr  die  Kunst  die  Befangenheit  einer 
primitiven  Anschauung  überwand,  die  bei  dem  deutlichsten  Wollen,  von  dem 
Bloß-Flächenmäßigen  loszukommen,  doch  mit  einem  Fuße  immer  darin  ver- 
strickt blieb,  je  mehr  die  Kunst  mit  den  Mitteln  der  Verkürzung  und  der 
Raumtiefe  vollkommen  sicher  umzugehen  wußte,  um  so  entschiedener  meldet 
sich  das  Verlangen  nach  Bildern,  die  ihren  Inhalt  in  einer  klaren  Fläche  ge- 
sammelt haben.  Diese  klassische  Fläche  wirkt  ganz  anders  als  die  primitive 
Fläche,  nicht  nur  weil  der  Zusammenhang  der  Teile  ein  gefühlterer  ist,  son- 
dern weil  sie  durchsetzt  ist  mit  Kontrastmotiven:  erst  durch  die  bildeinwärts 
führenden  Momente  der  Verkürzung  kommt  der  Charakter  des  flächig  Ge- 
breiteten und  Zusammengeschlossenen  ganz  zur  Geltung.  Die  Forderung  der 
Fläche  bedingt  nicht,  daß  alles  in  einer  Ebene  ausgerichtet  sei,  aber  Haupt- 
formen müssen  in  einer  gemeinsamen  Ebene  liegen.  Die  Fläche  muß  immer 
wieder  als  die  Grundform  durchschlagen.  Es  gibt  kein  Bild  des  15.  Jahrhun- 
derts, das  als  Ganzes  die  flächige  Bestimmtheit  von  Raffaels  Sixtinischer 
Madonna  besäße,  und  wieder  ist  es  ein  Merkmal  des  klassischen  Stils,  wie 


108 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

innerhalb  des  Ganzen  das  Kind  bei  Raffael,  trotz  aller  Verkürzung,  mit  größ- 
ter Bestimmtheit  in  die  Fläche  sich  einstellt. 

Die  Primitiven  haben  viel  mehr  versucht,  die  Fläche  zu  überwinden,  als 
sie  auszubilden. 

Wenn  die  drei  Erzengel  dargestellt  werden,  so  gibt  sie  ein  Quattrocentist 
wieBotticini*auf  einem  charakteristischen  Bilde  in  schräger  Reihe,  die  Hoch- 
renaissance (Caroto*)  stellt  sie  in  gerader  Linie  auf.  Mag  sein,  daß  jene 
Schrägstellung  als  die  lebendigere  Form  für  eine  schreitende  Gesellschaft 
empfunden  worden  ist,  jedenfalls  hat  das  16.  Jahrhundert  das  Bedürfnis  ge- 
habt, das  Thema  anders  zu  redigieren. 

Gerade  Reihenstellungen  kommen  natürlich  immer  schon  vor,  allein  eine 
Komposition  wie  Botticellis  Primavera  würden  die  Spätem  als  zu  dünn,  zu 
unfestbeurteilt  ha- 
ben; es  fehlt  der 
bündige  Schluß, 
den  die  Klassiker 
auch  da  erreichen, 
wo  die  Figuren  in 
großen  Abständen 
sich  folgen,  ja  wo 
eine  ganze  Seite 
offen  gelassen  ist. 

Im  Bedürfnis 
nach  Tiefe  und  aus 
dem  Wunsche  her- 
aus, nur  ja  nicht 
flach  zu  erschei- 
nen, haben  die  älte- 
ren Künstler  gern 
einzelne  auffällige 
Stücke  im  Bilde 
schräg  gestellt,  na- 
mentlich tektoni- 
sche  Stücke,  beide- 
nen  die  verkürzte 
Erscheinung  sich 
leicht  ergab.    Man 


Caroto 


109 


Meister  des  Marienlebens 

erinnert  sich  an  den  etwas  aufdringlichen  Effekt  des  verkürzten  Sarko- 
phages  bei  Auferstehungen.  Wohlgemut  verdirbt  sich  im  Hofer  Altar  (Mün- 
chen) durch  die  schrille  Linie  ganz  die  Einfalt  seiner  frontalen  Hauptfigur. 
Ein  Italiener  wie  Ghirlandajo  bringt  mit  derselben  Schrägform  eine  über- 
flüssige Unruhe  in  seine  Anbetung  der  Hirten  (Florenz,  Akademie),  obwohl 
gerade  er  anderwärts  dem  klassischen  Stil  mit  ernsten  Schichtungen  der 
Figuren  mächtig  vorgearbeitet  hat. 

Versuche,  direkte  Tiefenbewegungen  herzustellen,  z.  B.  einen  Zug  von 
Menschen  aus  der  Tiefe  her  zu  entwickeln,  sind  im  15.  Jahrhundert  durchaus 
nicht  selten,  namentlich  in  der  nordischen  Kunst,  sie  wirken  aber  als  ver- 
früht, weil  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Vorderen  und  dem  Rückwär- 
tigen nicht  anschaulich  wird.  Typisches  Beispiel:  Der  Zug  der  Leute  auf 
Schongauers  Kupferstich  der  Anbetung  der  Könige.  Verwandt  das  Motiv  im 
Tempelgang  Maria  beim  „Meister  des  Marienlebens"  (München),  wo  das 
nach  der  Tiefe  schreitende  Mädchen  mit  den  Figuren  des  Vordergrundes  alle 
Verbindung  verloren  hat. 

Für  den  einfachen  Fall  der  in  verschiedenen  Tiefenabständen  belebten 
Bühne,  ohne  ausgesprochene  Bewegung  nach  oder  aus  der  Tiefe,  ist  das  Ge- 
burtsbild* desselben  „Meisters  des  Marienlebens"  in  München  lehrreich:  der 


110 


Meister  des  Todes  Maria 


Flächenzusammenhang  ist  hier  fast  völlig  zerrissen.  Wenn  dagegen  bei  einer 
stofflich  ähnlichen  Aufgabe  ein  Maler  des  16.  Jahrhunderts,  der  „Meister  des 
Todes  Maria"*,  das  Sterbebett  und  die  Gesellschaft  im  Raum  zu  einer  vollkom- 
men ruhigen  Schichtung  hat  bringen  können,  so  ist  es  nicht  nur  die  besser  ver- 
standene Perspektive,  die  da  Wunder  getan  hat,  sondern  es  ist  das  neue  —  deko- 
rative —  Flächengefühl,  ohne  das  die  Perspektive  nicht  viel  genützt  hätte1). 
Das  unruhig  zerrissene  Wochenstubenbild  des  nordischen  Primitiven  ist 
aber  auch  interessant  als  Gegensatz  zu  der  zeitgenössischen  Kunst  Italiens. 
Man  kann  da  gut  sehen,  was  es  für  eine  Bewandtnis  hat  mit  dem  italienischen 
Instinkt  für  Fläche.  Neben  den  Niederländern  und  gar  neben  den  Oberdeut- 
schen erscheinen  die  Italiener  des  15.  Jahrhunderts  merkwürdig  zurückhaltend. 
Mit  ihrem  klaren  Raumgefühl  riskieren  sie  viel  weniger,  eben  weil  sie  die 
Gefahr  kennen.  Es  ist  als  ob  sie  die  Blume  nicht  hätten  aufreißen  wollen,  be- 
vor sie  von  selbst  sich  erschlösse.  Aber  dieser  Ausdruck  hat  etwas  Schiefes. 
Man  hält  nicht  zurück  aus  Ängstlichkeit,  sondern  ergreift  die  Fläche  mit  freu- 
digem Wollen.  Die  streng  geschichteten  Reihen  in  den  Historien  des  Ghir- 
landajo  und  des  Carpaccio  sind  nicht  Befangenheiten  einer  noch  unfreien 
Empfindung,  sondern  die  Vorahnung  einer  neuen  Schönheit. 


x)  Die  Abbildung  läßt    freilich    die    ordnende  Kraft    der  Farbe   schmerzlich  vermissen. 

III 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Und  genau  so  ist  es  in  der  Zeichnung  der  Einzelfigur.  Ein  Blatt  wie 
Pollaiuolos  Stich  der  kämpfenden  Männer  mit  seiner  fast  rein  planimetrischen 
Haltung  der  Körper,  schon  in  Florenz  ungewöhnlich,  wäre  im  Norden  ganz 
undenkbar.  Es  fehlt  zwar  dieser  Zeichnung  noch  die  volle  Freiheit,  um  die 
Fläche  als  etwas  Selbstverständliches  erscheinen  zu  lassen,  trotzdem  wollen 
solche  Fälle  nicht  als  archaische  Rückständigkeit  beurteilt  werden,  sondern 
als  Verheißung  des  kommenden  klassischen  Stils.  — 

Wir  haben  hier  Begriffe  zu  erörtern  unternommen  und  nicht  Geschichte  zu 
geben,  aber  es  ist  unumgänglich,  die  Vorstufen  kennen  zu  lernen,  wenn  man 
vom  klassischen  Typus  des  Flächenhaften  den  richtigen  Eindruck  bekommen 
will.  Im  Süden,  wo  die  Fläche  ihre  eigentliche  Heimat  zu  haben  scheint,  muß 
man  für  Grade  flächiger  Wirkung  sich  empfindlich  machen,  im  Norden  muß 
man  die  widerstrebenden  Kräfte  am  Werk  gesehen  haben.  Aber  nun  mit 
dem  16.  Jahrhundert  beginnt  ein  vollkommenes  Flächengefühl  die  Darstel- 
lung im  ganzen  Umkreis  siegreich  zu  beherrschen.  Überall  ist  es  da  —  in  der 
Landschaft  des  Tizian  und  des  Patenier,  in  der  Historie  Dürers  und  Raffaels, 
ja,  die  einzelne  Figur  im  Rahmen  fängt  auf  einmal  an,  mit  Entschiedenheit 
sich  in  die  Fläche  einzustellen.  Ein  Sebastian  des  Liberale  da  Verona  ist  ganz 
anders  flächenhaft  verfestigt  als  ein  Sebastian  des  Botticelli,  der  daneben 
leicht  etwas  Unsicheres  in  der  Erscheinung  bekommt;  ein  liegender  Frauen- 
akt scheint  erst  in  der  Zeichnung  des  Giorgione,  des  Tizian  und  Cariani  zum 
wahren  Flächenbild  geworden  zu  sein,  trotzdem  die  Primitiven  (Botticelli, 
Piero  di  Cosimo  u.  a.)  das  Thema  ja  schon  ganz  ähnlich  angefaßt  hatten.  Ein 
und  dasselbe  Motiv,  ein  rein  frontaler  Kruzifixus,  wirkt  im  15.  Jahrhundert 
noch  wie  ein  fadenscheiniges  Gewebe,  während  das  16.  Jahrhundert  ihm  den 
Charakter  einer  geschlossenen  und  nachdrücklich  wirkenden  Flächenerschei- 
nung zu  geben  weiß.  Ein  Prachtbeispiel  dafür  ist  das  große  Golgatha 
Grünewalds  auf  dem  Isenheimer  Altar,  wo  in  einer  bisher  unerhörten  Weise 
der  Gekreuzigte  mit  seiner  Begleitung  zum  Eindruck  einer  einheitlichen  be- 
lebten Fläche  zusammengenommen  ist. 

Der  Prozeß  der  Zersetzung  dieser  klassischen  Fläche  geht  ganz  parallel 
dem  Prozeß  der  Entwertung  der  Linie.  Wer  einmal  diese  Geschichte  schreibt, 
wird  bei  denselben  Namen  haltmachen  müssen,  die  für  die  Entwicklung  des 
malerischen  Stils  bedeutsam  sind.  Correggio  steht  auch  hier  als  Vorläufer 
des  Barock  zwischen  den  Cinquecentisten.  In  Venedig  ist  es  Tintoretto,  der 
mächtig  an  der  Zertrümmerung  des  Flächenideals  gearbeitet  hat,  und  bei 
Greco    ist    fast    nichts    mehr  davon  zu  spüren.     Reaktionäre  der  Linie  wie 


1 12 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Poussin  sind  auch  Reaktionäre  der  Fläche.   Und  doch,  wer  könnte  in  Poussin 
trotz  allem  „klassischen"  Wollen  den  Mann  des  17.  Jahrhunderts  verkennen  ! 

Wie  in  der  Entwicklungsgeschichte  des  Malerischen  gehen  die  plastisch- 
tiefenhaften  Motive  den  bloß  optischen  voraus,  wobei  der  Norden  immer 
einen  Vorsprung  vor  dem  Süden  für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf. 

Es  ist  unverkennbar,  daß  die  Nationen  von  Anfang  an  sich  scheiden.  Es 
gibt  Eigentümlichkeiten  nationaler  Phantasie,  die  in  allem  Wechsel  sich 
konstant  erhalten.  Italien  hat  den  Instinkt  für  Fläche  immer  stärker  besessen 
als  der  germanische  Norden,  dem  das  Aufwühlen  der  Tiefe  im  Blute  steckt. 
So  wenig  zu  leugnen  ist,  daß  die  italienische  Flächenklassik  eine  Stilparallele 
diesseits  der  Alpen  besitzt,  so  sehr  macht  sich  andererseits  der  Unterschied 
bemerkbar :  daß  die  reine  Fläche  hier  bald  als  Beschränkung  empfunden  und 
nicht  lange  ertragen  worden  ist.  Den  Konsequenzen  aber,  die  der  nor- 
dische Barock  aus  dem  Tiefenprinzip  gezogen  hat,  hat  der  Süden  nur  von 
ferne  folgen  können. 

Plastik 
I. 

Man  kann  die  Geschichte  der  Plastik  als  eine  Geschichte  der  Entwicklung  Allgemeines 
der  Figur  demonstrieren.  Eine  anfängliche  Befangenheit  wird  abgeworfen, 
die  Glieder  regen  sich  und  greifen  aus,  der  Körper  als  Ganzes  kommt  in  Be- 
wegung. Aber  eine  solche  Geschichte  der  objektiven  Themen  deckt  sich  nicht 
ganz  mit  dem,  was  wir  hier  unter  Stilentwicklung  verstehen.  Wir  meinen :  es 
gibt  ein  flächiges  Sichbeschränken,  das  nicht  eine  Unterdrückung  des  Bewe- 
gungsreichtums bedeutet,  sondern  nur  eine  andere  Anordnung  der  Formen, 
und  andererseits  gibt  es  ein  bewußtes  Auflösen  der  betonten  Fläche  im  Sinn 
einer  ausgesprochenen  Tiefenbewegung  und  diese  Formenordnung  wird  zwar 
durch  reiche  Bewegungskomplexe  begünstigt,  kann  sich  aber  auch  mit  ganz 
einfachen  Motiven  verbinden. 

Linienstil  und  Flächenstil  korrespondieren  offenbar  miteinander.  Das 
15.  Jahrhundert,  wie  es  im  allgemeinen  auf  Linie  hingearbeitet  hat,  ist 
auch  im  großen  und  ganzen  ein  Jahrhundert  der  Fläche  gewesen,  nur  daß 
der  Begriff  nicht  zur  vollen  Energie  angespannt  worden  ist.  Man  hält  sich 
an  die  Fläche,  aber  mehr  unbewußt  und  es  kommen  beständig  Fälle  vor,  wo 
man  aus  der  Fläche  herausfällt,  ohne  daß  das  besonders  bemerkt  worden 
wäre.  Charakteristisch  das  Beispiel  von  Verrocchios  Gruppe  des  ungläubigen 
Thomas :  die  Gruppe  steht  in  einer  Nische,  aber  der  Jünger  bleibt  mit  einem 
Bein  außerhalb. 

8  H.  W.,  G.  2.  A.  113 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Mit  dem  16.  Jahrhundert  aber  wird  es  dann  Ernst  mit  der  Flächenempfin- 
dung. Bewußt  und  konsequent  werden  die  Formen  in  eine  Schicht  gesam- 
melt. Der  plastische  Reichtum  hat  zugenommen,  die  Richtungsgegensätze 
sind  stärkere,  jetzt  erst  scheinen  die  Körper  vollkommen  frei  geworden  zu 
sein  in  den  Gelenken,  die  Gesamterscheinung  aber  hat  sich  zum  reinen 
Flächenbild  beruhigt.  Das  ist  der  klassische  Stil  mit  seinen  bestimmten 
Silhouetten. 

Allein  diese  klassische  Flächigkeit  ist  nicht  von  langer  Dauer  gewesen. 
Bald  schien  es,  als  ob  man  die  Dinge  in  Fesseln  schlüge,  wenn  man  sie  der 
reinen  Fläche  unterwarf;  man  löst  die  Silhouetten  auf  und  führt  das  Auge 
um  die  Ränder  herum;  man  steigert  das  Quantum  verkürzt  erscheinender 
Form  und  gibt  mit  Überschneidungen,  übergreifenden  Motiven  stark  spre- 
chende Verhältnisse  des  Vor-  und  Rückwärts,  kurz,  es  wird  absichtlich  ver- 
mieden, den  Eindruck  der  Fläche  aufkommen  zu  lassen,  auch  wenn  eine 
Fläche  tatsächlich  noch  vorhanden  ist.  So  arbeitet  Bernini.  Hauptbeispiele: 
das  Grabmal  Urbans  VIII.  in  St.  Peter  und  (noch  verschärft)  ebenda  das 
Grabmal  Alexanders  VII*.  Verglichen  damit  erscheinen  Michelangelos  Medi- 
cäergräber  vollkommen  scheibenhaft.  Gerade  im  Fortgang  der  früheren 
Arbeit  Berninis  zur  späteren  kann  man  die  eigentliche  Gesinnung  dieses 
Stils  gut  kennen  lernen.  Die  Hauptfläche  noch  mehr  zerklüftet.  Die  vor- 
deren Figuren  wesentlich  von  der  schmalen  Seite  her  gesehen.  Rückwärtige 
Halbfiguren.  Auch  das  alte  Motiv  des  Betens  mit  emporgestellten  Händen 
(beim  Papst),  das  die  profilmäßige  Darstellung  unweigerlich  zu  verlangen 
scheint,  hier  der  verkürzten  Ansicht  unterstellt. 

Wie  sehr  der  alte  Flächenstil  erschüttert  ist,  muß  aus  diesen  Beispielen 
um  so  deutlicher  erhellen,  als  es  sich  im  Grunde  doch  immer  noch  um  den 
Typus  des  Wandgrabes  handelt.  Freilich  ist  die  Flachnische  zur  Tiefform 
umgebildet  und  die  Hauptfigur  kommt  uns  (auf  bauchigem  Sockel)  entgegen, 
aber  auch  das,  was  in  einer  Ebene  zusammensteht,  ist  so  behandelt,  daß  es 
sich  gegenseitig  kaum  annimmt :  man  sieht  das  Nebeneinander  und  es  gehen 
wohl  Fäden  herüber  und  hinüber,  aber  in  dieses  Gewebe  ist  der  Reiz  der  tie- 
fenwärts  führenden  Form  eingeflochten  und  es  muß  dem  Meister  des  Barock 
durchaus  erwünscht  gewesen  sein,  in  der  Mitte  eine  Tür  vorzufinden,  die,  weit 
entfernt  im  Sinne  des  früheren  Sarkophags  eine  horizontale  Bindeform  abzu- 
geben, den  Zwischenraum  vertikal  aufschlitzt,  wodurch  eine  neue  Tiefen- 
form sich  auftut:  aus  dem  Schattendunkel  stößt  der  Tod,  das  schwere  Tuch 
emporhebend,  hervor. 

114 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Man  könnte  meinen,    der  Barock  habe  die  Wandkompositionen    eher  ge- 
flohen, da  sie  der  Tendenz  des  Loskommens  von  der  Fläche  doch  einen  ge- 
wissen Widerstand    leisten  mußten.     Allein    es  ist  gerade    umgekehrt.     Er 
stellt    die  Figuren   in  Reihen,    bringt  sie  in  Nischen:  er  hat  das  größte  In- 
teresse, daß  eine  räumliche  Orientierung  da  sei.    Erst  an  der  Ebene,  im  Wi- 
derspruch   zur    Ebene    wird    die  Tiefe  fühlbar.  Die  allseitig  gedrehte  Frei- 
gruppe ist  für  den  Barock  durchaus  nicht  typisch.    Allerdings  vermeidet  er 
den  Eindruck  einer  strengen  Frontalität,  als  ob  die  Figur  eine  entschiedene 
Hauptrichtung  hätte  und  in  dieser  Richtung  gesehen  werden  wollte.     Seine 
Tiefe  ist  immer  mit  dem  Anblick  unter  verschiedenen  Winkeln  verbunden. 
Es   schiene   dem    Barock    eine   Versündigung  gegen   das  Leben,  wenn    die 
Plastik  sich  in  einer  bestimmten  Fläche  verfestigen  wollte.     Sie  sieht  nicht 
nur  nach  einer  Seite,  sondern  besitzt  einen  größeren  Streukreis. 

Es  ist  an  dieser  Stelle  notwendig,  Adolf  Hildebrand  zu  zitieren,  der  nicht 
im  Namen  eines  besonderen  Stils,  sondern  im  Namen  der  Kunst  die  Fläche 
für    die    Plastik    gefordert 
hat   und    dessen   ,, Problem 
der  Form"    zum  Katechis- 
mus   einer    neuen    großen 
Schule  in  Deutschland  ge- 
worden    ist.       Erst    wenn 
das  Körperlich-Runde,  sagt 
Hildebrand,     trotzdem     es 
rund  ist,  in  ein  flächenmäßig 
faßbares  Bild  umgesetzt  ist, 
ist    es    im     künstlerischen 
Sinne  sehbar  geworden.  Wo 
eine  Figur  nicht  soweit  ge- 
bracht  ist,    daß    sie    ihren 
Inhalt  in  einem  Flächenbild 
gesammelt  enthält,  wo  also 
der  Beschauer,  der  ihrer  hab- 
haft werden  will,  um  sie  her- 
umzugehen gezwungen  ist 
und     in    einzelnen     Bewe- 
gungsakten   sich    das    Ge- 
samtbild   zusammensuchen       Bernini 


8* 


115 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

muß,  da  ist  man  mit  der  Kunst  um  keinen  Schritt  über  die  Natur  hinaus- 
gekommen. Die  Wohltat,  die  der  Künstler  mit  seiner  Arbeit  dem  Auge 
erweisen  sollte,  indem  er  das  Zerstreute  der  natürlichen  Erscheinung  zum 
einheitlichen  Bilde  sammelt,   ist  ausgeblieben. 

In  dieser  Theorie  scheint  für  Bernini  und  die  barocke  Skulptur  kein  Platz 
zu  sein.  Allein  man  tut  Hildebrand  Unrecht,  wenn  man  ihn  (wie  das 
geschehen  ist)  nur  als  Anwalt  seiner  eigenen  Kunst  betrachten  will.  Er 
opponiert  gegen  den  Dilettantismus,  der  von  dem  Prinzip  der  Flächenforde- 
rung gar  nichts  weiß,  Bernini  aber  —  um  den  einen  Namen  als  Vertreter  der 
ganzen  Gattung  zu  gebrauchen  —  ist  durch  die  Fläche  bereits  durchgegangen 
und  was  er  an  Negation  der  Fläche  gibt,  hat  also  eine  ganz  andere  Bedeu- 
tung, als  was  in  einer  Kunstübung  vorkommt,  die  zwischen  flächig  und  nicht- 
flächig noch  gar  nicht  unterscheiden  kann. 

Es  ist  zweifellos,  daß  der  Barock  stellenweise  zu  weit  gegangen  ist  und  un- 
angenehm wirkt,  eben  weil  keine  gesammelten  Bilder  zustande  kommen. 
Bei  diesen  ist  die  Kritik  Hildebrands  am  Platze;  aber  man  darf  sie  nicht  aus- 
dehnen wollen  auf  die  Gesamtheit  der  nach-klassischen  Produktion.  Es  gibt 
auch  untadeligen  Barock.  Und  zwar  nicht,  wenn  er  archaisiert,  sondern  wenn 
er  ganz  er  selbst  ist.  Im  Fortgang  einer  ganz  allgemeinen  Entwick- 
lung des  Sehens  hat  die  Plastik  einen  Stil  gefunden,  der  etwas  anderes  will 
als  die  Renaissance  und  für  den  die  alten  Termini  der  klassischen  Ästhetik 
nicht  mehr  zureichen.  Es  gibt  eine  Kunst,  die  die  Fläche  kennt,  aber  im  Ein- 
druck nicht  laut  zu  Worte  kommen  lassen  will. 

Man  darf  also,  um  den  Barockstil  zu  charakterisieren,  nicht  eine  beliebige 
Figur  wie  Berninis  David  mit  der  Schleuder  einer  Frontalfigur  wie  Michel- 
angelos klassischem  David  (dem  sog.  Apoll,  Bargello)  gegenüberstellen. 
Allerdings  bilden  die  zwei  Arbeiten  einen  grellen  Kontrast,  bei  dem  aber  auf 
den  Barock  ein  schiefes  Licht  fällt.  Berninis  David  ist  eine  Jugendarbeit  und 
die  Vielseitigkeit  der  Wendung  ist  erkauft  mit  dem  Verlust  aller  befriedigen- 
den Ansichten.  Hier  wird  man  wirklich  „um  die  Figur  herumgetrieben", 
denn  es  fehlt  einem  immer  etwas,  was  man  aufzudecken  sich  gezwungen 
fühlt.  Bernini  hat  das  selbst  empfunden  und  seine  reifen  Arbeiten  sind  viel 
gesammelter  gehalten,  mehr  —  nicht  ganz  —  auf  einen  Blick  gesammelt. 
Die  Erscheinung  ist  beruhigter,  behält  aber  etwas  Oszillierendes. 

Wenn  die  Primitiven  unbewußt  flächig  gewesen  sind  und  die  klassische 
Generation  bewußt-flächig,  so  kann  man  die  Kunst  des  Barock  bewußt- 
unflächig  nennen.    Sie  lehnt  die  Verpflichtung  auf  die  zwingende  Frontalität 

116 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

der  Erscheinung  ab,  weil  nur  in  dieser  Freiheit  der  Schein  lebendiger  Be- 
wegung ihr  erreichbar  schien.  Plastik  ist  immer  etwas  Rundes  und  kein 
Mensch  wird  glauben,  man  habe  die  klassischen  Figuren  nur  von  einer  Seite 
angesehen,  aber  bei  allen  Betrachtungsweisen  macht  sich  doch  eben  die 
Front  als  Norm  geltend  und  man  fühlt  ihre  Bedeutung,  auch  wenn  man  sie 
nicht  gerade  vor  Augen  hat.  Nennt  man  den  Barock  unflächig,  so  will  das 
nicht  heißen,  daß  nun  das  Chaos  eingebrochen  sei  und  jedes  Einstellen  auf 
bestimmte  Richtungen  aufgehört  habe,  sondern  nur  das  soll  gesagt  sein,  daß 
man  den  blockmäßigen  Flächenzusammenhang  ebensowenig  mehr  wünscht, 
wie  die  Verfestigung  der  Figur  in  einer  dominierenden  Silhouette.  Dabei 
kann  die  Forderung,  daß  die  Ansichten  sachlich  erschöpfende  Bilder  liefern 
müßten,  mit  gewissen  Modifikationen  weiter  geltend  bleiben.  Das  Maß 
dessen,  was  man  zur  Formerklärung  für  unentbehrlich  hält,  ist  nicht  immer 
das  gleiche. 

2. 

Die  Begriffe,  die  unseren  Kapiteln  als  Überschriften  vorgesetzt  sind,  Beispiele 
greifen  natürlich  zusammen,  es  sind  die  verschiedenen  Wurzeln  eines  Ge- 
wächses oder  anders  ausgedrückt :  es  ist  überall  ein  und  dieselbe  Sache,  nur 
von  verschiedenen  Punkten  aus  gesehen.  So  kommen  wir  bei  der  Analyse  des 
Tiefenhaften  auf  Dinge,  die  schon  als  Komponenten  des  Malerischen  genannt 
werden  mußten.  Die  Ersetzung  der  einen  beherrschenden  Silhouette,  die 
mit  der  Sachform  zusammenfällt,  durch  malerische  Ansichten,  in  denen  Sache 
und  Erscheinung  auseinandertreten,  ist  schon  bei  der  malerischen  Plastik  und 
Architektur  nach  ihrer  grundsätzlichen  Bedeutung  erörtert  worden.  Das 
Wesentliche  ist,  daß  solche  Ansichten  nicht  nur  gelegentlich  sich  ergeben 
können,  sondern  daß  von  Anfang  an  darauf  gerechnet  ist  und  daß  sie  zahl- 
reich und  wie  von  selber  sich  dem  Betrachter  darbieten.  Diese  Wandlung  ist 
durchaus  gebunden  an  die  Entwicklung  vom  Flächenhaften  zum  Tiefen- 
haften. 

In  derGeschichte  des  Reiterdenkmals  läßt  sich  das  gut  anschaulich  machen. 

Der  Gattamelata  des  Donatello  und  der  Colleoni  des  Verrocchio  sind 
beide  so  aufgestellt,  daß  die  reine  Breitenansicht  betont  ist.  Dort  steht  das 
Pferd  im  rechten  Winkel  zur  Kirche,  in  der  Flucht  der  Frontwand,  hier  läuft 
es  mit  der  Längsachse  parallel,  seitlich  abgerückt :  in  beiden  Fällen  arbeitet 
die  Aufstellung  einer  flächenmäßigen  Auffassung  vor  und  das  Werk  be- 
stätigt die  Richtigkeit  einer  solchen  Auffassung,  indem  so  ein  restlos  klares 
und  in  sich  geschlossenes  Bild  zustande  kommt.    Man  hat  den  Colleoni  nicht 

117 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

gesehen,  wenn  man  nicht  die  reine  Seitenansicht  kennt.  Und  zwar  ist  es  die 
Ansicht  von  der  Kirche  her,  seine  rechte  Seite,  auf  die  das  Bild  abgestellt  ist, 
denn  nur  so  wird  alles  deutlich :  der  Feldherrnstab  und  die  Zügelhand,  und 
der  Kopf  geht  trotz  der  Linksdrehung  nicht  verloren1).  Bei  der  Höhe  des 
Sockels  stellen  sich  natürlich  perspektivische  Verschiebungen  rasch  ein, 
aber  die  Hauptansicht  schlägt  doch  siegreich  durch.  Und  darauf  allein 
kommt  es  an.  Niemand  wird  so  töricht  sein,  zu  meinen,  die  alten  Bildhauer 
hätten  wirklich  nur  auf  eine  Ansicht  hingearbeitet,  dann  wäre  es  ja  über- 
flüssig gewesen,  ein  vollkörperliches  Werk  zu  machen;  man  soll  das  Runde 
genießen,  indem  man  es  rings  umgeht,  aber  es  gibt  einen  Ruhepunkt  für 
den  Betrachter  und  das  ist  hier  die  Ansicht  der  größten  Breite. 

Im  wesentlichen  hat  sich  darin  auch  bei  den  Großherzögen  des  Giovan 
Bologna  in  Florenz  noch  nichts  geändert,  obwohl  sie  mit  strengerem  tek- 
tonischem  Gefühl  jeweilen  in  die  Mittelachse  des  Platzes  gestellt  sind  und 
so  vom  Raum  gleichmäßiger  umspült  werden.  Die  Figur  erschließt  sich  in 
ruhigen  Breitansichten,  wobei  die  Gefahr  der  perspektivischen  Verzerrung 
durch  Erniedrigung  des  Sockels  vermindert  ist.  Neu  aber  ist,  wie  durch 
die  Orientierung  der  Denkmäler  neben  der  Breitansicht  auch  die  verkürzte 
Ansicht  legitimiert  ist.  Der  Künstler  nimmt  jetzt  deutlich  Bezug  auf  einen 
Beschauer,  der  den  Reitern  entgegenkommt. 

So  hatte  es  schon  Michelangelo  gehalten  bei  der  Aufstellung  des  Marc 
Aurel  auf  dem  Kapitol:  in  der  Mitte  des  Platzes  stehend,  auf  niedrigem 
Sockel,  läßt  sich  die  Figur  zwar  bequem  von  den  Seiten  fassen,  wer  aber 
auf  der  breiten  Prachttreppe  den  kapitolinischen  Hügel  ersteigt,  dem  ist  das 
Pferd  mit  der  Stirnseite  zugewendet.  Und  die  Ansicht  wirkt  nicht  zufällig, 
die  spätantike  Figur  ist  darauf  eingerichtet.  Soll  man  das  nun  schon  barock 
nennen?  Offenbar  liegt  hier  der  Anfang.  Die  ausgesprochene  Tiefenwirkung 
des  Platzes  würde  unter  allen  Umständen  dahin  drängen,  die  breite  Ansicht 
des  Reiters  zugunsten  der  kurzen  oder  halbkurzen  zu  entwerten. 

Den  rein  barocken  Typus  zeigt  der  Große  Kurfürst  Schlüters  auf  der  Langen 
Brücke  in  Berlin.  Er  steht  zwar  rechtwinklig  zur  Gehbahn,  aber  hier  ist 
es  überhaupt  nicht  mehr  möglich,  dem  Pferde  von  der  Flanke  her  beizu- 
kommen. Die  Erscheinung  bleibt  für  jeden  Standpunkt  eine  verkürzte  und 
gerade  darin  liegt  ihre  Schönheit,  daß  sich  für  den  Betrachter  beim  Gehen 
über  die  Brücke  eine  Fülle  von  Ansichten  abwickeln,  die  alle  gleichmäßig 

')  Leider  sind    die   käuflichen  Photographien  alle  falsch   aufgenommen,  mit  unzulässi- 
gen Verdeckungen  und  mit  abscheulicher  Entstellung  des  Rhythmus  in  den  Pferdebeinen. 

118 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

bedeutungsvoll  sind.  Die  Art  der  Verkürzung  kompliziert  sich  durch  die 
kleine  Distanz.  Man  wollte  es  nicht  anders:  das  verkürzte  Bild  ist  reizvoller 
als  das  unverkürzte.  In  welcher  Weise  der  Formenaufbau  des  Denkmals 
auf  diese  Erscheinungsweise  eingestellt  ist,  braucht  hier  nicht  im  einzelnen 
erörtert  zu  werden,  genug,  was  den  Primitiven  als  ein  notwendiges  Übel 
erschien  und  was  die  Klassiker  möglichst  vermieden,  die  optische  Formen- 
verschiebung ist  hier  mit  Bewußtsein  als  Kunstmittel  aufgenommen  worden. 

Als  ähnlichen  Fall  kann  man  die  Gruppe  der  antiken  Rossebändiger  auf 
dem  Quirinal  nennen,  die,  mit  einem  Obelisken  zusammengeordnet  und  (später) 
durch  eine  Schale  zum  Brunnen  ergänzt,  eines  der  charakteristischsten  Bilder 
des  barocken  Rom  darstellen.  Die  zwei  Kolossalfiguren  der  ausschreitenden 
Jünglinge,  über  deren  Verhältnis  zu  ihren  Pferden  wir  uns  hier  nicht  aus- 
zusprechen brauchen,  gehen  schräg  nach  vorn,  von  dem  zentralen  Obelisken 
aus,  das  heißt  sie  bilden  unter  sich  einen  stumpfen  Winkel.  Dieser  Winkel 
öffnet  sich  gegen  den  Hauptzugang  des  Platzes  und  nun  ist  das  stilgeschicht- 
lich Wichtige,  daß  die  Hauptformen  in  der  Hauptansicht  verkürzt  erschei- 
nen, was  um  so  überraschender  wirkt,  als  sie  von  Haus  aus  sehr  bestimmte 
Frontflächen  besitzen.  Es  ist  alles  getan,  daß  diese  Frontalität  nicht  durch- 
schlägt und  das  Bild  nicht  festgelegt  wird. 

Wie  aber?  Ist  nicht  schon  der  klassischen  Kunst  die  Zentralkomposition 
mit  diagonal  zur  Mitte  stehenden  Figuren  durchaus  geläufig?   —  Der  große 


Bernini 


119 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Unterschied  ist  der,  daß  die  quirinalischen  Rossebändiger  eben  nicht  zu  einer 
Zentralkomposition  gehören,  wo  jede  Figur  einen  eignen  Standpunkt  vom 
Beschauer  verlangt,  sondern  daß  sie  als  ein  Bild  zusammengesehen  werden 
wollen. 

Wie  in  der  Architektur  der  reine,  allseitig-sichtbare  Zentralbau  kein  barockes 
Motiv  ist,  so  sind  es  auch  die  rein  zentrischen  Gruppierungen  in  der  Plastik 
nicht.  Der  Barock  hat  ein  Interesse  an  ausgesprochener  Orientierung,  ge- 
rade weil  er  die  Orientierung  mit  Gegenwirkungen  teilweise  wieder  aufhebt. 
Um  den  Reiz  der  überwundenen  Fläche  zu  gewinnen,  muß  doch  erst  eine 
Fläche  da  sein.  Der  Brunnen  Berninis  mit  den  vier  Weltströmen  sieht  nicht 
gleichmäßig  nach  allen  Himmelsrichtungen,  sondern  hat  eine  vordere  und 
eine  hintere  Front,  je  zwei  der  Figuren  sind  unter  sich  zusammengenommen, 
so  freilich,  daß  sie  auch  wieder  um  die  Ecke  herumgreifen.  Flächiges  und 
Nichtflächiges  spielen  zusammen. 

In  gleicher  Weise  hat  Schlüter  die  Gefangenen  am  Sockel  des  Großen 
Kurfürsten  behandelt.  Es  scheint,  als  ob  sie  gleichmäßig  diagonal  vom 
Sockelblock  losgingen,  in  Wirklichkeit  sind  die  vorderen  und  die  hinteren 
unter  sich  verbunden,  sogar  im  wörtlichen  Sinne,  mit  Ketten  nämlich.  Das 
andere  Schema  ist  das  Renaissanceschema.  So  stehen  die  Figuren  am  Tugend- 
brunnen in  Nürnberg  oder  am  Herkulesbrunnen  in  Augsburg.  Als  italienisches 
Beispiel  kann  der  bekannte, ,Schildkröten"-BrunnendesLandini  inRom  gelten: 
die  vier  Knaben,  die  in  den  vier  Achsen  nach  den  (später  zugefügten)  Tieren 
der  oberen   Schale  emporgreifen. 

Die  Orientierung  kann  mit  ganz  leisen  Mitteln  angegeben  werden.  Wenn 
bei  zentrischer  Anlage  eines  Brunnens  ein  Obelisk  in  der  Mitte  nur  um  ein 
weniges  breit  geschlagen  ist,  so  ist  sie  schon  da.  Und  ebenso  kann  bei  einer 
Figurengruppe  oder  sogar  bei  einer  einzelnen  Figur  die  Behandlung  beliebig 
den  Effekt  nach  dieser  oder  jener  Seite  schieben. 

Das  Umgekehrte  tritt  ein  bei  Flach-  oder  Wandkompositionen.  Während 
der  Barock  die  Zentralkomposition  der  Renaissance  mit  Fläche  durchsetzt, 
um  seine  Tiefe  wirksam  zu  machen,  muß  er  natürlich  innerhalb  eines  ge- 
gebenen Flächenmotivs  für  Tiefenwirkungen  derart  sorgen,  daß  der  Ein- 
druck der  Fläche  nicht  aufkommen  kann.  Das  ist  schon  bei  der  einzelnen 
Figur  der  Fall.  Die  liegende  Beata  Albertona  des  Bernini*  hält  sich  voll- 
ständig in  einer  Ebene  parallel  zur  Wand,  allein  sie  ist  so  zerklüftet  in  der 
Form,  daß  die  Fläche  unscheinbar  geworden  ist.  Wie  der  Flächencharakter 
eines  Wandgrabes  aufgehoben  wird,  ist  ebenfalls  mit  Berninischen  Arbeiten 

120 


Rom,  Fontana  Trevi 

oben  bereits  belegt  worden.  Ein  Prachtbeispiel  größten  Stils  ist  der  barocke 
Wandbrunnen,  wie  wir  ihn  in  Fontana  Trevi*  haben.  Gegeben  ist  eine  haus- 
hohe Wand  und  davor  ein  tiefliegendes  Bassin.  Daß  das  Bassin  bauchig 
auslädt,  ist  ein  erstes  Motiv,  das  von  renaissancemäßiger  Flächenschichtung 
abführt,  das  wesentliche  aber  liegt  in  jener  Welt  von  Formen,  die  mit  dem 
Wasser,  von  der  Mitte  der  Wand  her,  nach  allen  Seiten  vordrängen.  Der 
Neptun  in  der  Zentralnische  hat  sich  von  der  Fläche  schon  völlig  abgelöst 
und  gehört  mit  zu  dem  strahlenförmig  auseinandergehenden  Formenschwall 
des  Beckens.  Die  Hauptfiguren  —  die  Seepferde  —  erscheinen  verkürzt  und 
zwar  unter  verschiedenem  Winkel.  Man  soll  nicht  auf  den  Gedanken  kom- 
men, daß  irgendwo  eine  Hauptansicht  liege.  Jede  Ansicht  ist  ein  Ganzes 
und  reizt  doch  zu  einem  beständigen  Wechseln  des  Standpunktes.  Die  Schön- 
heit der  Komposition  liegt  in  ihrer  Unerschöpflichkeit. 

Wenn  man  aber  nach  den  Anfängen  dieser  Flächenzersetzung  sich  um- 
sieht, so  möchte  der  Hinweis  auf  den  späten  Michelangelo  nicht  unange- 
bracht  sein.    Am  Juliusgrab  hat  er  den  Moses  so  weit  aus  der  Fläche  vor- 


121 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

springen  lassen,  daß  man  diese  Figur  nicht  mehr  als  ,,Relief"-Figur,  son- 
dern als  mehrseitig  sichtbare  Freifigur,  die  nicht  in  einer  Ebene  aufgeht, 
auffassen  muß. 

Damit  kommen  wir  auf  das  allgemeine  Verhältnis  von  Figur  und  Nische. 
Die  Primitiven  behandeln  es  als  ein  schwankendes;  bald  ist  die  Figur  in 
der  Nische  geborgen,  bald  tritt  sie  aus  der  Nische  vor.  Für  die  Klassiker 
ist  es  die  Norm,  alle  Plastik  in  die  Tiefe  der  Mauer  zurückzulegen.  Die 
Figur  ist  dann  nichts  als  eben  ein  Stück  lebendig  gewordener  Wand.  Das 
ändert  sich,  wie  gesagt,  schon  zuzeiten  des  Michelangelo  und  bei  Bernini 
ist  es  bald  selbstverständlich,  daß  die  füllende  Plastik  aus  der  Nische  vor- 
quillt. So  ist  es  z.  B.  gehalten  bei  den  Einzelfiguren  der  Magdalena  und  des 
Hieronymus  im  Dom  zu  Siena  und  das  Grab  Alexanders  VII.*,  weit  enfernt 
auf  den  Raum  sich  zu  beschränken,  der  in  die  Wand  eingetieft  ist,  bricht  bis 
auf  die  Fluchtlinie  der  vorgestellten  rahmenden  Halbsäulen  vor,  die  teilweise 
noch  überschnitten  werden.  Natürlich  sprechen  dabei  Gelüste  nach  dem  Atek- 
tonischen  mit,  aber  das  Verlangen,  von  der  Fläche  loszukommen,  ist  doch  nicht 
zu  verkennen.  So  hat  man  gerade  dieses  Alexandergrab  nicht  ganz  unrichtig  als 
ein  in  eine  Nische  hineingeschobenes  Freigrab  bezeichnen  können. 

Es  gibt  aber  noch  eine  andere  Art,  die  Ebene  zu  überwinden  und  das  ist 
die  Ausgestaltung  der  Nische  zu  einem  realen  Tiefraum,  wie  es  bei  der 
hl.  Therese  des  Bernini*  geschehen  ist.  Hier  ist  der  Grundriß  ein  ovaler  und 
öffnet  sich  —  wie  eine  aufgesprungene  Feige  —  nach  vorn,  nicht  in  ganzer 
Breite,  sondern  so,  daß  seitliche  Überschneidungen  sich  ergeben.  Die  Nische 
bildet  ein  Gehäuse,  in  dem  die  Figuren  sich  scheinbar  frei  regen  können, 
und  so  beschränkt  die  Möglichkeiten  sind,  der  Beschauer  wird  doch  zum 
Anblick  von  verschiedenen  Punkten  her  aufgefordert.  Ebenso  sind  z.  B.  die 
Apostelnischen  im  Lateran  behandelt.  Für  die  Komposition  der  Hochaltäre 
war  das  Prinzip  von  unermeßlicher  Bedeutung. 

Von  hier  aus  war  es  dann  nur  ein  Schritt,  und  zwar  ein  kleiner,  die  pla- 
stischen Figuren  hinter  einer  selbständigen  Rahmenarchitektur  als  etwas 
Zurückgeschobenes,  Fernes  erscheinen  zu  lassen,  mit  eignem  Licht,  wie  das 
schon  bei  der  hl.  Therese*  der  Fall  ist.  Der  leere  Raum  ist  dann  mit  als 
Faktor  in  die  Komposition  aufgenommen.  Eine  Wirkung  von  dieser  Art 
hatte  Bernini  bei  seinem  Konstantin  (unterhalb  der  Scala  regia  im  Vatikan) 
im  Sinne :  man  sollte  ihn  von  der  Vorhalle  von  St.  Peter  her  sehen,  durch 
den  Schlußbogen  hindurch.  Dieser  Bogen  ist  aber  jetzt  zugemauert  und  so 
können  wir  nur  auf  der  anderen  Seite,  bei  einer  geringwertigen  Reiterfigur 

122 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Karls  des  Großen,  uns  von  Berninis  Absicht  eine  Vorstellung  machen  ').  Auch 
hier  hat  der  Altarbau  zugegriffen  und  gerade  der  nordische  Barock  enthält 
schöne  Beispiele.    Vergleiche  den  Hochaltar  von  Weltenburg. 

Mit  dem  Klassizismus  aber  hat  die  Herrlichkeit  rasch  ein  Ende.  Der  Klassi- 
zismus bringt  die  Linie  und  mit  ihr  die  Fläche.  Alle  Erscheinung  ist  wieder 
vollkommen  festgelegt.  Überschneidungen  und  Tiefeneffekte  gelten  als  eitles 
Trugwerk  der   Sinne,  unvereinbar  mit  dem  Ernste  der  ..wahren"  Kunst. 


'ts 


Architektur 

Die  Übertragung  der  Begriffe  flächenhaft  und  tiefenhaft  scheint  bei  der 
Architektur  auf  Schwierigkeiten  zu  stoßen.  Architektur  ist  immer  auf  Tiefe 
angewiesen  und  flächenhafte  Architektur  klingt  wie  hölzernes  Eisen.  Andrer- 
seits: selbst  wenn  man  zugibt,  daß  ein  Bauwerk  als  Körper  denselben  Be- 
dingungen unterstehen  werde  wie  eine  plastische  Figur,  wird  man  sich  doch 
sagen  müssen,  daß  ein  tektonisches  Gebilde,  das  der  Plastik  selbst  erst  Rah- 
men und  Rückwand  zu  geben  gewohnt  ist,  sich  nie,  auch  nur  vergleichs- 
weise, so  der  Frontalität  entfremden  könne,  wie  die  barocke  Plastik  es 
tut.  Und  doch  liegen  die  Beispiele  nicht  fern,  die  unsere  Begriffe  recht- 
fertigen. Was  ist  es  anders  als  ein  Heraustreten  aus  der  Fläche,  wenn  die 
Pfosten  eines  Villenportals  nicht  mehr  frontal  ausgerichtet  sind,  sondern 
sich  einander  zuwenden?  Mit  welchen  Worten  sonst  soll  man  den  Pro- 
zeß bezeichnen,  den  der  Altar  durchmacht,  wo  ein  rein  frontales  Gebilde 
mehr  und  mehr  mit  Tiefe  sich  durchsetzt,  so  daß  in  den  reichen  Barock- 
kirchen schließlich  Gehäuse  dastehen,  die  ihren  wesentlichen  Reiz  aus  dem 
Hintereinander  der  Formen  ziehen?  Und  wenn  man  eine  Treppen-  und  Ter- 
rassenanlage des  Barock  analysiert,  etwa  die  Spanische  Treppe  in  Rom,  so 
ist,  um  von  allem  andern  zu  schweigen,  durch  die  vielseitige  Orientierung 
der  Stufen  allein  schon  das  Räumlich -Tiefe  in  einer  Weise  wirksam  ge- 
worden, daß  die  klassisch-strengen  Anlagen  mit  geraden  Läufen  daneben 
flach  erscheinen.  Das  Treppen-  und  Rampensystem,  das  Bramante  für  den 
Vatikanischen  Hof  projektiert  hatte,  wäre  das  cinquecentistische  Gegenbei- 
spiel. An  seiner  Stelle  mag  man  in  Rom  die  klassizistisch-geradwandige 
Anlage  der  Pincioterrassen  mit  der  Spanischen  Treppe  vergleichen.  Beides 
ist  Raumgestaltung,   aber  dort  spricht  die  Fläche,   hier  die  Tiefe. 

Mit  andern  Worten,  das  objektive  Vorhandensein  von  Kuben  und  Räu- 

l)  Das  ähnliche  Projekt  mit  einem  Standbild  Philipps  IV.  in  der  Vorhalle  von  S.Maria 
maggiore  ist  ebenfalls  nicht  realisiert  worden.    Vgl.  Fraschetti,  Bernini,  p.  412. 

123 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

men  enthält  noch  kein  stilistisches  Indizium.  Die  klassische  Kunst  der  Ita- 
liener verfügt  über  ein  vollkommen  ausgebildetes  Gefühl  für  das  Volumen, 
aber  sie  formt  das  Volumen  in  einem  andern  Geist,  als  der  Barock  es  tut. 
Sie  sucht  das  Flächig-Geschichtete  und  alle  Tiefe  ist  hier  eine  Folge  sol- 
cher Schichten,  während  der  Barock  von  vornherein  den  Eindruck  des  Flä- 
chigen vermeidet  und  die  eigentliche  Essenz  der  Wirkung,  das  Salz  der  Er- 
scheinung,  in  der  Intensität  der  Tiefenperspektive  sucht. 

Man  darf  sich  nicht  beirren  lassen,  wenn  man  im  ,, Flächenstil"  auch  dem 
Rundbau  begegnet.  Er  scheint  zwar  im  besondern  Maß  die  Aufforderung 
zu  enthalten,  ihn  zu  umschreiten,  aber  es  ergibt  sich  dabei  doch  kein  Tiefen- 
effekt, weil  er  von  allen  Seiten  her  das  gleiche  Bild  liefert,  und  mag  auch 
die  Eingangsseite  mit  aller  Deutlichkeit  bezeichnet  sein,  so  markiert  sich 
doch  kein  Verhältnis  zwischen  vorderen  und  rückwärtigen  Teilen.  Eben 
hier  setzt  der  Barock  ein.  Wo  immer  er  die  Zentralform  aufnimmt,  da  er- 
setzt er  das  Allseitig-Gleiche  durch  eine  Ungleichheit,  die  Richtung  gibt  und 
ein  Vorn  und  Hinten  herstellt.  Der  Pavillon  im  Münchner  Hofgarten  ist 
keine  reine  Zentralkomposition  mehr.  Sogar  der  abgeplattete  Zylinder  ist 
nicht  selten.  Für  den  großen  Kirchenbau  aber  gilt  die  Regel,  dem  Kup- 
pelrund eine  Front  mit  Ecktürmen  vorzulegen,  der  gegenüber  die  Kuppel 
als  das  Zurückliegende  erscheint  und  an  der  für  den  Beschauer,  bei  jeder 
Verschiebung  des  Standpunktes,  das  räumliche  Verhältnis  abgelesen  wer- 
den kann.  Es  war  durchaus  konsequent  gedacht,  wenn  Bernini  die  Kuppel 
des  Pantheons  nach  der  Front  zu  mit  solchen  Türmchen,  den  berüchtigten, 
im   19.  Jahrhundert  wieder  abgetragenen  „Eselsohren",  begleitete. 

Des  weiteren  soll  „flächenhaft"  nicht  bedeuten,  daß  der  Bau  als  Körper 
keine  Vorsprünge  haben  solle.  Die  Cancelleria*  oder  die  Villa  Farnesina  sind 
vollkommene  Beispiele  des  klassischen  Flächenstils,  dort  sind  es  leise  Eck- 
risalite, hier  springt  der  Bau  —  und  zwar  auf  beiden  Fronten  —  um  zwei 
Achsen  vor,  jedesmal  aber  bekommt  man  den  Eindruck  flächiger  Schichten. 
Und  dieser  Eindruck  würde  sich  nicht  ändern,  wenn  es  Halbkreise  im  Grundriß 
wären,  statt  Rechtecke.  Inwiefern  hat  der  Barock  dieses  Verhältnis  umgewan- 
delt? Insofern  als  er  die  zurückliegenden  Teile  als  etwas  generell  anderes  den 
vorgelagerten  entgegensetzt.  Beider  Villa  Farnesina  ist  es  dieselbe  Folge  von 
Pilasterfeldern  mit  Fenstern,  sowohl  im  Mitteltrakt,  wie  an  den  Flügeln, 
beim  Palazzo'Barberini  oder  bei  dem  Kasino  der  Villa  Borghese*  sind  es 
ganz  anders  geartete  Flächen  und  der  Beschauer  wird  notwendig  dazu  kom- 

124 


Rom,  Villa  Borghese 

men,  das  Vordere  und  das  Rückwärtige  zusammenzubeziehen  und  in  der 
Entwickelung  nach  der  Tiefe  zu  die  besondere  Pointe  der  architektonischen 
Erscheinung  zu  suchen.  Dies  Motiv  hat  namentlich  im  Norden  eine  große 
Bedeutung  erreicht.  Die  Schloßanlagen  in  Hufeisenform,  das  heißt  mit  offenem 
Ehrenhof,  sind  alle  in  dem  Sinne  konzipiert,  daß  das  Verhältnis  zwischen  den 
vorgestreckten  Flügeln  und  der  Hauptfront  aufgefaßt  sein  will.  Dieses  Ver- 
hältnis beruht  auf  einer  Raumdifferenz,  die  für  sich  allein  noch  nicht  im 
barocken  Sinne  tiefenhaft  wirken  würde  und  als  Disposition  zu  jeder  Zeit 
denkbar  ist,  die  aber  durch  die  besondere  Formbehandlung  die  Kraft  der 
Spannung  nach  der  Tiefe  zu  erhält. 


Für  kirchliche  Innenräume  hat  natürlich  nicht  erst  der  Barock  den  Reiz 
der  Tiefenperspektive  entdeckt.  So  gewiß  der  Zentralbau  mit  Recht  als 
Idealform  der  Hochrenaissance  in  Anspruch  genommen  werden  kann,  hat 
es  daneben  doch  immer  Langschiffe  gegeben  und  der  Bewegungszug  gegen 
den  Hochaltar  hin  ist  so  sehr  das  Wesentliche  bei  diesen  Bauten,  daß  man 
unmöglich  behaupten  dürfte,  er  sei  nicht  empfunden  worden.  Allein  wenn 
ein  Barockmaler  eine  solche  Kirche  in  der  Längsperspektive  aufnimmt,  so 
ist  diese  Tiefenbewegung  an  sich  für  ihn  noch  kein  befriedigendes  Motiv, 

125 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

er  schafft  mit  der  Beleuchtung  sprechendere  Verhältnisse  des  Vor-  und 
Rückwärts,  die  Strecke  bekommt  Cäsuren,  kurzum,  der  räumliche  Tatbe- 
stand wird  künstlich  im  Sinne  eines  intensiveren  Tiefeneffekts  geschärft. 
Und  genau  das  ist  es,  was  in  der  neuen  Architektur  nun  wirklich  geschieht. 
Es  ist  eben  doch  kein  Zufall,  daß  der  Typus  der  italienischen  Barockkirche 
mit  der  ganz  neuen  Wirkung  des  rückwärtigen  großen  Kuppellichts  nicht 
früher  schon  da  ist.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  die  Architektur  nicht  früher 
schon  die  Motive  der  vortretenden  Kulisse,  das  heißt  der  Überschneidung, 
benützt  hat,  daß  erst  jetzt  auf  der  Tiefenachse  die  Interpunktionen  vorge- 
nommen wurden,  die  das  Schiff  nicht  in  einzelne  Raumschichten  zerlegen, 
sondern  die  Einwärtsbewegung  zu  einer  einheitlichen  und  zwingenden 
machen  sollen.  Nichts  ist  weniger  barock  als  eine  Folge  in  sich  geschlosse- 
ner Raumkompartimente  in  der  Art  von  S.  Giustina  in  Padua,  andrerseits 
wäre  aber  auch  die  gleichmäßige  Jochfolge  einer  gotischen  Kirche  diesem  Stil 
unsympathisch  gewesen.  Wie  er  sich  gegebenenfalls  zu  helfen  wußte,  kann 
man  etwa  aus  der  Geschichte  der  Münchner  Frauenkirche  erfahren,  wo 
durch  Einziehung  eines  Querbaues  im  Mittelschiff,  dem  Bennobogen,  der 
Reiz  der  Tiefe  im  barocken  Sinne  erst  herausgeholt  wurde. 

Es  ist  derselbe  Gedanke,  wenn 
einheitliche  Treppenläufe  nun 
durch  Podeste  unterbrochen  wer- 
den. Es  dient  der  Bereicherung, 
sagt  man ;  gewiß,  aber  es  wird  eben 
durch  diese  Interpunktion  auch 
der  Tiefenerscheinung  der  Treppe 
genützt,  das  heißt  die  Tiefe  wird 
interessant  durch  Cäsuren.  Ver- 
gleiche die  Scala  regia  des  Ber- 
nini* im  Vatikan  mit  dem  charak- 
teristischen Lichteinfall.  Was 
dann  derselbe  Bernini  in  der 
Nische  der  hl.  Therese*  gemacht 
hat,  daß  die  rahmenden  Pfeiler 
über  den  Nischenraum  vorsprin- 
gen, das  heißt,  daß  die  Nische 
immer  als  eine  überschnittene  er- 
Rom,  Scala  regia  des  Bernini  im  Vatikan  scheint,  wird  auch  in  der  großen 

126 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Architektur  wiederholt.  Man  kommt  zu  Kapellen-  und  Chorformen,  wo 
bei  verengtem  Eingang  ein  Anblick  ohne  Rahmenüberschneidung  nie  mög- 
lich ist.  Und  in  folgerichtiger  Fortführung  des  Prinzipes  wird  dann  auch 
der  Hauptraum   zunächst    im  Rahmen    eines  Vorraumes   sichtbar  gemacht. 

Aus  dem  gleichen  Gefühl  heraus  ist  vom  Barock  das  Verhältnis  von 
Bauwerk  und  Platz  reguliert  worden. 

