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Full text of "Laò-tsè's Taò te King: Aus dem chinesischen ins deutsche"

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TAO TE KiNG. 



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TAGTE KING 



AUS DEM CHINESISCHEN INS DEUTSCHE ÜBERSETZT, 
EINGELEITET L^D COMMENTIRT 



VON 



VICTOR VON STRAUSS 



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LEIPZIG, 

VERLAG VON FRIEDRICH FLEISCHER. 

1870, 



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IHRO ERLAUCHT 

DER VERWITTWETEN 

GRÄFIN LOUISE ZU STOLBERG-STOLBERG, 

GEBORNEN GRÄFIN ZU STOLBERG-STOLBERG. 



ERLAUCHTE GRÄFIN! 

GNÄDIGSTE FRAU! 

Forschungen über die höchsten Anliegen des Menschen- 
geistes hatten Ew. Erlaucht Aufmerksamkeit auf den ältesten 
chinesischen Philosophen gelenkt, und gnädige Mittheilungen 
hierüber gaben mir die erste Anregung, Laö-tse in der Grund- 
sprache zu Studiren. Meine Theilnahme für ihn steigerte sich 
bei näherer Bekanntschaft zur lebhaften Neigung, Verehrung, 
ja Bewunderung. Bringe Ew. Erlaucht ich nun das gegen- 
wärtige Werk ehrerbietigst dar, dessen Ausarbeitung mir in 
den letzten Jahren über so vieles Schmerzliche hinweggeholfen, 
so kommt in dieselben Hände, die einst den Samen ausgestreut, 
wie es billig ist, nun auch die Ernte. Möchte sie derselben 
würdig seyn als eine reife und wolgerathene! Doch wie sollte 
ich diess hoffen dürfen, wenn ich das Erreichte mit der Aufgabe 



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vergleiche! Um so mehr rechne ich darauf, dass die Unzuläng- 
lichkeiten meiner Arbeit mit demselben gnädigen WolwoUen 
übersehen werden, dessen ich mich bisher zu erfreuen hatte 
und dem in tiefer Verehrung sich auch ferner empfiehlt 

Erlangen, den 27. März 1870. 



Ew. Erlaucht 



gehorsamst Ergebenster 



V. VON Strauss. 



VORREDE. 

Nicht ohne Grund haben so bedeutende Geister 
wie Leibnitz, Hegel und Schelling ihre Blicke ernst 
betrachtend auf China ruhen lassen. Ein Reich, das 
den dritten Theil der gesammten Menschheit umfasst, 
das seit ältesten Zeiten, unberührt von den Bildungs- 
strömungen der übrigen Welt, eine ganz eigenthümliche 
Cultur auf durchaus selbständigen Grundlagen ent- 
wickelt hat, musste wol das lebhafte Interesse solcher 
Forscher erregen. Durfte man doch voraussetzen, dass 
eine so fiir sich abgeschlossene und stets ihren An- 
fängen treu gebliebene Entwicklung Manches bewahrt 
habe aus jenen vorgeschichtlichen Zuständen, deren 
Untersuchung immer bedeutsamer für uns wird, je 
mehr die Wissenschaft der menschlichen Dinge an 
Umfang und Gründlichkeit zunimmt. 

Die neue Sprachwissenschaft hat dies bereits be- 
griffen. Ihre geistvollsten Vertreter wollen in der Form 
der chinesischen Sprache einen Ueberrest von der Ge- 
stalt der ältesten Menschensprache, wenigstens einer 
Entwicklungsstufe derselben in unvordenklicher Zeit 
erkennen. Ist diese Ansicht berechtigt, so dürften die 
altchinesischen Ueberlieferungen in mancher Hinsicht 
von ähnlicher Bedeutung seyn für die allgemeinen 
Wissenschaften der Religion, der Philosophie, der Sitte 
und des Rechts der Menschheit. 



VIII ' 



Merkwürdig und lehrreich ist es sodann, wie jene 
Entwicklung auf den altgegebenen und meist festge- 
haltenen Grundlagen sich in Geschicken, Thaten und 
Begebenheiten geschichtlich vollzogen; wie der reine 
Patriarchalstaat sich zu einem mächtigen vielgeglieder- 
ten Feudalreiche erweitert, in diesem sich zersetzt, 
und auf den Trümmern sich dann unter Festhaltung 
des Patriarchalismus in den modernen centralisirten 
Beamtenstaat umgewandelt hat; was alles schon in Zei- 
ten geschehen ist, die wir noch der alten Geschichte 
zuweisen müssen. 

Nicht minder merkwürdig und lehrreich ist der 
Verlauf der alten chinesischen Philosophie, wie ihn 
die erhalten gebliebenen Werke von zehn — und 
rechnet man Khüng-tse (Confucius) und Meng-tse 
noch hinzu, von zwölf — Philosophen aus den letzten 
sechs Jahrhunderten vor unsrer Zeitrechnung darlegen. 

Wer mit diesen Dingen einigermassen bekannt 
ist, muss staunen über die Art, wie dieselben fast all- 
gemein betrachtet und behandelt werden. So giebt es 
ein vortreffliches »Lehrbuch der Universalgeschichte«, 
das die Geschichte jenes Dritttheils der Menschheit 
gar nicht einmal erwähnt, obgleich es sich dabei um 
das älteste Culturreich handelt, das mehr schriftliche 
Documente als irgend ein anderes und eine lange 
Reihe trefflicher Geschichtschreiber hat. Gehört in 
eine Universalgeschichte die Geschichte eines so gros- 
sen Theiles des Menschengeschlechts etwa deshalb 
nicht, weil er nicht auf die andern Völker und die 
andern Völker nicht auf ihn gewirkt haben? Dann 
tadle man doch die Chinesen nicht, wenn sie sich 
ihrerseits ebenso verhalten. — Desgleichen übergeht 



IX 



eine der ausgezeichnetsten und neuesten Geschichten 
der Philosophie die chinesische Philosophie völlig, in- 
dem sie bemerkt, die chinesischen Weisen hätten nur 
Regeln des Anstands und der äussern Gesittung auf- 
gestellt, — erst der Grieche habe das ifvfi&i oeaüxov 
vernommen. Die erste Behauptung wird durch das 
ganze hier übersetzte Buch widerlegt, und die zweite 
durch dessen Ausspruch: »Wer Andre kennt, ist klug; 
wer sich selbst kennt, ist erleuchtet (Kap. 33: 
Tschi sjin tscfü tschij tse tschi tscke mtng.) 

Freilich ist von dem Manne einer bestimmten 
Wissenschaft nicht auch noch die Kenntniss des Chine- 
sischen zu verlangen. Französische und englische 
Sinologen sind bemüht, die chinesische Literatur ihren 
.Landsleuten durch Uebersetzungen zu vermitteln. 
Leider ist diess bisher theils zu planlos, theils zu 
mangelhaft, vornehmlich aber zu einseitig geschehen. 
Warum aber entziehen sich unsere trefflichen und 
gründlichen Sinologen, Männer wie Schott, Pfizmaier, 
Plath, diesem Geschäfte so sehr, das sie in höherem 
Sinne und unter Vermeidung jener Mängel zu ver- 
richten gar wol im Stande wären? 

Unter diesen Umständen glaubte ich nicht nur 
den Gebildeten überhaupt, sondern auch namentlich 
den Forschern im Gebiete der Philosophie und der Reli- 
gionswissenschaft durch die hier dargebotene Ueber- 
setzung und Erklärung des ältesten und wichtigsten 
chinesischen Denkers einen Dienst zu leisten. 

Stanislas Julien, gegenwärtig der gelehrteste 
Sinologe Frankreichs, hat dessen Schrift zwar schon 
ins Französische übertragen, und die nachstehende 
Einleitung ($. 5) spricht es aus, welch grossen und 



X 

dauernden Werth ich dieser Arbeit zuerkenne, die 
uns aufs beste darlegt, wie die späteren Chinesen 
ihren tiefsten Philosophen verstanden. Ich überzeugte 
mich jedoch, dass zum gründlichen Verstandniss des- 
selben weder die philosophische noch die religiöse 
Bildung der chinesischen Ausleger ausgereicht habe, 
dass dazu die unsrige ganz andre Mittel und Vor- 
theile gewähre, und diese suchte ich nach dem mir 
gegebenen Maasse anzuwenden. Dadurch trat Laö-tse's 
System und Denkweise in ein ganz andres Licht, und 
indem nun aus ihrer Ganzheit heraus das Einzelne 
erklärt wurde, musste dessen Auslegung sich in gar 
vielen Fällen von der Auffassung der chinesischen 
Commentatoren entfernen. 

Dabei war es dann unerlässlich, die Auslegung 
lexikalisch und grammatikalisch zu begründen. Der 
Leser wird sich dadurch überzeugen, dass der Text 
mit aller Gewissenhaftigkeit behandelt und wieder- 
gegeben ist; chinesisch Studirende werden vielleicht 
manchen nützlichen Wink erhalten. Übrigens habe 
ich es fiir diesen Bestandtheil des Commentars zu 
beklagen, dass fiir den Druck keine chinesischen 
Typen zu schaffen waren. Musste ich mich daher 
überall der Transscription bedienen, so wissen Ken- 
ner des Chinesischen, wie unzulänglich diese Ver- 
mittlung ist. Indess darf ich voraussetzen, dass die, 
welche sich auf den Grundtext einlassen wollen, die 
Ausgabe Stan. Juliens besitzen und die Wortzeichen 
zu vergleichen im Stande sind. Wörtern, die der 
Text nicht enthält, habe ich die Nummer des Schrift- 
zeichens aus dem Wörterbuch von Basile von Glemona 
{de Guignes) beigesetzt. Bei der Transscription ist 



XI 



im Allgemeinen das System von Abel Remusat be- 
folgt, nur sind die französischen Lautzeichen durch 
die im Deutschen üblichen ersetzt. Der weiche Zisch- 
laut des französischen / wurde durch sj bezeichnet. 

Für Nichtkenner des Chinesischen sey noch Fol- 
gendes bemerkt. Die aspirirten Anlaute ph und th 
sind nicht wie f und wie das englische th zu lesen, 
sondern die Aspiration bei allen Anlauten, kh^ th^ 
tschhj phy ths ist dem Grundlaute stets deutlich nach- 
zusprechen, wie in den deutschen Wörtern: spuMaft, 
MiMülfe, kla^'^Maft, R^^uhn, Gei^Aals; — ng ist 
Nasal, wie in E«jfe, hcng^^ es mag im Auslaut oder 
im Anlaut stehen. Die Betonungszeichen betreffend, 
so wolle man die Stimme bei * wie fragend hinauf- 
steigen, bei ' wie bejahend heruntersinken lassen, 
sie bei * in gleichem hohen, bei " in gleichem tie- 
fen Tone halten und bei ^ wie zurückgeschluckt kurz 
abbrechen. Zum Worte wird eine Grundsylbe nur 
durch die bestimmte Betonung, daher Betonungszei- 
chen bei der Umschrift unerlässlich sind. Einiges 
Nähere enthält meine Abhandlung »Über Sprache 
und Schrift der Chinesen«, welche im vierten Heft 
der Cotta'schen Vierteljahrsschrift von 1869 (No. 128) 
abgedruckt ist. — 

So sehr ich nun auch bemüht gewesen bin, auf 
Grundlage des Grammatikalischen und Lexikalischen 
den Sinn des Einzelnen aus dem engern und weitern 
Zusammenhange zu ermitteln, so maasse ich mir doch 
keineswegs an, überall das Richtige getroffen zu 
haben. Indess habe ich mich nie ohne sorgfältige 
Prüfung von der herkömmlichen Auslegung entfernt. 
Im Verständniss des Sinnes mögen wir den gelehrten 



XII 

Chinesen überlegen seyn; im Wortverstandniss haben 
wir von ihnen zu lernen. 

Bei der Übersetzung ist die möglichste Genauig- 
keit angestrebt, wodurch sie allein wahren Werth für 
den Forscher haben kann; auch ist versucht, der 
Redekürze des Originals thunlichst nahezukommen. 
Im Deutschen lässt sich darin mehr leisten als im 
Französischen, und ebendarum muss es auch geleistet 
werden. 

Eine Schwierigkeit, die bei jeder Uebersetzung 
aus einer fremden Sprache gefühlt wird, tritt dem 
Chinesischen gegenüber in hohem Maasse hervor. 
Diess ist die Unanmessbarkeit der chinesischen Wort- 
begriffe gegen die deutschen, ja gegen die europäi- 
schen überhaupt. Nur zu oft ist ein gleichgeltender 
Ausdruck gar nicht aufzufinden und selbst der nächst- 
kommende mit Sicherheit nicht zu bestimmen. In 
dieser Hinsicht sind wir mit dem Lateinischen, Grie- 
chischen, selbst dem Ebräischen besser daran, weil 
das Deutsche mit ihnen schon lange durch Überset- 
zungen gerungen, und sich dadurch manche ihrer 
Wendungen, sogar ihrer Begriffe angeeignet, oder 
auch sich ihren Eigenthümlichkeiten angeschmiegt hat. 
Damit stehn wir rücksichtlich des Chinesischen erst 
am Anfange. Wie ich mir in solchen Fällen zu hel- 
fen gesucht, erläutert der Commentar. 

Leichtigkeit kann und darf die Übersetzung nicht 
haben, denn auch das Original hat sie nicht, hatte 
sie auch nicht für die Mitlebenden des Verfassers; 
dem Leser aber, so weit dies möglich ist, den Ein- 
druck des Originals zu geben, darauf kommt es an. 
Aus diesem Grunde sind auch die häufigen Verscitate 



XIII 

als solche wiedergegeben, und wo es irgend thunlich 
war, wurde da gereimt, wo im Chinesischen der Reim 
steht. Begreiflicherweise konnte dabei die strenge 
Genauigkeit der Üebersetzung nicht immer einge- 
halten werden, doch ist das Wörtliche dann immer 
in dem Commentare angeführt. 

Meine Arbeit war im Entwurf bereits beendet, 
als mir die englische Üebersetzung zukam, welche 
John Chalmers herausgegeben unter dem Titel : The 
spectdations on metaphysics ^ polity^ cmd morality^ of 
^the old philosopher ^^ Lau-tsze^ translcUed from the 
Chinese^ with an zntroduclion. London^ Trübner & Co. 
1868. An einigen Stellen konnte sie bei der Über- 
arbeitung noch berücksichtigt werden. Sie ist nicht 
ohne Verdienst und schmiegt sich dem Original mit- 
unter glücklich an; doch ist sie in der Auffassung 
des Einzelnen zu abhängig von. Juliens Arbeit , um 
das Verständniss des Ganzen zu fördern , zumal sie 
alles Commentars entbehrt. — 

Nach Abschluss dieser Vorrede erhalte ich: 
»Lao-tse Täo-te-king. Der Weg zur Tugend. Aus 
»dem Chinesischen übersetzt und erklärt von Rein- 
»hold von Plaenckner. Leipzig: Brockhaus. 1870.« 
Zu einer Revision meiner Auslegung würde mir die- 
ses Buch, auch wenn es mir zeitiger vorgelegen 
hätte, keinen Anlass gegeben haben. Es entfernt 
sich zu sehr von Allem, was der Ernst deutscher 
Wissenschaft sowol für die Übersetzung als für die 
Auslegung bisher als Ziel aufgestellt hat. Würde 
man von einem Werke Piatons oder Aristoteles' oder 
von Plotin eine so willkürliche, in modernen Abstrac- 
tionen sich bewegende Paraphrase als Üebersetzung 



XIV 

geben, wie es hier von La6-ts^ geschehen, alle 
Urtheilsfähigen würden sich, und mit Recht, aufs 
Schärfste dagegen aussprechen. Bei der Liebe, ja 
dem Enthusiasmus des Bearbeiters für seinen Autor, 
über die man sich nur freuen kann, ist es schwer 
zu begreifen, wie er dazu kommen konnte, ihn so 
ganz und gar seiner Eigenthümlichkeit zu berauben, 
wie ein Vormund für ihn zu sprechen, statt ihn selbst 
sprechen zu lassen, seinen Worten nicht selten einen 
Sinn unterzulegen, der alles Sprachgebrauches spot- 
tet, ja ihn einige Mal direct das Gegentheil sagen 
zu lassen von dem, was dasteht. Ist der Ausleger 
auch nicht bis in die Tiefen des alten Denkers ge- 
drungen, so ist es doch zu loben, dass er Plan und 
Fortschritt in dessen Buche erkennt und überall, 
wenn auch nicht immer glücklich, nachzuweisen ge- 
sucht hat. Sein Urtheil über Stanislas Julien ist 
entschieden zu missbilligen. Er hätte von diesem 
grossen Kenner des chinesischen Sprachgebrauches 
noch viel lernen können, und sein Werk dürfte anders 
ausgefallen seyn, wenn er es gethan hätte. 

Möchte meine Arbeit die Fehler glücklich ver- 
mieden haben, die man am Andern immer leichter 
erkennt, als an sich selbst. Tse tschi tsche mtng. 

Erlangen, 27. März 1870. 



Einleitung. 



Als Marco Polo gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts 
die ersten Nachrichten über das grosse chinesische Reich und 
dessen Cultur nach Europa gebracht, hielt man sie lange fiir 
Märchen. Wie würde man ihn erst verlacht haben, hätte er 
gemeldet, dass in jenem Lande auch der philosophische Ge- 
danke schon seine mehr als tausendjährige Geschichte durch- 
wandelt habe. 

Hiervon hatten auch die christlichen Glaubensboten keinen 
Begriff, welche sich seit der Mitte des siebzehnten Jahrhun- 
derts unter dem Schutze der damals noch jungen Mandschu- 
Dynastie vornehmlich in Peking niedergelassen. Berufen zur 
Verkündigung, Rechtfertigung und Vertheidigung christlicher 
Lehre und Denkweise in einem gebildeten Volke, hatten sie 
zuvörderst die allgemeinen Grundlagen von dessen geistiger 
Cultur genau kennen zu lernen, nicht bloss um die eigen- 
thümliche Welt- und Lebensanschauung des Volkes zu be- 
greifen, sondern auch um sich selbst als gebildete Männer 
im Sinne des Landes auszuweisen. Jene Grundlagen aber 
bestanden wesentlich in den Schriften, die mit dem Namen 
Khüng-tsi's oder Khüng-fii-ts^'s, den sie als Confucius lati- 
nisirten, in Verbindung standen und deshalb das höchste An- 



I XVI 



sehen genossen. Dass sie daneben die Reichsgeschichte, dass 
sie bei einem vieldruckenden und viellesenden Volke auch 
die leichte Literatur nicht unberücksichtigt lassen durften, 
verstand sich von selbst. 

Es lag im Interesse ihrer Sendung, dass die Erstgekom- 
menen den Späteren durch Uebersetzungen, durch gramma- 
tikalische und lexikalische Arbeiten ihre Aufgabe erleichterten. 
Ebenso wichtig war es für sie, die Theibiahme des ferneren 
Abendlandes für die Mission fortwährend rege zu halten, und 
unter den Mitteln hierzu war die Herübersendung jener Arbei- 
ten nebst genaueren Berichten über Literatur, Volk und Land 
nicht hoch genug anzuschlagen. Verschiedenes davon wurde 
in Europa gedruckt, anderes lag lange, manches liegt noch 
handschriftlich in Bibliotheken. Das Bekanntgewordene nöthiget 
uns die grösste Achtung ab vor der Gelehrsamkeit, dem Fleiss 
und Eifer, nicht selten auch dem Geist und der persönlichen 
Bedeutsamkeit jener Väter von der Gesellschaft Jesu, und 
war bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts fast das 
Einzige, was unsere Kenntniss von der chinesischen Literatur 
vermittelte. 

Obgleich auch Khüng-ts6 und der ihm anhangende und 
zugeordnete M^ng-tsÄ zu den Philosophen zu rechnen sind, 
so sind sie doch durchaus Popularphilosophen , die sich der 
Betrachtung und Erforschung alles Transscendehten möglichst 
enthalten. Das Studium der strengeren Philosophen, deren 
beträchtliche Reihe mit Laö-ts^ beginnt, ist aber im Mittel- 
reiche nicht verbreiteter, ja kaum so verbreitet, als unter uns. 
Die Aufgabe jener geistlichen Väter erforderte daher nicht, 
sich auf ein so schwieriges und zeitraubendes Studium ein- 
zulassen, und so nahmen sie auch von Laö-ts6 nur insofern 
Notiz, als er für den Stifter einer sehr heruntergekommenen, 
abenteuerlichen und verachteten Secte gehalten wurde, welche 
unter dem Namen der Taö-ss6 oder Taö-kiä als die dritte 
Lehigemeinde neben den Anhängern Khüng-ts^'s und den 
Buddhisten gilt. 



XVII 



8- 2. 

Die Aeusserungen der gelehrten Jesuiten über Lao-ts^ 
dienten mehr, das Urtheil zu verwirren, als aufzuklären. 

P. Couplet berichtete (1667) von ihm: »Einiges hat er 
geschrieben, worin er eines Philosophen würdige Aussprüche 
mitgetheilt über die Tugenden, die Flucht vor Ehren, die 
Verachtung menschlicher Reichthümer und Dinge, sowie über 
jene glückselige Einsamkeit, deren die über menschliche Dinge 
erhabene Seele geniessen könne. Wo er von der Entstehung 
der Dinge handelt, bringt er unter Anderem den Ausspruch, 
welchen seine Anhänger als den edelsten Grundsatz seiner 
Philosophie beständig im Munde fuhren : Tab sengjl^ jl seng 
ollj oll seng San, sän seng wän woe; das ist: Das Gesetz, oder 
die Vernunft erzeugte Eins, Eins erzeugte Zwei, Zwei erzeug- 
ten Drei, Drei erzeugten alle Dinge. Obgleich dieser Aus- 
spruch des Mannes fast so zweideutig und dunkel ist, wie es 
die Orakel der Alten zu seyn pflegen, so ist doch das Eine 
gewiss, dass er den BegrifT einer Art ursprünglicher und 
höchster Gottheit gehabt, obgleich einen.. von der Wahrheit 
abirrenden BegrifT, da er g^laubt, die Gottheit sey körper- 
lich, obgleich er zugesteht, dass sie andere Gottheiten wieder- 
um, wie ein König seine Anhänger, beherrschec. 

P. du Halde (1736) sagt von Laö-ts6: »Er ist der Ur- 
heber einer der beiden Hauptsecten, die das Reich verpestet 
haben. Er behauptete, die Seele gehe mit dem Leibe unter, 
die Glückseligkeit des Menschen bestehe in der Sinnenlust, 
und alles Glück auf dieses Leben beschränkend , rühmte er 
sich, das Geheimniss entdeckt zu haben, es weit über das 
gewöhnliche Ziel zu verlängern; daher nannte man diese Secte 
die Secte der Unsterblichen. Sie fand bei den Grossen leicht 
Eingang, welche sich schmeichelten, durch ihren Beitritt ihre 
Tage zu verlängern. Gleichwol hat man Ursache zu glauben, 
dass das Haupt dieser ruchlosen Secte ein höchstes Wesen 
anerkannte, das er Taö nannte; man findet in einer seiner 
Abhandlungen eine Stelle, wo er sagt, dass dieser Taö keinen 

b 



XVIII 

für ihn geeigneten Namen habe, dass er Himmel und Erde 
geschaffen, ohne einen Körper zu haben, dass er. selbst un- 
beweglich. Allem Bewegung gebe. Dies hat Etliche glauben 
lassen, dass seine Lehre, wo sie etwas Schlimmeres enthält, 
von seinen Jüngern verfälscht und verdorben worden sey«. 

Noch weiter gingen die Väter Bouvet, Fouquet, Pr6mare 
und Amiot, und mit ihnen der Sinologus Berolinensis Montucci 
:i8o8i, welche behaupteten, »bei La6-ts^ sei Vieles von dem 
dreieinigen Gott so klar auseinandei^esetzt , dass Niemand, 
der sein Buch lese, im mindesten bezweifeln werde, es sey 
das Geheimniss der allerheiligsten Dreifaltigkeit den Chinesen 
schon über fünf Jahrhunderte vor Ankunft Jesu Christi offen- 
bar gewesen«. 

So viel Widersprechendes diese Berichte, denen sich noch 
andere zugesellen Hessen, auch enthielten, ja eben weil sie es ent- 
hielten, hätte man denken sollen, der Gegenstand derselben habe 
um so eher die Aufmerksamkeit europäischer Forscher auf sich 
ziehen müssen, da Widersprüche solcher Art unter gelehrten, 
zum Theil geistreichen Männern jedenfalls eine bedeutende 
Erscheinung voraussetzen. Allein es gingen noch Jahre hin, 
ehe es dazu kam. Die gelehrten Missionare hatten ihr Arbeits- 
feld räumen müssen, ihre Schule war ausgestorben, ihre Tra- 
dition erloschen, und in Europa lag die chinesische Sprach- 
wissenschaft noch in den Windeln. 



8- 3- 

Liest man die Vorrede zu Beyer's Museum Sinicuntj wel- 
ches 1730 in Petersburg erschien und sehr unzulängliche Be- 
lehrungen über die chinesische Sprache enthält, so sieht man, 
mit welchen Schwierigkeiten die Gelehrten jener Zeit zu käm- 
pfen hatten, um in Europa und ohne den Beistand geborener 
Chinesen sich einer Sprache zu bemächtigen, deren Schrift 
und Grammatik von Allem, was man bisher kannte, auf das 
Gründlichste abwich. Glücklicher war Fourmont, der in Paris 
seit 1 7 1 1 mehre Jahre mit einem gebildeten jungen Chinesen, 



XIX 

Hoäng-sj$, verkehren konnte; allein die Grammatik, die er 
unter dem Titel : Linguae Sinarum mandarinicae hieroglyphicae 
Graimnatica duplex im Jahre 1742 herausgab, war nur Plagiat 
aus älteren Vorarbeiten Anderer, beschränkte sich auf die 
jetzt übliche allgemeine Sprache der Gebildeten, das kuan 
Iioä^ ohne das kii tvcriy den alten Styl der classischen Literatur, 
zu berücksichtigen, und legte, ganz gegen den Geist der chi- 
nesischen Sprache, überall Formen der lateinischen Gram- 
matik zu Grunde. .Nicht eine Zeile von Laö-ts^ hätte sie 
verständlich gemacht, auch wenn man bereits ein Wörter- 
buch gehabt hätte. Fourmont's Schuld war es, dass die 
unschätzbare grammatikalische Schrift des gründlichsten 
Sprachkenners unter den Jesuiten-Missionaren zu Peking, des 
P. Premare Notitia linguae Sinicae, handschriftlich in der Pa- 
riser Bibliothek begraben blieb. Sie ist erst 183 1 in Malacca 
gedruckt. Noch schlimmer erging es dem trefflichen chine- 
sisch-lateinischen Wörterbuche des P. Basil von Glemona, 
das der jüngere de Guigues 18 13 mit unerheblichen Aende- 
rungen ganz als seine Arbeit herausgab. 

Handschriftlich aber waren diese und andere Arbeiten 
von minderer Bedeutung auf der Pariser Bibliothek zu be- 
nutzen, die überdem eine reiche Sammlung original-chinesi- 
scher Literatur besass, und mit diesen Hülfsmitteln bildeten 
sich Männer wie Montucci, Klaproth und vor Allem Abel 
R^musat, der eigentliche Begründer der europäischen Sino- 
logie, dessen Grammatik (1820) zuerst nach Premare den 
richtigeren Weg wieder einschlug und die ähnlichen Arbeiten 
englischer Missionare, Marshman (18 14) und Morrison (1815), 
bei weitem überflügelte. 

Ausfiihrlicheres über die Geschichte der europäischen Sino- 
logie würde hier nicht am Orte seyn, so lehrreich und in- 
teressant sie auch ist. Es genügt, kurz auf den Weg hin- 
gewiesen zu haben, auf dem ein gelehrter und geistreicher 
Mann dahin gelangen konnte, mitten in Europa die Schrift 
des ältesten chinesischen Philosophen zu durchforschen und 

b* 



XX 



über seine Entdeckungen dem Publicum Rechenschaft abzu- 
legen. 



^• 4- 

Abel R^musat war es , der Laö-ts^'s Taö te king mit 
Eifer, ja mit Enthusiasmus zuerst in der Ursprache studirte. 
In der chinesischen Gedankenwelt , aus der man bisher nur 
die Moralien Khüng-ts^'s und seine Schule kannte, trat ihm 
hier auf einmal eine ganz andere Strömung entgegen, die an 
das Tiefste und Höchste gemahnte, wozu es die antike Spe- 
culation gebracht hatte. Er glaubte einen Zusammenhang 
Laö-ts^'s mit der letzteren, und zwar durch eine gemein- 
schaftliche Quelle, aus der sie beide geschöpft, voraussetzen 
zu dürfen, ja zu müssen, und erfüllt von diesem Gedanken 
beeilte er sich, der gelehrten Welt von seinem Funde Mit- 
theilung zu machen. Diess geschah im Jahre 1823, zuerst 
durch einen in der französischen Akademie gehaltenen Vor- 
trag, dann durch eine besondere, unter den Denkschriften 
der Akademie abgedruckte Schrift: Memoire sur la vie et les 
ouvrages de Lao-Tseu^ philosophc Ckiftois du VL siede a, n. ^., 
qui aprofesse les opinians communement attribuees h Pythagore^ 
ä Platan et ä leurs disciples. 

In jenem ersten Vortrage, wieder abgedruckt in R^mu- 
sat's Melanges asiatiquesj findet man die erste gerechte Wür- 
digung des chinesischen Altmeisters. »Die laufenden Ueber- 
lieferungen rücksichtlich dieses Philosophen, deren Kenntnjss 
man den Missionaren verdankte«, sagt R^musat, »waren nicht 
geeignet, zu ernsten Nachforschungen zu ermuthigen. Die 
Untersuchung , die ich mit seinem Buche vornahm , änderte 
alle Ideen, die ich mir über den Verfasser hatte bilden können. 
Statt des Urvaters einer Secte von Gauklern, Schwarzkünst- 
lern und Sterndeutern, die den Unsterblichkeitstrank und die 
Mittel, sich durch die Lüfte zum Himmel zu erheben, suchen, 
fand ich in seinem Buche einen ächten Philosophen, einsidi- 
tigen Sittenlehrer, beredten Theologen und feinen Metaphy- 
siker. Sein Styl hat die Erhabenheit dts Platonischen und, 



XXI 

man muss sagen, auch etwas von dessen Dunkelheit. Er 
trs^ ganz ähnliche Gedanken vor, fast mit denselben Worten, 
und die Aehnlichkeit in den Ausdrücken ist nicht minder 
schlagend, als in den Ideen. — Uebrigens athmet seine ganze 
Philosophie Milde und WolwoUen. Sein ganzer Abscheu 
richtet sich gegen die harten Herzen und die gewaltthätigen 
Menschen. — Seine Meinungen vom Ursprünge und der Be- 
schaffenheit des Weltalls zeigen weder lächerliche Märchen 
noch anstössigen Unsinn, sie tragen das Gepräge eines edlen 
und hohen Geistes und lassen in den erhabenen Anschauun- 
gen, die sie auszeichnen, eine auffallende und unbestreitbare 
Uebereinstimmung mit der Lehre blicken, die wenig später 
die Schulen von Pythagoras und Piaton aufstellten.« — 

Die Denkschrift, die sich in demselben Geiste hoher An- 
erkennung ausspricht, theilt Genaueres mit. Aus dem bio- 
graphischen Theile des grossen Geschichtswerkes, des Ss^ 
ki, von Sse-mä-thsiän (um loo v.Chr.) giebt sie zunächst 
die bestbeglaubigten kurzen Lebensnachrichten über Laö-ts^; 
dann berichtet sie die späteren märchenhaften Ausschmückun- 
gen seiner Lebensgeschichte, welche, unter buddhistischen 
Einflüssen entstanden, ihn zu einem höheren Genius machen 
und zahlreiche Wiedergeburten von ihm erzählen. In Betreff 
dieser letzteren, meint Remusat, dürfe man vermuthen, dass 
auf die Person angewandt worden sey, was von der Lehre 
.gegolten, d. h. dass man Laö^tsÄ in den verschiedenen Epo- 
chen habe leben lassen, in denen seine Grundsätze entweder 
in China eingefiihrt oder zur Geltung gebracht und in auffal- 
lender Weise von ihren Anhängern öffentlich gelehrt seyen, 
deren Meinungen er angenommen, oder die die seinigen 
anerkannt und deshalb später mit ihm zusammengeworfen 
worden.« 

»Ein anderer Punkt« — fährt er fort — »den man schwer- 
lich länger bezweifeln kann, weil bei ihm alle Ueberlieferun- 
gen zusammentreffen, ist die Reise La6-ts^'s in die west- 
lichen und sehr weit von China entlegenen Länder. Allerdings 
findet sich einige Abweichung unter den Schriftstellern über 



XXII 

die Umstände dieser Reise. Sse-mä-thsiän setzt sie an das 
Ende von Laö-tse's Leben, nach der Veröffentlichung seines 
Tao te king, und sagt überdiess , man wisse nicht , was aus 
dem Philosophen geworden sey. Andere nehmen seinen 
Rückzug auf das Gebirge Kuan-lün, d. h. nach den höchsten 
Gegenden der indischen und tibetanischen Gebirge, in rein 
geschichtlichem Sinne. Die ihn achthundert Li im Westen 
von Khotan ankommen lassen, setzen den Schauplatz seiner 
Lehrthätigkeit und seiner Erhöhung nicht weit von Badakschan 
und von Balkh, in die östlichen Theile von Baktriana. Sein 
Reiseziel wäre noch entfernter gewesen, wenn er vom Besuch 
der Länder, auf die sich später das römische Reich ausdehnte, 
und von der Bekehrung der verschiedenen Völker dieser 
Gegenden gekommen wäre, wie die chinesischen Mythologen 
erzählen. Alles diess macht nur Schwierigkeiten, weil der 
Verkehr, den Laö~ts6 mit den westländischen Philosophen 
hat haben müssen, nach diesen verschiedenen Hypothesen 
später gewesen wäre, als die Abfassung seines Buches, das 
im Gegentheil gerade in Folge dieses Verkehrs abgefasst zu 
seyn scheint; in der That ist es, will man die Dinge ohne 
Vorurtheil prüfen, gar keine unwahrscheinliche Annahme, 
dass ein chinesischer Philosoph im sechsten Jahrhundert vor 
unserer Zeitrechnung nach Persien oder Syrien gereiset sei; 
das eigenthümliche Buch liefert für den Gedanken eines Zu- 
sammenhangs stärkere Beweisgründe, als die Erzählungen 
der Mythologen und die durch die Geschichtsschreibef gesam- 
melten Ueberlieferungen. « 

Die Denkschrift verbreitet sich dann über den Namen 
des Buches, die Aechtheit des Textes und die Bedeutung 
des Wortes Tao, welches sie durch Vernunft (raison) wieder- 
zugeben sich entscheidet. Hierauf übersetzt und erörtert sie 
die Kapitel i, 25, 41, 42, und sucht daran die oben bemerkte 
auffällige Aehnlichkeit mit einer gewissen Richtung der grie- 
chischen Philosophie nachzuweisen. Damach entwickelt sie 
die Entdeckung, dass im 14. Kapitel sich eine Hinweisung 
auf den ebräischen Gottesnamen TTirp finde, woran sie dann 



XXIII 

weitere Erörterungen über die Herleitung von Laö-tse's Pbi- 
losophemen aus dem Abendlande knüpft. 

Auf eine Uebersetzung des ganzen Buches wollte sich 
Abel Remusat nicht einlassen. »Es ist nicht leicht zu ver- 
stehen«, sagt er, »weil die Dunkelheit der Gegenstände sich 
in ihm mit einer gewissen alterthümlichen Kürze, mit einer 
Undcutlichkeit verbindet, die mitunter soweit geht, dass sein 
Styl räthsclartig wird ; ohnehin haben wir keinen guten Com- 
mentar, der eine Erklärung des Sinnes gäbe, in welchem der 
Verfasser die Ausdrücke gebraucht, wo er vom gebräuch- 
lichen Sinne abweicht.« 

Die Denkschrift verfehlte jedoch nicht, bei allen an solchen 
Untersuchungen Thcilnehmenden einen lebhaften Eindruck 
zu machen und die Aufmerksamkeit der Sinologen auf Lao- 
tse zu lenken. So unternahm es G. Pauthier, der Erfinder 
des chinesischen Druckes mit zusammengesetzten Typen, das 
Tao te king in der Ursprache mit einer lateinischen Ueber- 
setzung, einer französischen Paraphrase und dem übersetzten 
Commentare von Sie-hoei herauszugeben. Es verblieb jedoch, 
wie bei mehren Werken dieses Gelehiten, bei der ersten Liefe- 
rung, welche 1838 erschien und nur neun Kapitel enthält. 

S-5. 

r 

Epochemachend für die Kenntniss Laö-tsc's im Abend- 
lande wurde erst die Bearbeitung seines Buches von Stanis- 
las Julien, dem Nachfolger A. Remusat's auf dem Lehrstuhle 
der chinesischen Sprache zu Paris und unstreitig dem gelehr- 
testen Kenner dieser Sprache und ihrer Literatur, den Europa 
gegenwärtig besitzt. Er gab im Jahre 1842 das vollständige 
Ta6 t$ king heraus in kritisch gesichtetem Urtexte mit gegen- 
überstehender französischer Uebertragung und reichhaltigen 
Auszügen aus den besten chinesischen Commentarien; ein 
Werk ernster Anstrengung und grossen Fleisses, in welchem, 
wie W. Schott in seinem trefflichen »Entwurf einer Beschrei- 
bung der chinesischen Literatur«, Berl. 1854, sagt, »wenigstens 



XXIV 

alles geleistet ist, was man von einem gründlichen Gram- 
matiker verlangen kann«; und wollte Jemand sagen: freilich 
aber auch nicht mehr! so würde man diess zugeben können, 
ohne es im mindesten als Tadel gelten zu lassen. 

Bei der ersten Herüberfiihrung des alten chinesischen 
Denkers in die europäische Welt war das Verfahren des ge- 
lehrten Dolmetschers sicherlich das richtige. Auf alle selb- 
ständige Durchforschung des Gedankengehaltes seines Autors 
und dessen Verarbeitung und Entwicklung verzichtend und 
absichtlich die Vortheile von der Hand weisend, welche die 
philosophische Cultur des Abendlandes zum tieferen Ver- 
ständniss desselben bot, wollte er ihn zunächst nicht anders 
verstehen, als wie die chinesischen Erklärer ihn verstanden. 
Niemals, wie er selbst sagt, hat er den Sinn eines einzelnen 
Satzes, ja selbst eines einzelnen Wortes angenommen, ohne 
durch einen oder mehre Commentare dazu ermächtigt zu seyn ; 
während er in den fortlaufenden Mittheilungen aus diesen 
Commentaren, die ihm in reicher Auswahl vorlagen, die 
etwaigen Meinungsverschiedenheiten der Erklärer nachbringt 
und zeigt, wie diese den Sinn sich jedesmal zurechtzulegen 
gesucht. Ihrer Auffassung entspricht selbst die äusserliche 
Anordnung der Uebersetzung, die jeden einzelnen Satz ein- 
rückt, als wäre er ein Spruch für sich, der mit dem Voran- 
gehenden oder Nachfolgenden nur zufällig in einer mehr oder 
minder lockeren Verbindung stehe; denn ganz so behandelt 
ihn auch die chinesische Auslegung, die sich auf Ermittlung 
des Zusammenhangs , auf Erklärung des Einzelnen aus ihm, 
auf Erforschung verschwiegener Mittelgedanken, kurz auf alles 
Organische der Darstellung nicht einlässt. Die Uebersetzung 
selbst ist grösstentheils so wörtlich als möglich, und sollte 
ein Deutscher jene Wörtlichkeit vermissen, an welche ihn 
strenge Uebersetzungen in seine biegsamere Sprache gewöhnt 
haben, so erinnere er sich der einmal gesetzten Schranken 
des französischen Idioms und des französischen Geschmacks 
und des von dem Uebersetzer durchgeführten Grundsatzes, 
überall den Erklärungen der chinesischen Ausleger zu folgen. 



XXV 

Auf dem von dem ausgezeichneten Sinologen einmal genom- 
menen Standpunkte, dessen Berechtigung unbestreitbar ist, 
wird seine Arbeit immer ihren Werth behaupten und nicht 
leicht zu übertreffen seyn. 

S. 6. 

Was Lao-tse's Gedankensystem betrifft, so lässt Stanis- 
las Julien, wie billig, dafiir die übersetzte Schrift selber reden. 
Auch enthält er sich der von Remusat beliebten Vergleichung 
desselben mit verwandten Systemen oder Denkweisen der 
westlichen Welt. Dagegen wendet er sich in der Einleitung 
seines Buchs gegen einige Ausfuhrungen Remusat's und be- 
streitet zunächst dessen Meinung, dass sich im 14. Kapitel 
des Taö t^ king eine Hindeutung auf den Namen TXMT finde. 
Die Frage ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse, wir haben 
sie m der Auslegung dieses Kapitels sorgfältig untersucht, 
Gründe und Gegengründe miteinander abgewogen, und bitten 
dort nachzulesen, weshalb wir uns für die Ansicht Remusat's 
entscheiden mussten. Dass demnach Laö-ts^ auf irgend eine 
Weise mit dem Ebraismus in Berührung gekommen, scheint 
uns mehr als wahrscheinlich. Höchstens aber kann ihn der- 
selbe etwa in seiner Gnmdanschauung bestärkt haben; denn 
Schelling hat Recht, wenn er sagt, »dass die Taö-Lehre so 
ganz im Geist des entferntesten Ostens gedacht und erfun- 
den (?) sey, dass von westlicher Weisheit — ich will nicht 
sagen, von griechisch-pythagorischer — aber auch von syrisch- 
palästinensischer oder auch nur indischer Denkart und Weis- 
heit nicht eine Spur ist«. 

Dsigegen ist Julien vollkommen im Rechte, wenn er die 
von Remusat angenommene Reise Laö-ts^'s nach den Abend- 
landen ins Fabelreich verweist. Den verbürgten geschicht- 
lichen Nachrichten zufolge hat Laö-tsÄ sein Buch zwar in 
hohem Alter und nach Verlassung des kaiserlichen Dienstes, 
aber jedenfalls eher geschrieben, als er durch den westlichen 
Grenzpass nicht des Reiches, sondern des Tscheu-Landes 



XXVI 

sich entfernt, und »Niemand weiss, wo er geendet«. Jene 
Reisen kommen nur in den märchenhaften Lebensgeschichten 
des Philosophen vor, deren älteste, vielleicht aller übrigen 
Mutter, erst etwa um 35on. Chr. , also ungefähr 850 Jahre 
nach .La6-tse's Tode entstanden und von Stan. Julien S. 
XXIII ff, in Uebersetzung mitgetheilt ist. An sich vollkom- 
men werthlos, zeigt sie nur, zu welch* abenteuerlicher Ge- 
stalt der stille Weise in der Phantasie späterer Tao-sse heran- 
gewachsen. Wir erlassen uns ihre Reproduction, zumal uns 
der chinesische Text fehlt. 

Fand die Sage von jenen Reisen Laö-tse's in die west- 
lichen Gegenden einen schwachen Anknüpfungspunkt in Sse- 
mä-thsiän's Bericht, sq scheint sie ihre weitere Ausbildung 
dem im Mittelreiche sich später mehr und mehr ausbreiten- 
den Buddhismus zu verdanken, dessen Einflüsse ersichtlich 
auch die Geschichten von den verschiedenen Incarnationen 
des Weisen zuzuschreiben sind. Zwischen den Taö-sse und 
den Buddhisten — die anfangs sogar Taö-sjin genannt wur- 
den — fanden sich immerhin gewisse Berührungspunkte, und 
wenn jede Partei sich bemühte, die andere zu "sich herüber- 
zuziehen, so war es im Interesse beider, den Aufenthalt des 
Grossmeisters der Taö-sse im Geburtslande des Buddhismus 
zu behaupten. Jeder Theil konnte dann sagen, der Stifter 
der anderen Gemeinschaft sey nur ein Jünger von dem Stifter 
der seinigen und alles Abweichende in der Lehre beruhe auf 
Missverständniss oder Entstellung. 

Indess wäre nicht wol zu denken, dass sich zur Erzeu- 
gung jener Sage dieser praktische Beweggrund sofort an die 
wenig sagende geschichtliche Notiz ohne ein anderweit Ver- 
mittelndes angeknüpft haben sollte. Da es nicht unmöglich, 
sogar nicht unwahrscheinlich ist, dass Flüchtige des israeliti- 
schen Zehnstämmereichs oder der durch Nebukadnezar's Siege 
unter alle Völker versprengten Juden (Jer. 40, 121, entweder 
über Hinterindien oder durch die Tartarei und Mongolei, bis 
nach China gelangt und mit Laö-ts6 in Verbindung gekom- 
men seyen, so mag sich dadurch ein dunkles Gerücht über 



XXVII 

Beziehungen desselben zu Leuten der Westländer fortgepflanzt 
haben. Noch stärker aber mochte das Gefiihl oder ein mehr 
oder weniger dunkles Bewusstseyn wirken, dass in seiner 
Lehre, wenn auch ihr religiös-dogmatischer Bestandtheil an 
ältere inländische Ueberlieferung sich anlehnte, doch im Gan- 
zen etwas dem chinesischen Wesen und der herrschenden 
Welt- und I^bensanschauung durchaus Fremdartiges, ja 
Widerstrebendes hervortrete, das man nur durch Herleitung 
aus dem Auslande, aus den Westgegenden, glaubte erklären 
zu können. 

Damit wäre man denn im Reiche der Mitte zu demselben 
Ergebniss gekommen , wozu Abel Remusat gelangte. Auf 
beiden Seiten machte man die unausgesprochene Voraus- 
setzung, Laö-tse habe zu den Hauptgrundsätzen seiner Lehre 
nur auf dem Wege der Ueberlieferung gelangen können. 
Aber gerade für die Geistesrichtung, der dieser Denker an- 
gehört, hat diese Voraussetzung keine Geltung. 

S- 7- 

Lao-ts^'s Speculation ist in ihren Grundlagen theosophisch. 
Er gehört jenem Kreise von Forschern und Denkern an, 
die man auch wol als Mystiker bezeichnet, deren Denken 
vom tiefsten Urgründe alles Seyns beginnend, sich zunächst 
intuitiv in denselben versenkt, um von dieser »Centralan- 
schauung« aus, ja in ihr, synthetisch-fortschreitend zur Er- 
kenntniss alles in engeren oder weiteren Sphären Periphe- 
rischen zu gelangen. 

Während diese »Gottweisheit« von der höchsten Voraus- 
setzung als dem nothwendig Gewissen, weil in der erhabensten 
Empirie Vorgefundenen, ausgeht, beginnt die »Weltweisheit«, 
welche den Namen der Philosophie eine Zeitlang für sich 
allein beanspruchte, mit dem Aufsuchen fester Erkenntniss- 
anfänge in dem peripherischen Gebiete, dem das Menschen- 
wesen angehört, um von ihnen aus durch Reflexion und 
Schlussfolgerung auf analytischem Wege zu der höchsten 



XXX 

nicht denkbar ist, dann aber nicht Philosophie, sondern Re- 
ligion erzeugt. Positive Gotteswahrheit entdeckt keine Philo- 
sophie, — auch keine theosophische — ; sie bedarf ihrer, 
nimmt sie auf, prüft sie, läutert sie von fremder Zumischung, 
entfaltet sie ; aber sie empfängt sie aus der religiösen Ueber- 
lieferung. Ein bewusster, unverwerflicher Zeuge hierfür ist 
Piaton. Wer wollte verkennen, welche Bereicherung und 
Klärung uns seit der christlichen Aera das philosophische 
Denken gebracht hat? Aber bei allen Forschem in der 
Christenheit wird man keine positive Aussage über die Gott- 
heit nachweisen können, die nicht in der überlieferten Offen- 
barung enthalten oder aus ihr entwickelt wäi'e. 

Da diess nicht Zufall ist, sondern als Nothwendigkeit in 
der Sache selbst liegt, so müssen wir ein Gleiches auch bei 
1^6-tse voraussetzen, und er selbst bestätigt diese Voraus- 
setzung. Als rein religiöser Stoff möchte ihm indessen diess 
Positive kaum überliefert worden seyn. 

Eigentliche Religionsschriften, Bücher, deren Hauptge- 
sichtspunkt das Seyn und Walten des höchsten Wesens und 
die Beziehung der Menschen und ihrer Geschichte zu Ihm 
wäre, besitzen die Chinesen nicht, scheinen sie auch nie be- 
sessen zu haben. Nie hören wir bei ihnen, auch nicht in 
ihren ältesten Schriften, von jenen Zuständen der Theopneustie 
oder heiligen Extase, aus denen eine Religion entspringt, 
durch die sie gepfl^ oder verjüngt wird, die auch die sub- 
jective Voraussetzung solcher Teophanien seyn dürfte, die ein 
Gleiches bewirken. Zustände dieser Art scheinen dem Na- 
turell der chinesischen Menschheit durchaus nicht gemäss zu 
seyn. Ist sie gleichwol bis in ein hohes Alterthum hinauf 
nicht ohne religiöse Ueberlieferung , wie diess das Schü king 
und die ältesten Lieder des Schi kIng bezeugen, so muss die- 
selbe aus so frühen Zeiten stammen, über die nur Ver- 
muthungen zulässig sind. Dann aber ist es ganz natürlich, 
dass auch sclion lange vor l-aö-tse sich die forschende und 
gestaltende Thätigkeit der Begabten an dem überlieferten 
Stoffe versucht hat. 



XXXI 

Und daraus scheinen die Lieder und Hymnen entstanden 
zu seyn , aus denen wir so häufige Anführungen im Ta6 te 
king finden. Denn dass die eingeflochtenen gereimten Stel- 
len Citate, dass sie nicht eigene poetische Ergüsse des Ver- 
fassers seyen, ergiebt die Eigenthümlichkeit der Sprache, die 
Selbständigkeit der Fassung, das nicht selten unverkennbar 
Bruchstückartige, sowie ihre Anwendung und Behandlung in 
dem Buche; und wollte man dagegen einwenden, dass sie 
doch nicht als Citate eingeführt werden, wie diess z.B. im 
Tschüng jung und Tä hiö geschehe, so ist zu erwiedem, dass 
La6-ts^ sich eben dadurch unterscheidet, dass er überhaupt 
niemals auf andere Schriften oder Personen namentlich Be- 
zug nimmt. So wissen wir aus Liö-ts6, der um 400 v. Chr. 
lebte, dass das ganze sechste Kapitel einem jetzt verlorenen 
Buche, das dem fabelhaften Hoang-ti zugeschrieben wurde, 
der im 27. Jahrhundert v. Chr. regiert haben soll, entnommen 
ist, ohne dass La6-tsfe diess mit einem Worte andeutet, 
während Li^tse geradezu sagt: Hoäng-ä schü jüe^ »Hoang-ti's 
Buch sagt« ; und nach einer Bemerkung bei Stan. Julien, 
S. 133, sagt Thu-thao-kian : »Man weiss, dass La6-ts^ häufig 
Stellen aus den Büchern anfuhrt, welche Fen tian heissen; 
was man immer wahrnimmt, wenn er sagt: Daher der heilige 
Mensch«. Auch diese Bücher sind verloren. Uebrigens fuhrt 
La6-ts6 selbst einige von ihm mitgetheilte Aussprüche auf 
»die Alten« zurück. 

Hiernach darf man wol als gewiss annehmen, dass die 
religiöse Grundlage der Lehre Laö-ts^*s, sowie ein wenn 
auch geringer Theil ihrer speculativen Durcharbeitung und 
Anwendung, schon aus früherer, vielleicht aus frühester Zeit 
herstammt, obgleich wir in den uns erhaltenen älteren Schrif- 
ten nur eine sehwache Spur davon entdecken, auf welche 
wir jedoch einige Blicke werfen müssen, wenn wir zuvor den 
höchsten Grundbegriff Lao-ts^'s und jener seiner Vorgänger 
näher betrachtet haben. 



XXXII 

S-9- 

• Der Name des höchsten Prinzips bei Laö-tsfe ist Tab^ 
ein von allen drei Hauptlehren im Mitteh-eiche vielgebrauchtes 
Wort. Es wird zweckmässig seyn, dessen Bedeutung zu- 
vörderst im Allgemeinen zu erörtern. 

Die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung von tob ist 
»Weg, Strasse, das. Verbindungsmittel zweier Orte«. Im 
figürlichen Sinne heisst es dann »der Gang, die Gangart, die 
Art und Weise, das Verfahren«, ähnlich wie t) bSo^, auch 
mit dem Nebenbegriff von »Mittel, Vermittlung«. In präg- 
nantem Sinne von den Dingen ausgesagt, bezeichnet es die 
ihnen zu Grunde liegende Vernünftigkeit, die abstracte Ord- 
nung, höher hinauf die Weltordnung, und zwar sowol die 
natürliche als die sittliche; weshalb* es im Hi tse, einem An- 
hange zum Ji king, heisst, des Himmels tob bestehe in Ver- 
bindung des thätigen Prinzips {jän^ mit dem ruhenden {jin)^ 
der Erde tob in Verbindung des Weichen mit dem Harten, 
des Menschen tob in Verbindung der Menschenliebe mit der 
Gerechtigkeit. In eminenter sittlicher Bedeutung gebrauchen 
es hauptsächlich die Schriften aus Khüng-ts^'s Schule, wo 
es dann das Gesetz, die Regel des ethischen Verhaltens be- 
zeichnet. Endlich im absoluten Sinne substantiirt , bedeutet 
es den Urgrund alles Seyenden, oder wie das Kuängjün^ 
ein Wörterbuch aus dem 7. Jahrh., sagt, das was die drei 
Prinzipe und alle Dinge zumal unter sich befasst und die 
Ursache von Allem ist. In dieser Hinsicht ist der Ausspruch 
eines chinesischen Schriftstellers von Bedeutung, den Römusat 
anitihrt : Jt wei tschi thäi kt^ tschhün thsieü wei tschi juan^ 
Laö'tst wei tscki taö f d.h. was das Ji-kmg das Allerhöchste 
nennt, nennt das Tschhun thsieu das Erste, und La6-ts^ 
nennt es Ta6. Auch erinnert R^musat daran, dass das 
Schriftzeichen für tad aus zwei Bildern bestehe, deren eins 
»Gang«, das andere »Kopf, Prinzip, Anfang« bedeutet, und 
nieint, der Etymologie- zufolge Hesse sich darnach der Sinn 
des Compositums durch das » Erstbewegende « oder »Wir- 



XXXIII 

kungsprinzip« wiedergeben. — Wird das Wort anders (im 
>fefe«-Tone) und zwar täo ausgesprochen, so heisst es »reden, 
sagen, aussprechen« auch »das Wort«; weshalb die chine- 
sische Bibelübersetzung der Evangelischen, Schäng-häi 1858, 
Joh. I, I. »Im Anfang war das Wort«, durch Jticoi scfä jek 
täo übersetzt. Den Unterschied der Betonung giebt das 
Khäng-hPsche Wörterbuch genau an , während Bastle von 
Glemona für alle Bedeutungen nur täo hat. Sonstige Neben- 
bedeutungen des Wortes, wie »hervorkommen, vorangehn, 
leiten, fuhren etc.« liegen schon mehr abseits, doch ist deren 
Zusammenhang mit den HauptbegrifTen nicht zu verkennen. — 
Schliesslich bemerken wir noch, dass bei den Buddhisten, 
wie Stan. Julien erinnert, das Wort tob den Sinne von ^% 
buddkij »Erkenntniss«, bekommen, wovon in älteren Zeiten, 
wie schon bemerkt, die Buddhisten tob sjin genannt wurden. 

Unter Berufung auf Laö-ts6's Aussagen fasst Abel R6- 
musat das Wort tob (bei ihm) als die Unvernunft und über- 
setzt es regelmässig durch la raison, bemerkt jedoch, es 
scheine nur durch Xo^o^ und dessen Ableitungen einigermassen 
übersetzt werden zu können, in dem dreifachen Sinne von 
Höchstes Wesen, Vernunft und Wort, und so auch um die 
Handlungen des Redens, Urtheilens und Begnindens auszu- 
drücken. 

Unter gleicher Berufung und unter Ausdehnung derselben 
auf andere Philosophen aus La6-ts6's »Schule« , die vor 
unserer Zeitrechnung gelebt, lehnt Stan. Julien diese Auffas- 
sung entschieden ab, und indem er sich auf einige Stellen 
des Ta6 t$ king bezieht, wo auf die Bedeutung von tob als 
W^ angespielt wird (»wandele in Taö; Taö ist sehr gerade, 
aber das Volk liebt Umwege etc.«), will er es nur durch 
»den Weg«, lavoie, übersetzt wissen, sofern man diess in 
der weiten und erhabenen Bedeutung nehme, die der Sprache 
jener Philosophen entspreche, wenn sie von Taö's Grösse und 
Macht reden. Nach jenen Philosophen ermangele Taö der 
Thätigkeit, der Gedanken, des Urtheils und der Erkenntniss; 
Laö-ts^ stelle ihn dar als ein Wesen ohne Thun, Denken 



XXXIV 

und Verlangen und wolle, dass der Mensch, um den höchsten 
Grad der Vollkommenheit zu erreichen, gleich Taö sich ver- 
halte. Und so bezeichne in seinem Buche das Wort tob bald 
den erhabenen »Weg«, durch den alle Wesen ins Leben 
gekommen sind, bald die Nachahmung Taö's, wenn man, 
wie er, ohne Thätigkeit, ohne Gedanken, ohne Verlangen 
bleibe. 

Wir können R^musat's Auffassung nicht billigen, aber 
auch mit Julien's Gegenausiuhrung nkht einverstanden seyn. 
Vor Allem meinen wir, dass man für Aussprüche späterer 
Denker La6-ts^ nicht verantwortlich machen und nur sein 
eignes Buch befragen dürfe, Um festzustellen, welchen Begriff 
er mit Taö verbinde. Sodann können ^ie angegebenen Ne- 
gationen uns unmöglich genügen, um darnach das ent- 
sprechende Wort für diesen Begriff in unserer Sprache zu 
suchen, zumal es den grössten Bedenken unterii^, ob sie, 
so nackt hingestellt, La6-ts^ zuzuschreiben seyen; und dass 
das chinesische Wort auch »Weg« bedeutet und Laö-tsi 
diesen Umstand gel^entlich benutzt, wo er von seinem Grund- 
prinzip spiricht, das darf uns wol noch nicht veranlassen, 
dieses Grundprinzip auch sofort und überhaupt »den Weg« 
zu nennen. Bl^ hat überall mit der wörtlichen Uebersetzung 
so bestimmt geprägter wissenschaftlicher Bezeichnungen aus 
einer fremden Sprache sein Bedenken, wie man bald be- 
merken wird, wenn man versuchen wollte, etwa mit den 
Kunstwörtern des Aristoteles dergestalt zu veriahren. Uns 
scheint es vor Allem auf den Begriff anzukommen, den La6- 
ts6 mit dem Worte tadj sofern er damit sein Prinzip bezeich- 
net, verbindet, und um ihn zu finden, stellen wir zunächst 
^ seine Aussagen darüber kurz zusammen. 

§. lO. 

Taö war, als unb^^eiflich vollkommenes Wesen, vor 
Entstehung Himmels und der Erde (Kap. 25). Körperlos 
und unermesslich (Kap. 4), unsichtbar und unhörbar, geheim- 
nissvoll und kündlich, gestaltlos und bildlos (Kap. 14), über- 



XXXV 

sinnlich und verborgen (Kap. 25, 41), ist er der ewige Urgrund 
von Allem Kap. 1) und aller Wesen Urvater (Kap. 4) ; als 
solcher aber unaussprechlich und unnennbar (Kap. i, 32], 
nennbar nur ab durch die Schöpfung Offenbarter (Kap. i, 
32) und in diesel* Duplicität alles Geistigen Ausgang (K. i, 6). 
Denn durch Ihn ist Alles entsprungen (Kap. 21), Alles kehrt 
auch wieder zu thm zurüde (Kap. 16), und es zu sich wieder 
zurückzubrii^en, ist sein Thun (Kap. 40) ; denn obwol ewig 
ohne Verlangen oder Bedürfniss (Kap. 34) , und daher ewig 
ohne Thun, ist er doch nie unthätig (Kap. 37) , da er, nie 
alternd (Kap. 30, 55) , allgegenwärtig, selbst unwandelbar 
und nur sich selbst bestimmend (Kap. 25) , alle Wesen er- 
schafft, erhält, gestaltet, vollendet, nähret und schirmet, die 
deshalb alle Ihn ehren und seine Wohlthat preisen (Kap. 51), 
weil er sie alle liebt und Keines Herrscher ist (Kap. 34), 
gleich als wäre er machtlos (40). In ihm ist Geist, und sein 
Geist ist das Zuverlässigste (Kap. 21), aber nur der Begierde- 
lose erschauet ihn (Kap. i). Wer sein Thun nach Ta6 be- 
stimmt, der wird eins mit Ihm (Kap. 23) ; Taö ist daher auch 
der Grund höchster Sittlichkeit (Kap. 38). Er ist der grosse 
Geber, Vollender (Kap. 41) und Friedebringer (Kap. 46) ; 
aller Wesen Zuflucht, der Guten Schatz, der l^htguten Ret- 
ter, und der da Schuld vergiebt (Kap. 62). — 

Wir meinen, jeder Unbefangene, den man fragte, wie 
man in unserer Sprache das Wesen bezeichne, von dem diess 
Alles ausgesagt werden könne, müsste antworten: Gott, und 
nur Gott! Und wer die vorstehenden Aussagen zusammen- 
fasst, dem kann gar kein Zweifel bleiben, dass La6-ts^ ein 
überraschend grosses und tiefes GottbeWusstseyn , einen er- 
habenen und sehr bestimmten Gottesbegriff gehabt habe, der 
sich fictst durchgängig mit dem Gottesbegriff der Offenbarung 
deckt, sofern dieser nicht über ihn hinaus tiefer und reicher 
entwickelt ist, was denn allerdings keiner Nachweisung bedarf. 
Aber ausserhalb Israels wird aus allen vorchristlichen Jahrr 
hunderten nichts Aehnliches nachzuweisen seyn. 

Es ist eine sonderbare Erscheinung, und wir werden 

c* 



•I 
I 



XXXVI 

noch darauf zurückkommen, dass der chinesischen Sprache 
ein namen afipellatwum fiir Gott gänzlich fehlt. Hätte sie es, 
ihre Wörterbücher würden es ohne Zweifel unter den Be- 
deutungen des Zeichens ilir tob anfuhren. Nun ist aber beim 
Uebersetzen aus einer Sprache in eine andere die Haupt- 
forderung) dass in der letzteren und mit deren Mitteln genau 
dieselben Begriffe bezeichnet werd«i, welche die erste mit 
ihren Mitteln bezeichnet. Ist es möglich, durch das in der 
Uebersetzung gewählte Wort dieselben Nebenbedeutungen zu 
bezeichnen, die das übersetzte Wort in der Ursprache hat, 
so ist dessen Wahl höchlich zu loben, doch nur unter der 
Bedingung, dass die Bestimmtheit des Hauptbegriffs darunter 
nicht leide, dass dieser nicht verdunkelt werde oder etwa 
gar abhanden komme. 

Hiernach dürfen wir wol fragen, ob der Begriff des durch 
die obigen Aussagen näher bestimmten Wesens nicht ver- 
dunkelt werde, wenn man es durch »die Vernunft« — , ob 
er nicht gar abhanden komme, wenn manr es durch »den 
Weg« bezeichnet? Müssten wir das Wort /^ da, wo es 
dieses Wesen bedeutet, übersetzen, uns ^liebe keine andere 
Wahl, als es durch »Gott« wiederzugeben , da wir in unserer 
Sprache uns vergebens nach einem Ausdruck für das höchste 
Wesen umsehen, der auch an die sonstigen Bedeutungen des 
chinesischen tai> erinnert. 

Wie die Sache liegt, finden wir keine Nothwendigkeit, 
kaum eine Berechtigung, das Wort, wo es in diesem Sinne 
gebraucht wird, überhaupt zu übersetzen. Erklärt doch Laö- 
ts^ im 25. Kapitel selbst, dass er das höchste Wesen nur 
Taö nenne, weil er den ihm entsprechenden Namen nicht 
kenne, und es schicklicherweise doch bezeichnen müsse ; wo- 
mit er zugleich zu erkennen giebt, dass er auf die Bedeutung 
dieser Bezeichnung durchaus keinen Werth lege. Ja man 
darf sagen, es würde gegen Laö-ts^'s Gesinnung seyn, wollte 
man in diesem Namen etwas anderes finden , als ein blosses 
Zeichen für Den, von dem geredet wird. — 

Uebrigens sieht Jeder, dass bei Dem, der alle Wesen 



XXX VIT 



erschafft, erhält, gestaltet, vollendet, verpflegt und beschirmt, 
nicht von einer absoluten Unthätigkeit die Rede seyn kann, 
und dass es daher einen andern und besonderen Sinn haben 
muss, wenn von ihm zugleich das Nicht-Thun [ztm wet) aus- 
gesagt wird. Femer findet sich bei Laö-ts6 nirgends eine 
Stelle, wo er Tad Intelligenz, Vernunft, Denken abspräche; 
indirect aber legt er sie ihm bei, wenn er ihm Geist zu- 
spricht und seinen Geist das AUerzuverlässigste nennt. Es 
auch ausdrücklich zu thun, meinen wir, habe er deshalb 
unterlassen, weil er bei seinen Lesern soviel Einsicht voraus- 
setzte,- dass das Vemunfttose nicht das Prinzip der Vernunft, 
das .Bew]usstlose nicht das Prinzip des Bewusstseyns seyn 
könne. Mit vollem Recht aber spricht er der Gottheit das 
Verlangen oder Begehren (jü) ab, da dieses ein Bedürfen 
voraussetzt. — 

§. II. 

Ein so ausgebildetes und geläutertes Gottbewusstseyn 
kann nicht der Einzelne, auch nicht der Begabteste ursprüng- 
lich erzeugen, es setzt ältere Entwicklung und Ueberlieferung 
voraus. Diese wird nicht bloss durch die zahlreichen Citate 
Laö-ts^'s bestätigt, wir finden dafür auch ein bündiges Zeug- 
niss in der ältesten geschichtlichen Urkunde der Chinesen, 
dem Schü king. 

Untersuchungen, die wir uns an einem anderen Orte 
mitzutheilen vorbehalten, machen es wahrscheinlich, dass das 
Schü klng, welches ohne die angehängten drei letzten Kapitel 
von etwa 2300 bis 947 v. Chr. reicht , durch einen wol schon 
dem zehnten Jahrhunderte v. Chr. angehörenden Historio- 
graphen zusammengestellt worden sey , dass dann aber Khüng- 
ts^ etwa um 500 v. Chr. aus diesem grösseren Werke das, 
was seinen Ansichten und Lehrzwecken entsprochen, heraus- 
gehoben, auch die drei letzten Kapitel angefügt habe, und 
dass diese Bearbeitung Khüng-tsfe's es sey,' was wir jetzt 
unter jenem Namen besitzen. 

Nun wissen wir aus dem tschüfigjang^ dem Buche vom 



XXXVIII 



»Innehalten der Mitte«, das Ts6-sse, ein Enkel und persön- 
licher Schüler von Khüng-tsö abgefasst, dass Khüng-tse, 
wie es auch hei dessen ganzer Richtung nicht anders zu 
denken ist, ein entschiedener Gegner der alten Taö-Lehre 
war. Denn von ihm wird dort im 28. Kapitel gesagt: »Der 
Meister sprach : Wer unwissend ist, und es liebt selbständig 
zu verfahren, wer gemein, und es liebt sich etwas anzumaassen, 
wer geboren in heutiger Zeit zurückkehrt zum 
Taö des Alterthums, — Solche überkommt selber Un- 
glück.« — Gewöhnlich werden hier unter dem Taö des Alter- 
thums [ku tschl tah) Sitte , Bräuche , Einrichtungen der Vor- 
zeit verstanden ; diess kann Khüng-ts^ nicht im Sinne gehabt 
haben , da er sie sonst immer als Muster vorh^Ut und sich 
auf die Grundsätze und das Verfahren der Alten beruft; er 
kann daher den Ausdruck nur in dem bekannten Sinne ge- 
braucht haben, in welchem er auch bei Laö-ts^, z. B. im 
14. Kapitel, vorkommt. 

Diese Abneigung Khüng-ts^'s gegen die Taö-Lehre lässt 
vermuthen , dass er bei seiner Bearbeitung des Schü king, 
und ebenso bdi der des Schi ktng, dessen 3 1 5 Lieder er aus 
einem Vorrath von 3000 gewählt, " alles übergangen habe, was 
zur Stütze jener Lehre dienen konnte. Daraus erklärt sich 
dann, weshalb in dem Schi keins der Gedichte vorkommt, 
die Laö-ts^ citirt, und weshalb im Schü nichts Näheres über 
die Taö-Lehre zu finden ist. Vielleicht hängt es damit zu- 
sammen, dass sich in dem letzteren Buche so grosse Lücken 
befinden, da es wol möglich wäre, dass diese Lehre in den 
übergangenen Zeiträumen Macht und Ansehen gehabt hätte. 

Um so merkwürdiger ist es, dass der Ausdruck Tab als 
Bezeichnung des höchsten Wesens an zwei Stellen stehen ge- 
blieben ist, welche gerade dem ältesten Theile des Schü 
angehören, nehmlich in dem Kapitel tdjüind (I, 3), dessen 
Inhalt auf die Zeiten Schun's, 2255 — 2206 v.Chr., zurück- 
geführt wird. Hier heisst es einmal (§. 6) : »Nicht widerstrebet 
Taö, um zu erhalten der hundert Geschlechter (d. i. des 
ganzen Volkes) Lobpreis«. Und bald darauf (§. 15): »Des 



XXXIX 

Menschen Herz ist gefahrvoll; Taö's Herz ist fein, ist lauter, 
ist eins. Wollt euch erhalten in ihm !« — Diese Rede^ vom 
Herzen Taö's im G^enhalt zum Menschenherzen zeigt so 
klar, als man verlangen kann, dass hier unter Taö ein leben- 
diges persönliches Wesen gedacht wird, während beide Aus- 
sprüche zusammen darthun, dass diesem Wesen die höchste 
Stelle zugesprochen seyn solle*). Legen wir auch keinen 
Werth auf den aus späteren Zeiten (ii 22 — 11 16] im Kapitel 
Lüngäo (IV, 5) enthaltenen Spruch: »Die Gesinnung beruhe 
auf Taö, die Rede binde sich an Taö«, wo tab auch im ab- 
stracten Sinne gemeint seyn kann, so beweisen jene Stellen 
doch schon hinreichend, dass die Lehre von Taö einem 
hohen Alterthum angehört, und dass die Behauptung der 
späteren Taö-ss^ über ihr grosses Alter nicht lediglich aus 
der Luft gegriifen ist. 

§. 12. 

Laö-ts^ am Schlüsse des vierten Kapitels sagt, er wisse 
nicht, was Taö vorausgegangen seyn könnte ; der Form, der 
Erscheinung nach [stäng] sey Taö vor dem HErrn. TV, 
etwa soviel als ''b^Wt, b xupio^, auch schäng Ti^ der Ober- 
HErr, der höchste HErr (vgl. '|Vb:j b«) , oder thian Ti, der 
Himmels-HErr (vgl. D'^lBn ^'b^Ö sind häufige Bezeichnungen 
des höchsten Wesens im Schü und im Schi. Bei Laö-ts^ wird 
dieser Gottesname nur jenes einzige Mal erwähnt. Dass ihm der 
höchste HErr als eine andere weltbeherrscbende Macht neben 



*) Wortlaut und Satzblldung nöthigen zu obiger Auffassung des zweiten 
Citats. Die chinesischen Commentatoren des Schü sind Anhänger Khüng- 
tse's und schon deshalb Gegner der Tao-Lehre. Man begreift daher , dass 
sie sich alle Mähe gbgeben, in diesem geehrtesten aller Kings keine Be- 
stmigimg derselben zu finden, und eine andere Auslegung herauszukünsteln. 
Schwerer zu begreifen ist es, dass auch Legge [Tfu Chinese clctssicSf VoL III, 
P.L pag,(^\) sich von ihnen hat befangen lassen. Wenn er selbst §agt: 
Tah sin is, indeed, a diffkult expression ; and we seem to wani in tab some entity 
or being correspondht^ to sßn, so ist es doch nicht genügend, wenn er als 
einzigen Gegengnind hinzuiugt : But that eannot be ; denn diess widerlegt das 
ganze Tao tS king. 



•— XL 

Taö gegolten habe, ist undenkbar; auch hätte diess ein wesent- 
liches Stück seines Systems bilden müssen und würde als solches 
nicht unausgesprochen geblieben seyn. Aus der angeführten 
Stelle lässt sich hierfür nichts entnehmen. Vermuthen darf man, 
dass ihm TV, der HErr, nur Ausdruck war für die besondere 
Anschauungsform Taö's als der weltregierenden Macht, welche 
Bedeutung der »höchste HErra nach den Zeugnissen im Schü 
und Schi im alten Volksglauben hatte. War Taö als solcher 
bereits vor Himmel und Erde (Kap. 25) , so war er noth- 
wendig eher, als seine weltregierende Besonderheit. Oder 
hat Laö-ts^ mit seinem Ausspruch zugleich sagen wollen, 
auch geschichtlich sey Taö im Bewusstseyn der Menschen 
eher gewesen als der »höchste HErr«, und jener Go^esname 
daher der ältere? Auch diese Vermuthung dürfte nicht ab- 
zuweisen seyn. ^ 

Erwähnt femer unser Denker, vornehmlich gegen Ende 
des Buchs, verschiedentlich des »Himmels« als der welt- 
regierenden Macht, so ist anzunehmen, dass er es für unbe- 
denklich gehalten, sich dieses volksgeläufigen Ausdrucks zu 
bedienen, nachdem er sich in Früherem hinreichend über Taö 
erklärt hatte. Das Schü king sowol , als die alte Lieder- 
sammlung zeigen, dass im Allgemeinen die Ausdrücke »der 
höchste HErr« und »der Himmel« {fhiaii\ als ganz gleich- 
geltend gebraucht wurden. 

Immer haben die Chinesen nur Eine weltbeherrschende 
höchste Macht verehrt, immer wären sie Monotheisten, und 
der Polytheismus war ihnen bis in die ältesten Zeiten hinauf 
gänzlich unbekannt. Daher wurde ihnen jede Bezeichnung 
dieses einzigen Wesens nomen proprium. Denn um ein nomen 
appellatwtmi für ein Wesen zu finden , muss man seines 
Gleichen kennen, da das Nennwort bezeichnet, worin die 
Verschiedenen Dasselbe sind. Das Wort »Gott« aber ist ein 
nomen appellatiimm^ und deshalb hat die chinesische Sprache 
keinen Ausdruck dafür. Denn die gelegentliche Anrufung 
und Verehrung von Naturgenien, sowie der Dienst der Vor- 
väter, hat mit der Vielgötterei nichts gemein und gleicht 



XLI 

etwa nur dem Engel- und Heiligendienste in der römischen 
Kirche. 

Welche Schlüsse iiir die Urgeschichte der chinesischen 
Menschheit daraus zu ziehen seyen, dass sie niemals dem 
»mythologischen Prozessa, niemals einer Völker- und Sprachen- 
trennung verfallen sind, ja dass ihre, obwol dialectisch ver- 
schiedene, doch wesentlich einheitliche Sprache die wahr- 
scheinlich älteste Gestalt der Sprache überhaupt aufbewahrt ! 
hat, — das überlassen wir der Erwägung des Lesers. Uns 
erscheint die chinesische Menschheit unter den Völkern wie 
das Urgebirge unter den übrigen Gebirgsformationen , und 
dass sie eine Abzweigung der Urmenschheit sey, halten wir 
um so mehr fest, als wir von der wissenschaftlichen Unhalt- 
barkeit der alten Autochthonen-Hypothese nicht minder über- 
zeugt sind, als von derjenigen der neuesten Affen-Hypothese. 

Auch müssen wir es für einen Irrthum erachten, wenn 
man die Entwickelung des Geistes der Menschheit als von 
einem ganz oder halb thierischen Zustande ausgehend sich 
denkt, und die Entwickelung des Sinnes für das Uebersinn- 
liche, der mit der höchsten Intensität beginnt, mit dem auch 
die Sprache sofort gesetzt ist, für parallel hält mit der Cultur- 
und Verstandes-Entwickelung, welche umgekehrt von den 
schwächsten Anfangen zu immer grösserem Reichthum auf- 
steigt. Sagen wir daher: je jünger die Menschheit, desto 
mehr Offenbarung, desto mehr Gottinnigkeit; so nöthigen 
die uns bekannten Zustände der ältesten Chinesen, bei ihnen 
eine religiöse Tradition anzunehmen, deren Ursprung kaum 
jünger seyn dürfte, als die Gestalt ihrer Sprache. 

Haben wir doch noch ein weiteres Zeichen ihres überaus 
hohen Alterthums. In der ältesten Zeit, vor Entstehung von 
Reichen und Staaten, war der Hausvater, der Patriarch, 
König und Priester zugleich, der diese doppelte Würde auf 
die Stammesältesten vererbte. Denselben Patriarchalismus 
finden wir von den ältesten bis in die neuesten Zeiten bei 
den Chinesen auch darin conservirt, dass ihr Kaiser, der als 
»Vater und Mutter der hundert Geschlechter« gilt und in dem 



XLII 

der das ganze Reich durchdringende Patriarchalismus nur 
gipfelt, der einzige Priester und Opfernde bei ihnen ist. Ein 
solches Verhältniss, das denn doch mit der Religionsüber- 
lieferung aufs engste zusammenhängt, entsteht aber nicht erst 
im Lauf der Geschichte eines grossen Reiches ; es muss aus 
einer Zeit her. beibehalten seyn, der das Patriarchenüium 
allgemein eignete. 

Dürfen wir aber den historischen Urkunden trauen, so 
müssen wir der Ueberlieferung vom Ta6 ein ebenso, hohes 
Alter zuerkennen, wie der vom »höchsten HErm« oder Klem 
Himmel«, — beide natürlich erfüllt von einem bestimmten 
Gehalt mitgegebener Anschauungen und sittlicher Motive. 
Dabei zwingt uns die Analogie aller Entwicklung in solchen 
Dillen, oder richtiger das diese Analogie erzeugende Ge- 
setz, zu der Voraussetzung, dass beide Ueberiieferungskreise 
ursprünglich zusammen, ja ineinander gehört, und sich erst 
in Folge weiterer Entwickelung auseinander gesondert haben. 
Die Frage, wie diess zugegangen, dürfte nicht so schwer zu 
beantworten seyn. 

§. 13. . 

Da jede Religion das Sichtbare und Fassliche auf ein 
Unsichtbares, Geheimnissvolles bezieht und dadurch Beides 
in ein bestimmtes Verhältniss zu einander setzt, so macht sie 
es den Individuen möglich, sich, jenachdem sie genaturt sind, 
entweder mehr dem Palpabeln, an der Erscheinung sich Ver- 
ständigenden oder als Erscheinung Gedachten, oder über- 
wiegend dem Mysteriösen, den Tiefen des überirdisch Gegen- 
wärtigen zuzuwenden. Zu dem Letzten wird ein ganzes Volk 
nur vorübergehend geneigt seyn in früher, dunkler, enthusia- 
stischer Zeit. Klärt sich Welt und Leben allmählich vor den 
Blicken, tritt Ernüchterung und Besinnen ein, so ergreift die 
grosse Menge immer die zugänglichere, der Phantasie oder 
dem Verstände fasslichere Seite des Glaubens, während ein- 
zelne tiefere Geister, hiervon nicht begnügt, sich um so mehr 
in das ew^e Geheimniss versenken, es zu erhalten, sich und 



XUII 

andern Gleichgesinnten zu vermitteln suchen, und so eine 
engere, gegen das Unverständniss und die Vrofanation der 
Vielheit sich auf manche Weise abschliessende Gemeinschaft 
bilden. So entsteht eine Geheimlehre, entstehen Mysterien, 
deren Eingeweihte sich zwar anfanglich von der äusserlicfaen 
Religionsgemeinde der Massen noch nicht losss^en, sich in- 
nerlich aber mehr und mehr davon ablösen, jenachdem der 
Volk^laube das aufgiebt, was ihnen das allein Werthvolle 
erscheint, bis dann irgend ein Anlass es zum Bruche fuhrt 
•und nun plötzlich als zwei Reltgion^estalten nebeneinander 
steht, was ursprüi^lich Eins war. 

So dürfte es denn auch das Wahrscheinlichste seyn, 
dass ursprünglich Tdb^ schdng T% und Thian nur verschiedene 
Bezeichnungen Ebendesselben gewesen und nur unterschied- 
lich angewandt worden seyen ; ja, nicht unmöglich, dass Tab 
der ursprüngliche eigentliche Name war, für den man im 
gewöhnlichen Leben aus Ehrerbietung »der höchste HErr« sub- 
stituirte, bis auch diese Benennung durch das noch allgemeinere 
»der Himmel« {locus pro persona) ersetzt wurde. Diess voirde 
erklären, weshalb jene um das Mysterium sich sammelnde 
Gemeinschaft den ältesten und tiefsten Namen Tab in ihr 
Banner nahm, und weshalb die Masse der Volksgemeinde, 
als jene sich von ihr ausschied, diesen Namen g^en den 
Namen schdng Tt aufgab. 