Wo  immer  es  möglich  war,  hat  die  Barockarchitektur  für  einen  Vorplatz 
gesorgt.  Das  vollkommenste  Muster  ist  der  Vorplatz  Berninis  vor  dem  römi- 
schen St.  Peter.  Und  wenn  dieses  Riesenunternehmen  auch  einzig  dasteht  in 
der  Welt,  so  kann  man  den  gleichen  Antrieb  doch  in  einer  Menge  von  kleine- 
ren Ausführungen  wiederfinden.  Entscheidend  ist,  daß  Bau  und  Platz  in  eine 
notwendige  Beziehung  kommen,  daß  einer  ohne  den  anderen  gar  nicht  auf- 
gefaßt werden  kann.  Und  da  der  Platz  als  Vorplatz  behandelt  ist,  so  ist 
diese  Beziehung  natürlich  eine  Tiefenbeziehung. 

Durch  den  Kolonnadenplatz  Berninis  erscheint  die  Peterskirche  von 
vornherein  als  etwas  im  Raum  Zurückgeschobenes,  die  Kolonnaden  sind 
eine  rahmende  Kulisse,  sie  markieren  einen  Vordergrund,  und  der  so  gefaßte 
Raum  wird  auch  noch  empfunden,  wenn  man  ihn  schon  im  Rücken  hat 
und  der  Fassade  allein  gegenübersteht. 

Ein  Renaissanceplatz  wie  die  schöne  Piazza  della  Sa.  Annunziata  in  Flo- 
renz läßt  den  gleichen  Eindruck  nicht  aufkommen.  Obwohl  er  deutlich  als 
eine  Einheit  gedacht  ist  und,  mehr  tief  als  breit,  auf  die  Kirche  zu  steht, 
bleibt  es  bei  einem  räumlich  unentschiedenen  Verhältnis. 

Tiefenkunst  geht  nie  im  reinen  Frontalanblick  auf.  Sie  reizt  zur  Seiten- 
ansicht, im  Innen-  und  im  Außenbau. 

Natürlich  hat  man  dem  Auge  nie  verwehren  können,  auch  eine  klassische 
Architektur  mehr  oder  weniger  übereck  anzusehen,  allein  sie  verlangt  nicht 
darnach.  Wenn  ein  Reizzuwachs  dabei  eintritt,  so  ist  es  kein  innerlich 
vorbereiteter  und  die  gerade  Stirnansicht  wird  immer  als  die  in  der  Na- 
tur der  Sache  liegende  fühlbar  bleiben.  Ein  Barockbau  dagegen,  auch 
wenn  kein  Zweifel  sein  kann,  wohin  sein  Gesicht  steht,  spielt  immer  mit 
einem  Bewegungsantrieb.  Er  rechnet  von  Anfang  an  mit  einer  Folge  wech- 
selnder Bilder  und  das  kommt  daher,  daß  die  Schönheit  nicht  mehr  in  rein 
planimetrischen  Werten  liegt  und  daß  die  Tiefenmotive  erst  im  Wechsel 
der  Standpunkte  ganz  wirksam  werden. 

Eine  Komposition  wie  die  Karl-Borromäus-Kirche  in  Wien,  mit  den  zwei 
Freisäulen  vor   der  Front,   sieht    am    wenigsten  gut  aus  im  geometrischen 

127 


Canaletto 


Aufriß.  Zweifellos  ist  es  dabei  auf  die  Überschneidungen  der  Kuppel  durch 
die  Säulen  abgesehen  und  diese  ergeben  sich  erst  für  den  halbseitlichen 
Anblick  und  die  Konfiguration  wird  bei  jedem  Schritt  eine  neue. 

Das  ist  auch  der  Sinn  jener  Ecktürme,  die,  niedrig  gehalten,  bei  Zentral- 
kirchen die  Kuppel  zu  flankieren  pflegen.  Es  sei  an  S.  Agnese*  in  Rom 
erinnert,  wo  —  bei  begrenztem  Platz  —  für  den  die  Piazza  Navona  durch- 
wandelnden Betrachter  eine  Fülle  reizender  Bilder  sich  ergeben.  Das 
cinquecentistische  Turmpaar  von  S.  Biagio  in  Montepulciano  ist  dagegen 
offenbar  noch  nicht  in  dieser  (malerisch-bildhaften)  Intention  konzipiert 
worden. 

Die  Aufstellung  des  Obelisken  auf  dem  Platz  vor  S.  Peter  in  Rom  ist 
ebenfalls  eine  barocke  Disposition.  Er  bezeichnet  zwar  zunächst  das  Platz- 
zentrum, nimmt  aber  doch  auch  Bezug  auf  die  Achse  der  Kirche.  Nun 
kann  man  sich  denken,  daß  die  Nadel  überhaupt  unsichtbar  bleibt,  wenn 
sie  mit  der  Mitte  der  Kirchenfront  zusammenfällt ;  das  beweist,  daß  dieser 
Anblick  nicht  mehr  als  Norm  angesehen  worden  ist.  Schlagender  aber  ist 
folgende  Überlegung :  Nach  Berninis  Plan  sollte  die  jetzt  offene  Eingangs- 
partie des  Kolonnadenplatzes  ebenfalls  noch  geschlossen  werden,  wenigstens 
teilweise,  mit  einem  Mittelstück,  das  zu  beiden  Seiten  breite  Zugänge  offen  ließ. 
Diese  Zugänge  sind  aber  natürlich  schräg  zur  Kirchenfront  orientiert,  das  heißt, 
man  mußte  mit  einer  Seitenansicht  anfangen.  Vergleiche  die  Zufahrten  zu 
Schlössern  wie  Nymphenburg:  sie  halten  sich  seitlich,  in  der  Hauptachse  liegt 
ein  Wasserlauf.     Auch  hier  gibt  die  Architekturmalerei  die  Parallelbeispiele. 

Der  Barock  will  nicht,  daß  der  Baukörper  in  bestimmten  Ansichten  sich 

128 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

verfestige.  Durch  Abstumpfung  der  Ecken  gewinnt  er  Schrägflächen,  die 
das  Auge  weiterführen.  Ob  man  sich  der  Vorder-  oder  Seitenfront  gegen- 
überstelle, immer  gibt  es  im  Bild  verkürzte  Teile.  Sehr  allgemein  wird 
das  Prinzip  im  Mobiliar  durchgeführt :  Der  rechteckige  Schrank  mit  ge- 
schlossener Fassade  bekommt  abgeschrägte  Ecken,  die  in  die  Fassade  hinein- 
spielen, die  Truhe  mit  der  in  sich  begrenzten  Dekoration  der  Vorder-  und 
Seitenfelder,  wird  in  der  moderneren  Gestalt  der  Kommode  zu  einem  Kör- 
per, der  alsbald  die  Ecken  zu  eigenen,  diagonal  gerichteten  Flächen  aus- 
bildet, und  wenn  der  Wand-  oder  Spiegeltisch  es  als  selbstverständlich 
erscheinen  läßt,  daß  er  geradeaus  blickt,  und  nur  gerade  aus,  so  erlebt 
man  es  jetzt  überall,  daß  er  der  Frontorientierung  die  diagonale  beimischt, 
die  Beine  wenden  sich  halbseitlich.  Wo  der  Form  die  menschliche  Figur 
untergelegt  ist,  könnte  man  wörtlich  sagen:  Der  Tisch  blicke  nicht  mehr 
frontal,  sondern  diagonal,  das  Wesentliche  dabei  ist  aber  nicht  die  Dia- 
gonalität  an  sich,  sondern  ihre  Vermischung  mit  der  Frontalität:  Daß  man 
dem  Körper  von  keiner  Seite  ganz  beikommen  kann  oder  —  um  den  Aus- 
druck zu  wiederholen  —  daß  der  Körper  sich  nicht  in  bestimmten  An- 
sichten verfestige. 

Die  Abschrägung  der  Ecken  und  ihre  Besetzung  mit  Figur  sagt  an  sich 
noch  nichts  aus  für  den  Barock.  Wenn  aber  die  Schrägfläche  mit  der  Front- 
fläche zu  einem  Motiv  zusammengezogen  ist,  dann  stehen  wir  auf  barok- 
kem  Boden. 

Was  von  den  Möbeln  gilt,  gilt  auch,  aber  nicht  im  gleichen  Umfang, 
von  der  großen  Architektur.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  ein  Möbel 
immer  noch  die  richtunggebende  Zimmerwand  im  Rücken  hat,  das  Bau- 
werk muß  selber  Richtung  schaffen. 

Es  ist  ein  Schwebend-Halten  der  räumlichen  Erscheinung,  wenn  bei  der 
Spanischen  Treppe  die  Stufen  von  Anfang  an,  mit  leiser  Brechung,  auch 
seitlich  blicken  und  nachher  die  Richtung  wiederholt  ändern,  aber  das  ist 
doch  nur  möglich  dadurch,  daß  die  Treppe  ihre  feste  Orientierung  durch 
die  Umgebung  bekommt. 

An  Kirchentürmen  kommt  es  oft  vor,  daß  die  Ecken  abgeschrägt  sind, 
aber  der  Turm  ist  nur  ein  Teil  des  Ganzen  und  die  Abschrägung  des  Ge- 
samtbaukörpers, etwa  an  Palästen,  ist  auch  dann  nicht  häufig,  wenn  die 
Fluchtlinie  absolut  festgelegt  ist. 

Daß  die  Träger  einer  Fensterverdachung  oder  die  Säulen,  die  das  Haus- 
portal flankieren,   aus  der  natürlichen  Frontstellung  heraustreten,   sich  ein- 

9  H.  W.,  G.  2.  A.  129 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

ander  zu-  oder  voneinander  abwenden,  ja  daß  eine  ganze  Wand  sich  bricht 
und  Säulen  und  Gebälk  unter  verschiedenen  Winkeln  erscheinen,  gehört 
ebenfalls  zu  den  Fällen,  die,  durchaus  typisch,  aus  dem  Grundprinzip  sich 
ergeben  mußten,  aber  doch,  auch  innerhalb  des  Barock,  das  Ausnahms- 
weise und  Auffällige  bezeichnen. 

Auch  die  Flächendekoration  wird  vom  Barock  ins  Tiefenhafte  umgebildet. 

Die  klassische  Kunst  besitzt  das  Gefühl  für  die  Schönheit  der  Fläche  und 
genießt  eine  Dekoration,  die  in  allen  Teilen  flächenhaft  bleibt,  sei  es  als 
flächenfüllende  Ornamentik,  sei  es  als  bloße  Feldereinteilung. 

Die  Sixtinische  Decke  des  Michelangelo,  bei  all  ihrer  plastischen  Wucht, 
ist  doch  eine  rein  planimetrische  Dekoration,  die  Decke  der  Galerie  Farnese 
dagegen,  von  den  Carracci,  geht  nicht  mehr  auf  in  reinen  Flächenwerten, 
die  Fläche  an  sich  bedeutet  wenig,  sie  wird  erst  interessant  durch  über- 
einandergeschobene  Formen.  Das  Motiv  der  Deckung  und  Überschneidung 
tritt  ein  und  damit  der  Reiz  des  Tiefenhaften. 

Daß  eine  Gewölbemalerei  ein  Loch  in  die  Decke  schlägt,  kommt  schon 
früher  vor,  es  ist  dann  aber  eben  ein  Loch  in  der  sonst  zusammenhängenden 
Form  der  Decke;  die  barocke  Gewölbemalerei  charakterisiert  sich  als  barock 
dadurch,  daß  sie  den  Reiz  des  Hintereinander  in  den  der  Illusion  erschlos- 
senen Tiefenräumen  ausbeutet.  Correggio  hat  diese  Schönheit  zuerst  ge- 
ahnt —  mitten  in  der  Hochrenaissance  — ,  immerhin  sind  erst  im  Barock 
die  eigentlichen  Konsequenzen  der  neuen  Anschauung  gezogen  worden. 

Eine  Wand  gliedert  sich  für  das  klassische  Gefühl  in  Felder,  die,  ver- 
schieden nach  Höhe  und  Breite,  eine  Harmonie  darstellen,  auf  der  Basis 
eines  rein  flächigen  Nebeneinander.  Kommt  eine  räumliche  Differenz  hin- 
ein, so  verschiebt  sich  das  Interesse  sofort,  dieselben  Felder  würden  dann 
nicht  mehr  dasselbe  bedeuten.  Die  Flächenproportionen  werden  nicht  gleich- 
gültig, aber  neben  der  Bewegung  der  Vor-  und  Rücksprünge  können  sie 
sich  nicht  mehr  als  das  Primäre  in  der  Wirkung  behaupten. 

Für  den  Barock  gibt  es  keinen  Reiz  der  Wanddekoration  ohne  Tiefe.  Was 
früher  im  Kapitel  der  malerischen  Bewegung  erörtert  wurde,  läßt  sich  auch 
unter  diesen  Gesichtspunkt  bringen.  Keine  malerische  Fleckenwirkung  kann 
das  Element  der  Tiefe  ganz  entbehren.  Wer  immer  es  gewesen  ist,  der  im 
18.  Jahrhundert  den  alten  Grottenhof  in  München  umzubauen  hatte,  ob 
Cuvillies  oder  ein  anderer :  es  schien  dem  Architekten  unumgänglich,  ein 
mittleres  Risalit  herauszuziehen,  um  der  Fläche  das  Tote  zu  nehmen. 

130 


II.  FLÄCHE  UND  TIEFE 

Die  klassische    Architektur  hat  die  Risalite  auch  gekannt  und  gelegent- 
lich verwertet,  aber  in  ganz  anderm  Sinne  und  mit  ganz  anderer  Wirkung. 
Die  Eckrisalite  der  Cancelleria  sind  Vorlagen,  die  man  sich  auch  losgelöst  von 
der  Hauptfläche  denken  könnte,  bei  der  Fassade  des  Münchner  Hofes  wüßte 
man  nicht,  wie  man  den  Schnitt  machen  sollte.    Das  Risalit  wurzelt  in  der 
Fläche,    von  der   es  nicht  getrennt   werden  kann,    ohne  mit  tötlicher  Ver- 
letzung in  den  Körper  einzugreifen.     So  ist  das  vorspringende  Mittelstück 
am  Palazzo  Barberini  zu  verstehen  und  noch  typischer,  weil  unauffälliger, 
die   berühmte  Pilasterfront  des  Palazzo  Odescalchi*   in  Rom,    die   um  ein 
weniges  vor  den  ungegliederten  Flügeln  vortritt.    Das  faktische  Tiefenmaß 
kommt   hier  gar  nicht  in  Betracht.    Die  Behandlung  von  Mittelstück  und 
Flügeln  ist  der  Art,  daß  der  Eindruck  der  durchgehenden  Fläche  ganz  unter- 
geordnet bleibt  dem  dominierenden  Tiefenmotiv.    So  hat  auch  der  beschei- 
dene Privatbau  jederzeit  mit  minimalen  Vorsprüngen  der  Wand  das  Bloß- 
Flächige  zu  nehmen  gewußt,  bis  dann  um  1800  eine  neue  Generation  kommt, 
die  sich  wieder  rückhaltlos  zur  Fläche  bekennt  und  alle  Reize,  die  die  ein- 
fachen   tektonischen    Verhältnisse    mit    einem   Schein   von   Bewegung    um- 
spielen, ablehnt,  wie  das  schon  im  Kapitel  des  Malerischen  dargetan  werden 
mußte. 

Nun  kommt  auch  jene  Ornamentik  des  Empire,  die  mit  ihrer  absoluten 
Flächenhaftigkeit  die  Rokokodekoration  mit  ihrem  Tiefenreiz  ablöst.  Daß 
es  und  inwieweit  es  antike  Formen  gewesen  sind,  deren  sich  der  neue  Stil 
bediente,  ist  gleichgültig  neben  der  Grundtatsache,  daß  sie  eine  neue  Pro- 
klamation der  Flächenschönheit  bedeuteten,  derselben  Flächenschönheit,  die 
schon  einmal  in  der  Renaissance  dagewesen  war  und  dann  dem  zunehmenden 
Verlangen  nach  Tiefenwirkungen  hatte  weichen  müssen. 

Eine  Pilasterfüllung  des  Cinquecento  mag  in  der  Stärke  des  Reliefs  und 
im  Reichtum  der  Schattenwirkung  noch  so  weit  über  die  dünnere  und  durch- 
sichtigere Zeichnung  des  Quattrocento  hinausgehen:  ein  genereller  Stilgegen- 
satz ist  das  noch  nicht.  Dieser  kommt  erst  in  dem  Moment,  wo  der  Ein- 
druck der  Fläche  untergraben  wird.  Man  wird  auch  dann  noch  nicht  gleich 
vom  Verderb  der  Kunst  reden  dürfen.  Zugegeben,  daß  die  Qualität  der  deko- 
rativen Empfindung  früher  durchschnittlich  höher  stand :  prinzipiell  ist  auch 
der  andere  Standpunkt  möglich.  Und  wer  am  pathetischen  Barocco  keine 
Freude  haben  kann,  für  den  bietet  die  Grazie  des  nordischen  Rokoko  ja 
Entschädigung  genug. 

Ein  besonders  instruktives  Feld  der  Beobachtung  liegt  im  Schmiedewerk 

9*  131 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

der  Garten-  und  Kirchengitter,  Grabkreuze,  Wirtshausschilder  vor,  wo  man 
die  planen  Muster  für  unüberwindbar  zu  halten  versucht  ist  und  wo  doch 
durch  Mittel  aller  Art  eine  Schönheit  verwirklicht  ist,  die  jenseits  des  Rein- 
flächigen liegt.  Je  Brillanteres  hier  geleistet  wurde,  um  so  schlagender  ist 
dann  der  Gegensatz,  wenn  der  neue  Klassizismus  auch  hier  die  Ebene  und 
damit  die  Linie  mit  einer  Entschiedenheit  wieder  zur  Herrschaft  bringt,  als 
ob   eine  andere  Möglichkeit  gar  nicht  denkbar  wäre. 


Rubens 


132 


in.  Geschlossene  Form  und  offene  Form 

(Tektonisch  und  atektonisch) 

Malerei 
i. 

Jedes  Kunstwerk  ist  ein  Geformtes,   ein  Organismus.     Sein  wesentlichstes   Allgemeines 
Merkmal  ist  der  Charakter  der  Notwendigkeit,  daß  nichts  geändert  oder 
verschoben  werden  könnte,   sondern  alles  so  sein  muß,  wie  es  ist. 

Allein  wenn  in  diesem  qualitativen  Sinne  von  einer  Landschaft  des 
Ruysdael  ebensogut  wie  von  einer  Komposition  Raffaels  gesagt  werden 
kann,  sie  sei  etwas  absolut  Geschlossenes,  so  bleibt  doch  der  Unterschied, 
daß  dieser  Charakter  der  Notwendigkeit  da  und  dort  auf  verschiedener 
Grundlage  gewonnen  worden  ist:  im  italienischen  Cinquecento  ist  ein  tekto- 
nischer  Stil  seiner  höchsten  Vollendung  entgegengetrieben  worden,  im  hol- 
ländischen 17.  Jahrhundert  ist  es  der  freie  atektonische  Stil,  der  für  Ruys- 
dael die  einzig  mögliche  Darstellungsform  war. 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  es  ein  besonderes  Wort  gäbe,  um  eindeutig 
die  geschlossene  Komposition  im  qualitativen  Sinne  zu  unterscheiden  von 
der  bloßen  Grundlage  eines  tektonisch  gearteten  Darstellungstils,  wie 
wir  ihn  im  16.  Jahrhundert  haben  und  dem  atektonischen  des  17.  Jahr- 
hunderts gegenüberstellen.  Wir  nehmen  trotz  dem  unerwünschten  Doppel- 
sinn die  Begriffe  geschlossene  und  offene  Fornv  in  den  Titel  auf,  weil  sie 
in  ihrer  Allgemeinheit  das  Phänomen  doch  besser  bezeichnen  als  tektonisch 
und  atektonisch,  und  wieder  bestimmter  sind  als  die  ungefähr  synonymen 
wie  streng  und  frei,   regulär  und  irregulär  und  dergleichen. 

Gemeint  ist  eine  Darstellung,  die  mit  mehr  oder  weniger  tektonischen 
Mitteln  das  Bild  zu  einer  in  sich  selbst  begrenzten  Erscheinung  macht, 
die  überall  auf  sich  selbst  zurückdeutet,  wie  umgekehrt  der  Stil  der  offenen 
Form  überall  über  sich  selbst  hinausweist,  unbegrenzt  erscheinen  will,  ob- 
wohl eine  heimliche  Begrenzung  immerfort  da  ist  und  eben  den  Charakter 
der  Geschlossenheit  im  ästhetischen  Sinne  möglich  macht. 

Vielleicht  daß  jemand  den  Einwurf  macht:  Der  tektonische  Stil  sei  immer 
der  Stil  der  Feierlichkeit  und  man  werde  zu  allen  Zeiten  nach  ihm  grei- 
fen, sobald  die  Absicht  auf  eine  getragene  Wirkung  vorliege.    Darauf  wäre 

133 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

zu  sagen,  daß  allerdings  der  Eindruck  des  Feierlichen  sich  gern  an  die 
bestimmt  geoffenbarte  Gesetzmäßigkeit  hängt;  die  Tatsache,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  ist  aber  die,  daß  es  dem  17.  Jahrhundert  auch  bei  gleicher 
Stimmungsabsicht  nicht  mehr  möglich  ist,  auf  die  Formen  des  Cinque- 
cento zurückzugreifen. 

Überhaupt  darf  man  den  Begriff  der  geschlossenen  Form  sich  nicht  nur 
mit  der  Erinnerung  an  höchste  Hervorbringungen  strenger  Form  vergegen- 
wärtigen wollen,  wie  die  Schule  von  Athen  es  ist,  oder  die  Sixtinische 
Madonna.  Vergesse  man  doch  nicht,  daß  solche  Kompositionen  auch  inner- 
halb ihrer  Zeit  einen  besonders  strengen  tektonischen  Typ  darstellen  und 
daß  daneben  immer  eine  freiere  Form  vorkommt,  ohne  geometrisches  Rück- 
grat, die  ganz  ebensogut  als  „geschlossene  Form"  in  unserem  Sinn  zu 
gelten  hat :  Raffaels  Wunderbarer  Fischzug  zum  Beispiel  oder  die  Marien- 
geburt des  Andrea  del  Sarto  in  Florenz.  Man  muß  den  Begriff  weit  fas- 
sen, so  weit,  daß  auch  noch  die  nordischen  Bilder  Platz  finden,  die  schon 
im  16.  Jahrhundert  gern  nach  der  Seite  des  Freien  ausschlagen  und  doch 
in  ihrer  Gesamterscheinung  sich  von  dem  Stil  des  folgenden  Jahrhunderts 
sehr  deutlich  abheben.  Und  wenn  etwa  Dürer  in  seiner  „Melancholie"  von 
dem  Eindruck  geschlossener  Form  im  Interesse  der  Stimmung  absichtlich 
sich  entfernen  möchte,  so  ist  selbst  hier  die  Verwandtschaft  mit  Zeitgenös- 
sischem immer  noch  größer  als  die  Verwandtschaft  mit  Stücken  des  Stils 
der  offenen  Form. 

Was  allen  Bildern  des  16.  Jahrhunderts  eigentümlich  ist:  die  Vertikale 
und  die  Horizontale  sind  als  Richtungen  nicht  nur  da,  sondern  |es  ist  ihnen 
eine  herrschende  Rolle  zugewiesen.  Das  17.  Jahrhundert  vermeidet  es,  diese 
elementaren  Gegensätze  laut  werden  zu  lassen.  Sie  verlieren,  auch  wo  sie 
tatsächlich  noch  rein  vorkommen,  ihre  tektonische  Kraft. 

Die  Bildteile  ordnen  sich  im  16.  Jahrhundert  um  eine  mittlere  Achse  oder, 
wo  diese  nicht  vorhanden  ist,  doch  im  Sinne  eines  vollkommenen  Gleich- 
gewichtes der  Bildhälften,  das,  nicht  immer  leicht  zu  definieren,  durch  den 
Gegensatz  der  freieren  Ordnung  des  17.  Jahrhunderts  für  das  Gefühl  doch 
sehr  bestimmt  faßbar  wird.  Es  ist  ein  Gegensatz,  wie  ihn  die  Mechanik  mit 
den  Begriffen  stabiles  und  labiles  Gleichgewicht  bezeichnet.  Gegen  die  Fest- 
legung einer  mittleren  Achse  aber  hat  die  darstellende  Kunst  des  Barock 
die  entschiedenste  Abneigung.  Die  reinen  Symmetrien  verschwinden  oder 
werden  durch  Gleichgewichtsverschiebungen  aller  Art  unscheinbar  gemacht. 

Dem  16.  Jahrhundert  war  es  natürlich,   sich  in  der  Bildfüllung   nach  der 

134 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

gegebenen  Fläche  zu  richten.  Ohne  daß  damit  ein  bestimmter  Ausdruck 
erreicht  werden  soll,  ordnet  sich  der  Inhalt  innerhalb  des  Rahmens  derart, 
daß  der  eine  für  den  andern  da  zu  sein  scheint.  Randlinien  und  Eckwinkel 
werden  als  verbindlich  empfunden  und  klingen  nach  in  der  Komposition. 
Im  17.  Jahrhundert  hat  sich  die  Füllung  dem  Rahmen  entfremdet.  Man  tut 
alles,  um  den  Eindruck  zu  vermeiden,  daß  diese  Komposition  gerade  für 
diese  Fläche  erfunden  worden  sei.  Trotzdem  eine  versteckte  Kongruenz 
natürlich  fort  und  fort  wirksam  ist,  soll  das  Ganze  mehr  als  ein  zufälliger 
Ausschnitt  aus  der  sichtbaren  Welt  erscheinen. 

Schon  die  Diagonale  als  Hauptrichtung  des  Barock  ist  eine  Erschütte- 
rung der  Tektonik  des  Bildes,  indem  sie  die  Rechtwinkligkeit  der  Bühne 
negiert  oder  doch  verdunkelt.  Die  Absicht  auf  das  Nichtgeschlossene,  Zu- 
fällige hat  dann  aber  die  weitere  Folge,  daß  auch  die  sogenannten  „reinen" 
Ansichten  der  entschiedenen  Front  und  des  entschiedenen  Profils  zurück- 
treten. Die  klassische  Kunst  hatte  sie  in  ihrer  elementaren  Kraft  geliebt 
und  gern  als  Gegensätze  herausgearbeitet,  die  Kunst  des  Barock  vermeidet 
es,  die  Dinge  in  diesen  Uransichten  sich  verfestigen  zu  lassen.  Wo  sie  etwa 
noch  vorkommen,  wirken  sie  mehr  zufällig  als  gewollt.  Es  liegt  kein  Ak- 
zent mehr  darauf. 

In  letzter  Instanz  aber  geht  die  Neigung  überhaupt  dahin,  das  Bild  nicht 
als  ein  für  sich  bestehendes  Stück  Welt  erscheinen  zu  lassen,  sondern  als 
ein  Schauspiel,  das  vorübergeht  und  an  dem  der  Beschauer  nur  gerade  auf 
einen  Augenblick  teilzunehmen  das  Glück  hat.  Nicht  um  Vertikalen  und  Hori- 
zontalen, um  Front  und  Profil,  Tektonik  und  Atektonik  handelt  es  sich  letz- 
ten Grundes,  sondern  darum,  ob  die  Figur,  das  Bildganze  als  Sichtbares  gewollt 
erscheint  oder  nicht.  Das  Aufsuchen  des  vorübergehenden  Augenblicks  in 
der  Bildfassung  des  17.  Jahrhunderts  ist  auch  ein  Moment  der, .offenen  Form". 

2. 

Versuchen  wir  diese  Leitbegriffe  mehr  ins  Einzelne  auseinanderzulegen.  Die  Haupt- 
motive 
1.   Die  klassische  Kunst  ist  eine  Kunst  der  ausgesprochenen  Horizontalen 

und  Vertikalen.  Die  Elemente  werden  in  voller  Klarheit  und  Schärfe  augen- 
scheinlich gemacht.  Ob  es  sich  um  ein  Porträt  handelt  oder  um  eine  Figur, 
um  eine  Historie  oder  um  eine  Landschaft,  immer  ist  das  Bild  von  dem 
Gegensatz  des  Senkrechten  und  des  Wagrechten  durchwaltet.  An  der  reinen 
Urform  werden  alle   Abweichungen  gemessen. 

Demgegenüber  hat  der  Barock  die  Neigung,  diese  Elemente  zwar  nicht 
zu  unterdrücken,  aber  doch  in  ihrer  offenen  Gegensätzlichkeit  zu  verhüllen. 

135 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Ein  allzu  deutliches  Durchscheinen  des  tektonischen  Gerüstes'wird  von  ihm 
als  starr  empfunden  und  der  Idee  einer'  lebendigen  Wirklichkeit  wider- 
sprechend. 

Das  vorklassische  Jahrhundert  ist  ein  unbewußt  tektonisches  Zeitalter  ge- 
wesen. Man  spürt  überall  das  Netz  des  Vertikalismus  und  Horizontalismus, 
aber  die  Neigung  der  Zeit  ging  eher  dahin  aus  diesen  Maschen  sich  her- 
aus zu  wickeln.  Es  ist  merkwürdig,  wie  wenig  Verlangen  nach  einer  ent- 
schiedenen Wirkung  der  Richtungen  diese  Primitiven  gehabt  haben.  Auch 
wo  die   Senkrechte  rein  vorkommt,   spricht  sie  nicht  mit  Nachdruck. 

Wenn  man  nun  dem  16.  Jahrhundert  ein  starkes  Gefühl  für  Tektonik 
nachsagt,  so  heißt  das  nicht,  daß  jede  Figur  —  nach  dem  volkstümlichen 
Ausdruck  —  einen  Ladstock  verschluckt  haben  müßte,  aber  im  Bildganzen 
lebt  die  Vertikale  als  Dominante  und  die  Gegenrichtung  spricht  ebenso  klar. 
Die  Richtungsgegensätze  wirken  faßbar  und  entschieden,  auch  wo  nicht 
der  extreme  Fall  einer  Begegnung  im  rechten  Winkel  vorliegt.  Es  ist  typisch, 
wie  fest  eine  Gruppierung  von  Köpfen  mit  verschiedenen  Neigungswinkeln 
sich  bei  den  Cinquecentisten  darstellt  und  wie  dann  das  Verhältnis  mehr 
und  mehr  ins  Atektonisch-Unmeßbare  übergeführt  wird. 

Und  so  braucht  die  klassische  Kunst  die  reinen  Ansichten  der  Front  und 
des  Profils  durchaus  nicht  als  die  ausschließlichen,  aber  sie  sind  da  und 
bezeichnen  für  das  Gefühl  die  Norm.  Nicht  das  ist  das  Wichtige,  wie  groß 
der  Prozentsatz  reiner  Frontansichten  im  Porträt  des  16.  Jahrhunderts  ge- 
wesen sei,  sondern  daß  die  Front  einmal  für  Holbein  etwas  Natürliches  sein 
konnte  und  für  Rubens  etwas  Unnatürliches  war. 

Diese  Ausschaltung  der  Geometrie  verändert  natürlich  die  Erscheinung 
auf  allen  Gebieten.  Für  den  klassischen  Grünewald  war  der  Lichtschein, 
der  seinen  auferstehenden.  Christus  umgibt,  selbstverständlich  ein  Kreis, 
Rembrandt  hätte  bei  gleicher  Absicht  der  Feierlichkeit  auf  diese  Form  nicht 
zurückgreifen  können,  ohne  archaistisch  zu  wirken.  Die  lebendige  Schön- 
heit haftet  nicht  mehr  an  der  begrenzten,  sondern  an  der  unbegrenzten  Form. 

Für  die  Geschichte  der  farbigen  Harmonie  läßt  sich  ein  Gleiches  nach- 
weisen. Die  reinen  farbigen  Kontraste  kommen  im  gleichen  Augenblick,  wo 
die  reinen  Richtungskontraste  erscheinen.  Das  15.  Jahrhundert  hat  sie  noch 
nicht.  Erst  allmählich,  parallel  mit  dem  Prozeß  der  Festigung  des  tekto- 
nischen Linienschemas,  kommen  die  Farben  heraus,  die  als  Komplemente 
sich  gegenseitig  steigern  und  dem  Bild  eine  feste  koloristische  Basis  geben. 
Mit  der  Entwicklung  in  den  Barock  bricht  sich  dann  auch  hier  die  Kraft 

136 


Rembrandt 


137 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

der  unmittelbaren  Gegensätze.  [Die  reinen  Farbkontraste  können  wohl  noch 
vorkommen,   aber  das  Bild  ist  nicht  darauf  aufgebaut. 

2.  Die  Symmetrie  ist  auch  für  das  16.  Jahrhundert  nicht  die  allgemeine 
Kompositionsform  gewesen,  allein  sie  hat  sich  leicht  eingestellt  und  wo  sie 
nicht  im  greifbaren  Sinne  ausgebildet  wurde,  finden  wir  doch  immer  ein 
deutliches  Gleichgewicht  der  Bildhälften;  das  17.  Jahrhundert  hat  dieses 
stabile  Verhältnis  des  Gleichgewichtes  in  ein  labiles  umgesetzt,  die  Bild- 
hälften werden  sich  unähnlich  und  die  reine  Symmetrie  wird  vom  Barock 
nur  noch  innerhalb  der  gebundenen  Sphäre  der  architektonischen  Form  als 
natürlich  empfunden,   während  die  Malerei  sie  völlig  überwindet. 

Wo  von  Symmetrie  die  Rede  ist,  da  denkt  man  zunächst  an  die  Feier- 
lichkeit der  Wirkung :  jede  Absicht  auf  monumentalere  Erscheinung  wird 
nach  ihr  verlangen,  während  sie  einer  profanen  Gesinnung  unerwünscht 
bleibt.  Zweifellos  ist  sie  in  diesem  Sinne  als  Ausdrucksmotiv  immer  ver- 
standen worden,  aber  es  ergibt  sich  doch  ein  Unterschied  des  Zeitalters. 
Das  16.  Jahrhundert  hat  auch  die  freibewegte  Szene  der  Symmetrie  unter- 
werfen dürfen,  ohne  Gefahr,  tot  zu  wirken,  das  17.  beschränkt  die  Form  auf 
die  wirklichen  Momente  der  Repräsentation.  Was  aber  wichtiger  ist :  auch 
dann  bleibt  die  Darstellung  eine  atektonische;  gelöst  von  der  gemeinsamen 
Grundlage  mit  der  Architektur  verkörpert  die  Malerei  Symmetrie  nicht  an 
sich,  sondern  gibt  sie  nur  als  eine  gesehene  und  in  der  Ansicht  so  oder  so 
verschobene.  Es  können  symmetrische  Anordnungen  dargestellt  sein,  das 
Bild  selbst  ist  nicht  symmetrisch  aufgebaut. 

Im  IldefonsoaltardesRubens(Wien)  gruppieren  sich  die  heiligen  Frauen  aller- 
dings zu  zwei  und  zwei  neben  der  Maria,  aber  die  ganze  Szene  ist  in  Verkürzung 
gesehen  und  damit  wird  das  an  sich  Gleichförmige  doch  für  das  Auge  ungleich. 

Rembrandt  hat  für  das  Abendmahl  von  Emmaus  *  (Louvre)  die  Symmetrie 
nicht  missen  wollen  und  Christus  sitzt  genau  in  der  Mitte  der  großen  Nische 
der  Rückwand,  aber  die  Achse  der  Nische  fällt  nicht  zusammen  mit  der 
Achse  des  Bildes,  das  nach  rechts  hin  breiter  ist  als  nach  links. 

Wie  stark  sich  die  Empfindung  gegen  das  Rein-Symmetrische  sträubt, 
sieht  man  endlich  sehr  gut  an  jenen  einseitigen  Anstückungen,  die  der 
Barock  da  und  dort  an  Bildern  des  gleichgewichtigen  Stils  vorzunehmen 
beliebt  hat,  um  sie  lebendiger  zu  machen.  Die  Galerien  sind  nicht  arm  an 
solchen  Beispielen1).    Wir  zitieren  hier   den  noch  merkwürdigem  Fall  einer 


J)  Vgl.  Münchner  Pinakothek  169:  Hemessen,  Wechsler  (1536)  mit    der  angestückten 
großen  Figur  eines  Christus  aus  dem  17.  Jahrhundert. 

138 


Reliefkopie  von  Raffaels  Disputa 

barocken  Reliefkopie  von  Raffaels  Disputa*,  wo  der  Kopist  einfach  eine 
Hälfte  kürzer  als  die  andere  gezeichnet  hat,  trotzdem  die  klassische  Kom- 
position   gerade    von   der    absoluten  Gleichheit    der  Teile  zu  leben  scheint. 

Auch  hier  hat  das  Cinquecento  das  Schema  nicht  als  ein  fertiges  Erbe 
von  seinen  Vorgängern  übernehmen  können.  Die  strenge  Gesetzlichheit  ist 
nicht  eine  Eigenschaft  der  primitiven  Kunst,  sondern  erst  der  klassischen. 
Im  Quattrocento  wird  sie  nur  lax  angewendet  oder  kommt,  wo  sie  rein 
auftritt,  doch  nur  zu  einer  laxen  Wirkung.  Symmetrie  und  Symmetrie  ist 
nicht  immer  dasselbe. 

Erst  in  Lionardos  Abendmahl  ist  durch  Isolierung  der  einen  Mittelfigur 
und  gegensätzliche  Behandlung  der  Seitengruppen  die  Form  der  Sym- 
metrie wirklich  lebendig  geworden.  Die  älteren  Darsteller  lassen  Christus 
entweder  überhaupt  nicht  als  Zentralfigur  erscheinen  oder  doch  wenigstens 
als  solche  nicht  wirksam  werden.  Und  so  ist  es  auch  im  Norden.  Im 
Löwener  Abendmahl  des  Dirk  Bouts  sitzt  Christus  wohl  in  der  Mitte,  und 
die  Mitte  des  Tisches  ist  auch  die  Mitte  des  Bildes,  aber  es  fehlt  der  An- 
ordnung die  tektonische  Kraft. 

In  anderen  Fällen  aber  ist  die  reine  Symmetrie  überhaupt  nicht  erstrebt. 
Botticellis  Primavera  ist  nur  scheinbar  ein  symmetrisches  Bild,  die  Zentral- 


139 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

figur  steht  nicht  in  der  Mitte,  und  ebenso  ist  es  mit  Roger  van  der  Weydens 
Anbetung  der  Könige  (München).  Es  sind  Zwischenformen,  die  wohl  wie 
die  spätere  entschiedene  Asymmetrie  dem  Eindruck  der  lebendigen  Bewe- 
gung dienen  sollten. 

Auch  bei  Kompositionen  ohne  ausgebildete  Mitte  ist  das  Gleichgewichts- 
verhältnis im  16.  Jahrhundert  ein  gefühlteres  als  früher.  Es  scheint  nichts 
Einfacheres  und  für  die  primitive  Empfindung  Natürlicheres  zu  geben,  als 
das  Nebeneinander  von  zwei  gleichwertigen  Figuren,  und  doch  haben  Bil- 
der wie  das  Geldwäger- Ehepaar  des  Massys  (Louvre)  keine  Parallelen  in 
der  archaischen  Kunst.  Die  Maria  mit  dem  hl.  Bernhard  vom  Meister  des 
Marienlebens  (Köln)  zeigt  den  Unterschied:  Es  bleibt  hier  für  den  klassi- 
schen Geschmack  immer  ein  Rest  von  Ungleichgewichtigkeit. 

Der  Barock  aber  betont  dann  mit  Bewußtsein  die  eine  Seite  und  schafft 
damit,  da  das  wirklich  Ungleichgewichtige  für  die  Kunst  ausscheidet,  das 
Verhältnis  des  schwebenden  Gleichgewichts.  Man  muß  Doppelbildnisse  des 
Van  Dyck  mit  ähnlichen  Stücken  bei  Holbein  oder  Raffael  vergleichen. 
Immer  ist,  oft  mit  ganz  unscheinbaren  Mitteln,  die  Gleichwertigkeit  der 
Erscheinung  aufgehoben.  Auch  da,  wo  es  nicht  zwei  Bildnisköpfe,  sondern 
etwa  zwei  Heilige  sind,  wie  die  zwei  Johannes  des  Van  Dyck  (Berlin),  die 
sachlich  gewiß  nicht  verschieden  gewertet  sein  sollten. 

Jede  Richtung  bekommt  im  16.  Jahrhundert  ihre  Gegenrichtung,  jedes 
Licht,  jede  Farbe  ihre  Ausgleichung.  Der  Barock  gefällt  sich  im  Uber- 
wiegenlassen  der  einen  Richtung.  Farbe  und  Licht  aber  sind  so  verteilt, 
daß  nicht  ein  Verhältnis  der  Sättigung,  sondern  ein  Verhältnis  der  Span- 
nung resultiert. 

Auch  die  Klassik  duldet  die  Schrägbewegung  im  Bild.  Wenn  aber  Raf- 
fael im  Heliodor  von  einer  Seite  her  schräg  nach  der  Tiefe  hineingeht, 
so  geht  er  auf  der  andern  auch  wieder  schräg  aus  der  Tiefe  heraus.  Die 
spätere  Kunst  macht  die  einseitige  Bewegung  zum  Motiv.  Und  so  ver- 
schieben sich  die  Lichtakzente  im  Sinne  des  aufgehobenen  Gleichgewichts. 
Ein  klassisches  Bild  erkennt  man  von  weitem  an  der  Art,  wie  die  Hellig- 
keiten gleichmäßig  über  die  Fläche  verteilt  sind,  wie  dem  Lichten  des  Kopfs 
zum  Beispiel  in  einem  Porträt  clas  Lichte  der  Hände  das  Gleichgewicht 
hält.  Der  Barock  rechnet  anders.  Ohne "  den  Eindruck^  der  Störung  zu 
erwecken,  kann  er  sein  Licht  auf  eine  Seite  werfen,  nur  der  lebendigen 
Spannung  zuliebe.  Die  gesättigten  Verteilungsarten  sind:ihm  das  Tote.  Das 
stille  Flußbild  mit  der  Ansicht  von  Dordrecht  von  van  Goyen  (Amsterdam), 

140 


III.JGESCHLOSSENE  FORM  UND   OFFENE  FORM 

wo  die  höchste  Helligkeit  ganz  am  einen  Rande  sitzt,  enthält  damit  eine 
Lichtanordnung,  die  dem  16.  Jahrhundert  auch  da  nicht  zugänglich  gewesen 
wäre,  wo  es  etwa  die  leidenschaftliche  Erregung  als  Ausdruck  gesucht  hätte. 

Als  Beispiele  des  verschobenen  Gleichgewichtssystems  im  Kolorit  seien 
Fälle  genannt  wie  die  Andromeda  des  Rubens  (Berlin),  wo  eine  leuchtende 
Masse  Karmin  —  der  abgeworfene  Mantel  —  als  starker  asymmetrischer 
Akzent  unten  in  der  rechten  Ecke  sitzt  oder  die  badende  Susanna  des 
Rembrandt  (Berlin)  mit  dem  weithin  wirkenden  kirschroten  Kleid  ganz  am 
Rande  rechts:  hier  ist  die  exzentrische  Anordnung  mit  Händen  zu  greifen. 
Aber  man  wird  auch  bei  weniger  auffallenden  Dispositionen  die  Wahr- 
nehmung machen,  daß  der  Barock  dem  satten  Eindruck  der  klassischen 
Kunst  durchaus  aus  dem  Wege  geht. 

3.  Im  tektonischen  Stil  nimmt  die  Füllung  Bezug  auf  den  gegebenen 
Raum,  im  atektonischen  wird  das  Verhältnis  zwischen  Raum  und  Füllung 
ein  scheinbar  zufälliges. 

Ob  das  Feld  rechtwinklig  sei  oder  rund:  man  findet  im  klassischen  Zeit- 
alter den  Grundsatz  befolgt,  die  gegebenen  Bedingungen  zum  Gesetz  des 
eigenen  Willens  zu  machen,  das  heißt  das  Ganze  so  erscheinen  zu  lassen, 
als  ob  diese  Füllung  gerade  für  diesen  Rahmen  da  wäre  und  umgekehrt. 
Mit  gleichlaufenden  Linien  bereitet  man  auf  den  Abschluß  vor  und  befestigt 
die  Figuren  am  Rand.  Es  können  Bäumchen  sein,  die  einen  Kopf  begleiten, 
oder  architektonische  Formen,  jedenfalls  erscheint  das  Porträt  jetzt  fester 
verankert  im  Grund  des  gegebenen  Raumes  als  früher,  wo  diese  Beziehun- 
gen immer  nur  lässig  empfunden  worden  sind.  Man  kann  finden,  daß  beim 
Gekreuzigten  aus  dem  Balkenwerk  des  Kreuzes  ein  gleicher  Gewinn  für 
die  Stabilisierung  der  Figur  innerhalb  des  Rahmens  gezogen  wird.  Jedes 
Landschaftsbild  wird  die  Neigung  haben,  mit  einzelnen  Bäumen  am  Rande 
sich  festzusaugen.  Es  ist  ein  ganz  neuer  Eindruck  für  den,  der  von  den 
Primitiven  herkommt,  wie  in  den  weitgedehnten  Gegenden  des  Patenier  die 
Horizontalen  und  die  Vertikalen  als  etwas  der  Tektonik  des  Rahmens  Ver- 
wandtes durchschlagen. 

Demgegenüber  sind  auch  die  so  ernsthaft  gebauten  Landschaften  des 
Ruysdael  doch  wesentlich  durch  die  Absicht  bestimmt,  das  Bild  dem  Rahmen 
zu  entfremden:  daß  es  nicht  so  aussehe,  als  empfinge  es  sein  Gesetz  vom 
Rahmen.  Das  Bild  löst  sich  aus  dem  tektonischen  Zusammenhang  oder 
will  ihn  wenigstens  nur  als  ein  im  geheimen  Weiterwirkendes  gelten  lassen. 
Noch    immer  wachsen   die  Bäume    dem   Himmel  entgegen,   allein  man  ver- 

141 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

meidet  es.  den  Gleichklang  mit  den  Senkrechten  des  Rahmens  merkbar 
werden  zu  lassen.  Wie  sehr  hat  Hobbemas  Allee  von  Middelharnis  die 
Fühlung  mit  den  Randlinien  verloren! 

Wenn  die  alte  Kunst  so  viel  mit  architektonischen  Gründen  arbeitet,  so 
spricht  dabei  mit,  daß  sie  in  dieser  Formenwelt  ein  der  tektonischen  Fläche 
verwandtes  Material  besaß.  Der  Barock  hat  zwar  auf  Architektur  nicht 
verzichtet,  allein  er  bricht  ihren  Ernst  gern  durch  Draperien  und  dergleichen: 
die  Säule  soll  nicht  als  Senkrechte  mit  den  Senkrechten  des  Rahmens  in 
Beziehung  treten. 

Und  so  ist  es  mit  der  menschlichen  Gestalt.  Auch  ihr  tektonischer  Ge- 
halt wird  möglichst  verhehlt.  Wild  sezessionistische  Bilder  des  Übergangs, 
wie  Tintorettos  Drei  Grazien  im  Dogenpalast,  die  sich  ungebärdig  in  dem 
Bildrechteck  herumwerfen,  wollen  durchaus  unter  diesem  Gesichtspunkt  be- 
urteilt sein. 

Mit  dem  Problem  der  Anerkennung  oder  Verleugnung  des  Rahmens  be- 
rührt sich  dann  auch  das  weitere :  wie  weit  das  Motiv  innerhalb  des  Rah- 
mens zur  Erscheinung  kommt  oder  von  ihm  überschnitten  wird.    Der  natür- 
lichen Forderung  nach  vollständiger  Sichtbarkeit  kann  sich  auch  der  Barock 
nicht  entziehen,  aber  er  vermeidet  es,   Bildausschnitt  und  Sache  offensicht- 
lich  zusammenfallen   zu   lassen.     Man   muß   unterscheiden:    Auch   die  klas- 
sische Kunst  ist  natürlich  ohne  Randüberschneidungen  nicht  ausgekommen 
und    trotzdem   wird   das    Bild   vollständig   wirken,  weil    es    dem  Beschauer 
doch  über  alles  Wesentliche  Bescheid  gibt  und  die  Überschneidungen  sich 
nur    auf    Dinge   beziehen,    die    keinen  Akzent  haben.     Die    Spätem  suchen 
den  Schein  einer  gewaltsamen  Überschneidung,  aber  in  Wirklichkeit  opfern 
auch  sie  (was  immer  unangenehm  wäre)  nicht  irgend  etwas  Wesentliches. 
In  dem  Hieronymus-Stich  von  Dürer*   ist  der  Raum   nach   rechtshin  un 
begrenzt  und  es  kommen  ein  paar  leichte  Überschneidungen  vor,  als  Gan 
zes   wirkt    das   Bild   vollkommen  geschlossen:  wir  haben  einen  rahmenden 
Seitenpfeiler  links,  einen  rahmenden  Deckenbalken  oben  und  die  Stufe  vorn 
geht  mit  dem  unteren  Bildrand  parallel;   die  zwei  Tiere  passen  sich  in  voll- 
ständiger Erscheinung   der  Breite    der  Bühne  gerade  ein  und  in  der  Ecke 
oben    rechts    hängt   der    Kürbis,    schließend    und    füllend,    in   voller    Sicht- 
barkeit.    Damit  vergleiche  man  das  Interieur   des  Pieter  Janssens*   in  der 
Münchner    Pinakothek:    die    Ansicht   ist   eine    ganz   verwandte,  mit  Offen- 
lassung  der   einen    Seite.     Aber   alles   ist    ins   Atektonische   umgesetzt.     Es 
fehlt   der    Deckenbalken,  der   mit   dem    Bild-    und    Bühnenrand   zusammen- 

142 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 


Janssens 


fällt :  die  Decke  bleibt  teil- 
weise überschnitten.  Es  fehlt 
der  Seitenpfeiler :  der  Win- 
kel wird  nicht  ganz  sichtbar, 
und  auf  der  andern  Seite  fin- 
det sich  ein  Stuhl  mit  einem 
Kleidungsstückdarüber,  ganz 
scharf  überschnitten.  Wo  der 
Kürbis  hing,  läuft  das  Bild 
mit  einem  halben  Fenster  ge- 
gen die  Ecke  an  und  —  im 
Vorbeigehen  gesagt  —  statt 
der  ruhigen  Parallele  der  zwei 
Tiere  stehen  hier  zwei  unor- 
dentlich hingeworfene  Pan- 
toffeln im  Vordergrund.  Trotz 
aller  Überschneidungen  und 
Inkongruenzen  wirkt  dasBild 
aber  nicht  als  Unbegrenztes. 
Das  scheinbar  nur  zufällig  Eingefriedigte  ist  doch  ein  durchaus  in  sich 
Befriedigtes. 

4.  Wenn  auf  Lionardos  Abendmahl  Christus  als  die  betonte  Mittelfigur 
zwischen  symmetrischen  Seitengruppen  sitzt,  so  ist  das  eine  tektonische 
Anordnung,  von  der  bereits  die  Rede  gewesen  ist.  Es  ist  aber  etwas  Anderes 
und  Neues,  wenn  dieser  Christus  gleichzeitig  auch  zur  Konsonanz  mit  den 
begleitenden  Architekturformen  gebracht  ist:  er  sitzt  nicht  nur  in  der  Mitte 
des  Raumes,  sondern  seine  Gestalt  fällt  auch  mit  dem  Lichten  der  zentra- 
len Türe  so  genau  zusammen,  daß  dadurch  eine  erhöhte  Wirkung,  eine 
Art  Glorienerscheinung  für  ihn  gewonnen  wird.  Eine  derartige  Unterstüt- 
zung der  Figuren  durch  die  Umgebung  ist  dem  Barock  natürlich  in  glei- 
cher Weise  erwünscht,  unerwünscht  ist  ihm  nur  das  Unverhehlte  und  Ab- 
sichtliche dieses  Zusammentreffens  der  Formen. 

Das  Motiv  des  Lionardo  ist  kein  vereinzeltes.  An  bedeutender  Stelle» 
in  der  Schule  von  Athen,  hat  es  Raffael  wiederholt.  Immerhin  bedeutet  es 
auch  für  die  italienische  Hochrenaissance  nicht  das  Unumgängliche.  Freiere 
Schiebungen  sind  nicht  nur  erlaubt,  sondern  bilden  die  Überzahl.  Wichtig 
ist  für  uns  allein,  daß  die  Disposition  einmal  überhaupt  möglich  war,  wäh- 


143 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

rend  sie  später  nicht  mehr  möglich  ist.  Rubens  als  der  typische  Vertreter 
des  italienisierenden  Barock  im  Norden  liefert  den  Beweis.  Er  rückt  bei- 
seite und  dieses  Auseinandergehen  der  Achsen  wird  jetzt  nicht  als  eine 
Abweichung  von  der  strengeren  Form  empfunden,  wie  im  16.  Jahrhundert, 
sondern  einfach  als  das  Natürliche.  Das  andere  würde  unerträglich  ,, ge- 
macht" aussehen  (vgl.  Abraham  und  Melchisedek,   Abb.   S.  86). 

Bei  Rembrandt  findet  man  in  der  späteren  Zeit  wiederholt  den  Versuch, 
sich  die  Vorteile  der  italienischen  Klassik  im  Sinn  der  Monumentalität  zu 
sichern.  Allein  wenn  auch  sein  Christus  im  Emmausbild*  zentral  in  der 
Nische  sitzt,  so  ist  die  reine  Konsonanz  zwischen  Nische  und  Figur  doch 
aufgehoben:  die  Figur  versinkt  im  übergroßen  Raum.  Und  wenn  er  in 
einem  andern  Fall  —  beim  großen  Ecce  homo  in  Querform  (Radierung)  — 
mit  deutlichem  Anschluß  an  italienische  Muster  eine  symmetrische  Archi- 
tektur aufbaut,  deren  mächtiger  Atemzug  die  Bewegung  der  kleinen  Figu- 
ren trägt,  so  ist  wieder  das  Interessanteste,  daß  er  trotz  allem  den  Schein 
der  Zufälligkeit   auf   diese   tektonische  Komposition    fallen  zu  lassen  weiß. 

5.  Der  abschließende  Begriff  des  tektonischen  Stils  wird  in  einer  Regel- 
mäßigkeit zu  suchen  sein,  die  sich  nur  teilweise  geometrisch  fassen  läßt, 
die  aber  als  Eindruck  des  Gesetzlich-Gebundenen  sehr  klar  aus  Linienfüh- 
rung, Lichtsetzung,  perspektivischer  Abstufung  usw.  herausspricht.  Der 
atektonische  Stil  fällt  nicht  ins  Regellose,  aber  die  zugrunde  liegende  Ord- 
nung ist  eine  so  viel  freiere,  daß  man  wohl  von  einem  Gegensatz  von  Ge- 
setz und  Freiheit  überhaupt  sprechen  kann. 

Was  die  Linienführung  anbetrifft,  so  ist  der  Gegensatz  einer  Zeichnung 
Dürers  und  einer  Zeichnung  Rembrandts  schon  früher  beschrieben  worden; 
die  Regelmäßigkeit  der  Strichführung  dort  und  der  schwer  zu  bestimmende 
Rhythmus  der  Linien'  hier  aber  läßt  sich  aus  den  Begriffen  linear  und  male- 
risch doch  nicht  unmittelbar  ableiten,  man  muß  die  Erscheinung  auch  einmal 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  tektonischen  und  atektonischen  Stils  betrachtet 
haben.  Und  wenn  der  malerische  Baumschlag  im  Bild  mit  Flecken  arbeitet, 
statt  mit  begrenzten  Formen,  so  gehört  das  wohl  mit  in  diesen  Zusammenhang, 
der  Fleck  an  und  für  sich  aber  ist  noch  nicht  alles:  In  der  Austeilung  der 
Flecken  herrscht  ein  ganz  anderer,  freierer  Rhythmus  als  in  all  den  Linien- 
mustern der  klassischen  Baumzeichnung,  wo  man  über  den  Eindruck  einer 
gebundenen  Gesetzlichkeit  nicht  hinauskommt. 

Wenn  Mabuse  in  dem  Bild  der  Danae  von  1527  (München)  den  goldenen 
Regen  malt,   so  ist  das  ein  tektonisch  stilisierter  Regen,  in  dem  nicht  nur 

144 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

die  einzelnen  Tropfen  gerade  Strichelchen  sind,  sondern  auch  das  Ganze 
eine  gleichmäßige  Ordnung  einhält.  Ohne  daß  geometrische  Konfigurationen 
sich  ergeben,  ist  die  Erscheinung  doch  wesentlich  anders  als  jede  barocke 
Tropfenfolge.  Vergleiche  etwa  das  fallende  Wasser  der  überquellenden 
Brunnenschale  bei  Rubens,  Diana  und  Nymphen  von  Satyrn  überrascht 
(Berlin). 

So  haben  die  Lichter  in  einem  Kopf  des  Velasquez  nicht  nur  die  unbe- 
grenzten Formen  des  malerischen  Stils,  sondern  sie  führen  unter  sich  einen 
Tanz  auf,  der  einen  entbundeneren  Charakter  hat  als  irgend  eine  Licht- 
disposition der  klassischen  Zeit.  Noch  immer  ist  eine  Gesetzlichkeit  da, 
sonst  wäre  es  kein  Rhythmus,  aber  die  Gesetzlichkeit  gehört  einer  anderen 
Gattung  an. 

Und  so  kann  man  die  Betrachtung  auf  alle  Bildmomente  ausdehnen.  Die 
Räumlichkeit  der  klassischen  Kunst  ist,  wie  wir  wissen,  eine  abgestufte, 
sie  ist  aber  auch  eine  gesetzmäßig  abgestufte.  ,, Obgleich  die  dem  Auge 
gegenüberstehenden  Dinge",  sagt  Lionardo1),  „wie  sie  allmählich  hinterein- 
ander folgen,  in  ununterbrochenem  Zusammenhang  eins  das  andere  berüh- 
ren, so  werde  ich  nichtsdestoweniger  meine  Regel  (der  Abstände)  von  20 
zu  20  Ellen  machen,  ebenso  wie  der  Musiker  zwischen  den  Tönen,  obwohl 
diese  eigentlich  alle  in  eins  aneinanderhängen,  einige  wenige  Abstufungen 
von  Ton  zu  Ton  angebracht  hat  (die  Intervalle)."  Die  bestimmten  Maße, 
die  Lionardo  gibt,  brauchen  nicht  verbindlich  zu  sein,  in  der  flächenhaften 
Schichtung  auch  der  nordischen  Bilder  des  16.  Jahrhunderts  waltet  jeden- 
falls ein  fühlbares  Gesetz  der  Folge.  Umgekehrt  war  ein  Motiv  wie  das 
des  übergroßen  Vordergrundes  erst  möglich,  als  man  die  Schönheit  nicht 
mehr  im  Gleichmaß  suchte,  sondern  den  Reiz  eines  abrupten  Rhythmus 
zu  genießen  imstande  war.  Natürlich  geht  es  auch  dann  immer  noch  mit 
rechten  Dingen  zu,  das  heißt  es  liegt  auch  da  ein  Gesetz  zugrunde,  aber 
es  ist  nicht  die  unmittelbar  einleuchtende  Verhältnismäßigkeit  und  darum 
wirkt  das  Gesetz  als  freie  Ordnung. 