Es li^ in der Natur der Sache, dass jene taöistische 
Gemeinschaft immer nur eine kleine seyn konnte. Dass sie 
aber schon lange vor Laö-tsi bestanden, dürfte nach dem, 
was wir §. 8 darüber angeführt, schweriich zu bezweifeln seyn. 
Von ihr hat er den religiösen Grundbestand seiner Lehre 
überkommen, wie diess sich aus seinen eignen Aeusserungen 
schliessen lässt. Wir finden, dass aus demselben, wie es 
nicht anders zu erwarten ist, das Ethische bereits reichlich 
entfaltet war. Inwieweit Metaphysisches und Politisdies ihm 
ab Erwerbniss von Vorgängern überliefert worden sey, ist 
nicht zu bestimmen. 

Wird einer Volksreligion, die keine Mythologie hat, der 



XLIV 



tiefere, mystische Grund entzogen, so muss sie vemüchtern 
und verweltiichen. Wir können an dem vulgären Rationalis- 
mus der Aufklärungsperiode sehen, was dann von ihr übrig 
bleibt. Der Gottesgedanke wird immer unlebendiger, blasser, 
machtloser, der überschwängliche Imperativ für die Sittlich- 
keit geht verloren,- und damit die Menschen nur in geord- 
neten Verhältnissen nebeneinander fortbestehen können, muss 
sowol in der Praxis als im Bewusstseyn an die Stelle der 
Gottheit als sittegebietende Macht der Staat treten. Diess 
ist der Zustand, den wir im alten Qiina im Allgemeinen 
vorfinden, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir den 
Ursprung desselben in der Ausscheidung des Taö-Glaubens 
aus dem Volksbewusstseyn finden, die zugleich der kleinen 
Taö-Gemeinde die Entstehung gab. Diese bewahrte nun 
die göttlichen Geheimnisse bei sich um so concentrirter, aber 
auch wol um so einseitiger, entwickelte aus ihnen eine ganz 
andere Welt- und Lebensauffassung, und trat dadurch nicht 
bloss mit der herrschenden Denkweise in Gegensatz, sondern 
wurde der grossen Menge auch unverständlich und rathsel- 
hafl, wie diess von Laö-ts^ selbst verschiedentiich bezeugt 
wird. Zu seiner Zeit scheint jedoch die ächte alte Lehre 
dieser Stillen im Lande nicht minder in Verfall und Vei^es- 
senheit gewesen zu seyn, als die ethisch-politische Lebens- 
ordnung der grossen Mehrheit, wie dieselbe von den An- 
fängern der Tscheu-Dynastie, wo nicht begründet, doch 
kräftig ausgebildet worden war. 



§. 14. 

Das Geburtsjahr Laö-ts^'s lässt sich mit vollkommener 
Sicherheit nicht feststellen. Die einzigen, auf historischen 
Forschungen beruhenden Nachrichten über sein Leben ver- 
danken vnr dem grossen Geschichtsschreiber Sse-mä-thsiln, 
der aber des Jahres, in welchem der Philosoph das Licht 
erblickt hat, nicht gedenkt. Andere geschichtliche Ueber- 
lieferungen setzen seine Geburt auf den 14. Tag des neunten 
Monats im dritten Jahre der R^erung des Kaisers Tfng- 



XLV 

wang, das dem Jahre 604 v. Chr. entspricht. Sowol Abel 
Ränusat als Stanislas Julien entscheiden sich fiir dieses Jahr. 

Der Erste nicht ohne seine Gründe anzugeben. Sse- 
ma-thsiän berichtet, wie man hören wird, von einem Besuche 
Khüng-ts^'s bei La6-tsö. Dieser Besuch, sagt Römusat, 
fand nach einhelliger Ueberlieferung und Zustimmung unstrei- 
tiger Autoritäten im 35 . Lebensjahre des Khüng-ts^, 5 1 7 v. Chr. 
statt. Zur Zeit dieses Besuchs war La6-ts^ schon sehr alt und 
erfreute sich seines ganzen Ruhmes. Die Rechnung des P. Mar- 
tini giebt ihm bei diesem Ereigniss 87 Jahre; sie muss sich 
mithin der Wahrheit annähern und verdient angenommen zu 
werden. Denn man darf nicht vergesset), dass der Besuch 
Khüng-ts^^s bei Laö-tsÄ ein bedeutsamer Punkt in der Ge- 
schichte der chinesischen Philosophie ist, ein Punkt, über 
den beide Secten einverstanden sind, obwol sie in den Folge- 
rungen, die sie daraus ziehen, abweichen. Dieser Punkt hat 
auch für uns seinen Nutzen, da er uns dient, das Leben 
La6-ts^'s geschichtlich festzustellen und die Zeit seiner Geburt 
annähernd zu bestimmen. 

Unzweifelhaft dürfte es seyn, dass La6-ts^ unter der 
Regierung des Kaisers T4ng-wang (607 — 585) geboren worden 
ist, ein hohes Alter erreicht hat und gegen Ende des sechs- 
ten Jahrhunderts gestorben ist. 

Wir lassen nunmehr die Nachrichten über ihn, welche 
in der biographischen Abtheilung von Sse-mä-thsiäns Ss^ ki 
enthalten sind, folgen; erlauben uns jedoch, dieselben durch 
weitere Erklärungen verschiedentlich zu unterbrechen. 

§• 15. 

»Laö-ts^ war aus dem (im Lehnstaate) Thsü (Kreis) 
»Khü (bel^enen) zum Bezirk von Lai gehörenden Dorfe 
»Khio-sjin. Sein Geschlechtsname war Li, sein Milchname 
»oll, sein Anstandsname Pß-jang, sein Ehrenname (nach 
»dem Tode) Tan.« — 

Der Geschlechts- und Stammnamen (sing) giebt es in 
China nur eine beschränkte, gesetzlich feststehende Zahl. 



XLVI 

Schon seit langer Zeit sind ihrer 468. Da ihre Gesammt- 
heit als die »hundert Geschlechtsnamen« [pe kiä sing) , auch 
die ganze Nation als die »hundert Geschlechter« [pe sing) 
bezeichnet wird, so hat man gemeint, es seyen ihrer anfäng- 
lich nur hundert gewesen; allein »hundert« ist im Chinesischen 
bei gar vielen Dingen nur Bezeichnung der Allheit, z. B. 
pe küHgi alle Künste, pekb^ alle Baumfrüchte u. s. w. Der 
Geschlechtsname ist allen Angehörigen desselben Stammes 
gemein und wird den übrigen Namen immer vorgesetzt, unser 
Philosoph war daher aus dem Stamme LL Der Milchilame 
[sjümlng]^ auch wol bloss, wie in unserm Texte, durch 
»Nametc (W;^) bezeichnet, wird den Kindern gleich nach der 
Geburt beigelegt. Die Erwachsenen benennen sich selbst 
mit ihm aus Bescheidenheit oder Demuth, während es unan- 
ständig wäre, sie mit diesem Namen anzureden. Hierzu 
dient vielmehr der Anstand»- oder Titelname \fsi)^ der den 
Jünglingen im zwanzigsten Jahre bei Empfai^ des Männer- 
hutes gegeben und meist charakteristisch gewählt wird. Darf 
man hiemach schliessen, so hat sich der junge Ll-öll schon 
zeitig ausgezeichnet, denn pe jang heisst etwa: »der den 
Aelteren vorieuchtet«. Der Ehren- oder Todtenname [sM 
oder hoH] wird dem Verstorbenen nach irgend einer bedeu- 
tungsvollen Beziehung aus seinem Charakter oder seinem 
Leben von den Nachkommen beigelegt. Tön heisst »das 
äussere Ohr«, auch »schwerhörig«. Da oU ebenfalls »Ohr« 
heisst, so könnte dieser Ehrenname in Rücksicht auf den 
Milchnamen gewählt seyn, auch könnte man sich wol denken, 
dass man Laö-ts^ in seinem Alter oft gesehen, als sey er, 
wie man sagt, ganz Ohr für Ausserirdisches, während er in 
dieser Vertiefung für die Menschen wie taub gewesen. Allein 
nach dem Khäng-hPschen Wörterbuche hiess in alter Zeit 
»ein Lehrer; Meister, Sittenlehrer, Führer« [^Sse^ 2430) tön 
oder lab tön ^ und diese Bedeutung dürfbe der Wahl jenes 
Namens vornehmlich zu Grunde li^cn. 

Wie aber ist er nun zu dem Namen Laö-ts^ gekom- 
men? Diesen hat ihm die Nachwelt, und zwar schon in den 



xLvn 

nächsten Generationen beigelegt. Lab heisst alt, ehrwürdig; 
tsi aber, wie bei allen Philosophen, »der Lehrer, der Meistere. 
Lab tsi also: der ehrwürdige Lehrer, »der Altmeister« — 
ein Name, der ihm in jeder Hinsicht gar wol geziemt. Viel- 
leicht hat die Bezeichnung Laö-tän, wie er bei den Alten 
häufig genannt wird, den Uebergang zu La6-ts^ gebildet. 
Auch Laö-kiün wird er später genannt, »der altehrwürdige 
Fürst«. Die Taö-ss^ nennen ihn auch Thdi schdng üun, 
»den hocherhabenen Fürsten«; auch wol nur TAäi schäng^ 
den »Hocherhabenen«. — Soviel von dem Namen. Was die 
Legende darüber fabelt, ist zu albern, um erwähnt zu werden. 
Laö-tsö's Geburtsort lag in der furchtbaren Ebene süd- 
lich vom Hoäng-hö, etwa einen Grad wesdich vom Meridian 
von Pacing. Sein Familienhaus, neben einem ihm zur Ehre 
errichteten Tempel stehend, wird dort noch gezeigt. Der 
zur Stadt Khü, einer Stadt dritter Classe, gehörende Kreis, 
eigendich ein Bestandtiieil des südwestlich von ihm au^e- 
breiteten Lehnstaates Thsü, war zu jenen Zeiten von dem 
mächtigen Fürsten von Thsin in Besitz genommen. 

§ i6. 

Aus dem Leben La6-ts^ bis za seinem hohen Alter 
erwähnt Sse-mk-thsiän nur, dass er ein Staatsamt in Tscheu 
erlangt habe. Sind wir über seine besonderen Schicksale 
während dieser langen Zeit nun auch im Dunkeln, so lässt 
sich doch einiges Allgemeine aus dem Laufe der öffentlichen 
Dinge vermuthen. Denn auch der genialste Geist ist zum 
grossen Theil Gebilde geschichtlicher Voraussetzungen und 
die Verhältnisse und Begebenheiten seiner Zeit greifen mit- 
bestimmend in seine Entwicklung ein. 

Die im 12. Jahrhundert v. Chr. durch die Begründer der 
Tscheu-Dynastie kräftigemeuerte Reichsverfassung hatte Aehn- 
Ikdikeit mit der Verfassung des deutschen Reichs. Mit Ausnahme 
der dem Kaiser — thian tsij »dem Himmelssohne« — vorbehal- 
tenen Hauslande stand alles übrige Reichsgebiet unter grösse- 
ren oder kleineren erblichen Lehnsfufsten, deren Abhängigkeit 



xLvni 

durch die Pflicht, zu gewissen Zeiten am Kaiserhofe zu er- 
scheinen und bestimmte Leistungen darzubringen, auch in 
Kriegsfallen Heerfolge zu prästiren, ihren Ausdruck fand, wäh- 
rend sie in ihren Hoheitsrechten durch die kaiserliche Reichs- 
verwaltung, so mannig&ltig und sorgfältig organisirt diese 
auch schon erschdnt, nur wenig beschrankt waren. Im Ganzen 
dürfte diese alte Verfassung als patriarchalisch-feudalistisch zu 
bezeichnen seyn. Nur aber wenn die Kaiser grosse oder 
kräftige Charaktere waren, konnte sie rein aufrecht erhalten 
werden, und mehr als jede andere musste sie sich auf die 
Sittlichkeit und Gerechtigkeit zuvörderst der Regierenden, 
dann auch der Regierten stützen. 

Mit dem durchgeführten Patriarchalismus hing es zusam- 
men, dass schon seit uralter Zeit vornehmlich der Kaiser, in 
geringerem Masse auch die Reichsfiirsten, alles, was priester- 
liches Thun heissen konnte, für sich behalten hatten. Er- 
klärlich, dass diess sich in immer kleinere Kreise zusammen- 
zog, sich immer mehr veräusserlichte, immer mehr nur als 
eine Regierungshandlung neben anderen behandelt wurde. 
Dem Volke aber fehlten Priesterthum, Gottesdienste, gottes- 
dienstliche Tage und alle Religionspflege, damit aber auch 
der Anbau des Bodens, aus welchem allein wahre Sittlichkeit 
erwachsen kann. Aus dem allgemeinen Gefühl des Bedürf- 
nisses, einen Ersatz hierfür zu haben, bildete sich unter Mit- 
wirkung der Kaiser ein alle Lebensverhältnisse umfassendes 
Schicklichkeits- und Anstand^esetz, das R^ aus. Wir haben 
noch jetzt aus den Zeiten der Tscheu das /-/2, welches in 
45 Büchern dergleichen R^eln über alle denkbaren Lagen 
und Vorkommnisse des Lebens enthält; ebenso das Tscheu- 
ßy das aus 44 Büdiem besteht, aber nur die Einrichtungen 
und Aemter des Kaiserhofe und der Verwaltungen beschreibt. 
Jenes lebhaft empfundene Bedürfhiss gab indess dem Li von 
jeher eine mächtige und überall anerkannte Autorität, obwol 
es der inn^lichen Unsittlichkeit nicht vorbeugen konnte, ja 
die Heuchelei im Verkehr nur begünstigte. Nur die von den 
Höfen au^ezeichneter Kaiser oder Fürsten au^ehenden sitt- 



XLIX 

liehen Forderungen, Mahnungen und Beispiele konnten jene 
Formen mit Inhalt anfüllen, und auch die geordnete Reichs- 
verfassung heilsam im Gang halten. 

Als nun im Lauf der Zeit die Tüchtigkeit der kaiserlichen 
Dynastie abnahm, die Sitten verfielen, das Reichsregiment 
erschlaffte, erhoben sich die vasallitischen Könige, Herzoge, 
Fürsten gegen einander, ja auch wol gegen die Kaiser, diese 
verloren immer mehr an Ansehen und Gewalt, innere Kriege 
zerrütteten das Reich und die durch dieselben mächtig ge- 
wordenen Reichsflirsten stritten miteinander um die Hege- 
monie. 

So waren die Zustände und ein solcher Streit zwischen 
den Staaten Thsü und Tsin, in den eine Anzahl kleinerer 
Staaten mitverwickelt war, verwirrte das Reich, als Laö-tsi 
geboren wurde. Der Kaiser Ting-wäng, zu machtlos, um 
entscheidend dabei einzugreifen, bemühte sich auf alle Weise, 
nicht selbst in diese Kriege hineingezogen zu werden. Es 
gelang ihm, seine Erblande in tiefem Frieden zu erhalten und 
eine strenge Beobachtung der Gesetze durchzuführen. Von 
seinem Nachfolger Kiän-wäng (585 — 571) wird berichtet, dass 
er mit kluger Vorsicht die kaiserlichen Rechte wieder in An- 
sehn zu bringen gesucht, nach Möglichkeit fiir friedliche Zu- 
stände gewirkt und dabei mit sehr grosser Milde r^iert habe. 
Auch ihm gelang es, während der sich immer wieder erneu- 
ernden Kriege zwischen den Reichsflirsten seinen Erblanden 
den Frieden zu bewahren. 

Haben wir uns nun den jungen Ll-öU zu denken als 
einen Jüngling von reichem, durchdringendem, strebendem 
Geiste, von tiefem zarten Gemüthe und höchstwahrscheinlich 
durch häusliche Ueberlieferung schon herangekommen in den 
emstsittlichen, friedfertigen Ansichten der Ta6-Lehre, so lässt 
es sich wol erklären, dass seine Blicke schon früh nach dem 
friedlichen, wolregierten Tscheu-Lande gerichtet waren. Viel- 
leicht durfte er hoffen, dort im kaiserlichen Dienst empor- 
zusteigen, und im Sinne der überkommenen Lehre wirkend, 

Gutes und Grosses zu schaffen. Weder zu seinem recht- 

d 



massigen Landesherrn, dem Fürsten von Thsü, noch zu dem 
Fürsten von Thsin, der die Landschaften seiner Heimath 
annectirt hatte, konnte er sich hingezogen fühlen, da nament- 
lich der erste ein unruhiger, kriegerischer, stets in Fehden 
verwickelter Regent war. Er mag sich daher wol schon bald 
nachdem er den Mannsnamen PS-jang erhalten, in das kaiser- 
liche Gebiet begeben und Eintritt in den öffentlichen Dienst 
gesucht und gefunden zu haben. 

Sse-mä-thsian berichtet ferner: 

»Er war Geschichtschreiber der Archive der Tscheu.« 

Im Chinesischen" heisst dieser Dienst: scheu tfisä^g seht 
tschl ssk wörtlich: servandorunt repositormn domüs scriptar, 
R^musat sagt, dies Amt sey soviel als Historiograph und 
Archivar. Julien übersetzt es durch gardien des arc/tives. 
Chalmers macht einen treasury-kceper daraus. Im Tscheu -H, 
der einzigen Quelle, die über diess Amt Auskunft geben 
könnte, findet es sich namentlich nicht erwähnt, doch bietet 
dasselbe eine Spur, lim der Sache näher zu kommen. 

Im 17. Buche desselben, dem Verzeichnisse der Aemter, 
welche unter dem dritten Minister, dem des Cultus und der 
Gebräuche, stehen, wird der »Reichsgeschichtschreiber \Td 
ss^) erwähnt, dem folgendes Personal beigeordnet ist: Untere 
Tä-fu zwei Mann. Höhere Gelehrte vier Mann. Unterge- 
schichtschreiber [Siao sse) . Mittlergelehrte acht Mann. Niedere 
Gelehrte sechzehn Mann. Hausverwalter vier Mann. Schrei- 
ber- [Ss^] acht Manii. Gehülfen vier Mann. Fussboten vier- 
zig Mann«. Sodann aber liest man im 26. Buche des Tscheu- 
U, wo die Greschäfte des Td ss^ aufgezählt werden: »Aller 
Lehnsstaaten, Residenzen und Krongüter sowie aller Bevölke- 
rungen Besitz- Verträge und Vergleiche hinterlegt er \fhsäng) 
in Abschriften, welche die sechs Ministerien übersenden.« 
Hier begegnet dasselbe thsäng [Bas. 9266) , das in der Amts- 
bezeichnung La6-tses vorkam, und es bleibt kein Zweifel, 



LI ' 

dass thsang schi^ zumal mit dem Zusätze sckeii (2101, servare^ 
custodire) vollkommen unserm Archiv entspricht. Ob die 
Stellung eines Archiv-Geschichtschreibers einem Tä fü oder 
Oberbeamten zweiten Ranges übertragen seyn konnte, wissen 
wir nicht; vielleicht kam sie nur einem Graduirten erster 
Classe, was oben durch »höheren Gelehrtem [schdng sse) wie- 
dergegeben wurde, zu. Die Siäo ssi hatten andre Verrich- 
tungen. Soviel dürfte anzunehmen seyn, dass die von Sse- 
mä-thsiän bezeichnete Stelle zu der Behörde gehörte, welcher 
der Tä ss^ vorstand, zu dessen Geschäften übrigens ausser 
der Führung der Reichsannalen noch die Feststellung sämmt- 
licher Promulgationen, die Controle über ihre Aufrechthaltung 
nebst einer gewissen Strafgewalt und verschiedene ceremo- 
nielle Anordnungen gehörten. 

Wir haben oben das ganze Personal dieser Behörde ver- 
zeichnet, da zu vermuthen ist, dass der junge Li-p^jang 
sich innerhalb derselben allmählich hinaufgedient habe. Die 
Geschäfte derselben waren ganz geeignet, ihm einen Ueber- 
blick zu verschaffen über die Verhältnisse des Reichs und die 
Erfolge der Regierungsmassregeln, ihm Menschen- und Für- 
stenkenntniss zu geben, und da sie ihn des thätigen Eingrei- 
fens überhoben, so konnten sie den ruhigen Betrachtungen 
eines stillen Weisen und seiner sinnenden Vertiefung wol nur 
förderlich seyn. 

Zu der Stelle, welche er bis zuletzt bekleidet hat, ist 
er schwerlich vor der Regierungszeit Ling-wäng's gelangt. 
Auch diesem Kaiser (571 — 544) gelang es, durch kluge Zu- 
rückhaltung die Lande von Tscheu unberührt zu erhalten 
von den Kriegen der Lehnsfursten, welche trotz wiederholter 
Friedensschlüsse sich immer wieder erneuerten. Im kaiser- 
lichen Gebiete blieb sein Ansehn ungeschwächt und die Ruhe 
ungestört. Fast möchte man in der vorsichtigen, zurückhal- 
tenden Friedensliebe dieses Kaisers einen Einfluss unsres 
Philosophen vermuthen^ und wenn aus mehren seiner Aeusse- 
rungen im Taö tfe king hervorzugehen scheint, dass ihm Ge- 
legenheit geboten worden sey, in die ersten Stellen vorzu- 



LII 

rücken, was er nur aus höheren Rücksichten abgelehnt habe, 
so kann das wol nur noch unter Lmg-wäng der Fall gewesen 
seyn. Während seiner Regierung, und als Pe-jäng schon über 
die Hälfte des Lebens hinaus war, ward in dem Fürstenthum 
Lü im Jahre 551 JChüng-ts^ geboren. 

Im Jahre 544 begann die fünfundzwanzigjährige Regie- 
rung von King-wäng, gegen den sofort der eigne Bruder die 
Waffen erhub; er wurde jedoch geschlagen. Die Begier nach 
Reichthümem und Kostbarbeiten und eitle Prunksucht verlei- 
teten diesen Kaiser, das Volk durch Abgaben und Frohnen 
zu drücken und die Regierungspflichten auf die leichte Achsel 
zu nehmen. Darüber verfiel seine Autorität nicht nur im 
eignen Lande, auch im Reiche verlor er allen Einfluss, und 
bei den mächtigeren Reichsfürsten trat das Streben nach der 
höchsten Würde im Reich immer mehr hervor. Nur gegen- 
seitige Eifersucht, die sofort wieder blutige Fehden herbei- 
führte, vereitelte ihr Trachten. — Unter den Eindrücken einer 
solchen Regierung trat L\-pe-jäng in das höhere Alter ein, 
und sie scheinen nicht ohne Einfluss auf seine politischen 
Gesinnungen und Ansichten geblieben zu seyn. Auch lässt 
sich denken, dass er bei einem solchen Kaiser mit Rathschlä- 
gen und Ermahnungen nicht hätte ankommen können, und 
nun zu der vollen Ueberzeugung gelangte, der Weise thue 
am besten, seine geistigen Schätze für sich zu behalten und 
Andern zu verbergen. 

Nach K\ng-wäng's Tode (519) erhub sich ein blutiger 
Erbfolgestreit. Der Kaiser hatte seinen ältesten Sohn zum 
Nachfolger bestimmt, und als dieser gleich nach seinem Vater 
mit Hinterlassung eines kürzlich geborenen Prinz^i starb, er- 
klärten die Grossen des Hofes diess Kind zum Kaiser und 
bestellten eine Regentschaft. Hiermit unzufrieden, erhüben 
sich mehre mächtige Provinzialstatthalter für den zweiten Sohn 
des vorigen Kaisers, eroberten nach verschiedenen mörderi- 
schen Schlachten die Hauptstadt und machten dort, nachdem 
sie das unglückliche Kind getödtet hatten, ihren Prätendenten 
zum Kaiser. 



Lm 

Auch aus dem Tscheu-l-ande war der Friede geflohn. 
Ueberall Streit und Kriegsgetöse. 

Li-pe-jang aber, der Altmeister, obwol er wenig mittheil- 
sam und bis dahin noch nicht als Schriftsteller aufgetreten 
war, muss dennoch eines verbreiteten und achtunggebietenden 
Rufes genossen haben, — wie er Kap. 67 auch selbst sagt, 
dass alle Welt ihn gross nenne — ; sonst würde Khüng-tse, 
der mit seinen Schülern lehrend umherzog und selbst bereits 
vielgenannt und bekannt war, den älteren Weisen schwerlich 
aufgesucht haben. Er begab sich zu ihm und hatte ein be- 
rühmt gewordenes Gespräch mit dem Alten. Die verschiede- 
nen Berichte über dasselbe sind aber sämmtlich nur Aus- 
schmückungen und En\'eiterungen dessen, was' Sse-mä-thsian 
berichtet, und was wir nun folgen lassen. 

§. 18. 

»Khüng-tse ging nach Tscheu, um Laö-tse nach den 
»Bräuchen (//■ zu fragen. »Lao-tse sagte: >» »Wovon der Herr 
»spricht, diese Männer sammt all' ihren Gebeinen sind längst 
»vermodert; nur ihre Worte sind in den Ohren. Wenn der 
»Weise seine Zeit findet, dann steigt er; findet er nicht seine 
»Zeit, dann lässt er das Unkraut sich häufen und geht. Ich 
»habe gehört, ein kluger Kaufmann verberge seine Vorräthe 
»wie nicht vorhanden ; der Weise von vollendeter Tugend er- 
»scheine äusserlich wie unwissend. — Weg mit des Herren 
»Hochmuth und vielen Begierden, auswendigem Schein und 
»ausschweifenden Plänen ! Das Alles nützt dem Herrn selber 
»nichts. Das ist es was ich dem Herrn zu sagen habe, und 
»damit gut.«« 

»Khüng-tse ging fort, redete mit seinen Schülern und 
sprach: »»Vögel, ich weiss, die können fliegen; Fische, ich 
»weiss, die können schwimmen; Thiere, ich weiss, die kön- 
»nen laufen. Die Laufenden können umgarnt werden, die 
»Schwimmenden können geangelt werden, die Fliegenden kön- 
»nen geschossen Werden. Komm' ich zum Drachen, so weiss 
»ich nicht, wie er sich erhebt auf Wind und Wolken und auf- 



LIV 

»steigt zum Himmel. Heute sah ich Laö-tse: ist der nicht 
»wie der Drache"?«« — 

Bei der kritischen Sorgfalt, womit Sse-mä-ths!an seine 
Nachrichten aus jener Zeit behandelt hat, darf man wol ver- 
trauen, dass er diese Reden aus reiner Quelle geschöpft habe, 
und dass sie im Wesentlichen acht seyen, wofür auch ihr 
Inhalt sowie ihre Sprache bürgen. Für Khüng-tsc ist es be- 
zeichnend, dass er den alten Meister nur um der herkömm- 
lichen Sitten und Bräuche willen aufsuchte, die ihm so sehr 
am Herzen lagen. Auch scheint das Gespräch der beiden 
merkwürdigen Männer sich anfangs um dergleichen Gegen- 
stände bewegt zu haben. Nach den freilich sehr unzuverläs- 
sigen Kiä jü (Hausgesprächen; wäre von den fünf ältesten 
Herrschern, und nach den nicht glaubwürdigeren Mittheilungen 
im Li ki von Begräbnissgebräuchen geredet worden. Es mag 
ja seyn, dass Khüng-ts^ mit solchen Dingen das Gespräch 
eröffnet und Laö-tse ihm darauf Antwort gegeben habe. 

Was galten aber dem greisen Altmeister, der an Altes 
nur anknüpfte, um eine ganz andre Weltanschauung und ganz 
neue Lebensgestaltung zu lehren, jene ganz oder halb mythi- 
schen »fünf Herrscher« [u ti\ , an welche die herkömmlichen 
Denkweisen und Gesinnungen sich klammerte^? Was galten 
ihm, der überall das Höchste und Tiefste voranstellte und 
für das Leben auf schlichte Wahrheit und freie Natürlichkeit 
drang, die dreitausend Anstands- und Höfiichkeitsregeln, 
deren Inhalte er auf der sittlichen Scala den niedrigsten Platz 
anweist? 

Die oben mitgetheilten Aussprüche Laö-ts^'s machen 
den Eindruck, als seyen sie die, den ersten Auseinander- 
setzungen folgenden, einzelnen kemhaftcn Antworten auf die 
vielleicht ziemlich andringliche Gesprächigkeit des Anderen, 
der sich dieselben dann um so genauer einprs^en und sie 
später den Seinigen mittheilen konnte. Er hat sie in seinem 
Sinne gewiss nicht ungenutzt gelassen , vertrug einen Tadel 
auch recht wol. 

Mit dem ersten Ausspruche scheint Laö-tse das Gespräch 



LV 

über die ältesten Gesetzgeber fiir die Bräuche abgeschnitten 
zu haben. Hierauf mochte Khüng-tse erwiedem, es komme 
ihm auch zuhöchst auf die Reden jener Alten und deren sitt- 
liche Grundsätze an, denn nur durch diese sey die Welt zu 
bessern, und sie müsse man den Menschen und zumal den 
Fürsten vorhalten. Thue man das in der richtigen Art, so 
werde man die Welt umgestalten. Auf dergleichen Reden, 
deutet es hin, wenn Laö-ts6 die verschiedenartige Empfäng- 
lichkeit der Zeiten betont und davon den Einfluss des Weisen 
abhängig macht. Wenn er dabei vom Fortgehn sprach, so 
trug er sich selbst wahrscheinlich schon mit dem Gedanken, 
eine Umgebung zu verlassen, wo sein Wort nicht mehr galt. 

Verstand diess Khüng-ts6 etwa? Entgegnete er, dass 
man auch unter ungünstigen Verhältnissen nicht aufhören 
dürfe, gute Lehren immer zu wiederholen? Kramte er selbst 
vielleicht einen recht glänzenden Vorrath davon aus? Etwas 
Aehnliches ist vorauszusetzen, da Laö-ts^, noch immer mit 
einer gewissen Rücksicht und auch hier an einen alten ßpruch 
anknüpfend, meint, dem Weisen zieme eine löbliche Zurück- 
haltung mit seinen geistigen Schätzen, eine bescheidene Ver- 
bergung seiner Vorzüge; womit er wol sich selbst rechtfer- 
tigen und dem Andern eine kleine Weisung geben wollte. 

Khüng-ts6 aber war darin sicherlich ganz andrer An- 
sicht und wird nun erst recht herausgetreten seyn mit dem, 
was ihm alles klar sey, wornach er strebe, wodurch er noch 
zu steigen und zu glänzen hoffe und was er dadurch zu er- 
reichen gedenke. Dass er dabei viel Eitelkeit, hochfliegende 
Pläne, Lust am äussern Scheine entfaltet habe, lässt die 
schneidende Rüge erkennen, mit welcher La6-tsd das Ge- 
spräch zuletzt mehr abbricht, als abschliesst. 

Dessungeachtet hören wir aus Khüng-ts^'s Aeusserungen 
gegen seine Schüler, dass La6-ts6's Persönlichkeit einen 
ausserordentlichen Eindruck auf ihn gemacht habe, und gar 
liebenswürdig ist das geistreich eingekleidete Bekenntniss, dass 
er eineni ihm so weit überlegenen Geist in seinem Fluge nicht 
zu folgen vermöge. Man darf daraus wol schliessen, das des 



LVT 

Altmeisters Gespräch doch noch höhere und gewaltigere 
Dinge berührt habe, als aus seinen überlieferten Worten sich 
entnehmen lässt, dass es Khüng-ts^ aber für gut hielt, dar- 
über sich nicht weiter zu äussern*). 

§. 19. 

»Laö-ts^ befliss sich Taö's und der Tugend. Er strebte 
»darnach sich verborgen zu halten ; nidit berühmt zu werden, 
»war sein Bemühn. Er wohnte lange in Tscheu. Als er den 
»Verfall der Tscheu sah, ging er schliesslich fort und erreichte 
»den Gränzpass. Des Gränzpasses Oberbefehlshaber H\ 
»sprach: »»Will sich der Herr denn zurückziehen, so bemühe 
»er sich um meinetwillen ein Buch zu schreiben««. »Deshalb 
»schrieb Lao-ts^ dann ein Buch in zwei Theilen, die seine 
»Gedanken von Tao und der Tugend aussprechen in fiinftau- 
»send und mehr Worten, und ging fort. Niemand weiss, wo 
))er geendet. Lao-tse war ein verborgener Weiser.« — 

Sowol der Besuch Khüng-tse's, als die Aufforderung des 
Hi beweisen, dass unseres Altmeisters Bestreben, verborgen 
und unberühmt zu bleiben, vergeblich gewesen war. Wie 
wäre diess auch einem Manne von solcher persönlichen Be- 
gabung und Bedeutung möglich gewesen, den seine amtliche 
Stellung in steter Beziehung zu den eigentlichen Trägern 
höherer Bildung erhalten musste? 

In den Erblanden des Kaiserhauses hatte er gesegnete 
Friedenszeiten durchlebt, während- die Länder der umwoh- 
nenden Reichsfürsten unter unaufhörlichen Kriegen seufzten. 
Nun war diess Unheil auch dort ausgebrochen. King-wang 
hatte die Waffen, aber nicht die Gemüther seiner Gegner 
überwunden, die Parteien dauerten fort, Unordnungen, Wi- 
dersetzlichkeiten, offene Aufstände folgten einander. Ein 
König, der durch Rechtsbruch, Gewaltsamkeiten und Ver- 
wandtenmord die Würde des »Himmelssohnes« an sich ge- 



*) Die Darstellung, welche der Philosoph Tschuäng-lse von dem Ge- 
spräche der beiden Meisler giebt, haben wir im Anhange mitgetheilt. 



LVII 

rissen hatte, der, um sich zu behaupten, auch femer auf 
Gewaltmittel sich stützen musste, war kein Herr für den hoch- 
betagten Weisen, und Jeder wird begreifen, dass dieser sei- 
nen Abschied nahm und das Land zu verlassen eilte, wo 
Alles zusammenstürzte, an dessen Erhaltung er so lange mit- 
gewirkt hatte. 

Nur das Land, nicht das Reich wollte er verlassen. Denn 
der vorzugsweise so genannte »Gränzpass« , nach welchem er 
sich begab, war, wie uns Stan. Julien belehrt, der Hän-kü- 
kuän, ein befestigter Engpass, der zwar im Westen des 
Tscheu-Landes, nicht aber im Westen des Reiches, vielmehr 
gerade recht in dessen Mitte, in der jetzigen Provinz H6-nan 
lag. Es ist daher ganz unbefugt, aus dem eingeschlagenen 
Wege zu schliessen, der Hochbejahrte habe nun noch an 
Reisen über die Reichsgränzc hinaus gedacht, ja sie wirklich 
gemacht. Diess ist Erfindung der Sage, die sich auch des 
Kuän ling ßn [aditfis summus praefectus) Hl bemächtiget hat. 
Denn geschichtlich weiss man von diesem nur das hier Er- 
zählte. Aus seiner Bitte und ihrer sofortigen Erfüllung ist 
zu schliessen, dass er Laö-tse bereits befreundet, ein Anhänger 
seiner Lehre und ein Verehrer seiner Weisheit war. Die Worte, 
die ihm zugeschrieben werden, setzen voraus, dass der greise 
Wanderer, der ihn zum Abschied noch einmal aufgesucht 
haben mochte, seinen Vorsatz, sich in die Verborgenheit zu- 
rückzuziehen, ihm bereits mitgetheilt hatte. Auch zeigen sie, 
dass Laö-tse bis dahin von seiner Lehre noch nichts aufge- 
zeichnet hatte. Nun erst, auf der Reiserast — denn der 
Bericht lässt schliessen, deiss er bei dem Befreundeten so 
lange verweilte — schrieb er die Resultate seines Forschens 
und Denkens in gedrängter Zusammenfassung nieder. Und 
so entstand das Taö te king. Dass er dann davongegangen, 
dass Niemand erfahren wo er geendet, zeigt, wie es ihm doch 
am Schlüsse seines Lebeil%noch gelungen ist, sich der Welt 
zu entziehen und verborgen zu bleiben. 

In mehren Abdrücken der Biographie hat sich vor den 
Worten : »Lao-ts^ war ein verborgener Weiser« — eine Ein- 



LVIII 

Schaltung eingeschlichen , die nicht zum Texte gehört. Sie 
erzählt von noch einem Ta6-ss6 Namens Laö-lai-ts6, und 
sagt von Laö-ts^, er habe über i6o, nach Einigen über 200 
Jahre gelebt; auch habe 129 Jahre nach Khüng-ts^'s Tode 
ein Reichsgeschichtschreiber Tan existirt, von dem Etliche 
sagten, er scy Laö-tse gewesen, Andere leugneten es, und 
Niemand wisse, ob dem so sey oder nicht. Man sieht, diess 
Alles sind apokr>'phische Träumereien. 

Von mehr Interesse ist es, dass Ss6-mi-thsian noch ein 
Verzeichniss der Nachkommen Laö-ts^'s bis auf seine Zeit 
folgen lässt, indem er sagt: 

DLa6-ts^'s Sohn hiess Tsüng, war in Wei Heeresoberster 
»und erhielt ein Lehen in Tuän-kän. Tsüng's Sohn war Tschü. 
»Dessen Sohn Küng. Dessen Urenkel Kiä. Der war Beamter 
»bei dem Hän Hiäo-wen-tf; und Kiä's Sohn, Kiäi, war des 
»Kiäo-si-Königs Niäng Minister, daher wohnte er in Thsf.« 

Die Bezeichnung des Kiä als Urenkels [hinan sün] von 
Küng wird im weitern Sinne zu nehmen seyn, so dass eine 
grössere Zahl von Mittelgliedern übergangen ist; denn da 
Hiäo-wen-ti von 179 bis 157 regierte, Kiäi also wol noch 
ein Zeitgenoss yon Ss^-mä-thsian war, so kämen auf etwa 
400 Jahre sonst nur sieben Generationen. Uebrigens würde 
der Historiker diese Nachrichten nicht so bestimmt gegeben 
haben ohne zuverlässige Quelle. Und eine solche gab es. 
Denn schon in alter Zeit befand sich in jedem chinesischen 
Hause eine Ahnentafel, auf der die Namen der Vorfahren 
treulich eingegraben wurden. Der Bericht über Laö-ts^ konnte 
sich also auch auf Familiennachrichten stützen, deren Dürf- 
tigkeit gerade für ihre Glaubwürdigkeit zeugt. 

§. 20. 

Der Biograph fügt noch folgende Bemerkung hinzu : 

»Die dem Studium Lao-tse'suteben , setzen die Schrift- 

»gelehrsamkeit herab ; die Schriflgelehrten setzen ebenso Laö- 

»tse herab. In den Grundsätzen uneins, können sie sich mit- 

»einander nicht verständigen. Wie sollte das auch seyn? Nach 



LIX 

»Li-6ll wird durch Nicht-Thun von selbst bekehrt, durch reines 
»Ruhen von selbst veredelt.« 

Es zeigt keine grosse Ehrerbietung des Geschichtschrci- 
bers gegen La6-tsfe, dass er ihn hier bei seinem Milchnamch 
nennt. Er stand auf Seite der Schriftgelehrten aus Khüng- 
tse's Schule — sjü hio. In älterer Zeit hiessen, wie das 
Tscheu-li (Kap. 2. zeigt, diejenigen sjü^ welche »durch den 
Weg«, tab^ d. h. durch die Lehre der rechten Grundsätze, 
»das Volk gewannen« , nehmlich eben für diese Grundsätze, 
fiir den rechten Weg; die also, welche für die öffentlich an- 
erkannte Lehre wirkten. Seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. 
war diess aber die Lehre Khüng-tses; die sie vertraten 
hiessen sjü^ literati^ Schrifilgelehrte. 

Mit dem Schlusssatze will Sse-mä-ths!an sagen, La6- 
ts^ lehre, dass sich durch das Nicht-Thun der Regierenden 
das Volk von selbst bekehre, dass es, wenn jene in reinem 
Ruhen verharrten, von selbst recht und gut werde. Mit Bil- 
ligung wird dieser Grundsatz allerdings nicht angeführt , und 
aus dem Ganzen des Systems herausgerissen, sieht er son- 
derbar genug aus. Natürlich ist es, dass der Historiker ge- 
rade ein politisches ParadoxoA herausgreift. Und wie soll 
man es einem Schulgelehrten verübeln, dass er es nicht aus 
dem Zusammenhange einer ihm fremden Lehre zu erklären 
und zu limitiren sucht, da die der Lehre anhangenden Aus- 
leger sich nicht einmal hierauf einlassen? Ist das Missver- 
ständniss doch selbst nach Europa verpflanzt worden, da zu 
lesen ist, dass es nach Laö-tse's Lehre der höchste Grad von 
Vollkommenheit sey, wenn der Mensch in absolutem Quie- 
tismus verharre. Und freilich hängt das ethische Theorem 
vom Nicht-Thun, wü ivH^ n)it dem gleichlautenden politi- 
schen aufs engste zusammen. Denn nach La6-tse's Gesammt- 
anschauung ist die Politik — die Lehre vom guten Regieren 
— ein besonderer Theil cfe!' Ethik, und der ethisch Vollendete, 
der »heilige Mensch«, sching sjin^ ist allein der rechte König. 

Obgleich nun unser Commentar an den verschiedenen 
Stellen, die jenes Theorem aussprechen, die Missverständ- 



LX 

nisse zu beseitigen bestrebt ist, so dürfte eine vorgängige 
Zurechtlegung desselben hier doch am Platze seyn. Wir er- 
lauben uns diessmal Laö-tse's Meinung in unsrer Ausdrucks- 
weise vorzutragen. 

§. 21. 

Wer Gottes (Tao's) theilhaftig ist, Ihn festhält und in 
Ihm wandelt, ist dem unschuldigen Kinde darin gleich, dass 
sein Verhalten und Thun nichts weiss von reflectirter Ab- 
sichtlichkeit und nie die eigne Person zum Zweck hat, viel- 
mehr in reiner Selbstlosigkeit geradehin von ihm so ausgeht, 
wie er durch sein Lebensprincip , Tao, bestimmt wird, dem 
er daher nachahmt, ohne auch diess besonders zu wollen, 
da er, nur durch Ihn bestimmt, eben nicht anders kann. So 
wächst Lao-ts^'s Ethik aus seiner Theologie hervor. Denn 
da Tao unermüdlich alle Wesen hervorbringt, versorgt, nährt, 
ausbildet, vollendet, beschützt und mit Wolthaten segnet, so 
muss Ihm der »»heilige Mensch« auch hierin ähnlich seyn; 
weshalb denn auch er Aller sich liebend annimmt, Allen 
hilft, Allen wolthut. Diess ist Wiederholt und so ausdrück- 
lich gesagt, dass es den Gedanken an einen Quietismus gar 
nicht aufkommen lassen sollte. Sagen doch noch die letzten 
Worte des ganzen* Buchs, des heiligen Menschen Verfahren 
sey Thun und nicht Streiten. 

Wenn demnach Lao-ts^ einmal diess Thun, zugleich 
aber auch das Nicht-Thun des heiligen Menschen preist, so 
muss er nothwendig einen Unterschied machen zwischen Thun 
und Thun. Das eine ist ihm ein Thun, das seyn soll, das 
andre ein Thun, das nicht seyn soll. Ist nun das erste das 
reine selbstlose Auswirken der von Tao in das Herz sich 
ergiessenden, inneren Güte, so ist das zweite dasjenige Thun, 
das sich selber Weiss und will, das sein Subject zum Zweck 
hat, das gethan wird, um demnächst Unterlage der Persön- 
lichkeit zu seyn und ihr Genuss, Ehre, Verdienst zu ver- 
schaffen. Und diess absichtsvolle und als solches bewusste 
Thun verneinen, das ist das Nicht-Thun, das ivu wei. Es 



LXI 

hat die grösste Aehnlichkeit mit dem jj-t] ip^aCofiat des Apo- 
stek (Rom. 4, 5, das Luther durch »nicht mit Werken um- 
gehen« verdeutscht. 

Man könnte es auch so ausdrücken : Nicht auf dem Thun, 
sondern auf dem Seyn beruht der sittliche Werth des Men- 
schen, sowol in Betracht seiner selbst, als in Rücksicht sei- 
nes Wirkens auf Andere. Denn das Seyn macht das Thun 
gut, nicht das Thun das Seyn. Je höheren sittlichen Werth 
der Mensch hat, desto geringeren Werth legt er auf das, 
was er thut oder gethan hat, desto entfernter ist er von 
Werkheiligkeit. So wirkt er auf Andere anregend und ver- 
edelnd auch nicht durch sein Thun als solches, sondern 
durch sein Seyn, auch nicht durch sein Reden als solches, 
sondern durch seinen Wandel, welcher offenbart, was er ist. 

Im politischen Gebiete nun, sofern der »heilige Mensch« 
ein Regierender ist, kann diess Verhältniss nicht ein anderes 
werden als auf allgemein sittlichem Gebiete, es treten nur 
andre Beziehungen hinzu. Auch da wird der heilige Mann 
in grossem und grösstem Maassstabe jenes selbstlose, täöähn- 
liche Thun beweisen, durch das er zugleich ein Segen und 
ein Vorbild des Volkes wird. Lao-ts^ hat einen unüberwind- 
lichen und vollkommen berechtigten Glauben an die seelen- 
bezwingende Macht der reinen, in Gott gegründeten Sittlich- 
keit, wenn sie wahrhaft ins Seyn und in die Erscheinung 
tritt ; sie ist das (seynsollende^ Thun, welches das inichtseyn- 
soUende] Thun verneint, wei zuu wei. Sie wirkt nicht durch 
Gewalt und Zwang, nicht durch Gebot und Verbot, welche 
durch das mtitnur in vctitimi die Zustände nur verschlimmern ; 
sie wirkt frei auf Freie, — auch darin Tao ähnlich, — und 
daher tritt durch ihre wahre An- und Einwirkung das Volk 
von selbst zu ihr hinüber, wandelt sich um oder bekehrt sich 
von selbst. Uns will bedünken, diess Vertrauen auf die welt- 
umbildende Kraft gottinntger reiner selbstloser Sittlichkeit sey 
durchaus begründet und ganz im Sinne des Evangeliums. 

Einem Könige in diesem Geiste wird aber nichts ferner 
seyn, als jene beängstigende Vielregiererei, als jener unruhige 



LXII =- 

Thatendurst in Krieg oder Frieden, wodurch die freie Selbst- 
entwicklung des Volkes zu Sittlichkeit und Wolstand nur ge- 
stört und gehemmt wird. In diesen Beziehungen ist sein 
Nicht-Thun daher reines Ruhen, tsvig tsing^ unter welchem 
die richtigen und rechten Zustände im Volke von selbst sich 
herzustellen vermögen. 

Das ist die Lehre Lao-ts^'s vom »Nicht-Thuna in ihrem 
Zusammenhange . 

§. 22. 

Der treffliche W. Schott bemerkt in seiner »Beschrei- 
bung der chinesischen Literatur«, Laö-ts^ s Geisteswerk müsse 
durch ältere Denker vorbereitet worden seyn. Das ist so 
gewiss, wie ohne vorausgehende Denker auch ein Pythagoras, 
Heraklit, Sokrates nicht geworden wären, was sie waren. 
Auch wäre, fügen wir hinzu, La6-ts^ erst aus dem Zusam- 
menhange mit jenen Vorgängern richtig zu begreifen. 

Mag ihm der theologische und ethische Lehrgehalt aus 
einer längst vorhandenen reineren Taö-Gemeindc überkom- 
men seyn — denn zu jenem hat die Berührung mit dem, 
Ebraismus, auch wenn sie stattgefunden, nichts hinzugethan — , 
so muss doch das gedankliche Durcharbeiten solches Stoffes, 
so müssen die metaphysischen Anschauungen, in die wir ihn 
eingetaucht finden, doch ihre Vorgeschichte haben. 

Darf man dahin das räthselhafte Ji king rechnen? Sein 
eigentlicher Worttext stammt schon aus dem Ende des 12. 
Jahrh. v. Chr. , wurde von Khüng-ts6 * höchlich geschätzt, 
sogar commentirt, und war unzweifelhaft auch Lao-ts^ be- 
kannt. Vielleicht enthält es die Anfange denkenden Besin- 
nens über Moral, Lebensklugheit, Politik in seinen dunkeln 
Sprüchen, die sich indess auf höhere Grundfragen nie ein- 
lassen und mit La6-tsi^'s Gedanken nichts gemein haben. 
Bei ihm finden wir nicht die entfernteste Anspielung darauf. 

Es ist Grund zu vermuthen, dass sich, unter Anschluss 



—. — Lxin 

an die dem Ji king zum Ausgange dienende dyadische Zeichen- 
combination, in den nachfolgenden Jahrhunderten eine Natur- 
philosophie ausgebildet habe, deren Ergebnisse hernach in die 
allgemeine Weltanschauung übergegangen sind. Hierfür spricht 
nicht bloss die geschichtliche Analogie, sondern noch mehr/ 
dass wir bei Khüng-tse und auch bei Lao-tse (Kap. 42) 
gewisse naturphilosophische Kunstwörter so gebraucht finden, 
als verstehe es sich von selbst, dass Jedermann sie kenne, 
während die Entwicklung der durch sie bezeichneten Begriffe 
schon die Geistesarbeit von Generationen voraussetzt, und 
erst weitere Generationen sie zu Gemeingut machen konnten. 

Von namhaften Denkern aus Laö-ts^ 's Vorzeit ist uns 
nichts überliefert, und hat man die von M^ng-ts^ viel bekämpf- 
ten Philosophen Jäng-tschü und MS-ti zu Zeitgenossen unsres 
Altmeisters machen wollen, so hat man geirrt. Sie lebten 
später und wahrscheinlich zu Lie-tse's Zeit, d. h. im 5. Jahrh. 
'und nach Khüng-ts^. 

Schrieb La6-ts^ sein Tao tS king aber erst im hohen 
Greisenalter, so wird auf dessen Inhalt die Lehre Khüng-tse s 
nicht ganz ohne Einfluss geblieben seyn. Nicht, als hätte 
dieser ihm etWcis geben können, das jener nicht schon hatte; 
aber gerade das Abweichende, ja Entgegengesetzte seiner 
Denkweise , indem er sich auf eine Moral stützte, die selbst 
jeder transscendenten Stütze entbehrte, und alle Speculatioh 
über die letzten Gründe der Dinge sich vom Leibe hielt, 
gerade diegs musste La6-ts^ zu Betrachtungen und Ergän- 
zungen treiben, die nur ein solcher Anstoss hervorrufen 
konnte. Dahin glauben wir z. B. seine Verwerfung einer 
Moral (Menschenliebe und Gerechtigkeit) , die sich nicht auf 
Ta6 gründen will, auch seine Geringschätzung der blossen 
Anstandsgebräuche rechnen zu müssen. 

Unter den nachfolgenden Denkern schlössen sich seiner 
Richtung Lig-ts^, Han-fei-ts^, Tschuäng-ts^ und Hö-kuän- 
ts^ an. Es ist indess nicht Absicht, in- diesen Betrachtungen 
über die Zelt unseres Philosophen hinauszugehen. 



\ 



LXIV 



§• 23. 

In dem Jahrhunderte, da in China La6-ts^ und Khüng- 
ts^ lebten, ging eine wundersame Geistesbewegung durch 
alle Culturvölker. In Israel weissagten Jeremia, Habakkuk, 
Daniel, Ezechiel, und von einem erneuerten Geschlechte 
wurde 1521 — 516, der zweite Tempel in Jerusalem erbaut. 
Bei den Griechen lebte Thaies noch: Anaximander, Pytha- 
goras, Heraklit, Xenophanes traten auf, Parmenides wurde 
geboren. Unter den Persern scheint eine bedeutende Refor- 
mation der alten Lehre Zarathustra's durchgeführt zu seyn. 
Und in Indien trat Schakia-Muni hervor, der Stifter des 
Buddhismus. Diese Erscheinung, der es nicht an Parallelen 
in der Geschichte fehlt und die auf sehr geheimnissvolle Ge- 
setze schliessen lässt, dürfte einerseits zwar ihre Begründung 
in dem Gesammtorganismus der Menschheit vermöge ihres 
einheitlichen Ursprungs finden, anderseits aber das Einwirken* 
einer höheren geistigen Potenz ebenso voraussetzen, wie der 
Blüthentrieb der Natur doch nur durch den belebenden Strahl 
der wiederkehrenden Sonne zur Entfaltung seiner Herrlichkeit 
kommt. 

Ohne uns in diese schwierigen Fragen einzulassen, er- 
innern wir nur, dass unter allen so eben genannten Männern 
doch allein Schakia-Muni wirklicher Religionsstifter wurde. 
Wie könnte man Khüng-tse dafiir erklären? Trotz des un- 
gemeinen Erfolgs, den er im Reiche der Mitte gefunden, 
kann man ihn nur einen Reformator, ja fast' nur einen 
Deformator der Lehre nennen, deren Reste er im Schü und 
Schi nur gerade nicht ausgetilgt hat. Jeder Vertiefung in 
das Göttliche und Jenseitige abgeneigt, hat er dem auch in 
seiner Lehre keine Stätte gegönnt. 

So verschieden hierin La6-ts^ von ihm ist, so nach- 
drücklich dieser das göttliche Grundwesen und die innige 
Beziehung des Menschen auf dasselbe in den Vordergrund 
stellt, so würde doch auch er höchstens als Reformator des 
alten Taö- Glaubens gelten können, wenn er» es überhaupt 



LXV 

auf Ausbreitung seiner Lehre, auf Stiftung einer Schule an- 
gelegt hätte. Davon findet sich keine Spur. Nicht einmal 
Schüler hatte er. »Er war ein verborgener Weiser«. Li6-tse 
um 3g8 und Tschuäng-tse um 350 wissen von seiner Person, 
seinem Buche, aber von keiner Lebensgestaltung und Lehr- 
tradition von ihm im Volke. Die Ta6-ssö, grösstentheils 
wol zu seiner Zeit schon verkommen, haben sein Buch sich 
späterhin angeeignet, ohne es zu verstehn , geschweige zu 
befolgen. Auch wird er in der chinesischen Literatur nur an 
die Spitze der zehn alten Philosophen [seht ist] gestellt, unter 
denen fünf zu den Schriftgelehrten oder Anhängern Khüng- 
ts^'s gehören. Und so haben wir ihn denn auch nur als 
Denker, als Philosoph, als Schriftsteller aufzufassen. Von 
seiner Lehre wäre zwar zu wünschen, dass sie in ihrer Heimath 
Ausbreitung, reines Verständniss und praktische Folge ge- 
funden hätte; er selbst aber hat ihr dieses Schicksal eben- 
sowenig verheissen, als es ihr geworden ist. 

k • • 

§. 24. 

Seit den ältesten Zeiten hat der forschende Gedanke nie 
geruht. In tiefen und genialen Geistern hat er Schätze herauf- 
gefbrdert, von denen ganze Folgen von Geschlechtern gelebt 
haben. Lange ist ihm dabei sein eignes Verfahren verborgen 
geblieben, und man kann wol sagen, zu seinem Glück. Denn 
ächte Productivität ist eng mit dem Geheimniss verschwistert, 
sie bedarf die dunkle Hülle der Unbewusstheit Wer beim 
rechten gefetigen Hervorbringen auf sich selbst zu reflectiren, 
sein eignes inneres Verfahren zu beobachten versucht, wird 
sich sofort unproductiv ftihlen. 

Gleichwol war es ein gewaltiger, vielentscheidender Fort- 
schritt, als die Griechen das Verfahren des Gedankens zum 
Gegenstande der Forschung machten, seine Lebens- und 
Kunstgesetze entdeckten*, und so Logik, Dialektik, Methode 
und Systematik begründeten. Entdeckten sagten wir; denn 
jene Gesetz^sind keine Erfindungen, und es wäre ein Irrthum, 
zu glauben, das, was man nunmehr erkannt habe, mangele 



LXVI 

einem Denker, wenn es in der Gestaltung seiner Äusserungen 
keinen Abdruck gefunden, wenn man sogar bemerkt, dass er 
sich dessen nicht einmal bewusst sey. 

Es ist ein alter Streit, ob der Gedanke das Wort, oder 
ob das Wort den Gedanken erzeuge. Gewiss ist, dass der 
Gedanke, unabgelöst vom Ich und in dieses aufgehend, längst 
vorhanden und wirksam seyn kann, bevor er als ein vom Ich 
zu Unterscheidendes und Unterschiedenes ins Bewusstseyn 
tritt. Und diess kann nicht geschehen, ehe er in ein be- 
stimmtes Wort gefasst ist, was aber gleichfalls noch unbewusst 
zu Stande kommt und die Arbeit ganzer Generationen ist. 
Erst weniji und sofern diese voUepdet ist, vermag das Be- 
wusstseyn den Gedanken im Worte von sich abzulösen und 
ihn an sich als ein Objectives zu betrachten, also sich des- 
selben bewusst zu werden. So hatte der harmonisch ge- 
staltende Geist der Griechen in dem bewundernswürdigen 
Organismus seiner Sprache alle Formen eines wolgeordneten 
Denkens bereits niedergelegt, und als er sich des letzteren 
forschend zu bemächtigen trachtete, fand er in der Sprache 
seinen gesammten Stoff schon zubereitet. 

Hierin liess die chinesische Sprache die alten Denker fest 
ganz im Stich. Die gegenseitigen Beziehungen der Begriffe, 
worauf es dabei vornehmlich ankommt, hatten nur sehr un- 
zulänglichen Ausdruck gefunden, beruhten ursprünglich nur 
auf ihrer Stellung im Satze und hatten sehr enge Gränzen. 
Die Logik des Denkens projicirte sich nicht in scharfbestimmten 
Wortformen, seine Organik konnte sich nicht in rdchen viel- 
gestaltigen Perioden ausprägen. So fehlte dem Bewusstseyn 
die unerlässliche Vermittlung, und jene formalen Discipliaen 
der Philosophie blieben unentwickelt. 

Auch das Taö tS king zeigt nichts von der Kunst klarer 
dialektischer Entfaltung und systematischer Gliederung. Die 
Darstellung ist abrupt, die Übergänge sind unvermittelt, 
scheinbar Fremdartiges rückt dicht neben einander; es ist wie 
ein Stück Urwald, wie die ungeordnete Natur — aber der 

■ 

Natur auch darin ähnlich, dass hinter der anscheinenden 



Lxvn 

Unordnung ein grossartiger, tiefgeordneter Organismus ver- 
bolzen ist, in welchem überall das Gesetz des Einzelnen unter 
dem Gesetze des Ganzen steht. Das Buch hat kein System, 
aber von Blatt zu Blatt zeigt es, dass sein Verfasser ein tief- 
durchdachtes, in allen Theilen gliedlich zusammenbangendes 
und rein abgerundetes System hatte. 

Dieses hier zu entwickeln ist weder Absicht noch Auf- 
gabe. Möchte sich der geeignete Mann finden, der für 
La6-ts^ thäte, was Adolph Lasson für Meister Eckhart ge- 
than hat und Franz Hoffmann für Baader thun könnte und 
sollte. Unser Altmeister hat Samenkörner tiefster Speculation, 
die noch immer fruchtbar werden könnten fiir eine Zeit, 
deren zunehmendes Herabsinken in seichten Empirismus und 
Materialismus nur schlecht verhüllt wird durch den eitlen 
Selbstruhm rapiden Fortschreitens in Dingen, die weder Geist 
noch Gemüth zu veredeln und zu bereichern im Stande sind. — 

Ist das Ta6 t^ klng nun auch unsystematisch, so ist es 
doch keineswegs planlos. Sein Inhalt ist erstens Metaphysik 
und Theologie in jener Einheit, worin die theosophische 
Speculation sie erfasst, zweitens Ethik, drittens Politik. Auf 
diese drei Stücke vertheilen sich, wie ankündigend, die drei 
ersten Kapitel. Dann ist der Hauptinhalt von Kap. 4 bis 
Kap. 37 metaphysisch- theologisch; von Kap. 38 bis Kap. 52 
ethisch, von Kap. 53 bis 80 politisch, worauf dann Kap. 81 
einen allgemeinen Abschluss enthält. 

Mit Bedacht aber sprachen wir nur von dem Haupt- 
inhalt. Eine so strenge Sonderung des Stoffes, wie wir sie 
gewohnt sind, findet sich nicht, und in jedem jener drei 
Theile kommen wiederholt Partien vor, die wir nach unsrer 
Weise die Dinge zu ordnen in die beiden andern Theile 
verweisen würden. Doch auch das ist weder zufallig noch 
willkürlich. Gerade der innige oi^nische Zusammenhang, 
womach aus dem religiösen Bewusstseyn das ethische Ver- 
halten und aus beiden das politische hervorwächst, drängt 
Laö-ts^, von dem jedesmaligen Hauptgegenstande immer 
wieder, auch im Fortschritt der Rede, auf die beiden anderen 

e* 



— LXVIII 

hinzuweisen, und da er bei diesem Verfahren nicht zugleich 
den ganzen Gang seiner Gedankenarbeit vorlegt, dessen Werth 
ihm noch unbekannt war, sondern nur die Resultate, gedrängt, 
schlagend, oft in paradoxen Wendungen, ausspricht, so hat 
man sich zu dem Glauben verleiten lassen, er reihe ohne Plan 
nur locker verbundene vereinzelte Sprüche aneinander. Aller- 
dings erscheinen auf den ersten Blick seine Kapitel und selbst 
Theile derselben oft wie unverbunden nebeneinander hervor- 
tretende Alpengipfel, die nur von oben her dasselbe himmlische 
Licht anglüht ; wer aber zu ihren Tiefen herabsteigt, der wird 
auch ihren Zusammenhang finden und den gewaltigen Gebirgs- 
stock erkennen, der sie zu einer Einheit verbindet. 

« 

S- 25. 

Der herkömmliche Titel bezeichnet das Buch als ein King. 
»Es ist diess,« sagt A. R^musat,. »eine Huldigung, die man dem 
Alter des Buchs, seiner Ächtheit, der guten Lehre , die man 
darin enthalten glaubt, und der tiefen Weisheit seines Verfas- 
sers erweist«. 

King bedeutet eigentlich den Aufzug, die Kette eines Ge- 
webes, davon das gleichmässig Fortlaufende, Grundgesetzliche, 
Normale; auf Bücher angewendet, bezeichnet es die, welche 
entweder im Allgemeinen oder für einen bestimmten Gegen- 
stand als kanonisch, als unbedingt maassgebend angesehen wer- 
den. — Eine verwandte Wortübertragung vom Gewebe auf die 
Schrift ist das lateinische texfus f. von texere, — 

Woher nun aber der Titel Taö tS king entstanden , dar- 
über ist man nicht einig. Etliche . meinen , man habe auf die 
beiden Theile [phiäti\ des Buchs die alte Sitte angewendet, die 
Abschnitte nach einem der Anfangsworte zu benennen, da- 
her den ersten Theil Taö king, den zweiten TS king genannt, 
hernach aber beides in Ta6 te king zusammengezogen. Andre 
sind der Ansicht, man habe, ohne Rücksicht auf die zwei Theile, 
das ganze Buch gerade wegen seines Inhalts so geheissen, da 
ja auch Sse-mä-thsiän schon sage, es handle von Taö und der 



LXIX 

Tugend [te, . Wie dem auch sey, man hätte einen schicklicheren 
Titel nicht leicht finden können. Denn nach Laö-ts^ ist die 
Grundlage für die Erkenntniss und das Verhalten der Menschen 
Taö, und das durch dieses Prinzip bestimmte ethische und 
ethisch-politische Verhalten. Tugend, te; auch ist Ta6, wie 
im vorigen Paragraphen bemerkt wurde, Hauptinhalt des ersten, 
die Tugend Hauptinhalt des zweiten Theils, und es dürfte nicht 
zufällig seyn, dass diese beiden Ausdrücke jedesmal an der 
Spitze stehen. 

Die Eintheilung in 8i. Kapitel ist sehr alt und entspricht 
fast überall dem Inhalt derselben und seiner jedesmaligen Ab- 
rundung, so dass man geneigt sein möchte, sie für ursprünglich 
zu halten; obgleich sie dann wol von Sse-mä-thsiän, der 
doch sogar die Wörterzahl angiebt, erwähnt wäre. Stan. Julien 
berichtet, dass zwei Herausgeber eine andre Kapiteltheilung 
versucht, zwei andre dieselbe ganz entfernt hätten. Wir müs- 
sen ihm darin beistimmen, dass die Theilung in 8 1 . Kapitel die 
rationellste sey; 

Aus seinen Mittheilungen sieht man, wie chinesische Kri- 
tiker bereits erinnert haben, dass die Angabe des Geschichts- 
schreibers über die Wörterzahl, wiewol sie nur annähernd seyn 
will, doch manche Herausgeber verleitet hat, durch Ausschei- 
dung solcher Partikeln, die nur zur Erleichterung des Verständ- 
nisses und zur Abrundung. des. Satzbaues dienen, die Zahl der 
Wortzeichen möglichst auf fünftausend herabzumindern. Da- 
durch ist der Text hier und da schwankend und die Erklärung 
erschwert worden. Es finden sich auch sonst noch manche 
verschiedene Lesarten, wie das bei einer Schrift aus so hohem 
Alterthum nicht anders zu erwarten ist. Diese Varianten sind 
sorgfältig gesammelt und in Verzeichnisse gebracht worden. 
Wir haben sie überall genau geprüft , bei den wichtigeren 
hiervon auch Rechenschaft abgelegt, dabei aber die Über- 
zeugung gewonnen, dass der allgemeine Lehrgehalt des Buches 
durch keine derselben alterirt wird. Mit wenigen Ausnahmen 
findet sich in Stanislas Juliens Ausgabe der beste Text. 



LXX 



S- 26. 

Ist im Übrigen nun aber das jetzige Taö te king auch das- 
selbe Buch, das Laö-ts^ im sechsten Jahrhundert v. Chr. ge- 
schrieben hat? Im Vorigen haben wir diess angenommen, in 
China gilt es für zweifellos. Allein die chinesische Kritik ist 
ihrem Alterthum gegenüber nie sehr scrupulös gewesen, und 
wer wollte es dem europäischen Gelehrten verargen, die Acht- 
heit eines Buchs zu bezweifeln, das aus so frühen Zeiten stam- 
men soll und Speculationen enthält, die in grössere Tiefen 
dringen, als alles Denken der gebildetsten Völker der Westwelt 
in der vorchristlichen Ära? Es kommt hinzu, dass etwa 300 
Jahre nach Lao-tse's Tode gerade der werthvollste Theil der 
älteren chinesischen Literatur in die grösste Gefahr gerieth gänz- 
lich vernichtet zu werden ; eine Gefahr, der^manches Vorzüg- 
liche wirklich erlegen ist, und über die wir nunmehr einiges 
Nähere sagen müssen. 

Der edle Stamm der Tscheu, der während 873 Jahren dem 
Reiche fiinfunddreissig Kaiser gegeben, wurde um die Mitte des 
dritten Jahrh. v. Chr. durch den übermächtig gewordenen Kö- 
nig von Thsin aus der Herrschaft verdrängt. Drei Jahre darauf» 
246 V. Chr., folgte dem Usurpator sein Adoptivsohn, der Thsin 
Schi-hoäng-ti, erst dreizehnjährig. Geistig begabt, kräftig und 
raschen Entschlusses, tapfer und voll grosser Pläne, dabei aber- 
gläubisch, unruhig, rachsüchtig und jähzornig, eroberungs- 
süchtig und herrschbegierig, rastete er nicht eher, als bis er 
durch Gewalt und Verrath sämmtliche bisherige Reichsfiirsten 
verjagt oder umgebracht und ihre Lande zu Provinzen eines 
einzigen centralisirtcn Staates gemacht hatte. In seinem zwei- 
unddreissigsten Jahre hatte er diess Ziel erreicht. Bald darauf 
Hess er die berühmte grosse Mauer gegen die Einfälle der Ta- 
taren bauen. 

Die vielgestaltige feudalistische Gliederung des Reichs war 
zerstört, der Autokrat regierte nur noch durch besoldete Be- 
amte, von denen er unbedingten Gehorsam forderte. Aber diese 
Beamten selbst lebten zumeist noch in den politischen Grund- 



LXXI 

Sätzen und Anschauungen der Vorzeit, wie die klassische Lite- 
ratur sie aufbewahrte und vertrat. Der Gegensatz dieser Partei, 
die dem Kaiser längst unbequem geworden, mit der modern- 
cäsaristischen , kam bei einem grossen Hoffeste im Jahre 2 1 2 
zur offnen Aussprache. Der Oberbefehlshaber der Bogen- 
schützen empfing den Kaiser mit einem Lobpreis seiner Thaten 
und der durch sie für alle Geschlechtsfolgcn herbeigeführten 
glücklichen Zustände, ihn über alle Herrscher der Vorzeit er- 
hebend. Schün-jü-jue, ein angesehener Gelehrter, bezüchtigte 
ihn freimüthig der Schmeichelei und tadelte den Kaiser, dass 
er nicht nach dem Beispiele der früheren Dynastien seine Söhne, 
jüngeren Brüder und verdienten Minister mit Lehnsherrschaflen 
und selbstständigen Ämtern ausstatte, da sich nur auf ein solches 
Verfahren ein dauerndes Regiment gründen lasse, und es un- 
erhört sey, dass ein Zustand lange bcstehn könne, der nicht 
nach den Lehren des Alterthums gestaltet sey. 

Der Kaiser verlangte die Meinung der Übrigen zu hören 
und sein erster Minister L\-sse nahm das Wort. Auch die 
Gründer der früheren Dynastien, sagte er, hätten nicht bloss 
einander nachgeahmt und könnten für ganz andre Zeiten 
und Zustände keine Muster seyn. Jetzt gelte und entscheide 
überall die höchste Autorität, und deshalb seyen auch die 
Gelehrten, die nur das Alterthum studirten, überflüssig; ja, 
sie seien schädlich, weil sie sich nicht scheueten, die Maass- 
nahmen und Gesetze des Kaisers zu beurtheilen, zu tadeln, 
und dadurch das Volk unzufrieden zu machen. Solle die 
kaiserliche Autorität nicht leiden, so müsse dem entgegen- 
getreten werden. Er könne daher nur rathen, eine allge- 
meine Verbrennung aller Bücher zu befehlen, mit alleiniger 
Ausnahme der Geschichte von Thsin sowie der Schriften 
über Medicin, Weissagungen und Hauswirthschaft ; Alle mit 
dem Tode zu bestrafen, die fortan noch über das Schü und 
das Schi reden oder der Vergangenheit erwähnen würden 
um die Gegenwart zu tadeln ; mit gleicher Strafe die Beamten 
zu bedrohen, welche die Übertretung dieses Befehls nicht 
vorschriftsmässig ahnden würden; endlich Jeden, der seine 



LXXII 

Bücher nicht dreissig Tage nach Erlass des Befehls ver- 
brannt haben würde, gebrandmarkt auf vier Jahre zur 
Zwangsarbeit nach der grossen Mauer zu schicken. 

»Genehmigt!« war die sofortige Entscheidung des Selbst- 
herrschers. Erlassung und Ausführung des Befehls folgten 
ohne Aufenthalt und man verfuhr mit aller Strenge. Drei 
Monate lang loderten die Feuer an allen Orten, und eine 
ungeheure Menge Abschriften der älteren Bücher, die mit 
Griffeln in Holztäfelchen, Rohr- und Palmblätter geritzt wa- 
ren, ging in Flammen auf. Im folgenden Jahre wurden 460 
Gelehrte, welche gegen das Verbot gehandelt hatten, leben- 
dig begraben. Wer nur verdächtig war, wurde degradirt 
und verbannt. Selbst des Kaisers Erstgeborner, der sich 
gegen die Maassregel erklärte, ward vom Hofe verwiesen und 
musste den Bau der grossen Mauer beaufsichtigen helfen. 

Schi-hoäng-tf starb im Jahre 209, seine unfähigen Nach- 
folger gingen schmählich unter, und es folgten mehre Jahre 
blutiger Gräuel und wilder Verwirrung , bis im Jahre 201 die 
Dynastie der Hän zur Regierung kam, die sich alsbald die 
grössten Verdienste um die Wiederauffindung und Wieder- 
herstellung der alten Literatur erwarb. 

S- 27. 

Wir haben dieser Katastrophe so ausführlich gedacht, 
um dem Vorwurfe zu entgehen, dass wir sie unterschätzt 
hätten. In Betreff der beiden vornehmlich verfolgten Bücher, 
des Schü und des Schi, war sie so erfolgreich, dass beide 
nur mit grosser Mühe aus mündlicher Überlieferung wieder- 
hergestellt werden konnten. Ein späterhin aufgefundenes 
altes Exemplar des Schü zeigte jedoch, wie unbedeutend die 
Abweichungen des so wiedergewonnenen Textes vom ur- 
sprünglichen waren. Aber manch unersetzliche Urkunde 
der Vorzeit mögen die Flammen dahingerafft haben. 

Sollte diess nun nicht auch dem ursprünglichen Texte 
des Taö te king widerfahren seyn? Sollte das unter diesem 



LXXIII 

Namen uns jetzt vorliegende Buch nicht eine spätere, unter- 
geschobene Composition seyn? 

Dagegen spricht Alles. 

Zuvörderst dürfte schon die hohe Genialität und Eigen- 
thümlichkeit des Ganzen , sowie der alterthümliche Styl für 
die Ächtheit zeugen. Wer in späterer Zeit ein solches Buch 
hätte abfassen können, wäre Manns genug gewesen, im eig- 
nen Namen aufzutreten, hätte es keinem Andern unterge- 
schoben, und müsste sonst noch Spuren seines Daseyns hin- 
terlassen haben. 

Sodann aber fehlt auch jede Tradition, dass das Taö 
te king in jener Krisis untergegangen sey und der Wieder- 
aufsuchung oder Wiederherstellung bedurft habe, wie das 
von andern Büchern berichtet wird und von einem Buche, 
das den immerhin zahlreichen Taö-sse als kanonisches galt, 
gewiss berichtet worden wäre. 

Drittens wissen wir nicht nur, dass die Verfolgung aus- 
schliesslich den Schulgelehrten, den Anhängern Khüng-ts^'s, 
und den von ihnen gehegten Schriften galt ; wir wissen auch, 
dass Schi-hoang-ti den Ta6-ss^ besonders geneigt war, die 
.schon damals Wahrsagung, Zauberei, Astrologie und Al- 
chemie trieben, dadurch die Gunst des abergläubischen Kai- 
sers gewonnen hatten und ihm sogar den Unsterblichkeits- 
trank bereiten sollten. Es ist schwer zu denken, dass er 
gerade ihnen habe entreissen wollen, worauf sie für ihr Wis- 
sen den grössten Werth legten und was sie leicht als ein 
Buch über Weissagungen bezeichnen konnten, das von der 
Verbrennung ausgenommen wäre. 

Freilich standen La6-tse*s politische Lehren mit den An- 
sichten und dem Verfahren des Kaisers in so schneidendem 
Widerspruch, dass die Verurtheilung des Taö t6 king we- 
nigstens nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Nehmen wir 
sie aber auch an, so zeigt Viertens die grosse Zahl der 
Lebendigbegrabenen, wie viele derer waren, die das kaiser- 
liche Gebot zu umgehen suchten. Es ist vorauszusetzen, 
dass durchaus nicht Alle, welche die in ihrem Besitz befind- 



LXXIV 

liehen Bücher zu retten suchten, aufgefunden und ergriffen 
wurden, und dass es Manchen gelang, dieselben einstweilen 
an geheimen Plätzen zu bergen. 

Dann aber zum Fünften währte die Zeit der Verfolgung 
nur wenig über drei Jahre, denn schon 20g starb Schl-hoang- 
tf, seine Nachfolger hatten andre Dinge zu thun, als sich um 
Bücher zu kümmern, und die 201 zum Kaiserthum gelangte 
Hän-Dynastie suchte bald das noch Gerettete zu sammeln 
und zu erhalten. Zuverlässigen Nachrichten zufolge fand 
man bloss an taöistischen Werken noch 993 Bände von 37 
verschiedenen Verfassern. 

Dass unter diesen das ächte Tao te king gewesen, zei- 
gen Sechstens verschiedene genau stimmende Citate aus 
ihm, die wir in den ebenfalls geretteten Werken alter Tao- 
Philosophen finden. So bei Lie-tse, der um 398 v. Chr., 
bei Tschuäng-tse, der etwa um 350 schrieb; und wenn Hän- 
fei-ts^ nicht (nach Julien) um 397, sondern (nach Schott, der 
sich auf Mä-tuän-lin stützt) , unter Schi-hoang-ti selbst ge- 
lebt hat, so beweisen seine mehrfachen Anfuhrungen aus un- 
serm Tao te k!ng um so mehr für dessen Ächtheit. 

Hat nun Siebentens H6-schäng-küng seinen Commen- 
tar über das Buch schon im Jahre 163 v. Chr., also 49 Jahre 
nach der Bücherverbrennung vollendet, so ist doch wol nicht 
daran zu denken, dass ihm ein erst so eben verfertigtes Mach- 
werk untergeschoben sey. 

Zum Achten endlich lebte Sse-mä-thsän jener Begeben- 
heit noch nahe genug, um wissen zu können, ob sie das 
ächte Tao te kIng verschlungen habe. Er weiss nichts da- 
von, während seine Beschreibung des Buchs zeigt, dass ihm 
das noch vorhandene vorlag, und er äusserte nicht den ge- 
ringsten Zweifel, dass es das von Laö-tse geschriebene sey. 

Unter Erwägung all dieser Gründe ist dann wol als gewiss 
anzunehmen, dass die Schrift unsres Denkers die Bücher- 
verbrennung ungefährdet überstanden habe und im Gan- 
zen acht sey. 



LXXV 

S- 28. 

Haben wir nun aber den reinen Text des Verfassers? 
Sind ihm nicht früher oder später fremdartige Bestandtheile 
eingeschwärzt worden? Es finden sich so ausserordentliche 
Dinge darin, Einzelnes scheint so bedenklich, dass aller- 
dings dei^leichen Einfügungen schon vermuthet worden sind. 
Man erinnert sich ähnlicher Vorkommnisse. So hat man 
fiast ein Jahrhundert lang die interpolirten Briefe des heil. 
Ignatius von Antiochien für zuverlässig gehalten, bis Isaak 
Vossius und Ruinaert die ächten Texte auffanden. Könnte 
so nicht auch das Taö te king interpolirt sein? 

Jedenfalls hätte diess schon vor H6-schäng-küng, dessen 
Commentar unsern Text Satz für Satz begleitet, also 163 
V. Chr. geschehn seyn müssen, und wer hätte bis dahin 
eine solche Verfälschung vornehmen sollen oder können? 
Die schon genannten Taö-Philosophen doch sicherlich nicht, 
denn ihnen ist Laö-ts^ eine hochverehrte Autorität, und es 
ist eher vorauszusetzen , dass sie über die Reinhaltung seines 
Buchs gewacht haben. Von Buddhisten kann nicht die Rede 
seyn, da sie erst nach dieser Zeit in China aufkamen und 
das Taö te king nichts enthält, was ihren Lehren entspricht. 
Die Anhänger Ksüng-ts^'s hatten kein Interesse an dem 
Inhalte der Schrift, die ihren Ansichten fast mit jeder Zeile 
widersagt. Es würden also nur die Taö-sse übrigbleiben. 
Rücksichtlich ihrer hat jedoch Abel R^musat schon das 
Richtige bemerkt. 

»In dem Zustande, a sagt er, »in welchem wir das Buch 
haben, enthält es keins der Prinzipien, keine der Schwär- 
mereien, mit denen die neueren Taö-ss^ die ihrigen ange- 
füllt. Es enthält andre Prinzipien, andre Schwärmereien (?). 
Die Schulgelehrten übrigens, welche die Taö-ss^ unaufhörlich 
beschuldigen die Lehren des Alterthums entstellt zu haben, 
würden nicht verfehlt haben, ihnen in Betreff des Buchs 
ihres Lehrers denselben Vorwurf zu machen, wenn die Sache 
den mindesten Grund gehabt hätte. Sie haben es nicht ge- 



LXXVI 

than. Sie ehren Laö-ts^; sie achten sein Buch, und glauben 
nur, dass die Sectirer es nicht verstehen oder schlecht aus- 
legen. Ist man einig über einen Text und streitet man über 
die Auslegung ebendesselben Textes, so ist das ein grosser 
Beweis für dessen Authenticität. Dieser zeigt übrigens keinen 
Anachronismus, keine apokryphe Citation, kurz kein Merk- 
mal , welches uns im allermindesten berechtigen könnte zu 
glauben, dass das Werk interpolirt worden sey.« 

Abel Remusat spricht hier zwar von den »neueren« Tao- 
sse; er glaubt ohne Zweifel, wie manche Andre, dass die 
Tao- Gemeinde erst von Laö-tse herstamme, was wir für 
irrig halten müssen. Wäre dem aber auch so, oder hätte 
La6-ts^'s Einwirkung in dem Taö-kia eine Reformation 
zur Folge gehabt, wovon wir indess nichts wissen, so lehrt 
uns die Geschichte des Thsin-Kaisers ScW-hoäng-ti, dass 
die damaligen Tao-sse bereits ganz in die Bahnen der neue- 
ren eingelenkt hatten und deren Prinzipien und Schwärme- 
reien theilten. 

Wir schliessen uns durchaus dem erwähnten Gelehrten 
an, wenn er sagt: »Es giebt kein Buch in China, es giebt 
vielleicht kein philosophisches Werk in irgend einem Lande, 
dessen Alter und Integrität so vollständig unverdächtig wären, 
als die von Laö-ts^'s Buche.« 

S- 29. 