Der  Stil  der  geschlossenen  Form  ist  ein  baumeisterlicher  Stil.  Er  baut, 
wie  die  Natur  baut,  und  sucht  in  der  Natur,  was  ihm  verwandt  ist.  Die 
Neigung  zu  den  ursprünglichen  Formen  der  Senkrechten  und  Wagrechten 
verbindet  sich  mit  dem  Bedürfnis  nach  Grenze,  Ordnung,  Gesetz.  Nie  hat 
man  die  Symmetrie  der  menschlichen  Gestalt  stärker  gefühlt,  nie  den  Gegen- 

»)  Lionardo,  Traktat  von  der  Malerei  ed.  Ludwig  31   (34). 

10  H.  W.,  G.  2.  A.  145 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

satz  der  horizontalen  und  vertika- 
len Richtungen  und  die  geschlos- 
sene Proportionalität  nachdrück- 
licher empfunden  als  damals.  Über- 
all drängt  der  Stil  auf  die  festen 
und  bleibenden  Elemente  der  Form. 
Die  Natur  ist  ein  Kosmos  und  die 
Schönheit  ist  das  geoffenbarte  Ge- 
setz '). 

Für  den  atektonischen  Stil  tritt 
das  Interesse  am  Gebauten  und  in 
sich  Geschlossenen  zurück.  Das  Bild 
hört  auf,  eine  Architektur  zu  sein. 
In  der  Figur  sind  die  architektoni- 
schen Momente  die  sekundären.  Das 
Bedeutsame  der  Form  ist  nicht  das 
Gerüste,  sondern  der  Atemzug,  der 
das  Starre  in  Fluß  und  Bewegung 
bringt.  Dort  sind  es  Werte  des 
Seins,  hier  Werte  der  Veränderung.  Dort  liegt  die  Schönheit  im  Begrenz- 
ten, hier   im  Unbegrenzten. 

Wieder  rühren  wir  an  Begriffe,  die  hinter  den  künstlerischen  Kategorien 
eine  verschiedene  Weltanschauung  sichtbar  werden  lassen. 


Van  Orley 


Betrachtung 
nach  Stoffen 


Wer  vom  15.  Jahrhundert  herkommt,  empfindet  es  als  ein  neues  Schau- 
spiel, wie  im  Bildnis  der  klassischen  Meister  die  Erscheinung  sich  gefestigt 
hat.  Das  Herausarbeiten  der  bestimmenden  Formgegensätze,  das  Einstel- 
len des  Kopfes  in  die  Vertikale,  das  Heranziehen  von  tektonisch-stützen- 
den  Begleitformen,  symmetrischen  Bäumchen  und  dergleichen,  es  wirkt  alles 
im  gleichen  Sinne.  Nehmen  wir  den  Carandolet  des  Barend  van  Orley*  als 
Beispiel,  so  wird  man  sich  leicht  überzeugen,  wie  sehr  die  Auffassung  be- 
dingt ist  von  dem  Ideal  eines  festen  tektonischen  Gefüges,  wie  die  Paralle- 
lität von  Mund  und  Augen  und  Kinn  und  Jochbein  betont  und  von  der 
klar  ausgesprochenen  Gegenrichtung  der  Vertikale  abgehoben  ist.  Die  Hori- 
zontale wird  unterstrichen  durch  die  Kappe  und  wiederholt  sich  im  Motiv 


')   Vgl.  L.  B.  Alberti,  de  re  aedificatoria  lib.  IX.  passim. 
146 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

des  aufgelegten  Armes  und  der  Brüstung  der  Wand,  die  ragenden  Formen 
werden  gehalten  von  den  Hochlinien  der  Tafel.  Durchweg  spürt  man  die 
Verwandtschaft  von  Figur  und  tektonischer  Basis.  Das  Ganze  ist  der  Fläche 
so  eingepaßt,  daß  es  als  unverrückbar  festliegend  erscheint.  Dieser  Ein- 
druck behauptet  sich,  auch  wenn  der  Kopf  nicht  in  der  breiten  Ansicht 
aufgenommen  ist,  die  aufrechte  Haltung  aber  bleibt  die  Norm  und  im  Zu- 
sammenhang einer  solchen  Anschauung  begreift  man,  daß  auch  die  reine 
Frontalität  nicht  als  etwas  Gesuchtes,  sondern  als  eine  natürliche  Form 
empfunden  werden  konnte.  Dürers  Selbstbildnis  in  München  ist  als  solch 
reines  Frontbild  nicht  nur  ein  Geständnis  im  Namen  seiner  Person,  son- 
dern im  Namen  der  neuen  tektonischen  Kunst.  Holbein,  Aldegrever,  Bruyn 
—  alle  sind  ihm  gefolgt. 

Dem  festen  zusammengefaßten  Typ  des  16.  Jahrhunderts  stellen  wir  in 
dem  Dr.  Thulden  des  Rubens*  den  Barocktyp  gegenüber.  Was  dabei  als 
Kontrasteindruck  herausspringt,  ist  wohl  zunächst  der  Mangel  an  Haltung. 
Allein  man  muß  sich  hüten,  die  zwei  Bilder  ausdrucksmäßig  nach  demsel- 
ben Maßstab  zu  beurteilen,  als  ob  sie  mit  den  gleichen  Mitteln  ihr  Modell 
charakterisiert    hätten.     Die    ganze   Grundlage    der  Bildgestaltung    hat  sich 

verschoben.  Das  System  der 
Horizontalen  und  Vertikalen 
ist  nichtgeradebeseitigt,  aber 
doch  absichtlich  unscheinbar 
gemacht  worden.  Man  sucht 
nicht  die  geometrischen  Ver- 
hältnisse in  ihrer  Strenge  wir- 
ken zu  lassen,  sondern  geht 
spielend  darüber  hinweg.  In 
der  Zeichnung  des  Kopfes 
wird  das  tektonisch-symme- 
trische  Element  zurückge- 
drängt. Die  Bildfläche  ist 
noch  immer  eine  rechtwink- 
lige, allein  die  Figur  nimmt 
auf  das  Achsensystem  keinen 
Bezug  und  auch  im  Hinter- 
grund ist  wenig  getan,  die 
Rubens  Form    dem   Rahmen    anzu- 


10" 


J47 


Scorel 

schließen.  Im  Gegenteil,  man  sucht  den  Eindruck,  als  ob  Rahmen  und  Fül- 
lung gar  nichts  miteinander  zu  tun  hätten.     Die  Bewegung  läuft  diagonal. 

Es  ist  natürlich,  daß  man  der  Frontalität  ausweicht,  die  Vertikalität  da- 
gegen ist  nicht  auszuschalten.  Auch  im  Barock  gibt  es  „aufrechte"  Leute. 
Aber  merkwürdig :  die  Vertikale  hat  ihre  tektonische  Bedeutung  verloren. 
Mag  sie  noch  so  rein  ausgeprägt  sein,  sie  geht  nicht  mehr  mit  dem  System 
des  Ganzen  zusammen.  Man  vergleiche  die  Halbfigur  der  Bella  des  Tizian 
im  Palazzo  Pitti  mit  der  Luigia  Tassis  des  van  Dyck  bei  Liechtenstein: 
dort  lebt  die  Figur  innerhalb  eines  tektonischen  Ganzen,  von  dem  sie  Kraft 
empfängt  und  dem  sie  Kraft  gibt,  hier  ist  die  Figur  der  tektonischen  Basis 
entfremdet.    Dort  hat  die  Figur  etwas  Fixiertes,  hier  ist  sie  beweglich. 

So  ist  die  Geschichte  der  männlichen  Stehfigur  vom  16.  Jahrhundert  her 
die  Geschichte  einer  fortschreitenden  Lockerung  des  Verhältnisses  zwischen 
Rahmung  und  Füllung.  Bei  Terborch,  wenn  er  seine  stehenden  Einzelfigu- 
ren im  leeren  Raum  erscheinen  läßt,  scheint  sich  die  Beziehung  der  Figuren- 
achse zur  Bildachse  vollständig  verflüchtigt  zu  haben. 

Über  das  Bildnis  hinaus  führt  uns  die  Darstellung  einer  sitzenden  Mag- 
dalena des  Scorel*,  wo  zu  irgend  einer  bestimmten  Haltung  gewiß  keine 
Verpflichtung  vorlag,  aber  es  war  zu  jener  Stunde  selbstverständlich,  daß 
das  Gerade   und  Aufrechte    die  Tonart  des  Bildes  bestimmte.     Dem  Verti- 


148 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 


kalismus  der  Figur  antwortet  der  Vertikalismus  in  Baum  und  Fels.  Das 
Sitzmotiv  an  sich  enthält  schon  die  Gegenrichtung  des  Gelagerten,  sie 
wiederholt  sich  in  der  Landschaft  und  in  den  Zweigen  des  Baumes.  Mit 
diesen  rechtwinkligen  Begegnungen  ist  die  Bilderscheinung  nicht  nur  ge- 
festigt, sie  gewinnt  auch  in  besonderem  Maße  den  Charakter  des  In-sich- 
Geschlossenen.  Die  Wiederholung  analoger  Verhältnisse  befördert  sehr  den 
Eindruck,   daß  Fläche  und  Füllung  aufeinander  angewiesen  sind. 

Vergleicht  man  mit  diesem  Scorel  einen  Rubens,  der  ja  die  weibliche 
Sitzfigur  als  Magdalena  mehrfach  behandelt  hat,  so  ergeben  sich  die  glei- 
chen Unterschiede  wie  bei  dem  vorhin  besprochenen  Bildnis  des  Dr.  Thulden. 
Gehen  wir  aber  von  den  Niederlanden  nach  Italien,  so  zeigt  auch  ein  Guido 
Reni*,  obwohl  er  zu  den  Zurückhaltenden  gehört,  dieselbe  Erweichung  des 
Bildhabitus  ins  Atektonische.  Die  Rechtwinkligkeit  der  Tafel  ist  als  wir- 
kendes, formbestimmendes  Prinzip  schon  wesentlich  verneint.  Die  Haupt- 
strömung ist  eine  diagonale 
und  wenn  auch  die  Massen- 
verteilung sich  noch  nicht 
weit  vom  Gleichgewicht  der 
Renaissance  entfernt,  so  ge- 
nügt doch  die  Erinnerung  an 
Tizian,  um  den  barocken  Cha- 
rakter dieser  Magdalena  zum 
Bewußtsein  zu  bringen.  Das 
Gelöste  der  Büßerin  ist  dabei 
nicht  das  Ausschlaggebende. 
Freilich  entfernt  sich  auch 
die  geistige  Fassung  des  Mo- 
tivs von  der  Art  des  16.  Jahr- 
hunderts, aber  das  Kräftige 
würde  jetzt  ebenso  wie  das 
Weiche  auf  atektonischer  Ba- 
sis entwickelt  werden. 

Keine  Nation  hat  so  über- 
zeugend wie  die  italienische 
den  tektonischen  Stil  im 
Nackten  zum  Vortrag  ge- 
bracht.     Hier    möchte    man      Guido  Reni 


149 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


sagen,    aus    der    Anschauung     des    Körpers 
heraus  sei  der  Stil  erwachsen,  und  man  könne 
dem   herrlichen    Gewächs    des    menschlichen 
Leibes  überhaupt  nicht  anders  gerecht  wer- 
den als  wenn  es  sub  specie  architecturae  auf- 
gefaßt werde.   Man  wird  diesen  Glauben  so- 
lange   festhalten,    bis    man    sieht,    was    ein 
Künstler    wie   Rubens   oder   Rembrandt  mit 
einer    anderen    Form    der    Anschauung    aus 
dem  Gegenstand  gemacht  hat  und  daß  auch 
in  dieser  Fassung  die  Natur  nur  sich  selbst 
zur  Darstellung  gebracht  zu  haben  scheint. 
Wir  exemplifizieren  mit  dem  bescheidenen 
aber  klaren  Beispiel  von  Franciabigio  *.  Ver- 
glichen   mit     quattrocentistischen     Figuren, 
etwa   mit   jener    früher    abgebildeten  Venus 
des   Lorenzo    di    Credi  (S.  3),    sieht    es  aus, 
als   sei  in  diesem  Bilde  die  Gerade  von  der 
Kunst  zum  erstenmal  entdeckt  worden.  Beide- 
mal  haben    wir   eine    völlig  aufrechte  Steh- 
figur, aber  die  Senkrechte  hat  im   16.  Jahr- 
hundert eine  neue  Bedeutsamkeit  gewonnen. 
So    wenig    wie    Symmetrie    und    Symmetrie 

immer  dasselbe  bedeutet,  so  wenig  ist  der  Begriff  der  Geraden  immer  gleich- 
wertig. Es  gibt  eine  laxe  und  eine  strenge  Fassung.  Unabhängig  von  allen 
Qualitätsunterschieden  im  Imitativen,  hat  Franciabigio  jenen  ausgesprochen 
tektonischen  Charakter,  der  die  Disposition  innerhalb  der  Bildfläche  ebenso 
bedingt  wie  die  Darstellung  des  Formgefüges  im  Körper  selbst.  Die  Figur 
ist  auf  ein  Schema  gebracht,  daß,  wie  beim  einzelnen  Kopf,  die  Formteiie 
in  elementaren  Kontrasten  gegeneinander  wirken  und  das  Bildganze  ist 
durchwaltet  von  tektonischen  Kräften.  Bildachse  und  Figurenachse  stärken 
sich  gegenseitig.  Und  wenn  der  eine  Arm  sich  hebt  und  die  Frau  in  der 
Muschelschale  sich  bespiegelt,  so  entsteht  —  ideell  —  eine  reine  Horizon- 
tale, die  die  Wirkung  der  Vertikalen  wieder  mächtig  unterstützt.  Bei  einer 
solchen  Figurenkonzeption  wird  die  architektonisch?  Begleitung  (Nische 
mit  Stufen)  dann  immer  als  etwas  ganz  Natürliches  erscheinen.  —  Aus  dem- 
selben Antrieb  heraus,   wenn  auch  nicht  mit  derselben  Strenge  der  Durch- 


Franciahigio 


150 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

führung,  haben  im  Norden  damals  Dürer,  Cranach,  Orley  ihre  Venus-  und 
Lucretienbilder  gemalt,  deren  entwicklungsgeschichtliche  Bedeutung  vor 
allem  nach  der  Tektonik  der  Bildfassung  beurteilt  sein  will. 

Wenn  dann  später  Rubens  das  Thema  weiterführt,  so  erstaunt  man,  wie 
rasch  und  wie  selbstverständlich  die  Bilder  den  tektonischen  Charakter 
abstreifen.  Die  große  Andromeda*  mit  den  hochgebundenen  Armen  ver- 
meidet durchaus  nicht  die  Vertikale,  aber  es  kommt  nicht  mehr  zu  einer 
tektonischen  Wirkung.  Das  Rechteck  des  Bildausschnittes  erscheint  in  sei- 
nen Linien  der  Figur  nicht  mehr  verwandt.  Die  Abstände  der  Figur  vom 
Rahmen  zählen  nicht  mehr  als  konstitutive  Bildwerte.  Der  Körper,  auch 
wenn  er  frontal  gegeben  ist,  nimmt  diese  Frontalität  nicht  von  der  Bild- 
fläche her.  Die  reinen  Richtungsgegensätze  sind  aufgehoben  und  im  Körper 
spricht  das  Tektonische  nur  noch  verhehlt  und  wie  aus  der  Tiefe.  Der 
Wirkungsakzent  ist  auf  die  andere   Seite  übergesprungen. 

Das  feierliche  Repräsentationsbild,  das 
kirchliche  Heiligenbild  vor  allem,  scheint 
auf  tektonische  Haltung  immer  ange- 
wiesen zu  sein.  Allein,  wenn  auch  die 
Symmetrie  im  17.  Jahrhundert  dauernd 
weitergebraucht  wird,  so  ist  diese  Art 
der  Komposition  für  den  Bildaufbau  doch 
nicht  mehr  verbindlich.  Die  Figurenord- 
nung kann  symmetrisch  gemeint  sein, 
die  Bilderscheinung  ist  es  nicht.  Wenn 
eine  symmetrische  Gruppe  —  was  der  Ba- 
rock gern  tut  —  verkürzt  dargestellt 
wird,  so  kommt  eben  keine  Bildsym- 
metrie mehr  heraus.  Verzichtet  man  aber 
auf  Verkürzung,  so  stehen  diesem  Stil 
auch  sonst  Mittel  genug  zur  Verfügung, 
dem  Beschauer  das  Bewußtsein  beizu- 
bringen, der  Geist  der  Darstellung  sei 
kein  tektonischer,  auch  wenn  man  sich 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auf  Sym- 
metrien einläßt.  Das  Werk  des  Rubens 
enthält  sehr  augenfällige  Beispiele  solcher 
symmetrisch -asymmetrischen    Komposi-       Rubens 


15* 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

tionen.  Es  genügen  aber  schon  ganz  kleine  Verschiebungen  und  Ungleich- 
gewichtigkeiten, um  den  Eindruck  tektonischer  Ordnung  nicht  aufkom- 
men zu  lassen. 

Als  Raffael  den  Parnaß  malte  und  die  Schule  von  Athen,  hat  er  auf  eine 
allgemeine  Überzeugung  sich  stützen  können,  daß  für  solche  Versammlungen 
von  idealer  Stimmung  das  strenge  Schema  einer  betonten  Mitte  das  Rechte 
sei.  Poussin  in  seinem  Parnaß  (Madrid)  ist  ihm  darin  gefolgt,  allein  trotz 
aller  Bewunderung  Raffaels  hat  er,  als  Mann  des  17.  Jahrhunderts,  seiner 
Zeit  doch  gegeben,  was  sie  forderte:  mit  unscheinbaren  Mitteln  ist  die 
Symmetrie  ins  Atektonische  transponiert  worden. 

Eine  analoge  Entwicklung  hat  die  holländische  Kunst  mit  dem  vielfigu- 
rigen  Schützenstück  durchgemacht.  Die  Rembrandtsche  „Nachtwache"  hat 
ihre  cinquecentistischen  Ahnen  in  rein  tektonisch- symmetrischen  Bildern. 
Natürlich  kann  man  nicht  sagen,  Rembrandts  Bild  sei  die  Auflösung  eines 
alten  Symmetrieschemas:  sein  Ausgangspunkt  liegt  gar  nicht  auf  dieser 
Linie.  Aber  Tatsache  ist,  daß  für  diese  Porträtaufgabe  die  symmetrische 
Komposition  (mit  Mittelfigur  und  gleichmäßiger  Verteilung  der  Köpfe  auf 
beiden  Seiten)  einmal  als  die  angemessene  Form  der  Darstellung  empfun- 
den worden  war,  während  das  17.  Jahrhundert,  selbst  wo  es  sich  ganz  steif 
und  gravitätisch  gebärdet,  sie  schlechterdings  nicht  mehr  als  etwas  Leben- 
diges anzuerkennen  vermochte. 

So  hat  der  Barock  auch  im  Historienbild  das  Schema  abgelehnt.  Schon 
für  die  klassische  Kunst  war  die  zentrische  Anordnung  nie  die  allgemeine 
Form  gewesen,  in  der  das  Geschehen  dargestellt  wurde  —  man  kann  tek- 
tonisch komponieren  ohne  Betonung  der  Mittelachse  — ,  allein  sie  erscheint 
doch  sehr  häufig  und  scheint  in  jedem  Fall  die  Stimmung  der  Monumen- 
talität für  sich  zu  haben.  Wenn  nun  Rubens  die  Himmelfahrt  Maria*  (S.  174)  gibt, 
so  ist  seine  Absicht  gewiß  nicht  minder  auf  das  Feierliche  gerichtet  gewesen, 
als  es  bei  der  Assunta  Tizians  der  Fall  war,  allein  was  im  16.  Jahrhundert 
selbstverständlich  war,  die  Hauptfigur  auf  der  Mittelachse  des  Bildes  em- 
porzuführen, ist  für  Rubens  bereits  etwas  Unerträgliches.  Es  beseitigt  die 
klassische  Vertikale  und  gibt  der  Bewegung  einen  schrägen  Anlauf.  Im 
gleichen  Sinn  hat  er  die  tektonische  Achse  des  Jüngsten  Gerichts,  wie  er 
sie  bei  Michelangelo   fand,  ins  Atektonische  verschoben  usw. 

Noch  einmal:  Die  zentrische  Komposition  ist  nur  eine  singulare  Steige- 
rung des- Tektonischen.  Man  kann  also  eine  Anbetung  der  Könige  so 
redigieren,    Lionardo  hat  es  getan  und  es  gibt  im   Süden  und  Norden   be- 

152 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

rühmte  Bilder,  die 
diesem  Typ  folgen 
(vgl.  den  Cesare  da 
Sesto  in  Neapel  und 
den  Meister  des  Ma- 
rientodes in  Dres- 
den), abermankann 

auch  azentrisch 
komponieren  und 
braucht  trotzdem 
nicht  ins  Atekto- 
nische  zu  verfallen. 
Im  Norden  ist  das 
die  beliebtere  Form 
(vgl.  die  Anbetung 
der  Könige  desHans 
von  Kulmbach  im 
Berliner  Museum), 
aber  sie  ist  auch 
dem  italienischen 
Cinquecento  durch- 
aus vertraut.  Die 
Raffaelschen  Tep- 
piche rechnen 
gleichmäßig  mit  den 
zweiMöglichkeiten. 
Was  hier  relativ  frei 


Rubens 


wirkt,   erscheint  doch  vollkommen  gebunden,   sobald  eine  Vergleichung  mit 
barocker  Gelöstheit  möglich  wird. 

Wie  auch  die  ländlich-idyllische  Szene  mit  dem  Geist  der  Tektonik  sich 
durchsetzt,  ersieht  man  vortrefflich  an  der  kleinen  „Ruhe  auf  der  Flucht" 
von  Isenbrant*.  Von  allen  Seiten  ist  der  tektonischen  Wirkung  der  Mittel- 
figur vorgearbeitet.  Die  Anordnung  auf  der  Achse  allein  tut  es  nicht,  die 
Vertikale  wird  von  den  Seiten  her  gestützt  und  im  Hintergrund  weiter- 
geführt und  die  Formation  des  Bodens  und  der  Gründe  sorgt  dafür,  daß 
auch  die  Gegenrichtung  zu  Worte  kommt.  So  unscheinbar  und  bescheiden 
das   Motiv  ist,  das  Bildchen  wird  damit  ein  Glied  der  großen  Familie,  der 


153 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

die  „Schule  von  Athen"  angehört. 
Aber  das  Schema  geht  durch,  auch 
wenn  die  Mittelachse  unbetont 
bleibt,  wie  Barend  van  Orley  *  beim 
gleichen  Thema  es  gemacht  hat. 
Hier  sind  die  Figuren  zur  Seite  ge- 
schoben, ohne  daß  doch  das  Gleich- 
gewicht erschüttert  wäre.  Natürlich 
kommt  viel  an  auf  den  Baum.  Er 
steht  nicht  in  der  Mitte,  aber  man 
spürt  trotz  der  Abweichung  sehr 
genau,  wo  die  Mitte  liegt ;  der  Stamm 
ist  keine  mathematische  Vertikale, 
aber  man  fühlt,  daß  er  ein  Ver- 
wandter der  Rahmenlinien  des  Bil- 
des ist;  das  ganze  Gewächs  geht 
rein  in  der  Bildfläche  auf.  Damit 
ist  der  Stil  schon  festgelegt. 
Gerade  beiLandschaften  sieht  man 
Isenbrant  sehr    deutlich,    wie    das    Maß    der 

Bedeutsamkeit,  das  den  geometrischen  Werten  im  Bilde  zugewiesen  ist, 
hauptsächlich  über  den  tektonischen  Charakter  entscheidet.  Landschaften 
des  16.  Jahrhunderts  haben  alle  jenen  nach  Vertikalen  und  Horizontalen 
ausgerichteten  Aufbau,  der  trotz  aller  „Natürlichkeit"  die  innere  Beziehung 
zu  architektonischem  Werk  vollkommen  fühlbar  werden  läßt.  Die  Stabili- 
sierung des  Gleichgewichtes  der  Massen,  das  Gefestigte  der  Flächenfüllung 
vollendet  den  Eindruck.  Es  sei  gestattet,  der  Deutlichkeit  halber  mit  einem 
Beispiel  zu  operieren,  das  kein  reines  Landschaftsbild  ist,  aber  eben  des- 
wegen das  Gepräge  des  Tektonischen  um  so  klarer  aufweist:  Pateniers 
Taufe   Christi*   (Abb.  S.  156). 

Das  Bild  ist  zunächst  ein  vorzügliches  Beispiel  für  Flächenstil.  Christus 
in  einer  Ebene  mit  dem  Täufer,  dessen  Arm  die  Fläche  nicht  verläßt.  Der 
Baum  am  Rande  ist  in  dieselbe  Zone  einbezogen.  Ein  (brauner)  Mantel, 
am  Boden  liegend,  vermittelt.  Lauter  Breitformen  in  paralleler  Schichtung, 
durch  alle  Gründe  durch.     Christus  gibt  den  Grundton  an. 

Aber  ebensogut  läßt  sich  die  Bildanordnung  dem  Begriff  des  Tektoni- 
schen unterstellen.     Man  wird  dann  von  der  reinen  Vertikalität  des  Täuf- 


154 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

lings  ausgehen  und  wie  diese  Richtung  durch  Gegensätze  herausgehoben 
ist.  Der  Baum  ist  durchaus  in  Beziehung  zum  Bildrand  empfunden,  von 
dem  er  Kraft  empfängt,  wie  er  andrerseits  den  Bildabschluß  festigt.  Die 
Horizontalität  der  landschaftlichen  Schichten  geht  ebenso  zusammen  mit 
den  Grundlinien  der  Bildtafel.  Spätere  Landschaften  lassen  diesen  Ein- 
druck nie  mehr  aufkommen.  Die  Formen  sperren  sich  gegen  das  Rahmen- 
werk, der  Ausschnitt  erscheint  als  zufällig  und  das  Achsensystem  bleibt  un- 
betont. Dazu  bedarf  es  keiner  Gewaltsamkeiten.  Bei  jenem  oft  schon  ge- 
nannten ,, Blick  auf  Haarlem"  *  gibt  Ruysdael  das  flache  Gelände  mit  stillem 
tiefem  Horizont.  Es  scheint  unvermeidlich,  daß  diese  eine,  stark  sprechende 
Linie  als  tektonischer  Wert  wirksam  werde.  Allein  der  Eindruck  ist  ein 
ganz  anderer:  man  spürt  nur  die  grenzenlose  Weite  des  Raumes,  für  die 
kein  Rahmen  Bedeutung  hat,  und  das  Bild  ist  das  typische  Muster  für  jene 
Schönheit  des  Unendlichen,  die  erst  der  Barock  zu  fassen  imstande  gewesen  ist. 

4- 

Für  die  geschichtliche  Er- 
kenntnis dieses  besonders  viel- 
fältigen Begriffspaares  ist  es 
wesentlich,  sich  von  der  Vor- 
stellung frei  zu  machen,  daß  die 
primitive  Stufe  der  Kunst  die 
eigentlich  tektonisch-gebundene 
gewesen  sei.  Gewiß  gibt  es 
für  die  Primitiven  tektonische 
Schranken,  nach  allem  Voraus- 
gesagten wird  man  aber  ein- 
sehen, daß  die  Kunst  erst  dann 
streng  geworden  ist,  als  sie  zu 
vollkommener  Freiheit  gelangt 
war.  Die  ältere  Malerei  besitzt 
nichts,  was  sich  an  tektonischem 
Gehalt  mit  Lionardos  Abend- 
mahl oder  Raff  aelsWunderbarem 
Fischzug  vergleichen  ließe.  Ein 
Kopf  des  Dirk  Bouts*  ist  als 
Architektur  lax  empfunden  ge- 
genüber dem  festen  Gefüge  bei       Van  Orley 


Historisches 

und 

Nationales 


155 


Patenier 


Massys  oder  Orley*.  Das  Meisterwerk  des  Roger  van  der  Weyden,  sein 
Dreikönigsaltar  in  München,  hat  etwas  Unsicheres  und  Schwankendes  in 
den  Richtungen,  verglichen  mit  dem  einfach  klaren  Achsensystem  des  1 6.  Jahr- 
hunderts, und  der  Farbe  fehlt  der  geschlossene  Charakter,  weil  sie  nicht 
mit  den  elementaren  Kontrasten  rechnet,  die  sich  gegenseitig  im  Gleich- 
gewicht halten.  Und  selbst  in  der  nächsten  Generation  —  wie  weit  ent- 
fernt ist  noch  Schongauer  von  der  satten  tektonischen  Wirkung  der  Klas- 
siker. Man  hat  die  Empfindung,  nichts  sei  recht  verankert.  Senkrechte 
und  Wagrechte  packen  sich  nicht.  Die  Front  bleibt  ohne  Nachdruck,  die 
Symmetrie  wirkt  schwach  und  das  Verhältnis  von  Fläche  und  Füllung  be- 
hält etwas  Zufälliges.  Zum  Beweis  sei  die  Schongauersche  Taufe  Christi 
genannt,  die  man  mit  der  klassischen  Komposition  des  Wolf  Traut  (Germa- 
nisches Museum,  Nürnberg)  zusammenhalten  möge :  frontal  in  der  Haupt- 
figur und  rein  zentrisch  entwickelt,  gibt  sie  den  Typ  des  16.  Jahrhunderts 
in  einer  besonders  strengen  Fassung,  wie  ihn  der  Norden  nicht  lange  fest- 
gehalten hat. 

Während  in  Italien  die  geschlossenste  Form  als  die  lebendigste  empfun- 
den wurde,  drängt  die  germanische  Kunst,  ohne  sich  auf  die  letzten  Formu- 
lierungen  überhaupt    einzulassen,   alsbald   ins    Entbundenere    hinüber.     Alt- 

156 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

dorfer  überrascht  uns  hier  und  da  mit  so  freier  Empfindung,  daß  er  sich 
einer  geschichtlichen  Ordnung  kaum  zu  fügen  scheint.  Allein  auch  er  ist 
aus  seiner  Zeit  nicht  herausgesprungen.  Wenn  die  Mariengeburt  der  Münch- 
ner Pinakothek  so  aussieht,  als  ob  sie  aller  Tektonik  widerspräche,  so  würde 
doch  allein  die  Art,  wie  der  Engelkranz  im  Bilde  sitzt  und  wie  der  große  weih- 
rauchspendende Engel  rein  zentral  angeordnet  ist,  jeden  Versuch  unmöglich 
machen,  die  Komposition  in  einen  späteren  Zusammenhang  einzuschmuggeln. 

In  Italien  ist  es  Correggio,  der  bekanntlich  sehr  früh  mit  der  klassischen 
Form  bricht.  Er  spielt  nicht  mit  einzelnen  Verschiebungen,  hinter  denen 
man  das  tektonische  System  doch  immer  noch  als  normgebend  durchfühlt, 
wie  etwa  Paolo  Veronese,  sondern  er  ist  innerlich  und  von  Grund  aus 
atektonisch  geartet.  Immerhin  sind  es  erst  Anfänge  und  es  wäre  von  vorn- 
herein unrichtig,  ihn  als  Lombarden  an  florentinisch- römischen  Mustern 
zu  messen.  Ganz  Oberitalien  hat  über  streng  und  nicht-streng  sich  immer 
ein  eigenes  Urteil  vorbehalten. 

Eine    Geschichte    des  tektonischen  Stils   kann  nicht   geschrieben  werden, 


Ruysdael 


157 


Bouts 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

ohne  auf  nationale  und  landschaft- 
liche Unterschiede  einzugehen.  Der 
Norden,  wie  gesagt,  hat  von  jeher 
atektonischer  empfunden  als  Italien. 
Richtung  und  ,, Regel"  erscheint  hier 
leicht  als  das  Lebentötende.  Nor- 
dische Schönheit  ist  nicht  eine  Schön- 
heit des  In-sich-Geschlossenen  und 
Begrenzten,  sondern  des  Grenzen- 
losen und  Unendlichen. 

Plastik 

Daß  die  plastische  Figur  als  solche 
keinen  andern  Bedingungen  unter- 
steht als  die  Figur  der  Malerei,  ist 
selbstverständlich.  Das  Problem  von 
Tektonik  und  Atektonik  wird  ein 
besonders  für  die  Plastik  erst  als 
Problem  der  Aufstellung  oder,  an- 
anders  ausgedrückt,  als  Problem  der  Beziehung  zur  Architektur. 

Es  gibt  keine  Freifigur,  die  nicht  in  der  Architektur  ihre  Wurzeln  hätte. 
Der  Sockel,  die  Anlehnung  an  eine  Wand,  die  Orientierung  im  Raum  — 
es  sind  alles  architektonische  Momente.  Nun  geschieht  hier  etwas  Ähnliches, 
wie  wir  es  im  Verhältnis  von  Bildfüllung  und  Bildrahmen  beobachtet  haben: 
nach  einer  Periode  gegenseitiger  Rücksichtnahme  fangen  die  Elemente  an 
sich  zu  entfremden.  Die  Figur  entwindet  sich  der  Nische,  sie  will  die  Mauer 
im  Rücken  nicht  mehr  als  verbindliche  Macht  anerkennen  und  je  weniger 
in  der  Gestalt  die  tektonischen  Achsen  fühlbar  bleiben,  um  so  mehr  reißt 
die  verwandtschaftliche  Beziehung  zu  jeder  Art  von  baulicher  Unterlage. 
Wir  verweisen  auf  die  Illustrationen  auf  Seite  64/65  zurück.  Der  Figur 
des  Puget  fehlen  die  Vertikalen  und  Horizontalen,  alles  ist  Schräglinie  und 
drängt  damit  aus  dem  architektonischen  System  der  Nische  heraus,  aber 
auch  der  Raum  der  Nische  wird  nicht  mehr  respektiert.  Es  kommt  zu  Über- 
schneidungen der  Ränder  und  die  vordere  Ebene  ist  durchstoßen.  Der  Wider- 
spruch ist  aber  noch  nicht  die  Willkür.  Das  Element  des  Atektonischen 
kommt  hier  erst  zur  Geltung,  indem  es  sich  von  einem  gegensätzlichen  Ele- 
ment abheben   kann,    und  insofern  ist  dieser  barocke  Freiheitsdrang  etwas 

158 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

anderes  als  die  lockere  Haltung  der  Primitiven,  die  nicht  wissen,  was  sie 
tun.  Wenn  Desiderio  am  Marsuppini-Grabmal  in  Florenz  ein  paar  wappen- 
haltende Knaben  einfach  an  die  Pilasterfüße  heranschiebt,  ohne  sie  im 
Aufbau  eigentlich  zu  verankern,  so  ist  das  ein  Zeichen  von  noch  unent- 
wickeltem tektonischem  Gefühl,  die  Art  aber,  wie  der  Barock  mit  seiner  Pla- 
stik die  Bauglieder  überschneidet,  ist  bewußte  Negation  der  tektonischen 
Schranken.  In  der  römischen  Kirche  von  S.  Andrea  beim  Quirinal  läßt 
Bernini  den  Titelheiligen  aus  dem  Segmentgiebel  emporschweben  in  den  freien 
Raum.  Man  kann  sagen,  das  liege  in  der  Konsequenz  einer  Bewegungs- 
darstellung, allein  das  Jahrhundert  erträgt  auch  bei  ganz  ruhigen  Motiven 
nicht  mehr  das  tektonisch  Geschlichtete  und  die  Konsonanz  von  Figur  und 
baulicher  Ordnung.  Es  ist  trotzdem  kein  Widerspruch,  wenn  gerade  diese 
atektonische  Plastik  sich  von  der  Architektur  gar  nicht  trennen  kann. 

Daß  die  klassische  Figur  sich  mit  so  großer  Entschiedenheit  in  die  Fläche 
einstellt,  läßt  sich  auch  als  tektonisches  Motiv  begreifen,  ebenso  wie  die 
barocke  Drehung  der  Figur,  daß  sie  der  Fläche  sich  entwindet,  dem  atek- 
tonischen  Geschmack  entsprechen  mußte.  Wo  Figuren  als  Reihe  aufgestellt 
sind,  sei  es  am  Altar  oder  an  einer  Wand,  da  wird  es  Regel,  daß  sie  in 
einem  Winkel  zur  Hauptfläche  stehen.  Es  gehört  mit  zum  Reiz  einer  Rokoko- 
kirche, daß  die  Plastik  sich  blumenhaft  freigemacht  hat. 

Erst  der  Klassizismus  führt  wieder  zur  Tektonik  zurück.  Um  von  allen 
andern  Äußerungen  zu  schweigen :  als  Klenze  den  Thronsaal  der  Münchner 
Residenz  einrichtete  und  Schwanthaler  die  Ahnen  des  Königshauses  model- 
lierte, da  konnte  gar  kein  Zweifel  sein,  daß  die  Figuren  mit  den  Säulen  in 
Reih  und  Glied  zu  stehen  hatten.  Die  analoge  Aufgabe  im  Kaisersaal  des 
Klosters  Ottobeuern  ist  vom  Rokoko  so  gelöst  worden,  daß  von  den  Figuren 
je  zwei  sich  immer  etwas  entgegenwenden,  womit  dann  grundsätzlich  die 
Unabhängigkeit  von  der  Wandflucht  bekundet  ist,  ohne  daß  die  Figuren 
aufhörten,   Wandfiguren  zu  sein. 

Architektur 

Die  Malerei  kann,  die  Architektur  muß  tektonisch  sein.  Die  Malerei 
entwickelt  die  ihr  eigentümlichen  Werte  erst  ganz,  wo  sie  sich  von  der 
Tektonik  lossagt:  für  die  Architektur  wäre  ein  Aufheben  des  tektonischen 
Gerüstes  gleichbedeutend  mit  Selbstvernichtung.  Was  in  der  Malerei  von 
Natur  der  Tektonik  angehört,  ist  eigentlich  nur  der  Rahmen,  die  Entwick- 
lung  läuft  aber  eben  in  der  Art,   daß  sich  das  Bild  dem  Rahmen  entfremdet; 

159 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

die  Baukunst  ist  im  Stamm  tektonisch  und  nur  die  Dekoration  scheint  sich 
freier  gebärden  zu  können. 

Nichtsdestoweniger  ist  die  Erschütterung  der  Tektonik,  wie  sie  die  Ge- 
schichte der  darstellenden  Kunst  zeigt,  von  analogen  Vorgängen  auch  in 
der  Baukunst  begleitet  gewesen.  Wo  man  sich  scheut,  von  einer  atektoni- 
schen  Phase  zu  sprechen,  wird  der  Begriff  „Offene  Form"  als  Gegensatz 
zu  „Geschlossener  Form"  ohne  Anstoß  benützt  werden  können. 

Die  Erscheinungsformen  gerade  dieses  Begriffes  sind  sehr  mannigfaltig. 
Man  wird  sich  die  Übersicht  erleichtern,  wenn  man  sie  gruppenweise  aus- 
einanderhält. 

Zunächst  ist  der  tektonische  Stil  der  Stil  der  gebundenen  Ordnung  und 
der  klaren  Gesetzmäßigkeit,  der  atektonische  dagegen  der  Stil  der  mehr  oder 
weniger  verhehlten  Gesetzmäßigkeit  und  der  entbundenen  Ordnung.  Dort 
ist  der  Lebensnerv  in  aller  Wirkung  die  Notwendigkeit  der  Fügung,  die 
völlige  Unverschiebbarkeit,  hier  spielt  die  Kunst  mit  dem  Schein  des  Regel- 
losen. Sie  spielt,  denn  im  ästhetischen  Sinn  ist  natürlich  in  aller  Kunst  die 
Form  eine  notwendige:  aber  der  Barock  versteckt  gern  die  Regel,  löst  die 
Rahmungen  und  Gliederungen,  führt  die  Dissonanz  ein  und  streift  in  der 
Dekoration  bis  an  den  Eindruck  des  Zufälligen. 

Weiterhin  gehört  zum  tektonischen  Stil  alles,  was  im  Sinn  der  Begren- 
zung und  der  Sättigung  wirkt,  während  der  atektonische  Stil  die  geschlos- 
sene Form  öffnet,  das  heißt  die  gesättigte  Proportion  in  eine  weniger  ge- 
sättigte überführt;  die  fertige  Gestalt  wird  ersetzt  durch  die  scheinbar  un- 
fertige, die  begrenzte  durch  die  unbegrenzte.  An  Stelle  des  Eindrucks  der 
Beruhigung  entsteht  der  Eindruck  von  Spannung  und  Bewegung. 

Damit  verbindet  sich  —  und  das  ist  der  dritte  Punkt  —  die  Umbildung 
der  starren  Form  in  die  flüssige  Form.  Nicht  daß  die  gerade  Linie  und 
der  rechte  Winkel  ausgeschaltet  wäre,  es  genügt,  daß  da  und  dort  ein  Fries 
bauchig  gestaltet  wird,  ein  Haken  sich  zur  Kurve  krümmt,  um  die  Vor- 
stellung zu  erzeugen,  es  sei  ein  Wille  nach  dem  Atektonisch-Freien  immer 
schon  vorhanden  und  warte  nur  auf  seine  Gelegenheit.  Für  die  klassische 
Empfindung  ist  das  streng-geometrische  Element  Anfang  und  Ende,  gleich- 
mäßig bedeutsam  für  den  Grundriß  wie  für  den  Aufriß,  im  Barock  wird 
man  bald  spüren,  es  sei  zwar  der  Anfang,  aber  nicht  das  Ende.  Es  ge- 
schieht hier  etwas  Ähnliches  wie  in  der  Natur,  wenn  sie  von  den  kristal- 
linischen Gestaltungen  zu  den  Formen  der  organischen  Welt  aufsteigt.    Das 

160 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

eigentliche  Feld  der  vegetabilisch-freien  Formen  ist  natürlich  nicht  die  große 
Architektur,   sondern  das  von  der   Mauer  losgelöste  Möbel. 

Verschiebungen  dieser  Art  sind  kaum  denkbar,  ohne  daß  in  der  Auffas- 
sung der  Materie  eine  Wandlung  stattgefunden  hätte.  Es  ist  als  ob  der 
Stoff  überall  sich  erweicht  hätte.  Er  ist  nicht  nur  bildsamer  geworden 
in  der  Hand  des  Werkmanns,  sondern  er  selbst  ist  erfüllt  von  einem  viel- 
fältigen Formtrieb.  Das  ist  zwar  in  aller  Architektur  als  Kunst  der  Fall  und 
ihre  eigentliche  Voraussetzung,  aber  gegenüber  den  elementar  beschränkten 
Äußerungen  der  eigentlich  tektonischen Architektur  treffen  wir  hierauf  einen 
Reichtum  und  eine  Beweglichkeit  in  der  Formbildung,  daß  wir  noch  einmal 
das  Gleichnis  der  organischen  und  der  anorganischen  Natur  anzurufen  ver- 
anlaßt sind.  Nicht  nur,  daß  die  Dreiecksform  eines  Giebels  sich  zur  flüssigen 
Kurve  erweicht,  die  Mauer  selber  biegt  sich  wie  ein  Schlangenkörper  lebendig 
aus-  und  einwärts.  Die  Grenze  zwischen  den  eigentlichen  Formgliedern  und 
dem,   was  nur  Stoff  ist,   hat  sich  verwischt. 

Indem  wir  uns  nun  anschicken,  die  einzelnen  Punkte  etwas  genauer  zu 
charakterisieren,  mag  es  nicht  überflüssig  sein  zu  wiederholen,  daß  ein 
gleichbleibender  Formenapparat  natürlich  Grundbedingung  des  Prozesses  ist. 
Die  Atektonik  des  italienischen  Barock  ist  bedingt  durch  den  Umstand, 
daß  die  durch  Generationen  bekannten  Formen  der  Renaissance  in  diesem 
Stil  weiterleben.  Hätte  Italien  damals  die  Invasion  einer  neuen  Formen- 
welt erlebt  (wie  das  gelegentlich  in  Deutschland  vorgekommen  ist),  so  hätte 
die  Zeitstimmung  dieselbe  sein  können,  die  Architektur  als  ihr  Ausdruck  würde 
aber  nicht  die  gleichen  Motive  des  Atektonischen  entwickelt  haben,  die  wir 
jetzt  vorfinden.  Ebenso  ist  es  im  Norden  mit  der  Spätgotik  bestellt.  Die 
Spätgotik  hat  ganz  analoge  Phänomene  der  Formbildung  und  Formkombi- 
nation erzeugt.  Man  wird  sich  aber  hüten,  sie  lediglich  aus  dem  Geist  der 
Zeit  erklären  zu  wollen;  sie  sind  möglich  geworden,  weil  die  Gotik  schon 
so  lange  im  Rollen  war  und  schon  so  viele  Generationen  hinter  sich  hatte. 
Die  Atektonik  ist  auch  hier  gebunden  an  den   Spätstil. 

Die  nordische  Spätgotik  reicht  bekanntlich  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein. 
Man  ersieht  daraus,  daß  die  Entwicklung  im  Süden  und  im  Norden  zeit- 
lich sich  nicht  ganz  decken  kann.  Sie  deckt  sich  aber  auch  sachlich  nicht 
völlig,  indem  für  Italien  ein  viel  strengerer  Begriff  von  geschlossener  Form 
das  Natürliche  ist  und  die  Überführung  des  Gesetzlichen  in  das  scheinbar 
Gesetzlose  hier  ebensoweit  hinter  den  nordischen  Möglichkeiten  zurück- 
blieb wie  die  Auffassung  der  Form  als  einer  fast  vegetabilisch  frei  sprießenden. 

ii  H.  W.,  G.  2.  A.  161 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Die  italienische  Hochrenaissance  hat  auf  dem  Boden  ihrer  besonderen 
Werte  dasselbe  Ideal  der  absolut  geschlossenen  Form  verwirklicht,  wie 
etwa  die  Hochgotik  mit  ganz  anderem  Ausgangspunkt  es  getan  hat.  Der 
Stil  kristallisiert  sich  in  Bildungen,  die  den  Charakter  des  Schiechthin- 
Notwendigen  tragen,  wo  jeder  Teil  an  seiner  Stelle  und  in  seiner  Gestalt 
als  unveränderlich  und  unverschiebbar  erscheint.  Die  Primitiven  haben  die 
Vollendung  geahnt,  aber  noch  nicht  klar  gesehen.  Die  Florentiner  Wand- 
gräber des  Quattrocento,  im  Stil  des  Desiderio  oder  des  Antonio  Rossellino, 
haben  alle  noch  etwas  Unsicheres  in  der  Erscheinung:  die  einzelne  Figur 
ist  nicht  fest  verankert.  Da  schwimmt  ein  Engel  auf  der  Wandfläche,  da 
steht  ein  Wappenhalter  neben  dem  Fuß  des  Eckpfeilers,  beide  ohne  wirk- 
lich festgelegt  zu  sein  und  ohne  den  Beschauer  zu  überzeugen,  daß  nur 
diese  Form  hier  möglich  gewesen  sei  und  keine  andere.  Mit  dem  16.  Jahr- 
hundert hört  das  auf.  Überall  ist  das  Ganze  so  organisiert,  daß  kein  Hauch 
von  Willkür  übrig  bleibt.  Den  eben  genannten  Florentiner  Beispielen  wären 
etwa  die  römischen  Prälatengräber  des  A.  Sansovino  in  S.  M.  del  Popolo 
gegenüberzustellen,  ein  Typus,  auf  den  auch  die  weniger  tektonisch  ge- 
sinnten Landschaften  wie  Venedig  unmittelbar  reagieren.  Die  offenbarte 
Gesetzmäßigkeit  ist  die  höchste  Form  des  Lebens. 

Auch  für  den  Barock  bleibt  natürlich  die  Schönheit  das  Notwendige,  aber 
er  spielt  mit  dem  Reiz  des  Zufälligen.  Auch  für  ihn  ist  das  Einzelne  ge- 
fordert und  bedingt  vom  Ganzen,  allein  es  soll  nicht  als  gewollt  erschei- 
nen. Wer  wird  von  Zwang  reden  bei  den  Bildungen  der  klassischen  Kunst: 
alles  fügt  sich  dem  Ganzen  und  lebt  doch  sich  selber!  Allein  das  erkenn- 
bare Gesetz  ist  der  späteren  Zeit  unerträglich.  Auf  dem  Grunde  einer  mehr 
oder  weniger  verhehlten  Ordnung  sucht  man  jenen  Eindruck  von  Freiheit 
zu  gewinnen,  der  allein  das  Leben  zu  verbürgen  schien.  Berninis  Grabmäler 
sind  besonders  kühne  Muster  von  derartig  entbundenen  Kompositionen,  ob- 
wohl ja  das  Schema  der  Symmetrie  festgehalten  ist.  Die  Lockerung  des 
Eindrucks  der  Gesetzmäßigkeit  ist  aber  auch  an  zahmeren  Werken  unver- 
kennbar. 

Am  Urban-Grabmal  hat  Bernini  ein  paar  Bienen,  die  Wappentiere  des 
Papstes,  da  und  dort  als  zufällige  Punkte  hingesetzt.  Gewiß  nur  ein  kleines 
Motiv,  das  den  Bau  nach  seinen  tektonischen  Grundlagen  nicht  erschüttert, 
aber  doch  —  wie  undenkbar  war  dieses  Spielen  mit  dem  Zufälligen  in  der 
Hochrenaissance ! 

Für  die  große  Architektur  sind  die  Möglichkeiten  des  Atektonischen  natür- 

162 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

lieh  beschränktere.  Das  Grundsätzliche  aber  bleibt  das  gleiche:  daß  die 
Schönheit  Bramantes  die  Schönheit  der  geoffenbarten  Gesetzmäßigkeit  ist 
und  die  Schönheit  Berninis  die  Schönheit  einer  mehr  verborgenen  Gesetz- 
mäßigkeit. Worin  das  Gesetzliche  besteht,  läßt  sich  nicht  mit  einem  Worte 
sagen.  Es  besteht  in  der  Konsonanz  der  Formen,  in  gleichmäßig  durch- 
gehenden Verhältnissen,  es  besteht  in  rein  herausgearbeiteten  Kontrasten, 
die  sich  gegenseitig  tragen,  es  besteht  in  der  strengen  Gliederung,  daß  jeder 
Teil  als  ein  in  sich  begrenzter  erscheint,  es  besteht  in  einer  bestimmten 
Ordnung  in  der  Folge  des  Nebeneinanders  der  Formen  usw.  Und  auf  allen 
Punkten  ist  das  Verfahren  des  Barock  das  gleiche:  nicht  an  der  Stelle  des 
Geordneten  das  Ungeordnete  zu  setzen,  aber  den  Eindruck  des  Streng-Ge- 
bundenen in  den  Eindruck  des  Freieren  umzuwandeln.  Immer  spiegelt  sich 
das  Atektonische  noch  in  der  Tradition  des  Tektonischen.  Es  kommt  alles 
darauf  an,  von  wo  man  ausgegangen  ist:  die  Lösung  des  Gesetzes  bedeutet 
nur  etwas  für  den,  dem  das  Gesetz  einmal  Natur  gewesen  ist. 

Ein  einziges  Beispiel:  Bernini  gibt  im  Palazzo  Odescalchi  *  eine  Kolossal- 
ordnung in  Pilastern,  die  zwei  Stockwerke  zusammenfaßt.  Das  ist  an  sich 
nichts  Außerordentliches.  Palladio  wenigstens  hat  das  auch.  Allein  die  Folge 
der  zwei  großen  Fensterreihen  übereinander,  die  als  Horizontalmotive  die 
Pilasterreihe  durchsetzen,  ohne  Zwischengelenk,  ist  eine  Disposition,  die 
als  atektonisch  empfunden  werden  mußte,  nachdem  das  klassische  Ge- 
fühl überall  die  klaren  Gelenke  und  die  reinliche  Scheidung  der  Teile  ver- 
langt hatte. 

Am  Palazzo  di  Montecitorio  bringt  Bernini  den  Gesimsstreifen  (in  Ver- 
bindung mit  Eckpilastern,  die  zwei  Stockwerke  zusammenfassen),  allein  das 
Gesims  wirkt  doch  nicht  tektonisch,  gelenkmäßig  im  alten  Sinn,  weil  es 
sich  an  den  Pilastern  totläuft,  ohne  irgendwie  gestützt  zu  sein.  In  gestei- 
gertem Maße  wird  man  hier  —  bei  einem  so  unscheinbaren  und  nicht  ein- 
mal neuen  Motiv  —  der  Relativität  aller  Wirkungen  inne  werden:  es  ge- 
winnt seine  eigentliche  Bedeutung  erst  durch  die  Tatsache,  daß  Bernini 
in  Rom  an  Bramante  nicht  vorbeisehen  konnte. 

Die  durchgreifenderen  Verschiebungen  vollziehen  sich  auf  dem  Felde  der 
Proportionalität.  Die  klassische  Renaissance  arbeitete  mit  durchgehenden 
Verhältnissen,  so  daß  ein  und  dieselbe  Proportion  in  verschiedenem  Aus- 
maß sich  wiederholt,  planimetrische  und  kubische  Proportionen.  Das  ist 
ein  Grund,  warum  alles  so  gut  ,, sitzt".  Der  Barock  weicht  dieser  klaren  Ver- 
hältnismäßigkeit aus  und  sucht  mit  einer  versteckteren  Harmonie  der  Teile 

ii*  163 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

den  Eindruck  des  Völlig-Fertigen  zu  überwinden.  In  den  Proportionen  selber 
aber  drängt  sich  das  Gespannte  und  Ungesättigte  vor  das  Ausgeglichen- 
Ruhende. 

Im  Gegensatz  zur  Gotik  hat  die  Renaissance  sich  Schönheit  immer  als 
eine  Art  von  Sättigung  vorgestellt.  Es  ist  nicht  die  Sättigung  der  Stumpf- 
heit, aber  jenes  Verhältnis  zwischen  Streben  und  Ruhe,  das  wir  als  einen 
bleibenden  Zustand  empfinden.  Der  Barock  hebt  diese  Sättigung  auf.  Die 
Proportionen  verschieben  sich  ins  Bewegtere,  Fläche  und  Füllung  gehen 
nicht  mehr  ineinander  auf,  kurz,  es  geschieht  all  das,  was  für  uns  das  Phä- 
nomen einer  Kunst  leidenschaftlicher  Spannung  ergibt.  Aber  nun  vergesse 
man  doch  nicht,  daß  der  Barock  nicht  bloß  pathetische  Kirchenbauten  her- 
vorgebracht hat,  sondern  daß  es  daneben  auch  eine  Architektur  der  mitt- 
leren Lebensstimmung  gibt.  Was  wir  hier  beschreiben,  sind  nicht  die  Stei- 
gerungen der  Ausdrucksmittel,  die  die  neue  Kunst  bei  mächtiger  Erregung 
aufwendet,  sondern  wie,  bei  ganz  ruhigem  Pulsschlag,  der  Begriff  des  Tek- 
tonischen  sich  gewandelt  hat.  Wir  haben  landschaftliche  Bilder  des  atek- 
tonischen  Stils,  die  den  tiefsten  Frieden  atmen,  genau  so  gibt  es  eine  atek- 
tonische  Architektur,  die  nicht  anders  als  still  und  beglückend  wirken  will. 
Aber  auch  für  sie  sind  die  alten  Schemata  unbrauchbar  geworden.  Das 
Lebendige,  ganz  allgemein  genommen,   hat  jetzt  eine  andere   Gestalt. 

So  ist  es  zu  verstehen,  wenn  die  Formen  mit  dem  ausgesprochenen  Cha- 
rakter des  Bleibenden  absterben.  Das  Oval  verdrängt  nicht  völlig  den  Kreis, 
allein  wo  der  Kreis  noch  vorkommt,  z.  B.  im  Grundriß,  wird  er  durch  die 
besondere  Behandlung  das  gleichmäßig  Satte  verloren  haben.  Unter  den 
Rechtecksproportionen  besitzt  das  Verhältnis  des  goldenen  Schnittes  eine 
ausgezeichnete  Wirkung  im  Sinne  des  Geschlossenen,  man  wird  alles  tun, 
gerade  diese  Wirkung  nicht  aufkommen  zu  lassen.  Das  Fünfeck  von  Capra- 
rola  (Vignola)  ist  eine  völlig  beruhigte  Figur,  wenn  aber  die  Front  des 
Palazzo  di  Montecitorio  (Bernini)  sich  in  fünf  Flächen  bricht,  so  geschieht 
das  unter  Winkeln,  die  etwas  Unfaßbares  und  darum  Scheinbar-Beweg- 
liches an  sich  haben.  Pöppelmann  verwendet  dasselbe  Motiv  bei  den  großen 
Zwingerpavillons.    Auch  die   Spätgotik  kennt  es  schon  (Rouen,  S.  Maclou). 

Analog  dem,  was  schon  bei  den  Bildern  beobachtet  wurde,  entfremdet 
sich  in  der  Dekoration  die  Füllung  der  gegebenen  Fläche,  während  für  die 
klassische  Kunst  das  vollkommene  Ineinanderaufgehen  der  beiden  Elemente 
die  Grundlage  aller  Schönheit  gewesen  war.     Das  Prinzip  bleibt  das  gleiche, 

164 


III.  GESCHLOSSENE  FORM  UND  OFFENE  FORM 

wo  kubische  Werte  in  Frage  kommen.  Als  Bernini  in  St.  Peter  sein 
großes  Tabernakel  (mit  den  vier  gewundenen  Säulen)  aufzustellen  hatte,  war 
jedermann  sich  bewußt,  daß  die  Aufgabe  in  erster  Linie  eine  Proportions- 
aufgabe sei.  Bernini  erklärte  die  gelungene  Lösung  der  zufälligen  Eingebung 
(Caso)  zu  verdanken.  Damit  wollte  er  sagen,  daß  er  sich  nicht  auf  eine  Regel 
stützen  konnte,  man  ist  aber  versucht,  die  Äußerung  dahin  zu  ergänzen,  daß  es 
auch  die  Schönheit  der  als  zufällig  wirkenden  Form  war,  die  er  haben  wollte. 