Lao-ts^ selbst hat ausgesprochen, dass seine Lehre nur 
Wenigen zugänglich sey. Wäre die Taö-Genossenschaft, die 
ihn als ihr Haupt betrachtet, auch jemals zahlreich gewesen, 
sie würde seine Lehre nur um so weniger in ihrer Reinheit 
haben fassen und erhalten können, und die wirkliche Ein- 
führung und Durchfuhrung derselben wäre g^en alle Einrich- 
tungen und Überlieferungen .des alten Mittelreiches gewesen. 
Khüng-ts^'s Lehre, diesen sich anschliessend, ja sie nach 
ihrer weltlichen, sittlich-politischen Seite in sich aufnehmend, 
gelangte ebendeshalb in wenigen Jahrhunderten zur allge- 
meinen Anerkennung und blieb als Grundlage aller Bildung 



LXXVII 



und Gesittung auch dann noch in unbedingtem Ansehen, 
als der Buddhismus, von Indien herüberdringend, nach und 
nach den grössten Theil der chinesischen Bevölkerungen an 
sich nahm. 

Den Gelehrten aller drei Parteien, zumal den tieferen 
Geistern unter ihnen, stand aber das kleine Taö te king 
immer wie. eine geistige Gewalt gegenüber , mit der sie sich 
abzufinden hatten. Es tritt so nahe an, ja zum Theil in 
die Wahrheit, deren ewiges Postulat jedes Menschenherz 
einschliesst , dass sie, angezogen, mit ihm ringen mussten. 
Hierausging, von H6-schäng-küng an, eine Reihe von Com- 
mentaren hervor, deren ein chinesischer Erklärer vom Jahre 
1588 nicht weniger als 64 aufzählt. Unter diesen Commen- 
tatoren sind drei Kaiser, zwei aus dem sechsten und einer 
aus dem achten Jahrhundert, zwanzig Ta^-ss^, sieben Bud- 
dhisten und vierunddreissig Schulgelehrte! Die Namen der Kai- 
ser, der Taö-ss^ und der Buddhisten hat Stan. Julien verzeich- 
net. Wir wiederholen sie nicht, da sie uns nur leere Klänge 
sein würden. 

. Es ist erklärlich , dass diese Ausleger fast immer die 
Lehrmeinungen ihrer Partei theils im Taö t€ kIng wieder- 
finden, theils mit ihm in Übereinstimmung bringen wollen. 
Julien erwähnt diess namentlich von den Schulgelehrteri, 
»welche. La6-tsÄ beharrlich nach den eigenthümlichen Ideen 
der Schule Khüng-ts^'s auslegen, auf die Gefahr hin, den 
Gedanken unsers Autors zu entstellen, und mit dem sicht- 
baren Bestreben, sein philosophisches System zu unterdrücken«. 
Feiner und gefahrlicher, weil »die tiefsten und beredtsten«, 
sind die buddhistischen Auslegungen und Einlegungen. Auch 
den taöistischen fehlt es nicht an Entstellungen und Wunder- 
lichkeiten , wie eine uns vorliegende Erklärung von dem 
Pseudonymus Schün-jäng-tschln-sjm (der reine klare Gei— 
stesmensch) vom Jahre 1690 zeigt, und dass es an dei^lei- 
chen, obwohl in geringerem Masse, auch in den besseren 
Commentaren nicht fehlt, kann Jeder in den reichlichen Mit- 
theilungen aus ihnen bei Stan. Julien sehen. 



LXXVIII 



Man kann von diesen Commentatoren Vieles lernen ; un- 
schätzbar für die Worterklärungen ist namentlich H6-schäng- 
küng, auf den die späteren sich meist stützen und den auch 
das Khäng-hi'sche Wörterbuch als Autorität betrachtet; dass 
sie uns aber nicht genügen können, ist leicht begreiflich. 
Keiner von ihnen hat sich in die Höhen und Tiefen des Alt- 
meisters zu finden, Keiner sein System als ein Ganzes zu 
fassen gewusst. Im besten Falle verhalten sie sich etwa wie 
die rabbinischen Erklärungen des alten Testaments, denen 
der eigentliche Schlüssel fehlt. Christliche Weltanschauung 
und Bekanntschaft mit der alten, mittleren und neueren 
Philosophie, insbesondere Verständniss für die theosophische 
Strömung in derselben, muss eine ganz andre Auflassung 
La6-tsfe's herbeiführen. 

S- 30. 

Zum Beschluss dieser Einleitung gestatte man uns noch 
eine allgemeine Betrachtung. 

Soweit unsere Kenntniss des chinesischen Altertiiums 
hinaufreicht, finden wir das religiöse Bewusstseyn in ihm ent- 
schieden monotheistisch. An diesen Monotheismus knüpfte 
Laö-ts^ an, läuterte, vertiefte ihn und entwickelte aus ihm 
die höchsten und edelsten Prinzipien einer treff'lichen Ethik. 
Sein System aber, so gross und schön es ist, war nicht flir 
das Begriffsvermögen der Menge , konnte , wie er es gefasst, 
nie populär werden; es hat so, wie es ist, keine Gemein- 
schaft gestiftet, denn die Taö-ssö sind eher alles Andre, als 
Nachfolger Laö-ts^'s. — In Khüng^tsfe's Lehre ist von Reli- 
gion nichts zu entdecken. Er bedurfte für sie keiner An- 
knüpfung an die Gottheit. Aber geistreich und gewandt, 
wusste er das Beste, das der ältere Volksgeist hervorgebracht, 
durch eine Redaction nach seinem Sinne an seinen Namen 
zu knüpfen, durch das Überlegene seiner Persönlichkeit den 
Menschen zu imponiren, Anhänger zu sammeln und eine Schule 
zu stiften, die sich um so rascher ausbreitete, als sie von 
den Menschen weder Aufschwung, Vertiefung oder Ent- 



LXXIX 

sagung forderte, noch sie durch Hinweisung auf die Gottheit 
beunruhigte. 

Dass das religiöse Bewusstseyn ermattete, verflachte, 
einschlummerte, um dann später grösstentheils dem Bud- 
dhismus zu verfallen , ist ebenso der Erfolglosigkeit La6-ts^'s 
als den Erfolgen Khüng-ts^'s zuzuschreiben. Beide aber 
hatten noch einen tieferen Grund. 

Die Religion der alten Chinesen war gänzlich geschichts- 
los. Sie war weder Mythologie noch Offenbarung. Bis in 
die ältesten Zeiten finden wir sie als schwebende Überliefe- 
rung, ohne eigne Documente, ohne Glaubenslehrer, ohne 
Glaubenshelden, ohne Glaubensschriften. So weit hinauf 
wir sie verfolgen können, ist sie bereits fertig, es ist keine 
Spur aufsteigenden Werdens in ihr zu entdecken, und Nie- 
mand weiss, von wannen sie gekommen. 

Darin glauben wir einen Beweis zu sehen, dass die alten 
Chinesen auch rücksichtlich ihres religiösen Bewusstseyns 
nur eine Fortsetzung der ältesten Menschheit vor der Völ- 
kertrennung waren und von Anfang an keinen Theil gehabt 
hatten an der mythologieerzeugenden Krisis, in Folge deren 
das Gottesbewusstseyn der übrigen Menschheit vielgestaltig 
verwilderte, während sie selbst sich in Sprachen und Völker 
theilte. Denn die generatio aequivoca der Religion, der 
Sprache, und des Menschenthums, zu dem beide gehören, ist 
ein modern-wissenschaftlicher Mythus. 

War jene Krisis eine Strafe Gottes, so trug sie auch, 
wie jede ähnliche, ihren Segen in sich. Sie verflocht die 
Völker in ein Ringen nach und mit dem Göttlichen, wodurch 
sie fiir die vollendete Offenbarung reifen konnten. Die Chi- 
nesen entgingen mit jener Strafe auch ihrem Segen. La6-ts6 
hat wol das Höchste erreicht, was auf dieser Entwicklungs- 
stufe erreichbar war. Aber schon vor ihm, und noch nach 
ihm, sehen wir ein fortwährendes Herabsinken und Erblassen 
des Gottesbewusstseyns. 

Wir aber haben es zu preisen, dass wir derjenigen Re- 
ligion angehören, welche die geschichtliche Manifestation 



L 



LXXX — 

Gottes selbst, und uns als Heilsgeschichte von Anfang bis 
an 's Ende urkundlich überliefert und verbürgt ist, so dass 
daran das religiöse Bewusstseyn sich immer wieder verjüngen 
und emporschwingen kann. Möchte bald auch an dem Volke, 
dessen tiefstes Geisfesproduct wir hier vorlegen, erfüllt wer- 
den, was an uns erfüllt worden ist, was die Aberweisheit, 
der Erdensinn und die Leichtfertigkeit unsrer Tage leider 
nicht mehr versteht, und was der Herr, Jes. 65, i. sagt: 
»Ich lasse mich erkunden von denen, die nicht fragten; Ich 
»lasse mich finden von denen, die mich nicht suchten; Ich 
»spreche: Hier bin Ich! Hier bin Ich! zu einem Volke, 
»nicht genannt nach Meinem Namen.« — 



TAO TE KING 



Erstes Buch. 



Erstes Kapitel. 

Taö, kajin er ausgesprochen werden, ist nicht der 
ewige Taö. ^ Der Name , kann er genannt werden , ist 
nicht der ewige Name.^ Der Namenlose ist Himmels 
und der Erden Urgrund; der Namen-Habende ist aller 
Wesen Mutter.^ Drum 

»Wer stets begierdenlos, der schauet seine Gei- 
stigkeit, 

Wer stets Begierden hat, der schauet seine Aus- 

senheit.«* 

Diese Beiden sind desselben Ausgangs und ver- 
schiedenen Namens.^ Zusammen heissen sie tief, des 
Tiefen abermal Tiefes;® aller Geistigkeiten Pforte.^ 



^) An den Anfang seines Buches stellt La6-ts^ den Grund alles 
Seyns, da dieser auch Grund aller Erkenntniss und Lehre ist. Seinen 
Namen kennt er nicht, nur um ihn zu bezeichnen , nennt er ihn Taö 
(Kap. 25), was, wie {^ 9 und 16 der Einleitung gezeigt worden ist, 
weder durch Weg, Wort noch Vernunft übersetzt und allenfalls nur 
durch »Gott« wiedergegeben werden könnte. Dass »Taö« in diesem 
Sinne schon bekannt und gebräuchlich sey, wird hier vorausgesetzt, 



denn wie das ganze Kapitel zeigt , soll der Begriff nicht erst einge- 
führt, er soll nur entfaltet werden. Ist der »Taö, welcher ausgesprochen 
werden kann« , durch den »Weg der Gerechtigkeit , der Gebräuche, 
der Klugheit« erklärt worden, so beruht diess auf einem völligen Miss- 
verständnisse des Nachfolgenden. Denn sichtlich handelt es sich um 
die Doppelheit des höchsten Wesens, womach es einmal verborgen, 
geheimnissvoli und daher unaussprechlich und unnennbar, dann aber 
auch sich erweisend und offenbar, daher aussprechlich und nennbar, 
weil sich selbst aussprechend, ist, in weicher Beziehung es allerdings 
dem Xo^oc = Wort entspricht. Das Wortspiel, das dieser erste Satz 
enthält, deutet diess ebenfalls an. Denn »ausgesprochen werden« 
heisst wiederum täo , nur mit veränderter Betonung , aber mit dem- 
selben Schriftzeichen. Ein Anderes demnach ist das göttliche Wesen, 
sofern es ein sich selbst Aussprechendes, mithin Wort, ist und somit 
in's Wort , wenn auch nur andeutend, gefasst werden kann ; ein An- 
deres, sofern es in sich verharrend, unänderlich und unbewegt, das 
Nurbeständige, Ewige (tschhäng) ist. Als dieses, wie wir später sehen 
werden, ist es reines vor- und überseyendes Wesen, das auch erst 
sein Seyn setzt , also der absolute Grund sein selbst ; während es in 
dem Zweiten, dem Aussprechlichen, sich als seyend setzt. 

^ Vom Namen des göttlichen Wesens, nicht von anderen Namen 
ist die Rede , denn das Fürwort ist hinzuzudenken , als stände da : 
»Sein Name , kann er genannt werden , ist nicht sein ewiger Name.« 
Der Name ist die Bezeichnung eines Wesens nach seiner Wesenhieit. 
Wie im ersten Satze nicht gesagt war , dass das göttliche Wesen in 
seinem verborgenen ewigen Grunde nicht in irgend einer Weise sey, 
oder auch nur für uns nicht sey — etwa als nothwendig zu denken- 
des — , sondern nur, dass alle Sprache unzulänglich sey, um es aus- 
zusagen ; so ist auch hier nicht gesagt , dass es überhaupt, oder auch 
nur nach seiner Verborgenheit, keinen Namen habe, sondern nur dass 
sein Name , insofern er es nach seiner Wesenheit bezeichne , nicht 
genannt werden könne, dass seine Nennung unzugänglich oder auch 
unzulässig sey. Zugleich wird damit abgewehrt , dass man den im 
ersten Satze gebrauchten Namen Taö für den wahren, den ent- 
sprechenden Namen dessen halte , von dem geredet wird. La6-ts^ 
will über die ungenügende vielsinnige Bezeichnung zur übersinnlichen 
Anschauung des Wesens, zum Begriff hinauftreiben, und nimmt des- 



halb den eben ausgesprochenen Namen als unangemessen wieder zu- 
rück. Sodann aber ergiebt der Zusammenhang beider Sätze den 
Gedanken : Nennbar ist das göttliche Wesen nur sofern es , als sich 
selbst aussprechendes, auch sprachlichen Ausdruck zulässt; unnenn- 
bar aber nach seinem verborgenen Seyn ; so dass es ftir uns einmal 
ohne Namen, einmal mit Namen ist. So sagt Meister Eckhart: 
»Die Vemünftigkeit — will nicht Gott, als er Gott ist. Warum? Da 
hat er Namen ; und wären tausend Götter, sie bricht immer mehr 
durch, sie will ihn da, da er nicht Namen hat etc.« 

•*) Himmel und Erde, Man H^ sind dem Chinesen nicht sowol, 
wie dem Ebräer, die ganze gestaltete Welt, als vielmehr die beiden 
Oundpotenzen derselben , aus denen sie erst wird ; lebendige Sub- 
stanzen und Mächte, von denen die Eine übersinnlich und immateriell, 
die Andre sinnlich und materiell ist. Die gestaltete Welt ist durch 
den Ausdruck wdn wofj »alle (eigentlich die Myriaden) Wesen oder 
Dinge« bezeichnet. Der »nicht Namen Habende ,« der Namenlose, 
weil Unnennbare , ist der Urgrund oder Anfang von Himmel und 
Erde, — was daran erinnert, dass Gott auch Offenb. i, 8. Sich den 
Anfang nennt. Dort wie hier wird nicht gesagt, dass Er ftir das, was 
nicht Er ist, blosshin und ausser Sich einen Anfang setze, sondern 
dass Er der Anfang sey. Dass dieses auch bei La6-ts^ nicht in 
pantheistischem Sinne gemeint sey, lehrt das tiefsinnige 25. Kapitel, 
wo es von Ihm heisst, dass er »war, ehe Himmel und Erde entstan- 
den,« tmd »überallhindurch geht und nicht gefslhrdet ist.« Die Grund- 
legung der Welt wird also hier, ähnlich wie im ersten Verse der 
Genesis, der Gottheit zugeschrieben und zwar, ganz im Sinne des 
apostolischen Bekenntnisses, dem Gott, den »Niemand je gesehen« 
und »der in einem unzugänglichen Lichte wohnt« (vgl. Kap. 14), den 
w i r Gott den Vater nennen. Und wie eine Vorahnung dessen, was 
Joh. I, I — 3. geschrieben steht, wird von dem aussprechlichen Gott, 
der uns auf den Logos hindeutet , von dem Namen Habenden ge- 
sagt, dass alle Dinge durch ihn geworden seien. Diess wird mit dem 
befremdlichen Ausdrucke bezeichnet , er sey »aller Wesen Mutter.« 
Ganz in demselben Sinne wird dieser Ausdruck Kapp. 25 und 52 ge- 
braucht Obgleich nun La6-ts^, wie sich im 6. Kapitel zeigen wird, 
auch eine weibliche Potenz in der Gottheit erkennt, wie er denn auch, 
nach Kap. 28, im Manne neben dem Männlichen ein Weibliches 



annimmt, so dürfte der Ausdruck da, wo er von dem Namen haben- 
den Ta6 in Bezug auf die Weltwesen spricht, doch nur bildlich in 
dem Sinne zu verstehen seyn , dass derselbe die Dinge zwar in sich 
gestaltet, nachdem deren Substanz von dem Namenlosen gesetzt ist; 
sie dann aber, wie eine Mutter ihre Kinder, in ein selbständiges, von 
ihm abgelöstes Dasein heraustreten lässt, wobei er sie gleichwol auch 
femer stetig umfasst, nährt, erzieht, vollendet, erhält u. s. w. (Kap. 5 1). 
Ganz ähnlich S£^ Meister Eckhart, »dass Gott nicht allein ein Vater 
ist aller guter Dinge, mehr: er ist auch eine Mutter aller Dinge.« Im 
42. Kapitel werden wir übrigens sehen, dass La6-ts^ für die Entste- 
htmg der Dinge nicht bloss den Namenlosen und den Namen Haben- 
den, sondern auch noch ein Drittes als Wirkendes voraussetzt; und 
wie nahe er dem reinen Schöpfungsbegriff gekommen, wird Kap. 40 
zeigen, wo es heisst : »Alle Weltwesen sind entstanden aus dem Seyn, 
das Seyn ist entstanden aus dem Nichtseyn.« — Einige Herausgeber 
haben unsern Satz, wahrscheinlich im Hinblick auf diese Stelle anders 
abgetheilt, so dass er sagt : »Das Nichtseyn nennt man Hinmiels und 
der Erden Anfang ; das Seyn nennt man aller Wesen Mutter ;« dem 
folgt auch Chalmers. Es bedarf jedoch nur einer Vergleichung der 
Kapitel 25, 32 und 52, um sich zu überzeugen, dass La6-ts^ die 
»Mutterschaft« Taö's, die Gestaltung der Weltwesen, immer mit dem 
Namenhaben Taö's verbinde, das Werden der Dinge auf ihn, nirgends 
aber auf das abstrakte Seyn zurückführe. Auch würde es kein Zu- 
sammenhang, sondern ein Absprung des Gedankens seyn , von Taö 
und seiner Benennung plötzlich auf das Nichtseyn zu gerathen, welches 
den Anfang oder Urgrund von Himmel und Erde zu nennen , ein 
Ungedanke wäre, den höchstens ein Buddhist haben könnte. 

^) La6-ts6 unterbricht den Fortschritt durch zwei Verse, die den 
Leser erinnern sollen, wie er zur Anschauung der Geistigkeit (Absolut- 
heit) des göttlichen Wesens gelange und was ihn daran hindere. Es 
entspricht diess der durch das ganze Buch sich erstreckenden Art, 
vom Principiellen rasch zum Praktischen überzugehen. Das einlei- 
tende causale küy drum, bezeichnet hier das Citat, als hiesse es : darum 
ist gesagt worden. Der Anfang des Kapitels sollte nehmlich zu der 
reingeistigen Anschauung des Absoluten erheben, das zugleich als 
Weltursache bestimmt war. Diese seine überschwängliche Vollkom- 
menheit und reine (jeistigkeit wird durch khi mido bezeichnet, und 



sie kann nur von dem erschauet werden, der sein Herz beständig frei 
erhält von der Unruhe und Trübung durch die Begierden, da sie ja 
als absolute Innerlichkeit nur in der tiefsten und stillsten Verinnening 
wahrzunehmen ist. Sofern das göttliche Wesen aber Weltursache 
geworden ist, bilden die Myriaden Weltwesen seine Aeusserlichkeit, 
Aussenheit oder Umgränzung, kht kidoj also das was nicht das gött- 
liche Wesen ist, und an diesem bleibt der Blick dessen haften, der 
sich beständig dem Begehren , Wünschen und Trachten des Herzens 
überlässt, so dass er das göttliche Wesen selbst nicht mehr zu er- 
schauen vermag. — Auch diese Verse sind von mehr oder minder 
buddhistisch gesinnten Auslegern so abgetheilt worden, dass darin 
von dem »ewigen Nichtseyn« und dem »ewigen Seyn« die Rede ist, 
Begriffe , die Laö-ts^ durchaus fremd sind. Nach seiner Denkweise 
geht vielmehr das Seyn aus dem Nichtseyn hervor, geht das Nicht- 
seyn über in das Seyn , weshalb er weder das eine noch das andre 
»ewig« nennen kann. 

^) Die Ausleger sind uneinig, worauf sich die Worte »diese 
Beiden,« thsi Häng ischl^ beziehen sollen ; die buddhistisch Gesinnten 
meinen, auf das »Nichtseyn« und das »Seyn;« Andre, auf die Geistig- 
keit und die Aussenheit ; wieder Andre , auf den Urgrund und die 
Mutter, und noch Andre sogar auf den Begierden Habenden und 
Begierdelosen. Da jedoch die Reimzeilen, als ein Citat, nicht Laö-ts^ 
selbst angehören , so sollen offenbar jene Worte niu* den durch Ein- 
schiebung der Verse imterbrochenen Gedanken wieder aufnehmen 
und fortführen , können sich also nur auf die Subjecte des letzten, 
den Versen vorangehenden Satzes beziehen , d. i. auf den Namen- 
losen imd den Namen-Habenden. Von diesen Beiden wird zweier- 
lei Entgegengesetztes ausgesagt, was dem verbindenden <?//, und, die 
adversative Bedeutung von »und dennoch« giebt. In ihrem Ausgehn 
sind sie dieselben, identisch, thängj in ihren Namen verschieden, /. 
Da thäng tmd / bekannte contradictorische Gegensätze sind , / aber 
zunächst »theilen, sondern« (/?«, 744) und darnach erst »verschieden, 
nicht dasselbe« (pü thüng) heisst, so ist hier tküng in dem Sinne von 
»ungetheilt, ungesondert,« und insofern »dasselbe« zu fassen. Es fragt 
sich aber, was mit dem »Ausgehn« gemeint sey, welches deutsche 
Wort dem chinesischen tschhü genau entspricht, auch darin, dass es 
nicht bloss das Herau^ehn aus einem Orte oder Zustande, sondern 



8 

auch das ursprüngliche Hervorgehen, das Entstehen (seng, 6155 = 
nasci) bedeutet. Im letzteren Sinne hat es Stan. Julien gefasst, indem 
er übersetzt : Ces deux choses ont une meme origine. Allein dem ab- 
soluten Weltgrunde, dem Unaussprechlichen, selbst einen Ursprung, 
eine Entstehung zuzuschreiben , ist mit Laö-tsd's Denkweise unver- 
träglich. Da nun aber in der zweiten Aussage die Verschiedenheit 
Beider von etwas prädicirt wird , wovon im Vorigen schon die Rede 
gewesen , nehmlich vom Namen , so ist vorauszusetzen , dass es sich 
ebenso mit dem verhalte, worin sie nicht verschieden sind. Demnach 
würde das »Ausgehn« der beiden schöpferischen Potenzen die ur- 
sprüngliche Fortbewegung seyn , diurch welche die erste »Himmels 
und der Erden Urgrund,« die zweite »aller Wesen Mutter« geworden ; 
was bei der Allgemeinheit des Ausdrucks dahin zu erweitem wäre, 
dass es überhaupt die Weltwirksamkeit dieser Beiden bezeichne, so- 
fern sie in derselben von ihrer ursprünglichen Stille und Leere »aus- 
gehen.« Dass sie aber in diesem Ausgehen, und umsomehr ihrem 
Wesen nach, als Eins und Dasselbe anzusehen sind, zeigt der Anfang 
des 25. Kapitels, wo von demselben Urwesen sowol der ewige unbe- 
wegliche Bestand, als auch der Fortschritt zum Mutter-der- Welt- 
Werden ausgesagt wird. — Werden sie nun »verschiedenen Namens« 
genannt , so scheint diess dem zu widersprechen , dass der Erste als 
der »Namenlose« bezeichnet wurde. Allein es war ja immittelbar 
vorher gesagt, dass der Name, den man nennen könne, nicht sein 
»ewiger Name« sey ; er hat mithin einen »ewigen Namen,« den man 
nur nicht nennen kann — oder auch nicht nennen darf; denn khb 
bezeichnet vorwiegend die Zulässigkeit, ning (8488) dagegen die reine 
Thatsächlichkeit des Könnens, khe (583) aber, sowie kiän (8425) den 
Machtbesitz dazu. Verschieden sind daher der nennbare Name und 
der unnennbare, und der letztere ist also nicht »Taö.« — 

^ Sofern nun »diese Beidena zusammen, ungesondert oder Eins 
und Dasselbe {thüng) sind, heisst man sie oder sind sie tief; denn 
wii bedeutet sagen, aussagen was eine Sache ist, und drückt des- 
halb ebensowol das Heissen als das Wesen aus. Das Wort flir tief, 
hiuäfty bedeutet zunächst dunkelfarbig, auch himmelblau, im über- 
tragenen Sinne dann dunkel, unfassbar, abgründig vom Geistigen, 
wo ihm unser tief entspricht. Die Identität des unnennbaren Ur- 
wesens, des überseyenden Absoluten, mit dem aussprechlichen, also 



sich offenbarenden Gott ist das Aeusserste, wozu die Erkenntniss auf- 
steigen kann; diese Identität (tküng) selbst lässt aber keine weitere 
Forschung zu, hier verliert sich fiir das Erkennen alle Unterscheidung, 
man schaut in absolute Tiefe, die nur sich selber zum Untergrund 
hat , des Tiefen abermal Tiefes. Die Gränze aller Speculation , aber 
zugleich ihr unerschöpflicher Quellbom. 

^ Beide in ihrer Identität sind »aller Geistigkeiten, alles Geistigen 
Pforte,o und in dem hier dem mido vorgesetzten tschüng liegt zugleich 
die Andeutung der Vielheit und Mannigfaltigkeit des Geistigen, dessen 
•Pforte ,0 d. i. Ausgang und Eingang sie sind , indem es von ihnen 
ausgeht und zu ihnen zurückkehrt. Was hier unter mido zu verstehen 
sey, zeigt der Gebrauch des Wortes in den vorherigen Verszeilen. 
Es bezeichnete dort , im Gegensatze zu der Aeusserlichkeit und Ver- 
äusserung, das rein Geistige, Verinnerte, also den wesentlichen Be- 
griff und das begriffliche Wesen. Hier würde es also sagen: (die 
Vielheit alles dessen), was rein begrifflich weset und demgemäss er- 
kannt werden kann , was also — wie wir uns ausdrücken würden — 
das Göttliche dessen ist, was nicht Gott selbst ist. — Im Uebrigen 
ist hierzu noch Kap. 6 und Kap. 2 1 zu vergleichen. — 



Zw^eites Kapitel. 

Erkennen alle in der Welt des Schönen Schön- 
Seyn, dann auch das Hässliche; erkennen Alle des 
Guten Gut-Seyn, dann auch das Nichtgute. ^ Denn 

»Seyn und Nichtseyn einander gebären: 
Schwer und Leicht einander bewähren, 
Lang und Kurz einander erklären, 
Hoch und Niedrig einander entkehren, 
Ton und Stimme einander sich ftigen. 
Vorher und Nachher einander folgen.« ^ 

Daher der heilige Mensch beharrt im Geschäft des 
Nicht-Thuns. •* Wandel, nicht Rede, ist seine Lehre. ^ 
Alle Wesen treten hervor und er entzieht sich nicht. 
Er belebt und hat nicht. Er thut und giebt nichts drauf. 
Er vollendet Verdienstliches und besteht nicht darauf. ^ 

»Weil er nicht darauf besteht. 
Darum es ihm nicht entgeht.«® 



*) Im ersten Kapitel hatte Laö-ts^ das grosse Prinzip des Univer- 
sums eingeführt, welches, nachdem er es als solches erkannt, noth- 
wendig auch das Priilzip seines Systems werden musste. Aus ihm 
entfaltet sich seine ganze Metaphysik und theologische Speculation. 
Ebenso aber auch der zweite Bestandtheil seines Systems, die Ethik, 
die er dann vornehmlich an dem ethischen Ideal, dem »heiligen 
Menschen« entwickelt, dessen vorläufige Einfuhrung hier den ethischen 
Theil des Buches ankündiget. — Der Zusammenhang des ganzen 
Kapitels muss über Verständniss und Auslegung des Einzelnen ent- 
scheiden. Die causala Conjunction küy welche auch hier die citirten 
Verse mit den ersten beiden Parallelsätzen verbindet, kann ebensowol 



II 

»daher , darum ,« als »derni« oder (wörtlich) unser veraltetes »Ursach« 
bedeuten. Das Erstere würde hier sinnlos seyn, es muss also »denn« 
heissen. Dadurch wird der Inhalt der Verse begründende Erläute- 
rung der ersten Sätze. Und da der nachfolgende Satz durch das 
consecutive scAi }, »deshalb, daher,« angeschlossen ist, so müssen fiir 
seine Aussage diese Anfangssätz^e den Grund angeben. Sie müssen 
demnach sagen, weshalb der heilige Mensch seine Aufgabe weder 
durch Thun noch durch Reden, sondern durch seinen blossen Wandel 
erfüllt ; und diess muss eine Folge davon seyn, dass reine Gegensätze 
durch ihr Verhältniss zu einander sich selbst exponiren, — was wir 
als den allgemeinen Sinn der Verse vorläufig bezeichnen dürfen; — 
mit andern Worten, sie müssen angeben, wie das, was im Wandel 
des Heiligen zur Erscheinung kommt, seinen Gegensatz und an diesem 
seinen eignen Werth erkennbar macht ; wobei noch nicht zu erwarten 
ist, dass sie dasselbe von vornherein als zum Wandel des Heiligen 
gehörig bezeichnen, da sie vom Allgemeinen zum Besondem erst fort* 
schreiten sollen. Hiemach ist der Sinn der beiden Anfangssätze dahin 
aufzufassen: Wenn Alle in der Welt das Schöne als solches, als schön, 
erkennen, alsdann (denn ssd steht hier für tse (792) mit der Nebenbe- 
deutung des sofortigen) erkennen sie auch das Hässliche ; wenn Alle 
das Gute als Gutes erkennen , alsdann erkennen sie auch das Nicht- 
gute, das Böse. Ist diess der Sinn, so weiset er sowol jede Beziehung 
der Aussagen auf Menschen der Vorzeit ab, zu welcher der Text nicht 
den mindesten Anlass giebt, als er auch nicht gestattet, so abzu- 
theilen, dass es hiesse: die Menschen kennen zwar das Gute, halten 
es auch fiir gut, und doch sind sie böse. Ebenso handelt es sich 
hier nicht um das Daseyn des Hässlichen und Bösen , sondern um 
dessen Erkenntniss , luid das lerkennen,« iscAl, des Vordersatzes er- 
streckt sich auch auf den Nachsatz und ist dort zu ergänzen. — Fein 
und trefflich ist übrigens der Fortschritt in den beiden Sätzen, den 
auch die Ausleger in ihrer Weise bemerklich machen und an der ge- 
schichtlichen Entwicklung exemplificiren. Das sittlich Schöne und 
sein Gegensatz, das sittlich Hässliche, wirken zunächst auf das Gefühl, 
jenes erfreulich und anziehend, dieses beleidigend und zurückstossend, 
und es entspringt daraus ein ästhetisches Urtheil, das als solches das 
ethische Subject noch ausser Bestimmung lässt Das sittlich Gute 
und sittlich Böse aber wirken — wie wir sagen würden — auf das 



12 

Gewissen, dem das erste eine Befriedigung, eine Genugthuung, das 
andre Vorwurf und Beunruhigung ist, und selbst das sittlich Gute 
des andern Menschen kann das Gewissen in Aufregtmg versetzen und 
zum Ankläger machen. Dadurch eben erweiset sic\\ Jedem das Gute 
als gut, das Böse als bös. Weiss La6-ts^ den Begriff des Gewissens 
auch nicht zu bezeichnen, er redet hier dennoch von ihm ; denn jenes 
wundersame Vermögen, das zwischen Gut und Bös stets unfehlbar 
unterscheidet und über unser Verhältniss zu beiden fühlbar richtet, 
ist das Gewissen. Und so ist es der bedeutungsvolle Fortschritt von 
der Erkenntniss aus dem GefUhl zu der Erkenntniss aus dem Ge- 
wissen , vom ästhetischen zum ethischen Urtheil , den La6-ts^ hier 
andeutet. Wodiu-ch sich diess Urtheil bilde, wird im Folgenden zu 
bedenken gegeben. 

2) Es wurde bereits als Grundgedanke dieser Verse bezeichnet, 
dass reine Gegensätze durch ihr Verhältniss zu einander sich selbst 
exponiren. £>a die Erkenntniss als subjective Thatsache die objective 
Thatsache voraussetzt, so sind mit Bedacht lauter objective Gegen- 
sätze gewählt, auch ihre jedesmaligen Verhältnisse als rein objective 
hingestellt. In seiner Blossheit erscheint der Gedanke in dem ersten 
Verse, zu dem die übrigen sich wie Beispiele und Erläuterungen ver- 
halten, dass nehmlich 986301 und Nichtseyn einander hervorbringen« 
(sing); denn nur dadurch sind die angeführten Begriffe, und nicht 
minder das Schöne und Hässliche , Gute und Böse , Opposita, weil 
das Eine ist, was das Andre nicht ist, und wieder das Andre ist, 
was das Erste nicht ist Diess zeigt, dass hier von einem ganz 
anderen Verhältnisse des Seyns zum Nichtseyn, oder wie die Alten 
sagten des Icht zum Nicht, geredet wird, als im 40. Kapitel, wo es 
heisst: »Das Seyn ist hervorgebracht vomci — oder »entstanden 
(sing) aus dem Nichtseyn.« Hier ist nicht die Rede von einer Folge, 
sondern von einem correlaten Verhältnisse beider ; aber auch nicht 
von ihrer blossen Gleichzeitigkeit (wie schon der letzte Vers zeigt), 
weshalb auch das siäng hier nicht simul sondern überall invicem be- 
deutet. Ist doch das gegenseitige Verhältniss von Seyn und Nicht- 
seyn eben diess, dass das Seyn nur ist, sofern es nicht Nichtseyn, das 
Nichtseyn aber nur ist, sofern es nicht das Seyn ist Da mithin das 
Eine durch das Andre erst ist oder wird, so konnte der Vers mit 
Recht sagen , dass sich das Seyn und das Nichtseyn gegenseitig her- 



13 

vorbringen , erzeugen oder gebären. — EKenen die folgenden Verse 
auch nur zur Erklärung und Bestätigung dieses Ausspruches, so fügen 
sie dem Hauptgedanken durch den Wechsel des Verbums doch 
mancherlei Nebenzüge hinzu , die der Reim indess nur annähernd 
wiederzugeben gestattete. So heisst es wörtlich : «»Schwer und Leicht 
vollenden (ischhhig) einander,« d. h. der Begriff des Schweren wird 
erst völlig und fertig durch den Begriff des Leichten, und umgekehrt ; 
sey nun die Rede von blossem Gewicht oder von der Kraft etwas zu 
vollbringen. »Lang imd Kurz bilden, darstellen oder offenbaren (hing) 
einander.a »Hoch und Niedrig sehen sich schief an, kehren einander 
um« (siäfig khtng)^ indem sie sich durch ihren Gegensatz von einander 
entfernen, während Ton und Stimme eben dadurch miteinander har- 
moniren (hd); denn Gegensätze sind auch sie , da der Ton nicht die 
Stimme, sondern deren Erzeugniss, die Stimme nicht der Ton, sondern 
dessen Vermögen ist ; harmonische Einigtmg beider aber kommt zu 
Stande, wenn der Ton sich dem Stimmumfange, die Stimme der 
Tonhöhe fügt. Vorher und Nachher endlich, sey es in Bezug auf 
Zeit, Ort, Würde oder was immer, schliessen einander völlig aus, 
sind aber doch nur wieder Eins das nothwendige Ergebniss des An- 
dern, da es ohne Vorher kein Nachher, ohne Nachher kein Vorher 
gäbe. — Wie nun Nichtseyn, Leicht, Kurz, Niedrig, Stimme und 
Nachher als das was sie sind gar nicht ins Bewusstseyn treten würden, 
wenn ihnen nicht ihre Correlata Seyn, Schwer, Lang, Hoch," Ton, 
Vorher gegenüberständen, als solche am Gegensatze erkannt würden, 
und diesen hinwieder erkennbar machten, so werden, meint La6-ts^, 
alle Menschen erst dann sich des Hässlichen imd Bösen bewusst, 
wenn ihnen das Schöne und Gute zur Anschauung gebracht und von 
ihnen als schön und gut erkannt wird. Und das zu bewirken, ist der 
-Dienst des heiligen Menschen. 

^ Folgt aus dem Vorhergehenden, dass das Wesen des heiligen 
Menschen, den ja eben das sittlich Schöne und Gute auszeichnet, 
durch seine blosse Erscheinung sich aller Welt in seinem' Werth und 
Adel erkennbar macht und dadurch , indem es die Menschen von 
dem sittlich Hässlichen und Bösen überftihrt, ihnen Spiegel, Mahnung 
und Vorbild wird , und besteht eben hierin seine Aufgabe , sein Be- 
ruf: so unterscheidet er sich von den Andern nidit durch eine be- 
sondere, hierauf gerichtete Thätigkeit, da diese nur seine Grösse be- 



14 

einträchtigen und ihn zum Werkheiligen herabsetzen würde. Seine 
besondere Aufgabe , sein Geschäft besteht daher gerade im Nicht- 
Thun ; keineswegs aber im Nichtsthun , im Quietismus , was schon 
der weitere Verfolg des Kapitels widerlegt; vielmehr hilft er allen 
Menschen, allen Wesen, thut wol wie und wo er kann, und erwirbt 
sich Verdienste ; allein bei dem Allen thut er, als thäte er nicht, und 
das ist der fernere Sinn dieses Nicht-Thuns. Wir werden es noch in 
andern Beziehungen kennen lernen. La6-ts^ betrachtet als das ein- 
zige grosse Thun des Heiligen, durch die blosse Gewalt seines Vor- 
bildes die Welt zu veredeln, und das ist eben kein Thun. Es ist ein 
Wirken ohne Werke. Und dass es diess seyn solle , das bezeichnet 
der paradoxe Ausdruck: Geschäft des Nicht-Thuns, Thun ohne 
Thun. — Gerade in dem übergeschäftigen thunsseligen China und 
bei dem damaligen Jagen seiner Fürsten nach Macht, LÄndererwerb, 
Auszeichnimg oder Genuss war Laö-ts^'s Lehre von frappanter Be- 
deutung. Auch ftir unsre Zeit dürfte sie es seyn. — I>er »heilige 
Mensch,« sMn^ sjtfiy bezeichnet den an Erkenntniss, Sittlichkeit und 
Lebensklugheit vollendeten Weisen , den idealen Menschen (der im 
Buche vom Innehalten der Mitte tschhtng (10,082) heisst), und ist 
daher weit mehr, als der »Weise,« hfan (10,484), wie Jeder heisst, der 
durch geistige und sittliche Tüchtigkeit sich auszeichnet, während 
kiün tsi (1150. 2059.), wörtlich »Fürsten-Sohn,« überhaupt der Aus- 
druck ist ftir den höheren, edleren Menschen, der nach Vervollkomm- 
nung strebt, im Gegensatz zu stob s/in (2203. 91.), den »kleinen,« 
gewöhnlichen, gemeinen Menschen. — 

*) Diese Worte enthalten den Schlüssel zum Vorangehenden. 
Man könnte doch glauben , gerade der Benif des heiligen Menschen 
bringe es mit sich , dass er als Prediger der Wahrheit und Tugend 
auftrete und dadurch die Menschen zu überzeugen und zu bekehren 
suche. La6-ts^ giebt nichts auf das Lehren imd Lernen. Er weiss, 
dass man die schönsten Lehren der Weisheit und Moral kennen imd 
ftir ganz richtig halten kann , ohne selbst sich ihnen gemäss zu ver- 
halten. Darum legt er allen Werth auf die überwindende Macht vor- . 
bildlicher Persönlichkeit, welche die Lehre als lebendigen Stoff erzeugt 
und überträgt. Dehn lehren soll fi-eilich der Heilige , aber gerade 
durch seinen Wandel, und wie diess möglich sey, hat die erste Hälfte 
des Kapitels gezeigt. Deshalb bedarf er nicht der Worte; er lehrt 



15 

stillschweigend. Dum tacet^ clamaL — Nicht unmöglich , dass diess 
mit einem Seitenblick auf Khüng-ts^ gesagt ist, der eben damals mit 
Schülern umherziehend sich die Verkündigung und Ausbreitung 
seiner Lehre eifrig angelegen sejm liess. 