Wenn  der  Barock  die  starre  Form  in  die  flüssige  umwandelt,  so  ist 
auch  das  ein  Motiv,  wo  er  sich  mit  der  späten  Gotik  trifft,  nur  daß  die 
Erweichung  weiter  getrieben  ist.  Es  wurde  schon  bemerkt,  wie  wenig  da- 
bei die  Absicht  waltet,  alle  Form  ins  Fließende  überzuführen:  Das  Reiz- 
volle ist  der  Übergang,  wie  sich  die  freie  Form  der  starren  entwindet.  Ein 
paar  vegetabilisch  freie  Konsolen  am  Kranzgesims  genügen  schon,  den  Glau- 
ben an  einen  allgemeineren  Willen  zum  Atektonischen  beim  Beschauer  zu 
erzeugen:  umgekehrt  ist  bei  den  vollendetsten  Beispielen  gelöster  Form  im 
Rokoko  der  Gegensatz  der  Außenarchitektur  durchaus  nötig,  um  die  Bin- 
nenräume mit  ihren  abgerundeten  Ecken  und  den  fast  unmerkbaren  Über- 
gängen von  Wand  in  Decke  richtig  wirken  zu  lassen. 

Freilich  wird  auch  bei  einer  solchen  Außenarchitektur  nicht  zu  verkennen 
sein,  daß  der  architektonische  Körper  seiner  ganzen  Art  nach  ein  anderer 
geworden  ist.  Die  Grenzen  der  einzelnen  Formgattungen  haben  sich  ver- 
wischt. Früher  scheidet  sich  die  Mauer  deutlich  von  dem,  was  nicht  Mauer 
ist,  jetzt  kann  es  geschehen,  daß  sich  die  Flucht  der  Quadern  unmittelbar 
in  ein  Portal  —  etwa  mit  viertelkreisförmigem  Grundriß  —  umsetzt.  Der 
Übergänge  von  den  dumpferen  und  gebundeneren  Formen  zu  den  freieren 
und  differenzierteren  sind  viele  und  schwer  faßbare.  Der  Stoff  scheint  ein 
lebendigerer  geworden  zu  sein  und  der  Gegensatz  der  eigentlichen  Formglieder 
kommt  nicht  mehr  mit  der  alten  Schärfe  zum  Ausdruck.  So  ist  es  mög- 
lich, daß  sich  —  in  Innenräumen  des  Rokoko  ein  Pilaster  zu  einem  bloßen 
Schatten,    zu  einem  bloßen  Hauch   auf  der  Fläche  der  Wand    verflüchtigt. 

Der  Barock  befreundet  sich  aber  auch  mit  der  rein  naturalistischen  Form. 
Nicht  um  ihrer  selbst  willen,  sondern  als  Gegensatz,  zu  dem  hinauf  oder 
aus  dem  heraus  sich  das  Tektonische  entwickelt.  Der  naturalistische  Stein 
ist  zugelassen.  Die  naturalistische  Draperie  findet  ausgedehnte  Verwendung. 
Und  ein  naturalistisches  Blumengehänge,  das  ganz  frei  über  die  Form  weg- 
geht, kann  —  in  letzten  Fällen  —  die  alte  Pilasterfüllung  mit  stilisiertem 
Pflanzenwerk  ersetzen. 

165 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Damit  ist  natürlich  allen  Anordnungen  mit  festgehaltener  Mitte  und  sym- 
metrischer Entwicklung  der   Stab  gebrochen. 

Es  ist  interessant,  auch  hier  die  analogen  Erscheinungen  der  Spätgotik 
zu  vergleichen  (naturalistisches  Astwerk  ;  unendliche,  in  sich  unbegrenzte 
Muster  als  Flächenfüllungen). 

Jedermann  weiß,  daß  das  Rokoko  durch  einen  neuen  Stil  der  strengen 
Tektonik  abgelöst  wurde.  Dabei  bestätigt  sich  der  innere  Zusammenhang 
der  Motive:  Die  Formen  der  geoffenbarten  Gesetzmäßigkeit  treten  vor,  die 
regelmäßige  Teilung  ersetzt  wieder  die  frei-rhythmische  Folge,  der  Stein 
wird  hart  und  der  Pilaster  bekommt  wieder  die  gliedernde  Kraft,  die  er 
seit  Bernini  verloren  hatte. 


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P.  Brueghel  d.  Ä. 


166 


iv.  Vielheit  und  Einheit 

(Vielheitliche  Einheit  und  einheitliche  Einheit) 

Malerei 

i. 
T""Nas  Prinzip    der   geschlossenen   Form    setzt    schon   die    Auffassung   des   Allgemeines 
-■— "  Bildwerkes  als  einer  Einheit  voraus.    Erst  wenn  die  Gesamtheit  der 
Formen  als  ein  Ganzes  gefühlt  ist,  kann  man  sich  dieses  Ganze  gesetzmäßig 
geordnet  denken,   gleichgültig,  ob  nun  eine  tektonische  Mitte  herausgebildet 
ist  oder  eine  freiere  Ordnung  waltet. 

Dieses  Gefühl  für  Einheit  entwickelt  sich  nur  allmählich.  Es  gibt  nicht 
einen  bestimmten  Moment  in  der  Kunstgeschichte,  wo  man  sagen  könnte: 
jetzt  ist  es  da;   auch  hier  muß  man  mit  lauter   relativen  Werten  rechnen. 

Ein  Kopf  ist  ein  Formganzes,  das  die  florentinischen  Quattrocentisten 
gewiß  ebenso  wie  die  alten  Niederländer  als  solches,  nämlich  als  Ganzes 
gefühlt  haben.  Wenn  man  aber  einen  Kopf  des  Raffael  oder  des  Quinten 
Massys  zur  Vergleichung  heranzieht,  so  fühlt  man  sich  einer  anderen  An- 
schauung gegenüber  und  sucht  man  den  Gegensatz  zu  fassen,  so  ist  es  im 
letzten  Grunde  doch  der  Gegensatz  eines  Sehens  im  einzelnen  und  eines 
Sehens  im  ganzen.  Nicht  daß  jenes  kümmerliche  Zusammenstellen  von 
Einzelheiten  gemeint  sein  könnte,  über  die  der  Lehrer  den  Malschüler  mit 
immer   erneuter  Korrektur    hinwegzubringen   versucht  derartige    Quali- 

tätsvergleiche fallen  hier  ganz  außer  Betracht,  allein  die  Tatsache  bleibt, 
daß  im  Vergleich  mit  den  Klassikern  des  16.  Jahrhunderts  diese  alten  Köpfe 
uns  immer  mehr  im  Detail  beschäftigen  und  ein  geringeres  Maß  von  Zu- 
sammenhang zu  besitzen  scheinen,  während  man  dort  von  jeder  Einzelform 
gleich  aufs  Ganze  gewiesen  wird.  Man  kann  nicht  das  Auge  sehen,  ohne 
die  größere  Form  der  Augenhöhle  wahrzunehmen,  wie  sie  zwischen  Stirn 
und  Nase  und  Backenknochen  eingebettet  ist,  und  der  Horizontalität  des 
Augenpaares  und  des  Mundes  antwortet  gleich  die  Vertikalität  der  Nase: 
es  ist  eine  Kraft  in  der  Form,  das  Sehen  aufzuwecken  und  zu  einer  ein- 
heitlichen Auffassung  des  Vielen  zu  zwingen,  der  sich  auch  ein  stumpfer 
Betrachter  kaum  entziehen  kann.  Er  wird  munter  und  fühlt  sich  plötzlich 
als  ein  anderer  Kerl. 

167 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Und  derselbe  Unterschied  waltet  zwischen  einer  Bildkomposition  des 
15.  und  des  16.  Jahrhunderts.  Dort  das  Zerstreute,  hier  das  Zusammen- 
gefaßte: dort  bald  die  Armut  des  Vereinzelten,  bald  die  Unentwirrbarkeit 
des  Allzuvielen,  hier  ein  gegliedertes  Ganzes,  wo  jeder  Teil  für  sich  spricht 
und  faßbar  ist  und  doch  sofort  in  seinem  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen, 
als  Glied  einer  Gesamtform   sich  zu  erkennen  gibt. 

Indem  wir  auf  diese  Dinge  hinweisen,  die  den  Unterschied  der  klassischen 
und  der  vorklassischen  Zeit  ausmachen,    gewinnen  wir  erst  die  Grundlage 
für  unser  eigentliches  Thema.    Allein  hier  macht  sich  nun  gleich  der  Mangel 
an  unterscheidenden  Worten  aufs  empfindlichste  geltend:  im  selben  Moment, 
wo  wir   die  Einheit   des  Komponierens   als   ein   wesentliches  Merkmal   der 
Cinquecentokunst  nennen,  müssen  wir  sagen,  daß  wir  gerade  das  Zeitalter 
Raffaels  als  eine  Epoche  der  Vielheit  der  späteren  Kunst  mit  ihrer  Tendenz 
nach  Einheit    gegenüberstellen  wollen.     Und   diesmal  ist  es  nicht  ein  Auf- 
steigen  von  der  ärmeren   zur   reicheren  Form,    sondern    es    sind   zwei   ver- 
schiedene Typen,  die,  jeder  für  sich,   ein  Letztes  darstellen.     Das  16.  Jahr- 
hundert wird  nicht  diskreditiert  durch  das   17.,    denn   hier   handelt  es  sich 
nicht  um  einen  Unterschied  der  Qualität,   sondern  um  etwas  generell  Neues. 
Ein  Kopf  des  Rubens  ist  nicht  besser    im  ganzen  gesehen  als  ein  Kopf 
von  Dürer  oder  von  Massys,   aber  die  selbständige  Ausbildung  der  einzelnen 
Teile  ist  aufgehoben,  die  hier  das  Formganze  doch  als  eine  (relative)  Viel- 
heit erscheinen  läßt.     Die  Seicentisten  visieren  auf  ein  bestimmtes  Haupt- 
motiv,   dem  sie  alles  andere  unterordnen.     Nicht   mehr   die    einzelnen  Ele- 
mente   des    Organismus,    wie    sie    sich    gegenseitig   bedingen   und    in    Har- 
monie halten,  werden  im  Bilde  wirksam,   sondern  aus  dem  in  einheitlichen 
Fluß  gebrachten  Ganzen  heben  sich  einzelne  Formen  als  die  unbedingt  füh- 
renden heraus,    so  aber,    daß   auch  diese   führenden  Formen   für  den  Blick 
nichts  Trennbares,  nichts  was  sich  absondern  ließe,  bedeuten. 

Im  vielfigurigen  Historienbild  läßt  sich  das  Verhältnis  vielleicht  am  sicher- 
sten klarmachen. 

Der  biblische  Bilderkreis  kennt  als  eines  seiner  reichsten  Motive  die  Kreuz- 
abnahme des  Herrn,  ein  Geschehen,  das  viele  Hände  in  Bewegung  setzt  und 
starke  psychologische  Kontraste  enthält.  Wir  besitzen  eine  klassische  Re- 
daktion des  Themas  in  dem  Bilde  des  Daniele  da  Volterra  in  Trinitä  dei 
Monti  in  Rom.  Hier  hat  man  immer  bewundert,  wie  die  Figuren  als  lauter 
selbständige  Stimmen  ausgebildet  sind  und  doch  so  ineinandergreifen,  daß 
jede  ihr  Gesetz  vom  Ganzen  aus  zu  empfangen  scheint.    Eben  das  ist  renais- 

168 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

sancemäßige  Fügung.  Wenn 
später  Rubens,  als  Wortfüh- 
rer des  Barock,  in  einem  Früh- 
werk denselben  Stoff  behan- 
delt, so  ist  das  erste,  wo- 
rin er  vom  klassischen  Typ 
abweicht :  das  Zusammen- 
schmelzen der  Figuren  zu 
einer  einheitlichen  Masse, 
aus  der  die  einzelne  Figur 
kaum  mehr  herausgelöst  wer- 
den kann.  Unterstützt  von 
Mitteln  der  Lichtführung, 
läßt  er  einen  mächtigen  Strom 
von  hoch  oben  her  schräg 
durch  das  Bild  gehen.  Bei 
dem  weißen  Leintuch,  das 
vom  Querbalken  herkommt, 
setzt  es  ein,  der  Körper 
Christi  liegt  in  derselben 
Bahn  unddieBewegungmün- 

det  in  der  Bucht  der  vielen  Gestalten,  die  sich  drängen,  den  Herabgleitenden  zu 
empfangen.  Nicht  mehr  wie  bei  Daniele  da  Volterra  die  zurücksinkende  Maria 
als  zweites  Interessezentrum  abgelöst  vom  Hauptvorgang  sie  steht  und  ist 
der  Masse  am  Kreuz  durchaus  eingebunden.  Will  man  die  Veränderung  der 
anderen  Figuren  mit  einem  allgemeinen  Wort  bezeichnen,  so  kann  man  nur 
sagen :  es  hat  jede  einen  Teil  ihrer  Selbständigkeit  zugunsten  der  Allgemeinheit 
geopfert.  Der  Barock  rechnet  grundsätzlich  nicht  mehr  mit  einer  Vielheit 
selbständiger  Teile,  die  harmonisch  zusammengreifen,  sondern  mit  einer  ab- 
soluten Einheit,  in  der  der  einzelne  Teil  sein  Sonderrecht  verloren  hat.  Da- 
bei akzentuiert  sich  aber  das  Hauptmotiv  mit  einer  bisher  unerhörten  Kraft. 
Man  darf  nicht  einwenden,  das  seien  weniger  Unterschiede  der  Entwick- 
lung, als  Unterschiede  des  nationalen  Geschmacks.  Gewiß  hat  Italien  eine 
Vorliebe  für  den  klaren  Einzelteil  immer  bewahrt,  aber  der  Unterschied 
behauptet  sich  auch  in  jeder  Vergleichung  des  italienischen  Seicento  mit 
dem  italienischen  Cinquecento,  oder  wenn  man  im  Norden  Rembrandt  und 
Dürer  zusammenstellt.    Obgleich  die  nordische  Phantasie,  im  Gegensatz  zu 

169 


Rembrandt 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Italien,  immer  mehr  auf  das  Ineinander  der  Glieder  ausgegangen  ist,  so 
wirkt  eine  Dürersche  Kreuzabnahme  eben  doch,  verglichen  mit  Rembrandt*, 
als  der  vollkommen  ausgeprägte  Gegensatz  einer  Komposition  mit  selb- 
ständigen Figuren  gegenüber  einer  Komposition  mit  unselbständigen  Figuren. 
Rembrandt  reißt  die  Geschichte  zusammen  auf  das  Motiv  von  zwei  Lich- 
tern, ein  starkes,  steiles  oben  links  und  ein  schwächeres,  liegendes  unten 
rechts.  Damit  ist  schon  alles  Wesentliche  angedeutet:  der  nur  in  Teilstücken 
sichtbare  Leichnam  wird  herabgelassen  und  soll  ausgebreitet  werden  auf 
dem  am  Boden  liegenden  Bahrtuch.  Das  ,, Herab"  der  Kreuzabnahme  ist 
auf  einen  kürzesten  Ausdruck  gebracht. 

Es  stehen  sich  also  gegenüber  die  vielheitliche  Einheit  des  16.  Jahrhunderts 
und  die  einheitliche  Einheit  des  17.  Jahrhunderts,  mit  anderen  Worten: 
das  gegliederte  Formensystem  der  Klassik  und  der  (unendliche)  Fluß  des 
Barock.  Und  wie  aus  den  vorigen  Beispielen  ersichtlich  ist,  spielen  bei 
dieser  barocken  Einheit  zwei  Dinge  zusammen:  die  Auflösung  der  selb- 
ständigen Funktion  der  Einzelformen  und  die  Herausbildung  eines  domi- 
nierenden Gesamtmotivs.  Das  kann  mit  mehr  plastischen  Werten  geschehen 
wie  bei  Rubens  oder  mit  mehr  malerischen  wie  bei  Rembrandt.  Das  Bei- 
spiel der  Kreuzabnahme  ist  auch  nur  für  einen  Einzelfall  bezeichnend,  die 
Einheit  erscheint  unter  vielen  Formen.  Es  gibt  eine  Einheit  der  Farbe 
wie  der  Lichtführung  und  eine  Einheit  der  figürlichen  Komposition  wie 
der  Formauffassung  bei  einem  einzelnen  Kopf  oder  Körper. 

Das  ist  das  Interessanteste:  Das  dekorative  Schema  wird  zu  einer  Form 
der  Naturauffassung.  Nicht  nur  daß  die  Bilder  des  Rembrandt  nach  einem 
anderen  System  gebaut  sind  als  die  Bilder  Dürers,  die  Dinge  sind  anders 
gesehen.  Vielheit  und  Einheit  sind  gleichsam  Gefäße,  in  denen  der  Inhalt 
der  Wirklichkeit  aufgefangen  wird  und  Gestalt  annimmt.  Nicht  so  ist  das 
zu  verstehen,  daß  eine  beliebige  dekorative  Formel  der  Welt  über  den  Kopf 
gestülpt  würde:  der  Stoff  spricht  schon  mit.  Man  sieht  nicht  nur  anders, 
sondern  man  sieht  eben  auch  anderes.  Aber  alle  sog.  Naturnachahmung 
hat  nur  dann  eine  künstlerische  Bedeutung,  wenn  sie  von  dekorativen  In- 
stinkten eingegeben  ist  und  wieder  dekorative  Werte  erzeugt.  Daß  der 
Begriff  einer  vielheitlichen  und  einer  einheitlichen  Schönheit  auch  losgelöst 
von  allem  imitativen  Inhalt   existiert,  beweist  die  Architektur. 

Die  zwei  Typen  stehen  als  selbständige  Werte  nebeneinander  und  es  geht 
nicht  an,  die  spätere  Form  nur  als  graduelle  Steigerung  der  ersten  aufzu- 
fassen.    Selbstverständlich  war  der  Barock  überzeugt,  daß  er  erst  die  Wahr- 

170 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

heit  gefunden  habe  und  die  Renaissance  nur  eine  Vorform  bedeute,  aber 
der  Historiker  wird  anders  urteilen.  Die  Natur  läßt  sich  auf  mehr  als 
eine  Art  interpretieren.  Und  darum  hat  es  geschehen  können,  daß  gerade 
im  Namen  der  Natur  die  barocke  Formel  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
verdrängt  und  wieder  durch  die  klassische  ersetzt  wurde. 


Von   dem  Verhältnis   der  Teile   zum   Ganzen   ist  also    in  diesem  Kapitel  Die  Haupt- 
die  Rede.    Daß  der  klassische  Stil  seine  Einheit  gewinnt,  indem  er  die  Teile 
zu    freien  Gliedern    verselbständigt,    und  daß    der    barocke   Stil    die  gleich- 
mäßige Selbständigkeit   der  Teile   zugunsten   eines   mehr    einheitlichen  Ge- 
samtmotivs aufhebt.     Dort  Koordination  der  Akzente,  hier  Subordination. 

Alle  bisherigen  Kategorien  haben  diese  Einheit  vorbereitet.  Das  Malerische 
ist  die  Erlösung  der  Formen  aus  ihrer  Isoliertheit,  das  Prinzip  des  Tiefen- 
haften ist  kein  anderes  als  die  Folge  getrennter  Schichten  durch  einen  ein- 
heitlichen Tiefenzug  zu  ersetzen,  und  der  atektonische  Geschmack  löst  das 
starre  Gefüge  geometrischer  Verhältnisse  ins  Fließende  auf.  Es  läßt  sich 
nicht  vermeiden,  stellenweise  schon  Bekanntes  wieder  zu  sagen,  der  wesent- 
liche Gesichtspunkt  der  Betrachtung  bleibt  doch  ein  neuer. 

Es  geschieht  nicht  von  selber  und  von  Anfang  an,  daß  die  Teile  als 
freie  Glieder  eines  Organismus  funktionieren.  Bei  den  Primitiven  ist  der 
Eindruck  dadurch  unterbunden,  daß  die  Teilform  entweder  zu  zerstreut 
bleibt  oder  wirr  und  ungeklärt  erscheint.  Erst  wo  das  Einzelne  als  not- 
wendiger Teil  des  Ganzen  wirkt,  spricht  man  von  organischer  Fügung  und 
erst  da,  wo  das  Einzelne,  eingebunden  in  das  Ganze,  doch  als  unabhängig 
funktionierendes  Glied  empfunden  wird,  hat  der  Begriff  von  Freiheit  und 
Selbständigkeit  einen  Sinn.  Das  ist  das  klassische  Formsystem  des  1 6.  Jahr- 
hunderts und  es  bedingt,  wie  gesagt,  keinen  Unterschied,  ob  wir  unter 
dem  Ganzen  einen  einzelnen  Kopf  verstehen  oder  eine  vielfigurige  Historie. 

Der  Dürersche  Holzschnitt  des  Todes  der  Maria*  (1510)  läßt  dadurch 
alles  ältere  hinter  sich,  daß  die  Teile  ein  System  bilden,  wo  jeder  an  seiner 
Stelle  vom  Ganzen  bedingt  erscheint  und  dabei  doch  vollkommen  selbstän- 
dig wirkt.  Das  Bild  ist  ein  vorzügliches  Beispiel  tektonischer  Komposi- 
tion —  alles  ist  auf  klarsprechende,  geometrische  Kontraste  gebracht  — , 
aber  daneben  will  dieses  Verhältnis  der  (relativen)  Koordination  selbstän- 
diger Werke  immer  auch  als  etwas  Neues  begriffen  sein.  Wir  nennen  es 
das  Prinzip  der  vielheitlichen  Einheit. 

171 


Rembrandt 


I72 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Der  Barock  würde  die 
Begegnung  reiner  Hori- 
zontalen und  Vertikalen 
vermieden  oder  unschein- 
bar gemacht  haben,  man 
hätte  nicht  mehr  den  Ein- 
druck eines  geglieder- 
ten Ganzen:  die  Teilfor- 
men, sei  es  der  Betthim- 
mel oder  eine  der  Apostel- 
figuren, wären  in  eine 
das  Bild  beherrschende 
Gesamtbewegung  einge- 
schmolzen worden.  Will 
man  an  das  Beispiel  von 
RembrandtsRadierung  des 
Marientodes*  sich  erinnern, 
so  wird  man  auch  verstehn, 
wie  sehr  hier  die  empor- 
dampfenden Wolken  dem 
Barock  ein  willkommenes 
Motiv  gewesen  sind.  Das 
Spiel  der  Gegensätze  hört 
nicht  auf,  aber  es  hält  sich  mehr  versteckt.  Das  offene  Nebeneinander  und  das 
klare  Gegenüber  sind  ersetzt  durch  ein  Ineinander.  Die  reinen  Kontraste  wer- 
den gebrochen.  Das  Begrenzte  und  Isolierbare  verschwindet.  Von  Form  zu 
Form  schlagen  sich  Stege  und  Brücken,  auf  denen  die  Bewegung  ununter- 
brochen forteilt.  Aus  solchem  barock-einheitlichen  Strom  hebt  sich  dann 
aber  da  und  dort  ein  Motiv  heraus  mit  so  starkem  Akzent,  daß  es  die 
Blicke  auf  sich  sammelt  wie  die  Linse  die  Lichtstrahlen.  Es  sind  in  der 
Zeichnung  jene  Stellen  sprechendster  Form,  die  analog  der  Zuspitzung  in 
Licht  und  Farbe,  von  der  wir  gleich  sprechen  werden,  barocke  Kunst  von 
klassischer  Kunst  grundsätzlich  trennen.  Dort  die  gleichmäßige  Betonung, 
hier  der  eine  Haupteffekt.  Es  sind  nicht  einzelne  Stücke,  die  man  heraus- 
brechen könnte,  diese  höchst-akzentuierten  Motive,  sondern  nur  letzte  Hebun- 
gen einer  allgemeinen  Bewegung. 

Für  die  einheitliche  Bewegung  bei  mehr  figuralem  Charakter  liefert  Rubens 

173 


Dürer 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

die  typischen  Beispiele.  Überall  die  Umsetzung  des  vielheitlichen  und  son- 
dernden Stils  in  das  Zusammengefaßte  und  Fließende  mit  Unterdrückung 
selbständiger  Einzelwerte.  Die  Himmelfahrt  der  Maria*  ist  nicht  nur  darum 
ein  barockes  Stück,  weil  das  klassische  System  Tizians  —  die  Hauptfigur 
als  Vertikale  der  Horizontalform  der  Apostelversammlung  entgegengesetzt 
im  Sinn  einer  durchgehenden  Diagonalbewegung  umredigiert  worden  ist, 
sondern  weil  man  die  Teile  nicht  mehr  isolieren  kann.  Der  Licht-  und  Engel- 
kreis, der  die  Tiziansche  Assunta  zentral  füllt,  klingt  bei  Rubens  noch  nach, 
allein  erst  im  Zusammenhang  des  Ganzen  bekommt  er  einen  ästhetischen 
Sinn.  So  wenig  es  zu  loben  ist,  wenn  die  Kopisten  die  Mittelfigur  Tizians 
für  sich  allein  auf  den  Markt  bringen,  eine  gewisse  Möglichkeit  dazu  ist 
immerhin  vorhanden:  bei  Rubens  verfiele  kein  Mensch  auf  einen  derartigen 
Gedanken.  Im  Bilde  Tizians  halten  die  Apostelmotive  rechts  und  links  sich 
gegenseitig  im  Gleichge- 


wicht: der  Emporschau- 
ende und  der  mit  den 
Armen  Emporstrebende, 
bei  Rubens  spricht  nur 
noch  eine  Seite,  die  an- 
dere ist  inhaltlich  bis  zur 
Gleichgültigkeit  entwer- 
tet, eine  Dämpfung,  die 
den  einseitig  rechts  sitz- 
enden Akzent  natürlich 
um  so  intensiver  wirken 
macht. 

Ein  zweiter  Fall :  Die 
Kreuztragung  des  Ru- 
bens*, die  wir  schon  früher 
mit  dem  Raffaelschen 
Spasimo  zusammenge- 
stellt haben.  Beispiel  der 
Umsetzung  vom  Flächen- 
haften ins  Tiefenhafte, 
ja;  aber  ebensogut  Bei- 
spiel der  Umsetzung  der 
gegliederten    Vielheit   in 


Rubens 


J74 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

die  ungegliederte  Einheit.  Dort  der  Scherge,  Christus  und  Simon,  die  Frauen 
—  drei  einzelne,  gleichmäßig  betonte  Motive;  hier  stofflich  dasselbe,  aber 
die  Motive  ineinandergeknetet  und  Vorderes  und  Rückwärtiges  in  einheit- 
lichen Bewegungszug  übergeführt,  ohne  Zäsur.  Baum  und  Berg  arbeiten  mit 
den  Figuren  zusammen  und  der  Lichtgang  vollendet  die  Wirkung.  Alles 
ist  eins.  Aus  dem  Strom  aber  hebt  sich  die  Woge  da  und  dort  in  über- 
ragender Stärke  empor.  An  der  Stelle,  wo  der  herkulische  Scherge  die 
Schulter  unter  das  Kreuz  stemmt,  ist  so  viel  Kraft  konzentriert,  daß  das 
Gleichgewicht  des  Bildes  bedroht  erscheinen  könnte  nicht  der  Mann  als 
Einzelmotiv,  sondern  der  ganze  Komplex  von  Form  und  Licht  bedingt  den 
Eindruck  — ,  das  sind  die  typischen  Knoten  des  neuen  Stils. 

Um  einheitliche  Bewegung  zu  geben,  ist  es  nun  freilich  nicht  nötig,  daß 
die  Kunst  über  die  plastischen  Mittel  verfüge,  wie  sie  diese  Rubensschen 
Kompositionen  enthalten.  Sie  braucht  keinen  Zug  von  Menschen,  die  sich 
bewegen,  die  Einheit  kann  erzwungen  werden  durch  die  bloße  Lichtführung. 

Auch  das  16.  Jahrhundert  hat  schon  zwischen  Hauptlichtern  und  Neben- 
lichtern unterschieden,  aber  —  wir  berufen  uns  auf  den  Eindruck  eines 
Schwarzweiß-Blattes,  wie  den  Dürerschen  Marientod  es  ist  doch  immer 
ein  gleichmäßiges  Gewebe,  das  die  der  plastischen  Form  anhaftenden  Lichter 
bilden.  Bilder  des  17.  Jahrhunderts  dagegen  werfen  ihr  Licht  gern  auf 
einen  Punkt  oder  sammeln  es  wenigstens  in  ein  paar  Stellen  höchster 
Helligkeit,  die  dann  unter  sich  zu  einer  leicht  faßbaren  Konfiguration  zu- 
sammentreten. Damit  ist  aber  erst  die  Hälfte  gesagt.  Das  höchste  Licht 
oder  die  höchsten  Lichter  des  Barock  erwachsen  aus  einer  allgemeinen  Ver- 
einheitlichung der  Lichtbewegung.  Ganz  anders  als  vorher  fluten  die  Hel- 
ligkeiten und  Dunkelheiten  in  gemeinsamer  Strömung  dahin  und  wo  sich 
das  Licht  zu  einer  letzten  Höhe  hebt,  da  wächst  es  eben  aus  der  großen 
Gesamtbewegung  empor.  Jene  Konzentration  auf  einzelne  Punkte  ist  nur 
eine  abgeleitete  Erscheinung  aus  der  primären  Tendenz  zur  Einheit,  der 
gegenüber  die  Lichtführung  der  Klassik  immer  als  eine  vielheitliche  und 
sondernde  empfunden  wird. 

Es  muß  recht  eigentlich  ein  barockes  Thema  sein,  wenn  im  geschlossenen 
Raum  das  Licht  nur  aus  einer  Quelle  fließt.  Die  Malerwerkstatt  Ostades, 
die  wir  (S.  53)  schon  brachten,  gibt  dafür  ein  anschauliches  Beispiel.  Im- 
merhin hängt  der  barocke  Charakter  nicht  am  Stoff  allein,  aus  einer  ähn- 
lichen Situation  hat  Dürer  in  seinem  Hieronymusstich  bekanntlich  ganz 
andere  Konsequenzen  gezogen.    Wir  wollen  aber  von  solchen  Spezialfällen 

175 


Rembrandt 
absehen   und   ein    Blatt   von   weniger    zugespitztem  Lichtcharakter   unserer 
Analyse    zugrunde    legen.     Nehmen   wir    Rembrandts    Radierung   mit   dem 
lehrenden  Christus*. 

Die  eindrücklichste  optische  Tatsache  ist  hier  wohl  die,  daß  eine  große 
Masse  zusammengeballten  höchsten  Lichtes  an  der  Mauer  zu  Füßen  Christi 
vorhanden  ist.  Diese  dominierende  Helligkeit  steht  in  unmittelbarster  Ver- 
bindung mit  den  andern  Helligkeiten,  sie  läßt  sich  nicht  als  etwas  einzelnes 
herauslösen,  wie  man  das  bei  Dürer  tun  kann,  sie  deckt  sich  auch  nicht 
mit  einer  plastischen  Form,  im  Gegenteil,  das  Licht  läuft  über  die  Form 
weg,  es  spielt  mit  den  Dingen.  Alles  Tektonische  verliert  dadurch  das  Augen- 
fällige und  die  Figuren  auf  der  Bühne  werden  in  der  merkwürdigsten  Weise 
auseinandergerissen  und  wieder  zusammengefaßt,  als  ob  nicht  sie,  sondern 
das  Licht  das  eigentlich  Reale  im  Bilde  sei.  Eine  diagonale  Lichtbewegung 
geht  von  vorn  links  über  die  Mitte  durch  den  Torbogen  in  die  Tiefe,  allein 
was  bedeutet  diese  Feststellung  gegenüber  dem  unfaßbaren  Zucken  von  Hell 
und  Dunkel  durch  den  ganzen  Raum  hin,  jenem  Lichtrhythmus,  mit  dem 
Rembrandt  wie  kein  anderer  seinen  Szenen  ein  zwingendes  einheitliches 
Leben  gibt. 

Selbstverständlich  wirken  hier  noch  andere  Faktoren  im  Sinne  der  Ver- 
einheitlichung,   wir  übergehen,    was   nicht   zur   Sache    gehört.    Ein   wesent- 

176 


IV.. VIELHEIT  UND  EINHEIT 

licher  Grund,  warum  die  Geschichte  mit  so  bedeutendem  Nachdruck  sich 
vorträgt,  liegt  darin,  daß  der  Stil  auch  das  Deutliche  und  das  Undeutliche 
in  den  Dienst  der  Wirkungssteigerung  stellt,  daß  er  nicht  überall  gleich- 
mäßig klar  spricht,  sondern  Stellen  sprechendster  Form  aus  einem  Grunde 
von  stummer  oder  weniger  sprechender  Form  hervorgehen  läßt.  Wir  kom- 
men darauf  zurück. 

Die  Entwicklung  der  Farbe  bietet  das  analoge  Schauspiel.  An  Stelle  des 
„bunten"  Kolorits  der  Primitiven  mit  ihrem  Nebeneinander  von  Farben  ohne 
systematischen  Zusammenhang,  tritt  im  16.  Jahrhundert  die  Auswahl  und 
die  Einheit,  das  heißt  eine  Harmonie,  wo  sich  die  Farben  gegenseitig  in 
reinen  Kontrasten  balancieren.  Das  System  kommt  klar  heraus.  Jede  Farbe 
hat  eine  Rolle  in  bezug  auf  das  Ganze.  Man  spürt,  wie  sie  als  ein  unent- 
behrlicher Pfeiler  den  Bau  trägt  und  zusammenhält.  Das  Prinzip  mag  mit 
größerer  oder  geringerer  Folgerichtigkeit  ausgebildet  sein,  jedenfalls  scheidet 
sich  die  klassische  Epoche  als  eine  Epoche  des  grundsätzlich  vielheitlichen 
Kolorits  sehr  bestimmt  von  den  auf  tonige  Bindung  gerichteten  Absichten 
der  Folgezeit.  Wo  immer  wir  in  einer  Galerie  vom  Saal  der  Cinquecentisten 
zu  den  Barockmalern  hinübertreten,  da  ist  die  Überraschung  die:  daß  das 
klare  offene  Nebeneinander  aufhört  und  die  Farben  in  einem  gemeinsamen 
Grunde  zu  ruhen  scheinen,  in  dem  sie  manchmal  versinken  bis  zu  fast  völ- 
liger Monochromie,  in  dem  sie  aber  auch,  wenn  sie  kräftig  herauskommen, 
auf  geheimnisvolle  Art  verankert  bleiben.  Man  mag  schon  im  16.  Jahr- 
hundert einzelne  Maler  als  Meister  des  Tons  bezeichnen  und  einzelnen 
Schulen  schon  damals  eine  tonige  Haltung  allgemein  zusprechen,  das  hin- 
dert nicht,  daß  auch  in  solchen  Fällen  das  „malerische"  Jahrhundert  eine 
Steigerung  bringt,   die  durch  ein  eigenes  Wort  unterschieden  bleiben  müßte. 

Die  tonige  Monochromie  ist  nur  eine  Übergangsform,  man  lernt  sehr  bald 
tonig  und  farbig  zugleich  sein  und  dabei  einzelne  Farben  zu  einer  Wirkung 
steigern,  daß  sie  analog  den  höchsten  Lichtern  als  Stellen  stärkster  Farbig- 
keit die  ganze  Physiognomie  der  Bilder  im  17.  Jahrhundert  grundsätzlich 
neu  gestalten.  Statt  der  gleichmäßig  verteilten  Farbe  haben  wir  jetzt  die 
einzelne  Farbenpointe,  einen  farbigen  Zweiklang  —  es  kann  auch  ein  Drei- 
und  Vierklang  sein  — ,  der  das  Bild  unbedingt  beherrscht.  Das  Bild  ist 
jetzt,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  auf  einen  bestimmten  Ton  gestimmt.  Da- 
mit verbindet  sich  ein  partielles  Verneinen  der  Farbigkeit.  Wie  die  Zeich- 
nung auf  das  gleichmäßig  Deutliche  verzichtet,  so  liegt  es  im  Interesse  der 
koloristischen  Wirkungskonzentration,   die   reine  Farbe  aus  der  Dumpfheit 

12  H.W.,  G.  2.  A.  177 


Dirk  Vellert 


der  Halb-  oder  Nicht-Farbe  hervorgehen  zu  lassen.  Nicht  als  etwas  Ein- 
maliges oder  Isolierbares  bricht  sie  hervor,  sondern  von  weit  her  vorbereitet. 
Die  Koloristen  des  17.  Jahrhunderts  haben  dieses  „Werden"  der  Farbe  ver- 
schieden behandelt,  immer  aber  ist  das  der  Unterschied  zum  klassischen 
System  der  farbigen  Komposition,  daß  dort  gewissermaßen  mit  fertigen 
Stücken  gebaut  wird,  während  jetzt  die  Farbe  kommt  und  geht  und  wieder 
kommt,  dort  stärker,  hier  leiser,  das  Ganze  nicht  zu  fassen  ohne  die  Vor- 
stellung einer  durchgehenden  einheitlichen  Bewegung.  In  diesem  Sinne  sagt 
das  Vorwort  des  großen  Berliner  Gemäldekatalogs,  die  Art  der  Farbbe- 
schreibung habe  sich  dem  Gang  der  Entwicklung  anzupassen  versucht : 
„Von  der  ins  einzelne  gehenden  Angabe  der  Farben  ist  allmählich  zu  einer 
auf  die  Gesamtheit  des  koloristischen  Eindrucks  gerichteten  Darstellung 
übergegangen  worden." 

Aber  auch  das  liegt  in  der  Konsequenz  barocker  Einheit,  daß  eine  Farbe 
jetzt  als  einsamer  Akzent  vorgetragen  werden  kann.  Das  klassische  System 
kennt  nicht  die  Möglichkeit,  ein  einzelnes  Rot  in  die  Szene  zu  werfen  wie 
Rembrandt  auf  seinem  Susannenbild  in  Berlin  es  tut.  Das  antwortende 
Grün  fehlt  nicht  ganz,  aber  es  wirkt  nur  gedämpft  aus  der  Tiefe  heraus. 
Es  ist  nicht  mehr  auf  Koordination  und  Gleichgewicht  abgesehen,  die  Farbe 

178 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

soll  einsam  wirken.  Man  hat  die  Parallele  in  der  Zeichnung:  auch  für  den 
Reiz  der  einsamen  Form  —  ein  Baum,  ein  Turm,  ein  Mensch  —  hat  erst 
der  Barock  Platz  gemacht. 

Und  so  kommen  wir  von  der  Einzelbetrachtung  wieder  auf  das  Allge- 
meine zurück.  Die  Theorie  der  wechselnden  Akzente,  wie  wir  sie  hier  ent- 
wickelt haben,  wäre  nicht  denkbar,  ohne  daß  die  Kunst  auch  nach  der  in- 
haltlichen Seite  die  gleichen  Unterschiede  der  Typen  aufwiese.  Es  kenn- 
zeichnet die  vielheitliche  Einheit  des  16.  Jahrhunderts,  daß  die  einzelnen 
Dinge  im  Bild  als  relativ  gleiche  Sachwerte  empfunden  worden  sind.  Die 
Erzählung  scheidet  wohl  zwischen  Haupt-  und  Nebenfiguren,  man  sieht 
—  im  Gegensatz  zur  Erzählung  der  Primitiven  - —  sehr  klar  und  auf  alle 
Weite,  wo  der  Kern  des  Geschehnisses  liegt,  aber  was  so  entstanden  ist, 
sind  eben  doch  Gebilde  von  jener  bedingten  Einheit,  die  dem  Barock  als 
Vielheit  erschienen.  Die  Nebenfiguren  haben  doch  alle  noch  eine  eigene 
Existenz.  Der  Betrachter  wird  über  dem  Einzelnen  das  Ganze  nicht  ver- 
gessen, aber  das  Einzelne  kann  für  sich  gesehen  werden.  An  der  Zeich- 
nung des  DirkVellert*  (1524),  wie  der  kleine  Saul  zum  Hohepriester  kommt, 
läßt  sich  das  gut  demonstrieren.  Der  das  gemacht  hat,  ist  nicht  einer  von 
den  führenden  Geistern  im  16.  Jahrhundert  gewesen,  aber  auch  keiner  von 
den  Zurückgebliebenen.  Im  Gegenteil,  das  durch  und  durch  Gegliederte 
der  Darstellung  ist  rein  klassischer  Stil.  So  viel  Figuren  aber,  so  viel 
Aufmerksamkeitszentren.  Das  Hauptmotiv  wohl  herausgehoben,  aber  doch 
nicht  so,  daß  den  Nebenpersonen  nicht  Platz  bliebe,  an  ihrer  Stelle  ein 
eigenes  Leben  zu  führen.  Auch  das  Architektonische  so  behandelt,  daß 
es  ein  Interesse  für  sich  in  Anspruch  nehmen  muß.  Es  ist  immer  noch 
klassische  Kunst  und  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  zerstreuten  Vielerlei 
der  Primitiven,  alles  hat  seine  deutliche  Beziehung  zum  Ganzen,  aber  wie 
anders  würde  ein  Regisseur  des  17.  Jahrhunderts  die  Szene  auf  das  Un- 
mittelbar-Packende zusammengestrichen  haben!  Wir  sprechen  nicht  von 
Qualitätsunterschieden,  aber  auch  die  Fassung  des  Hauptmotivs  entbehrt 
für  den  modernen  Geschmack  des  Charakters  von  wirklichem  Geschehen. 

Das  16.  Jahrhundert,  auch  wo  es  ganz  einheitlich  ist,  gibt  die  Situation 
breit,  das  17.  Jahrhundert  auf  das  Momentane  verengt.  Erst  dadurch  aber 
bekommt  die  historische  Darstellung  das  Eigentlich-Sprechende.  Beim  Bild- 
nis erleben  wir  das  gleiche.  Für  Holbein  ist  der  Rock  so  viel  wert  wie 
der  Mann.  Die  psychische  Situation  ist  nicht  zeitlos,  aber  auch  nicht  als 
Fixierung  eines  Momentes  des  freifließenden  Lebens  zu  verstehn. 

12*  179 


Jetrachtung 
ach  Stoffen 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Die  klassische  Kunst  kennt  nicht 
den  Begriff  des  Momentanen,  nicht 
die  Pointierung,  Zuspitzung  im  all- 
gemeinsten Sinn;  sie  hat  einen  ver- 
weilenden, breiten  Charakter.  Und 
obwohl  sie  durchaus  vom  Ganzen 
ausgeht,  rechnet  sie  doch  nicht  mit 
dem  Eindruck  des  ersten  Augen- 
blicks. Nach  beiden  Seiten  hat  sich 
für  den  Barock  die  Auffassung  ver- 
schoben. 

orten  läßt  sich 

iL  ^  ^^  jf  1  klar  machen,  wieso   bei  einem  fest- 

R  ^   *^j,      iE  gegebenen  Ganzen  wie  einem  Kopf 

^^^^^  ^^^^       >5äP    ^K^  die   Auffassung   das    eine  Mal  viel- 

Holbein   (Ausschnitt)  .....       n  ,         __   ,     .    ,     .  ..    , 

heithch,  das  andere  Mal  einheitlich 

sein  kann.  Schließlich  bleiben  die  Formen  sich  selbst  gleich  und  die  Ver- 
bindung ist  ja  schon  im  klassi- 
schen Typ  eine  einheitlich  zu- 
sammennehmende. Aber  jede 
Vergleichung  wird  doch  fühlbar 
machen,  wie  bei  Holbein*  die 
Formen  als  selbständige  und 
relativ  koordinierteWerteneben- 
einander  stehen,  während  bei 
Frans  Hals  oder  Velasquez*  ge- 
wisse Formgruppen  die  Füh- 
rung übernehmen,  das  Ganze 
einem  bestimmten  Bewegungs- 
oder Ausdrucksmotiv  unterstellt 
ist  und  in  diesem  Zusammen- 
hang die  Teilstücke  nicht  mehr 
eine  eigene  Existenz  im  alten 
Sinne  behaupten  können.  Es 
ist  nicht  nur  das  malerisch 
verbindende    Sehen     im    Unter-      Velasquez 


:8o 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

schied  zur  linearen  Umgrenzung  des  einzelnen  Teils:  dort  sperren  sich 
die  Formen  gewissermaßen  gegeneinander  und  sind  durch  Betonung  der 
immanenten  Gegensätze  auf  ein  Maximum  selbständiger  Wirkung  ge- 
bracht, während  hier  mit  der  Dämpfung  der  tektonischen  Werte  auch  die 
einzelne  Form  an  Selbständigkeit  und  Eigenbedeutung  verloren  hat.  Aber 
auch  damit  ist  nicht  alles  gesagt.  Was  immer  für  Mittel  aufgeboten  seien, 
der  Bedeutungsakzent  der  einzelnen  Teile  innerhalb  des  Ganzen  will  erfaßt 
sein,  wie  stark  die  Form  einer  Wange  zum  Beispiel  neben  Nase  und  Auge 
und  Mund  zur  Geltung  kommt.  Neben  dem  einen  Typus  relativ  reiner 
Koordination  gibt  es  unendlich  viele  Modalitäten  von  Subordination. 

Es  kann  zur  Klärung  beitragen,  wenn  man  sich  die  Zurüstung  eines 
Kopfes  nach  Haartracht  und  Kopfbedeckung  vergegenwärtigt,  wo  die  Be- 
griffe von  Vielheit  und  Einheit  eine  dekorative  Geltung  erhalten.  Wir  hät- 
ten schon  im  vorigen  Kapitel  davon  sprechen  können.  Die  Verbindung  mit 
Tektonik  und  Atektonik  ist  eine  ganz  nahe.  Erst  das  klassische  16.  Jahr- 
hundert bringt  in  flachen  Hüten  und  Mützen,  die  die  Breitform  der  Stirn 
aufnehmen,  den  gefühlten  Gegensatz  zur  Hochform  des  Gesichts  und  im 
schlichten  Fall  der  Haare  wird  aller  Horizontalität  im  Kopf  ein  kontrastie- 
render Rahmen  geschaffen.  Die  Tracht  des  17.  Jahrhunderts  hat  dieses 
System  nicht  annehmen  können.  So  stark  die  Mode  wechselt,  es  läßt  sich 
doch  in  allen  Varianten  des  Barock  ein  durchgehender  Zug  nach  der  ein- 
heitlichem Bewegung  feststellen.  Nicht  nur  in  den  Richtungen,  auch  in 
der  Flächenbehandlung  ist  es  weniger  auf  Scheidung  und  Gegensatz  als 
auf  Verbindung  und  Einheit  abgesehen. 

Noch  deutlicher  wird  das  in  der  Darstellung  des  Gesamtkörpers.  Hier 
handelt  es  sich  um  Formen,  die  in  frei  beweglichen  Gelenken  hängen  und 
darum  haben  die  Möglichkeiten  geballter  oder  freier  Wirkung  einen  großen 
Spielraum.  Ein  Inbegriff  renaissancemäßiger  Schönheit  ist  Tizians  liegende 
Bella*,  die  den  Typus  des  Giorgione  aufgenommen  hat.  Lauter  klar  begrenzte 
Einzelglieder  zu  einer  Harmonie  gefügt,  in  der  der  einzelne  Ton  als  solcher 
vollkommen  deutlich  weiterklingt.  Jedes  Gelenk  kommt  rein  zum  Aus- 
druck und  jeder  Abschnitt  zwischen  den  Gelenken  ist  eine  Form,  die  in 
sich  geschlossen  wirkt.  Wer  wollte  hier  von  Fortschritten  in  der  anato- 
mischen Wahrheit  sprechen!  Aller  naturalistisch-stoffliche  Inhalt  tritt  zu- 
rück gegenüber  der  Vorstellung  einer  bestimmten  Schönheit,  die  die  Auf- 
fassung geleitet  hat.  Wenn  irgendwo,  sind  bei  diesem  Zusammenklingen 
schöner  Formen  musikalische  Gleichnisse  am  Platz. 

181 


Tizian 

Der  Barock  hat  ein  anderes  Ziel.  Er  sucht  nicht  die  gegliederte  Schön- 
heit, die  Gelenke  werden  dumpfer  empfunden,  die  Anschauung  verlangt 
nach  dem  Schauspiel  der  Bewegung.  Es  braucht  nicht  der  italienisch-pathe- 
tische Schwung  des  Leibes  zu  sein,  an  dem  sich  der  junge  Rubens  begei- 
stert hat,  auch  Velasquez,  der  mit  dem  italienischen  Barocco  nichts  zu  tun 
haben  will,  hat  diese  Bewegung.  Wie  anders  ist  das  Grundgefühl  in  seiner 
liegenden  Venus*  als  bei  Tizian.  Ein  Körper,  der  noch  feiner  gebaut  ist, 
aber  die  Wirkung  nicht  abgestellt  auf  das  Nebeneinander  getrennter  Form, 
vielmehr  das  Ganze  zusammengenommen,  einem  führenden  Motiv  unter- 
worfen und  die  gleichmäßige  Betonung  der  Glieder  als  Sonderteile  preis- 
gegeben. Man  kann  das  Verhältnis  auch  anders  ausdrücken:  es  sei  der 
Akzent  auf  einzelne  Stellen  gesammelt  worden,  die  Form  sei  auf  einzelne 
Pointen  gebracht  worden  -  es  sagt  jeder  Ausdruck  dasselbe.  Voraussetzung 
aber  bleibt,  daß  von  vornherein  das  System  des  Körpers  anders,  das  heißt 
weniger  ,, systematisch"  empfunden  worden  ist.  Für  die  Schönheit  des  klassi- 
schen Stiles  ist  die  gleichmäßig  klare  Sichtbarkeit  aller  Teile  selbstverständ- 
lich, der  Barock  kann  darauf  verzichten,  wie  das  Beispiel  des  Velasquez  zeigt. 

Das  sind  nicht  Unterschiede  des  Himmels  und  der  Nation.  Wie  Tizian 
hat  Raffael  und  Dürer  den  Körper  dargestellt  und  mit  Velasquez  gehen 
Rubens   und  Rembrandt  zusammen.      Selbst   da,    wo  Rembrandt  nichts  als 


182 


Velasquez 


klar  sein  will,  wie  etwa  in  der  Radierung  des  sitzenden  Jünglings,  die  so 
stark  auf  das  Gegliederte  im  Akt  eingeht,  kann  er  die  Akzente  des  16.  Jahr- 
hunderts nicht  mehr  brauchen.  Von  solchen  Beispielen  aus  mag  denn 
auch  auf  die  Behandlung  des  einzelnen  Kopfes  ein  aufklärendes  Licht  zu- 
rückfallen. 

Richtet  man  aber  den  Blick  auf  das  Bildganze,  so  wird  schon  bei  diesen 
einfachen  Aufgaben  als  grundsätzliche  Eigenschaft  klassischer  Kunst  die 
Isolierbarkeit  der  einzelnen  Figur  im  Bild  erkennbar  werden  als  die  natür- 
liche Konsequenz  klassischer  Zeichnung.  Man  kann  eine  solche  Figur  aus- 
schneiden und  sie  wird  zwar  weniger  vorteilhaft  aussehen  als  innerhalb 
ihrer  alten  Umgebung,  aber  sie  fällt  doch  nicht  um.  Die  barocke  Figur 
dagegen  ist  in  ihrer  Existenz  durchaus  an  die  übrigen  Motive  des  Bildes 
gebunden.  Schon  der  einzelne  Porträtkopf  ist  unlösbar  verflochten  in  die 
Bewegung  des  Hintergrundes  und  sei  es  die  bloße  Bewegung  von  Hell  und 
Dunkel.  Noch  mehr  gilt  das  von  einer  Komposition  im  Sinne  der  Venus 
des  Velasquez.  Während  die  Tiziansche  Schöne  einen  Rhythmus  in  sich 
allein  besitzt,  vollendet  sich  die  Erscheinung  für  die  Figur  des  Velasquez 
erst  durch  das,  was  im  Bilde  dazukommt.  Und  je  mehr  diese  Ergänzung 
notwendig  ist,  um  so  vollkommener  ist  die  Einheit  des  barocken  Kunstwerks. 

Für  das    mehrfigurige    Bild    liefert    zunächst    das  holländische  Gruppen- 

183 


Rembrandt 


porträt  lehrreiche  Entwicklungsreihen.  Die  Schützenstücke  des  16.  Jahr- 
hunderts, tektonisch  aufgebaut,  sind  Gesamtheiten  mit  lauter  koordinierten 
Werten.  Es  kann  der  Hauptmann  einen  Vorsprung  besitzen  vor  den  ande- 
ren, das  Ganze  bleibt  doch  ein  Nebeneinander  von  Figuren  mit  gleichem 
Akzent.  Den  extremen  Gegensatz  zu  dieser  Weise  bildet  die  Fassung, 
die  Rembrandt  dem  Thema  in  seiner  „Nachtwache"  gegeben  hat.  Hier  fin- 
det man  einzelne  Figuren,  ja  Figurengruppen  bis  zu  fast  völliger  Uner- 
kennbarkeit  hinabgedrückt,  dafür  aber  springen  die  paar  faßbaren  Motive 
mit  um  so  größerer  Energie  als  die  führenden  heraus.  Das  gleiche  ist,  bei 
geringerer  Figurenzahl,  mit  den  Regentenstücken  geschehen.  Es  bleibt  ein 
unvergeßlicher  Eindruck,  wie  der  junge  Rembrandt  in  der  „Anatomie"  von 
1632  das  alte  Schema  der  Koordination  zusammenreißt  und  die  ganze  Ge- 
sellschaft einer  Bewegung  und  einem  Licht  unterordnet,  und  jedermann 
wird  dieses  Verfahren  als  typisch  für  den  neuen  Stil  empfinden.  Hier  aber 
liegt  die  Überraschung  darin,  daß  Rembrandt  bei  dieser  Lösung  nicht  ge- 
blieben ist.  Die  „Staalmeesters"*  von  1661  sind  ganz  anders.  Der  späte 
Rembrandt  scheint  den  jungen  Rembrandt  zu  verleugnen.  Das  Thema: 
Fünf  Herren  und  dazu  der  Diener.  Aber  von  den  Herren  ist  einer  so  viel 
wert  wie  der  andere.  Nichts  mehr  von  der  doch  etwas  krampfhaften  Kon- 
zentration der  „Anatomie",  sondern  eine  lässige  Reihung  gleicher  Glieder. 
Kein  künstlich  gesammeltes  Licht,   sondern  Hell  und  Dunkel  frei  zerstreut 

184 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

über  die  ganze  Fläche  hin.  Ist  das  ein  Rückfall  in  archaische  Manier? 
Durchaus  nicht.  Die  Einheit  liegt  hier  in  dem  absolut  zwingenden  Be- 
wegungszusammenhang des  Ganzen.  Man  hat  mit  Recht  gesagt,  daß  der 
Schlüssel  zum  Gesamtmotiv  in  der  ausgebreiteten  Hand  des  Sprechers  liegt 
(Jantzen).  Mit  der  Notwendigkeit  einer  natürlichen  Geste  entfaltet  sich 
die  Reihe  der  fünf  großen  Figuren.  Kein  Kopf  könnte  anders  stehen,  kein 
Arm  anders  liegen.  Jeder  scheint  für  sich  zu  agieren,  aber  erst  der  Zu- 
sammenhang des  Ganzen  gibt  der  Einzelaktion  Sinn  und  ästhetische  Be- 
deutung. Natürlich  sind  es  nicht  die  Figuren  allein,  die  die  Komposition 
ausmachen.  Die  Einheit  wird  gleichmäßig  getragen  von  Licht  und  Farbe. 
Von  großer  Wichtigkeit  ist  das  hohe  Licht  am  Teppich,  das  sich  bisher 
jeder  Photographie  versagt  hat.  So  kommen  wir  denn  auch  hier  auf  jene 
barocke  Forderung  zurück,  die  Figur  im  Gesamtbild  so  aufgehen  zu  las- 
sen, daß  die  Einheit  nur  im  ganzen  von  Farbe  und  Licht  und  Form  emp- 
funden  werden  kann. 

Über  diesen  Formmomenten  im  engeren  Sinn  wird  man  nicht  übersehen 
dürfen,  was  die  neue  Ökonomie  der  geistigen  Akzente  zugunsten  der  Ein- 
heit geleistet  hat.  Sie  spielt  ihre  Rolle  in  der  „Anatomie"  wie  bei  den 
,,Staalmeesters".  Dort  mehr  äußerlich,  hier  mehr  innerlich  ist  der  geistige 
Gehalt  des  Bildes  auf  ein  einheitliches  Motiv  gebracht,  wie  es  das  ältere 
Gruppenporträt  mit  seinem  Nebeneinander  selbständiger  Köpfe  vollständig 
vermissen  läßt.  In  diesem  Nebeneinander  liegt  nicht  eine  besondere  Rück- 
ständigkeit, als  ob  die  Kunst  gerade  dieser  Aufgabe  gegenüber  an  primi- 
tive Formeln  gebunden  gewesen  wäre,  vielmehr  entspricht  es  durchaus  der 
Vorstellung  von  der  Schönheit  koordinierter  Akzente,  die  die  Regie  ja  auch 
da  festhält,  wo  sie  freiere   Hand  hatte,  wie  im  Sittenbild. 

Die  Fastnachtsbelustigung  des  Hieronymus  Bosch*  ist  ein  solches  Bild 
des  alten  Stils,  nicht  nur  im  Hinblick  auf  die  Figurenfügung,  sondern 
gerade  im  Hinblick  auf  die  Verteilung  des  Interesses.  Keine  Interessen- 
zerstreuung, wie  das  bei  den  Primitiven  vorkommen  kann,  alles  vielmehr 
einheitlich  gefühlt  und  im  ganzen  wirksam,  aber  doch  eine  Folge  von 
Motiven,  die  die  Aufmerksamkeit  gleichmäßig  für  sich  in  Anspruch  neh- 
men. Das  ist  dem  Barock  unerträglich.  Ostade*  arbeitet  mit  beträchtlich 
reicherem  Personal,  aber  der  Einheitsbegriff  ist  schärfer  angespannt.  Aus 
dem  Knäuel  des  Ganzen  hebt  sich  die  Gruppe  der  drei  Stehenden  heraus, 
die  höchste  Welle  im  Gewoge  des  Bildes.  Nicht  losgelöst  aus  der  Gesamt- 
bewegung,   aber   doch    ein   übergeordnetes  Motiv,  das    sofort  einen  Rhyth- 

185 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

mus  in  die  Szene  bringt.  Obwohl  alles  laut  ist,  besitzt  diese  Gruppe  doch 
offenbar  den  lebhaftesten  Ausdrucksakzent.  Das  Auge  stellt  sich  auf  diese 
Form  ein  und  darnach  ordnet  sich  das  Übrige.  Der  Wirrwar  der  Stimmen 
steigert  sich  an  dieser  Stelle  zur  faßbaren  Rede. 