*) Worin im Wesentlichen der Wandel des Heiligen bestehe, 
wird nun in den Hauptzügen gezeichnet. Zum Verständniss des 
Gesagten sind die Parallelstellen Kap. lo, 51 und 77 zu vergleichen. 
Kap. 51 sagt, dass Taö alle Wesen erzeuge {.seng^ zum Leben bringe, 
hervorbringe), erhalte, aufziehe, ausbilde, vollende, reife, ernähre, 
beschirme, und föhrt dann fort: »Erzeugen und nicht besitzen, 
thtm und nichts drauf geben, aufziehn und nicht beherrschen, — 
das heisst tiefe Tugend.« Kap. 7 7 heisst es : »Der heilige Mensch 
thut und giebt nichts drauf, er vollendet Verdienstliches und weilt 
nicht dabei.« Kap. 10 steht: »Er belebt und nähret; belebt tmd 
hat nicht, thut und giebt nichts drauf, erhält und beherrscht nicht ,« 
und da unmittelbar vorher von dem Heiligen , der ein Land regiert, 
geredet worden, so kann sich auch diess nur auf ihn beziehen, 
imd auch da wird hinzugefügt: »Das heisst tiefe Tugend.« — Aus 
der Zusammenfassung dieser Stellen folgt zuvörderst, was hier zwar 
nicht ausgesprochen, aber für La6-ts^'s Lehre von Bedeutung ist, dass 
der heilige Mensch Taö ähnlich ist und in seinem Thun Ihm gleicht, 
was er, wie sich weiterhin zeigen wird, dadurch erreicht, dass er sein 
Herz von aller Weltzerstreuung entleert, sich allein an Taö hält und 
mit Ihm Eins wird. — Wie nahe Laö-ts^ hiermit der wahren Erkennt- 
niss gekommen, braucht keiner Erwähnung. Sodann wird das Wesen 
des Heiligen ausdrücklich in die thätige, keineswegs also quie- 
tistische, Hingebung an alle Geschöpfe zu ihrer Förderung und Voll- 
endung gesetzt. Indem er aber darin Alles leistet was er vermag, 
sucht er damit in keiner Weise sich oder das Seinige, will er weder 
Vortheil noch Ehre davon haben , und betrachtet es bei sich selbst 
nicht einmal als 6twas das der Rede werth sey. Wer möchte auch 
hierin die Hoheit der sittlichen Anschauung verkennen? — Heisst 
es nun , um auf das Einzelne einzugehen : »Alle (oder die Myriaden) 
Wesen treten hervor,« kommen herbei, heben ^, wie tso hier zu 
fassen ist, so erinnert diess an Khüng-ts^'s Erklärung zum ersten 
Kuä des Ji ktng\ »Der heilige Mensch tritt hervor (iso) und alle 
Wesen schauen auf ihn.« Hier umgekehrt : Alle Wesen treten hervor 






% ."* 



i6 






und der heilige Mensch entziehtJsich, weigert sich ihnen nicht. Denn 
alle Geschöpfe und vornehmlicl^ die Menschen bedürfen zur ^llen- 
düng ihres Zustandes des heiligen Menschen, seiner Hülfe, ftfftfl;« 
Leitung, seines Schutzes ; und 9r .weigert sich ihnen nicht , de^ e^ 
schauet nicht auf sich, sondern auf sie. — »Er belebt und hat nickt« — ^ 
nehmlich die Wesen. Wird sin^ im activen Sinne von Taö ausg^ 
sagt, so heisst es hervorbringen, schaffen, ins Leben bringenV^omA 
heiligen Menschen in Beziehung auf alle Wesen ausgesagt, kann es' 
nur in übertragener Bedeutung ^agen: zum Leben verhelfen, ins 
Leben fördern. Die idealistische Ansicht, womach das Ich die Dinge 
hervorbringt , ist zwar andern chinesischen Philosophen nicht fremd, 
wol aber Laö-ts^. »Er hat sie nicht,« steht im nachdrücklichen Sinne : 
er macht sich keine Habe aus ihnen, eignet sie sich nicht zu, nimmt 
sie nicht für sich in Beschlag y obgleich sie ihm das Leben verdan- 
ken müssen, macht er keine Ansprüche auf sie. — IVä, rücksichtlich 
der Wesen von Taö gesagt, heisst zwar , »er macht sie« , und bedingt 
könnte man auch von dem Heiligen sagen , er mache sie , nehmlich 
zu dem was sie seyn sollen. Der Nachdruck liegt indess auf der 
Handlung: »er thut« — nehmlich Alles an ihnen, was er vermag. 
»Und doch giebt er nichts drauf«, er fragt nicht darnach (= ss/y 
145.), oder macht es nicht zu einer günstigen Gel^enheit, nehmlich 
um Ehre oder Vortheil daraus zu ziehen; denn scAff das hier als 
2^itwort steht, heisst als Hauptwort »2^it, Stunde, rechte Zeit, Recht- 
zeitigkeit, Opportunität«. — Hat er endlich Alles gethan, seine Auf- 
gabe vollständig erflillt, ist sein »Verdienst vollendet«, so geht er 
dennoch darüber hinweg, nicht bloss vor Andern, auch bei sich 
selbst; er »weilt nicht« dabei: pä kiH^ beharrt, besteht nicht darauf. 

^) Ein feiner, wahrscheinlich sprichwörtlicher Reim, der auf 
alle die Vorzüge anwendbar ist , die man nur hat , sofern man sie 
nicht als solche hat, sie sich nicht anzieht. Denn auch wahres Ver- 
dienst ist nur so lange vorhanden, als es dem, der es hat, als nicht 
vorhanden ist. Macht er sich ein Verdienst daraus, so macht er sich 
eben dadurch schon dafür bezahlt, er »hat seinen Lohn dahin«, und 
daher kein Verdienst mehr. Weil diess der heilige Mensch nicht 
thut, daher bleibt ihm sein Verdienst. 



Drittes Kapitel. 

Nicht hochstellen die Weisen, macht das Volk nicht 
hadern. ^ Nicht hochschätzen Güter schweren Erwerbs, 
macht das Volk nicht Diebstahl verüben. ^ Nicht anse- 
hen Begehrbares, macht das Herz nicht unruhig. ^ Da- 
her der heilige Mensch, welcher regiert, leeret sein 
Herz, füllet sein Inneres, schwächet seinen Willen, stär- 
ket sein Gebein. * Immer macht er das Volk nichts 
kennen, nichts begehren;^ macht er dass die, welche 
kennen , nicht wagen zu thun. ^ Thut er das Nicht- 
Thun, dann mangelts nicht am Regiment. ' 

*) Mit diesem Kapitel wird der dritte Bestandtheil des Systems 
der politische, angekündigt, doch in geistreich freier Weise, indem 
erst am Schluss das eigentliche Prinzip, das durch das Vorange- 
hende einleitend erläutert ist, herausgehoben und mit ihm an das 
Ethische des vorigen Kapitels angeknüpft wird. In China ist der 
Staat schon sehr früh als die ethische Form des Gemeinlebens er- 
kannt worden , weshalb das Regieren als sittliche Thätigkeit aufge- 
fasst und als ein Theil der Ethik behandelt wird. Darf man den 
Staat zuhöchst als den zur Volksgemeinschaft erweiterten idealen 
Menschen betrachten, so fehlte dort diesem Gedanken auch die 
praktische Vermittelung nicht, indem der altchinesische Staat reiner 
Patriarchalstaat, mithin nur die erweiterte Familie war, die Familie 
nup der erweiterte Mensch, und dieser nach ethischem Postulate der 
ideale ist, welchem Laö-ts^'s »heiliger Mensch« entspricht. Zu einem 
Staate dreimal examinirter Beamten, die das patriarchale Prinzip für 



^^— i8 

sich ausbeuten und nach Bedürfniss einbläuen , ist China erst lange 
nachher geworden. Eine andere Gestalt des Staates, als die patriar- 
chalische und insofern monarchische, kennt unser Denker noch nicht, 
auch dürfte er in jeder anderen das Prinzip der Einheit vermisst haben, 
ohne welches ihm aller reale Bestand undenkbar war (Kap. 39). Da 
ihm nun aber die Freiheit und Selbständigkeit der Unterthanen eben 
so sehr Postulat ist (Kap. 17), so findet er die Gewährschaft für diese 
nur in der verzichtenden Selbstbeschränkung der unbedingten Ge- 
walt, deren allein der heilige Mensch fähig ist. Daher concentrirt 
sich seine Politik in der Darstellung der Regierungsgrundsätze und 
Regierungsweise des heiligen Menschen, wovon hier einleitend gere- 
det wird. Ist dabei auch wohl hauptsächlich der Fürsten selbst ge- 
dacht, so sind doch natürlich alle, die berufen sind rathend und 
thatend im Regiment mitzuwirken, eingeschlossen. — Der Gedanken- 
gang des Kapitels ist nicht herabsteigend vom Prinzip, sondern zu 
ihm aufsteigend. — Ehre und Macht einerseits, kostbare Besitz- 
thümer anderseits sind es, welche die Begierden der Menschen auf- 
regen , sie ablocken von der Einfalt und dem Maasshalten und zum 
Schlimmen verführen. Am Besten daher, das Volk lernt dergleichen 
gar nicht kennen, und diess soll Verfahren und Beispiel des »heiligen« 
Fürsten bewirken. Beim ersten Satze ist als selbstverständlich hinzu- 
zudenken, dass dem Landesfiirsten Hoheit und Macht gebühren, 
und dass er zur Regierung sich der ausgezeichneten und tüchtigen 
Männer, der Weisen (htan)y bediene. Wenn er nun aber diese Männer 
dabei selbst mit Hoheit, Pomp und äusseren Ehren bekleidet, so wer- 
den sofort die Leidenschaften der Andern entbunden, aus Neid, Miss- 
gunst, Eifersucht bestreiten sie die Würdigkeit der Erhöheten, machen 
ihnen ihre Stellung streitig, und die Sucht nach Macht und Ehren 
stiftet überall Zwietracht und Nebenbuhlerei. Diess ist mit dem 
Hadern , Zanken , Bestreiten , tsengj gemeint. — Wie richtig diese 
unter viel einfacheren Verhältnissen gemachte Beobachtung ist, 
bestätigt unser heutiges Parteitreiben , das Bekämpfen der Hochge- 
stellten, das Jagen nach Ministerportefeuilles und Ehrenstellen etc. 

^) Was nur Wenige erringen und besitzen können, erregt am 
meisten die Begier es zu erlangen, und verleitet die, denen es auf 
andre Weise unerreichbar bleibt, es sich auf unrechtmässige Weise 
anzueignen. In dieser Hinsicht nennt La6-ts^ sogleich den Diebstahl 



19 

t 

als das Äusserste (vgl. auch Kap. 53 a.E.). Darum soll der Fürst 
auf dergleichen schwer zu erwerbende Kostbarkeiten keinen Werth 
legen. Wir würden sagen: Wird unnützer Luxus nicht von oben- 
her gezeigt und befördert, so wird beim Volke nicht die Begier dar- 
nach aufger^t und es sucht dieselbe nicht durch unerlaubte Mittel 
zu befriedigen. Die Ausleger verfehlen nicht zu bemerken, dass der 
rechte Landesfurst seine Reichthümer nicht zu nutzlosem Prunk und 
Pomp, sondern zum Besten seiner Unterthanen und vor Allem um 
ihnen die nothwendigen Bedürfnisse zu verschaffen, anwende; da- 
durch verstopfe er die Quelle von Dieberei und Raub. 

'^) Stanislas Julien hat diesem Satze wegen der Symmetrie mit 
den beiden vorigen, einer vereinzelten Lesart folgend, das Wort mtity 
Volk, eingefligt, so dass es bei ihm heisst: »Nicht ansehen Begehr- 
bares, macht des Volkes Herz nicht unruhig.« Er hält diess für 
erforderlich, weil sich das pü kiän, »nicht ansehen«, auf den König 
beziehen müsse. Allein so fignificant bezieht sich auch das »nicht 
hochstellen«, das »nicht hochschätzen u nicht auf den König oder 
Fürsten, um es nothwendig auf ihn zu beschränken. Dann aber ist 
hier auch nicht der Gedanke symmetrisch ; denn wer ansieht, was 
begehrt werden kann, dem wird zunächst das eigene Herz unruhig, 
aufgeregt, verwirrt (luän), er sei Fürst oder gehöre zum Volke. End- 
lich aber gehören ja auch Erhöhung und Reichthümer zu dem, was 
begehrt werden kxmn. Der Satz dürfte daher ganz allgemein zu 
fassen seyn, und den Sinn haben : Wer das nicht sieht und nicht 
ansieht, was die Begier erregen kann, dessen Herz geräth nicht in 
Unordnung ; weshalb denn auch hierin der Regierende dem Volke 
als Vorbild vorangehen soll. 

^) Um jenen Forderungen zu genügen, bereitet der heilige 
Mensch, wenn er im Regimente sitzt, vor Allem sich selber zu. In 
unverkennbarer Bezugnahme auf den voranstehenden Satz heisst es 
zuerst: »er leeret sein Herz«, nehmlich von allen Begierden, die es 
beunruhigen könnten ; er macht es rein und frei von Leidenschaften, 
Wünschen, von aller Anhänglichkeit an äusserliche, weltliche Dinge. 
Dagegen »füllet er sein Inneres« (fo^ im eigentlichen Sinne »Bauch«, 
in übertragener Bedeutung »the seat of the minth, Morrison,)^ d. h. 
er zieht sich in sich selbst zurück (vgl. Kap. 10) und äussere Güter 
verschmähend, sammelt er innere, füllet er seinen inwendigen Men- 

2* 



20 

sehen mit geistigen Schätzen. »Er schwächt seinen Willen«, — er 
nimmt dem nach aussen gerichteten Streben und Trachten die trei- 
bende Kraft und tilgt damit die Wurzel der schädlichen, eigne und 
fremde Kräfte verzehrenden Viel- und Grossthätigkeit. Dagegen 
))6tärkt er« seine Knochen, »sein Gebein« ; was die Ausleger von der 
physischen Kraft allein verstehen wollen, wobei aber zugleich, und 
wol vorwiegend, an das zu denken seyn dürfte, was dem inwendigen 
Menschen in gleicher Weise Festigkeit, Haltung und Aufrichtung 
giebt, wie dem Körper das Knochengerüst, — was wir also etwa 
Charakterfestigkeit nennen würden. Dabei entspräche es ganz La6- 
ts^'s Denkweise, diese Antithesen zugleich consecutiv zu fassen : denn 
wird das Herz geleert von Begierden nach weltlichen Dingen, so 
Rillt sich das Innre mit geistigem Gut, und schwächt der Mensch 
durch eigne Willenskraft sein Wollen und Trachten, so erstarkt er 
an Seel' und Leib. 

^) Ist der heilige Regent so beschaffen, so wird er »beständig 
bewirken, dass das Volk weder kennt noch begehrta — wozu das 
Object aus dem Frühem zu ergänzen ist: dasjenige, was Hader, 
Diebsgelüst, Herzensunruhe erregt, lernt es nicht kennen, denn diess 
Alles hält er ihm fem ; und was es nicht kennt, begehrt es nicht. 
Ignoti nulla cupido. Nach La6-ts^ ist Unschuld edler und köstlicher 
als Tugend. Auch diese seine Fordemng kann uns die Gegenwart 
verständlich machen, denn der Luxus und das Wolleben der hohem 
Stände ist ohne Zweifel Hauptursache der Unzufriedenheit, der un- 
ordentlichen Gelüste und Unmhe der niederen. 

®) Kann der heilige Regent rücksichtlich dessen, was die Begier- 
den aufregt, nicht Jedermann in Unkenntniss und dadurch in der 
Einfalt der Unschuld erhalten, so wird er doch die nicht mehr 
Unschuldigen,'' »die welche kennen«, durch sein eignes negatives 
Verhalten und vermöge der Autorität seines Vorbildes zurückhalten, 
vom Begehren zur That fortzuschreiten, und also bewirken, dass sie 
»nicht wagen zu thun«. 

^) Nachdem bisher gezeigt worden, wie der ideale Regent durch 
sein negatives Verhalten das Volk von dem Unrechten und Verderb- 
lichen zurückhalte, und was er dadurch bewirke {ssl)y wird dasselbe 
nun in die Worte zusammengefasst : u*^ium w^y »er thut Nicht-Thun«, 
sein Thun ist ohne Thun ; was eben nichts anders sagt, als er wirkt 



21 

durch sein negatives Verhalten, damit an den ethischen Satz des 
vorigen Kapitels anknüpft, und dort wie hier paradox ausgedrückt 
ist, um das Nachdenken herauszufordern. Man vergleiche hierzu 
§21 der Einleitung. Da das Nicht-Thun hier vom heiligen Menschen 
als Regierendem ausgesagt ist, so verneint es dessen Activität in 
dieser Eigenschaft, sagt also, dass der ideale Regent lediglich als 
sittliche Potenz wirke, hierdurch sittlich geordnete, freie, friedliche 
Zustände und damit Glück, Wolstand und Zufriedenheit herbeiflihre. 
Verhält er sich daher so, »thut er das Nicht-Thun, dann« — tse^ was 
das vorangehende wH wü wU zum bedingenden Satze macht — 
»dann ist nicht nicht-regiert« oder »dann mangelts nicht am Regieren«, 
sowol am guten Regieren, als am Regieren überhaupt. Denn tschlj 
das zunächst »zurechtbringen, heilen«, dann auch »regieren« heisst, 
hat im letztem Falle die Nebenbedeutung des guten , heilsamen 
Regierens. Dennoch soll hier wol vornehmlich gesagt seyn , wenn 
der Regierende sich als solcher der Activität enthalte und nur als 
ethische Autorität wirke, so sey das durchaus noch keine Regierungs- 
losigkeit, keine Anarchie. 



Viertes Kapitel. 

Taö ist leer, und gebraucht er dess, wird er nie 
gefüllt. * Ein Abgrund, oh ! gleicht er aller Wesen Ur- 
vater. 2 

»Er bricht seine Schärfe, 

Streut aus seine Fülle, 
Macht milde sein Glänzen, 
Wird eins seinem Staube«** — 

Tiefstill — gleich wie wenn er dawäre.* Ich weiss 
nicht, wess Sohn er ist. Er zeigt sich als des HErrn 
Vorgänger. ^ 



*) Indem La6-ts^ zu dem Hauptgegenstande des ersten Theils 
(vgl. § 24 der Einl.), der ausführlicheren Darstellung des Prinzips, 
mit diesem Kapitel übergeht, knüpft dasselbe dem Inhalte nach an 
das erste Kapitel an. Seine Schwierigkeiten, die schon Stan. Julien 
anmerkt, treten zumeist bei dem Anfangssatze hervor. Obgleich wir 
obige Uebersetzung desselben keineswegs fiir unanfechtbar halten, 
wollen wir sie doch zu rechtfertigen suchen. In allen Ausgaben des 
Originals heisst er , ohne Varianten : Tab tschküng^ dll jung tschiy 
hoe pü ßng. Beginnen wir mit den letzten Worten pü jtngy so gibt 
diese, nach Auffassung einiger Ausleger, Julien durch ifUpuisablcy 
Chalmers durch cxhaustless wieder. Allein da von tsc/ihüngy »leer«, 
jfng der (Gegensatz ist, so heisst es hier, wie immer, »voll, gefüllt«, 
pii jtng mithin »nicht voll, nicht gefüllte, also genau das Gegentheil 
von »unerschöpflich«. Und ^tajtngj nach seiner Stellung, als Zeitwort, 
und in Ermangelung eines Objects, als Passivum anzusehen ist, so 
heisst es : »er wird nicht geflillt«. Das dem /// voranstehende hoe 



. 23 

erklärt H6-schäng-küng durch tschliäng^ »immer, ewig« ; was allerdings 
nur zulässig ist, wenn es als eine das »nicht« in Beziehung auf seine 
Dauer unbestimmt machende Partikel angesehen wird ; da diess aber 
ganz annehmbar erscheint, so haben wir hoe pü durch »nie« wieder- 
gegeben. Was heisst nun aber jung tschl ? Julien übersetzt : si Con 
fait usage^ nimmt also fiir das Zeitwort jüng^ gebrauchen, ein unbe- 
stimmtes Subject an imd bezieht das Fürwort tschl auf Ta6. Dass 
diess grammatisch zulässig sey, versteht sich bei Julien von selbst, 
auch könnte Läo-ts^ gar wol sagen jung tab^ Tab gebrauchen oder 
anwenden (vgl. Kap. 6 a. E.) . Freilich dürfte man jtng dann wol 
auf dasselbe Subject beziehen, und übersetzen : »Ta6 ist leer, und 
wer ihn gebraucht, wird nie gefüllt« ; allein, da alsdann der zweite 
Gedanke nur eine Folge des ersten wäre, so würde er nicht durch bll 
angeschlossen seyn ; dann aber würde er doch auch an diese Stelle, 
ja in das ganze Kapitel, wo immer nur von Taö selbst geredet wird, 
gar nicht passen. Gerade das verbindende 611 ^ »und doch, und 
zugleich«, zeigt, dass die Gegensätze »leer seyn« und »gefüllt werden« 
sich auf dasselbe Subject, Taö, beziehen sollen. Ist dem so, dann 
muss jung eine Thätigkeit bezeichnen, welche darauf gericlitet wäre, 
die Leere Tad's zu füllen, was sodann unmöglich genannt wird. 
Welch ein andres Subject Hesse sich aber fiir diese Thätigkeit denken, 
als Taö selbst? Ist nun Taö das Subject fiir jüng^^ so kann er nicht 
das durch das Fürwort tschi bezeichnete Object seyn, als dieses muss 
vielmehr das tschhüng^ das »Leerseyn<s angenommen werden. Und 
so kommen wir zu dem Sinn: Taö ist leer, und dabei gebraucht er 
diese Leere, um sie nehmlich zu flillen, ohne dadurch selbst je gefüllt 
zu werden. — Bei aller Unbeholfenheit des Ausdrucks lässt sich der 
speculative Gehalt doch nicht verkennen. Indem Taö als leer bezeich- 
net wird, ist alles Gegenständliche aus ihm hinweggenommen und 
er wird nur noch als das rein urständliche Wesen, als das absolute 
Subject gedacht. Nun aber verharrt er nicht in dieser blossen Leere, 
er gebraucht, er benutzt sie und setzt, was zunächst in ihr bloss seyn 
konnte, als Seyendes in sie, womit efs durch den Vorgang, der 
in Kap. 2 1 dargestellt ist, zur Heraussetzung des durchaus Gegen- 
ständlichen, d. i. des Universums kommt. Würde damit nun das rein 
urständliche Wesen gefUllt, ausgefüllt, so könnte diess nicht anders 
seyn, als indem es selbst in das Gegenständliche über- und aufginge 



24 

und daher ausser sich geriethe. Dem ist jedoch nicht so, vielmehr 
bleibt es in sich und bei sich, weil es immer noch grösser ist, als 
alles gegenständliche Seyende, das es in jene Leere gebracht hat, 
denn es wird davon nie ausgefüllt. 

2) Eben weil Taö nie gefüllt wird durch Alles, was er in sich 
hervorgebracht hat ohne dass er selbst es ist, ist er ein unendlicher 
»Abgrund«, juan^ dessen Tiefe das Geistesauge nicht durchdringen, 
in dem es nichts Unterscheidbares mehr wahrnehmen kann ; denn 
der letzte Grund von Allem ist grundlos und unterschiedslos. Weil 
er aber in dieser Abgründigkeit Grund und Anfang von Allem ist, 
was durch ihn an sich seyend geworden, so verhält er sich zu dem 
Universum gleichsam wie ein Ahnherr (tsüng)^ der als Ursprung und 
Stifter eines Geschlechtes verehrt wird. 

^) Die Ausleger sind uneins, ob diese Verse sich auf Taö bezie- 
hen oder auf »den, der Taö hat«. Zur Annahme des letzteren gibt 
der Text nicht die geringste Veranlassung, weiset es vielmehr gerade- 
zu ab, und es kann nur aus Kap. 56 geschlossen seyn, wo das Citat, 
noch um zwei Verse vollständiger , auf den (Taö) - Erkennenden 
angewandt wird. Dort aber findet sich der Zusatz^ »Das heisst tiefes 
Einswerden«, mystische Wesenseinheit — mit Taö nehmlich — , was 
denn doch wohl auf unsere Stelle zurückweist und in dieser die 
Beziehung auf Taö bestätigt. Schon desshalb dürfte Stan. Julien 
nicht beizustimmen seyn, wenn er meint, »vielleicht müsse man diese 
vier Satzglieder aus diesem Kapitel streichen, wo sie nicht an ihrer 
Stelle zu seyn schienen, möge man sie auf Taö beziehen oder auf 
den Weisen, der Taö hat«. Gar wol aber dürften sie an ihrem Platze 
seyn. Denn wenn die Chinesen dem in die Geisterwelt hinaufge- 
schiedenen Stammvater die stetige Obhut und Fürsorge für sein 
ganzes Nachgeschlecht zuschrieben, und wenn Taö soeben mit einem 
Stammvater aller Dinge verglichen war, so lag es natürlich nahe zu 
sagen, wie er denn nun zu alle den Wesen, die »gleichsam« seine 
Enkel und Nachkommen seien, sich verhalte. Und das sollen die 
Verse wenigstens kurz andeuten. — Heisst es zuvörderst : »Er bricht 
seine Schärfe« oder Spitze (sjüi), das schneidig Durchdringende 
seines Wesens, so %vird damit zuerst seine herbe Unwiderstehlichkeit 
anerkannt, die alles Widerstrebende gleichsam zu durchschneiden 
und zu durchbohren vermag ; zweitens aber auch erkannt, dass er 



25 

diese seine vernichtende Schärfe (die das alte Testament als ein 
verzehrendes Feuer bezeichnet) , an seinen Wesen abbricht, sie an 
ihnen und vor ihnen umbiegen lässt, damit sie davon, wie wir hinzu- 
setzen müssen^ nicht zerstört, und sofern sie frei wollende sind, nicht 
unfrei werden. Aber er hält sich dergestalt nicht bloss von ihnen 
zurück, er theilt ihnen auch auf alle Weise mit und »streut aus seine 
Fülle« — wobei wir nach dem Khäng-hi'schen Wörterbuche kiäi 
durch sdn (3756) = spargere y und fen ditfch sching (6559) = 
(ibundantia erklären — ; er behält seinen mannigfaltigen Reichthum 
nicht für sich, nicht in seinem blossen Können beschlossen, sondern 
bringt ihn heraus und theilet ihn aus an die Geschöpfe. Wenn er 
aber so sich ihnen eröffnet im Dargeben und Mittheilen, so würden sie 
selbst in seiner Güte die strahlende Herrlichkeit seines Wesens nicht 
ertragen können und ihr erliegen ; er aber »macht milde sein Glän- 
zen«, sänftiget seine Lichtglorie, dass sie sich ihnen wolthuend und 
harmonisch anbequemt (ho), und so sie zu sich heraufhebt, indem 
sie sich zu ihnen herablässt. Und noch nicht genug. Die Herab- 
lassung Taö's geht bis zum Äussersten : »Er wird eins, wird gleich, 
identificirt sich (thüng) seinem Staube«, dem was für ihn das Gering- 
ste, Niedrigste, Flüchtigste ist, dem Vergänglichen und Verächtlichen, 
in welchem Sinne auch die Buddhisten diese Welt tschhtn^ Staub, 
nennen. — Die Anwendung des letzen Verses auf Taö zeigt, dass 
La6-ts^ die Idee einer Synthesis Gottes mit der Creatur hatte, deren 
Verwirklichung der Mittelpunkt des Christenthums ist. — 

^) Diese Worte schliessen sich eng an das Vorhergehende an 
und sagen, wie Taö dabei sich an sich selbst verhalte. — Unsere 
besten Ausgaben lesen; tschdn hi ssi sjo t/isün; nach Julien hätten 
die meisten, statt sjo (8873), hoe (3 181); auch finde sich einmal 
tschhäng (2439), w^ ^ selbst vorzieht, während er die Lesart sjo 
unberücksichtigt lässt. Wir halten sjo für das Richtige und fassen 
ssi sjo als »gleichseyn wie« oder- bei folgendem Zeitwort »gleichwie 
wenn, gleich als ob« ; thsün aber nicht in dem Sinne von »bestehen« 
(subsister), sondern von »daseyn, existiren«. Das ht haben wir nur 
durch den Gedankenstrich angedeutet (In the middU of a sentence it 
dtnotes an enqtäryj which is answered in the foUowmg member. Mor- 
rison,) y und fassen die Aufeinanderfolge etwa so: Er macht sich 
gleich seinem Staube — und das bei der tiefsten Stille? ja als ob er 



26 



in herausgesetzter Wirklichkeit dabei wäre! Denn was die Verse 
von ihm aussagen, könnte ja dadurch zweifelhaft erscheinen, dass 
er selbst dabei durchaus verborgen und ohne Bewegung bleibt Diess 
vfird denn auch nicht geleugnet, vielmehr zugegeben, jenem seinem 
Verfahren aber zugleich eine solche Thatsächlichkeit zugesprochen, 
»gleich als ob« es von einem wahrnehmbar Wirklichen ausginge. 
Denn ein Daseyn wie dieses hat Taö nicht, der vielmehr, mit ihm 
verglichen, ist, als wäre er nicht ; von dem also ein solches Daseyn 
nur gleichnissweise ausgesagt werden kann. — Gegen die Lesart 
tschhäng spricht, dass Laö-ts^ doch wohl nicht sagen kann, Taö 
gleiche nur einem Ewig-Seyenden , nachdem er in dem ersten 
Satze des Buchs seine Ewigkeit als unzweifelhaft vorausgesetzt. 

*) Laö-ts^ will nicht sagen, Taö könne vielleicht eines Anderen 
Sohn seyn, den er nur nicht kenne, sondern der Ausdruck ist Ein- 
kleidung des Gedankens: er kenne nichts, was Ta6 vorausgehen 
oder vorausgegangen seyn könne. Es giebt kein Jenseits, kein Älteres 
und Ursprünglicheres vor Taö. Er, der Grund von Allem, hat nicht 
wieder einen Grund. Dagegen zeigt er sich als — oder kt er der 
Form nach — des HErrn, des Schäng-H^ Vorfahr oder Vorgänger, 
der Frühere und Ältere. Es ist diess bei Laö-ts^ die einzige Stelle, 
wo er von dem (höchsten) HErrn spricht, und sie ist sehr merk- 
würdig. Er identificirt den HErrn nicht mit Taö, stellt ihn vielmehr 
in das Verhältniss eines von Taö Ausgegangenen und Hergekommenen. 
Diess kann nicht als mythologische Succession gemeint seyn, und 
seiner ganzen ^Denkweise zufolge wäre es unmöglich, anzunehmen, 
er betrachte beide als zwei Götter im Sinne der Hindu oder der 
Griechen. Da er sich jedoch nirgends darüber äussert, so sind wir 
nur auf Vermuthungen angewiesen. Vielleicht dachte er sich das 
Verhältniss so. Eine herrschende und regierende Macht über der 
Welt, und das bedeutet Schdng-Ti^ kann nicht eher seyn, als' bis die 
Welt ist. Vor dem Werden der Welt ist nur der absolute Grund als 
das unaussprechliche Wesen, und diess muss erst als der aussprech- 
liche Taö alle Dinge in ihr Seyn hinausführen, damit nun die Gott- 
heit auch Herr und Herrscher (Ti) über die Welt seyn könne. Es 
dünkt uns nicht unwahrscheinlicli, dass imserm Autor der iK)berste 
Herrscher« nur eine besondere jüngere Würde des namenhabenden 
Taö, der offenbarenden und bildenden Potenz des göttlichen Wesens, 



27 

• 

war. Auch Hesse sich denken, das er mit diesen letzten Worten 
zugleich auf den geschichtlichen Vorgang anspielen wollte, womach 
die Bezeichnung des höchsten Wesens schon in älterer Zeit aus Taö 
in Schäng-tf übergegangen (vgl. die Einleitung § 12.), und dass er 
nun, daranknüpfend, beide Benennungen verwenden wollte, um dem 
Gedanken einer innergöttlichen Anderheit und Gegenheit, dem wir 
schon im ersten Kapitel begegneten, einen neuen Ausdruck zu 
geben. — Sidngy als Zeitwort, heisst (wie das andere sidng No. 437) 
»eine Gestalt, eine Form annehmen oder haben, gleichen, sich dar- 
stellen oder als etwas zeigen«. Siäfty durch das vorangehende tscht 
als Substantiv ausgewiesen, ist der Vorgänger oder Vorfahr. 



Fünftes Kapitel. 

Himmel und Erde haben keine Menschenliebe; sie 
nehmen alle Wesen für einen Heu-Hund. • Der heilige 
Mensch hat keine Menschenliebe; er nimmt das Volk 
fiir einen Heu-Hund. ^ Was zwischen Himmel und Erde, 
wie gleicht es dem Blasbalg !^ Er ist leer und doch 
unerschöpflich; er regt sich, und umsomehr geht her- 
aus. ^ 

»Viel Worte meist in Nichts verrinnen; 
Und besser, man bewahrt es innen. « * 



*) Es ist ein auffallendes Paradoxon, dass Himmel und Erde, 
— diese grossen verehrungswürdigen Naturmächte, — und wie sie, 
so die heiligen Menschen ohne Menschenliebe seyen. Dieser Aus- 
spruch und einige ähnliche haben La6-tsd den Vorwurf eingetragen, 
er verkleinere Menschenliebe und Gerechtigkeit (vgl. Kap. i8. 19.) 
Die Ausleger suchen ihren Autor auf verschiedene Weise zu retten. 
Einige erklären das Wort sßfif das »Menschlichkeit, Menschengefuhl, 
Menschenliebe, Wolwollen, Mitleid« heisst, an unserer Stelle durch 
»Vorliebe, besondere Zuneigung«, die sich also nur auf Einzelne 
erstrecken, und lassen Laö^ts^ sagen, Himmel und Erde, und so 
auch der Heilige, zögen Niemand vor, und behandelten Alle gleich 
gütig. Aber zu dieser Auslegung passt das angeschlossene Gleich- 
niss nicht. Andre sagen, pü sßfif »nicht menschenliebend«, soll 



29 

heissen, keine Menschenliebe zeigen, wiewol sie das Motiv sey. 
Allein auch hierzu passt das Gleichniss nicht In Betreff des letzteren 
wird uns berichtet, dass man beim Opfern einen aus Heu gemachten 
Hund vor den Altar stelle, um Unglück abzuwehren, dass man ihn 
hierbei mit allerlei kostbarem Schmuck verziere, nach dem Opfer 
dessen entkleide und auf die Strasse werfe, wo er zertreten werde. 
Für was nimmt man denn nun den Heu-Hund als solchen, als was 
sieht man ihn an? Offenbar nicht für einen Gegenstand des Mit- 
gefühls oder Wolwoliens, sondern als etwas Gleichgültiges, das man 
nur um eines Höheren, nehmlich um des Opfers willen, so reich 
ausschmückt, nicht aber um seinem Gefühle gegen dasselbe genug- 
zuthun. Sagt demnach das erläuternde Gleichniss, dass Himmel 
tmd Erde alle Wesen nicht um des theilnehmenden Gefühls, sondern 
um emes Höheren willen, mit Schmuck und Gaben überhäufen, so 
kann sfin weder Vorliebe für Einzelne bedeuten, noch kann es das 
eigentliche Motiv seyn, wird als solches vielmehr gerade abgelehnt 
Und was ist ihr Motiv? Ta6. Denn Taö ist ihr Richtmass und 
Vorbild (Kap. 25 a.E.). Es ist das Göttliche, dessen sie theilhaftig 
sind^ das sich erweiset in ausquellender und überfliessender Gütig- 
keit 

^) Auch der heilige Mensch handelt nicht aus blosser mideid- 
iger Gefühlsregung ; in dieser Hinsicht achtet auch er das Volk — 
wörtlich: »die hundert Namen« oder »Geschlechtera — für einen 
Heu-Hund. Nicht als ob er diese Menschenliebe nicht hätte ; aber 
nicht ihn macht die Menschenliebe gut, sondern er macht die Men- 
schenliebe gut ; denn er hat mehr als sie, er hat die selbstlose Güte 
(Kaip. 8.) , welche La6-ts^ Tugend nennt, welche ihn, Taö annähert, 
noch mehr, er hat Taö. Denn so stuft es Laö-ts^ ab : Taö verloren, 
dann hat man Tugend ; Tugend verloren, dann hat man Menschen- 
liebe etc. (Kap. 38.); und ähnlich (Kap. 18.): Wird der grosse 
Taö verlassen, so gibt es Menschenliebe und Gerechtigkeit Laö-ts^ 
wusste gar wol, wie wenig im Gmnde an jener Menschenliebe ist, 
die man im Deutschen Gutherzigkeit nennt und die nicht selten nur 
Schwäche ist, wenn sie nicht im höchsten sittlichen GruncJe^hiGott^ 
jvurzelt Daher seine wiederholte Polemik gegen sie, die vielleicht 
auch gegen Khüng-ts^ gerichtet war, da dieser sie für die höchste 
Vortreflflichkeit erklärte. 



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30 

3) »Was zwischen Himmel und Erde«, th^an ti tschi ktäfij kann 
nicht. der abstracte Raum seyn (Chalmers), von dem eine Producti- 
vität nicht ausgesagt werden könnte ; aber eben so wenig Taö, wie 
chinesische Ausleger meinen, da es mit der Denkweise La6-ts^'s nicht 
übereinstimmen würde, den ewigen Urgrund Himmels und der Erde 
als von diesen beiden befasst darzustellen. Es ist vielmehr das, was 
durch das Zusammenwirken beider zwischen ihnen enthalten ist. 
Die Vergleichung mit dem Blasbalge zeigt, dass dabei diess Zusammen- 
wirken, wie das der Wände des Blasbalges, die Hauptsache ist 

^) Ein Gleichniss wird angeführt, um das Unbekannte durch 
das Bekannte zu lehren, und deshalb können sich diese Aussagen 
nur auf den Blasbalg beziehen ; es versteht sich von selbst, dass als- 
dann das Gleiche gilt »von dem, was zwischen Himmel und Erde 
vorgeht So hat das Gleichniss selbst und seine Anwendung keine 
Schwierigkeit [Khiü^ nach dem Khang-hi'schen W. B. soviel als tsin^ 
6567 ; pü khiü also : »er wird nicht erschöpft« oder »ist unerschöpf- 
lich«.) Es fragt sich nur, woran denn das, was Himmel und Erde 
zwischen sich enthalten, unerschöpflich ist und was sie daraus her- 
vorgehen lassen. Diess kann nach dem Zusammenhange nur das 
seyn, was sie — auch ohne Menschenliebe — allen Wesen als Gaben 
und Schmuck verleihen, Alles mithin, was den (Geschöpfen gut, 
nützlich, wolthätig, erfreulich ist, kurz was ihr Leben fördert, wie 
der Windstrom des Gebläses die Flamme. Productiv macht sie in 
dieser Hinsicht also nicht ein Gefühlsantrieb, sondern der ausflies- 
sende Reichthum dessen, was sie aus dem «Leeren« unerschöpflich 
hervorzubringen vermögen. 

*) Der angeführte Reim, der etwas Sprichwörtliches hat, scheint 
hier in mehrfacher Absicht zu stehen und nicht bloss die Unzuläng- 
lichkeit der Rede in Bezug auf das eben Erwähnte andeuten zu 
sollen, sondern auch den Gnmd, weshalb der Weise überhaupt 
schweigsam ist, und weshalb der Autor die weitere Erörterung hier- 
mit abbricht Die segensreiche Erzeugungskraft des Zusammenwir- 
kens von Himmel und Erde hat etwas so geheimnissvoll Wunder- 
sames, dass man, bei allem Reden davon, doch einmal über das 
andre ins Stocken geräth und nichts weiter zu sagen weiss. Bei 
Betrachtung solcher Dinge in seinem Innern thut man daher besser, 
das Innre [tschüng) festzuhalten, zu bewahren, d. h. nicht zu ver- 



31 

suchen, es zu äussern. Eine Hinweisung auf das Innehalten der 
rechten Mitte im viel oder wenig reden wäre hier ein sehr schwacher 
Gedanke, obgleich scheu tschüng diess heissen könnte. Tschüng 
bedeutet aber auch die Mitte einer Person, ihr Centrum, ihr Inneres, 
oder was in ihr ist, und so dürfte es hier gemeint seyn. Sofern die 
Worte die Äussenmg des Innern sind, steht dann tschüng dem jän^ 
»Wort, reden«, und nicht dem Z^, »viel« entgegen. 



Sechstes Kapitel. 

»Der Thal-Geist ist unsterblich; er heisst das tiefe 
Weibliche. ^ Des tiefen Weiblichen Pforte , die heisst 
Himmels und der Erden Wurzel. ^ Je und je ist er wie 
daseyend;* man braucht ihn mühelos«.* 

^) Von Himmel und Erde als den ersten grossen Naturaiächten 
ist in dem vorigen, diesem und dem nächsten Kapitel die Rede. 
Im vorigen nach ihrer affectlosen und unerschöpflichen Ausgiebig- 
keit, im nächsten nach ihrer Selbstlosigkeit und deren Folgen ; und 
in beiden Kapiteln nach ihrer Vorbildlichkeit fiir den heiligen Men- 
schen. In diesem Kapitel wird zurückgegangen auf das tiefere Prin- 
cip ihres Werdens und Wesens. — Der Philosoph Lie-ts^ (um 400 
V. Chr.) fuhrt diess Kapitel ebenfalls an und zwar mit den Worten : 
Hoäng-H schüjücy »Hoäng-tl's Buch sagt«. Ihm muss also ein Buch 
unter diesem Titel vorgelegen haben, wie man denn auch weiss, dass 
die Taö-ssd den Ursprung ihrer Lehre von dem sagenhaften Kaiser 
Hoiing-tf, dessen hundertjährige Regierung in die Jahre 2697 — 
2597 V. Chr. gesetzt wird, herleiten. Da Lie-ts^ nun das Taö te 
king kannte, gleichwol aber diess Kapitel auf Hoäng-tf's Buch 
zurtickführt, so muss er dieses für das ältere erkannt und bei Laö- 
ts^ in unserm Kapitel nur eine Citation gefunden haben. Auch ist 
kein Grund abzusehen, weshalb man die Richtigkeit seiner Ansicht 
bezweifeln sollte. Zur Erklärung des Inhalts hat er nichts beigetra- 
gen; er schliesst mir daraus, dass, »was die Wesen hervorbringe, 
nicht hervorgebracht sey, was die Wesen wandle, nicht gewandelt 
werde«. — Dass der Ausdruck »Thal-Geista sich im Allgemeinen 
auf Taö beziehe, ist nicht zu bezweifeln; sollte aber nicht etwas 



33 

Besonderes damit bezeichnet werden, so wäre kein Grund für diesen 
Ausdruck vorhanden. Auch deutet er sich dadurch an, dass dieses 
Bezeichnete das tiefe Weibliche genannt wird. Die Erklärungen der 
Ausleger sind ungenügend. Das Khäng-hi'sche WB. erklärt kü in 
unsrer Stelle durch jäng (12,351), eUmuSy nutrlensy sustentans; diess 
ist jedoch mehr Auslegung als Worterklänmg. Das Schriftzeichen 
fiir kü stellte Wasser dar, das durch einen Mund ausströmt, und 
bedeutet einen fortgeleiteten Quell, einen Berg- oder Waldbach, 
Rinnsal, Strombett, gewöhnlich ein Thal. Wir haben den letzten 
Ausdruck gewählt, erklären ihn aber durch das Thalwärtsgehn oder 
Ausfliessen. Kü schtn ist demnach der »ausfliessende Geist«. Er wird 
zunächst als der bezeichnet, der »nicht stirbt« und in bleibender 
Lebendigkeit unsichtbar da ist, während alle Wesen aus der Unsicht- 
barkeit in die Sichtbarkeit herausgebracht werden und durch das 
Sterben in die Unsichtbarkeit zurückgehen müssen. — Der unsterb- 
lich-ausfliessende Geist heisst nun (nehmlich ist) das »tiefe (oder 
mystische) Weibliche«. Diess zeigt uns, dass wir unter ihm das zu 
denken haben, was wir bereits zu Kap. i als das Weibliche in Ta6 
annehmen musstcn, vermöge dessen Er aller Dinge Mutter werden 
konnte. Denn dass hier von etwas zu Taö Gehörigem geredet wird, 
ist offenbar. 

2) Hiess es im ersten Kapitel, die beiden Potenzen der Gottheit 
in ihrer Einheit seyen alles Herrlichen und Geistigen Pforte oder 
Ausgang, so ist zu schliessen, dass von ihnen auch der unsterbliche 
Thalgeist, diess »Ewigweibliche« ausgegangen, und stetig ausgeht. 
Nun wird aber hier diesem ausfliessenden Geiste selbst wieder eine 
Pforte, ein Ausgang zugeschrieben, welche die Wurzel Himmels und 
der Erden genannt wird, während der Urgnmd oder Anfänger dieser 
Ersten Naturmächte nach Kap. i das unnennbare Urwesen ist. Diess 
weiset dem ausfliessenden Geiste, dem Tiefweiblichen, ein doppeltes 
Verhältniss zu, in welchem es jedesmal als vermittelnde Potenz auf- 
tritt. Es ist i) dasjenige, wodurch die Erste oder Ur-Potenz der 
Gottheit jene grossen Grundlagen der Welt ausgehen lässt, und 2) 
das, wodurch die Zweite Potenz Mutter aller Wesen wird. Es 
scheint daher der Letzteren besonders zugehörig und gleichsam ein 
Bestandtheil ihres Wesens zu seyn. Aber nochmjils müssen wir es 
nach einer doppelten Seite in Betracht ziehen. Es ist i) Geist, und 

3 



34 

hat daher, nach Kap. 39, die Selbsteinheil, die ihm Verstand, In- 
telligenz giebt und ohne welche es vergehen würde, also nicht un- 
sterblich seyn könnte ; ist femer , nach Kap. 2 1 (wo Ife durch das 
Synonym tstng^ 7698, bezeichnet wird) in Taö und Taö's Geist 
Aber es ist 2) auch das Weibliche, d. i. das Empfangende, Ausge- 
staltende, nach Aussen Setzende. Aus dem Allen ergiebt sich, dass 
dieser Geist Taös von La6-ts^ als dritte Potenz in dem ewigen 
Urwesen gedacht wird, welche von den beiden Ersten ewig lebendig 
ausfliesst; dass in ihn aber zugleich hineingelegt wird, was die occi- 
dentalische theosophische Speculation als die göttliche Weisheit, 
niSDn, die göttliche 2!o(p(a, die Idea der Platoniker, die göttliche 
Imagination oder Magia Jacob Böhmes etc. substanziirt hat. 

*) »Je und je«, miän miäuj wie ein stetig fortlaufender Seiden- 
faden, unaufhörlich, immerwährend, ist der ausfliessende Geist des 
Tiefweiblichen »wie daseyend« welches letztere genau mit denselben 
Worten Kap. 4 von Taö gesagt war, in dieser Hinsicht ihn also Taö 
gleichstellt. Auch er ist zwar, aber in anderem Sinne, als die Dinge, 
an denen wir ein gegenständliches Seyn, ein Daseyn wahrnehmen, 
und indem Sichtbares unerschöpflich aus ihm hervorgeht, bezeugt er 
sein Daseyn durchaus, ohne dass er an sich als daseyend wahrzu- 
nehmen ist. 

*) Indem der ewige Geist, der also auch die Fülle der göttlichen 
Idealwelt einschliesst, in deren Entlassung gleichwie daseyend an 
den Menschen, der ihn erkennt, herantritt, bietet er sich ihm, wie 
zum Vorbilde, so auch nach seinen Gaben und in beiderlei Hinsicht 
zur Anwendung, zum Gebrauche von selbst dar. Es bedarf keines 
besonderen Fleisses, keiner Anstrengung (pü khtn)y um in dem von 
ihm stetig ausquellenden Guten sich seiner zu bedienen, weil er darin 
selbst gegenwärtig — wie- daseyend — ist. — Die Ausleger beziehen 
alle Aussagen dieses Kapitels geradehin auf Taö, ohne auf die Unter- 
scheidungen, die Laö-ts^ an anderen Stellen macht, und auf die 
Gliederung seiner Anschauungen Rücksicht zu nehmen. — Der 
nähere Zweck des Kapitels gerade an dieser Stelle dürfte vornehm- 
lich seyn, den transcendenten Grund der beiden Ersten Naturmächte 
hervorzuheben, um sie sowol als vermittelnde Manifestationen von 
jenem, wie auch als vorbildliche Prinzipe zu beglaubigen. 



Siebentes Kapitel. 

Der Himmel ist bleibend und die Erde dauernd.* 
Himmel und Erde können deshalb bleibend und dauernd 
seyn, weil sie nicht sich selbst leben. Drum können sie 
bleiben und dauern. ^ Daher der heilige Mensch hintan- 
setzt sein Selbst, und selbst vorankommt; sich äussert 
seines Selbst, und selbst bewahrt wird.^ Etwa nicht, 
weil er nichts eigen hat? Drum kann er sein Eigen 
vollenden. * 

') Die Lesart thiän tschäng ü kieü dürfte die beglaubigtere seyn. 
Einige lesen : thiän tl tschäng kieu^ Himmel und Erde bleiben und 
dauern, oder dauern lange. Dem Sinn nach kommt Beides auf Eins 
hinaus. Beide Prädicate bezeichnen eigentlich nur eine lange, nicht 
immerwährende Dauer. 

2) Wurde im vorigen Kapitel gesagt, dass Himmel und Erde 
nicht von sich selbst daseyen, dass sie vielmehr wurzelten und ihren 
Lebensgrund hätten in dem unsterblichen Geiste, so hören wir hier, 
dass sie auch nicht für sich selbst leben und sind, und hieraus wird 
ihre Dauerbarkeit hergeleitet. Wir dürfen die Gedankenreihe,- die 
hinter diesem Ausspruche liegen, der wol nicht ohne Grund doppelt 
betont wird, folgendermassen ergänzen. Unbedingte Dauer kommt 
nur Ta6 zu, und in gleichem Masse, als Etwas an ihm Theil hat, 
hat- es Dauer. Je mehr es aber für sich und seine Eigenheit lebt, je 
mehr es sich auf sich selbst zusammenzieht, desto mehr verschliesst 
es sich dem Einfliessen des Göttlichen (Taö) , das seine Dauer ihm 
gewährt. Was sich selbst lebt, nimmt an eigener Lebensfülle zu, 

3* 



v^ 



36 



kann sie aber nicht festhalten, und sobald sie ihren Höhepunkt er- 
reicht hat, schwindet sie wieder dahin (Kap. 55 a. E.). Das Wesen, 
das sich mit ihr identificirt hat, erliegt mithin gleicher Abnahme ; 
nichtgöttlich (Nicht -Taö oder taölos) geworden, endet es bald. 
Himmel und Erde aber, in der göttlichen Idea wurzelnd, ziehen alle 
ihre Lebenskräfte nur aus dieser, behalten sie aber, in reiner Selbst- 
losigkeit, nicht für sich zurück, sondern lassen sie auf alle Wesen 
fortwährend wieder auslliessen; und eben das verbürgt ihnen die 
bleibende Theilhaftigkeit am göttlichen Wesen (Taö) , und somit ihre 
eigne Dauer. Stetig finden und haben sie sich und das Ihre, weil 
sie sich und das Ihre stetig auf- und hingeben. 

^) Hier, wie im Folgenden, wird vom Prinzip aus sogleich 
Grund gelegt für das Ethische. — »Daher« — denn Himmel und 
Erde spiegeln das göttliche Gesetz, sie richten sich nach Taö, der 
Heilige richtet sich nach ihnen. So ist ihre Selbstlosigkeit sein Vor- 
bild. Er stellt sein Selbst nicht voran, er zieht es zurück, setzt es 
hintan, er will nicht der Erste seyn, und zwar diess nicht aus Ab- 
sicht, sondern in lauterer Einfalt. »Er äussert sich seines Selbst«, 
und darin liegt noch eine Steigerung des Vorigen ; denn auch für 
sich will er nichts seyn, in edlem Selbstvergessen giebt er sich ganz 
dahin, nicht etwa aus Leidenschaft oder Gedankenlosigkeit, sondern 
wiederum in lauterer Einfalt und Güte. Eben dadurch erlangt er, 
was er zu verlieren schien, indem er es aufgab ; er erreicht die ihm 
zukommende Voranstellung, er wird der Erste ; er erhält, bewahrt, 
conservirt sein Selbst. Da die Zeitwörter siän^ vorangehen, und 
thsun, bewahren, durch ihre Stellung passiven Sinn bekommen, so 
wird von ihm selbst dadurch die Activität des Voranbringens und 
Bewahrens hinweggenommen, und als Subject derselben kann nach 
Kap. 5 1 nur Taö angesehen werden. Übrigens weiset diess Bewahrt- 
oder Erhaltenwerden auf das Bleiben und Dauern von Himmel und 
Erde im ersten Satze zurück : ihnen gleicht der heilige Mensch in 
der Selbstlosigkeit, darum bleibt und dauert sein Selbst, — auch 
wenn er stirbt, vergeht er nicht (Kap. 33, a. E.). Schln heisst 
Körper, dann aber auch Person, Persönlichkeit, das Selbst und wird 
sogar häufig als blosses pronomen reflexivum gebraucht. Es in dem 
zweiten Satze durch Körper zu übersetzen, liegt gar kein Grund vor, 
verdunkelt vielmehr und schwächt den eigentlichen Gedanken. 



37 

*) Die verneinende Frage sagt gerade recht nachdrücklich, dass 
des heiligen Menschen Vorankommen und Bewahrtwerden gar keinen 
andern Grund haben könne, als weil er sein Selbst hintansetzt und 
sich dessen entäussert, was hier durch das tcfü sse ausgedrückt ist. 
Sse ist das persönlich Vorbehaltene, Besondere, Eigene. Der Hei- 
lige will nichts für sich seyn und haben, er verzichtet auf alles ihm 
besondres Angehörige, und eben dadurch macht er sich's möglich 
(n^ng)^ zur Vollendung zu bringen {tschhtng)^ was im eigentlichen 
Sinne sein Eigen (khi sse) ist, sein wahres Selbst. Es bedarf wol 
kaum der Erinnerung, wie nalie sich diess mit evangelischen Worten 
berührt, wie : »Wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden« 
— »die Letzten werden die Ersten seyn« — »wer seine Seele lieb 
hat, wird sie verlieren, und wer seine Seele hasset in dieser Welt, 
wird sie erhalten zum ewigen Leben«. Selbst die paradoxe Aus- 
drucksweise findet sich hier wie dort. 



Achtes Kapitel. 

Der ganz Gute ^ ist wie Wasser — Wasser ist gut, 
allen Wesen zu nützen, und streitet nicht; es bewohnt 
was die Menschen verabscheuen^ — ; drum ist er nahe 
an Taö. '^ Im Wohnen ist er gut äer j£rde, im Herzen 
gut dem Abgrund, im Geben gilt der Menschenliebe, 
im Reden giii der Wahrheit, im Herrschen ^ galt' deni' 
Regiment, im Geschäft gilt der Ceschicklichkeit, im 
Bewegen gut 1Ser ^eit. ^ Er streitet nicht, drum wird 
ihm nicht gegrollt. ^ 



^) Das im vorigen Kapitel aus dem Vorbilde von Himmel und 
Erde gezogene ethische Princip, die Aufgebung des Selbst, die Hin- 
gebung an Andere, wird hier weiter ausgeflihrt, zunächst an dem 
Gleichnisse des Wassers, dann durch den Nachweis, wie es sich in 
den einzelnen Beziehungen bewähre. «Der ganz Gutetc, wörtlich : 
»der hoch Gute oder höchst Gute« (schdng schin)^ ist hier nur eine 
andre Bezeichnung fiir den »heiligen Menschen«. 

2) Alle organischen Wesen bedürfen, um zu bestehen und er- 
halten zu werden, des Wassers, und gefallig und erquickend bietet 
es selbst sich ihnen dar, als ob es die Absicht hätte ihnen zu nützen. 
Durchaus giebt es sich hin, widerstrebt und widersteht nicht, will 
nichts für sich seyn, und schmiegt sich ohne Widerstreit in alle 
Verhältnisse ohne seine wolthätige Natur zu verleugnen. Wiewol 
aber Alle sein bedürfen und es Alle segnend erfreut, ist es doch ein 
Bild tiefer Demuth, denn überall sucht es die niedrigsten Stellen 
auf, stets abwärts fliessend und ruhig erst verweilend in solcher 
Niedrigkeit, die alle Menschen meiden und verabscheuen. In alle 



1 



39 

Dem gleicht ihm der »ganz Gute«. Die Worte von »Wasser ist gut« 
bis »verabscheuen« sind ein Zwischensatz zur Erläuterung der Ver- 
gleichung. 

3) Im Grundtexte könnte es zweifelhaft erscheinen, ob diess 
»nahe an Taö« sich auf den »ganz Guten« oder auf das »Wasser« be- 
ziehe. Der Satzanschluss lässt für den ersten Blick das letztere ver- 
muthen. Auch haben es mehre Ausleger so aufgefasst, sind dann 
aber freilich gezwungen gewesen, das Wasser auch für das Subject 
der nachfolgenden Aussagen zu erklären, was zu den Sinnlosigkeiten 
führt, dem Wasser Herz, Reden, Herrschen etc. beizulegen. Können 
sich nun diese sieben Sätze nur auf den »ganz Guten« beziehen, so 
muss die Epe2cegese auch mit dem Worte »verabscheuen« schliessen 
und das Subject alles Nachfolgenden der »ganz Gute« seyn. Bei 
dem vorliegenden Satze ist hinzuzudenken : Weil Taö das, worin der 
ganz Gute gemäss der Ausführung des Gleichnisses dem Wasser 
gleicht , in reiner Vollkommenheit hat , » darum « kommt der ihm 
nahe, der diese Eigenschaften besitzt. Diess »Naheseyn« oder 
»Wenigabstehen« (ki) ist doppelsinnig, es heisst sowol »grosse 
Ähnlichkeit haben«, als »sich dicht bei Etwas befinden«, und Laö-ts^ 
hat wol beides zusammenfassen wollen. 

^) In diesen sieben Aussprüchen ist das Wort schin (gut) bei- 
behalten , aber in zeitwortlicher Bedeutung , was darauf hinweist, 
dass der Gute in allen erwähnten Beziehungen sich a 1 s gut darthut, 
und dadurch sie zu dem macht, was sie seyn sollen, nehmlich eben- 
falls gut. Das deutsche »gut seyn« entspricht insofern dem verbalen 
chinesischen sckin^ als es ebenso »lieben«, wie »taugen« und auch 
»wolthun« bedeutet Die beiden ersten Sätze erinnern noch an das 
Gleichniss vom Wasser, das die Niederungen der Erde bewohnt, ja 
sich in ihre Abgründe hinunter begiebt. Der Gute, in Betreff seines 
Wohnens, liebt die niedrige Erde, d. h. er ist demüthig, und dadurch 
kommt er ihr zu gute, wie das Wasser die Niederungen fruchtbar 
macht. Was sein Herz anlangt, so ist er diesem und dieses ihm gut 
als Abgrund, d. h. was es umschliesst, das birgt er schweigend in 
dessen Tiefen, und in diese liebt er es sich ztuückzuziehen. Giebt 
und schenkt er, so thut er es um der Menschenliebe willen, hierin 
liebt er das Mitleid und Erbarmen ; aber er macht auch die Men- 
schenliebe, die so oft nur Gefühl oder Wort bleibt, durch thätiges 



(/■■ 

40 

Erweisen erst gut. Redet femer der Gute, so liebt und fördert er 
Wahrheit und Aufrichtigkeit, und macht dadurch das Reden zu 
etwas Gutem. Sofern er herrscht oder gebietet, gesetzgiebt, — liebt 
und fördert er die heilsame Leitung der Menschen, das gute Regiment. 
Ssiy Geschäft, ist eigentlich eine aufgetragene Verrichtung, weshalb 
es als Zeitwort auch »dienena heisst Es scheint daher einerseits im 
Gegensatze zu dem vorangehenden »Herrschen«, anderseits zu dem 
nachfolgenden »Bewegen« (füng) zu stehen, welches hier heisst »sich 
aus eignem Antriebe rühren und regen«. Das (aufgetragene) Geschäft 
verrichtend, taugt er und liebt er es, sich fähig, desselben mächtig 
und seiner Ausführung geschickt zu erweisen. Bewegt, rührt und 
regt er sich endlich von selbst, so versteht und liebt er es, die rechte 
Zeit dazu zu wählen. (Tüng hier auf Beförderung zu oder Rücktritt 
von einem Amte zu beziehen und unter der Zeit, seht, die Wege des 
Himmels zu verstehen, dürfte um so weniger Grund vorliegen, da 
überall nur vom activen Verhalten des Guten geredet wird. Seht ist 
hier die Zeit als Rechtzeitigkeit, tempus opportunum,) 

*) Diess weist auf das Gleichniss vom Wasser zurück, von dem 
es auch hiess, es streite nicht. So auch der ganz Gute : er widersetzt 
sich nicht, will keinen übertreffen, macht Niemand etwas streitig. 
Laö-ts^ legt auf diese selbstverzichtende Friedfertigkeit solchen 
Werth, dass er mit denselben Worten pü tseng, »er streitet nicht«, 
sein ganzes Buch beschliesst. Wer aber immer nur recht- imd wol- 
thut, still zurückweichend über Keinen sich zu erheben sucht, mit 
Keinem einen Wettstreit aufnimmt, der kann mit Andern nicht in 
Zwiespalt gerathen, sie können nicht über ihn murren, ihm nicht 
zürnen oder grollen. Darum, wie es Kap. 22 und 66 a. E. heisst, 
kann Keiner in der Welt mit ihm streiten. — Man wird abermals 
nicht verkennen, wie sehr die in diesem Kapitel geschilderte sittliche 
Beschaffenheit dem christlichen Ethos entspricht. 



Neuntes Kapitel. 

Ergreifen und vollgiessen, — besser, das unter- 
bleibt.* Betasten und schärfen, kann nicht lange wäh- 
ren.^ Füllt Gold und Edelgestein eine Halle, vermag 
es Keiner zu hüten. ^ Reich, Geehrt und Hochmüthig 
bescheert sich selbst sein Unglück.^ Verdienstliches 
vollendet, Ruhm erlangt — sich selbst zurückziehn, ist 
des Himmels Weg."^ 



*) Wer mit jener Selbstlosigkeit, welche das 7. Kapitel pries, 
seine »hohe Güte« so bewährt, wie sie das 8. Kapitel schilderte, der 
kann und wird Grosses vollenden, Ruhm erlangen, und wie er sich 
dann dabei zu verhalten hat, sagt diess 9. Kapitel. Zunächst ist es 
eingekleidet in drei bildliche Warnungen, die unter sich den Fort- 
schritt zeigen, dass die beiden ersten sich auf die Zeit beziehen, da 
man noch in Erfüllung seiner Aufgabe flir die Welt, begriffen ist, 
die dritte auf die Zeit, da man sie bereits erfüllt hat. — »Ergreifen 
und voUgiessen« bezieht sich natürlich auf ein Gefäss, welches unter 
dem angehängten Fürwort des Gegenstandes (tschi) zu verstehen ist, 
obgleich diess Fürwort zunächst nur dienen soll, um dem voraus- 
gehenden Zeitwort die active Bedeutung zu sichern. Unser vorbe- 
tontes und hat ganz wie das chinesische dll den Sinn von »und zu- 
gleich«. Den ganzen Ausspruch hat man so construiren wollen,' dass 
er sage, besser sey's, ein Gefäss nicht voUzugiessen, als es, wenn es 
voll ist, mit beiden Händen halten zu wollen aus Furcht, dass es über- 
fliesse. Indess lassen schon die beiden folgenden Sätze vermuthen, 



42 

dass auch hier von der ungeeigneten Verbindung zweier unverein- 
barer Handlungen die Rede seyn solle ; und dann käme ^ ja nur 
auf einige Geschicklichkeit an, um ein volles Geföss beim Hinnehmen 
oder Halten nicht überzugiessen. Loö-ts6 will sagen, es sey unver- 
einbar, ein Geföss (nach chinesischer Sitte mit beiden Händen) zu 
ergreifen und es gleichzeitig anzuHillen, daher es besser sey, das 
werde unterlassen. Während jene Auslegung hier gar nicht zu ver- 
wenden ist, sagte der Ausspruch bei der letzteren : Es sey unverein- 
bar, den Lohn geniessen zu wollen (»ergreifen«) für das, was man 
thut, und eben dieses zugleich zu thun (»vollgiessen«) ; drum solle 
man jenes unterlassen, ja auch dieses, wenn es nur um des »Ergrei- 
fenstt, d. i. um des Lohngenusses willen geschehe. 

2) Auch hier hat man den Vordersatz wollen sagen lassen : Et- 
was (eine Klinge) scharfmachen, schleifen, und es hernach mit dem 
Finger prüfen, ob es nehmlich scharf geworden sey. Warum aber 
das nicht lange fortgesetzt werden könne, ist nicht einzusehen, da es 
doch ein ganz verständiges Verfahren wäre. Übersetzt man dagegen 
wörtlich wie es dasteht, eine Klinge nach ihrer Schärfe »betasten 
und« sie zugleich »schleifen«, so kann das allerdings nicht lange 
durchgeführt werden, weil eins das andre hindert. Schwieriger ist 
die Deutung des Gleichnisses, auf welche sich die Ausleger so wenig 
einlassen, als habe Laö-ts6 eine Regel für Scheerenschleifer geben 
wollen. Unter Hinblick auf den Schlusssatz des Kapitels glauben wir 
unter dem »Zuschärfen« das Wirken des höheren Menschen, wodurch 
»Verdienstliches vollbracht wird«, verstehen zu sollen, und unter dem 
nBetastem oder Zufühlen, das reflectirende Prüfen, ob er sich Aner- 
kennung und Ruhm dadurch erwerbe. Dabei hindert allerdings eins 
das andre ; denn wahres Verdienst lässt die Reflexion auf sich selbst 
und seinen Vortheil nicht aufkommen, und diese macht jenes vor 
dem sittlichen Richterstuhle zunichte. 

^) Diess dritte Gleichniss ist verständlicher. Die erworbenen 
Schätze, sein Gutes, seine Weisheit, sein Verdienst, soll man vor 
den Menschen nicht öffentlich ausstellen, wenn man ihrer nicht ver- 
lustig* gehen will. Unter thängj Halle, ist ein offenes. Allen zugäng- 
liches Gebäude gemeint, und sofern »Gold und Edelsteine« den 
Schatz heiliger Erkenntniss und sittlicher Güter bezeichnen, liegt die 
ernste Wahrheit darin, dass ihre öffentliche Preisgebung sie auch für 



43 

uns entweiht tind uns entfremdet. So auch was man Löbliches und 
Verdienstliches gethan, btisst seine Würde ein, sowie man es Jeder- 
mann vorhält Also auch hier die Unvereinbarkeit der Bewahnmg 
und Behütung solch edlen Besitzes mit dessen Ausstellung vor aller 
Welt 

^) Das Parabolische dürfte auch in diesen Satz insofern noch 
hipeinspielen, als er das nächstvorige Bild näher erläutert und die 
Veröffentlichung eigner Vorzüge, die hier als Reichthum und Ehre 
bezeichnet werden, auf Hochmuth zurückführt. Er fügt aber weiter 
hinzu, dass der Hochmüthige sein Unheil — sein^ da es ihm schon 
angehört, weil gebührt — sich selbst zuziehe. (»Stolzer Muth kommt 
vor dem Falle.«) Damit wird aus dem Bildlichen ins Eigentliche 
übergegangen, und den Zusammenhang überblickend darf man nun 
sagen: Jenes »Ergreifen während des Vollgiessens«, jenes »Betasten 
während des Schärfens«, jenes Ausstellen des »Goldes und Edel- 
gesteins in offener Halle« hat seine Wurzel in dem Gegentheil der- 
jenigen Selbstlosigkeit und Demuth, von welcher das vorige "Ka- 
pitel redete , in dem Hochmuth , der zu seiner Strafe den Verlust 
alles dessen, worauf er sich stützen will, selbst herbeiführt. Kieü ist 
Vergehen, Verbrechen, Schuld, dann auch verschuldetes Unglück, 
Strafe. Das Zeitwort t heisst verlassen, hinterlassen, vererben, und 
davon: zuwenden, bescheeren. 

*) Zu den Worten : »Nach vollendetem Verdienst, nach erlang- 
tem Ruhm sich selbst zurückziehen«, bilden die Worte thtan tscht 
tob einen Prädicativsatz, heissen demnach : »ist des Himmels Weg«. 
Dass tabj von dem Genitiv thtan ischh ^es Himmels«, abhängig, in 
diesem Zusammenhange nicht das Urwesen bedeuten, sondern nur 
den Sinn von »Weg, Gang, Gangart, Methode, Verfahren« haben 
kann, ist klar. Thtan scheint dagegen hier, wie in den fünfzehn 
letzten Kapiteln, die höchste überirdische intelligente Macht im alt 
volksmässigen Sinne zu seyn, welche sich der Welt in ihrem Seg- 
nungen und Wohlthaten als wirkend erweiset und dafür gepriesen 
wird, sich selbst dann aber stets in's Unwahmehmbare zurückzieht. 
Darum heisst das ähnliche Verfahren des Weisen des Himmels Weg, 
den nehmlich auch er einschlägt. Denn da er das Edle und Gute 
nicht um des Verdienstes oder Ruhmes willen that, indem es da- 
durch, dass er Taö hatte, einfältig aus seinem Wesen hervorging, so 



44 

hat er mit Vollendung und Erlangung desselben seine Aufgabe erftillt, 
und zieht sich nun von der Welt zurück. Er that es nicht um seiner 
Person willen und lässt darum seine Person nun auch abtreten. — 
Von Rückkehr und Eingang in Taö, einer Art Nirväna, welche die 
buddhistisch gefärbte Auslegung hier finden will, kann nicht die 
Rede seyn. Eher könnte Lad-ts6 dabei an seinen eignen Rückzug 
aus der Welt gedacht haben. 



Zehntes Kapitel. 

Wer dem Geist die Seele einergiebt und Einheit 
umfängt, kann ungetheilt seyn. * Bezwingt er das See- 
lische bis zur Nachgiebigkeit, kann er wie ein Kindlein 
seyn. 2 Reinigt und öffnet er den tiefen Blick, kann er 
ohne Schwachheit seyn. •* Liebt er das Volk und regiert 
er das Land, kann er ohne Thun seyn.^ Die Himmels- 
pforten öffnen sich oder schliessen sich, er kann das 
Vogelweibchen seyn."^ Lichthell Alles durchdringend, 
kann er unwissend seyn.*^ Er belebt und ernährt;' be- 
lebt und hat nicht, thut und giebt nichts drauf, erhält 
und beherrscht nicht. ^ Das heisst tiefe Tugend." 



*) Diess Kapitel setzt noch die Betrachtung des Verhaltens des 
»ganz Guten« oder des heiligen Menschen fort, wie es sich aus dem 
ethischen Prinzip ergiebt, und zeichnet zunächst die psychologischen 
Grundlagen. Der erste Satz Tsäi fing phe pdo jt bedarf einiger 
Worterklärungen. Rücksichtlich des Wortes fing schliessen wir uns 
mit Stan. Julien der Mehrzahl der Ausleger sowie dem Khäng- 
hi'schen WB. an, welche es durch huän (12,751) erklären; doch 
nur sofern, als htiän das höhere und edlere Prinzip im Gegensatze 
zu pe (Seele) bedeutet. Da fing (nach dem alten Wörterbuche Jü 
phiän) als Zeitwort synonym ist mit iü oder io (2521), was »ver- 
muthen, schliessen, ermessen, bedenkena heisst, so kann nicht be- 
anstandet werden, es in der Substantivbedeutung als »das Denkende, 
den Geista zu nehmen. Tsdi^ enthalten, auch enthalten machen, 
daher hineinthun, femer unterwerfen, welches Alles in dem deutschen 



46 

»einergeben« möglichst befasst seyn dürfte, — tsäi am Anfange des 
Satzes, includirt jedenfalls das Subject, und diess kajin nicht das 
nachgestellte ftug seyn, welches vielmehr durch seine Stellung dati- 
vische Bedeutung bekommt. Die Seele (phe) ist hier die Leibesseele 
(fäme animale) das Prinzip der Empfindung und Bewegung und des 
sinnlichen Lebens. Laö-ts6 unterscheidet demnach fing und pKe 
ähnlich wie Aristoteles voo; und ^d^t]. Das Subject von pdo, »ein- 
hüllen, einschliessen, umfassen« (auch »annehmena, wie das franz. 
embrasser) ist dasselbe Subject, wie das von tsäi (einergeben) , und 
die beiden Aussagen dürfen daher, wie auch die Symmetrie mit den 
fünf folgenden Sätzen zeigt, nicht von einander getrennt werden, 
sind vielmehr so verbunden zu fassen^ als stände da: Wer dem Geiste 
die Seele einergebend Einheit umfangt oder annimmt, kann etc. 
Einheit ist hier nicht, wie ein Ausleger will, Taö, sondern die durch 
Hereinnahme der Seele in den Geist herbeigeführte substantielle 
Einheit beider. Der Gedanke der ersten Satzhälfte ist demnach 
dieser : Im Menschen sind zwei immaterielle Prinzipe, der nicht zur 
Natur gehörende Geist, dessen Einheit seinen Verstand ausmacht 
(feap. 39), und die naturhafte Seele, deren Einheit ihr Leben ist. 
Nicht von selbst stehen beide in dem seynsollenden Verhältnisse zu 
einander, denn die Naturseele sollte von dem geistigen Prinzip er- 
fasst und durchaus bestimmt seyn, und da sie diess nicht ist, so 
muss sie von ihm erst überwunden und eingenommen werden. 
Durch diesen Act wird die im Menschen sonst vorhandene Zweiheit 
und innere Entzweiung der beiden Prinzipe aufgehoben, wobei die 
Seele nicht etwa untergeht, sondern nur in ihren richtigen Ort er- 
hoben wird, da nun der Geist mit ihr eins ist, weil sie eins geworden 
ist mit ihm. Das bewirkt die Möglichkeit, dass beide nicht wieder 
auseinandergehen, dass also, wer jenen Act vollzogen hat, als Geist 
und Seele nhig wü ^, potest non dividi, »ungetheilt sejm kann<r. Man 
könnte hierbei an den Fortbestand der Persönlichkeit über den Tod 
hinaus denken, allein wenn unser Satz auch vielleicht erklären 
möchte, wie La6-ts^ sich dessen psychologische Vermittlung gedacht 
habe, so zeigt doch die Zusammenhaltung mit den fünf folgenden 
Sätzen, dass sein Hauptabsehen hier auf das Verhalten der Person 
gerichtet ist. Ist sie in der Lage, innerlich ungetheilt zu seyn, so 
gehen die Neigungen, Triebe und Empfindungen der Seele und die 



47 

ewigen Postulate des Geistes nicht mehr auseinander, theilen sich 
nicht mehr, und die Person vermag, wie es in der Sprache unsrer 
Theosophen heisst, in der Einfalt zu stehen. 

2) Wir haben khi durch »das Seelischea übersetzt. Ursprüng- 
lich heisst es »der Dampf, Dunst, Hauch, Athem«, und wenn es auch, 
wie JTn Tcveuiitty Spiritus^ eine höhere Bedeutung erhalten hat, so ist 
diese doch nie bis zum eigentlich Geistigen gesteigert, es bleibt viel- 
mehr etwas immateriell Physisches. Nach der späteren chinesischen 
Philosophie ist es die immaterielle Natursubstanz, welche die sicht- 
bare Gestalt eines Wesetis bestimmt und hervorbringt, wenn zu des- 
sen Constituirung sich mit ihm das rationale Prinzip l\ (5936), die 
objective Vernunft in den Dingen, verbindet. • Mögen auf die Aus- 
bildtmg dieser Ansichten La6-ts^'s Äusserungen auch nicht ohne Ein- 
fluss gewesen seyn, so ist man doch nicht befugt, sie ohne Weiteres 
in seine Gedankenkreise hineinzutragen. Nach Kap. 42 ist khi das 
vermittelnde Immaterielle, welches in allen Wesen die Einigung des 
Ruhenden (jtn 11,797), des anorganischen, in sich verschlossenen 
Stoffes, mit dem Bewegenden (jäng 11,809), dem Prinzip des be- 
lebenden, befruchtenden, aufschliessenden Prozesses vermittelt Da 
es nach unsrer Stelle nur das seyn kann, was von Natur unnachgiebig, 
sich selbst zu behaupten sucht und vernunfüos auswirkt und rück- 
wirkt, so wussten wir es hier nicht besser wiederzugeben, als durch 
»das Seelische«, zumal es dem iseh'r nahe kommt, was im vorigen 
Satze pKiy Seele, hiess. So ist auch nach späterer Theorie pHe das 
Prinzip des Ruhenden (jtn) und huän (Anm. i.) das Prinzip des 
Bewegenden (jäng), — Da alle Sätze des Kapitels nur ein und das- 
selbe Subject haben können, so ist auch hier die Rede von dem, 
der in der Einheit des Geistes und der Seele steht. Weil er die Seele 
dem Geiste einergeben und unterworfen hat, so vermag er nun, das 
rücksichtslos tmd blind hervordringende »Seelische« durchaus »nach- 
giebig« — sjeüy weich, biegsam, unterwürfig — zu machen. Die 
innere Thätigkeit dabei wird durch das Zeitwort tschuän ausgedrückt, 

• • • 

welches »mit geistiger Anstrengung handeln« heisst, hier also, wo es 
sich auf das eigne Innere bezieht, ganz fuglich durch »bezwingen« 
{dompter Stan. Jul.) wiedergegeben wird. Hat er so nun alles Unge- 
bändigte seiner individuellen Naturseele bezwungen und zur vollen 
Nachgiebigkeit gebracht, so »vermag er wie ein Kindlein«, wie ein 



4» 

Neugeborener zu seyn; d. h. er ist nun fähig, anspruchslos, ohne 
Reflexion auf sich selber, in Schuldlosigkeit und furchtloser Einfalt, 
in stiller Harmonie seines ganzen Wesens (Kap. 55) sich zu erweisen. 

^) Die Worte // tschhu hiuän Ihn haben sehr verschiedene Aus- 
legungen erfahren. Wir suchen nur die unsre zu begründen. Lhn 
heisst »Anschauen, Schauen, Blicken«, ist hier Substantiv und im 
activen Sinne zu nehmen, also »das Schauen, der Blick« — natürlich 
nicht der sinnlichen, sondern der Geistes-Augen , was durch das 
hiuän angezeigt ist, also das tiefe Schauen, der tiefe Blick. Da bei 
Laö-ts^ hiuän niemals im tadelnden Sinne gebraucht wird, so kann 
das tief Blicken hier nur die geheimnissvolle Eigenschaft des zur 
Einfalt und neuen Kindlichkeit Gelangten andeuten sollen. Ti heisst 
»waschen, reinigen, läutern«. Tschhu kann »ausschliessen, beseitigen, 
abthun« heissen, aber auch »aufschliessen, öffnen« (Khäng-hi WB. = 
khäi, 11,653); und in welcher dieser Bedeutungen man es auch 
nehme, immer kann das ihm folgende Nennwort nur den Gegenstand 
bezeichnen, welcher oder welchem beseitigt oder geöffnet wird. 
Verhält sich thn aber dergestalt zu tschhu^ so kann es sich zu // nicht 
anders verhalten, kann mithin nur den Gegenstand bezeichnen, 
welcher gereinigt wird, und nicht das, wovon etwas gereinigt wird. 
Steht es demnach fest, dass fi Ihn »den Blick reinigen« (gleichsam 
reinwaschen) heisst, so kann tschhu nicht beseitigen oder abthun 
heissen sollen, selbst wenn man Ihn die Bedeutung von »Anschau- 
ungen« geben wollte, da man nur reinigt was man behält, nicht wes- 
sen man sich entledigen will. Nehmen wir deshalb ischhu in der 
zweiten Bedeutung, so ergiebt sich ein durchaus angemessener Sinn. 
Denn das »tiefe«, d. h. geheimnissvoll in sich versunkene, »Schauen 
reinigen und aufthun«, oder läutern und erweitern, d. h. klar und 
umfassend machen, bringt den, der in Einfalt des Geistes seine 
blinde Natürlichkeit überwunden hat, allerdings auf eine sittliche 
Höhe, wo er die kleinsten Abweichungen von diesem ethisch höchsten 
Zustande sofort wahrnimmt und daher im Stande ist (n^ng), ohne 
Schwachheit — natürlich im sittlichen Sinne — zu seyn. 

*) Ein solcher wird als Landesfiirst auch aus Liebe zum Volke 
ein gutes Regiment führen, nach chinesischen Begriffen vor Allem 
ein friedliches, Ruhe und Sicherheit gewährendes; daher Stan. Julien 
tschl kuo (»regiert das Land«) ganz passend durch il procure la paix ' 



49 

au rayaume umschreibt. Wer aber, auf jener sitüichen Höhe stehend, 
aus Liebe zum Volke' gut regiert, kann von allem eignen Thun ab- 
sehn. Man bemerke, dass das Regieren die Bedingung ist fUr das 
Nicht-Thun, und dass ischi nicht bloss heisst, die Würde eines Re- 
gierenden innehaben, sondern »in Stand setzen, ordnen, zurecht- 
bringen, leiten«, mithin thun was diese Würde erfordert. Es wird 
demnach ein Unterschied gemacht zwischen Thun und Thun, einem 
unerlässlichen und einem verwerflichen. Zu dem Ersten gehört das 
Thun, von welchem in den letzten Sätzen des Kapitels gesagt wird, 
auf welches aber der Thuende selbst nichts giebt. Unter dem Letz- 
teren, das vorzugsweise als Thun, als Thätl^keit, als Thaten ange- 
schlagen zu werden pflegt, ist nach Späterem zu verstehen : kriege- 
rische Unternehmungen, geschäftiges Vielregieren , stetes Gebieten 
und Verbieten, kostspielige Bauten u. dgl., worauf nur der hier ge- 
schilderte weise Regent zu verzichten vermag, wie er es denn auch 
soll. — Statt wü wii, »ohne Thun«, flndet sich auch die Lesart wü 
tschty »ohne Wissen« ; die wol aus dem zweitfolgenden Satze hierher 
gelangt, aber sichtlich zu verwerfen ist. (Chalmers nimmt sie an 
und übersetzt: // is possibJe to be unkrumm!) 