Das  hindert  nicht,  daß  gelegentlich  auch  das  bloße  ununterscheidbare 
Stimmengesumme  der  Straße  oder  des  Marktes  dargestellt  wird.  Dann  sind 
eben  alle  Motive  in  ihrer  Bedeutung  hinuntergeschraubt  und  das  Einheit- 
liche ist  dann  der  Masseneffekt,  etwas  ganz  anderes  als  das  Nebenein- 
ander selbständiger  Stimmen  in  der  alten  Kunst. 

Bei  solcher  Geistesrichtung  mußte  natürlich  am  allermeisten  die  Historie 
ihr  Gesicht  verändern.  Der  Begriff  der  einheitlichen  Erzählung  ist  schon 
im  16.  Jahrhundert  festgelegt  worden,  aber  erst  der  Barock  hat  die  Span- 
nung des  Augenblicks  empfunden  und  erst  von  da  an  gibt  es  die  drama- 
tische Erzählung. 

Lionardos  Abendmahl  ist  ein  historisch  einheitliches  Bild.  Ein  bestimmter 
Moment    ist    für  die  Darstellung    festgehalten  und  die  Rolle   der  einzelnen 


Ostade 
186 


Hieronymus  Bosch 
Teilnehmer  darnach  bestimmt  worden.  Christus  hat  gesprochen  und  ver- 
harrt in  einer  Bewegung,  die  eine  gewisse  Dauer  haben  kann.  Indessen 
entwickelt  sich,  verschieden  nach  Temperament  und  Fassungskraft,  die  Wir- 
kung seiner  Rede  bei  den  Hörern.  Über  den  Inhalt  der  Mitteilung  kann 
kein  Zweifel  sein:  die  Erregung  bei  den  Jüngern  und  die  ergebene  Gebärde 
des  Meisters  —  sie  deuten  beide  auf  die  Ankündigung  des  Verrats.  In 

demselben  Bedürfnis  nach  geistiger  Einheit  ist  dann  auch  von  der  Bühne 
alles  weggeschafft  worden,  was  bloß  unterhaltend  oder  zerstreuend  wirken 
könnte.  Nur  was  als  sachliche  Forderung  sich  ausweisen  kann,  wird  der 
Vorstellung  geboten:  das  Motiv  des  gedeckten  Tisches  und  des  geschlos- 
senen Raumes.    Nichts  ist  für  sich  da,  alles  dient  dem  Ganzen. 

Man  weiß,  was  für  eine  Neuerung  ein  solches  Verfahren  damals  bedeutete. 
Der  Begriff  von  einheitlicher  Erzählung  fehlt  zwar  nicht  bei  den  Primi- 
tiven, aber  die  Handhabung  ist  unsicher  und  in  der  Belastung  der  Erzäh- 
lung mit  Motiven,  die  nicht  dazu  gehören  und  ein  ablenkendes  Sonder- 
interesse erwecken  müssen,   hält  man  alles  für  erlaubt. 

Was  läßt  sich  dann  aber  für  ein  Fortschritt  über  die  klassische  Redaktion 
hinaus  vorstellen?  Gibt  es  überhaupt  eine  Möglichkeit,  diese  Einheit  zu 
überbieten?  Die  Antwort  liegt  im  Hinweis  auf  die  Wandlung,  die  wir  im 
Bildnis  und  im  Sittenstück  beobachtet  haben.  Aufhebung  der  Koordination 
der  Werte;  ein  Hauptmotiv,  das  für  Auge  und  Empfindung  sich  über  alle 
andern  hinaus  geltend   macht;    schärferes    Erfassen   des   Rein-Momentanen. 

187 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Lionardos  Abendmahl,  obwohl  es  einheitlich  redigiert  ist,  bietet  dem  Be- 
schauer doch  soviel  einzelne  Stationen,  daß  es  neben  späteren  Erzählungen 
durchaus  als  Vielheit  erscheint.  Es  mag  manchem  wie  eine  Blasphemie 
vorkommen,  das  Abendmahl  des  Tiepolo  (Abb.  S.  95)  zum  Vergleich 
hier  anzuziehen,  aber  man  kann  daraus  doch  sehen,  wie  die  Entwicklung 
läuft:  nicht  dreizehn  Köpfe,  die  alle  gleichmäßig  gesehen  werden  wollen, 
sondern  nur  ein  paar  aus  der  Masse  herausgeholt,  die  andern  zurückge- 
drängt oder  völlig  verdeckt.  Dafür  spricht  dann  das  wirklich  Sichtbare  mit 
doppelter  Energie  über  das  ganze  Bild  hin.  Es  ist  dasselbe  Verhältnis,  das 
wir  anfangs  mit  der  Parallele  der  Dürerschen  und  Rembrandtschen  Kreuz- 
abnahme deutlich  zu  machen  versuchten.  Schade,  daß  Tiepolo  uns  nicht 
mehr  zu  sagen  hat. 

Notwendig  wird  diese  Zusammenfassung  des  Bildes  auf  einzelne  schlagende 
Wirkungen  mit  einer  schärferen  Einstellung  auf  das  Augenblickliche  ver- 
bunden sein.  Die  klassische  Erzählung  des  16.  Jahrhunderts  hat  immer  noch, 
im  Vergleich  zur  späteren  Kunst  etwas  Zuständliches,  mehr  auf  das  Blei- 
bende Gerichtetes,  oder,  besser  ausgedrückt,  sie  rechnet  immer  noch  mit 
einem  breiten  Zeitausschnitt,  während  jetzt  der  Moment  sich  verengt  und 
die  Darstellung  wirklich  nur  den  kurzen  Höhepunkt  der  Handlung  packt. 

Man  kann  dafür  die  Historie  der  alttestamentlichen  Susanna  anführen.  Die 
ältere  Gestalt  der  Geschichte  ist  nicht  eigentlich  das  Bedrängen  der  Frau,  son- 
dern wie  die  Alten  ihr  Opfer  von  weitem  beobachten  oder  darauf  zulaufen. 
Erst  allmählich,  mit  der  Schärfung  des  Gefühls  für  das  Dramatische,  kommt 
der  Moment,  wo  der  Feind  der  Badenden  an  den  Nacken  gesprungen  ist 
und  ihr  die  heiße  Rede  ins  Ohr  raunt.  Und  gleicher  Weise  hat  die  span- 
nende Szene  der  Überwältigung  Simsons  durch  die  Philister  erst  nach  und 
nach  aus  dem  Schema  des  Schläfers  sich  herausgewickelt,  der  ruhig  im 
Schoß  der  Delila  liegend  von  ihr  der  Locken  beraubt  wird. 

So  durchgreifende  Veränderungen  der  Auffassung  lassen  sich  freilich  nie 
von  einem  einzelnen  Begriff  aus  darlegen.  Was  neu  ist  im  Sinne  unseres 
Kapitels,  bezeichnet  einen  Teil  des  Phänomens,  aber  nicht  das  ganze.  —  Wir 
schließen  die  Folge  dieser  Beispiele  mit  dem  Thema  der  Landschaft  und 
kehren  damit  auf  den  Boden  der  optisch-formalen  Analyse  zurück. 

Eine  Landschaft  des  Dürer  oder  Patenier  unterscheidet  sich  von  jeder 
Landschaft  des  Rubens  durch  die  Zusammenfügung  selbständig  ausgebil- 
deter Einzelteile,  wo  man  wohl  eine  Gesamtrechnung  wahrnimmt,  aber  bei 
aller  Abstufung  doch  nicht  zum  Eindruck  eines  entschieden  führenden  Motivs 

188 


Rembrandt 

gelangt.  Erst  allmählich  lockern  sich  die  trennenden  Schranken,  die  Gründe 
fließen  ineinander,  ein  Motiv  im  Bild  bekommt  das  entschiedene  Uberge- 
gewicht.  Schon  die  Nürnberger  Landschafter  aus  der  Nachfolge  Dürers, 
die  Hirschvogel  und  Lautensack,  bauen  anders,  in  der  prachtvollen  Winter- 
landschaft P.  Brueghels  (s.  Abb.  S.  103)  drängt  sich  die  Reihe  der  Bäume 
von  links  her  mit  durchreißender  Gewalt  ins  Bild  hinein,  das  Problem  der 
Akzente  im  Bild  bekommt  auf  einmal  ein  neues  Gesicht.  Es  folgt  dann 
die  Vereinheitlichung  mit  den  großen  Licht-  und  Schattenstreifen,  wie  sie 
namentlich  durch  Jan  Brueghel  bekanntgeworden  sind.  Elsheimer  sekun- 
diert von  einer  andern  Seite  her  mit  der  Einheit  schräg  durch  den  Raum 
geführter,  langer  Baum-  und  Hügelzüge,  wie  sie  in  der  „Geländediagonale" 
der  Dünenlandschaften  van  Goyens  weiterklingen.  Kurzum,  als  Rubens  die 
Resultante  zog,  ergab  sich  ein  Schema,  das,  den  Gegenpol  zu  Dürer  bildend, 
am  besten  hier  mit  der  „Heuernte  von  Mecheln"*  illustriert  wird. 

Eine  flache  Wiesenlandschaft,  durch  einen  krummen  Weg  nach  der  Tiefe 
zu  aufgeschlossen.  Mit  der  Staffage  von  Wagen  und  Tieren  wird  die  Be- 
wegung bildeinwärts  verschärft,  während  die  seitlich  abmarschierenden 
Heuerinnen  die  Fläche  festhalten.  Mit  der  Kurve  des  Weges  geht  der  Zug 
der  Wolken    zusammen,  der    hell    vom    linken  Rand   her    sich  in  die  Höhe 

189 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

hebt.  Dort  hinten  „sitzt"  das  Bild,  wie  die  Maler  zu  sagen  pflegen.  Die 
Helligkeit  des  Himmels  und  der  hellen  Wiesen  (in  der  Photographie  ver- 
dunkelt) zieht  auf  den  ersten  Blick  das  Auge  bis  in  die  tiefen  Gründe 
hinein.  Keine  Spur  mehr  von  Teilung  nach  einzelnen  Zonen.  Kein  Baum, 
den  man  als  etwas  Selbständiges  außerhalb  der  gesamten  Form-  und  Licht- 
bewegung des  Bildes  auffassen  könnte. 

Wenn  Rembrandt  in  der  populärsten  seiner  Landschaften,  der  Radierung 
mit  den  drei  Eichen*,  die  Akzente  noch  mehr  auf  einen  Punkt  zusammen- 
wirft, so  gewinnt  er  damit  allerdings  eine  neue  und  bedeutende  Wirkung, 
im  Grunde  ist  es  aber  doch  derselbe  Stil.  Nie  vorher  hat  man  es  erlebt, 
daß  ein  Motiv  sich  so  sehr  zum  herrschenden  im  Bilde  gemacht  hat.  Die 
Bäume  allein  sind  es  freilich  nicht,  sondern  der  versteckte  Gegensatz  des 
Ragenden  und  des  Flachgebreiteten  der  Ebene.  Die  Bäume  aber  haben  das 
Übergewicht.  Ihnen  ist  alles  untergeordnet  bis  auf  die  Bewegungen  der 
Atmosphäre:  der  Himmel  webt  eine  Glorie  um  die  Eichen,  daß  sie  dastehen 
wie  Sieger.  —  So  erinnert  man  sich  bei  Claude  Lorrain  einzelne  Pracht- 
bäume gesehen  zu  haben,  die  eben  durch  ihre  unerhörte  Einzigkeit  so  neu 
im  Bilde  wirken.  Und  wenn  gar  nichts  da  ist,  als  eine  von  fern  gesehene 
flache  Landschaft  mit  dem  hohen  Himmel  darüber,  dann  ist  es  die  Kraft  der 
einen  Linie  des  Horizonts,  die  der  Landschaft  den  barocken  Charakter 
geben  kann.  Oder  das  Raumverhältnis  zwischen  Himmel  und  Erde,  wenn 
die  gewaltige  Luftmasse  mit  erdrückender  Macht  die  Bildfläche  füllt. 

Das  ist  die  Auffassung  unter  der  Kategorie  der  einheitlichen  Einheit,  die 
es  möglich  gemacht  hat,  daß  jetzt  auch  und  jetzt  erst  die  Größe  des  Meeres 
zur  Darstellung  kommen  konnte. 


Historisches        Wer  eine  Geschichte  Dürers  mit  einer  Geschichte  Schongauers  vergleicht, 


und 
Nationales 


etwa  die  Gefangennahme  Christi*  im  Holzschnitt  der  Großen  Passion  mit 
dem  gleichen  Blatt  der  Schongauerschen  Stichfolge*,  der  wird  immer  wieder 
von  der  sicheren  Wirkung  Dürers,  von  der  Klarheit  und  Übersichtlichkeit 
seiner  Erzählung  überrascht  sein.  Man  sagt  dann  wohl,  die  Komposition 
sei  besser  durchdacht  und  die  Geschichte  mehr  auf  das  Wesentliche  hin 
gesichtet  worden,  aber  hier  handelt  es  sich  zunächst  garnicht  um  Unter- 
schiede der  Qualität  individueller  Leistungen,  sondern  um  verschiedene  For- 
men der  Darstellung,  die  weit  über  den  Einzelfall  hinaus  für  die  ganze 
Art    der    künstlerischen    Gedankenbildung    verbindlich    gewesen  sind.     Wir 

190 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


greifen  nochmal  die  Cha- 
rakteristik der  vorklas- 
sischen Stufe  auf,  nach- 
dem das  Grundsätzliche 
schon  anfangs  angedeu- 
tet worden  ist. 
Ja,  die  Komposition  Dü- 
rers hat  die  größere  Klar- 
heit der  Erscheinung 
für  sich.  Christus  be- 
herrscht als  Schrägform 
das  ganze  Bild  und  läßt 
so  schon  auf  alle  Ferne 
das  Motiv  des  Verge- 
waltigtwerdens sicht- 
bar werden.  Die  Leute, 
die  ihn  vorwärtszer- 
ren, schärfen  durch  den 
Kontrast  der  Gegen- 
richtung die  Kraft  sei- 
ner Schräge.  DasThema 
des  Petrus  und  Malchus 
aber,  als  bloße  Episode, 
bleibt  dem  Hauptthema 
untergeordnet.  Es  bildet  die  eine  der  (symmetrischen)  Eckfüllungen.  —  Bei 
Schongauer  ist  noch  nicht  geschieden  zwischen  Hauptsache  und  Nebensache. 
Er  hat  noch  nicht  das  klare  System  der  Richtungen  und  Gegenrichtungen. 
Stellenweise  werden  die  Figuren  verknäuelt  und  verfilzt  erscheinen,  anderes 
kann  dann  umgekehrt  wieder  allzu  losgelöst  und  locker  wirken.  Das  Ganze 
relativ  monoton  gegenüber  den  kontrastdurchsetzten  Kompositionen  des  klas- 
sischen Stils. 

Die  italienischen  Primitiven  haben  als  Italiener  eine  größere  Einfachheit 
und  Durchsichtigkeit  vor  Schongauer  voraus  —  den  Deutschen  sind  sie 
deswegen  arm  vorgekommen  — ,  aber  auch  hier  ist  es  der  gleiche  Unter- 
schied einer  wenig  differenzierten  und  darum  in  den  Teilgliedern  nicht 
recht  verselbständigten  Organisation,  was  Quattrocento  und  Cinquecento 
trennt.     Wir    verweisen    auf    bekannte    Beispiele    wie    die    Transfiguration 


Schongauer 


19; 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Bellini's  (Neapel)  und 
Raffaels  Transfigura- 
tion.  Dort  drei  völ- 
lig gleichwertige  Steh- 
figuren nebeneinander, 
Christus  zwischen  Mo- 
ses    und     Elias     ohne 


Uberordnung,  und  zu 
ihren  Füßen  noch  ein- 
mal drei  gleichwertige 
hockende  Figuren,  die 
Jünger.  Hier  dagegen 
nicht  nur  das  Zerstreute 
in  eine  große  Form 
zusammengenommen, 
sondern  innerhalb  die- 
ser Form  das  Einzelne 
in  lebendigeren  Kon- 
trastgebracht. Christus 
als  Hauptfigur  über  die 
(ihm  jetzt  zugewende- 
ten) Begleiter  erhoben, 
die  Jünger  in  ein  ent- 
schiedeneres Verhält- 
nis  von   Abhängigkeit 

gebracht,  alles  zusammenhängend  und  doch  jedes  Motiv  scheinbar  frei  für 
sich  entwickelt.  Der  Gewinn  an  sachlicher  Klarheit,  den  die  klassische 
Kunst  aus  dieser  Gliederung  und  Kontrastbildung  gezogen  hat,  ist  ein 
Kapitel  für  sich.  Hier  möchten  wir  das  Prinzip  zunächst  als  dekora- 
tives aufgefaßt  wissen.  Und  nach  dieser  Seite  erhellt  seine  Wirksam- 
keit ebensogut  aus  den  rein  repräsentativen  Heiligenbildern  wie  aus  den 
Geschichten. 

Was  ist  es  anderes  als  die  Koordination  ohne  Gegensatz,  die  Vielheit 
ohne  rechte  Einheit,  was  die  Anordnungen  bei  Botticelli  oder  Cima  spröd 
und  dünn  erscheinen  läßt,  sobald  man  an  Beispiele  des  Fra  Bartolommeo 
und  des  Tizian  denkt.  Erst  als  das  Ganze  zum  System  zusammengenom- 
men wurde,  konnte  das  Gefühl  für  die  Differenzierung  der  Teile  erwachen 


Dürer 


13  H.W.,  G.  2.A. 


193 


Van  der  Goes 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

und  erst  innerhalb  einer  streng  ge- 
faßten Einheit  konnte  die  Teilform 
zu  selbständiger  Wirkung  sich  ent- 
wickeln. 

Wenn  sich  dieser  Prozeß  am  reprä- 
sentierenden Altarbild  leicht  verfol- 
gen läßt  und  für  niemanden  mehr 
eine  Überraschung  bedeutet,  so  sind 
es  doch  gerade  Beobachtungen  sol- 
cher Art,  die  auch  die  Geschichte 
der  Körper-  und  Kopfzeichnung  erst 
verständlich  machen.  Die  Gliederung 
des  Torso,  wie  die  Hochrenaissance 
sie  bringt,  ist  vollständig  identisch 
mit  dem,  was  im  großen  die  Kom- 
position des  Figurenbildes  erreicht 
hat:  Einheit,  System,  Herausbil- 
dung von  Gegensätzen,  die,  je  offen- 
sichtlicher sie  aufeinander  Bezug  neh- 


men, um  so  mehr  als  Teile  von  integrierender  Bedeutung  empfunden  wer- 
den. Und  auch  diese  Entwicklung  ist,  wenn  man  von  durchgehenden  natio- 
nalen Verschiedenheiten  absieht,  die  gleiche  im  Süden  und  im  Norden. 
Verrocchios  Zeichnung  des  Nackten  verhält  sich  zur  Zeichnung  Michel- 
angelos genau  so,  wie  die  Zeichnung  eines  Hugo  van  der  Goes  zu  Dürer 
oder,  anders  ausgedrückt,  jener  Christuskörper  auf  Verrocchios  Taufbild 
(Florenz,  Akademie)  steht  stilistisch  auf  der  gleichen  Stufe  wie  der  Akt 
Adams  auf  dem  „Sündenfall"  des  Hugo  van  der  Goes*  (Wien):  bei  aller 
naturalistischen  Feinheit  derselbe  Mangel  an  Gliederung  und  bewußter  Hand- 
habung der  Kontrastwirkungen.  Wenn  dann  in  Dürers  Stich  von  Adam 
und  Eva  oder  in  dem  oben  (S.  82)  abgebildeten  Gemälde  Palmas  die  großen 
Formgegensätze  wie  selbstverständlich  auseinandertreten  und  der  Leib  als 
ein  klares  System  wirkt,  so  sind  das  nicht  „Fortschritte  der  Naturerkennt- 
nis", sondern  Formulierungen  des  Natureindrucks  auf  einer  neuen  dekora- 
tiven Grundlage.  Und  auch  wo  man  von  antikem  Einfluß  sprechen  muß,  ist 
eben  das  Herübernehmen  des  antiken  Schemas  erst  möglich  geworden, 
als  die  Voraussetzung  der  übereinstimmenden  dekorativen  Empfindung  ge- 
geben war. 


194 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Bei  Köpfen  liegt  das  Verhältnis 
insofern  noch  klarer,  als  hier  ohne 
künstliche  Interpunktion  eine  ge- 
gebene starre  Gruppe  von  Formen 
aus  dem  lockeren  Nebeneinander 
zur  lebendigen  Einheit  gebracht 
worden  ist.  Natürlich  sind  das 
Wirkungen,  die  man  wohl  beschrei- 
ben kann,  die  aber  unverstanden 
bleiben,  wenn  sie  nicht  erlebt  sind. 
Ein  niederländischer  Quattrocen- 
tist  wie  Bouts  (Abb.  S.  158) 
und  sein  italienischer  Zeitgenosse 
Credi*  sind  sich  darin  ähnlich,  daß 
der  Kopf  weder  hier  noch  dort 
einem  System  unterworfen  ist.  Die 
Gesichtsformen   halten    sich    noch 

nicht  gegenseitig  in  Spannung  und 

.  .  .  ....  Lorenzo  di  Credi 

wirken   darum  auch  nicht  eigent- 
lich als  selbständige  Teile.     Blickt   man    von  hier  zu  einem  Dürer  hinüber 

(s.  Abb.  S.  47)  oder  zu  jenem  Orley 
(S.  146),  der  motivisch  dem  Credi 
besonders  nahe  verwandt  ist,  so  ist 
es,  als  ob  man  zum  erstenmal  er- 
führe, daß  der  Mund  eine  horizon- 
tale Form  hat,  und  sie  scheint  sich 
mit  einem  besondern  Willen  der 
vertikalen  Form  gegenüber  zu  be- 
haupten. Im  selben  Augenblick  aber, 
wo  sich  dieForm  in  die  elementaren 
Richtungen  einstellt,  wird  auch  das 
Gesamtgefüge  ein  festes:  der  Teil 
bekommt  eine  neue  Bedeutung  inner- 
halb des  Ganzen.  Von  der  charakte- 
ristischen Begleitung  der  Kopfbe- 
deckungen ist  gelegentlich  schon  die 
Raffael  (Stich  des  Marc  Anton)  Rede  gewesen.    Das  Bildganze  des 

13*  195 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Porträts  nimmt  an  derselben  Wandlung  teil.  Ein  Fensterschlitz  zum  Bei- 
spiel kommt  im  16.  Jahrhundert  nur  noch  vor,  wenn  er  als  entschiedene 
Gegenform  eine  Rolle  zu  spielen  berufen  ist. 

So  sehr  die  Italiener  von  Hause  aus  eine  besonders  ausgesprochene  Nei- 
gung zum  Tektonischen  und  damit  zusammenhängend  zum  System  der 
selbständigen  Teile  haben,  so  sind  die  Entwicklungsergebnisse  auf  der  ger- 
manischen Linie  doch  von  überraschender  Gleichartigkeit.  Holbeins  Kopf 
des  französischen  Gesandten  (Abb.  S.  180)  ist  genau  auf  dieselben  Akzente 
abgesetzt  wie  die  Raffaelsche  Zeichnung  des  Pietro  Aretino*  im  Stich  des 
Marc  Anton.  Gerade  an  solchen  internationalen  Parallelen  kann  man  am 
besten  das  Gefühl  schärfen  für  jenes  so  schwer  zu  beschreibende  Wirkungs- 
verhältnis der  Teile  und  des  Ganzen. 

Das  ist  es,  was  der  Historiker  braucht,  um  die  Wandlung  zu  fassen  im 
Fortgang  von  Tizian  zu  Tintoretto  und  zu  Greco,  von  Holbein  zu  Moro 
und  Rubens.  ,,Der  Mund  ist  sprechender  geworden",  sagt  man  wohl,  „das 
Auge  ausdrucksvoller".  Gewiß,  aber  doch  handelt  es  sich  hier  nicht  bloß 
um  ein  Ausdrucksproblem,  sondern  um  ein  Schema  von  Vereinheitlichung  mit 
einzelnen  Pointen,  das  als  dekoratives  Prinzip  auch  für  die  Bildanordnung 
im  ganzen  verbindlich  ist.  Die  Formen  kommen  in  Fluß  und  dadurch 
entsteht  eine  neue  Einheit  mit  einem  neuen  Verhältnis  des  Einzelnen  zum 
Ganzen.  Schon  Correggio  hat  ein  deutliches  Gefühl  für  solche  Wirkungen 
besessen,  die  aus  der  entselbständigten  Teilform  hervorgehen.  Der  späte 
Michelangelo  und  der  späte  Tizian,  jeder  auf  seinem  Wege,  drängen  nach 
demselben  Ziel  und  mit  einer  wahren  Leidenschaftlichkeit  hat  Tintoretto 
und  gar  Greco  das  Problem  ergriffen,  aus  der  vernichteten  Einzelexistenz 
die  höhere  Bildeinheit  hervorgehen  zu  lassen.  Bei  Einzelexistenz  ist  natür- 
lich nicht  nur  an  den  einzelnen  Körper  zu  denken,  das  Problem  bleibt  das- 
selbe für  den  bloßen  Kopf  wie  für  die  Figurenkomposition,  für  die  Farbe 
wie  für  geometrische  Richtungen  im  Bild.  Wo  der  Punkt  erreicht  ist,  daß 
man  den  neuen  Stilnamen  einsetzen  muß,  läßt  sich  freilich  nicht  bestimmen. 
Alles  ist  Übergang  und  relativ  in  der  Wirkung.  Die  Gruppe  des  Frauen- 
raubes von  Giovanni  da  Bologna  (Florenz,  Loggia  dei  Lanzi)  —  um  mit  einem 
plastischen  Beispiel  zu  schließen  —  scheint  auf  absolute  Einheit  hin  ent- 
worfen zu  sein,  wenn  man  von  der  Hochrenaissance  herkommt;  sobald 
man  aber  Bernini  vergleicht,  seinen  (frühen)  Raub  der  Proserpina,  so  zer- 
setzt sich  alles  in  Einzelwirkung. 

Von  allen  Nationen  hat  die  italienische  den  klassischen  Typ  am  reinsten 

196 


Boucher 

ausgeprägt.  Das  ist  der  Ruhm  ihrer  Architektur  wie  ihrer  Zeichnung.  Auch 
im  Barock  ist  sie  in  der  Entselbständigung  der  Teile  nie  so  weit  gegangen 
wie  die  deutsche.  Man  könnte  mit  einem  musikalischen  Gleichnis  den  Phan- 
tasiegegensatz charakterisieren:  das  italienische  Kirchengeläute  hält  immer 
noch  an  bestimmten  Tonfiguren  fest;  wenn  unsere  Glocken  läuten,  so  ist 
es  das  bloße  Ineinander  harmonischer  Klänge.  Freilich  stimmt  der  Ver- 
gleich mit  dem  italienischen  „Gebimmel"  nicht  ganz:  das  Entscheidende 
in  der  Kunst  ist  ja  das  Verlangen  nach  der  selbständigen  Form  innerhalb 
eines  geschlossenen  Ganzen.  Für  den  Norden  ist  es  gewiß  charakteristisch, 
daß  nur  er  einen  Rembrandt  hervorgebracht  hat,  wo  die  führende  Farb- 
und  Lichtform  wie  aus  geheimnisvollen  Gründen  aufzusteigen  scheint,  aber 
was  man  nordische  Barockeinheit  nennt,  ist  doch  nicht  mit  dem  Fall  Rem- 
brandt zu  erledigen.  Es  ist  ein  allgemeines  Gefühl  für  das  Untergehen 
des  Einzelnen  im  Ganzen  von  Anfang  an  hier  vorhanden,  das  Gefühl,  daß 
jedes  Wesen  erst  im  Zusammenhang  mit  andern,  mit  der  ganzen  Welt  Sinn 
und  Bedeutung  haben  könne.  Daher  jene  'Vorliebe  für  Massendarstel- 
lungen, die  dem  Michelangelo  als  typisch  für  nordische  Malerei  aufge- 
fallen war.  Er  tadelt  es:  Die  Deutschen  brächten  viel  zu  viel  auf  ein- 
mal vor,  ein  Motiv  würde  genügen,  ein  Bild  daraus  zu  machen.  Der 
Italiener  hat  hier  den  national  verschiedenen  Ausgangspunkt  nicht  wür- 
digen können.  Es  bedarf  aber  auch  gar  nicht  der  Vielheit  von  Figuren, 
nur    soll    die    Figur    mit    aller    übrigen    Form    im    Bilde    zu    einer    unlös- 

197 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

liehen  Einheit  verbunden  erscheinen.  Dürers  Hieronymus  im  Gehäus*  ist 
noch  nicht  einheitlich  im  Sinne  des  17.  Jahrhunderts,  aber  in  dem  In- 
einander der  Formen  bedeutet  er  doch  eine  ausschließlich  nordische  Phan- 
tasiemöglichkeit. 

Als  dann  gegen  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  die  abendländische  Kunst 
einen  neuen  Anfang  zu  nehmen  sich  anschickte,  war  es  eine  der  ersten 
Äußerungen  der  modernen  Kritik,  daß  sie  im  Namen  der  wahren  Kunst  die 
Isolierung  des  Einzelnen  wieder  verlangte.  Bouchers  nacktes  Mädchen 
auf  dem  Sofa*  bildet  eine  Formeinheit  mit  der  Draperie  und  allem,  was 
sonst  im  Bilde  vorhanden  ist,  das  Körperchen  fällt  dahin,  wenn  man  es 
aus  dem  Zusammenhang  nimmt.  Davids  Madame  Recamier  dagegen  ist 
wieder  die  in  sich  geschlossene,  selbständige  Figur.  Die  Schönheit  des 
Rokoko  liegt  im  unauflösbaren  Ganzen,  für  den  neuen  klassizistischen 
Geschmack  ist  die  schöne  Gestalt,  was  sie  einst  gewesen  war,  eine  Harmonie 
in  sich  vollendeter  Gliedmaßen. 

Architektur 
1. 

Allgemeines  Wo  immer  ein  neues  Formensystem  kommt,  ist  es  selbstverständlich,  daß 
die  Einzelheit  zunächst  noch  eine  etwas  vordringliche  Sprache  spricht.  Es  fehlt 
nicht  das  Bewußtsein  für  die  höhere  Bedeutung  des  Ganzen,  aber  das  Ein- 
zelne wird  gern  als  Sonderwesen  gefühlt  und  behauptet  sich  als  solches 
auch  im  Gesamteindruck.  So  ist  es  gewesen,  als  der  moderne  (Renaissance-) 
Stil  in  den  Händen  der  Primitiven  lag.  Sie  sind  Meister  genug,  um  das 
Einzelne  nicht  Herr  werden  zu  lassen,  aber  doch  will  das  Einzelne  neben 
dem  Ganzen  auch  wieder  für  sich  allein  gesehen  werden.  Erst  die  Klassiker 
bringen  den  Ausgleich.  Ein.  Fenster  —  es  ist  auch  jetzt  noch  ein  klar  iso- 
lierter Teil,  aber  es  vereinzelt  sich  nicht  für  die  Empfindung,  man  kann  es 
nicht  sehen,  ohne  daß  gleichzeitig  sein  Zusammenhang  mit  der  größeren 
Form  des  Wandfeldes,  der  Gesamtfläche  der  Wand  eindrücklich  würde,  und 
umgekehrt,  wenn  man  sich  auf  das  Ganze  einstellt,  muß  es  dem  Beschauer 
unmittelbar  einleuchten,  wie  sehr  dieses  seinerseits  bedingt  ist  durch  die  Teile. 
Was  dann  der  Barock  als  Neues  bringt,  ist  nicht  das  Einheitliche  über- 
haupt, sondern  jener  Begriff  von  absoluter  Einheit,  wo  der  Teil  als  selb- 
ständiger Wert  mehr  oder  weniger  untergegangen  ist  im  Ganzen.  Es  fügen 
sich  nicht  mehr  schöne  Einzelteile  zu  einer  Harmonie  zusammen,  in  der  sie 
selbständig  weiter  atmen,   sondern  die  Teile  haben  sich  einem  herrschenden 

198 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Gesamtmotiv  unterworfen  und  nur  das  Zusammenwirken  mit  dem  Ganzen 
gibt  ihnen  Sinn  und  Schönheit.  Jene  klassische  Definition  des  Vollkommenen 
bei  L.  B.  Alberti :  die  Form  müsse  derart  sein,  daß  man  kein  Stückchen 
ändern  oder  wegnehmen  könnte  ohne  die  Harmonie  des  Ganzen  zu  zer- 
stören, sie  gilt  für  die  Renaissance  so  gut  wie  für  den  Barock.  Jedes  archi- 
tektonische Ganze  ist  eine  vollkommene  Einheit,  aber  der  Begriff  Einheit 
hat  in  der  klassischen  Kunst  eine  andere  Bedeutung  als  im  Barock.  Was 
einheitlich  war  für  Bramante,  ist  für  Bernini  eine  Vielheit,  so  sehr  Bramante 
seinerseits  der  Vielfältigkeit  der  Primitiven  gegenüber  ein  mächtiger  Ver- 
einheitlicher heißen  mag. 

Die  barocke  Zusammenfassung  geschieht  auf  verschiedene  Weise.  Ein- 
mal wird  die  Einheit  durch  eine  gleichmäßige  Entselbständigung  der  Teile 
erzwungen  und  dann  werden  einzelne  Motive  so  ausgebildet,  daß  sie  als  die 
herrschenden  den  andern  als  den  beherrschten  sich  überordnen.  Überordnung 
und  Unterordnung  gibt  es  auch  in  der  klassischen  Kunst,  aber  dort  hat  auch 
der  untergeordnete  Teil  immer  noch  einen  selbständigen  Wert,  während 
hier  selbst  das  herrschende  Glied,  herausgenommen  aus  dem  Zusammen- 
hang,  seine  Bedeutung  mehr  oder  weniger  verlöre. 

In  diesem  Sinne  werden  nun  die  vertikalen  und  horizontalen  Formfolgen 
umgebildet  und  es  entstehen  jene  großen  einheitlichen  Tiefenkompositionen, 
wo  ganze  Raumabschnitte  ihre  Selbständigkeit  zugunsten  der  neuen  Ge- 
samtwirkung aufgegeben  haben.  Ohne  Zweifel  liegt  hier  eine  Steigerung 
vor.  Aber  mit  gefühlsmäßigen  Motiven  hat  diese  Umformung  des  Begriffs 
der  Einheit  nichts  zu  tun,  wenigstens  nicht  so,  daß  man  sagen  dürfte,  die 
größere  Gesinnung  der  Generation  habe  den  Stockwerk-bindenden  Kolossal- 
ordnungen gerufen  oder  die  Heiterkeit  der  Renaissance  habe  den  Typus 
der  selbständigen  Teile  geschaffen  und  der  Ernst  des  Barock  habe  dann  auf 
der  Unterdrückung  dieser  Selbständigkeit  bestanden:  gewiß  ist  es  ein  Ein- 
druck von  Glück,  wenn  die  Schönheit  in  lauter  freien  Gliedern  sich  wiegt, 
aber  auch  der  Gegentypus  hat  das  Glück  gestaltet.  Was  gibt  es  Heitereres 
als  das  französische  Rokoko!  Es  wäre  aber  dieser  Zeit  nicht  mehr  mög- 
lich gewesen,  auf  die  Ausdrucksmittel  der  Renaissance  zurückzugreifen.  Und 
eben  darin   liegt  unser  Problem. 

Offenbar  berührt  sich  diese  Entwicklung  mit  dem,  was  wir  als  Entwick- 
lung ins  Malerische  und  ins  Atektonische  bereits  beschrieben  haben.  Die 
malerische  Wirkung  fortlaufender  Bewegung  ist  immer  gebunden  an  eine 
gewisse  Entselbständigung   der  Teile  und  jede  Vereinheitlichung  wird  sich 

199 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

ebenso  leicht  bereit  finden,  mit  den  Motiven  des  atektonischen  Geschmacks 
eine  Verbindung  einzugehen,  wie  umgekehrt  die  gegliederte  Schönheit 
grundsätzlich  mit  aller  Tektonik  vertraut  ist.  Nichtsdestoweniger  verlangen 
die  Begriffe  der  vielheitlichen  Einheit  und  der  einheitlichen  Einheit  auch 
hier  eine  gesonderte  Behandlung.  Gerade  in  der  Architektur  gewinnen  die 
Begriffe  eine  ungemeine  Anschaulichkeit. 

2. 
Beispiele  Vorzüglich  die  italienische  Architektur  liefert  Beispiele  von  geradezu 
idealer  Klarheit.  Wir  nehmen  die  Plastik  in  denselben  Zusammenhang  auf, 
da  das,  was  sie  der  Malerei  gegenüber  als  Besonderheit  besitzt,  wesentlich 
in  plastisch -architektonischen  Aufgaben,  wie  Grabmälern  und  dergleichen, 
zutage  tritt. 

Das  venezianische  und  das  florentinisch-römische  Grabmal  gewinnt  seinen 
klassischen  Typ  in  einem  fortgesetzten  Prozeß  der  Differenzierung  und  der 
Integrierung   der    Form.     Die    Teile  stellen  sich  in  immer  entschiedeneren 
Kontrasten    einander  entgegen  und  das  Ganze  gewinnt  dabei  immer  mehr 
den  Charakter    der    notwendigen  Fügung,  daß  kein  Teil  verändert  werden 
könnte,  ohne  den  Gesamtorganismus  zu  zerstören.     Der  primitive  und  der 
klassische  Typ   sind  Einheiten  mit  selbständigen  Teilen.    Dort  aber  ist  die 
Einheit  noch  eine  lockere.     Erst  in  Verbindung  mit  der  Strenge  wird  die 
Freiheit  ausdrucksvoll.    Je  straffer  das  System,  desto  wirksamer  die  Selb- 
ständigkeit der  Teile  innerhalb  des  Systems.    Andrea  Sansovinos  Prälaten- 
gräber in  S.  M.  del  popolo  (Rom)  bieten  diesen  Eindruck  im  Gegensatz  zu 
Desiderio  und  A.  Rossellino,  Leopardis  Grabmal  des  Vendramin  in  S.  Gio- 
vanni e  Paolo   (Venedig)  im  Gegensatz  zu  den  Dogengräbern  des  Quattro- 
cento.   Eine  Zusammenfassung  von  unerhörter  Wirkung  bringt  Michelangelo 
in  den  Medicäergräbern :  im  wesentlichen  noch  durchaus  die  klassische  Fü- 
gung mit  selbständigen  Teilen,   aber  die  Kontraste  der  aufrechten  Zentral- 
figur   mit    den    angelagerten  Breitformen    ins    Ungeheuere  gesteigert.     Mit 
solchen  Bildern  zusammengenommener  Gegensätzlichkeit  muß  man  die  Vor- 
stellung gefüllt  haben,  um  die  Leistung  Berninis  entwicklungsgeschichtlich 
richtig  einzuschätzen.    Es  war  unmöglich,  auf  der  Basis  der  isolierten  Teil- 
form die  Wirkung  zu  steigern,  der  Barock  läßt  sich  aber  auch  in  gar  kei- 
nen Wettstreit  ein:  die  ideellen  Schranken  zwischen  Figur  und  Figur  fallen, 
und  in  breiter  einheitlicher  Bewegung    flutet  die  Gesamtmasse  der  gestal- 
teten Form  einher.     Das  gilt  von   dem  Grabmal  Urban  VIII.  in  St.   Peter 
wie  von  dem  noch  einheitlicheren  Grabmal  Alexander  VII. *     Beidemal  ist 

200 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

zugunsten  der  Einheit  der  Gegensatz  von  sitzender  Hauptfigur  und  liegen- 
den Begleitfiguren  aufgehoben  worden:  die  beigeordneten  Gestalten  sind 
stehend  gebildet  und  in  unmittelbaren  optischen  Kontakt  mit  der  herrschenden 
Figur  des  Papstes  gebracht.  Es  wird  auf  den  Beschauer  ankommen,  wie  weit 
er  auf  diese  Einheit  einzugehen  imstande  ist.  Man  kann  den  Bernini  auch 
buchstabierend  lesen,  aber  er  will  nicht  so  gelesen  sein.  Wer  den  Sinn 
dieser  Kunst  verstanden  hat,  der  weiß,  daß  hier  die  Einzelform  nicht  nur 
im  Zusammenhang  des  Ganzen  erfunden  worden  ist  —  das  ist  auch  das 
Gesetz  der  Klassik  — ,  sondern  daß  sie  ihre  Selbständigkeit  an  das  Ganze 
hingegeben  hat  und  nur  aus  dem  Ganzen  Leben  und  Atem  zieht. 

Im  Gebiet  des  italienischen  Profanbaues  darf  man  die  römische  Cancel- 
leria,*  auch  wenn  der  Palast  nicht  mehr  den  Namen  Bramantes  führt,  als 
das  klassische  Beispiel  der  mehrteiligen  Renaissanceeinheit  nennen.  Eine 
Schichtung  von  drei  Stockwerken,  durchaus  geschlossen  in  der  Wirkung; 
aber  es  sind  deutliche  Sonderexistenzen:  die  Geschosse,  das  Eckrisalit,  die 
Fenster  und  Mauerfelder.  So  ist  es  mit  der  Louvrefassade  des  Lescot.  So 
mit  dem  Otto-Heinrichsbau  von  Heidelberg.  Überall  die  Gleichwertigkeit 
der  homogenen  Teile. 

Sieht    man   näher    zu,    so    wird   man    freilich    veranlaßt,  den  Begriff    der 
Gleichwertigkeit  einzuschränken.     Das  Erdgeschoß  der  Cancelleria  ist  doch 
den  oberen  Stockwerken  gegenüber  klar  als  Erdgeschoß  charakterisiert  und 
damit  in  gewissem  Sinne  untergeordnet.    Oben  erst  erscheinen  die  gliedern- 
den Pilaster.     Und  bei  dieser  Pilasterfolge,  die  die  Mauer  in  einzelne  Fel- 
der zerlegt,  ist  es  wieder  nicht  auf  einfache  Koordination  abgesehen,  viel- 
mehr wechseln  breitere  Felder  mit  schmäleren.     Das  ist  die  nur  bedingt  so 
zu  nennende  Koordination  des  klassischen  Stils.    Wir  kennen  die  quattro- 
centistische  Vorform  im  Palazzo  Ruccellai*  von  Florenz.  Da  herrscht  die  völ- 
lige Gleichheit  der  Felder    und,  was   die   Gliederung  anbetrifft,  die  völlige 
Gleichheit  der  Stockwerke.     Der  Oberbegriff  bleibt  für  beide  Bauten  der- 
selbe:  System  mit  selbständigen  Teilen,  aber  die  Cancelleria  besitzt  bereits 
die    straffere    Organisation   der   Form.     Der  Unterschied    ist    identisch   mit 
dem,  den  wir  in  der  darstellenden  Kunst  als  die  laxe  Symmetrie  des  Quattro- 
cento und  die  strenge  Symmetrie  des  Cinquecento  schon  beschrieben  haben. 
Auf    Botticellis  Berliner  Bild    der  Maria    mit    den   beiden  Johannes  ist  das 
Nebeneinander   der   drei    Figuren    ein   völlig    gleichgewichtiges    und    Maria 
hat  nur  als  Mittelfigur    einen   formalen  Vorrang,  bei    einem  Klassiker  wie 
Andrea  del  Sarto  —   ich  denke  an  die  Madonna  delle  arpie  in  Florenz  — 

201 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

ist  die  Maria  in  jeder  Weise 
über  ihre  Begleiter  hinausge- 
hoben, ohne  daß  diese  aufge- 
hört hätten,  ihr  Schwergewicht 
in  sich  selbst  zu  haben.  Dar- 
auf kommt  es  an.  Der  klas- 
sische Charakter  der  Felder- 
folge der  Cancelleria  ist  darin 
gegeben,  daß  auch  die  schma- 
len Felder  noch  selbständige 
proportionale  Werte  sind  und 
das  Erdgeschoß  bleibt  trotz 
seiner  Unterordnung  noch  im- 
mer ein  Element,  das  seine 
Schönheit  für  sich  hat. 

In  lauter  schöne  Einzelteile 
sich  zerlegend,  ist  ein  Bau  wie  die 
Cancelleria  das  architektonische 
Gegenstück  zu  dem  Gebilde  der 
Tizianschen  Bella,  die  wir  oben  abgebildet  haben.  Und  wenn  wir  dieser 
die  Venus  des  Velasquez  entgegengestellt  haben  als  Typus  des  auf  abso- 
lute Einheit  zusammengenommenen  Gewächses,  so  sind  wir  nicht  in  Ver- 
legenheit, auch  für  sie  die  architektonische  Parallele  aufzuweisen. 

Kaum  ist  der  klassische  Typus  ausgebildet,  so  meldet  sich  schon  das  Ver- 
langen, die  Vielheit  mit  größeren,  durchgehenden  Motiven  zu  überwinden. 
Man  spricht  dann  wohl  von  der  „größeren  Gesinnung",  die  die  weiter- 
spannende Form  bedingt  habe.  Mit  Unrecht.  Wer  wäre  nicht  von  vorn- 
herein überzeugt,  daß  die  Bauherrn  der  Renaissance  —  und  es  ist  ein  Papst 
Julius  dabei!  —  nach  dem  Höchsten  gegriffen  haben,  was  menschlichem 
Willen  erreichbar  war.  Aber  es  ist  'nicht  alles  zu  allen  Zeiten  möglich. 
Die  Form  der  vielteiligen  Schönheit  mußte  erst  erlebt  sein,  bevor  die  ein- 
teiligen Ordnungen  denkbar  wurden.  Michelangelo,  Palladio  sind  Über- 
gänge. Den  reinbarocken  Gegentypus  zur  Cancelleria  vertritt  in  Rom  der 
Palazzo  Odescalchi*,  der  in  den  zwei  oberen  Stockwerken  jene  Kolossal- 
ordnung bringt,  wie  sie  von  'nun  an  für  das  Abendland  zur  Norm  wird. 
Das  Erdgeschoß  bekommt  damit  den  ausgesprochenen  Sockelcharakter,  das 
heißt  es  wird  zum  unselbständigen  Glied.     Wenn  bei  der  Cancelleria  jedes 


Florenz,  Palazzo  Ruccellai 


202 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Wandfeld,  jedes  Fen- 
ster, ja  jeder  Pilaster 
seine  deutlich  sprechende 
Schönheit  für  sich  hatte, 
so  sind  die  Formen  hier 
alle  so  behandelt,  daß  sie 
mehr  oder  weniger  in 
einem  Masseneffekt  auf- 
gehen. Die  einzelnen 
Felder  zwischen  den  Pi- 
lastern  stellen  keinen 
Wert  dar,  der  außerhalb 
des  Ganzen  etwas  bedeu- 
tete. Bei  den  Fenstern 
ist  es  auf  Verschmelzung 
mit  den  Pilastern  ab- 
gesehen und  die  Pila- 
ster selbst  wirken  kaum 
mehr  als  Einzelformen, 


Rom,  Palazzo  della  Cancelleria 


sondern  nur  in  der  Masse.  Der  Palazzo  Odescalchi  ist  ein  Anfang.  Die 
spätere  Architektur  ist  im  angedeuteten  Sinne  weitergegangen.  Das  Palais 
Holnstein*  (das  heutige  erzbischöfliche  Palais)  in  München,  ein  besonders 
feiner  Bau  des  älteren  Cuvillies,  wirkt  nur  noch  als  bewegte  Fläche:  kein 
Wandfeld  mehr  ist  faßbar,  die  Fenster  gehen  ganz  mit  den  Pilastern  zusam- 
men und  diese  haben  die  tektonische  Bedeutsamkeit  fast  völlig  verloren. 

Es  liegt  in  der  Konsequenz  der  gegebenen  Tatsachen,  daß  die  Barock- 
fassade auf  die  Betonung  einzelner  Stellen  drängen  wird,  zunächst  im  Sinne 
eines  beherrschenden  Mittelmotivs.  In  der  Tat  spielt  auch  im  Pal.  Odes- 
calchi bereits  das  Verhältnis  von  Mitte  und  (in  der  Abbildung  unsichtbaren) 
Flügeln  eine  Rolle.  Bevor  wir  aber  darauf  eingehen,  müssen  wir  noch  die 
Vorstellung  berichtigen,  als  ob  das  Schema  mit  der  Kolossalordnung  von 
Pilastern  oder  Säulen  das  einzige  oder  auch  nur  das  vorherrschende  ge- 
wesen sei. 

Auch  in  Fronten  ohne  alle  vertikale  Zusammenfassung  der  Stockwerke 
hat  sich  das  Verlangen  nach  dem  Einheitlichen  befriedigen  können.  Wir 
bilden  den  römischen  Palazzo  Madama;:  ab,  den  jetzigen  Senatspalast.  Der 
oberflächliche  Betrachter  mag  meinen,  die  Erscheinung  sei  nicht  wesentlich 


203 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


verschieden  von  dem,  was  auch  der  Renaissance  geläufig  war.  Entscheidend 
ist,  wie  weit  man  den  Teil  als  selbständiges  und  integrierendes  Element 
empfinden  muß  und  wie  weit  das  Einzelne  untergeht  im  Ganzen.  Hier  ist 
charakteristisch,  daß  neben  dem  packenden  Eindruck  der  Gesamtbewegung 
der  Fläche  das  einzelne  Stockwerk  zurücktritt  und  daß  neben  der  lebhaften 
Sprache  der  Fensterverdachungen,  die  als  Masse  zusammengreifen,  das  ein- 
zelne Fenster  kaum  mehr  als  konstitutiver  Teil  des  Ganzen  gefühlt  wird. 
Auf  diesem  Geleise  liegen  die  mannigfaltigen  Wirkungen,  die  der  nordische 
Barock  auch  ohne  plastischen  Aufwand  erreicht  hat.  Durch  den  bloßen 
Rhythmus  der  entselbständigten  Fenster  kann  der  Mauer  ein  starker  Massen- 
bewegungseindruck mitgeteilt  werden. 

Aber  wie  gesagt,  die  Neigung  zum  Pointieren  ist  im  Barock  immer  vor- 
handen: man  sammelt  den  Effekt  gern  in  einem  Hauptmotiv,  das  die  Neben- 
motive in  dauernder  Unselbständigkeit  hält,  das  aber  trotzdem  auf  diese 
Begleitung  angewiesen  bleibt  und  für  sich  allein  nichts  bedeuten  könnte. 
Am  Palazzo  Odescalchi  schon  tritt  die  Mitte  in  breiter  Fläche  vor,  nur  ganz 
wenig,  ohne  praktische  Bedeutung,  und  zur  Seite  bleiben  kurze,  proportional 
unselbständige  Flügel  zurück.    (Sie  sind  später  länger  ausgezogen  worden.) 

Im  größten  Maßstab  be- 
tätigt sich  diese  sub- 
ordinierende Stilweise 
in  den  Schloßbauten  mit 
Mittel-  und  Eckpavil- 
lons, aber  auch  beim 
kleinen  Bürgerhaus  fin- 
det man  Mittelrisalite, 
deren  Vorsprung  oft 
nur  ein  paar  Zentimeter 
beträgt.  Statt  des  einen 
Mittelakzentes  können 
bei  langen  Fassaden 
auch  zwei  die  leere  Mitte 
flankierende  Akzente  ge- 
setzt sein,  nicht  an  den 
Ecken  natürlich  —  das 
ist  Renaissance  (vgl.  die 
Cancelleria  in  Rom)  — , 


mtmiftl rtrmtrlri rmtmiimmtT  \mmni  mm 


£. 


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Rom.  Palazzo  Odescalchi 


204 


IV.  VIELHEIT  UND   EINHEIT 

sondern  von  den  Ecken  ab- 
gerückt. Beispiel:  Prag,  Pa- 
last  Kinsky. 

In  den  Kirchenfassaden 
wiederholt  sich  im  wesent- 
lichen die  gleiche  Entwick- 
lung. Die  italienische  Hoch- 
renaissance hat  dem  Barock 
denTypus  der  zweigeschossi- 
gen Front  mit  fünf  Feldern 
unten  und  drei  Feldern  oben, 
vermittelt  durch  Voluten, 
vollkommen  fertig  hinter- 
lassen. Mehr  und  mehr  ver- 
lieren nun  die  Felder  an 
proportionaler  Selbständig- 
keit,  die  Folge  gleichwertiger 
Teile  wird  ersetzt  durch 
entschiedene  Uberordnung 
der  Mitte,  hier  sitzen  die 
stärksten  plastischen  und 
dynamischen     Akzente,      als       München,  Palais  Holnstein 

höchste  Steigerung  einer  von  den  Seiten  her  anschwellenden  Bewegung.  Für 
die  Einheit  der  vertikalen  Ordnung  hat  der  barocke  Kirchenbau  selten  nach 
dem  Mittel  der  zusammengezogenen  Geschosse  gegriffen,  bei  fortdauernder 
Zweizahl  der  Stockwerke  ist  aber  für  entschiedenes  Übergewicht  des  einen 
über  das  andere  gesorgt. 

Wir  haben  früher  gelegentlich  an  die  Analogie  der  Entwicklung  auf  einem 
so  fern  liegenden  Gebiet  wie  der  niederländischen  Landschaft  erinnert  und 
es  mag  gut  sein,  den  Hinweis  hier  zu  wiederholen,  um  nicht  bei  einzelnen 
Tatsachen  der  Architekturgeschichte  stecken  zu  bleiben,  sondern  das  Prin- 
zipielle als  das  Wesentliche  dem  Bewußtsein  lebendig  zu  erhalten.  In  der  Tat  ist 
es  derselbe  Begriff  der  vereinheitlichten  und  auf  einzelne  Pointen  zusammen- 
genommenen Wirkung,  der  die  holländische  Landschaft  des  17.  Jahrhunderts 
von  der  gleichmäßig  wertenden  Schilderung  des  16.  Jahrhunderts  unterscheidet. 

Natürlich  ist  es  nicht  nur  die  große  Architektur,  sondern  auch  die  Klein- 
welt   der  Möbel  und  Geräte,   aus  der  die  Beispiele  geholt  werden   können. 


205 


Rom,  Palazzo  Madama 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Man  mag  praktische 
Gründe  mitgeltend  ma- 
chen, daß  der  zweige- 
schossige Schrank  der 
Renaissance  in  den  ein- 
heitlichen des  Barock 
umgewandelt  werden 
mußte :  die  Umwand- 
lung lag  in  der  allge- 
meinen Richtung  des 
Geschmacks  und  hätte 
sich  gewiß  auf  jeden  Fall 
durchgesetzt. 

Für  jede  horizontale 
Formfolge  sucht  der  Ba- 
rock die  vereinheitli- 
chende Gruppierung. 
Wenn  er  die  gleichmä- 
ßigen Reihen  der  Chor- 
stühle dekoriert,  so  faßt  er  die  Folge  gern  unter  einen  geschweiften  Bogen 
zusammen,  wie  es  sogar  vorkommt,  daß  er  die  Trägerstellungen  eines  Kirchen- 
schiffes ohne  jeden  praktischen  Grund  nach  der  Mitte  der  Reihe  gravitieren 
läßt.     (Vgl.  die  Chorstühle  aus  der  Münchner  Peterskirche*.) 

In  all  diesen  Fällen  freilich  ist  das  Phänomen  nicht  damit  erschöpft,  daß 
man  das  zusammenfassende  große  Motiv  beschreibt,  die  Einheitswirkung  ist 
immer  auch  bedingt  durch  eine  Umbildung  der  Teile  in  dem  Sinne,  daß  es 
ihnen  schwer  wird,  sich  als  Sonderwesen  geltend  zu  machen.  Jene  Chor- 
stühle sind  in  eine  einheitliche  Form  eingegangen,  nicht  nur  des  krönenden 
Bogens  wegen,  sondern  weil  die  einzelnen  Wandfelder  so  gestaltet  sind,  daß  sie 
sich  aneinander  anlehnen  müssen.  Sie  haben  in  sich  selbst  keinen  Halt  mehr. 
Und  bei  dem  Beispiel  des  Schrankes  ist  es  ebenso.  Das  Rokoko  faßt  die 
zwei  Flügeltüren  mit  einem  geschwungenen  Giebelgesims  zusammen.  Wenn 
nun  die  Flügeltüren  in  ihrem  oberen  Abschluß  dieser  Linie  folgen,  das  heißt 
nach  der  Mitte  zu  ansteigen,  so  ist  es  natürlich,  daß  sie  nur  noch  als  Paar 
aufgefaßt  werden  können.  Der  einzelne  Teil  für  sich  hat  keine  Selbstän- 
digkeit mehr.  So  hat  der  Rokokotisch  keine  Beine  mehr,  die  als  Form  für 
sich  wirken  und  durchgebildet    sind,    sondern    sie    sind   eingeschmolzen   ins 

?o6 


IV.  VIELHEIT  UND  EINHEIT 

Ganze.  Atektonische  Forderungen  begegnen  sich  als  grundsätzlich  verwandt 
mit  Forderungen  des  Geschmacks  für  die  absolute  Einheit.  Das  letzte  Re- 
sultat sind  jene  Binnenräume  des  Rokoko,  hauptsächlich  kirchlicher  Art,  wo 
alles  Mobiliar  im  Ganzen  so  aufgegangen  ist,  daß  man  das  einzelne  Stück 
nicht  einmal  in  der  Vorstellung  zu  isolieren  vermöchte.  Der  Norden  hat 
darin  Unvergleichliches  geleistet. 

Auf  Schritt  und  Tritt  stößt  man  auf  durchgehende  Unterschiede  natio- 
naler Phantasie:  die  Italiener  haben  den  Teil  freier  ausgebildet  als  die  nor- 
dischen Völker  und  haben  seine  Selbständigkeit  nie  so  völlig  preisgegeben 
wie  diese.  Die  freien  Teile  aber  sind  nicht  etwas,  was  von  Anfang  an  da 
ist,  sondern  etwas,  das  erst  gemacht,  das  heißt  empfunden  werden  muß.  Wir 
berufen  uns  auf  die  einleitenden  Sätze  dieses  Abschnitts.  Die  besondere 
Schönheit  italienischer  Renaissance  liegt  in  der  einzigen  Art,  wie  sie  den 
Teil  —  sei  es  eine  Säule,  ein  Wandfeld  oder  ein  Raumabschnitt  —  zu  einer 
in  sich  ruhenden  Vollendung  durchgebildet  hat.  Die  germanische  Phantasie 
hat  den  Teil  nie  zu  gleicher  Selbständigkeit  entlassen.  Der  Begriff  der  ge- 
gliederten  Schönheit  ist  ein  wesentlich  romanischer  Begriff. 


München,  Chorstühle  in  der  Peterskirche 


207 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Dem  scheint  zu  widersprechen,  daß  man  der  nordischen  Baukunst  gerade 
ein  sehr  starkes  Individualisieren  der  einzelnen  Motive  nachsagt,  daß  ein  Erker, 
ein  Turm  eben  gar  nicht  dem  Ganzen  sich  fügt,  sondern  mit  persönlichem 
Eigenwillen  dagegen  sich  stemmt.  Allein  dieser  Individualismus  hat  mit 
der  Freiheit  der  Teile  in  einem  gesetzlich  gebundenen  Zusammenhang  nichts 
zu  tun.  Und  mit  der  Betonung  des  Eigenwilligen  ist  auch  nicht  alles  ge- 
sagt:  das  Charakteristische  ist,  wie  diese  Schößlinge  der  Willkür  doch  fest 
im  Kernbau  verwurzelt  bleiben.  Man  kann  einen  solchen  Erker  nicht  ab- 
lösen, ohne  daß  Blut  flösse.  Es  ist  ein  der  italienischen  Vorstellung  unzu- 
gänglicher Begriff  von  Einheit,  daß  ganz  heterogene  Teile  von  einem  ge- 
meinsamen Lebenswillen  getragen  sein  können.  Die  ,, wilde"  Manier  der 
ersten  deutschen  Renaissance,  wie  wir  sie  z.  B.  in  den  Rathäusern  von  Alten- 
burg, Schweinfurt,  Rothenburg  finden,  hat  sich  allmählich  beruhigt,  aber 
auch  in  der  gemessenen  Monumentalität  der  Rathäuser  von  Augsburg  oder 
Nürnberg  lebt  eine  heimliche  Einheit  der  formenden  Kraft,  die  von  italie- 
nischer Art  verschieden  ist.  Die  Wirkung  liegt  im  großen  Strömen  der  Form, 
nicht  im  Gliedern  und  Absetzen.  In  aller  deutschen  Architektur  ist  der  Be- 
wegungsrhythmus das  Entscheidende,  nicht  die  „schöne  Proportion". 

Wenn  das  für  den  Barock  allgemein  zutrifft,  so  hat  doch  der  Norden  die 
Bedeutung  der  Teilglieder  in  viel  weitergehender  Weise  der  großen  Gesamt- 
bewegung geopfert  als  Italien.  Er  ist  dadurch  namentlich  in  Binnenräumen 
zu  wunderbaren  Wirkungen  gelangt.  Und  man  kann  wohl  sagen,  daß  in 
der  deutschen  Kirchen-  und  Schloßbaukunst  des  18.  Jahrhunderts  der  Stil 
seine  letzten  Möglichkeiten  offenbart. 

Auch  in  der  Architektur  ist  die  Entwicklung  keine  gleichmäßig  fortschrei- 
tende gewesen  und  mitten  im  Barock  stößt  man  auf  Reaktionen  des  pla- 
stisch-tektonischen  Geschmacks,  die  dann  natürlich  immer  auch  Reaktionen 
zugunsten  des  Einzelteils  gewesen  sind.  Daß  ein  Bau  wie  das  klassizistische 
Rathaus  von  Amsterdam"  zur  Zeit  des  späten  Rembrandt  hat  entstehen  können, 
muß  jeden  vorsichtig  machen,  der  von  dem  einen  Rembrandt  auf  die  ganze 
holländische  Kunst  schließen  möchte.  Aber  andrerseits  darf  man  den  Stil- 
gegensatz auch  nicht  überschätzen.  Man  könnte  auf  den  ersten  Blick  wohl 
glauben,  es  gäbe  auf  der  ganzen  Welt  nichts,  was  der  Forderung  barocker 
Einheit  stärker  widerspräche  als  dieses  Haus  mit  seinen  starken  Gesims- 
und  Pilasterteilungen  und  den  glatt  in  die  Mauer  eingeschnittenen,  kahlen 
Fenstern.  Allein  die  Massengruppierung  ist  doch  die  vereinheitlichende  des 
Barock    und  die   Pilasterintervalle  sprechen  nicht  mehr  als  einzelne  schöne 

208 


Rathaus  zu  Amsterdam   (Berck-Heyde) 

Felder.  Und  dann  haben  wir  ja  in  den  zeitgenössischen  Bildern  den  Beweis, 
wie  sehr  die  Formen  auf  Gesamtwirkung  hin  gesehen  werden  können  und 
gesehen  worden  sind.  Nicht  das  einzelne  Fensterloch  bedeutet  etwas,  son- 
dern nur  die  Bewegung,  die  aus  der  Gesamtheit  der  Fenster  resultiert.  Man 
kann  freilich  die  Sachen  auch  anders  sehen,  und  als  um  1800  der  isolierende 
Stil  wieder  erschien,  hat  natürlich  auch  das  Rathaus  von  Amsterdam  in 
den  Bildern  eine  neue  Physiognomie  angenommen. 

In  der  neuen  Architektur  aber  erlebte  man  damals,  daß  plötzlich  die  Ele- 
mente wieder  auseinandertraten.  Das  Fenster  ist  wieder  ein  Formganzes 
für  sich,  die  Wandfelder  bekommen  wieder  eine  eigene  Existenz,  das  Möbel 
verselbständigt  sich  im  Raum,  der  Schrank  zerlegt  sich  in  freie  Teile  und 
der  Tisch  bekommt  wieder  Beine,  die  nicht  als  etwas  Unlösbares  in  das 
Gesamtgebilde  eingeschmolzen  sind,  sondern  die  sich  als  senkrechte  Pfosten 
von  der  Tischplatte  und  ihrem  Gehäuse  sondern  und  gegebenenfalls  ab- 
schrauben lassen. 

Gerade  im  Vergleich  mit  klassizistischer  Architektur  des  19.  Jahrhun- 
derts wird  man  ein  Gebäude  wie  das  Amsterdamer  Rathaus  richtig  zu 
beurteilen  imstande  sein.  Man  denke  an  Klenzes  Neuen  Königsbau  in 
München:  die  Geschosse,  die  Pilasterintervalle,  die  Fenster  —  lauter  Teile, 
die,  schön  in  sich,  auch  im  Gesamtbild  noch  als  selbständige  Glieder  sich 
behaupten. 


14  H.  W.,  G.  2  A. 


209 


v.  Klarheit  und  Unklarheit 

(Unbedingte  und  bedingte  Klarheit) 

Malerei 

i. 

Allgemeines  ["  edes  Zeitalter  hat  von  seiner  Kunst  verlangt,  daß  sie  klar  sei,  und  es  ist 
J  immer  ein  Vorwurf  gewesen,  wenn  man  die  Darstellung  unklar  genannt 
hat.  Aber  das  Wort  hat  doch  im  1 6.  Jahrhundert  einen  andern  Sinn  gehabt 
als  später.  Für  die  klassische  Kunst  ist  alle  Schönheit  gebunden  an  die 
restlose  Offenbarung  der  Form,  im  Barock  verdunkelt  sich  die  absolute 
Klarheit  selbst  da,  wo  die  Absicht  auf  vollkommene  Sachlichkeit  geht.  Die 
Bilderscheinung  fällt  nicht  mehr  zusammen  mit  dem  Maximum  gegenständ- 
licher Deutlichkeit,   sondern  weicht  ihm  aus. 

Nun  ist  es  ja  bekannt,  daß  jede  fortschreitende  Kunst  die  Aufgabe  für 
das  Auge  schwerer  und  schwerer  zu  machen  sucht,  das  heißt,  wenn  erst 
einmal  das  Problem  der  klaren  Darstellung  erfaßt  ist,  wird  es  sich  von  selber 
ergeben,  daß  der  Auffassung  gewisse  Schwierigkeiten  in  den  Weg  gelegt 
werden,  daß  die  Bildform  sich  kompliziert  und  daß  der  Beschauer,  dem  das 
Einfache  allzu  durchsichtig  geworden  ist,  in  der  Lösung  der  verwickeiteren 
Aufgabe  einen  Reiz  empfindet.  Allein  die  barocke  Verunklärung  des  Bildes, 
von  der  wir  zu  sprechen  haben,  würde  doch  nur  teilweise  als  Reizsteigerung 
in  diesem  Sinne  begriffen  werden  können.  Das  Phänomen  ist  von  tieferer 
und  umfassenderer  Art.  Nicht  um  die  erschwerte  Lösbarkeit  eines  Rätsels, 
das  schließlich  doch  geraten  werden  kann,  handelt  es  sich,  sondern  hier 
bleibt  immer  ein  ungeklärter  Rest  übrig.  Der  Stil  absoluter  und  relativer 
Klarheit  ist  ein  Darstellungsgegensatz,  der  mit  den  bisherigen  Begriffen 
durchaus  parallel  geht.  Er  entspricht  zwei  verschiedenen  Grundanschau- 
ungen und  es  ist  mehr  als  das  bloße  Verlangen  nach  Reizsteigerung  durch 
erschwerte  Perzeption,  wenn  der  Barock  die  alte  Schaustellung  der  Form 
im  Bildwerk  als  etwas  Unnatürliches  empfindet,  das  ihm  zu  wiederholen 
unmöglich  ist. 

Während  die  klassische  Kunst  alle  Darstellungsmittel  in  den  Dienst  der 
deutlichen  Formerscheinung  stellt,  ist  hier  grundsätzlich  der  Schein  ver- 
mieden, als  ob  das  Bild  für  die  Anschauung  zurechtgemacht  sei  und  jemals 
ganz  in  Anschauung  aufgehen  könne.   Ich  sage:  es  ist  der  Schein  vermieden,  in 

210 


V.   KLARHEIT  UND   UNKLARHEIT 

Wirklichkeit  ist  natürlich  doch  das  Ganze  auf  den  Beschauer  und  seine  Augen- 
bedürfnisse berechnet.  Jede  wirkliche  Unklarheit  ist  unkünstlerisch.  Aber 
paradox  gesprochen  es   gibt  auch    eine  Klarheit   des  Unklaren.     Die 

Kunst  bleibt  Kunst,  auch  wenn  sie  das  Ideal  der  vollen  gegenständlichen 
Klarheit  aufgibt.  Das  17.  Jahrhundert  hat  in  der  Dunkelheit,  die  die  Form 
verschlingt,  eine  Schönheit  gefunden.  Der  Stil  der  Bewegung,  der  Impres- 
sionismus, ist  von  Hause  aus  auf  eine  gewisse  Unklarheit  eingestellt.  Sie 
wird  aufgenommen,  nicht  als  Ergebnis  einer  naturalistischen  Auffassung  — 
weil  die  Sichtbarkeit  nun  eben  einmal  nicht  völlig  klare  Bilder  liefere  — , 
sondern  weil  ein  Geschmack  für  die  schwebende  Klarheit  da  ist.  Dadurch 
erst  ist  der  Impressionismus  möglich  geworden.  Seine  Voraussetzungen 
liegen  auf  dekorativem,  nicht  bloß  auf  imitativem  Feld. 

Umgekehrt  hat  Holbein  genau  gewußt,  daß  die  Dinge  in  der  Natur  nicht 
so  erscheinen  wie  in  seinen  Bildern,  daß  man  die  Ränder  der  Körper  nicht 
in  der  gleichmäßigen  Schärfe  sieht,  wie  er  es  darstellt,  und  daß  für  den  wirk- 
lichen Anblick  die  Einzelformen  von  Schmuck,  Stickereien,  Bart  unddergleichen 
mehr  oder  weniger  verloren  gehen.  Er  würde  aber  den  Hinweis  auf  das  ge- 
wöhnliche Sehen  nicht  als  Kritik  haben  gelten  lassen.  Für  ihn  gab  es  nur 
eine  Schönheit  der  absoluten  Klarheit.  Und  eben  im  Geltendmachen  dieser 
Forderung  sah  er  den  Unterschied  von  Kunst  und  Natur. 

Es  hat  vor  und  neben  Holbein  Künstler  gegeben,  die  weniger  streng  oder, 
wenn  man  will,  mehr  modern  dachten.  Das  ändert  nichts  an  der  Tatsache, 
daß  er  die  Höhe  der  einen  Stilkurve  repräsentiert.  —  Allgemein  aber  muß 
gesagt  werden,  daß  der  Begriff  Klarheit  im  qualitativen  Sinne  für  den  Unter- 
schied der  zwei  Stile  nicht  in  Betracht  kommen  kann.  Hier  handelt  es  sich 
um  ein  verschiedenes  Wollen,  nicht  um  ein  verschiedenes  Können  und  die 
„Unklarheit"  des  Barock  hat  die  klassische  Klarheit,  durch  die  die  Ent- 
wicklung hindurchgegangen  ist,  immer  zur  Voraussetzung.  Ein  qualitativer 
Unterschied  besteht  nur  zwischen  der  Kunst  der  Primitiven  und  der  Kunst 
der  Klassiker:  der  Begriff  der  Klarheit  ist  nicht  von  Anfang  an  da,  son- 
dern hat  erst  allmählich  gewonnen  werden  müssen. 


Jede  Form  hat  gewisse  Erscheinungsweisen,  in  denen  der  höchste  Grad  von    Die  Haupt- 
Deutlichkeit  liegt.    Dahin  gehört  zunächst,  daß  sie  bis  in  alle  Enden  hinein 
sichtbar  sei.    Kein  Mensch  nun  wird  erwarten,  daß  auf  einem  vielfigurigen 
Historienbild  alle  Leute  bis  auf  Hände  und  Füße  klargemacht  werden  müßten 


14 


*  211 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

und  auch  der  strenge  klassische  Stil  hat  die  Forderung  nie  so  gestellt,  allein 
es  ist  doch  bedeutungsvoll,  daß  auf  Lionardos  Abendmahl  von  den  26  Händen 
Christus  und  die  12  Jünger  —  nicht  eine  „unter  den  Tisch  gefallen"  ist. 
Und  im  Norden  ist  es  ebenso.  Man  kann  bei  der  Antwerpener  Beweinung 
des  Massys*  die  Probe  machen  oder  die  Extremitäten  auf  der  großen  Pietä 
des  Joos  van  Cleve*  (Meister  des  Todes  der  Maria)  nachzählen:  die  Hände 
sind  alle  da,  und  für  den  Norden  bedeutet  das  noch  mehr,  weil  hier  keine 
Tradition  in  diesem  Sinne  bestand.  Demgegenüber  steht  dann  die  Tat- 
sache, daß  auf  einem  so  sachlichen  Porträtstück  wieRembrandts  Staalmeesters*, 
wo  6  Figuren  vorkommen,  statt  12  nur  5  Hände  sichtbar  sind.  Die  voll- 
ständige Erscheinung  ist  jetzt  die  Ausnahme,  früher  die  Regel.  Terborg 
kommt  bei  den  zwei  musizierenden  Frauen  (Berlin)  mit  einer  Hand  aus, 
Massys  gibt  in  seinem  Sittenstück  des  Goldwägers  und  seiner  Frau  selbst- 
verständlich die  zwei  Paare  vollständig. 

Abgesehen  von  dieser  stofflichen  Vollständigkeit  hat  die  klassische  Zeich- 
nung überall  auf  eine  Darstellung  gedrängt,  die  als  erschöpfende  Form- 
erklärung gelten  konnte.  Alle  Form  wird  gezwungen,  ihr  Typisches  her- 
zugeben. Die  einzelnen  Motive  sind  in  sprechenden  Kontrasten  entwickelt. 
Man  kann  die  Erstreckungen  alle  genau  bemessen.  Abseits  von  aller  Quali- 
tät der  Zeichnung,  ist  der  bloßen  Anlage  nach  der  Körper  auf  Tizians 
Venus-  oder  Danaebildern  so  gut  wie  bei  Michelangelos  badenden  Soldaten 
etwas  schlechthin  Letztes  an  klar  ausgebreiteter  Form,  die  keine  Frage 
übrig  läßt. 

Diesem  Maximum  von  Deutlichkeit  weicht  der  Barock  aus.  Er  will  nicht 
alles  sagen,  wo  einzelnes  erraten  werden  kann.  Mehr:  die  Schönheit  haftet 
überhaupt  nicht  mehr  an  der  völlig  faßbaren  Klarheit,  sondern  springt  auf 
jene  Formen  über,  die  etwas  Unfaßbares  an  sich  haben  und  dem  Beschauer 
immer  wieder  zu  entschlüpfen  scheinen.  Das  Interesse  an  der  geprägten 
Form  zieht  sich  zurück  vor  dem  Interesse  an  der  unbegrenzten,  bewegten 
Erscheinung.  Daher  verschwinden  auch  die  elementaren  Schauansichten  von 
reiner  Front  und  reinem  Profil,  man  sucht  das  Sprechende  in  der  zufälligen 
Erscheinung. 

Für  das  16.  Jahrhundert  steht  die  Zeichnung  ganz  im  Dienste  der  Klar- 
heit. Es  brauchen  nicht  lauter  Schauansichten  zu  sein,  aber  in  jeder  Form 
steckt  der  Trieb,  sich  offenbar  zu  machen.  Mag  der  letzte  Grad  klarer 
Selbstentfaltung  nicht  durchweg  erreicht  sein  —  das  ist  nicht  möglich  in 
einem  Bild  mit  reicherem  Inhalt  — ,   so  bleibt  doch  auch  kein  unaufgeklärter 

212 


V.   KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Rest  übrig.  Auch  die  verlorenste  Form  ist  noch  irgendwie  faßbar,  das  wesent- 
liche Motiv  aber  ist  in  den  Brennpunkt  deutlicher  Ansicht  gerückt. 

Das  gilt  zunächst  für  die  Silhouette.  Auch  die  verkürzte  Ansicht,  die  von 
der  typischen  Gestalt  vieles  verschluckt,  wird  so  behandelt,  daß  die  Silhouette 
aufschlußreich  bleibt,  das  heißt  viel  Form  enthält.  Umgekehrt  ist  das  Cha- 
rakteristische von  „malerischen"  Silhouetten  gerade  dies,  daß  sie  formarm 
erscheinen.  Sie  decken  sich  nicht  mehr  mit  dem  Sinn  der  Gestalt.  Die  Linie 
hat  sich  zu  einem  ganz  selbständigen  Leben  emanzipiert  und  darin  beruht 
der  neue  Reiz,  von  dem  wir  früher  (im  Kapitel  des  Malerischen)  gehandelt 
haben.  Natürlich  ist  fort  und  fort  dafür  gesorgt,  daß  dem  Auge  die  nötigen 
Anhaltspunkte  übermittelt  werden,  aber  man  will  es  nicht  Wort  haben,  es 
sei  die  Klarheit  der  Erscheinung  der  leitende  Grundsatz  im  Bildwerk.  Was 
ganz  auf  Klarheit  eingestellt  ist,  erweckt  Mißtrauen,  als  könne  es  kein  Leben- 
diges sein.  Tritt  der  Fall  ein  was  selten  geschieht  ■— ,  daß  sich  wirklich 
einmal  ein  nackter  Körper  z.  B.  in  reiner  Frontansicht  silhouettiert,  so  ist 
es  doppelt  interessant  zu  sehen,  wie  mit  allerlei  ableitenden  Mitteln  (Unter- 
schneidungen  u.  dgl.)  versucht  wird,  die  Klarheit  zu  brechen,  mit  andern 
Worten:  die  formklare  Silhouette  nicht  zum  Träger  des  Eindrucks  werden 
zu  lassen. 

Andrerseits  ist  es  selbstverständlich,  daß  auch  die  klassische  Kunst  nicht 
immer  über  die  Möglichkeit  verfügt,  die  Erscheinung  zu  restloser  Form- 
klarheit zu  bringen.  Ein  Baum,  aus  einiger  Entfernung  gesehen,  wird  stets 
seine  Blätter  zu  einem  bloßen  Masseneindruck  zusammenfließen  lassen.  Allein 
das  ist  kein  Widerspruch.  Es  wird  hier  nur  deutlich,  daß  man  das  Prinzip 
der  Klarheit  nicht  im  roh-stofflichen  Sinne  verstehen  darf,  sondern  zunächst 
als  dekoratives  Prinzip  nehmen  muß.  Entscheidend  ist  nicht,  ob  das  ein- 
zelne Blatt  am  Baum  sichtbar  wird  oder  nicht,  sondern  daß  die  Formel, 
mit  der  man  das  Blattwerk  charakterisiert,  eine  klare  und  gleichmäßig  faß- 
bare Formel  sei.  Innerhalb  der  Kunst  des  16.  Jahrhunderts  bedeuten  die 
Baummassen  des  Albrecht  Altdorfer  einen  fortgeschrittenen  malerischen  Stil, 
aber  sie  sind  doch  noch  nicht  von  der  wirklich  malerischen  Art,  weil  die 
einzelnen  Schnörkel  immer  noch  bestimmt  faßbare  ornamentale  Figuren  dar- 
stellen, was  beim  Baumschlag  eines  Ruysdael  z.  B.  nicht  mehr  der  Fall  ist1). 

Das  an  sich  Unklare  ist  für  das  16.  Jahrhundert  kein  Problem,  das  17. 
anerkennt  es  als  eine  künstlerische  Möglichkeit.    Der  ganze  Impressionismus 

*)  Übrigens  wird  man  bei  Altdorfer  eine  Entwicklung  vom  Wenigerklaren  zum  Mehr- 
klaren feststellen  können. 

213 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

beruht  darauf.  Die  Darstellung  von  Bewegung  durch  Verunklärung  der  Form 
(Beispiel  des  rollenden  Rades!)  ist  erst  möglich  geworden,  als  das  Auge 
dem  Halbklaren  einen  Reiz  abgewonnen  hatte.  Aber  nicht  nur  die  eigent- 
lichen Bewegungsphänomene,  alle  Form  behält  einen  Rest  von  Unbestimmt- 
heit für  den  Impressionismus.  Und  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  wenn  ge- 
rade die  entschlossen  fortschrittliche  Kunst  oft  auf  die  allereinfachsten  An- 
sichten zurückgreift.  Den  Forderungen  des  Reizes  der  bedingten  Klarheit 
ist  trotzdem  Genüge  getan. 

Man  sieht  der  Seele  der  klassischen  Kunst  auf  den  Grund,  wenn  Lionardo 
sogar  die  anerkannte  Schönheit  geopfert  wissen  will,  sobald  sie  der  Klar- 
heit auch  nur  etwas  im  Wege  stehe.  Er  bekennt,  es  gebe  kein  schöneres 
Grün  als  das  Grün  der  sonnendurchschossenen  Blätter  am  Baum,  allein  gleich- 
zeitig warnt  er  davor,  dergleichen  Dinge  zu  malen,  denn  es  erzeugen  sich  dabei 
leicht  irreführende  Schatten,  die  Klarheitder  Formerscheinung  werde  getrübt.1) 

Licht  und  Schatten  dienen  der  klassischen  Kunst  grundsätzlich  ebenso 
zur  Formaufklärung  wie  die  Zeichnung  (im  engeren  Sinne).  Jedes  Licht 
wirkt  formbezeichnend  im  einzelnen,  gliedernd  und  ordnend  im  ganzen. 
Der  Barock  kann  auf  diese  Hilfen  natürlich  auch  nicht  verzichten,  aber  das 
Licht  steht  nicht  mehr  ausschließlich  im  Dienste  der  Formaufklärung.  Es 
geht  stellenweise  über  die  Form  hinweg,  es  kann  Wichtiges  verhüllen  und 
Nebensächliches  herausholen,  das  Bild  ist  erfüllt  von  einer  Lichtbewegung, 
die  jedenfalls  nicht  mit  den  Forderungen  der  Sachdeutlichkeit  zusammen- 
fallen soll. 

Es  gibt  Fälle  des  offenbaren  Widerspruchs  zwischen  Form-  und  Licht- 
führung. So  ist  es,  wenn  beim  Bildnis  der  obere  Teil  des  Kopfes  im  Schatten 
steht  und  nur  der  untere  hell  ist,  oder  wenn  bei  einer  Darstellung  der  Taufe 
Christi  Johannes  allein  das  Licht  hat  und  der  Täufling  im  Dunkel  bleibt. 
Tintoretto  ist  voll  von  gegenständlich-sinnwidrigen  Lichtführungen  und  was 
für  willkürliche  Lichtfiguren  hat  der  junge  Rembrandt  zur  Dominante  im 
Bild  gemacht!  Für  uns  hier  ist  aber  nicht  das  Ungewöhnliche  und  Auffal- 
lende wichtig,  sondern  das,  was  als  selbstverständliche  Verschiebung  er- 
scheint und  vom  zeitgenössischen  Publikum  gar  nicht  besonders  bemerkt 
worden  sein  wird.  Die  Klassiker  des  Barock  sind  interessanter  als  die  Uber- 
gangsmeister  und  der  reife  Rembrandt  ist  uns  lehrreicher  als  der  junge 
Rembrandt. 


')  Lionardo,  Traktat  von  der  Malerei   (ed.  Ludwig),  913  (924)  und  917  (892). 
214 


Hn 


Rembrandt 

Es  gibt  nichts  Einfacheres  als  die  Radierung  seines  Emmaus*  von  1654. 
Scheinbar  decken  sich  Lichtführung  und  Gegenstand  völlig.  Der  Herr  in 
der  Glorie,  die  die  Rückwand  aufhellt,  der  eine  Jünger  hell  im  Lichte  des 
Fensters,  der  andere  dunkel,  weil  er  gegen  das  Licht  sitzt.  Dunkel  auch 
der  Knabe  vorn  an  der  Treppe.  Ist  hier  etwas,  was  nicht  auch  im  16.  Jahr- 
hundert so  hätte  gegeben  werden  können?  Aber  in  der  Ecke  unten  rechts 
liegt  eine  Dunkelheit,  die  stärkste  Dunkelheit  des  Ganzen,  die  dem  Blatt 
den  barocken  Stempel  aufdrückt.  Nicht  daß  sie  unmotiviert  wäre,  man  sieht 
genau,  warum  es  hier  dunkel  sein  muß,  aber  so  wie  der  Schatten  daliegt, 
ohne  Wiederholung,  etwas  Einmaliges  und  Einzigartiges,  dazu  exzentrisch, 
gewinnt  er  eine  große  Bedeutung :  auf  einmal  sieht  man  eine  Lichtbewegung 
m  Bilde,  die  mit  der  feierlichen  Symmetrie  der  Tischgesellschaft  offenbar 
nicht  zusammengeht.  Man  muß  eine  Komposition  wie  Dürers  Emmausblatt 
in  der    kleinen  Holzschnittpassion    vergleichen,  um  sich  ganz  klar  zu  wer- 


215 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

den,  inwiefern  die  Lichtführung  hier  über  das  Gegenständliche  hinaus  zu 
eigenem  Leben  erwachsen  ist.  Kein  Zwiespalt  zwischen  Form  und  Inhalt 
—  das  wäre  ein  Vorwurf  — ,  aber  das  alte  Verhältnis  der  Dienstbarkeit  ist 
gelöst  und  in  der  neuen  Freiheit  erst  gewinnt  die  Szene  für  das  Barockzeit- 
alter den  Lebensodem. 

Alles,  was  man  im  gewöhnlichen  Sinne  „malerische  Beleuchtung"  nennt, 
ist  ein  von  der  Sachform  unabhängig  gewordenes  Spiel  des  Lichtes,  ob  es 
nun  das  in  einzelnen  Flecken  über  den  Erdboden  hinjagende  Licht  eines 
Gewitterhimmels  sei  oder  das  Licht,  das  in  der  Kirche,  hoch  einfallend,  an 
Wänden  und  Pfeilern  sich  bricht  und  wo  die  Dämmerung  in  Nischen  und 
Winkeln  aus  dem  begrenzten  Raum  ein  Unbegrenztes  und  Unerschöpfliches 
macht.  Die  klassische  Landschaft  kennt  das  Licht  als  das  sachlich  Glie- 
dernde, dann  sucht  man  wohl  da  und  dort  den  grellen  Widerspruch,  der 
neue  Stil  ist  aber  erst  da  vollendet,  wo  man  dem  Licht  grundsätzlich  einen 
irrationalen  Charakter  zugesteht.  Es  teilt  dann  das  Bild  nicht  in  einzelne 
Zonen,  sondern  unabhängig  von  jedem  plastischen  Motiv  legt  sich  eine  Hel- 
ligkeit da  quer  über  den  Weg  oder  geht  dort  als  wandelnder  Schein  über 
die  Wellen  der  Meeresfläche.  Und  kein  Mensch  denkt  mehr  daran,  daß  darin 
ein  Widerspruch  zur  Form  liegen  könnte.  Motive  wie  die  Blätterschatten, 
die  auf  der  Mauer  des  Hauses  spielen,  sind  jetzt  möglich.  Nicht  weil  man 
sie  jetzt  erst  beobachtet  hätte,  gesehen  hat  man  sie  immer,  aber  die  Kunst 
im  Geiste  Lionardos  hat  sie  als  formunklare  Motive  noch  nicht  verwerten 
können. 

Und  so  ist  es  schließlich  bei  der  Einzelfigur.  Terborch  kann  ein  Mäd- 
chen malen,  das  am  Tisch  irgend  etwas  liest:  das  Licht  kommt  ihm  von 
rückwärts,  streift  die  Schläfe  und  ein  freifallendes  Löckchen  wirft  einen 
Schatten  über  die  glatte  Fläche.  Das  scheint  alles  sehr  natürlich,  aber  der 
klassische  Stil  hat  dieser  Natürlichkeit  keinen  Platz  gewährt.  Man  denke 
nur  an  die  stofflich  verwandten  Darstellungen  des  Meisters  der  weiblichen 
Halbfiguren,  wo  Licht  und  Modellierung  völlig  ineinander  aufgehen.  Ein- 
zelne Freiheiten  mögen  immer  gewagt  worden  sein:  es  sind  dann  eben 
die  Ausnahmen,  die  als  solche  empfunden  wurden.  Jetzt  ist  die  irrationale 
Lichtführung  die  Norm  und  wo  sich  eine  rein  sachliche  Beleuchtung  ergibt, 
da  soll  sie  nicht  als  gewollt,  sondern  als  Zufall  erscheinen.  Im  Impressio- 
nismus aber  gewinnt  die  Lichtbewegung  an  sich  soviel  Energie,  daß  die 
Kunst  auf  die  „malerisch"  verunklärenden  Motive  in  der  Anordnung  von 
Licht  und  Schatten  ruhig  verzichten  kann. 

216 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Die  formzerstörenden  Wirkimgen  eines  sehr  starken  Lichtes  und  die  form- 
auflösenden Wirkungen  eines  sehr  schwachen  Lichtes  sind  beides  Probleme, 
die  für  die  klassische  Epoche  außerhalb  der  Kunst  lagen.  Auch  die  Renais- 
sance hat  die  Nacht  dargestellt.  Die  Figuren  sind  dann  dunkel  gehalten, 
bewahren  aber  die  Bestimmtheit  der  Form;  jetzt  dagegen  fließen  die  Figuren 
mit  dem  allgemeinen  Dunkel  zusammen  und  es  bleibt  nur  ein  Ungefähr 
übrig.  Der  Geschmack  war  dahin  entwickelt,  auch  diese  bedingte  Klarheit 
schön  zu  finden. 

Auch  die  Geschichte  der  Farbgebung  läßt  sich  den  Begriffen  von  be- 
dingter und  unbedingter  Klarheit  unterstellen. 

Lionardo,  der  die  farbigen  Reflexe  und  die  komplementären  Farben  der 
Schatten  theoretisch    schon    genau   kannte,   wollte   doch   nicht   dulden,    daß 
der  Maler    diese  Erscheinungen    in    sein  Bild    übertrüge.     Das  ist   sehr  be- 
zeichnend.    Offenbar  befürchtete  er,  es  könnte  die  Klarheit  und  Selbstherr- 
lichheit   der  Gegenstände  leiden.     So    spricht    er    auch  von    dem  ,, wahren" 
Schatten  der  Dinge,  der  nur  aus  ihrer  Lokalfarbe    und  Schwarz  gemischt 
sein    dürfte ').     Die  Geschichte    der  Malerei    ist    nicht    die    Geschichte    der 
wachsenden  Einsicht  in  den  Tatbestand  der  farbigen  Erscheinung,  vielmehr 
werden    die  farbigen  Beobachtungen    in    einer   Auslese    verwertet,    die   von 
ganz  anderen  als  bloß  naturalistischen  Gesichtspunkten  her  getroffen  wird. 
Daß     Lionardos    Formulierungen     nur     eine     beschränkte     Geltung     bean- 
spruchen dürfen,  beweist  das  eine  Beispiel  Tizians.    Allein  Tizian  ist  nicht 
nur  viel  jünger,    sondern  bildet    eben    mit  seiner  langen  Entwicklung  hier 
wie    sonst    den    Übergang    zum    andern    Stil,    wo    die  Farbe    grundsätzlich 
nicht  mehr  bloß  etwas  den  Körpern  Anhaftendes  ist,   sondern  das  große  Ele- 
ment, in  dem  die  Dinge  Sichtbarkeit  gewinnen,   etwas  Zusammenhängendes, 
Einheitlich-Bewegtes  und  jeden  Augenblick  sich  Änderndes.     Wir  müssen 
auf  die  Ausführungen  zurückverweisen,  die  im  i.  Kap.  zum  Begriff  der  male- 
rischen Bewegung  gemacht  worden  sind.     An  dieser  Stelle  soll  nur  gesagt 
sein,  daß  auch  das  Auslöschen  der  Farbe  für  den  Barock  einen  Reiz  haben 
muß.     An  Stelle  der  gleichmäßigen  Farbklarheit  setzt  er  die  teilweise  Farb- 
unklarheit.    Die  Farbe  ist  nicht  von  vornherein  da,  überall  fertig,   sondern 
sie  wird    erst.     Wie    die  Pointierungen    der  Zeichnung,  von  denen  wir    im 


')  Lionardo  a.  a.  O.  729  (703).  Vgl.  925  (925)  über  die  ,, wahre"  Laubfarbe:  man  solle 
ein  Blatt  von  dem  Baume  nehmen,  der  nachgemacht  werden  soll,  und  nach  diesem 
Muster  seine  Mischungen  anfertigen. 

217 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

vorigen  Kapitel  sprachen,  die  teilweise  Undeutlichkeit  der  Form  verlangen 
und  voraussetzen,  so  fußt  auch  das  Schema  der  pointierten  Farbe  auf  der 
Anerkennung  der  verunklärten  Farberscheinung  als  Bildfaktors. 

Nach  den  Grundsätzen  klassischer  Kunst  steht  die  Farbe  im  Dienste  der 
Form,  nicht  bloß  im  einzelnen,  wie  Lionardo  es  meint,  sondern  auch  im 
allgemeinen:  das  Bild,  als  Ganzes  gesehen,  gliedert  sich  durch  die  Farbe 
in  seine  gegenständlichen  Teile  und  die  farbigen  Akzente  sind  auch  die 
Sinnakzente  der  Komposition.  Bald  hat  man  ein  Gefallen  darin  gefunden, 
die  Akzente  etwas  zu  verschieben  und  man  wird  schon  früher  einzelne 
Anomalien  in  der  farbigen  Anordnung  nachweisen  können,  der  eigent- 
liche Barock  aber  setzt  erst  ein,  als  man  der  Farbe  grundsätzlich  die  Ver- 
pflichtung abgenommen  hat,  Klärerin  und  Erklärerin  des  Gegenständlichen 
zu  sein.  Die  Farbe  wird  nicht  der  Klarheit  entgegenarbeiten,  allein  je 
mehr  sie  zu  eigenem  Leben  erwacht,  um  so  weniger  kann  sie  im  Dienst 
der  Dinge  verharren. 

Schon  in  dem  Wiederholen  einer  Farbe  an  verschiedenen  Stellen  im  Bild 
bekundet  sich  die  Absicht,  den  gegenständlichen  Charakter  des  Kolorits  zu 
dämpfen.  Der  Beschauer  bindet  das  farbig  Zusammengehörige  und  kommt 
damit  auf  Fährten,  die  mit  der  stofflichen  Interpretation  nichts  zu  tun 
haben.  Ein  einfaches  Beispiel:  Tizian  im  Bilde  Karl  V.  (München)  gibt 
einen  roten  Teppich  und  Antonis  Moor  im  Bild  der  Maria  von  England 
(Madrid)  einen  roten  Stuhl,  die  beide  stark  als  Lokalfarbe  sprechen  und 
sich  der  Phantasie  von  der  gegenständlichen  Seite  her  —  als  Teppich  und 
als  Stuhl  —  einprägen.  Die  Spätem  würden  diese  Wirkung  vermieden 
haben.  Velasquez,  in  bekannten  Porträtstücken,  hat  es  so  gemacht,  daß 
er  das  gegebene  Rot  an  anderen  Gegenständen,  an  Kleidern,  Polstern, 
Vorhängen  wieder  benützt,  immer  etwas  abgeändert,  wodurch  die  Farbe 
leicht  in  einen  überdinglichen  Zusammenhang  kommt  und  sich  von  der 
stofflichen  Unterlage  mehr  oder  weniger  löst. 

Je  mehr  tonige  Bindung  da  ist,  um  so  leichter  wird  sich  der  Prozeß  voll- 
ziehen. Man  kann  der  selbständigen  Wirkung  des  Kolorits  aber  auch 
dadurch  zu  Hilfe  kommen,  daß  man  ein  und  dieselbe  Farbe  auf  Dinge  von 
ganz  verschiedener  Bedeutung  verteilt  oder  umgekehrt  das,  was  sachlich  eine 
Einheit  bildet,  in  der  farbigen  Behandlung  trennt.  Eine  Schafherde  des 
Cuyp  wird  nicht  eine  isolierte  weißgelbe  Masse  sein,  sondern  mit  ihrem 
Lichtton  gerne  irgendwo  in  die  Helligkeit  des  Himmels  übergreifen  und 
gleichzeitig  können  von  den  Tieren  einige  unter  Bedingungen  gebracht  sein, 

218 


Pieter  de  Hooch 

daß  sie  sich  von  dem  Verwandten  trennen  und  mehr  mit  dem  Braun  des 
Erdbodens  Fühlung  nehmen  (vgl.   Bild  in  Frankfurt  a.  M.). 

Derartige  Kombinationen  gibt  es  unendliche.  Der  stärkste  Farbeffekt 
braucht  aber  überhaupt  nicht  mit  dem  gegenständlichen  Hauptmotiv  ver- 
bunden zu  sein.  In  dem  Bilde  des  Pieter  de  Hooch*  (Berlin),  wo  die  Mutter 
an  der  Wiege  sitzt,  ist  die  farbige  Rechnung  abgestellt  auf  den  Zusammen- 
klang eines  leuchtenden  Rot  und  eines  warmen  Gelbbrauns.  Das  Gelb- 
braun in  seiner  höchsten  Steigerung  findet  sich  am  Pfosten  der  Türe  im 
Hintergrund,  das  höchste  Rot  —  nicht  etwa  am  Kleide  der  Frau,  sondern 
an  einem  Rock,  der  zufällig  am  Bett  aufgehängt  ist.  Die  Pointe  des  Farben- 
spiels läßt  die  Figur  ganz  beiseite. 

Das  wird  niemand  als  ungehörigen  Eingriff  in  die  Klarheit  der  Kom- 
position empfinden,  aber  es  ist  doch  eine  Emanzipation  der  Farbe,  für  die 
in   der  klassischen   Zeit    noch   kein   Verständnis  vorhanden   gewesen   wäre. 

Ähnlich,  aber  doch  nicht  gleich  liegt  das  Problem  in  Bildern  wie  Rubens' 
Andromeda*  oder  Rembrandts  Susanna  (beide  in  Berlin).     Wenn  hier,  bei 


219 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

der  Susanna,  das  abgelegte  Gewand  der  Badenden  mit  seinem  brillanten 
Rot,  gesteigert  durch  den  elfenbeinfarbigen  Körper,  weithin  aus  dem  Bilde 
herausleuchtet,  so  wird  man  zwar  über  die  gegenständliche  Bedeutung  des 
Farbflecks  sich  nicht  täuschen  und  kaum  auf  einen  Augenblick  vergessen, 
daß  dieses  Rot  ein  Rock,  der  Rock  der  Susanna,  ist,  aber  doch  fühlt  man 
sich  allen  Bildern  des  16.  Jahrhunderts  weit  entrückt.  Das  liegt  nicht  nur 
an  der  zeichnerischen  Form.  Gewiß:  die  rote  Masse  ist  als  Figur  schwer 
zu  fassen  und  es  ist  durchaus  malerisch  empfunden,  wie  die  rote  Glut  in 
den  herabhängenden  Schnüren  gleichsam  abtropft  und  unten  in  den  Pan- 
toffeln wie  in  einer  feurigen  Lache  sich  wieder  zu  sammeln  scheint,  aber 
entscheidend  für  die  Wirkung  ist  doch  die  Einzigkeit  dieser  ganz  seitlich 
angeordneten  Farbe.  Damit  erhält  das  Bild  einen  Akzent,  der  nicht  mit 
den  Forderungen  der  Situation  zusammenfällt. 

Auch  Rubens  hat  in  dem  so  sachlichen  Bilde  seiner  Andromeda  das  Be- 
dürfnis gehabt,  mit  der  Farbe  einen  barock-irrationalen  Fleck  in  die  Kom- 
position hineinzuwerfen.  Unten  in  der  Ecke  rechts,  zu  Füßen  der  in  blen- 
dender Nacktheit  dastehenden  Frontfigur  bäumt  sich  ein  ungebärdiges 
Purpurrot.  Sachlich  leicht  zu  erklären  —  es  ist  der  abgeworfene  Sammet- 
mantel  der  Königstochter  — ,  hat  die  Farbe  an  dieser  Stelle  und  mit  dieser 
Wucht  der  Erscheinung  doch  etwas  Überraschendes  für  jeden,  der  vom 
16.  Jahrhundert  herkommt.  Das  stilgeschichtlich  Bedeutsame  liegt  in  der 
Stärke  des  Farbakzents,  der  in  so  gar  keinem  Verhältnis  zum  gegenständ- 
lichen Wert  seines  Trägers  steht,  aber  gerade  dadurch  der  Farbe  im  Bild 
die  Möglichkeit  eröffnet,  ihr  eigenes  Spiel  zu  spielen. 

Wie  Ähnliches  im  klassischen  Stil  gegeben  zu  werden  pflegt,  kann  man, 
in  derselben  Berliner  Galerie,  bei  Tizian  lernen  und  zwar  an  dem  Bilde 
der  kleinen  Tochter  des  Roberto  Strozzi,  wo  ebenfalls  ein  roter  Plüsch  am 
Rande  angeordnet  ist,  aber  diesmal  eben  durch  begleitende  Farben  von  allen 
Seiten  her  gestützt  und  beschwichtigt,  so  daß  kein  Übergewicht  und  keine 
Befremdung  sich  erzeugt.    Sache  und  Bildform  gehen  völlig  ineinander  auf. 

Endlich  ergibt  sich  auch  für  die  räumlich-figurale  Komposition  notwendig 
die  Konsequenz,  daß  die  Schönheit  nicht  mehr  an  die  Ordnungen  der 
höchsten  und  restlosen  Klarheit  gebunden  ist.  Ohne  den  Beschauer  mit 
einer  Unklarheit  zu  quälen,  die  ihn  zwingen  würde,  die  Motive  zu  suchen, 
nimmt  der  Barock  grundsätzlich  das  weniger  Klare,  ja  das  dauernd  Un- 
klare m  i  t  in  seine  Rechnung  auf.     Es  kommen  Schiebungen  vor,  die  das 

220 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Wichtige  zurückdrängen  und  das  Unwichtige  groß  erscheinen  lassen:  das 
ist  nicht  bloß  erlaubt,  sondern  erwünscht,  nur  muß  auf  eine  versteckte  Art 
das  Hauptmotiv  dann  doch  wieder  als  solches  herausgehoben  sein. 

Man  kann  auch  hier  die  Betrachtung  an  Lionardo  anknüpfen  und  ihn 
als  Sprecher  für  die  Kunst  des  16.  Jahrhunderts  auftreten  lassen.  Bekannt- 
lich ist  es  ein  beliebtes  Motiv  der  Barockmalerei,  durch  „übergroßen" 
Vordergrund  die  Tiefenbewegung  zu  verstärken.  Der  Fall  tritt  ein,  sobald 
ein  sehr  naher  Standpunkt  für  die  Aufnahme  gewählt  ist :  der  Größen- 
maßstab nach  der  Ferne  zu  wird  dann  relativ  rasch  abnehmen,  d.  h.  die 
Motive  der  nächsten  Nähe  werden  unverhältnismäßig  groß  erscheinen.  Nun : 
Lionardo  hat  das  Phänomen  auch  beobachtet1),  aber  es  besaß  für  ihn  nur 
ein  theoretisches  Interesse,  für  die  künstlerische  Praxis  schien  es  ihm  un- 
brauchbar. Warum  ?  Weil  die  Klarheit  darunter  leidet.  Er  hielt  es  für 
unstatthaft,  Dinge  in  der  perspektivischen  Darstellung  sich  stark  zu  ent- 
fremden, die  sich  in  Wirklichkeit  nahe  verwandt  sind.  Selbstverständlich 
bedingt  jede  Tiefendistanz  eine  Verkleinerung  des  Gegenstands,  allein  im 
Sinne  der  klassischen  Kunst  empfiehlt  Lionardo  einen  sachten  Fortgang 
in  der  Abnahme  des  perspektivischen  Maßstabes  und  lehnt  es  ab,  vom  ganz 
Großen  unmittelbar  zum  ganz  Kleinen  zu  springen.  Wenn  die  Spätem 
gerade  an  dieser  Form  Gefallen  fanden,  so  soll  der  Gewinn  für  die  Tiefen- 
wirkung nicht  klein  angeschlagen  werden,  aber  die  Freude  an  der  reiz- 
vollen Verunklärung  der  Bilderscheinung  hat  gewiß  auch  mitgesprochen. 
Als  auffallendstes  Beispiel  sei  Jan  Vermeer*   genannt. 

Gleicherweise  können  als  barocke  Verunklärungen  alle  diejenigen  Kom- 
binationen angeführt  werden,  wo  durch  das  perspektivische  Zusammenrücken 
und  durch  Überschneidung  Dinge  in  eine  enge  optische  Verbindung  kommen, 
die  real  nichts  miteinander  zu  tun  haben.  Überschneidungen  hat  es  schon 
immer  gegeben.  Entscheidend  ist  der  Grad  der  Nötigung,  Nahes  und 
Ferneres,  Überschneidendes  und  Uberschnittenes  zusammenzubeziehen. 
Auch  dieses  Motiv  dient  der  Tiefenspannung  und  ist  darum  schon  früher 
genannt  worden.  Man  darf  aber  auch  vom  Standpunkt  einer  gegenständ- 
lichen Betrachtung  darauf  zurückkommen,  denn  das  Resultat  ist  immer 
ein  Bild,  das  durch  die  eigentümliche  Fremdheit  der  neuen  Figur  über- 
rascht,  so  bekannt  die  Formen  der  einzelnen  Dinge   für   sich    sein  mögen. 

Vollkommen   deutlich    aber    enthüllt    der    neue   Stil    seine  Physiognomie, 


')  Lionardo  a.  a.  O.  76  (117)  und  481  (459)-    Vgl.  471  (461)  und  34  (31). 

221 


Betrachtung 
nach  Stoffen 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

wenn  in  einer  vielf  igurigen  Darstellung  der  einzelne  Kopf  und  die  einzelne  Figur 
überhaupt  nicht  mehr  auf  eine  völlige  Erkennbarkeit  rechnet.  Die  Hörer,  die 
den  lehrenden  Christus  auf  der  Radierung  Rembrandts  umgeben  (S.  170),  sind 
nur  teilweise  faßbar.  Es  bleibt  ein  Rest  von  Unklarheit.  Die  klarere  Form  hebt 
sich  aus  dem  Grunde  der  unklareren  empor  und  darin  liegt  ein  neuer  Reiz. 

Damit  ändert  sich  nun  aber  auch  die  geistige  Regie  einer  Geschichte. 
Wenn  die  klassische  Kunst  das  Motiv  in  vollendeter  Klarheit  bloßzulegen 
sich  zum  Ziel  setzte,  so  will  der  Barock  zwar  nicht  unklar  sein,  aber  doch 
die  Klarheit  nur  wie  ein  zufälliges  Nebenresultat  erscheinen  lassen.  Manch- 
mal spielt  man  direkt  mit  dem  Reiz  des  Versteckten.  Jedermann  kennt 
das  Bild  der  „Väterlichen  Ermahnung"  vonTerborch*.  Der  Titel  trifft  nicht 
das  Richtige,  aber  jedenfalls  liegt  die  Pointe  der  Darstellung  in  dem,  was 
der  sitzende  Herr  dem  stehenden  Mädchen  sagt,  vielmehr  darin,  wie  das 
Mädchen  die  Rede  aufnimmt.  Aber  gerade  hier  läßt  uns  der  Maler  im 
Stich.  Das  Mädchen,  das  mit  seinem  weißen  Atlaskleid  schon  als  Licht- 
ton den  Hauptanziehungspunkt  bildet,  bleibt  mit  dem  Gesicht  abgewendet. 

Das  ist  eine  darstellerische  Möglichkeit,  die  erst  der  Barock  kennt,  für 
das   16.  Jahrhundert  wäre  es  ein  bloßer  Witz  gewesen. 

3- 

Wenn  der  Begriff  von  Klarheit  und  Unklarheit  nicht  erst  jetzt,  sondern 
immer  schon  gelegentlich  verwendet  worden  ist,    so  liegt    das    daran,    daß 

er  in  der  Tat  mit  allen  Fak- 
toren des  großen  Prozesses 
irgendwie  in  Verbindung 
steht,  mit  dem  Gegensatz 
von  linear  und  malerisch 
aber  überhaupt  sich  teilweise 
deckt.  Alle  objektiv -male- 
rischen Motive  leben  von 
einer  gewissen  Verunklärung 
der  tastbaren  Form  und  der 
malerische  Impressionismus 
als  grundsätzliche  Aufhe- 
bung des  tastbaren  Charak- 
ters der  Sichtbarkeit  ist  als 
Stil  erst  dadurch  möglich  ge- 
Terborch  worden,  daß  die  „Klarheit  des 


222 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Unklaren"  gesetzliche  Geltung  in  der  Kunst  gewonnen  hatte.  Es  genügt  auf 
ein  Beispiel  wie  Dürers  Hieronymus*  und  Ostades  Malerwerkstatt*  zurück- 
zuverweisen, um  fühlen  zu  lassen,  wie  sehr  das  Malerische  in  jedem  Sinn 
den  Begriff  der  bedingten  Deutlichkeit  voraussetzt.  Dort  eine  Stube,  in 
der  der  letzte  Gegenstand  im  letzten  Winkel  noch  vollkommen  klar  er- 
scheint, hier  die  Dämmerung,  die  Wände  und  Dinge  sehr  bald  unerkennbar 
macht. 

Trotzdem  geht  der  Begriff  nicht  auf  im  bisher  Gesagten.  Nachdem  die  lei- 
tenden Motive  erörtert  worden  sind,  wollen  wir  auch  hier  an  einzelnen 
Bildstoffen  die  Umsetzung  vom  Völlig-Klaren  ins  Bedingt-Klare  verfolgen 
unter  wechselnden  Gesichtspunkten,  ohne  erschöpfende  Analyse  des  einzelnen 
Falles,  in  der  Hoffnung,  auf  diese  Weise  am  besten  dem  Phänomen  all- 
seitig gerecht  zu  werden. 

Man  kann  wie  immer  mit  Lionardos  Abendmahl  anfangen.  Es  gibt  keine 
höhere  Stufe  klassischer  Klarheit.  Die  Ausbreitung  der  Form  ist  eine  voll- 
kommene und  die  Komposition  derart,  daß  die  Bildakzente  mit  den  Sach- 
akzenten durchaus  zusammenfallen.  Tiepolo*gibt  dagegen  die  typisch-barocke 
Verschiebung :  Christus  hat  zwar  allen  nötigen  Nachdruck,  aber  offenbar 
bestimmt  er  nicht  die  Bewegung  des  Bildes  und  bei  den  Jüngern  ist  von 
dem  Prinzip  der  Verdeckung  und  Verdunkelung  der  Form  ausgiebiger  Ge- 
brauch gemacht.  Die  Klarheit  der  klassischen  Kunst  muß  dieser  Generation 
als  unlebendig  vorgekommen  sein.  Das  Leben  ordnet  ja  seine  Szenen  nicht 
so,  daß  man  alles  sieht,  und  daß  der  Inhalt  des  Geschehenden  die  Grup- 
pierung bedingt.  Zufällig  nur  kann  im  Wogenschlag  des  wirklichen  Lebens 
das  Wesentliche  auch  für  das  Auge  als  solches  wirksam  werden.  Auf  diese 
Momente  ist  die  neue  Kunst  eingestellt.  Aber  es  wäre  unrichtig,  in  der 
Absicht  auf  das  Natürliche  allein  den  Grund  dieses  Stils  zu  suchen,  erst 
als  die  relative  Unklarheit  ganz  allgemein  als  Reizmotiv  empfunden  wurde, 
konnte  dieser  Naturalismus  der  Schilderung  zu  Worte  kommen. 

In  gleicher  V/eise  wie  für  Lionardo  ist  für  Dürer  in  dem  Holzschnitt 
des  Marientodes*  das  Absolut-Klare  das  Natürliche  gewesen.  Der  Deutsche 
steigert  die  Forderung  nicht  so  hoch  wie  der  Italiener  und  gar  in  einem 
Holzschnitt  liegt  es  ihm  nahe,  den  Linien  zu  eigenem  Spiel  den  Lauf  zu 
lassen,  trotzdem  ist  auch  diese  Komposition  ein  typisches  Beispiel  für  das 
Zusammenfallen  von  Sache  und  Bilderscheinung.  Jedes  Licht  —  und  darauf 
kommt  es  in  dem  Schwarzweiß-Stück  besonders  an  —  drückt  klar  eine 
bestimmte  Form  aus  und  wenn  aus  der  Gesamtheit  aller  Lichter  auch  noch 

223 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

eine  bedeutende  Figur  hervorgeht,  so  schlägt  doch  auch  in  dieser  Wirkung 
immer  das  Sachliche  als  das  Bestimmende  durch.  —  Der  gemalte  Marien- 
tod des  Joos  van  Cleve*  bleibt  in  der  Abbildung  hinter  Dürer  zurück,  aber 
daran  ist  nur  schuld,  daß  die  ordnende  Farbe  fehlt.  Aus  dem  System  der 
verschiedenen  Farben  und  ihrer  Wiederholungen  geht  auch  hier  ein  Ge- 
samteindruck hervor,  aber  jede  Farbe  stützt  sich  auf  ihre  gegenständliche 
Basis  und  auch  wenn  sie  sich  wiederholt,  ist  es  nicht  ein  einheitliches  leben- 
diges Element,  das  da  und  dort  zur  Erscheinung  gelangt,  sondern  es  steht 
eben  nur  neben  der  roten  Bettdecke  ein  roter  Betthimmel  usw. 

Darin  liegt  der  Unterschied  zur  folgenden  Generation.  Die  Farbe  fängt 
an  sich  zu  verselbständigen  und  das  Licht  macht  sich  frei  von  den  Dingen. 
Im  Zusammenhang  damit  geht  das  Interesse  an  der  vollständigen  Durch- 
bildung des  plastischen  Motivs  natürlich  immer  mehr  zurück  und  wenn  man 
auf  das  Deutliche  der  Erzählung  nicht  verzichten  kann,  so  wird  diese  Deut- 
lichkeit doch  nicht  mehr  direkt  aus  dem  Gegenstand  heraus  gewonnen,  son- 
dern sie    ergibt  sich  scheinbar  zufällig,    als    ein    glückliches  Nebenresultat. 

In  einer  bekannten  großen  Radierung  hat  Rembrandt  so  den  Marientod* 
in  die  Sprache  des  Barock  übersetzt.  Eine  Lichtmasse,  die  das  Bett  mit- 
einschließt, mit  schräg  empordampfenden  hellen  Wolken,  da  und  dort  kräf- 
tige dunkle  Gegenakzente,  das  Ganze  eine  lebhafte  Hell-  und  Dunkelerschei- 
nung, in  der  das  Einzelfigürliche  versinkt.  Der  Vorgang  ist  nicht  unklar, 
allein  man  bleibt  keinen  Augenblick  im  Zweifel,  daß  dieses  wogende  Licht 
über  die  Gegenstände  hingeht  und  nicht  von  den  Gegenständen  festgehalten 
wird.  Die  Radierung  des  Marientodes,  kurz  vor  der  Nachtwache  entstanden, 
gehört  zu  den  Dingen,  die  Rembrandt  später  als  zu  theatralisch  empfunden 
hat.  In  reifen  Jahren  erzählt  er  viel  schlichter.  Das  heißt  nicht,  daß  er 
zum  Stil  des  16.  Jahrhunderts  zurückkehrte  —  er  konnte  es  nicht,  selbst 
wenn  er  gewollt  hätte  ■— ,  aber  das  Phantastische  hat  er  abgestreift.  Und 
so  ist  denn  auch  der  Lichtgang  ganz  einfach,  von  jener  Einfachheit  aller- 
dings, die  voll  des  Geheimnisses  bleibt. 

Der  Art  ist  die  Kreuzabnahme*.  Wenn  wir  das  bedeutende  Blatt  schon  unter 
dem  Titel  der  Einheit  behandelt  haben,  so  läßt  sich  jetzt  nachtragen,  daß 
diese  Einheit  natürlich  nur  auf  Kosten  einer  gleichmäßigen  Klarheit  ge- 
wonnen worden  ist.  Von  Christus  kommen  nur  die  geknickten  Knie  recht 
zur  Wirkung,  der  Oberkörper  versinkt  zum  Teil  im  Dunkel.  Aus  diesem 
Dunkel  kommt  ihm  eine  Hand  entgegen,  die  einzelne  helle  Hand  einer  Per- 
son,  die  im  übrigen  fast  unerkennbar  bleibt.    In  verschiedenen  Graden  des 

224 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Erkennbaren  geht  es  auf  und  ab,  aus  dem  Schoß  der  Nacht  sieht  man  ein- 
zelne Helligkeiten  hervorbrechen,  so  aber,  daß  sie  unter  sich  wie  etwas 
lebendig  Verbundenes  erscheinen.  Die  Hauptakzente  sitzen  durchaus  da, 
wo  der  Sinn  der  Geschichte  es  verlangt,  aber  die  Kongruenz  ist  eine  heim- 
liche, eine  verhehlte.  Alle  Anordnungen  des  16.  Jahrhunderts  wirken  dagegen 
in  ihrer  unmittelbaren  Deutlichkeit  als  „gemacht",  was  das  Ganze  betrifft 
wie  in  bezug  auf  die  Einzelfigur. 

In  der  Kreuztragung  ist  es  für  Raffael  selbstverständlich  gewesen,  den 
gefallenen  Helden  auf  das  Maximum  von  klarer  Ansicht  zu  läutern  und 
gleichzeitig  auch  innerhalb  des  Bildes  ihn  an  den  Platz  zu  bringen,  den 
die  auf  das  Klare  eingestellte  Phantasie  für  ihn  beansprucht.  Er  ist  als 
Mittelfigur  der  ersten  Raumschicht  eingeordnet.  Rubens  dagegen  hat  mit 
andern  Grundvorstellungen  gearbeitet.  Wie  er  im  Interesse  des  Bewegungs- 
eindrucks der  Fläche  und  der  Tektonik  aus  dem  Wege  geht,  so  ist  für  ihn 
das  Scheinbar-Unklare  erst  das  Lebendige.  Der  Athlet  auf  dem  Rubensschen 
Bild*,  der  seine  Schulter  unter  das  Kreuz  stemmt,  ist  als  Erscheinungswert 
bedeutender  als  Christus,  ausgedehnte  und  tiefe  Beschattung  tut  ein  übriges, 
die  geistige  Hauptfigur  zurückzudrängen,  und  der  Fall  als  plastisches  Motiv 
ist  an  sich  schwer  zu  fassen.  Und  doch  wird  man  nicht  sagen  dürfen,  daß 
die  berechtigten  Wünsche  nach  Klarheit  unbefriedigt  blieben.  Auf  versteckte 
Weise  wird  der  Beschauer  doch  von  allen  Seiten  nach  der  unscheinbaren  Gestalt 
des  Helden  hingeführt  und  in  dem  Motiv  des  Zusammenbrechens  ist  doch 
alles  das  für  das  Auge  herausgeholt,  was  im  Augenblick  das  Wichtige  ist. 

Aber  es  ist  wahr,  diese  Verunklärung  der  Hauptperson  ist  nur  eine  Art 
der  Anwendung  des  Prinzips  und  eigentlich  mehr  eine  überleitende.  Die 
Späteren  sind  in  den  wesentlichen  Motiven  vollständig  klar  und  doch  in 
der  Gesamterscheinung  geheimnisvoll  unklar,  unerklärlich.  Die  Geschichte 
vom  barmherzigen  Samariter  z.  B.  ■  -  auch  ein  Passionsweg  —  kann  gar  nicht 
klarer  dargestellt  werden  als  es  der  reife  Rembrandt  in  dem  Bilde  von  1648* 
getan  hat.  Als  Zertrümmerer  der  klassischen  Forderung  aber  ist  keiner  be- 
deutender als  Tintoretto.    Fast  für  alle   Stoffe. 

Eine  Geschichte,  die,  wenn  sie  klar  wirken  soll,  unter  allen  Umständen 
die  Längsabwicklung  der  Figuren  zu  verlangen  scheint,  ist  der  Tempel- 
gang der  kleinen  Maria*.  Tintoretto  hat  auf  die  profilmäßige  Begegnung 
der  Hauptfiguren  nicht  verzichtet  —  wenn  er  auch  der  reinen  Fläche  natür- 
lich ausweicht  und  der  Treppenberg,  der  zu  keiner  Silhouettenwirkung  ge- 
langen darf,  mehr  von  der  Schräge  her  aufgenommen    ist  — ,   aber  er  gibt 

15  H.  W.,  G.  2  A.  225 


Tintoretto 


den  bildein-  und  auswärts  drängenden  Kräften  weitaus  das  Übergewicht. 
Die  Rückengestalt  der  weisenden  Frau  und  die  Folge  der  Leute,  die  sich 
im  Schatten  der  Mauer  halten  und  in  ununterbrochenem  Strom  die  Be- 
wegung in  die  Tiefe  hineintragen,  würden  schon  durch  die  Richtung  das 
Hauptmotiv  übertönen,  selbst  wenn  sie  nicht  die  ungeheure  Überlegenheit 
der  Größenerscheinung  besäßen.  Auch  die  Lichtfigur  auf  der  Treppe  zün- 
gelt nach  der  Tiefe.  Die  von  räumlicher  Energie  strotzende  Komposition 
ist  ein  gutes  Beispiel  eines  mit  wesentlich  plastischen  Mitteln  arbeitenden 
Tiefenstils,  daneben  aber  ebenso  typisch  für  das  Auseinanderlegen  von  Bild- 
akzent und  Sachakzent.  Merkwürdig,  daß  es  überhaupt  noch  zu  einer 
erzählerischen  Klarheit  kommt!  Das  kleine  Mädchen  geht  doch  nicht  im 
Raum  verloren.  Gestützt  durch  unauffällige  Begleitformen  und  unter  Be- 
dingungen gebracht,  die  sich  bei  keiner  zweiten  Figur  im  Bilde  wieder- 
holen, behauptet  es  sich  und  seine  Beziehung  zum  Hohenpriester  als  Kern 
des  Ganzen,  trotzdem  auch  die  Lichtführung  die  zwei  Hauptpersonen  von- 
einander trennt.    Das  ist  die  neue  Regie  Tintorettos. 

226 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Die  Beweinung*,  eines  seiner  machtvollsten  Bilder,  wo  in  wahrhaft  bedeu- 
tendem Sinne  die  Wirkung  auf  ein  paar  Akzente  zusammengerissen  ist,  wie 
viel  verdankt  sie  dem  Prinzip  der  unklar-klaren  Darstellung!  Wo  man  bisher 
jede  Form  zu  gleichmäßiger  Klarheit  herauszutreiben  bemüht  war,  hat  er 
ausgelassen,  verdunkelt,  unscheinbar  gemacht.  Über  das  Antlitz  Christi  legt 
sich  ein  Schlagschatten,  der  die  plastische  Grundlage  völlig  mißachtet,  da- 
für aber  ein  Stück  Stirne  und  ein  Stück  des  unteren  Gesichtes  hervortreten 
läßt,  wie  es  für  den  Eindruck  des  Leidens  von  unschätzbarem  Werte  ist. 
Und  was  für  eine  Sprache  sprechen  die  Augen  der  ohnmächtig  zurücksin- 
kenden Maria:  die  ganze  Augenhöhle  ist  wie  ein  großes  rundes  Loch  mit 
einer  einzigen  Dunkelheit  ausgefüllt.  An  solche  Wirkungen  hat  zuerst  Cor- 
reggio  gedacht.  Die  strengen  Klassiker  aber,  auch  wenn  sie  den  Schatten 
ausdrucksmäßig  behandeln,  haben  nie  die  Grenze  des  Formklaren  zu  über- 
schreiten gewagt. 

Selbst  der  Norden,  wo  man  den  Begriff  gern  etwas  laxer  nahm,  hat 
die  vielfigurige  Beweinung  in  berühmten  Beispielen  zu  vollkommener  Form- 
klarheit durchgebildet.  Wer  denkt  nicht  an  Quinten  Massys  und  Joos  van 


Tintoretto 


I51 


227 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Cleve*!  Keine  Figur,  die  nicht  bis  in  alle  Extremitäten  hinein  klargemacht 
wäre  und  dazu  eine  Lichtführung,  die  keinem  andern  Zwecke  dient  als  dem 
der  sachlichsten  Modellierung. 

Weniger  im  Dienste  klassischer  Klärung  als  barocker  Verunklärung  hat 
das  Licht  in  der  Landschaft  eine  Rolle  gespielt.  Die  Verwendung  von  Licht 
und  Schatten  im  großen  ist  erst  ein  Gewinn  der  Übergangszeit.  Jene  Streifen 
von  Hell  und  Dunkel,  wie  sie  die  ältere  Kunst  vor  und  neben  Rubens 
braucht  (vgl.  die  Uferlandschaft  Jan  Brueghels  d.  Ä.  von  1604*),  fassen 
zusammen,  indem  sie  teilen,  und  während  sie  das  Ganze  im  Grunde  sinn- 
widrig zerstücken,  sind  sie  insofern  doch  klar,  als  sie  mit  einzelnen  Terrain- 
motiven sich  decken.  Der  entschlossene  Barock  erst  läßt  das  Licht  in  freien 
Flecken  über  die  Landschaft  hingehen.  Damit  ist  gesagt,  daß  jetzt  eben 
auch  der  Blätterschatten  auf  der  Mauer  grundsätzlich  möglich  ist  und  der 
sonnendurchschossene  Wald. 

Zu  den  Eigentümlichkeiten  barocker  Landschaft  —  um  auf  etwas  anderes 
überzugehen  —  wird  aber  auch  gehören,  daß  der  Ausschnitt  nicht  eigent- 
lich sachlich  legitimiert  erscheinen  darf.  Das  Motiv  verliert  das  Unmittel- 
bar-Einleuchtende und  es  kommen  jene  gegenständlich-uninteressierten  Auf- 
nahmen,  für  die  die  Landschaftsmalerei  natürlich  ein  geeigneterer  Boden  ist 


Meister  des  Todes  Maria   (Joos  van  Cleve) 
228 


Jan  Brueghel  d.  Ä. 

als  das  Bildnis  oder  die  Historie.  Beispiel:  die  Straße  in  Delft  von  Ver- 
meer*  —  nichts  Ganzes,  weder  das  einzelne  Haus  noch  die  Gasse.  Archi- 
tektonische Veduten  können  sachlich  gehaltvoll  sein,  aber  sie  müssen  sich 
so  gebärden,  als  ob  es  ihnen  eigentlich  gar  nicht  ankäme  auf  die  Mittei- 
lung eines  bestimmten  Tatbestandes.  Die  Bilder  vom  Rathaus  von  Amster- 
dam werden  entweder  durch  stark  verkürzte  Ansicht  künstlerisch  möglich 
gemacht  oder,  wenn  das  Haus  frontal  erscheint,  so  wird  es  durch  den  Zu- 
sammenhang sachlich  z.T.  entwertet.  Für  das  Kirchen-Innenbild  geben  wir  in 
dem  konservativen  alten  Neefs*  ein  Beispiel  des  älteren  Stils:  sachlich  klar,  die 
Lichtführung  zwar  auffallend,  aber  doch  noch  wesentlich  im  Dienst  der 
Form;  das  Licht  bereichert  die  Erscheinung,  ohne  sich  von  der  Form  los- 
zulösen. Im  Gegensatz  dazu  stellt  E.  de  Witte*  den  modernen  Typus  dar: 
das  Licht  ist  grundsätzlich  irrationell.  Am  Boden,  an  den  Wänden,  an  den 
Pfeilern,  im  Raum  schafft  es  Klarheit  und  Unklarheit  zugleich.  Gleich- 
gültig, wie  weit  die  Architektur  an  sich  verwickelt  sein  mag:  was  hier  aus 
dem  Raum  gemacht  ist,  beschäftigt  das  Auge  wie  eine  unendliche,  nie  ganz 
lösbare  Aufgabe.  Es  scheint  alles  so  einfach  und  ist  es  doch  schon  darum 
nicht,  weil  das  Licht  als  inkommensurable  Größe  sich  von  der  Form  ge- 
schieden hat. 

Ein  Teil  des  Eindrucks  ist  auch  hier  bedingt  durch  die  Unvollständigkeit 
der  Formerscheinung,  die  den  Beschauer  dennoch  sättigt.  Bei  aller  barocken 
Zeichnung  muß  man  diese  unvollständig-vollständige  Art  unterscheiden  von 
dem,   was  bei  den  Primitiven   ein  Mangel    an   durchgebildeter  Anschauung 


229 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

ist.  Hier  bewußte  Unklarheit, 


Veermer 


dort  unbewußte  Unklarheit. 
In  der  Mitte  aber  steht  der 
Wille  zur  Vollkommenheit 
geklärter  Darstellung.  Das 
läßt  sich  nirgends  besser 
demonstrieren  als  bei  der 
menschlichen  Figur. 

Wir  rufen  noch  einmal  das 
herrliche  Beispiel  der  liegen- 
den nackten  Frau  an,  wo 
Tizian  einen  Gedanken  Gior- 
giones  aufgenommen  hat  (s. 
S.  181).  Es  ist  richtiger,  sich 
an  dieses  Nachbild  zu  halten 
statt  an  das  Vorbild,  da  hier 
allein  die  Partie  bei  den 
Füßen  die  originale  Fassung 
hat,  ich  meine  das  unent- 
behrliche Motiv  des  sichtbaren  Fußes  jenseits  des  deckenden  Beines.  Die 
Zeichnung  erscheint  wie  eine  wunderbare  Selbstoffenbarung  der  Form, 
alles  drängt  sich  wie  von  selber  einem  erschöpfenden  Ausdruck  entgegen. 
Die  wesentlichen  Ansatzpunkte  sind  alle  freigelegt  und  jedes  Teilglied  gibt 
sich  nach  Maß  und  charakteristischer  Gestalt  dem  Auge  sofort  zu  erkennen. 
Die  Kunst  schwelgt  hier  in  einer  Wollust  der  Klarheit,  neben  der  die 
Schönheit  im  besonderen  Sinn  fast  wie  etwas  Sekundäres  erscheint.  Natür- 
lich wird  erst  der  den  Eindruck  richtig  beurteilen,  der  die  Vorstufen  kennt 
und  weiß,  wie  wenig  ein  Botticelli,  ein  Piero  di  Cosimo  diese  Art  der 
Anschauung  besessen  haben.  Nicht  wegen  mangelhafter  persönlicher  Be- 
gabung, sondern  weil  der  Sinn  der  Generation  noch  nicht  ganz  wach  war. 
Aber  auch  für  die  Sonne  Tizians  ist  ein  Abend  gekommen.  Warum 
bringt  das  17.  Jahrhundert  keine  gleichen  Bilder  mehr  hervor?  Hat  das 
Schönheitsideal  sich  geändert  ?  Ja,  aber  diese  Art  der  Darlegung  wäre 
an  sich  als  zu  gewollt,  zu  lehrbuchmäßig  empfunden  worden.  Die  Venus 
des  Velasquez*  verzichtet  auf  die  vollständige  Erscheinung,  auf  das  Nor- 
male der  Formkontraste:  Übertreibungen  hier,  Unterschlagungen  dort.  Wie 
die  Hüfte  herausgetrieben  ist,  das  ist  nicht  mehr  klassische  Klarheit.    Das 


230 


Neefs  d.  Ä. 

Verschwinden  von  Arm  und  Bein  ebensowenig.  Wenn  bei  der  Venus  des 
Giorgione  die  untere  Endigung  des  überschnittenen  Beines  verloren  ge- 
gangen ist,  so  fehlt  gleich  etwas  Wesentliches,  hier  haben  viel  weitergehende 
Deckungen  gar  nichts  Auffallendes.  Im  Gegenteil,  das  gehört  jetzt  mit 
zum  Reiz  der  Erscheinung  und  wenn  je  ein  Körper  vollständig  erscheint, 
so  wird  der  Schein  gewahrt,  daß  das  jedenfalls  nur  zufällig  und  nicht  dem 
Beschauer  zuliebe  geschehen   sei. 

Erst  im  Zusammenhang  der  klassischen  Gesamttendenz  versteht  man 
Dürers  Bemühungen  um  die  menschliche  Form,  jene  theoretischen  Bemüh- 
ungen, denen  er  selber  praktisch  keine  Folge  mehr  hat  geben  können.  Der 
Stich  von  Adam  und  Eva  (1504)  ist  nicht  identisch  mit  dem,  was  er  zu- 
letzt unter  Schönheit  verstand,  aber  als  absolut  klare  Zeichnung  steht  das 
Blatt  schon  durchaus  auf  klassischem  Boden.  Wenn  der  junge  Rembrandt 
dasselbe  Thema  auf  die  Platte  bringt,  so  ist  für  ihn  von  vornherein  das 
Geschehnis  des  Sündenfalles  interessanter  als  die  Darstellung  des  Nackteni 
die  stilistisch  ergiebigen  Parallelen  zu  Dürer  wird  man  darum  eher  be, 
den  späteren  Einzelakten  finden.  Die  Frau  mit  dem  Pfeil*  ist  ein  Haupt- 
beispiel seines  ganz  einfachen  letzten  Stils.  In  der  Fragestellung  geht  sie 
genau  zusammen  mit  der  Venus  des  Velasquez.  Nicht  das  Gewächs  an 
sich  ist  die   Hauptsache,   sondern  die  Bewegung.     Und    die  Bewegung  des 


231 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 


Körpers  ist  nur  eine  Welle  in  der  Bewegung  des  Bildes.  Was  durch  die 
Schiebung  der  Glieder  an  objektiver  Klarheit  verloren  gegangen  ist,  daran 
denkt  man  kaum,  so  stark  spricht  das  Motiv;  durch  den  faszinierenden 
Rhythmus  der  Helligkeiten  und  Dunkelheiten  aber,  in  den  der  Körper 
hineingestellt  ist,  wird  man  weit  über  die  Wirkung  der  bloßen  plastischen 
Form  hinausgeführt.  Das  ist  das  Geheimnis  der  späten  Formulierungen 
Rembrandts:  die  Dinge  sehen  ganz  einfach  aus  und  stehen  doch  da  wie 
etwas  Wunderbares.  Es  bedarf  gar  nicht  der  Verdeckungen  und  künst- 
lichen Verunklärungen,  schließlich  hat  er  auch  der  reinen  Frontalität  und 
dem  einfach  sachlichen  Licht  einen  Eindruck  abgewinnen  können,  als  ob 
es  sich  nicht  um  die  einzelnen  Dinge  handle,  sondern  um  ein  Allgemeines, 
in  dem  die  Dinge  sich  verklärten.  Ich  denke  an  die  sog.  „Judenbraut" 
(Amsterdam) :  ein  Mann,  der  einem  Mädchen  die  Hand  auf  die  Brust  legt. 
Eine  klassisch  klare  Konfiguration  ist  hier  mit  dem  ganzen  Zauber  des 
Unerklärlichen  umgeben. 

Man  wird  bei  Rembrandt    immer    geneigt  sein,    die  Magie    seiner  Farbe 
und  wie  das  Helle  aus  dem  Dunklen  emportaucht,  zur  Erklärung  des  Rätsels 

geltend  zu  machen.  Nicht 
mit  Unrecht.  Aber  der 
Stil  Rembrandts  ist  nur 
eine  besondere  Abwand- 
lung des  allgemeinen  Zeit- 
stils. Der  ganze  Impres- 
sionismus ist  eine  geheim- 
nisvolleVerunklärung  der 
gegebenen  Form  und  so 
kann  auch  ein  Bildnis  des 
Velasquez,  nüchtern  im 
hellen  Tageslicht  gemalt, 
den  vollen  dekorativen 
Reiz  des  Schwebens  zwi- 
schen klar  und  nicht- 
klar besitzen.  Die  For- 
men gewinnen  freilich  im 
Licht  Gestalt,  aber  das 
Licht  ist  auch  wieder  ein 
E.  de  Witte  Element    für     sich ,     das 


232 


V.  KLARHEIT  UND   UNKLARHEIT 

frei    über    die    Formen    hinzuspielen 
scheint. 

4- 

Italien  hat  dem  Abendland  keinen 
größeren  Dienst  getan,  als  daß  es,  zum 
ersten  Mal  in  der  neuern  Kunst,  den 
Begriff  der  vollkommenen  Klarheit 
wieder  hat  lebendig  werden  lassen. 
Nicht  der  bei  canto  des  Umrisses  hat 
Italien  zur  hohen  Schule  der  Zeich- 
nung gemacht,  sondern  daß  in  diesem 
Umriß  die  Form  restlos  zur  Erschei- 
nung gebracht  war.  Man  kann  zum 
Lob  einer  Figur  wie  Tizians  ruhender 
Venus*  alles  mögliche  sagen,  der  sprin- 
gende Punkt  bleibt  doch  immer,  wie 
in  der  Melodie  dieser  Formfügung  der 
plastische  Inhalt  vollkommen  ausge- 
sprochen ist. 

Natürlich  ist  dieser  Begriff  des  voll- 
kommen Klaren  nicht  von  Anfang  an 
da  in  der  Renaissance.  So  sehr  es  einer  primitiven  Kunst  angelegen  sein 
muß,  deutlich  in  ihrer  Mitteilung  zu  sein,  so  wenig  gibt  sie  von  vornherein 
vollständige  Formerklärungen.  Der  Sinn  ist  noch  nicht  wach  dafür.  Klares 
mischt  sich  mit  Halbklarem,  nicht  weil  man  es  nicht  besser  zuwege  bringt, 
sondern  weil  die  Forderung  nach  absoluter  Klarheit  eben  noch  nicht  existiert. 
Im  Gegensatz  zu  der  bewußten  Unklarheit  des  Barock  gibt  es  in  der  vor- 
klassischen Zeit  eine  unbewußte  Unklarheit,  die  nur  scheinbar  mit  jener 
verwandt  ist. 

Wenn  Italien  im  Willen  zur  Klarheit  vor  dem  Norden  immer  einen  ge- 
wissen Vorsprung  besessen  hat,  so  ist  man  doch  erstaunt,  welche  Unver- 
daulichkeiten  sich  selbst  das  Florenz  des  Quattrocento  gefallen  ließ.  Auf 
den  Fresken  des  Benozzo  Gozzoli  in  der  medizäischen  Hauskapelle  kommen 
an  sichtbarster  Stelle  Dinge  vor,  wie  das  von  hinten  gesehene  Pferd,  dessen 
ganzer  Vorderteil  vom  Reiter  überschnitten  wird.  Es  bleibt  ein  Torso  übrig, 
den  der  Beschauer  mit  dem  Verstand  zwar  leicht  ergänzen  wird,  den  aber 
die  hohe  Kunst  als  etwas  Optisch-Unerträgliches  abgelehnt   haben   würde. 


Rembrandt 


233 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

Ähnlich  verhält  sich's  mit  jenen  drängenden  Menschen  der  hinteren  Reihen: 
man  sieht,  was  gemeint  ist,  aber  die  Zeichnung  gibt  dem  Auge  nicht  genug 
Anhaltspunkte,   um  das  Bild  sich  wirklich  ganz  vorzustellen. 

Der  Einwurf  liegt  nahe,  bei  einer  Massendarstellung  sei  das  überhaupt 
nicht  möglich,  allein  es  genügt,  etwa  auf  Tizians  Bild  vom  Tempelgang 
der  Maria  einen  Blick  zu  werfen,  um  zu  erfahren,  was  dem  Cinquecento 
erreichbar  war.  Auch  da  sind  es  viele  Leute  und  es  geht  nicht  ab  ohne 
starke  Überschneidungen,  aber  die  Phantasie  wird  doch  vollständig  befriedigt. 
Es  ist  derselbe  Unterschied,  der  die  Figurenhaufen  eines  Botticelli  oderGhir- 
landajo  von  dem  klaren  Reichtum  eines  römischen  Cinquecentisten  trennt. 
Man  mag  das  Volk  auf  dem  Bilde  der  Auferweckung  des  Lazarus  von  Seba- 
stiano   sich  vergegenwärtigen. 

Noch  augenfälliger  wird  der  Gegensatz  sein,  wenn  man  im  Norden  von 
Holbein  und  Dürer  auf  Schongauer  und  seine  Generation  zurückblickt. 
Schongauer  hat  mehr  als  alle  andern  an  der  Klärung  der  Bilderscheinung 
gearbeitet,  und  doch  ist  es  für  den  Beschauer,  der  durch  das  16.  Jahrhundert 
gebildet  worden  ist,  oft  recht  qualvoll,  in  seinem  verschlungenen  Formen- 
geflecht das  Wesentliche  herauszusuchen  und  aus  der  zerstreuten  und  zer- 
stückelten Form  das  Ganze  zu  gewinnen. 

Ich  exemplifiziere  mit  einem  Blatt  der  Passion:  Christus  vor  Hannas*. 
Der  Held  ist  etwas  eingekeilt,  davon  wollen  wir  nicht  reden.  Aber  über 
seinen  gekreuzten  Händen  erscheint  eine  Hand,  die  den  Halsstrick  hält : 
wohin  gehört  sie?  Man  sucht  und  findet  eine  zweite  Hand  im  Eisenhand- 
schuh neben  dem  Ellenbogen  Christi,  eine  Hellebarde  umfassend.  Oben  an 
der  Schulter  kommt  ein  Stück  Kopf  mit  Helm  zum  Vorschein.  Das  ist  der 
Besitzer  der^Hände.  Und  wenn  man  sehr  genau  zusieht,  so  kann  man  auch 
noch  ein  Bein  in  Eisenschiene  entdecken,  die  die  Figur  nach  unten  vervoll- 
ständigt. 

Uns  will  bedünken,  es  sei  eine  unmögliche  Zumutung  an  das  Auge,  solche 
membra  disjecta  zusammenzulesen,  das  15.  Jahrhundert  dachte  darin  anders. 
Natürlich  gibt  es  auch  vollständigere  Erscheinungen  und  unser  Beispiel 
bezieht  sich  immerhin  nur  auf  eine  Begleitfigur,  aber  es  ist  doch  die  Figur, 
die  mit  dem  leidenden  Helden  der  Geschichte  in  unmittelbarer  Verbindung 
steht. 

Wie  einfach  und  selbstverständlich  legt  sich  dagegen  die  Erscheinung 
in  Dürers  Darstellung  einer  solchen  Szene  auseinander  (Christus  vor  Kaiphas, 
Kupferstich.  Abb.  S. 252).  Mühelos  scheiden  sich  die  Figuren,  im  großen  und  im 

23  + 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 


einzelnen  ist  jedes  Motiv 
klar  und  bequem  zu  fas- 
sen. Man  lernt  verstehen, 
daß  hier  eine  Reformation 
des  Sehens  stattgefunden 
hat  so  bedeutsam ,  wie 
die  klare  Sprache  Luthers 
es  für  das  Denken  ge- 
wesen ist.  Und  gegen- 
über Dürer  wirkt  Holbein 
wie  die  Erfüllung  zur 
Verheißung. 

Parallelen  dieser  Art 
sind  natürlich  nur  der 
leichter  verständliche 
Ausdruck  für  jene  Wand- 
lung, die  sich  in  der  Zeich- 
nung der  einzelnen  Form 
ebenso  vollzogen  hat  wie 
in  der  Regie  der  Geschich- 
ten. Neben  all  dem  aber, 
was  das  1 6.  Jahrhundert 
an  objektiver  Klarheit 
gebracht  hat,  läuft  auch 

noch  eine  Sichtung  der  Erscheinung  auf  Klarheit  im  subjektiven  Sinne 
einher,  daß  die  sinnliche  Bildwirkung  sich  völlig  decke  mit  dem  sachlichen 
Gehalt.  Wir  haben  es  als  eine  Eigenschaft  des  Barock  bezeichnet,  daß  die 
Bildakzente  und  die  Sachakzente  auseinandertreten  oder  daß  wenigstens 
der  Eindruck  der  Dinge  von  einer  Wirkung  begleitet  werde,  die  nicht  auf 
die  Dinge  sich  stützt.  Etwas  ähnliches  ist  als  unbeabsichtigtes  Ergebnis 
in  der  vorklassischen  Kunst  auch  vorhanden.  Die  Zeichnung  spinnt  ihre 
Netze  für  sich.  Die  späten  Dürerstiche  sind  nicht  ärmer  an  dekorativer 
Wirkung  als  die  frühen,  aber  diese  Wirkung  ist  ganz  abgeleitet  aus  den 
Sachmotiven,  Komposition  und  Lichtführung  stehen  ganz  im  Dienste  der 
Sachklarheit,  während  die  frühen  Stiche  noch  nicht  scheiden  zwischen  sach- 
lichen und  nicht-sachlichen  Effekten.  Es  wird  nicht  bestritten  werden 
können,  daß  das  Vorbild  der  italienischen  Kunst  in  diesem  Sinne  „reinigend" 


Schongauer 


235 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

gewirkt  hat,  aber  die  Italiener  hätten  nie  Muster  werden  können,  wenn 
ihnen  nicht  ein  verwandtes  Wesen  entgegengekommen  wäre.  Es  ist  aber 
ein  besonderer  Zug  nordischer  Phantasie  immer  gewesen,  dem  Spiel 
der  Linien  und  Flecken  als  eigenen  Lebensäußerungen  sich  hinzu- 
geben. Die  italienische  Phantasie  ist  gebundener.  Sie  kennt  nicht  das 
Märchen. 

Trotzdem  trifft  man  schon  innerhalb  der  italienischen  Hochrenaissance 
einen  Correggio,  bei  dem  die  Magnetnadel  stark  vom  Pole  der  Klarheit 
abweicht.  Er  sucht  konsequent  die  Sachform  zu  verunklären  und  durch 
Verflechtungen  und  irreführende  Motive  das  Bekannte  in  eine  neue,  andere 
Erscheinung  hinüberzudrängen.  Unzusammengehöriges  wird  verbunden, 
Zusammengehöriges  getrennt.  Ohne  den  Zusammenhang  mit  dem  Zeitideal 
zu  verlieren,  geht  diese  Kunst  an  dem  Absolut-Klaren  doch  absichtlich  vor- 
bei. Baroccio,  Tintoretto  nehmen  den  Ton  auf.  Faltenzüge  durchschneiden 
die  Figur  gerade  an  dem  Punkt,  wo  eine  Aufklärung  erwartet  wird.  Bei 
Stehmotiven  ist  die  Form  zur  sichtbarsten  gemacht,  auf  der  der  Nachdruck 
gerade  nicht  liegt.  Unbedeutendes  wird  groß,  Bedeutendes  klein  gebildet, 
ja,  stellenweise  werden  dem  Beschauer  förmliche  Fallstricke  gelegt. 

Indessen,  solche  Irreführungen  sind  nicht  das  letzte,  sondern  mehr  nur 
Gebarungen  des  Übergangs.  Wir  wiederholen  Bekanntes,  wenn  wir  sagen : 
die  eigentliche  Absicht  ist  darauf  gerichtet,  einen  vom  Gegenständlichen 
unabhängigen  Gesamteindruck  zu  gewinnen,  sei  es  in  der  Form-,  sei  es  in 
der  Licht-  und  Farbenbewegung.  Für  solche  Wirkungen  nun  ist  der  Norden 
besonders  empfänglich  gewesen.  Bei  den  Donaumeistern  wie  in  den  Nieder- 
landen stößt  man  schon  im  frühen  16.  Jahrhundert  auf  überraschende  Fälle 
von  freier  Bilderscheinung.  Wenn  dann  später  ein  Pieter  Brueghel  das 
Hauptthema  ganz  klein  und  unscheinbar  gestaltet  (Kreuztragung  1564, 
Bekehrung  Pauli  1567),  so  ist  das  wieder  eine  charakteristische  Äußerung 
des  Übergangs.  Entscheidend  ist  die  allgemeine  Fähigkeit,  sich  der  Er- 
scheinung als  solcher  hingeben  zu  können,  ohne  nach  Sachwerten  zu  fragen. 
Es  ist  ein  solches  Sichhingeben,  wenn  man  gegen  den  Einspruch  optischer 
Rationalität  den  Vordergrund  so  ,, übergroß"  sieht,  wie  es  eine  nahe  Distanz 
bedingt.  Auf  der  gleichen  Anlage  beruht  aber  auch  die  Fähigkeit,  die  Welt 
als  ein  Nebeneinander  von  Farbflecken  auffassen  zu  können.  Wo  das  ge- 
schehen ist,  da  hat  sich  die  große  Metamorphose  vollzogen,  die  den  eigent- 
lichen Inhalt  der  abendländischen  Kunstentwicklung  ausmacht,  und  die  Er- 
örterungen dieses  letzten  Abschnitts   münden  damit  im  Thema  des  ersten. 

236 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Bekanntlich  hat  das  19.  Jahrhundert  viel  weitere  Folgerungen  aus  diesen 
Prämissen  gezogen,  aber  erst  nachdem  die  Malerei  noch  einmal  ganz  von 
vorn  angefangen  hatte.  Die  Rückkehr  zur  Linie  um  1800  bedeutete  natür- 
lich auch  die  Rückkehr  zu  einer  rein  sachlichen  Bilderscheinung.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  erfuhr  die  Kunst  des  Barock  eine  Beurteilung,  die 
vernichtend  sein  mußte,  weil  jede  Wirkung,  die  nicht  unmittelbar  aus  dem 
Sinn  der  Darstellung  hervorgeht,   als  Manierismus  abgelehnt  wurde. 

Architektur 

Klarheit  und  Unklarheit,  wie  wir  sie  hier  verstehen,  sind  Begriffe  der 
Dekoration,  nicht  der  Imitation.  Es  gibt  eine  Schönheit  der  vollkommen 
klaren,  unbedingt  faßbaren  Formerscheinung,  und  daneben  eine  Schönheit, 
die  ihren  Grund  gerade  in  dem  nicht  völlig  Faßbaren  hat,  in  dem  Geheim- 
nisvollen, das  sein  Antlitz  nie  ganz  enthüllt,  in  dem  Unauflösbaren,  das 
jeden  Augenblick  ein  anderes  zu  sein  scheint.  Jenes  ist  der  Typus  der  klassi- 
schen, dieses  der  Typus  der  barocken  Architektur  und  Ornamentik.  Dort 
das  vollständige  In-Erscheinung-Treten  der  Form,  ein  Unüberbietbares  an 
Klarheit,  hier  eine  Gestaltung,  die  zwar  klar  genug  ist,  um  das  Auge  nicht 
zu  beunruhigen,  aber  doch  nicht  so  klar,  daß  der  Beschauer  je  zu  Ende 
kommen  könnte.  In  dieser  Art  ist  die  Spätgotik  über  die  Hochgotik  hin- 
ausgegangen, der  Barock  über  die  klassische  Renaissance.  Es  ist  nicht  wahr, 
daß  der  Mensch  nur  an  dem  absolut  Klaren  Freude  hat,  er  verlangt  als- 
bald vom  Klaren  hinweg  nach  dem,  was  nie  ganz  in  anschaulicher  Erkennt- 
nis aufgeht.  So  vielgestaltig  die  nach-klassischen  Stilabwandlungen  sein 
mögen,  sie  haben  alle  die  merkwürdige  Eigenschaft,  daß  die  Erscheinung 
sich  irgendwie  der  völligen  Faßbarkeit  entzieht. 

Natürlich  denkt  hier  jedermann  zuerst  an  die  Prozesse  der  Steigerung 
des  Formenreichtums:  wie  die  Motive  —  seien  sie  architektonischer  oder 
ornamentaler  Natur  immer   reicher  ausgebildet    werden,    weil    eben    das 

Auge  von  sich  aus  nach  einer  Erschwerung  der  Aufgabe  verlangt.  Allein 
mit  der  Feststellung  eines  Gradunterschiedes  zwischen  einfacheren  und  kom- 
plizierteren Sehaufgaben  ist  das  Wesentliche  nicht  ausgedrückt :  es  handelt 
sich  um  zwei  grundsätzlich  verschiedene  Arten  von  Kunst.  Nicht  ob  etwas 
leichter  oder  schwerer  aufzufassen  sei,  ist  die  Frage,  sondern  ob  es  voll- 
ständig faßbar  sei  oder  nur  unvollständig.  Ein  Stück  Barock,  wie  etwa  die 
Spanische  Treppe  in  Rom,  kann  nie,  auch  nicht  durch  wiederholte  Betrach- 
tung,  die  Klarheit  gewinnen,   die  wir   vor  einem  Bauwerk  der  Renaissance 

237 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

von  Anfang  an  empfinden :   sie  behält  ihr  Geheimnis,   selbst  wenn  man  die 
Formen  bis  ins  einzelne  auswendig  wüßte. 

Nachdem  die  klassische  Architektur  einen  letzten  Ausdruck  für  Wand 
und  Gliederung,  für  Säule  und  Gebälk,  für  Tragendes  und  Getragenes  ge- 
funden zu  haben  schien,  kam  der  Moment,  wo  all  diese  Formulierungen  als 
ein  Zwang,  als  etwas  Starres  und  Unlebendiges  empfunden  wurden.  Man 
ändert  nicht  da  und  dort,  im  einzelnen,  sondern  man  ändert  im  Prinzip. 
Es  ist  nicht  möglich,  lautete  das  neue  Credo,  ein  Fertiges  und  Endgültiges 
hinzustellen,  die  Lebendigkeit  und  Schönheit  der  Architektur  liegt  in  dem 
Unabgeschlossenen  ihrer  Erscheinung,  darin,  daß  sie,  ein  ewig  Werdendes, 
in  immer  neuen  Bildern  dem  Beschauer  entgegenkomme. 

Nicht  eine  kindische  Spiellust,  die  sich  in  allen  möglichen  Umstellungen 
ergeht,  hat  die  einfachen  und  rationellen  Formen  der  Renaissance  zersetzt, 
sondern  der  Wille,  die  Beschränktheit  der  in  sich  geschlossenen  Form  auf- 
zuheben. Man  sagt  wohl:  die  alten  Formen  sind  ihres  Sinnes  entkleidet 
worden  und  werden  willkürlich  „des  bloßen  Effektes  wegen"  weitergebraucht. 
Diese  Willkür  hat  aber  eine  ganz  bestimmte  Absicht :  durch  die  Entwer- 
tung der  einzelnen  klaren  Sachform  entsteht  der  Schein  einer  geheimnis- 
vollen allgemeinen  Bewegung.  Und  wenn  auch  der  alte  Sinn  der  Formen 
sich  verflüchtigt,  so  gibt  das  doch  keinen  Unsinn.  Nur  ist  die  Idee  von 
architektonischem  Leben,  das  sich  im  Dresdener  Zwinger  abspielt,  kaum 
mehr  mit  denselben  Worten  zu  bezeichnen,  wie  die  eines  Bramanteschen 
Baus.  Um  mit  einem  Vergleiche  das  Verhältnis  klar  zu  machen:  Das 
unfaßbare  Strömen  der  Kraft  im  Barock  verhält  sich  zu  der  bestimmt 
gefaßten  Kraft  der  Renaissance  wie  die  Lichtführung  Rembrandts  zur 
Lichtführung  Lionardos:  wo  dieser  in  lauter  klaren  Formen  modelliert, 
läßt  jener  das  Licht  in  geheimnisvoll  huschenden  Massen  über  das  Bild 
hingehen. 

Anders  ausgedrückt:  Klassische  Klarheit  heißt  Darstellung  in  letzten 
bleibenden  Formen,  barocke  Unklarheit  heißt,  die  Form  als  etwas  sich 
Veränderndes,  Werdendes  erscheinen  lassen.  Alle  Umbildung  der  klas- 
sischen Form  durch  Vervielfachung  der  Glieder,  alle  Entstellung  der 
alten  Form  durch  scheinbar  sinnlose  Kombinationen  läßt  sich  diesem 
Gesichtspunkt  unterordnen.  In  der  absoluten^Klarheit  liegt  ein  Motiv  jener 
Verfestigung  der  Gestalt,  die  der  Barock  als  etwas  Unnatürliches  grund- 
sätzlich floh. 

238 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

Überschneidungen  hat  es  immer  gegeben.  Aber  es  ist  ein  Unterschied, 
ob  sie  als  unwesentliches  Nebenergebnis  der  Anlage  gefühlt  werden  oder 
ob  ein  dekorativer  Akzent  darauf  liegt. 

Der  Barock  liebt  die  Überschneidung.  Er  sieht  nicht  nur  Form  vor 
Form,  die  überschneidende  vor  der  überschnittenen,  sondern  genießt  die 
neue  Konfiguration,  die  sich  aus  der  Überschneidung  ergibt.  Darum  bleibt 
es  nicht  nur  dem  Belieben  des  Beschauers  überlassen,  durch  die  Wahl  des 
Standpunktes  Überschneidungen  hervorzurufen:  sie  sind  als  unumgänglich 
schon  in  den  architektonischen  Plan  aufgenommen. 

Jede  Überschneidung  ist  eine  Verunklärung  der  Formerscheinung.  Eine 
von  Säulen  oder  Pfeilern  überschnittene  Empore  ist  selbstverständlich  weniger 
klar  als  wenn  sie  dem  Blick  ganz  offen  läge.  Wenn  nun  aber  der  Be- 
schauer in  einem  solchen  Raum  —  man  denke  etwa  an  die  Wiener  Hof- 
bibliothek oder  an  die  Klosterkirche  von  Andechs  am  Ammersee  —  den 
Standort  wiederholt  zu  wechseln  sich  angetrieben  fühlt,  so  ist  dabei  nicht 
der  Zwang,  sich  die  Gestalt  der  verdeckten  Form  aufzuklären,  das  Wirk- 
same —  diese  erscheint  klar  genug,  um  nirgends  eine  Beunruhigung  auf- 
kommen zu  lassen  — ,  man  geht  vielmehr  herum,  weil  bei  der  Überschnei- 
dung immer  neue  Bilder  entstehen.  Das  Ziel  kann  nicht  liegen  in  einem 
schließlichen  Aufdecken  der  überschnittenen  Form,  danach  verlangt  man 
gar  nicht,  sondern  im  möglichst  vielseitigen  Auffassen  der  potentiell  vor- 
handenen Ansichten.     Die  Aufgabe  bleibt  aber  eine  unendliche. 

Unter  beschränktem  Verhältnissen  gilt  dasselbe  für  ein  barockes  Ornament. 

Der  Barok  rechnet  mit  der  Überschneidung  d.  h.  mit  der  verunklärten 
und  daher  unverfestigten  Ansicht  auch  da,  wo  die  architektonische  Anlage, 
frontal  betrachtet,   sie  gar  nicht  enthält. 

Schon  früher  ist  die  Rede  davon  gewesen,  daß  der  Barock  der  klassischen 
Frontalität  ausweicht.  Das  Motiv  muß  hier  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Klarheit  nochmals  zur  Sprache  gebracht  werden.  Die  nicht-frontale  Per- 
spektive wird  immer  leicht  Überschneidungen  herbeiführen,  sie  bedeutet 
aber  eine  optische  Verunklärung  schon  dadurch,  daß  sie  von  den  zwei 
gleichen  Seiten  (eines  Hofes  oder  eines  kirchlichen  Innenraums)  die  eine 
notwendig  größer  erscheinen  läßt  als  die  andere.  Niemand  wird  diese  Täu- 
schung unangenehm  empfinden.  Im  Gegenteil:  man  weiß,  wie  die  Sache 
in  Wirklichkeit  sich  verhält  und  schlägt  das  abweichende  Bild  als  Gewinn 
an.  Dispositionen  des  barocken  Schloßbaus,  wenn  etwa  eine  Reihe  korre- 
spondierender Gebäulichkeiten  in  weitem  Halbkreis  um  das  Mittelstück  sich 

239 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

herumlegen  (Beispiel:  Schloß  Nymphenburg)  sind  durchaus  auf  diese  Art 
von  Betrachtung  angelegt.  Die  frontale  Perspektive  ergibt  das  wenigst 
typische  Bild.  Wir  sind  berechtigt,  so  zu  urteilen,  nicht  nur  nach  Maßgabe 
zeitgenössischer  Abbildungen,  sondern  auch  auf  die  Anweisung  hin,  die  in 
der  Führung  der  Zufahrtsstraßen  uns  gegeben  ist.  Vgl.  oben  S.  128.  Als 
Prototyp  aller  dieser  Anlagen  muß  immer  wieder  Berninis  Kolonnadenplatz 
von  St.  Peter  angeführt  werden. 

Da  die  Klassik  eine  Kunst  von  tastbaren  Werten  darstellt,  so  muß  es 
ihr  eine  Herzenssache  sein,  diese  Werte  in  vollkommenster  Sichtbarkeit 
erscheinen  zu  lassen:  der  wohlproportionierte  Raum  ist  in  seinen  Grenzen 
ganz  klar  gehalten,  die  Dekoration  ist  bis  in  die  letzte  Linie  völlig  über- 
sehbar. Umgekehrt  gibt  es  für  den  Barock,  der  auch  eine  Schönheit  der 
bloßen  Bi  lderscheinung  kennt,  die  Möglichkeit,  auf  die  geheimnisvolle  Ver- 
unklärung  der  Form,  die  verschleierte  Deutlichkeit  sich  einzulassen.  Ja, 
er  wird  erst  unter  diesen  Bedingungen  sein  Ideal  ganz  verwirklichen  können. 

Worin  die  Schönheit  eines  Renaissanceraumes,  dessen  entscheidende  Wir- 
kung in  den  geometrischen  Verhältnissen  liegt,  von  der  Schönheit  eines 
Rokoko-Spiegelsaales  sich  unterscheidet,  ist  nicht  nur  eine  Frage  von  Tast- 
barkeit und  Nicht-Tastbarkeit,  sondern  auch  eine  Frage  von  Klarheit  und 
Unklarheit.  Ein  solcher  Spiegelsaal  ist  außerordentlich  malerisch,  aber  auch 
außerordentlich  unklar.  Gestaltungen  der  Art  setzen  voraus,  daß  die  An- 
sprüche an  die  Klarheit  der  Erscheinung  sich  vollkommen  gewandelt  haben, 
daß  es,  was  für  die  Klassik  paradox  klingt,  eine  Schönheit  des  Unklaren 
gibt.  Mit  der  Einschränkung  freilich,  die  überall  zu  machen  ist :  daß  die 
Unklarheit  nicht  bis  zum  Beunruhigenden  sich  steigert. 

Für  die  Klassik  fällt  Schönheit  und  absolute  Sichtbarkeit  zusammen. 
Es  gibt  hier  nichts  von  geheimnisvollen  Durchblicken,  von  dämmerigen 
Tiefen,  nichts  vom  Geflimmer  einer  im  einzelnen  unerkennbaren  Dekoration. 
Alles  zeigt  sich  vollständig  und  zeigt  sich  dem  ersten  Blick.  Der  Barock  da- 
gegen vermeidet  es  grundsätzlich,  mit  der  völligen  Darlegung  der  Form  auch 
ihre  Begrenztheit  zu  offenbaren.  Er  führt  in  seine  Kirchen  nicht  nur  das  Licht 
als  Faktor  von  neuer  Bedeutung  ein  —  was  ein  malerisches  Motiv  ist  — , 
sondern  gestaltet  seine  Räume  so,  daß  sie  etwas  Unübersehbares  und  Un- 
auflösbares behalten.  Selbstverständlich:  auch  der  Bramantische  St.  Peter 
läßt  sich  im  Innern  von  keinem  Standpunkt  aus  ganz  übersehen,  aber  man 
weiß  immer,  was  man  zu  erwarten  hat.    Jetzt  ist  es  gerade  auf  eine  Span- 

240 


Holbein  (Radierung  v.  W.  Hollar) 


V.  KLARHEIT  UND  UNKLARHEIT 

nung  abgesehen,  für  die  es  nie  eine  volle 
Aufklärung  geben  soll.  Keine  Kunst 
ist  erfindungsreicher  in  überraschenden 
Raumkombinationen  dieser  Art  als  die 
deutsche  des  18.  Jahrhunderts,  namentlich 
in  den  großen  Kloster-  und  Wallfahrts- 
kirchen Süddeutschlands.  Aber  auch  auf 
ganz  beschränkten  Grundrissen  ist  diese 
Wirkung  des  Geheimnisvollen  erreicht 
worden.  So  ist  die  Johann -Nepomuk- 
Kapelle  der  Brüder  Asam  (München) 
etwas  für  die  Phantasie  schlechthin  Un- 
erschöpfliches. 

Es  war  eine  Neuerung  der  Hochrenais- 
sance gewesen  gegenüber  den  Primitiven, 
nur  so  viel  an  Ornament  zu  geben,  als  im  Anblick  des  Ganzen  wirksam 
werden  könnte.  Der  Barock  fußt  auf  demselben  Grundsatz,  kommt  aber 
zu  anderen  Ergebnissen,  weil  er  die  Forderung  der  unbedingten,  in  allem 
Detail  zu  bewährenden  Deutlichkeit  der  Erscheinung  nicht  mehr  stellt.  Die 
Dekoration  des  Residenz-Theaters  in  München  verlangt  nicht  im  einzelnen 
gesehen  zu  werden.  Das  Auge  faßt  Hauptpunkte,  dazwischen  bleiben  Zonen 
von  schwebender  Deutlichkeit  übrig  und  es  ist  durchaus  nicht  die  Meinung 
des  Architekten  gewesen,  man  müsse  sich  die  Form  durch  Nahbetrachtung 
aufklären.  Mit  der  Nahbetrachtung  würde  man  nur  eine  leere  Hülse  in  die 
Hand  bekommen,  die  Seele  dieser  Kunst  offenbart  sich  nur  dem,  der  dem 
reizenden  Geflimmer  des  Ganzen  sich  hinzugeben  vermag. 

Mit  all  dem  bringen  wir  nun  eigentlich  nichts  Neues,  es  galt  nur  die 
früheren  Erörterungen  unter  dem  Gesichtspunkt  der  sachlichen  Deutlichkeit 
zusammenzufassen.  In  jedem  Kapitel  bedeutete  der  barocke  Begriff  eine 
Art  von  Verunklärung. 

Wenn  im  malerischen  Bild  die  Formen  zum  Eindruck  einer  durchge- 
henden selbständigen  Bewegung  sich  einigen,  so  kann  das  doch  nur  geschehen, 
wenn  sie  sich  nicht  zu  stark  als  Eigenwerte  fühlbar  machen.  Was  ist  das 
aber  anderes  als  eine  Herabsetzung  der  Sachklarheit?  Das  geht  so  weit, 
daß  die  Dunkelheit  einzelne  Teile  vollkommen  verschlingt.  Das  Prinzip  des 
Malerischen  muß  es  so  wünschbar  finden  und  das  gegenständliche  Interesse 
erhebt  keinen   Einspruch  dagegen.    Und  so    ergänzen    sich  die  übrigen  Be- 

16  H.  W.,  G.  2.  A.  241 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

griffspaare  mit  dem  gegenwärtigen.  Das  Gegliederte  ist  klarer  als  das  Un- 
gegliederte, das  Begrenzte  klarer  als  das  Unbegrenzte  usw.  Was  die  so- 
genannte Verfallskunst  an  Motiven  der  Unklarheit  aufwendet,  ist  ebenso- 
sehr aus  einer  künstlerischen  Notwendigkeit  hervorgegangen  wie  die  Ge- 
barung der  klassischen  Kunst. 

Voraussetzung  bleibt,  daß  der  Formenapparat  hüben  und  drüben  der 
gleiche  ist.  Die  Form  als  solche  muß  vollkommen  bekannt  sein,  bevor  sie 
in  die  neue  Erscheinung  übergeführt  werden  kann.  Selbst  in  den  kompli- 
ziertesten Giebelbrechungen  des  Barock  lebt  immer  noch  die  Erinnerung 
an  die  Ausgangsform  weiter,  nur  daß  eben  die  alten  Formen  ebenso  wie 
die  alten  Fassaden-  und  Raumgestaltungen  nicht  mehr  als  ganz  lebendig 
empfunden  worden  sind. 

Erst  für  den  neuen  Klassizismus  sind  die  „reinen"  Formen  auch  wieder 
die  lebendigen  gewesen. 

Als  Illustration  zu  diesem  ganzen  Abschnitt  geben  wir  nichts  anderes  als 
das  Nebeneinander  von  zwei  Gefäßen:  Holbeins  Zeichnung  zu  einer  Kanne* 
(radiert  von  W.  Hollar)  und  eine  Rokokovase*  aus  dem  Schwarzenberg- 
garten  in  Wien.  Dort  die  Schönheit  einer  Form,  die  sich  vollständig  offen- 
bart, hier  die  Schönheit  des  Nie-ganz-Faßbaren.  Modellierung  und  Füllung 
der  Flächen  sind  dabei  gleich  wichtig  wie  die  Führung  des  Umrisses.  Bei  Hol- 


bein geht  die  plasti- 
sche Form  in  eine 
vollkommen  klare 
und  vollkommen  er- 
schöpfende Silhou- 
ette ein  und  die  or- 
namentale Muste- 
rung füllt  nicht  nur 
die  in  der  Hauptan- 
sicht gegebene  Flä- 
che genau  und  rein- 
lich aus,  sondern 
zieht  ihre  Wirkung 
überhaupt  aus  der 
vollständig       über-        Wien,  Schwarzenberggarten 


sichtlichen  Erschei- 
nung. Der  Künstler 
des  Rokoko  dage- 
gen hat  grundsätz- 
lich das  gemieden, 
was  dort  gesucht 
ist :  man  kann  es  an- 
stellen,wie  man  will, 
die  Form  läßt  sich 
nie  völlig  erfassen 
und  festlegen,  das 
„malerische"  Bild 
behält  für  das  Auge 
etwas  Unerschöpf- 
liches. 


242 


Abschluß 
i. 

Es  ist  kein  glücklicher  Vergleich,  wenn  man  die  Kunst  den  Spiegel  des   Die  äußere 

Lebens  nennt,    und    eine  Betrachtung,  die    die  Kunstgeschichte   wesentlich    _      , .  , 

°  Geschichte 

als  Ausdrucksgeschichte  nimmt,  ist  der  Gefahr  unheilvoller  Einseitigkeit  der  Kunst 
ausgesetzt.  Man  kann  zugunsten  des  Stofflichen  vorbringen,  was  man 
mag,  so  muß  doch  damit  gerechnet  werden,  daß  der  Ausdrucksorganismus 
nicht  immer  der  gleiche  geblieben  ist.  Natürlich  bringt  die  Kunst  im  Lauf 
der  Zeiten  sehr  verschiedene  Inhalte  zur  Darstellung,  aber  das  allein  bedingt 
nicht  ihre  wechselnde  Erscheinung :  die  Sprache  selbst  nach  Grammatik 
und  Syntax  ändert  sich.  Nicht  nur,  daß  sie  an  verschiedenen  Orten  ver- 
schieden gesprochen  wird  —  dieses  Eingeständnis  ist  leicht  zu  erreichen  — , 
sondern  sie  hat  überhaupt  ihre  eigene  Entwicklung  und  die  stärkste  indivi- 
duelle Begabung  hat  ihr  zu  bestimmten  Zeiten  immer  nur  eine  bestimmte, 
nicht  allzuweit  über  die  allgemeinen  Möglichkeiten  hinausgehende  Ausdrucks- 
form abgewinnen  können.  Auch  hier  wird  man  freilich  einwerfen,  das  sei 
selbstverständlich,  die  Mittel  des  Ausdrucks  würden  nur  allmählich  ge- 
wonnen. Indessen  das  ist  es  nicht,  was  wir  meinen:  bei  vollkommen  ent- 
wickelten Ausdrucksmitteln  wechselt  die  Art.  Anders  ausgedrückt :  der  In- 
halt der  Welt  kristallisiert  sich  für  die  Anschauung  nicht  in  einer  gleich- 
bleibenden Form.  Oder  um  auf  das  erste  Bild  zurückzukommen:  die  An- 
schauung ist  eben  nicht  ein  Spiegel,  der  immer  derselbe  bleibt,  sondern 
eine  lebendige  Auffassungskraft,  die  ihre  eigene  innere  Geschichte  hat  und 
durch  viele  Entwicklungsstufen  durchgegangen  ist. 

Dieser  Wechsel  der  Anschauungsform  im  Kontrast  des  klassischen  und 
des  barocken  Typs  ist  hier  beschrieben  worden.  Nicht  die  Kunst  des  16. 
und  17.  Jahrhunderts  wollten  wir  analysieren,  diese  ist  etwas  viel  reicheres 
und  lebensvolleres,  nur  das  Schema,  die  Seh-  und  Gestaltungsmöglichkeiten, 
innerhalb  deren  die  Kunst  da  und  dort  sich  gehalten  hat  und  halten  mußte. 
Um  Beispiele  zu  geben,  konnten  wir  natürlich  nicht  anders  verfahren  als 
das  einzelne  Kunstwerk  heranzuziehen,  aber  alles  was  von  Raffael  und  Tizian, 
von  Rembrandt  und  Velasquez  gesagt  wurde,  sollte  doch  nur  die  allgemeine 
Bahn  beleuchten,  nicht  den  besonderen  Wert  des  aufgegriffenen  Stückes 
ins  Licht  setzen.  Dazu  müßte  mehr  und  Genaueres  gesagt  werden.  Andrer- 
seits  ist  es  aber  unvermeidlich,  gerade  auf  das  Bedeutende  sich  zu  beziehen: 

16*  243 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

die  Richtung  wird  schließlich  doch  an  den  hervorragendsten  Werken  als 
den  eigentlichen  Schrittmachern  am  klarsten  abgelesen. 

Eine  andere  Frage  ist,  wie  weit  man  überhaupt  von  zwei  Typen  zu 
sprechen  das  Recht  hat.  Alles  ist  Übergang  und  wer  die  Geschichte  als 
ein  unendliches  Fließen  betrachtet,  dem  ist  schwer  zu  entgegnen.  Für  uns 
ist  es  eine  Forderung  intellektueller  Selbsterhaltung,  die  Unbegrenztheit 
des  Geschehens  nach  ein  paar  Zielpunkten  zu  ordnen. 

Nach  seiner  Breite  ist  der  ganze  Prozeß  des  Vorstellungswandels  fünf 
Begriffspaaren  unterstellt  worden.  Man  kann  sie  Kategorien  der  Anschau- 
ung nennen,  ohne  Gefahr  der  Verwechslung  mit  den  Kantschen  Kategorien. 
Obgleich  sie  offenbar  eine  gleichlautende  Tendenz  haben,  sind  sie  doch 
nicht  aus  einem  Prinzip  abgeleitet.  (Für  eine  Kantsche  Denkart  müßten 
sie  als  bloß  „aufgerafft"  erscheinen.)  Es  ist  möglich,  daß  noch  andere 
Kategorien  sich  aufstellen  lassen  -  sie  sind  mir  nicht  erkennbar  geworden  — , 
und  die  hier  gegebenen  sind  nicht  so  unter  sich  verwandt,  daß  sie  in  teil- 
weis anderer  Kombination  undenkbar  wären.  Immerhin,  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  bedingen  sie  sich  gegenseitig  und,  wenn  man  den  Ausdruck 
nicht  wörtlich  nehmen  will,  kann  man  sie  wohl  als  fünf  verschiedene  An- 
sichten ein  und  derselben  Sache  bezeichnen.  Das  Linear-Plastische  hängt 
ebenso  zusammen  mit  den  kompakten  Raumschichten  des  Flächenstils  wie 
das  Tektonisch-Geschlossene  eine  natürliche  Verwandschaft  mit  der  Selb- 
ständigkeit der  Teilglieder  und  der  durchgeführten  Klarheit  besitzt.  Anderer- 
seits wird  die  unvollständige  Formklarheit  und  die  Einheitswirkung  mit 
entwertetem  Einzelteil  sich  von  selber  verbinden  mit  dem  Atektonisch- 
Fließenden  und  im  Bereich  einer  impressionistisch-malerischen  Auffassung  am 
besten  unterkommen.  Und  wenn  es  scheint,  als  ob  der  Tiefenstil  nicht  not- 
wendig zur  Familie  gehöre,  so  ist  dem  entgegenzuhalten,  daß  seine  Tiefen- 
spannungen ja  ausschließlich  auf  optische  Wirkungen  aufgebaut  sind,  die  nur 
für  das  Auge,  nicht  aber  für  das  plastische  Gefühl  eine  Bedeutung  haben. 

Man  kann  die  Probe  machen :  es  wird  unter  unseren  Abbildungsbelegen 
kaum  ein  Stück  sich  finden,  das  nicht  auch  unter  jedem  der  andern  Ge- 
sichtspunkte als  Beispiel  verwertbar  wäre. 

2. 

:men  der       Alle    fünf  Begriffspaare  lassen  sich   deuten  im  dekorativen  und    im  imi- 

ition  und  tativen  Sinne.     Es  gibt  eine   Schönheit  des  Tektonischen  und  es  gibt  eine 
ikoration 

Wahrheit  des  Tektonischen,   eine   Schönheit  des  Malerischen  und  einen  be- 

244 


ABSCHLUSS 

stimmten  Weltinhalt,  der  im  Malerischen  und  nur  im  Malerischen  zur  Dar- 
stellung kommt,  usw.  Aber  wir  wollen  nicht  vergessen,  daß  unsere  Kate- 
gorien nur  Formen  sind,  Auffassungs-  und  Darstellungsformen  und  daß 
sie  darum  an  sich  ausdruckslos  sein  müssen.  Hier  handelt  es  sich  nur  um 
das  Schema,  innerhalb  dessen  eine  bestimmte  Schönheit  sich  gestalten  kann, 
und  nur  um  die  Schale,  in  der  Natureindrücke  aufgefangen  und  gefaßt 
werden.  Ist  die  Auffassungsform  einer  Zeit  tektonisch  geartet,  wie  im 
16.  Jahrhundert,  so  genügt  das  noch  lange  nicht,  um  die  tektonische  Kraft 
der  Figuren  und  Bilder  eines  Michelangelo  und  eines  Fra  Bartolommeo  zu 
erklären.  Da  muß  erst  eine  „knochige"  Empfindung  ihr  Mark  in  das  Schema 
gegossen  haben.  Das,  wovon  wir  sprechen,  ist  in  seiner  Ausdruckslosigkeit 
das  schlechthin  Selbstverständliche  für  die  Menschen  gewesen.  Als  Raffael 
die  Kompositionen  für  die  Villa  Farnesina  entwarf,  gab  es  für  ihn  gar  keine 
andere  Denkmöglichkeit  als  daß  die  Figuren  in  „geschlossener"  Form  die 
Flächen  zu  füllen  hätten  und  als  Rubens  den  Zug  der  Kinder  mit  dem 
Früchtekranz  zeichnete,  war  ihm  die  „offene"  Form,  daß  die  Figuren  nicht 
füllend  in  den  Rahmen  gesetzt  sind,  ganz  ebensosehr  das  Einzig-Mögliche, 
obwohl  es  sich  beidemal  um  das  gleiche  Thema  von  Anmut  und  Lebens- 
freude handelt. 

Es  kommen  schiefe  Urteile  in  die  Kunstgeschichte  hinein,  wenn  man  von 
dem  Eindruck  ausgeht,  den  Bilder  verschiedener  Epochen,  nebeneinander 
gesehen,  auf  uns  machen.  Man  darf  ihre  verschiedene  Ausdrucksweise  nicht 
rein  stimmungsmäßig  interpretieren.  Sie  sprechen  eine  verschiedene  Sprache. 
Es  ist  ebenso  falsch,  die  Architektur  eines  Bramante  und  eines  Bernini  auf 
Stimmung  hin  unmittelbar  miteinander  vergleichen  zu  wollen.  Bramante  ver- 
körpert nicht  nur  ein  anderes  Ideal,  seine  Vorstellungsweise  ist  von  vornherein 
anders  organisiert  als  die  Berninis.  Dem  17.  Jahrhundert  ist  die  klassische 
Architektur  nicht  mehr  als  ganz  lebendig  vorgekommen.  Das  liegt  nicht  an 
der  Ruhe  und  Abgeklärtheit  der  Stimmung,  sondern  an  der  Art,  wie  sie  aus- 
gedrückt ist.  Man  kann  auch  als  Zeitgenosse  des  Barock  in  denselben 
Sphären  der  Empfindung  sich  ergehen  und  doch  modern  sein,  wie  das  etwa 
aus  gewissen  französischen  Bauten  des   17.  Jahrhunderts  erhellt. 

Natürlich  wird  jede  Anschauungs-  und  Darstellungsform  von  Hause  aus 
nach  einer  gewissen  Seite  neigen,  auf  eine  gewisse  Schönheit,  auf  eine  ge- 
wisse Weise  der  Naturerklärung  gestimmt  sein  (wir  kommen  gleich  darauf 
zu  sprechen)  und  insofern  scheint  es  wieder  falsch,  die  Kategorien  aus- 
druckslos  zu  nennen.      Allein   es   sollte   doch   nicht    schwer  sein,    das   Miß- 

245 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

verstehen  hier  auszuschalten.  Gemeint  ist  eben  die  Form,  in  der  man  das 
Lebendige  sieht,  ohne  daß  dieses  Leben  seinem  Inhalt  nach  schon  be- 
stimmt wäre. 

Ob  es  sich  um  ein  Bild  handle  oder  um  ein  Bauwerk,  um  eine  Figur 
oder  um  ein  Ornament :  der  Eindruck  des  Lebendigen  wurzelt,  unabhängig 
von  dem  besonderen  Gefühlston,  hier  und  dort  in  einem  andern  Schema. 
Aber  gewiß  ist  die  Umgewöhnung  des  Sehens  von  einer  verschiedenen  Ein- 
stellung des  Interesses  nicht  wohl  abzulösen.  Auch  wenn  keine  bestimmten 
Gefühlsinhalte  in  Frage  kommen,  so  wird  eben  doch  Wert  und  Bedeutung 
des  Seins  auf  einer  verschiedenen  Seite  gesucht.  Für  die  klassische  An- 
schauung liegt  das  Wesentliche  in  der  festen  und  bleibenden  Gestalt,  die 
mit  höchster  Bestimmtheit  und  allseitiger  Deutlichkeit  bezeichnet  wird,  für 
die  malerische  Anschauung  liegt  Reiz  und  Garantie  des  Lebens  in  der  Be- 
wegung. Auch  das  16.  Jahrhundert  hat  selbstverständlich  auf  das  Motiv 
der  Bewegung  nicht  verzichtet  und  die  Zeichnung  eines  Michelangelo  mußte 
darin  sogar  als  etwas  Unüberbietbares  erscheinen,  allein  erst  das  Sehen, 
das  auf  den  bloßen  Schein  einging,  das  malerische  Sehen,  gab  der  Dar- 
stellung die  Mittel  in  die  Hand,  den  Eindruck  der  Bewegung  im  Sinne 
eines  Sichveränderns  zu  erzeugen.  Das  ist  der  entscheidende  Gegensatz 
zwischen  klassischer  und  barocker  Kunst.  Das  klassische  Ornament  hat 
seine  Bedeutung  in  der  Form,  wie  sie  ist,  das  barocke  Ornament  wandelt 
sich  dem  Beschauer  unter  den  Augen.  Das  klassische  Kolorit  ist  eine  fest- 
gegebene Harmonie  einzelner  Farben,  das  Kolorit  des  Barock  ist  immer 
eine  Farbenbewegung  und  mit  dem  Eindruck  des  Werdens  verbunden.  In 
einem  andern  Sinne  als  vom  klassischen  Bildnis  muß  man  vom  Bildnis  des 
Barock  sagen,  nicht  das  Auge,  sondern  der  Blick  sei  sein  Inhalt,  und  nicht 
die  Lippen,  sondern  das  Sprechen.  Der  Körper  atmet.  Der  ganze  Bild- 
raum ist  erfüllt  von  Bewegung. 

Die  Vorstellung  vom  Wirklichen  hat  sich  ebenso  verändert  wie  die  Vor- 
stellung vom  Schönen. 

3- 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen:  die  Abwicklung  des  Prozesses  hat  etwas 
Psychologisch-Einleuchtendes.  Man  versteht  durchaus,  daß  der  Begriff  der 
Klarheit  zuerst  ausgebildet  sein  mußte,  bevor  man  in  einer  stellenweise 
getrübten  Klarheit  einen  Reiz  finden  konnte.  Man  findet  es  ebenso  be- 
greiflich, daß  die  Auffassung  einer  Einheit  von  Teilen,  deren  Selbständig- 
keit in  der  Gesamtwirkung  untergegangen  ist,  dem  System  mit  selbständig 

246 


ABSCHLUSS 

durchgebildeten  Teilen  erst  nachgefolgt  ist,  daß  das  Spiel  mit  dem  Ver- 
steckt-Gesetzmäßigen (Atektonischen)  die  Stufe  der  offenkundigen  Gesetz- 
mäßigkeit zur  Voraussetzung  hat  usw.  Alles  umfassend  bedeutet  die  Ent- 
wicklung vom  Linearen  zum  Malerischen  den  Fortschritt  von  einer  tast- 
mäßigen Begreifung  der  Dinge  im  Raum  zu  einer  Anschauung,  die  sich 
dem  bloßen  Augeneindruck  anzuvertrauen  gelernt  hat,  mit  andern  Worten, 
den  Verzicht  auf  das  Handgreifliche  zugunsten  der  bloß  optischen  Er- 
scheinung. 

Der  Ausgangspunkt  freilich  muß  gegeben  sein,  wir  sprachen  nur  von  der 
Abwandlung  einer  klassischen  Kunst  ins  Barocke.  Daß  aber  eine  klassische 
Kunst  überhaupt  entsteht,  daß  das  Streben  nach  einem  plastisch-tektoni- 
schen,  klar  und  allseitig  durchdachten  Weltbild  vorhanden  ist,  das  ist  durch- 
aus nicht  selbstverständlich  und  ist  nur  zu  bestimmten  Zeiten  und  an  ein- 
zelnen Orten  in  der  Menschheitsgeschichte  vorgekommen.  Und  wenn  wir 
den  Ablauf  der  Dinge  als  einleuchtend  empfinden,  so  erklärt  das  natürlich 
noch  nicht,  warum  er  überhaupt  statthat.  Aus  welchen  Gründen  kommt 
es  zu  dieser  Abwicklung  ? 

Wir  stoßen  hier  an  das  große  Problem,  ob  die  Veränderung  der  Auf- 
fassungsformen Folge  einer  inneren  Entwicklung  ist,  einer  gewissermaßen 
von  selber  sich  vollziehenden  Entwicklung  im  Auffassungsapparat,  oder 
ob  es  ein  Anstoß  von  außen  ist,  das  andere  Interesse,  die  andere  Stellung 
zur  Welt,  was  die  Wandlung  bedingt.  Das  Problem  führt  weit  hinaus 
über  das  Gebiet  der  beschreibenden  Kunstgeschichte  und  wir  wollen  nur 
andeuten,  wie  wir  uns  die  Lösung  denken. 

Beide  Betrachtungsweisen  scheinen  zulässig,  d.  h.  jede  für  sich  allein  ein- 
seitig. Gewiß  hat  man  sich  nicht  zu  denken,  daß  ein  innerer  Mechanismus 
automatisch  abschnurrt  und  die  genannte  Folge  von  Auffassungsformen 
unter  allen  Umständen  erzeugt.  Damit  das  geschehen  kann,  muß  das  Leben 
in  einer  bestimmten  Art  erlebt  sein.  Die  menschliche  Vorstellungskraft 
aber  wird  immer  ihre  Organisation  und  ihre  Entwicklungsmöglichkeiten  in 
der  Kunstgeschichte  geltend  machen.  Es  ist  wahr,  man  sieht  nur,  was 
man  sucht,  aber  man  sucht  auch  nur,  was  man  sehen  kann.  Zweifellos 
sind  gewisse  Formen  der  Anschauung  als  Möglichkeiten  vorgebildet:  ob 
und  wie  sie  zur  Entfaltung  kommen,   hängt  von  äußeren  Umständen  ab. 

Es  geht  in  der  Geschichte  von  Generationen  nicht  anders  als  in  der  Ge- 
schichte des  Einzelnen.  Wenn  ein  großes  Individuum  wie  Tizian  in  seinem 
letzten  Stil  völlig  neue  Möglichkeiten  verkörpert,   so  kann  man  wohl  sagen, 

247 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

eine  neue  Empfindung  habe  diesen  neuen  Stil  verlangt.  Aber  diese  neuen 
Stilmöglichkeiten  sind  für  ihn  doch  nur  in  Sicht  gekommen,  weil  er  so  viel 
alte  Möglichkeiten  bereits  hinter  sich  gebracht  hatte.  Keine  noch  so  be- 
deutende Menschlichkeit  hätte  zugereicht,  ihn  diese  Formen  fassen  zu  lassen, 
wenn  er  nicht  vorher  den  Weg  zurückgelegt  hätte,  der  eben  die  notwen- 
digen Vorstationen  enthielt.  Die  Kontinuität  der  Lebensempfindung  ist 
notwendig  gewesen  hier  wie  bei  den  Generationen,  die  in  der  Geschichte 
zu  einer  Einheit  sich  zusammenschließen. 

Die  Formengeschichte  steht  niemals  still.  Es  gibt  Zeiten  verstärkten 
Antriebes  und  Zeiten  mit  langsamer  Phantasietätigkeit,  aber  auch  dann 
wird  ein  Ornament,  beständig  wiederholt,  allmählich  seine  Physiognomie 
ändern.  Nichts  behält  seine  Wirkung.  Was  heute  lebendig  erscheint,  wird 
es  morgen  schon  nicht  mehr  ganz  sein.  Dieser  Vorgang  ist  nicht  nur 
negativ  zu  erklären  mit  der  Theorie  der  Reizabstumpfung  und  einer  da- 
durch bedingten  Notwendigkeit  einer  Reizsteigerung,  sondern  auch  positiv 
dadurch,  daß  jede  Form  zeugend  weiterarbeitet  und  jede  Wirkung  einer 
neuen  ruft.  Man  sieht  das  deutlich  in  der  Geschichte  der  Dekoration  und 
Architektur.  Aber  auch  in  der  Geschichte  der  darstellenden  Kunst  ist  die 
Wirkung  von  Bild  auf  Bild  als  Stilfaktor  viel  wichtiger  als  das,  was  un- 
mittelbar aus  der  Naturbeobachtung  kommt.  Die  bildliche  Imitation  hat 
sich  aus  der  Dekoration  entwickelt  —  die  Zeichnung  als  Darstellung  ist 
einst  aus  dem  Ornament  hervorgegangen  —  und  dieses  Verhältnis  wirkt 
durch  die  ganze  Kunstgeschichte  nach. 

Es  ist  eine  dilettantische  Vorstellung,  daß  ein  Künstler  jemals  voraus- 
setzungslos sich  der  Natur  habe  gegenüberstellen  können.  Was  er  aber  als 
Darstellungsbegriff  übernommen  hat  und  wie  dieser  Begriff  in  ihm  weiter 
arbeitet,  ist  viel  wichtiger  als  alles,  was  er  der  unmittelbaren  Beobachtung 
entnimmt.  (Wenigstens  so  lange  die  Kunst  eine  dekorativ-schöpferische  und 
nicht  eine  wissenschaftlich-analysierende  gewesen  ist.)  Naturbeobachtung 
ist  ein  leerer  Begriff,  solange  man  nicht  weiß,  unter  welchen  Formen  be- 
obachtet wird.  Alle  Fortschritte  der  „Naturnachahmung"  sind  verankert 
in  der  dekorativen  Empfindung.  Das  Können  spielt  dabei  nur  eine  sekun- 
däre Rolle.  So  wenig  wir  uns  das  Recht  verkümmern  lassen  dürfen,  quali- 
tative Urteile  über  die  Epochen  der  Vergangenheit  abzugeben,  so  ist  es 
doch  gewiß  richtig,  daß  die  Kunst  immer  gekonnt  hat,  was  sie  wollte,  und 
daß  sie  vor  keinem  Thema  zurückschreckte,  weil  sie  „das  nicht  konnte", 
sondern   daß  man  immer  nur  ausließ,   was    nicht    als  bildlich  reizvoll  emp- 

248 


ABSCHLUSS 

funden  wurde.    Darum  ist  die  Geschichte  der  Malerei    nicht    nur  nebenbei, 
sondern  ganz  wesentlich  auch  eine   Geschichte  der   Dekoration. 

Alle  künstlerische  Anschauung  ist  an  gewisse  dekorative  Schemata  ge- 
bunden oder  —  um  den  Ausdruck  zu  wiederholen  —  die  Sichtbarkeit  kristal- 
lisiert sich  für  das  Auge  unter  gewissen  Formen.  In  jeder  neuen  Kristal- 
lisationsform aber  wird  auch  eine  neue  Seite  des  Weltinhalts  zutage  treten. 


Unter  diesen  Umständen  hat  es  eine  große  Bedeutung,   daß  sich  in  allen   Penodizit 

architektonischen  Stilen  des  Abendlandes  gewisse  gleichbleibende  Entwick-  °er 

Entwickh 
lungen  beobachten  lassen.    Es  gibt  eine  Klassik  und  einen  Barock  nicht  nur 

in  der  neueren  Zeit  und  nicht  nur  in  der  antiken  Baukunst,  sondern  auch 
auf  einem  so  ganz  fremdartigen  Boden  wie  der  Gotik.  Trotzdem  hier  die 
Kräfterechnung  eine  völlig  verschiedene  ist,  kann  die  Hochgotik  im  allge- 
meinsten der  Formgebung  doch  mit  den  Begriffen  bezeichnet  werden,  die 
wir  für  die  klassische  Kunst  der  Renaissance  entwickelten.  Sie  hat  einen 
rein  „linearen"  Charakter.  Ihre  Schönheit  ist  eine  Flächenschönheit  und  ist 
tektonisch,  insofern  als  auch  sie  das  Gesetzlich-Gebundene  darstellt.  Das 
Ganze  geht  auf  in  einem  System  selbständiger  Teile:  so  wenig  das  gotische 
Ideal  sich  deckt  mit  dem  Ideal  der  Renaissance,  so  sind  es  doch  lauter  Teile, 
die  eine  in  sich  geschlossene  Erscheinung  besitzen,  und  überall  ist  es  inner- 
halb dieser  Formenwelt  auf  eine  absolute  Klarheit  abgesehen. 

Demgegenüber  sucht  die  Spätgotik  die  malerischen  Effekte  der  vibrie- 
renden Form.  Nicht  im  modernen  Sinne,  aber  verglichen  mit  der  strengen 
Linearität  der  Hochgotik  ist  die  Form  dem  starr-plastischen  Typ  entfremdet 
und  nach  der  bewegten  Erscheinung  hinübergedrängt  worden.  Der  Stil  ent- 
wickelt Tiefenmotive,  Motive  der  Überschneidung  wie  im  Ornament  so  im 
Raum.  Er  spielt  mit  dem  Scheinbar-Gesetzlosen  und  erweicht  sich  stellen- 
weise ins  Fließende.  Und  wie  nun  die  Rechnungen  mit  den  Masseneffekten 
kommen,  wo  die  einzelne  Form  nicht  mehr  als  ganz  selbständige  Stimme 
spricht,  so  gefällt  sich  diese  Kunst  im  Geheimnisvollen  und  Unübersehbaren, 
mit  andern  Worten,   in  einer  teilweisen  Verdunkelung  der  Klarheit. 

In  der  Tat,  wie  soll  man  es  anders  nennen  als  barock,  wenn  wir  —  immer 
unter  der  Voraussetzung  eines  ganz  andern  Struktursystems  —  genau  den- 
selben Abwandlungen  der  Form  begegnen,  die  wir  aus  der  neuern  Zeit  kennen 
(vgl.  die  angeführten  Beispiele  im  dritten  und  fünften  Kapitel),  bis  auf  die 
einwärtsgedrehten  Fronttürme  —  Ingolstadt,   Frauenkirche  — ,   die  die  Bre- 

249 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

chung  der  Fläche  ins  Tiefenmäßige  sogar  in  unerhört  kühner  Weise  vor- 
tragen? 

Aus  ganz  allgemeinen  Erwägungen  heraus  sind  schon  Jakob  Burckhardt 
und  Dehio  dafür  eingetreten,  daß  eine  Periodizität  der  Formabwicklungen 
in  der  Architekturgeschichte  anzunehmen  sei.  Daß  jeder  abendländische  Stil, 
wie  er  seine  klassische  Epoche  hat,  so  auch  seinen  Barock  habe,  voraus- 
gesetzt, daß  man  ihm  Zeit  läßt,  sich  auszuleben.  Man  mag  den  Barock  so  oder 
so  definieren  —  Dehio  hat  seine  eigene  Meinung  darüber1)  — ,  das  Ent- 
scheidende ist,  daß  auch  er  an  eine  innerlich  weiterarbeitende  Formenge- 
schichte glaubt.  Die  Entwicklung  wird  sich  aber  nur  da  vollziehen,  wo  die 
Formen  lange  genug  von  Hand  zu  Hand  gegangen  sind  oder,  besser  ge- 
sagt, wo  die  Phantasie  lebhaft  genug  sich  mit  den  Formen  beschäftigt  hat, 
um  die  barocken  Möglichkeiten  herauszulocken. 

Keineswegs  soll  aber  damit  behauptet  werden,  daß  der  Stil  nicht  auch  in 
dieser  barocken  Phase  Ausdrucksorgan  der  Zeitstimmung  sein  könnte.  Was 
an  neuen  Inhalten  vorgetragen  werden  soll,  muß  dann  nur  eben  in  den 
Formen  eines  Spätstils  seinen  Ausdruck  suchen.  Der  Spätstil  an  sich  hat 
noch  keinen  besonderen  Charakter,  es  ist,  wie  wir  wissen,  nur  die  Form  des 
Lebendigen  damit  angegeben.  Gerade  die  Physiognomie  der  nordischen  Spät- 
gotik ist  sehr  stark  bedingt  durch  neue  inhaltliche  Elemente.  Aber  auch 
der  römische  Barock  ist  als  bloßer  Spätstil  nicht  zu  charakterisieren,  son- 
dern muß  auch  als  Träger  neuer  Gefühlswerte  verstanden  werden2). 

Wie  sollten  solche  Prozesse  der  architektonischen  Formengeschichte  nicht 
auch  in  der  darstellenden  Kunst  ihre  Analogie  haben?  Wirklich  ist  es  eine 
unbestrittene  Tatsache,  daß  sich,  mit  engerer  oder  weiterer  Wellenlänge, 
gewisse  gleichlautende  Entwicklungen  vom  Linearen  zum  Malerischen,  vom 
Strengen  zum  Freien  usw.  schon  mehrfach  im  Abendland  abgespielt  haben. 
Die  antike  Kunstgeschichte  arbeitet  mit  denselben  Begriffen  wie  die  moderne 
und  —  unter  wesentlich  verschiedenen  Verhältnissen  —  wiederholt  sich  das 
Schauspiel  im  Mittelalter.  Die  französische  Plastik  vom  12.  bis  zum  15.  Jahr- 
hundert bietet  ein  außerordentlich  klares  Beispiel  einer  solchen  Entwicklung, 


')  Dehio  &  Bezold,  Kirchliche  Baukunst  des  Abendlandes  II.    190. 

2)  Der  Verfasser  hat  Anlaß,  sich  hier  selbst  zu  korrigieren.  In  einer  Jugendschrift 
„Renaissance  und  Barock"  (1888  u.  ö.)  ist  dieser  letztere  Gesichtspunkt  einseitig  durch- 
geführt und  alles  auf  unmittelbaren  Ausdruck  gedeutet  worden,  während  doch  eben 
dem  Umstand  Rechnung  zu  tragen  gewesen  wäre,  daß  diese  Formen  die  weitergewälzten 
Formen  der  Renaissance  sind  und  als  solche,  auch  ohne  Anstcß  von  außen,  nicht  mehr 
die  gleichen  hätten  bleiben  können. 

250 


ABSCHLUSS 

dem  auch  die  Parallele  der  Malerei  nicht  fehlt.  Man  muß  nur,  der  modernen 
Kunst  gegenüber,  mit  einem  grundsätzlich  verschiedenen  Ausgangspunkt 
rechnen.  Die  mittelalterliche  Zeichnung  ist  nicht  die  perspektivisch-räum- 
liche der  Neuzeit,  sondern  eine  mehr  abstrakt-flächige,  die  erst  zuletzt  zur 
Tiefe  der  perspektivisch-dreidimensionalen  Bilder  durchbricht.  Man  wird  un- 
sere Kategorien  nicht  unmittelbar  auf  diese  Entwicklung  übertragen  können, 
aber  die  Gesamtbewegung  läuft  offenbar  parallel.  Und  nur  darauf  kommt 
es  an,  nicht  daß  die  Entwicklungskurven  der  verschiedenen  Weltperioden 
sich  absolut  decken  müßten. 

Auch  innerhalb  einer  Periode  wird  der  Historiker  nie  mit  einer  gleich- 
mäßig fortflutenden  Strömung  rechnen  dürfen.  Völker  und  Generationen 
treten  auseinander.  Hier  ist  die  Entwicklung  eine  langsamere,  dort  eine 
schnellere.  Es  kommt  vor,  daß  begonnene  Entwicklungen  abgebrochen 
und  erst  später  wieder  aufgenommen  werden  oder  es  gabeln  sich  die 
Richtungen  und  neben  einer  fortschrittlichen  behauptet  sich  eine  konser- 
vative, deren  Stil  dann  durch  den  Kontrast  einen  besonderen  Ausdrucks- 
charakter bekommt.  Das  sind  Dinge,  die  hier  füglich  außer  Betracht  blei- 
ben dürfen. 

Auch  die  Parallelität  der  einzelnen  Künste  ist  keine  vollständige.  Daß 
sie  so  geschlossen  marschieren,  wie  im  neueren  Italien,  kommt  strecken- 
weise auch  im  Norden  vor,  allein  sobald  z.  B.  irgendwo  eine  Anlehnung 
an  ausländische  Formmuster  stattfindet,  trübt  sich  die  reine  Parallelität. 
Es  tritt  dann  ein  Stofflich-Fremdes  in  den  Gesichtskreis,  das  sofort 
eine  besondere  Akkommodation  des  Auges  nach  sich  zieht,  wofür  die 
Geschichte  der  deutschen  Renaissancearchitektur  ein  bezeichnendes  Bei- 
spiel bietet. 

Etwas  anderes  ist,  daß  die  Architektur  grundsätzlich  die  elementaren  Stufen 
der  Formdarstellung  festhalten  wird.  Wenn  man  vom  malerischen  Rokoko 
spricht  und  sich  der  Übereinstimmung  von  Architektur  und  Malerei  erfreut, 
so  darf  man  doch  nicht  vergessen,  daß  es  neben  jenen  Innendekorationen, 
für  die  der  Vergleich  stimmt,  immer  eine  sehr  viel  zurückhaltendere  Außen- 
architektur gegeben  hat.  Das  Rokoko  kann  sich  ins  ganz  Freie  und  Un- 
greifbare verflüchtigen,  aber  es  muß  es  nicht  tun  und  hat  es  in  Wirklich- 
keit auch  nur  bei  seltenen  Anlässen  getan.  Darin  beruht  ja  gerade  der 
Sondercharakter  der  Baukunst  den  andern  Künsten  gegenüber,  die  aus  ihrem 
Schoß  hervorgehend  sich  allmählich  völlig  freigemacht  haben:  siebehält  immer 
ihr  eignes  Maß  von  Tektonik,  von  Klarheit  und  Tastbarkeit. 

251 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

5- 

Der  Begriff  der  Periodizität  schließt  die  Tatsache  eines  Aufhörens  und 
Neuanfangens  von  Entwicklungen  ein.  Man  wird  auch  da  nach  dem  Warum 
fragen  müssen.    Warum  springt  die  Entwicklung  je  wieder  zurück? 

Im  ganzen  Verlauf  unsrer  Darlegungen  haben  wir  das  Beispiel  der  Stil- 
erneuerung um  1800  ins  Auge  gefaßt.  Mit  einer  außerordentlich  eindrück- 
lichen Schärfe  setzt  sich  dort  eine  neue  „lineare"  Art,  die  Welt  zu  sehen, 
der  malerischen  des  18.  Jahrhunderts  gegenüber.  Mit  der  allgemeinen  Er- 
klärung, daß  jede  Erscheinung  ihren  Gegensatz  erzeugen  müsse,  ist  nicht 
viel  anzufangen.  Das  Abbrechen  bleibt  etwas  „Unnatürliches"  und  wird 
immer  nur  im  Zusammenhang  mit  durchgreifenden  Veränderungen  der  gei- 
stigen Welt  vorkommen.  Wenn  das  Sehen  unmerkbar  und  fast  wie  von 
selber  vom  Plastischen  zum  Malerischen  sich  wandelt,  so  daß  man  fragen 
kann,  ob  es  sich  nicht  in  der  Tat  um  eine  rein  interne  Entwicklung  handle, 
so  liegt  bei  der  Umkehr  vom  Malerischen  zum  Plastischen  der  Hauptanstoß 
sicher  in  äußeren  Verhältnissen.  Der  Nachweis  in  unserem  Fall  ist  nicht 
schwer.  Es  ist  die  Epoche  einer  neuen  Wertung  des  Seins  auf  allen  Ge- 
bieten. Die  neue  Linie  kommt  im  Dienst  einer  neuen  Sachlichkeit.  Man 
will  nicht  mehr  den  allgemeinen  Effekt,  sondern  die  einzelne  Form,  nicht 
mehr  den  Reiz  einer  ungefähren  Erscheinung,  sondern  die  Gestalt,  wie  sie 
ist.  Die  Wahrheit  und  Schönheit  der  Natur  beruht  in  dem,  was  sich  greifen 
und  messen  läßt.  Von  Anfang  an  spricht  das  die  Kritik  aufs  deutlichste 
aus.  Diderot  bekämpft  in  Boucher  nicht  nur  den  Maler,  sondern  den  Men- 
schen. Die  reine  menschliche  Gesinnung  sucht  das  Einfache.  Und  nun  kom- 
men die  Forderungen,  die  wir  kennen:  Die  Figuren  im  Bild  sollen  isoliert 
bleiben  und  ihre  Schönheit  dadurch  bewähren,  daß  sie  vom  Relief  über- 
nommen werden  könnten,  worunter  natürlich  das  lineare  Relief  verstanden 
ist,  usw.1).  Im  gleichen  Sinn  hat  sich  später,  als  Wortführer  der  Deutschen, 
Friedrich  Schlegel  ausgesprochen:  „Keine  verworrene  Haufen  von  Menschen, 
sondern  wenige  und  einzelne  Figuren,  aber  mit  Fleiß  vollendet;  ernste  und 
strenge  Formen  in  scharfen  Umrissen,  die  bestimmt  heraustreten;  keine 
Malerei  aus  Helldunkel  und  Schmutz  in  Nacht  und  Schlagschatten,  sondern 
reine  Verhältnisse   und   Massen   von   Farben,   wie   in   deutlichen   Akkorden 


')  Diderot,  Salons  (Boucher):  il  n'y  a  aucune  partie  de  ses  compositions,  qui,  separee 
des  autres,  ne  vous  plaise  . . .  .  il  est  sans  goüt:  dans  la  multitude  de  figures  d'hommes 
et  de  femmes  qu'il  a  peintes,  je  defie  qu'on  en  trouve  quatre  de  caractere  propre  au 
bas  relief,  encore  moins  ä  la  statue  (Oeuvres  choisies  II,  32611.). 

252 


ABSCHLUSS 

...  in  den  Gesichtern  aber  durchaus  und  überall  jene  gutmütige  Einfalt  .  .  , 
die  ich  geneigt  bin  für  den  ursprünglichen  Charakter  des  Menschen  zu 
halten;  das  ist  der  Stil  der  alten  Malerei,  der  Stil,  welcher  mir  .  .  ausschließend 

gefällt1)-" 

Was  hier  in  nazarenischer  Färbung  sich  ausspricht,  ist  natürlich  nichts 
anderes  als  was,  im  Reich  einer  allgemeinern  Menschlichkeit,  der  neuen 
Andacht  zur  „Reinheit"  der  antik-klassischen  Formen  zugrunde  liegt. 

Aber  der  Fall  der  Kunsterneuerung  um  1800  ist  einzigartig,  so  einzig- 
artig, wie  es  die  begleitenden  Zeitumstände  gewesen  sind.  Innerhalb  einer 
verhältnismäßig  kurzen  Zeitspanne  hat  die  abendländische  Menschheit  da- 
mals einen  durchgreifenden  Regenerationsprozeß  durchgemacht.  Das  Neue 
setzt  sich  dem  Alten  unmittelbar  entgegen  und  zwar  auf  der  ganzen  Linie. 
Es  scheint  hier  wirklich,  als  ob  man  noch  einmal  von  vorne  habe  anfangen 
können. 

Ein  genaueres  Zusehen  freilich  erweist  bald,  daß  die  Kunst  auch  hier 
nicht  an  einen  Punkt  zurückgekehrt  ist,  wo  sie  schon  einmal  gestanden 
hatte,  sondern  daß  nur  das  Bild  einer  Spiralbewegung  den  Tatsachen  nahe 
käme.  Fragt  man  aber  nach  den  Anfängen  der  vorausgehenden  Entwicklung, 
so  sucht  man  umsonst  nach  einer  entsprechenden  Situation,  wo  sich  ein 
Wille  zum  Linearen  und  Strengen  allgemein  und  rasch  entschlossen  einer 
malerisch-freien  Tradition  in  den  Weg  gestellt  hätte.  Gewiß,  es  gibt  Analogien 
im  15.  Jahrhundert,  und  indem  man  die  Quattrocentisten  als  Primitive  be- 
zeichnet, will  man  eben  sagen,  dort  läge  der  Anfang  der  modernen  Kunst. 
Allein  Masaccio  fußt  auf  dem  Trecento  und  die  Bilder  des  Jan  van  Eyck  sind 
gewiß  nicht  der  Beginn  einer  Richtung,  sondern  die  Blüte  einer  weit  zu- 
rückreichenden spätgotisch-malerischen  Entwicklung.  Trotzdem  ist  es  ganz 
in  der  Ordnung,  wenn  —  unter  gewissen  Gesichtspunkten  —  diese  Kunst 
uns  als  die  Vorstufe  der  klassischen  Epoche  des  16.  Jahrhunderts  erscheint. 
Nur  verzahnt  sich  eben  Altes  und  Neues  hier  so,  daß  es  schwer  ist,  den 
Schnitt  zu  machen.  Wie  denn  die  Historiker  immer  wieder  schwanken,  wo 
sie  das  Kapitel  von  der  neueren  Kunstgeschichte  beginnen  lassen  sollen. 
Mit  strengen  Ansprüchen  an  die  „Reinlichkeit"  der  Periodenteilungen  kommt 
man  nicht  weiter.  In  der  alten  Form  ist  die  neue  schon  enthalten,  wie 
neben  dem  welkenden  Laub  der  Keim  des  jungen  schon  da  ist.  Italien  er- 
laubt eine  etwas  klarere  Rechnung,  vom  nordischen  Quattrocento  aber  muß 


0  F.  Schlegel,  Gemäldebeschreibungen  aus  Paris  und  den  Niederlanden  in  den  Jahren 
1802— 1804.    (Sämtliche  Werke  VI2.  i4f.) 


25 


T 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

man  sagen,  daß  es  nur  teilweise  eine  Vorbereitung  auf  den  Stil  des  16.  Jahr- 
hunderts gewesen  ist.  In  gotisch-barocken  Schöpfungen  wie  Adam  Kraffts 
Sakramentshäuschen  von  St.  Lorenz  berührt  sich  eine  malerische  Spätkunst 
sehr  merkwürdig  mit  jener  wesentlich  anders  gearteten  Kunst  der  Klarheit, 
zu  der  schon  der  junge  Dürer  durchgedrungen  ist.  Ja  der  Konflikt  liegt  in 
der  Seele  Adam  Kraffts  selbst  und  man  wird  gut  tun,  auch  den  gesamten 
Begriff  der  Spätgotik  noch  mehr  zu  spalten  und  auf  dasjenige  durchzu- 
prüfen, was  jung  ist  im  ,, Verfall". 

Für  jeden  aber,  der  den  Primitivismus  als  Stil  bestimmen  möchte,  bleibt 
zu  bedenken,  daß  es  nicht  nur  einen  Primitivismus  des  Anfangs  gibt,  son- 
dern unter  Umständen  auch  einen  Primitivismus  des  Endes.  Es  ist  das, 
was  man  als  die  Kindlichkeit  des  Alters  kennt,  die  Einfachheit  der  Ermüdung, 
ein  Erstarren  des  Malerischen  ohne  die  Kraft  einer  plastischen  Neubildung. 
Für  uns  hier  liegen  diese  Probleme  abseits  der  Strecke.  Wir  sprechen  von 
Primitiven  in  dem  beschränkten  Sinne  jener  Kunst,  die  dem  klassischen  Stil 
der  Renaissanse  unmittelbar  vorangeht. 

6. 

Trotz  aller  Ausweichungen  und  Sondergänge  ist  die  Entwicklung  des 
Stils  in  der  neueren  abendländischen  Kunst  eine  einheitliche  gewesen,  wie 
die  Kultur  des  modernen  Europa  als  eine  einheitliche  gefaßt  werden  kann. 
Aber  innerhalb  dieser  Einheit  ist  mit  der  durchgehenden  Verschiedenheit 
der  nationalen  Typen  zu  rechnen.  Wir  haben  von  Anfang  an  darauf  hin- 
gewiesen, wie  die  Schemata  des  Sehens  national  gebrochen  erscheinen.  Es 
gibt  eine  bestimmte  Art  von  italienischer  oder  von  deutscher  Vorstellungs- 
weise, die  sich  gleichbleibend  in  allen  Jahrhunderten  behauptet.  Natürlich 
sind  es  nicht  konstante  Größen  im  mathematischen  Sinn,  aber  die  Aufstel- 
lung eines  nationalen  Typs  der  Phantasie  ist  eine  notwendige  Hilfskon- 
struktion für  den  Historiker.  Es  wird  an  der  Zeit  sein,  daß  die  geschicht- 
liche Darstellung  der  Baukunst  Europas  nicht  mehr  bloß  einteilt  nach  Gotik, 
Renaissance  usw.,  sondern  die  nationalen  Physiognomien  herausarbeitet,  die 
auch  durch  importierte  Stile  nicht  ganz  verwischt  werden  können.  Die  ita- 
lienische Gotik  ist  ebenso  ein  italienischer  Stil,  wie  die  deutsche  Renaissance 
sich  nur  aus  der  Gesamtüberlieferung  nordisch-germanischer  Formbildung 
verstehen  läßt. 

In  der  darstellenden  Kunst  liegt  das  Verhältnis  noch  klarer  zutage.  Es 
gibt  eine  germanische  Phantasie,  die  zwar  die  allgemeine  Entwicklung  vom 

254 


ABSCHLUSS 

Plastischen  zum  Malerischen  durchmacht,  aber  doch  von  allem  Anfang  an 
stärker  auf  malerische  Reize  reagiert  als  die  südliche.  Nicht  die  Linie, 
sondern  das  Liniengeflecht.  Nicht  die  festgelegte  Einzelform,  sondern  die 
Formbewegung.  Man  glaubt  auch  an  die  Dinge,  die  sich  nicht  mit  Hän- 
den fassen  lassen. 

Die  in  reiner  Fläche  gesammelte  Form  spricht  nicht  auf  lange  zu  diesen 
Menschen,  sie  wühlen  die  Gründe  auf,  suchen  die  Unterschneidung,  den  aus 
der  Tiefe  heraus  wirkenden  Bewegungszug. 

Auch  die  germanische  Kunst  hat  ihr  tektonisches  Zeitalter  gehabt,  aber 
doch  nicht  in  dem  Sinn,  daß  jemals  die  strengste  Ordnung  auch  als  die 
lebendigste  empfunden  worden  wäre.  Hier  ist  immer  noch  Raum  für  den 
Einfall  des  Augenblicks,  für  das  Scheinbar-Willkürliche,  die  verschobene 
Regel.  Über  das  Gesetzmäßige  hinaus  drängt  die  Vorstellung  nach  dem 
Ungebundenen  und  Unbegrenzten.  Die  rauschenden  Wälder  bedeuten  der 
Phantasie  mehr  als  das  in  sich  geschlossene  tektonische  Gefüge. 

Was  für  romanische  Empfindung  so  charakteristisch  ist,  die  gegliederte 
Schönheit,  das  durchsichtige  System  mit  klar  gesonderten  Teilen,  ist  der 
deutschen  Kunst  als  Ideal  zwar  nicht  unbekannt,  aber  alsbald  sucht  der 
Gedanke  das  Eine  und  Allesfüllende,  wo  die  Systematik  aufgehoben  und 
die  Selbständigkeit  des  Teils  im  Ganzen  untergegangen  ist.  So  ist  es  mit 
aller  Figur.  Wohl  hat  die  Kunst  sie  auf  eigene  Füße  zu  stellen  unter- 
nommen, aber  im  geheimen  ist  immer  der  Phantasiereiz  lebendig,  sie  in 
allgemeinere  Zusammenhänge  zu  verflechten  und  ihren  Eigenwert  in  einer 
neuen  Gesamterscheinung  aufgehen  zu  lassen.  Und  eben  darin  liegen  auch  die 
Voraussetzungen  der  nordischen  Landschaftsmalerei.  Man  sieht  nicht  Baum 
und  Hügel  und  Wolke  für  sich,  sondern  alles  ist  aufgenommen  in  den  Atem- 
zug der  einen  großen  Natur. 

Merkwürdig  früh  überläßt  man  sich  hier  den  Wirkungen,  die  nicht  von 
den  Dingen  selbst  ausgehen,  sondern  überdinglicher  Art  sind,  jenen  Bildern, 
wo  nicht  die  einzelne  Sachform  und  der  rationelle  Zusammenhang  der  Dinge 
Träger  des  Eindrucks  ist,  sondern  das,  was  sich  sozusagen  über  den  Kopf 
der  Einzelform  hinweg  als  zufällige  Konfiguration  ergibt.  Wir  verweisen 
darauf  zurück,  was  oben  als  Inhalt  des  Begriffes  der  künstlerischen  ,, Un- 
klarheit" auseinandergesetzt  worden  ist. 

Damit  hängt  wohl  auch  zusammen,  daß  in  der  nordischen  Architektur 
Bildungen  zugelassen  worden  sind,  die  für  die  südländische  Phantasie 
nichts  Verständliches  d.  h.  Erlebbares  mehr  besaßen.     Dort  ist  der  Mensch 

255 


KUNSTGESCHICHTLICHE  GRUNDBEGRIFFE 

das  „Maß  aller  Dinge"  und  jeder  Träger,  jede  Fläche,  jeder  Kubus  ist  ein 
Ausdruck  dieser  plastisch-anthropozentrischen  Auffassung.  Hier  gibt  es  keine 
verbindlichen  Maße,  die  vom  Menschen  genommen  sind.  Die  Gotik  rechnet 
mit  Kräften,  die  aller  menschlichen  Vergleichbarkeit  sich  entziehen,  und 
wenn  die  neuere  Baukunst  sich  des  italienischen  Formenapparates  bedient, 
so  sucht  sie  ihre  Wirkungen  doch  in  einem  so  geheimnisvollen  Leben  der 
Form,  daß  jeder  alsbald  erkennen  muß,  wie  grundsätzlich  andere  Forde- 
rungen an  die  nachschaffende  Einbildungskraft  gestellt  sind. 

7- 

chiebung        Es  ist  immer  ein  wenig  bedenklich,   Zeitalter  gegen  Zeitalter  auszuspielen. 

Schwer-    Trotzdem  wird  man  um  die  Tatsache  nicht  herumkommen,  daß  jedes  Volk 

es  in  der 

päischen   in  seiner  Kunstgeschichte  Epochen  hat,  die  vor  anderen  als  die  eigentüm- 

Kunst    liehe  Offenbarung  seiner  nationalen  Tugenden  erscheinen.     Für  Italien  ist 

es  das  16.  Jahrhundert,  das  am  meisten  Neues  und  nur  diesem  Lande  Eigenes 

hervorgebracht  hat,  für  den  germanischen  Norden  ist  es  das  Zeitalter  des 

Barock.    Dort  eine  plastische  Begabung,  die  auf  der  Basis  des  Linearismus 

ihre  klassische  Kunst  gestaltet,  hier  eine  malerische  Begabung,  die  im  Barock 

sich  erst  ganz  eigentümlich  ausspricht. 

Daß  Italien  einmal  die  hohe  Schule  Europas  werden  konnte,  hat  natür- 
lich noch  andere  als  kunstgeschichtliche  Gründe,  aber  es  ist  begreiflich,  daß 
bei  einer  gleichartigen  künstlerischen  Entwicklung  des  Abendlandes  der 
Schwerpunkt  sich  nach  der  besonderen  Begabung  der  einzelnen  Völker  ver- 
schieben mußte.  Italien  hat  einmal  allgemeine  Ideale  in  einer  besonders 
klaren  Weise  behandelt.  Nicht  der  Zufall  der  italienischen  Reisen  Dürers 
oder  anderer  Künstler  hat  den  Romanismus  für  den  Norden  geschaffen,  die 
Reisen  waren  die  Folge  der  Anziehungskraft,  die  das  Land  bei  der  da- 
maligen Orientierung  des  europäischen  Sehens  notwendig  auf  die  anderen 
Nationen  ausüben  mußte.  So  verschieden  die  nationalen  Charaktere  sein 
mögen:  das  Allgemein-Menschliche,  das  bindet,  ist  stärker  als  das  Trennende. 
Es  findet  ein  beständiger  Ausgleich  statt.  Und  dieser  Ausgleich  bleibt  ein 
befruchtender,  selbst  wenn  zunächst  das  Wasser  sich  trübt  und,  was  bei 
jeder  Nachahmung  unvermeidlich  ist,  anfänglich  auch  Unverstandenes  und 
Dauernd-Fremdes  mit  herüberkommt. 

Die  Verbindung  mit  Italien  hat  im  17.  Jahrhundert  nicht  aufgehört,  aber 
das  Eigentümlichste  des  Nordens  ist  ohne  Italien  entstanden.  Rembrandt 
hat  die  übliche  Künstlerreise  über  die  Alpen  nicht  gemacht  und  selbst  wenn 

256 


ABSCHLUSS 

er  sie  gemacht  hätte,  würde  er  vom  damaligen  Italien  kaum  berührt  wor- 
den sein.  Es  konnte  seiner  Vorstellung  nichts  geben,  was  er  nicht  in  viel 
höherem  Maße  schon  besaß.  Aber  —  kann  man  fragen  —  warum  hat  denn 
damals  nicht  die  umgekehrte  Bewegung  eingesetzt!  Warum  ist  im  maleri- 
schen Zeitalter  der  Norden  nicht  zum  Lehrer  des  Südens  geworden?  Dar- 
auf wäre  zu  antworten,  daß  wohl  die  abendländischen  Schulen  alle  durch 
die  Zone  des  Plastischen  durchgegangen  sind,  daß  aber  für  die  weitere  Ent- 
wicklung ins  Malerische  hinein  von  vornherein  nationale  Schranken  ge- 
setzt waren. 

Wie  alle  Sehgeschichte  über  die  bloße  Kunst  hinausführen  muß,  so  ist 
es  selbstverständlich,  daß  auch  solche  nationalen  Verschiedenheiten  des  Auges 
mehr  sind  als  nur  eine  Angelegenheit  des  Geschmacks:  bedingend  und  be- 
dingt enthalten  sie  die  Grundlagen  des  ganzen  Weltbildes  eines  Volkes. 
Daran  liegt  es,  daß  die  Kunstgeschichte,  als  die  Lehre  von  den  Sehformen, 
nicht  nur  ein  allenfalls  entbehrlicher  Begleiter  in  der  Gesellschaft  der  histo- 
rischen Disziplinen  zu  sein  beansprucht,  sondern  daß  sie  notwendig  ist  wie 
das  Gesicht. 


Dürer 


17  H.  W.,  G.  2.  A. 


257 


Verzeichnis  der  Abbildungen 

i.  Malerei 

Ortsbezeichnungen  ohne  besonderem  Vermerk   (Berlin,  München  usw.) 
bedeuten  die  grossen  öffentlichen,  Sammlungen. 


Aertsen,  Pieter,   Küchenstück,  Z.1), 
Berlin 104 

Aldegrever,  H.,  Männliches  Bildnis, 
Z.  (Ausschnitt),   Berlin 39 

Baroccio,  F.,   Abendmahl,    Urbino, 
Dom 94 

Berck-Heyde,  G.  A.,  Rathaus  von 
Amsterdam,  Dresden   209 

Bosch,  H.,  Fastnachtsbelustigung,  Z., 
Wien,  Albertina  187 

Botticelli,  S.,  Venus  (Ausschnitt), 
Florenz,  Uff izien 2 

B  o  1 1  i  c  i  n  i ,  Franc,  Die  drei  Erzengel, 
Florenz,  Akademie 108 

Boucher,  F.,  Liegendes  Mädchen, 
München 197 

Bouts,  Dirk2),  Lukas,  die  Maria 
malend,  Penrhyn  Castle 84 

— ,  Männliches  Bildnis,  New- York, 
Metropolitan  Museum 158 

Bronzino,  Aug.,  Eleonore  von 
Toledo,  Florenz,  Uffizien 50 

Brueghel,  Pieter,  d.  Ä.,  Bauern- 
hochzeit, Wien 96 

— ,  Winterlandschaft,  Wien :  . . .    103 

— ,  Felsige  Stromgegend,  Z.,  Berlin..    166 

Brueghel,  Jan  d.  Ä.,  Dorf  am  Fluß- 
ufer, Dresden 229 

Canaletto,  B.,  Kaiserl.  Lustschloß, 
„Schloßhof",  Wien 128 

Caroto,  G.  F.,  Die  drei  Erzengel, 
Verona 109 

Cleve,  Joos  van  (Meister  des  To- 
des Maria),  Der  Tod  der  Maria, 
München in 

J)   Z.  =r  Zeichnung. 

2)   Die  Zuweisung  an  Dirk  Bouts  ist  nicht  unbestritten. 

258 


Cleve,  Joos  van,    Beweinung,    Paris    228 

C  r  e  d  i ,  Lor.,  Venus,  Florenz,  Uffizien       3 

— ,  Bildnis  des  Verrocchio,  Florenz, 
Uffizien   195 

Dürer,  Albr.,  Eva,  Z.,  London  (Lipp- 
mann 235) 36 

— ,  Bildnis  des  B.  van  Orley,  Dresden     47 

— ,  Hieronymus  im  Gehäus,  Stich 53 

— ,  Landschaft  mit  der  Kanone,  Ra- 
dierung      106 

— ,  Der  Tod  der  Maria,  Holzschnitt 
aus  dem  „Marienleben" 173 

— ,  Gefangennahme  Christi,  Holz- 
schnitt aus  der  „Großen  Passion"..    193 

— ,  Christus  vor  Kaiphas,  Stich  aus 
der  Folge  der  „GestochenenPassion"   257 

Dyck,  Ant.  van,  Bildnis  des  Lucas 
Vorstermann,  Radierung 42 

—  ,  Der  wunderbare  Fischzug,  Lon- 
don       87 

Franciabigio,  Venus,  Rom,  Gal. 
Borghese 150 

Goes,  Hugo  van  der,  Adam  und  Eva, 
Wien 194 

— ,  Beweinung  Christi,  Wien 99 

Goyen,  Jan  van,  Flußlandschaft,  Z., 
Berlin ...        1 

— ,  Hütten  in  Bäumen,  Dresden 89 

Hals,  Frans,  Männliches  Bildnis, 
Petersburg 46 

Hobbema,  Landschaft  mit  Mühle, 
London,  Buckingham  Palace 8 

H  o  1  b  e  i  n  ,  Hans  d.  J.,  Bildnis  des  Jean 
de  Dinteville  (Ausschnitt) 180 

— ,  Krug  (Radierung  des  Wenzel 
Hollar) 241 

Hooch,  Pieter  de,  Die  Mutter,  Berlin   219 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 


Huber,   Wolf,   Golgatha,    Z.,   Wien, 

Albertina 144 

Janssens,      Pieter,     Lesende    Frau, 

München 143 

Isenbrant,    Adr.,    Ruhe     auf     der 

Flucht,  München 154 

Lievens,  Jan,    Bildnis  des  Dichters 
Jan  Vos     (Ausschn.) ,      Frankfurt, 

Stadel 40 

M  a  s  s  y  s ,  Quinten,  Beweinung  Christi, 

Antwerpen 98 

Meister  des  Marienlebens,   Die  Ge- 
burt der  Maria,  München 110 

Meister  des  Todes  Maria  (Joos  van 
Cleve),  Der  Tod  der  Maria,  München    in 

— ,  Beweinung,  Paris 228 

M  e  t  s  u ,  Gabr.,  Die  Musikstunde,  Haag  5 
Neefs,  Pieter  d.  Ä.,  Kircheninneres, 

Amsterdam 231 

Orley,     Barend     van,     Bildnis     des 

Carandolet,  München 146 

— ,  Ruhe  auf  der  Flucht,  Wien 155 

Ostade,    Adr.    van,    Malerwerkstatt 
(Radierung       von       W.       Unger), 

Amsterdam 53 

— ,  Bauernwirtshaus,  Z.,  Berlin 186 

Palma    Vecchio,     Adam    und    Eva, 

Braunschweig.  .  .    82 

Patenier,  Taufe  Christi,  Wien 156 

Raffael,    Disputa   (Barocke    Relief- 
kopie),  München    Nationalmuseum    139 
— ,  Bildnis  des  Pietro  Aretino  (Stich 

des  Marc  Anton) 195 

Rembrandt,    Weiblicher    Akt,    Z., 

Budapest  37 

— ,  Der  barmherzige  Samariter,  Paris  102 
— ,  Landschaft  mit  Jäger,  Radierung.  .  107 
— ,  Abendmahl  von  Emmaus,  Paris   .    137 

— ,  Kreuzabnahme,  Radierung 169 

— ,  Christus  predigend,  Radierung  .  .  .  176 
— ,  Der  Tod  der  Maria,  Radierung . .  172 
— ,  Die    „Staalmeesters"     (Radierung 

von  W.  Unger),  Amsterdam 184 

— ,  Landschaft  mit  3  Eichen,  Radierung  189 

— ,  Emmaus,  Radierung  . .    213 

— ,  Die    sog.    Frau     mit     dem    Pfeil, 

Radierung 233 

R  e  n  i ,  Guido,  Magdalena,  Rom,  Kapi- 
tolinische Galerie 149 

Rubens,  Landschaft  mit  Vieh,  Lon- 
don, Buckingham  Palace 9 


17* 


Rubens,  Abraham  und  Melchisedek 

(Stich   des  J.  Witdoek) 86 

— ,  Kreuztragung  (Stich    des  P.Pon- 
tius)     101 

— ,  Bildnis  des  Dr.  Thulden,  München    147 

— ,  Andromeda,  Berlin 151 

— ,  Maria     mit    Heiligen    (Stich    des 

H.  Snyers) 153 

— ,    Himmelfahrt     Maria    (Stich    des 

Schelte  a  Bolswert) 174 

—  Heuernte     bei    Mecheln,    Florenz, 

Pitti 191 

— ,  Beweinung  Christi,  Wien 132 

Ruysdael,     Jakob,     Eichen      (Aus- 
schnitt), Z.,  Berlin 45 

-,  Schloß  Bentheim  (Radierung  von 

W.  Unger),  Amsterdam 92 

— ,  Blick  auf  Haarlem,  Haag 157 

Schongauer,     Martin,     Gefangen- 
nahme Christi,  Stich 192 

— ,  Christus  vor  Annas,  Stich 235 

S  c  o  r  e  1 ,  Jan  van,  Magdalena,  Amster- 
dam      148 

Terborch,  Ger.,  Häusliches  Konzert, 

Paris 4 

— ,  Die  sog.  väterliche  Ermahnung  (Ra- 
dierung von  W.  Unger),  Amsterdam   222 
T 1  e  p  o  1  o ,  G.  B.,  Das  Abendmahl,  Paris     95 
— ,  Fresko    im    Palazzo    Labia,    Ve- 
nedig   Titelbild 

Tintoretto,  Adam  und  Eva,  Vene- 
dig, Akademie 83 

— ,  Maria  Tempelgang,  Venedig, 

S.  M.  dell'  Orto 226 

— ,  Beweinung,  Venedig,  Akademie  . .   227 
Tizian,  Venus,  Florenz,  Uffizien...    182 

— ,  Gebirgsdorf,  Z.,  Paris 105 

Velasquez,     Infantin     Margaretha 

Theresia,  Wien 5 1 

— ,  Cardinal  Borgia,  Frankfurt,  Stadel   180 

— ,  Venus,  London 183 

Vellert,  Dirk,  Der  kleine  Saul  vor 
dem  Hohenpriester,  Z.,  Wien,  Alber- 
tina      178 

Vermeer,  Jan,  Der  Maler  mit  dem 
Modell  (Radierung  von  W.  Unger), 

Wien,  Gal.  Czernin 85 

—  ,  Musikstunde,  Windsor 91 

— ,  Straße  von  Delft,  Amsterdam  ....   230 
Witte,      Em.      de,     Kircheninneres, 
Amsterdam 232 

259 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 


2.  Plastik 


Bernini,    Cardinal    Borghese,    Rom, 

Gal.  Borghese 63 

— ,  Entzückung  der  hl.  Therese,  Rom, 

S.  M.  della  Vittoria 67 

— ,  Grabmal    Alexanders  VII.,    Rom, 

St.  Peter 115 

— ,     Die      selige      Albertona,      Rom, 

S.  Francesco  a  ripa 119 


Majano,  Benedetto  da,  Bildnis  des 
Pietro  Mellini,  Florenz,  Museo 
nazionale 62 

P  u  g  e  t ,  P.,  Der  selige  A.  Sauli,  Genua, 
S.  M.  di  Carignano 65 

Sansovino,  Jak.,  Der  hl.  Jacobus '), 
Florenz,  Dom 64 

')   Der  Stab  ist  in  der  Abbildung  ergänzt  worden. 


3.  Architektur 


Florenz,  Pal.  Ruccellai 202 

München,    Erzbischöfliches    Palais 

(Pal.  Holnstein) 205 

— ,  Chorgestühl  aus  St.  Peter 207 

Rom,  S.  Agnese  an  Piazza  Navona. .     19 

— ,  SS.  Apostoli 75 

— ,  S.  Andrea  della  Valle 77 


Rom,  Fontana  Trevi 121 

— ,  Villa  Borghese 125 

— ,  Scala  regia  im  Vatikan   126 

— ,  Pal.  della  Cancelleria 203 

— ,  Pal.  Odescalchi 204 

— ,  Pal.  Madama 206 

Wien,  Vase  im  Schwarzenberggarten  242 


260