*) Bei dem »Öffnen und Schliessen der Himmelspforten« ist es 
das Nächste an das Kommen und Gehn der Zeiten, Tage, Jahres- 
zeiten etc. zu denken; vielleicht auch an den gewährten oder zurück- 
gehaltenen günstigen Einfluss des Himmels auf die Fruchtbarkeit; 
jedenfalls sind Änderungen der Dinge gemeint, deren Beginn und 
Ende unter Leitung des Himmels steht. (Mit Hb-schäng-küng dar- 
unter, in Rücksicht der Selbstbeherrschung, das Aus- und Einathmen 
durch die Nasenlöcher zu verstehn, erscheint mehr als sonderbar.) 
Bei allen äussern Wandlungen kann er »das Vogelweibchen seyn«, 
sich wie das Weibchen des Vogels verhalten, das ohne zu singen oder 
lautzuwerden, ruhig und zurückgezogen im Neste sitzt und eben so 
lautlos seine Jungen ausbrütet, ernährt, wärmt und schützt. 

^) Von wem nun alles bisher Erwähnte ausgesagt werden kann, 
der ist es, welcher »licht-hell«, mtngpe, d. h. mit klarem Verständ- 
niss, »Alles durchdringt«, ssi fä. Ss^, eigentlich »vier«, steht für ss^ 
fang, die vier Weltgegenden, alle vier Seiten, und ist nach seiner 
Stellung vor dem Zeitworte als Adverb zu fassen, »allseitig«, — 
»vierfach durchdringend«. Jenem inneren reinen und offnen Tiefblick 

4 



50 

entspricht hier der nach Aussen gewandte Scharfblick, dem weder 
das Wahre entgeht, noch der Maassstab dafür fehlt. Mit diesen Ei- 
genschaften kann man »unwissend seynv, buchstäblich »kann nicht- 
haben Wissen«, also weder: ü pourra parSütre Ignorant^ noch gar 
may be unknaum. Von demjenigen Wissen ist die Rede, weldies 
durch das Lernen erworben wird (vgl. Kap. 19. 20.), also von der 
Kenntniss der Regeln und Gesetze des Guten, Rechten, Schicklichen 
etc., welche vollkommen entbehrlich ist bei wahrer Weisheit und 
Erkenntniss des höchsten Prinzips. 

') Wie der Anschluss der Rede zeigt, kann das Subject dieses 
Satzes und daher aucl^der folgenden Sätze nur ebenderselbe seyn, 
von dem bisher gesprochen worden, wohin auch die aus dem zweiten 
Kapitel hier wieder aufgenommenen Worte weisen, die zugleich das 
Object erläutern, auf welches sich die als verba activa durch das 
Pronomen tscht bezeichneten Wörter beziehen. Allen Wesen, die 
sich an den dergestalt Vollendeten wenden, giebt er Leben und 
Lebensunterhalt : das Leben, zu dem er ihnen verholfen, nährt und 
pflegt er auch. 

8) Man vergleiche die Anmerk. Kap. 2 zu den hier wiederholten 
Worten. Als neu tritt nur hinzu : »Er erhält und beherrscht nicht« . 
»Erhält«, tschhängy nadi Khäng-hi WB. soviel ^vtjäng^ Bas, 12,35 1, 
ist also synonym mit dem vorbeigehenden »emährtw. Sie bedürfen 
es, dass er sie ernähre und so erhalte, und das macht sie von ihm 
abhängig ; er aber benutzt diese Abhängigkeit nicht um ihre Freiheit 
zu beschränken oder sie wider ihren Willen zu Wericzeugen seines 
Willens zu machen. 

•) Dieselben Worte stehen am Ende des 5 1 . Kapitels, nachdem 
dort auf gleiche Weise Taö's selbstlose Fürsorge für alle Wesen aus- 
gesprochen worden. Diess mag für einige Interpreten Anlass gewesen 
seyn, das hier Vorangehende ebenfalls auf Tad zu beziehen. Natür- 
lich ist diess irrig. Allein gerade weil der »heilige Mensch« sich in 
dem Allen wie Taö verhält, darum wird es auch an ihm als »tiefe 
Tugend«, ab geheimnissvolle, der Menge unzugängliche und unver- 
ständliche, gepriesen. 



Elftes Kapitel. 

Dreissig Speichen treffen auf eine Nabe: gemäss 
ihrem Nichtseyn ist des Wagens iGrebrauch. Man er- 
weicht Thon um ein Gefäss zu machen: gemäss seinem 
Nichtseyn ist des Gefässes Gebrauch. Man bricht Thür 
und Fenster, um ein Haus zu machen : gemäss ihrem 
Nichtseyn ist des Hauses Gebrauch. Drum : das Seyn 
bewirkt den Gewinn, das Nichtseyn bewirkt den Ge- 
brauch. ^ 

*) Es kommt Laö-ts^ in doppelter Hinsicht darauf an, das 
blosse Seyn zu negiren, in welches das gemeine Bewusstseyn ver- 
setzt und verschlungen ist, und durch diese Negation das, was ist, 
von dem, was es ist, abzusondern und zu befreien ; denn dadurch 
allein wird einerseits das, was die Erkenntniss zuhöchst sucht, von 
dem befreit, worin es nicht als das Höchste und Erste erkannt wer- 
den kann , anderseits aber auch das Bewusstseyn befreit von der 
Täuschung, jenes, das Was, das Wesen, in dem Seyn zu finden. 
Denn allerdings nur in dieser Freiheit vom Seyn kann das Bewusst- 
seyn sich im seynsfreien Absoluten erkennen und dieses dadurch als 
solches erschauen, worin die eine höchste Erfahrung von ewiger 
Bedeutung besteht, welche zugleich der real-ideale Anfang wie das 
Ende der Wissenschaft ist. Weiter ist es dann auch im praktischen 
Verhalten von durchgreifender Wichtigkeit, nicht das Seyn dahin zu 
drängen, wo nur das Wesen als solches, d. h. als nicht im Seyn, als 
nicht seyend, walten soll. Die allgemeine Bedeutung nun des 
Nichtseyns eines Wesentlichen, in welchem dieses nicht überhaupt 
nicht ist, sondern nur nicht seyend ist, als Wesen aber bleibt, sucht 

4* 



— 52 

Laö-ts^ auf geistvolle Weise durch Gleichnisse darzustellen und zu 
erläutern. Die dreissig Radspeichen — soviel hatten, nach ffS- 
schäng-küng, die Räder nach Zahl der Monatstage im Alterthum — 
laufen nach Einem Punkte zusammen (küng), allein an der hohlen 
Nabe hören sie auf, hier tritt ihr Nichtseyn ein , und nur gemäss 
(täng=c(mvementer) ihrem Nichtseyn, insofern sie dort nicht sind, 
wol aber ihr Wesen auch bis dahinein erstrecken — denn zum Wesen 
der Speichen gehört ihr Nichtseyn in der Nabe — , insofern ist der 
Wagen zu gebrauchen, dessen Gebrauch also gerade auf ihrem Nicht- 
seyn beruht. So auch ist ein Geföss nur insofern t)rauchbar, als in 
seinem Innern sein Stoff, der das Gefass ist, nicht ist. Diess 
Nicht, ohne welches es nur ein Thonklumpen wäre, macht es erst 
zum Gefass und ist daher sein eigentliches Wesen. Ein Haus ferner 
besteht aus Dach und Wänden ; Thüren und Fenster sind ein Nicht- 
seyn der letzteren, allein ohne diess Nichtseyn könnte das Haus 
weder Menschen noch Licht einlassen, durch dasselbe erst wird es 
brauchbar. Der allgemeine Gedanke ist also, dass diese Dinge nicht 
durch ihr Seyn, durch ihr Icht, sondern durch ihr Nicht ihrer Be- 
stimmung entsprechen. Da sie aber eben diese Dinge nur sind, 
insofern sie ihrer Bestimmung entsprechen, so ist zu sagen, dass ihr 
Nichtseyendes dasjenige sey, was und wodurch ihr Seyendes ist. 
Diess erklärt vorbereitend den späteren Gedanken (ELap. 40), dass 
das Seyn aus dem Nichtseyn (das Icht aus dem Nicht) hervorge- 
gangen. Wie nun aber ftir uns das eigentliche Wesen jener Dinge, 
ihr Nichtseyn, nur durch und an ihrem Seyn ist, so können wir (in- 
ductiv oder analytisch) zu dem reinen nichtseyenden, mithin über- 
seyenden Wesen nur vermittelst des Seyns gelangen, welches dasselbe 
aus dem Nichtseyn hervor- und angezogen , durch welches es nun 
auch Ist. Denn erst indem wir in und an dem Seyn wahrnehmen. 
Was dasselbe ist, werden wir in den Stand gesetzt, dieses Was von 
seinem Seyn zu unterscheiden und loszumachen, dass es uns das 
seynsfrei Wesende werde. Diess sagen die Worte : »Das Seyn be- 
wirkt den Gewinn« ; d. h. Wir gewinnen ein Wesentliches nur, wir 
werden seiner nur habhaft dadurch, dass es Ist, nehmlich seyend ist; 
aber es ist fiir uns das, was es ist, wir können nur etwas damit an- 
fangen, sofern es nicht ist : »das Nichtseyn bewirkt den Gebrauch.« — 



Zw^ölftes Kapitel. 

»Die fünf Farben machen des Menschen Aug' 

zu Raub, 

Die fünf Töne machen des Menschen Ohren 

taub, 

Die fünf Schmäcke machen des Menschen Mund 

verstört, ^ 

Feldjagd und Pferderennen machen des Men- 
schen Herz bethört, 2 

Und Schätze, schwer erreichbar, machen des 

Menschen Gang verkehrt.«^ 

»Deshalb des Heil'gen Thun ist seine Brust, 

Nicht Augenlust. «^ 
Drum lasset er das und ergreift diess.^ 

^) Die in dem vorigen Kapitel zur Begreiflichmachung des 
Hauptsatzes genannten Gegenstände konnten nur durch ihre Ent- 
leertheit ihre Bestimmung erfüllen : so auch der Mensch ; und nichts 
macht ihn unfähiger dazu, als wenn er sein Bewusstseyn, sein Inneres 
mit jenem schlechten Seyn, jenem Stoff der Weltlichkeit, mit Sinnen- 
genuss und Sinnenlust, Vergnügen an wildem Treiben und Trachten 
nach schwer zu erwerbenden Schätzen ausfüllt ; denn das ist der ge- 
rade Gegensatz von jener Entleertheit des Innern , jener Befreiung 
des Bewusstseyns von dem blossen Seyn, wodurch der Mensch eins 
werden kann mit Taö (Kap. 23). Um das zu zeigen, führt La6-ts^ 
Denkverse an, die höchstwahrscheinlich untergegangenen Liedern der 
Taö-ssd entnommen sind, und denen er vielleicht die beiden Schluss- 



—9- 54 

verse hinzugefügt hat. Die in den drei ersten Versen genannten 
nachtheiligen Folgen für Gesicht, Gehör und Geschmack setzen zwar 
ein Übermass des Genusses voraus, durch welches die gesunde Rein- 
heit der Sinnesorgane zerstört wird, doch dürfte noch mehr dadurch 
angedeutet seyn sollen, dass durch die unbesinnliche Hingebung in 
jene Genüsse die entsprechenden inneren Organe für das Übersinn- 
liche gestumpft und zerstört werden. (Denn, setzen wir hinzu, wie 
es eben des Menschen Wesenheit ist , dass er als Seele Grund ist 
einer Synthesis des Übersinnlichen — des Geistes — und des Sinn- 
lichen — des Leibes — , wie die Seele also sich selbst ins Geistige 
und ins Leibliche hinein gleichsam polarisirt, so polarisiren sich 
auch ihre receptiven Organe einerseits in die hyperphysische, ander- 
seits in die physische Welt hinein, und jedem Wahrnehmungsver- 
mögen für das Sinnliche entspricht ein Sinn für das Übersinnliche. 
Dass es hiermit nicht mehr res Integra sey, wissen wir. Vermögen 
aber geistige Zucht und Übung die Seelensinne fürs Übersinnliche 
wieder zu beleben und zu schärfen, so werden sie in gleichem Maasse 
abgestumpft, betäubt, ja zerstört, wie die sinnlichen Wahrnehmungs- 
vermögen, wenn die Seele sich in diesen fortwährend übersättiget.) — 
Die fünf Farben, welche die Chinesen zählen, sind Blau, Gelb, Roth, 
Weiss und Schwarz ; alle andern gelten ihnen, und mit Recht, für 
Composita oder Modificationen von jenen. Die fünf Töne der alt- 
chinesischen Tonleiter sind Prime, grosse Secunde, grosse Terz, 
Quinte, grosse Sexte, z. B. f, //, ^, ^, a\ und es ist merkwürdig, 
dass hiermit sich die altschottische Tonleiter genau deckt, indem 
auch sie sowohl die Quarte als die grosse Septime vermeidet, folglich 
keinen Leitton, und für die Dominante keine Terz und keine Septime 
hat. Die fünf Geschmäcke sind Salzig, Bitter, Sauer, Beissend und 
Süss. — Müng ist des Reims halber (ziemlich ungeschickt) durch 
»zu Raub« wiedergegeben ; es heisst »ohne Augenstern, blind«, und 
das Schriflzeichen dafür ist aus den Charakteren für »Verderben, 
Zerstören« und »Auge« zusammengesetzt. Schohng (»verstört«) hat 
die Grundbedeutung »Leuchten, Strahlen«, dann »Blenden, geblendet 
seyn«, imd davon, wie hier, »Irren, Verfehlen«. — 

2) Tschht'tschhing heisst ein »rennendes Pferd«, dann auch 
»rennen, hastig eilen«. Bei der Zusammenstellung mit der Feldjagd, 
Frühlingsjagd (thiän-lte) glaubten wir die eigentliche Bedeutung fest- 



55 

halten zu sollen. Wahrscheinlich spielt der Vers aut eine, mehrfach 
auch im Schi-kmg gefügte Übertreibung königlicher Vergnügungen 
an. Hier sind dieselben als concrete Beispiele alles wilden sinnver- 
wirrenden Treibens genannt, das Geist und Gemüth der inneren 
Ruhe und darum der verständigen Klarheit beraubt. 

•■') Die Sucht nach »Kostbarkeiten schweren Erwerbs« macht 
des Menschen Wandel und Thun »schädlich«, wie es wörtlich heisst. 
Entzündet sich nehmlich die Begier nach Gütern, die der Mensch 
nur schwer an sich bringen kann und doch wieder verlieren und 
verlassen muss (Kap. 44), so Rillt sein Gemüth sich mit unablässiger 
Vorspiegelung derselben und mit Plänen zu ihrer Erwerbung, behält 
deshalb keinen Raum für höhere Motive, flir Güte und Gerechtigkeit, 
und achtet daher diese nicht, wenn die B^er ihn zum Handeln 
treibt. Dadurch wird sein Gang, sein Verfahren (hing) sowqI Andern 
als ihm selbst verderblich imd führt ihn zuletzt in Schaden und 
Schande. — Der ganze Reimspruch hat grosse Ähnlichkeit mit den 
sogenannten Priameln unserer Vorfahren. — 

^) Mit den Worten : »Daher der heilige Mensch« (seht l schlug 
sfin) schliesst La6-ts^ seine Betrachtungen häufig an ältere Aus- 
sprüche an ; es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass von ihm auch 
hier die Anwendung, und gleichfalls in einem Reimspruche hinzu- 
gefügt sey. Weil, meint er, alle sinnliche Lust und Begier Fremdes, 
Zerstreuendes, Verwirrendes in den Menschen zu dessen eigner Be- 
schädigung hineinbringt, so meidet sie der heilige Mensch ; wH fö^ 
er »beschäftigt» sein »Inneres«, pü wH mü, »nicht beschäftigt er die 
Augen« ; wobei das Auge wol für die Sinne überhaupt, wahrscheinlich 
des Reims halber, genommen ist, obgleich man auch sagen kann, 
dass jeder Reiz zur Sinnenlust in der Regel vom Auge ausgeht. 

^) Diess mehrmals vorkommende Schlusswort zeigt hier, dass 
der letzte Spruch als Zielpunkt der vorhergehenden Reimsprüche 
anzusehen sey. 



Dreizehntes Kapitel. 

»Gnade und Ungnade ist wie ein Fürchten;* Ho- 
heit so grosse Plage wie der Körper«. ^ 

Was heisst: Gnade und Ungnade ist wie ein 
Fürchten? Gnade erniedriget: sie erlangen ist wie ein 
Fürchten, sie verlieren ist wie ein Fürchten. Das heisst: 
Gnade und Ungnade ist wie ein Fürchten.* — Was 
heisst: Hoheit ist so grosse Plage wie der Körper? 
Wir haben deshalb grosse Plagen, weil wir den Körper 
haben. Sind wir erst ohne Körper, welche Plage haben 
wir? Drum wer an Hoheit dem Körper das Reich gleich- 
achtet, dem kann man das Reich anheimstellen ; wer an 
Liebe dem Körper das Reich gleichachtet, dem kann 
man das Reich anvertrauen.^ 

') Bevor. La6-ts^ zu seinem Hauptgegenstande zurückkehrt, 
hat er noch einen Blick auf diejenigen zu werfen, welche im Reichs- 
regiment emporzukommen und eine hohe Stellung darin zu erreichen 
trachten. Er knüpft dabei an ein paar Sprüche an, die er durch 
seine Erklärungen als Anführung kennzeichnet, obgleich er nicht 
sagt, woher er sie genommen, wie er das überhaupt nie thut. Diese 
Sprüche fassen die hohen Würden von einer zweifachen Seite, einmal 
als Folge höherer Begünstigung und Gnade, sodann als eine Quelle 
grosser Nöthe und Plagen. Sie vergleichen den Zustand dessen, 
der von Gnade und Ungnade abhängt, mit dem eines Schreckhaften, 
in steter Furcht Lebenden ; und die erlangte Hoheit als Quelle grosser 
Plagen mit dem eignen Körper des Menschen. Der Verfasser er- 



57 

läutert dann Beides, beginnt aber mit einer für das gewöhnliche 
chinesische Bewusstseyn so unbegreiflichen Paradoxie und spricht 
überhaupt von dem, womach Alle streben, in einer Weise, dass es 
nicht zu verwundem ist, wenn seine landsgenössischen Herausgeber 
und Ausleger ihn nicht verstanden und geglaubt haben , den Text 
ändern zu müssen, woraus denn eine Menge Varianten entstanden 
sind. So fahren z.B. mehre Ausgaben nach dem Citate also fort : 
»Was heisst Gnade und Ungnade ? Ungnade erniedrigt« etc. ; und 
Khäng-hi's WB. citirt unter dem Zeichen für King (Bas, 12,580^ 
das Nächstfolgende so : »Man erlangt sie wie Gnade, man verliert sie 
wie Ungnade; das heissta etc. Wir halten in Rücksicht des Zusam- 
menhanges und der ganzen Denkweise La6-ts6's Stan. Juliens Text 
für den richtigen. Aber auch den Interpreten, die sich an diesen 
gehalten haben , kam der nächstliegende Sinn so befremdend vor, 
dass sie die gezwungensten Auslegungen gesucht haben. — Das 
Schriftzeichen für Gnade zeigt den geheimnissvollen kaiserlichen 
Drachen, »das grosse Thier«, unter dem Dache, und so heisst tschküng 
die Zuneigung, Gunst, die Gnade, auch die Ehre, womit Höhere 
die Niederen auszeichnen. Das Gegentheil ist sjü, die Ungnade, 
erwiesene Ungunst und Beraubung jener Ehren. Wie nun im Chine- 
sischen eine Menge Abstracta durch Zusammenstellung der unter 
ihnen enthaltenen Gegensätze gebildet werden, z. B. Leicht und 
Schwer = Gewicht, Kälte und Wärme =Temperatur etc., so ist auch 
Gnade und Ungnade als Bezeichnung der Abhängigkeit von höchster 
Gunst im Allgemeinen anzusehen; ohne welche Bedeutung auch die 
Lesart: »Was heisst Gnade und Ungnade?« nicht hätte entstehen 
können. — Das Schriftzeichen für Kwg (»Fürchten«), aus den Zei- 
chen für »Pferd« und für »achten, scheuen, gespannt beobachten« 
zusammengesetzt, bedeutet zuerst ein scheues, schreckhaftes Pferd, 
dann dessen Zustand, also schreckhaft oder in Furcht seyn, fürchten. 
Nun ist die Abhängigkeit von höherer Gunst nicht selbst ein Fürchten, 
aber doch gleichsam ein solches ; man ist dabei in einem Zustande, 
wie wenn man immer zu fürchten habe, und darum ist das sjo, 
»wie, gleichsam als« hinzugefügt. Daher ist nicht zu übersetzen : Er, 
nehmlich der Weise, »fürchtet Gnade wie eine Ungnade«; denn 
tschküng sju kann niur castts rectus und sjo king nur Prädicat seyn, 
sfo aber keinenfalls als Postposition von sjü angesehn werden, zumal 



58 

dieselbe Verbindung sß ktng auch in den erklärenden Sätzen vor- 
kommt. Heisst es nun in La6-ts^'s Erläuterung des ersten Satzes : 
»Gnade erniedriget« — denn ganz zutreffend erklärt H6-schäng-'küng 
hid^xxxi^wHhihtsidn (5595, 8, 10487), reddere hutnilem, vilem—, 
so zeigt das Weitere, warum die Abhängigkeit von königlicher Gunst 
einem Zustande der Furcht oder Schreckhaftigkeit gleicht; denn man 
erlangt sie unter der steten Angst, sein Ziel zu verfehlen, daher ist 
, »sie erlangen wie ein Fürchten«; und man besitzt sie unter fort- 
währender Besorgniss, sie zu verlieren, daher auch »sie verlieren wie 
ein Fürchten« ist. Ein solcher Zustand ist aber etwas den höheren 
Menschen Entwürdigendes; deshalb sagte La6-ts^: »Gnade er- 
niedriget«. 

^) Auch in diesem zweiten Anfangssatze kann sfö schin nicht 
voneinander getrennt werden, wie das theils aus dem Vorstehenden, 
theils aus der Erläuterung La6-ts^'s folgt. Ist dem aber so, dann 
kann kuii nicht Zeitwort seyn, als welches es aestimare, plurimi 
facere, desiderare (niemals aber gravari oder aegre ferre) heisst. 
Denn welchen Sinn gäbe es, zu sagen : Man oder er »schätzt grosse 
Plagen wie den Körper«? und wie passte diess zu Laö-ts^'s Erklärung? 
was hätte diess mit dem Eintritt in die Reichsregierung zu thun ? 
Da La6-ts^ selbst sagt, grosse Plagen haben sey gerade wie den 
Körper haben, so kann td hudn sjo schin nur heissen : grosse Plage 
wie der Körper, und es kann nur Prädicativsatz zu dem voraus- 
gehenden Substantiv seyn. Daher fassen wir kuii nach Khäng-hi WB. 
im Sinne von käo (12656), »Hoheit«, wie auch Te-thsing darunter 
die Würde eines Königs oder Ministers versteht. Fügen wir noch 
hinzu, dass schin, welches sehr häufig das Ich, das Selbst bedeutet 
und auch als pronamen reflexivum steht, in diesem ganzen Kapitel 
seine Grundbedeutung »der Körper« (küng, 10822^ hat, so zeigt sich 
nun der verständlichste Sinn und der Zusammenhang alles Folgenden. 
Zuerst erläutert Laö-ts^, weshalb grosse Plagen dem Körper gleich- 
gestellt werden ; deshalb nehmlich, weil der Körper selbst Quelle 
der Plagen für tms ist. Alle Nöthe und Schmerzen, die uns zustossen 
können, kommen von unsrer Einkörperung. Mit der Entkörperung 
hören sie für uns auf. Da ngü sowol ich als wir heisst, so könnte 
man auch übersetzen : »Ich habe deshalb grosse Plagen, weil ich den 
Körper habe; bin ich erst ohne Körper, was für Plage habe ich?a 



59 

Woraus sich zugleich ergiebt, dass Lad-^ts^ sich auch dann noch als 
ein Ich denkt, wenn er keinen Körper mehr hat, dass ihm aber 
dieser körperlose Zustand auch als ein durchaus leidenloser gilt. 
— Wer nun in Betreff der Hoheit — denn in diesem Sinne steht 
hiernächst kuä im stahi absoluta voran — dem Körper das Reich 
gleichachtet, oder den Körper für das Reich ansieht, wörtlich: 
»nehmend den Körper macht das Reich« — d. h. wer in Betreff 
einer hohen Stellung das ganze Reichsregiment gleich seinem Körper 
fiir eine grosse Plage ansieht, dem kann man das Reich getrost über- 
lassen; desgleichen wer betreffend Liebe und Anhänglichkeit (ngdi) 
sich ebensoviel aus dem Reiche macht wie aus seinem Körper, der 
Ursach aller Plagen, dem kann man das Reich anvertrauen. Denn 
wer den Körper als Ursach und Sitz seiner Leiden erkennt, wird ihn 
weder als etwas sonderlich Hohes ansehen, noch ausnehmend lieben, 
und insofern erhalten die Wörter Hoheit und Liebe etwas Ironisches, 
ohne dass man doch sagen kann, sie sollten geradezu das Gegentheil 
denken lassen. Man kann sich nicht enthalten, den Körper, an den 
man nun einmal organisch gebunden ist und dessen Zustände unsre 
eignen Zustände sind, hochzuhalten und zu lieben, obgleich er die 
Quelle unsrer Leiden ist ; weil er diess aber doch ist, so wird man ihn 
auch zugleich gegen sein höheres Selbst herabsetzen und von ihm er- 
löst zu seyn wünschen, auch, wenn man ohne Körper ist, nicht nach 
einem Körper verlangen. Der nun, meint unser Denker, werde am 
besten regieren, der in demselben Sinne sich des Reiches annehme, 
wie seines Körpers, dem das Reichsregiment etwas so Hohes und 
Liebes ist, wie sein Körper, aber auch nur wie sein in jenem Lichte 
betrachteter Körper, den er als die Quelle aller Mühsal und Schmer- 
zen zugleich geringschätzt und loszuwerden wünscht; für den er sorgt 
und dessen er pflegt, weil er ihn besitzt,, auf dessen Besitz er aber 
keinen Werth legt. Dass man ihm das Reich »anheimstellen« und 
»anvertrauen« könne, sagt nahezu dasselbe, denn ki und tho werden 
als synonym angesehen ; es zeigt aber , dass von Solchen geredet 
werde, die nicht bloss durch Geburt, sondern auch durch Gnade 
und Gunst (tschhüng) zu hohen Regierungsämtem berufen werden, 
und so wird auch auf den ersten Ausspruch ein neues Licht geworfen. 
Er wird nun durch den zweiten limitirt. Denn betrachtet man die 
hohe Stellung, die von Gnade und Ungnade abhängt, nur als Quelle 



6o 



grosser Plagen, so wird man nicht mehr unter jener Furcht stehen, 
dass man sie nicht erlangen oder dass man die erlangte wieder ver- 
lieren möge, da man im ersten Falle nur vor grossem Übel behütet, 
im zweiten nur von ihm befreiet wird. — Hiermit endigen die sechs 
Kapitel , in welchen der im 7 . Kap. festgestellte Grundsatz seine 
weitere prinzipiell ethische Ausführung erhalten, und es wird nun- 
mehr wiederum auf das höchste Prinzip zurückgegangen, um dann 
weitere grosse Folgerung«! daraus zu ziehen. 



Vierzehntes Kapitel. 

Man schaut Ihn ohne zu sehen: sein Name heisst 
J^ (Gleich); man vernimmt Ihn ohne zu hören: sein 
Name heisst I/i (Wenig); man fasst Ihn ohne zu be- 
kommen: sein Name heisst IVSz (Fein). Diese Drei 
können nicht ausgeforscht werden; drum werden sie 
verbunden und sind Einer. ^ Sein Oberes ist nicht klar, 
sein Unteres nicht dunkel.^ Je und je ist er unnennbar 
und wendet sich zurück ins Nicht -Wesen. Das heisst 
des Gestaltlosen Gestalt, des Bildlosen Bild; das ist 
gar unerfasslich. ^ Ihm entgegnend siehet man nicht 
sein Haupt, ihm nachfolgend siehet man nicht seine 
Rückseite.^ Hält man sich an den Taö des Alterthums, 
um zu beherrschen das Seyn der Gegenwart, so kann 
man erkennen des Alterthums Anfange: das heisst 
Taö's Gewebaufzüg. ^ 

^) Diese Stelle erfordert umsomehr eine unbefangene und 
gründliche Untersuchung, als die beiden grössten Sinologen Frank- 
reichs über deren Erklärung ganz entgegengesetzte Ansichten ge- 
äussert haben, und sie uns, soUte der Ältere von ihnen recht gesehen 
haben, einen Beweis für die Berührung La6-tsds mit dem Ebraismus 
liefern würde. 

Abel R^usat hatte bereits in einem kleineren Aufsatze vom 
Jahre 1823 , der sich im ersten Bande seiner Milanges astatiques 
S. 88 f. abgedruckt findet, bemerkt, das Klarste in Laö-ts^'s Buche 
sey, dass ein dreifaches Wesen das Weltall gebildet habe, und dann 



62 

hinzugefugt : »Das AUerseltsamste ist, er giebt diesem Wesen einen 
kaum abgeänderten ebräischen Namen, der in unseren heiligen Bü- 
chern Den bezeichnet, der da war, der da ist und der da seyn wird, 
Jehovah{I. H. W.)«. In seinem Mlmoire sur la vk et les oeuvres 
de Lao-tseu von demselben Jahre sucht er dann diese Behauptung zu 
begründen. Er giebt zunächst seine Übersetzung unsres Kapitels, 
bekämpft dann Montucci, der die drei Schriftzeichen /T, ht, wH ge- 
martert habe, um die erzwungensten Bedeutungen in ihnen zu finden, 
und sagt dann : »Die drei Charaktere haben hier keinen Sinn ; sie 
sind lediglich Zeichen für Laute, die der chinesischen Sprache fremd 
sind, möge man sie vollständig aussprechen, jt^ ht^ wH, oder möge 
man die Anlaute I, H, W, welche die Chinesen durch ihre Schrift 
einzeln nicht darzustellen wussten , besonders nehmen. — Der tri- 
grammatische Name/t-Ähwii oder I H W ist der chinesischen Sprache 
fremd, weshalb es von Interesse ist, seinen Ursprung zu entdecken. 
Meines Erachtens darf man ihn nicht in Indien suchen, wo dieselben 
Ideen sich unstreitig wiederfinden sollen, aber in ganz andern Worten 
ausgedrückt erscheinen. Seinen Bestandtheilen nach scheint mir 
jenes Wort dasselbe mit IAO, welches bekanntlich der Name ist, 
den verschiedene orientalische Secten der ersten christlichen Jahr- 
hunderte, die man unter dem Namen der Gnostiker zusammenzu- 
fassen pflegt, der Sonne oder vielmehr dem Gott, dessen Bild oder 
Symbol ihnen die Sonne war, gegeben. — Für das Wahrsdieinlichste 
kann man die Meinung ansehen, wonach das Wort laoi eine Altera- 
tion des ebräischen Tetragramms ruST» ist.a Der Verfasser führt 
sodann die verschiedenartige Schreibung dieses Namens bei den 
Kirchenvätern an: 'law, 'laoo, Tai]» I^ß^, 'Aicr, leuco — und fahrt 
hierauf fort: »Bei dem Allen ist es sehr merkwürdig, dass die 
genaueste Transscription dieses berühmten Namens sich in einem 
chinesischen Buche findet ; denn Laö-ts^ hat die Aspiration beibe- 
halten , welche die Griechen mit den Buchstaben ihres Alphabets 
auszudrücken nicht im Stande waren. Anderseits findet sich das 
Tetragramm im Taö te king, wie bei den meisten Alten, auf drei 
Buchstaben zurückgeführt. Ohne Zweifel that diess nichts bei der 
Aussprache , weil allem Anschein nach das letzte H in STIST» nicht 
hörbar wurde. — Die Thatsache eines ebräischen oder syrischen 
Namens in einem alten chinesischen Buche, diese bisher unbekannte 



63 



Thatsache, ist immerhin aufFallend genug und bleibt, glaub ich, 
vollständig erwiesen, obgleich noch viel zu thun wäre, um sie auf 
eine genügende Weise zu erklären. — Dieser Name, im Taö te king 
so wol erhalten, dass man sagen kann, die Chinesen hätten ihn besser 
gekannt und genauer transscribirt als die Griechen, ist eine wahrhaft 
charakteristische Besonderheit ; es scheint unmöglich, zu bestreiten, 
dass dieser Name ursprünglich aus Syrien sey«. 

Gegen diese Ansicht erhebt sich Stanislas Julien in der Einlei- 
tung zu seinem La6-ts^. »So gross auch«, sagt er, »meine Ehrerbie- 
tung gegen das Andenken Rdmusats und meine Bewunderung seiner 
hohen Einsicht ist , so muss ich doch erklären , dass nach meiner 
Meinung diese Hypothese zwar neu und sinnreich , aber weit ent- 
fernt ist begründet zu seyn. Täusch' ich mich nicht, so werden die 
Leser diese Ansicht theilen, wenn sie den Text des Kap. 14 und 
die ihn begleitenden Commentarien gelesen haben. Die drei Sylben 
ßi kif weiy welche dieser Gelehrte als der chinesischen Sprache fremd 
und als rein lautbezeichnend ansieht, und in denen er die treue 
Transscription des ebräischfen Tetragramms M*flT^ zu sehen geglaubt 
hat, haben im Chinesischen einen klaren und entsprechenden Sinn, 
der sich auf die Autorität des Ta6-ss^Philosophen Hö-schängrküng 
stützt, welcher im Jahre 163 v. Chr. blühte und nach R^musat selbst 
volles Vertrauen zu verdienen scheint. Man darf glauben , dass der 
berühmte Professor dieser Ansicht entsagt hätte , wenn er von dem 
alten und kostbaren Commentare H6-schäng-küng's hätte Gebrauch 
machen können. Die erste Sylbe, ^?, bedeutet, »der Farbe erman- 
gelnd« ; die zweite , hl, »des Tons oder der Stimme ermangelnd« ; 
die dritte, w^i, »des Körpers ermangelnd«. Daraus ergiebt sich der 
Sinn der ersten Phrase des Kap. 14 : »Ihr schauet ihn an und sehet 
ihn nicht : er ist ohne Farbe (incolore); Ihr höret ihn und vernehmt 
ihn nicht : er ist ohne Stimme (aphone); Ihr wollt ihn berühren und 
erreichet ihn nicht : er ist ohne Körper (mcarporel),^ Diese Erklä- 
rung H6-schäng-küng's wird durch die namhaftesten Ausleger bestä- 
tigt. Sie findet sich auch in einem wichtigen Auszuge aus La6-ts^. 
Anderseits zeigen die zahlreichen Commentare zu La6-ts^ , die ich 
zur Verfugung habe, nicht eine einzige Stelle, welche gestattete, die 
drei Sylben /f (farblos), hl (tonlos) und wH (körperlos) als bedeu- 
tungslos und der chinesischen Sprache fremd anzusehen. Die Er- 



64 

klärer treiben den Zweifel und die Voraussetzungslosigkeit ebenso- 
weit als irgend ein europäischer Philolog , und so oft sie auf ein 
Wort stossen , das noch von Keinem erklärt ist , und dessen Sinn 
ihnen nicht fasslich ist, gestehn sie es offen. Wären die drei Sylben 
ff Alf w^if in diesem Falle gewesen, so würden die chinesischen 
Commentatoren nicht verfehlt haben, es einzugestehen, wäre es auch 
nur um, wie sie sagen, die Aufmerksamkeit künftiger Weisen zu 
wecken.« 

Um Stan. Julien gerecht zu werden, müssen wir die von ihm 
angeführten Stellen der Commentarien hinzufugen. Indess fuhrt er 
gerade zu den drei ersten Aussprüchen nur an , was er schon in der 
Einleitung gesagt, und erst zu dem ihnen nachfolgenden Satze citirt 
er zunächst wieder Hö-schäng-küng , der uns im Originale vorliegt 
und sich wörtlich so ausdrückt: »Die Drei, das heissty?, htf wH, 
Sie können nicht ausgeforscht werden, das heisst, das Farblose, 
Tonlose und Gestaltlose vermag vom Munde nicht gesagt , vermag 
durch Schrift nicht überliefert zu werden ; man muss es in der Stille 
empfangen, es im Geiste suchen ; es kann nicht durch Forschen und 
Fragen erlangt werden.« Dann Sie-hoei : »Diese drei Wörter ß, hi, 
w^i, drücken gleichmässig die Idee des Leeren und Unkörperlichen 
aus. In der That unterscheidet sich das Unsichtbare nicht von dem, 
was flir das Gehör und Tastgefühl unwahmehmbar ist. Darum kön- 
nen diese drei Eigenschaften sich weder trennen noch von einander 
unterscheiden. Man verschmelzt oder vereiniget sie zu einer einzi- 
gen Eigenschaft, weil sie, wie man oben gesehen, einzeln und zusam- 
men den Gedanken des Leeren und Unkörperlichen geben.« End- 
lich Juän-ts^ wörtlich : »Diese Drei sind im Grunde nur Eins. Die 
Menschen müssen diese Namen gebrauchen, um zu sagen, dass 
Taö den Sinnen des Gesichts, Gehörs und Gefühls en^ehe, durch 
die sie ihn suchen wollen.« -^ Soweit die von Stan. Julien angefahr- 
ten Commentarien. — 

Hat Abel R^musats Memoire auch das unbestreitbare Verdienst, 
die Aufmerksamkeit der europäischen Gelehrten zuerst auf La6-tse's 
Buch gelenkt zu haben, so enthält es doch zugleich soviel grundlose 
Voraussetzungen, Irrthümer und Schwärmereien, und die Gegenrede 
Stanislas Julien's erscheint so fasslich , so wolbegründet, so verstän- 
dig, dass man sich für diese auf den ersten Blick entscheiden möchte. 



65 

Dennoch dürfte die Sache damit noch nicht abgethan seyn. Es blei- 
ben noch Einreden und Gegengründe übrig , die nicht so leicht zu 
beseitigen seyn dürften, und vielleicht könnte R(5musat bei allen Miss- 
griffen doch einmal in diesem Punkte das Rechte gesehen haben. 
Wir wünschen, dass der unbefangene Leser selbst hierüber ent- 
scheide , und um ihn dazu in Stand zu setzen , stellen wir zuvör- 
derst die lexikalischen Bedeutungen der drei Schriftzeichen fest und 
bemerken dazu, in welchem Sinne sie sonst noch bei Laö-ts^ vor- 
kommen. Für das Erstere legen wir das Khäng-hi'sche Wörterbuch 
zum Grund. 

Nach diesem heist ft (richtige Aussprache : jän und tscht ge- 
theilt = ji) »schlicht, gerade, richtig, gross, ruhig, zufrieden, ähn- 
lich, gleichartig, ordnen, ausroden, ausrotten, verletzen, übertreten«. 
Die Grundbedeutung entspricht also zunächst unserm deutschen 
»gleich , gleichmachen« , da auch die letztangeftihrten Bedeutungen 
aus der »Gleichmachung« des Bodens herzuleiten sind. Bei Laö-ts^, 
kommt das Wort noch zweimal vor : Kap. 41 , wo es »recht, rich- 
tig«, und Kap. 53 , wo es »gerade, ebena heisst. — Hl erklärt das 
genannte Wörterbuch durch »wenig , selten , leer , sich verkleinem 
(beim Nennen seiner selbst ; vgl. »meine Wenigkeit«) , hoffen, erwar- 
ten, anhalten, zertheilen,, ausbreiten«. Mit Recht stellt es die Be- 
deutung »wenig« an die Spitze, da sich aus dieser die übrigen offen- 
bar entwickelt haben. Laö-ts^ hat das Wort noch ftinfmal, nehmlich 
Kap. 23, 41, 43, 70 und 74, wo es immer »wenig, selten« bedeu- 
tet. Wti heisst nach dem Wörterbuche: »allein, einzeln, ausge- 
zeichnet, verborgen, fein, zart, undeutlich, dunkel, schwach, wenig, 
höchstens, nicht, nichts«. Bei Läo-ts^ findet es sich noch dreimal, 
Kap. 15, 36 und 64, und heisst dort »fein« und »verborgen«. Der 
Grundbegriff ist wol der des Feinen , Zarten, das sich bis zur Un- 
wahmehmbarkeit steigert. Ganz dieselben Bedeutungen ftir die drei 
Wörter, nur weniger .vollständig, weniger zahlreich, finden sich bei 
Basil von Glemona und bei Morrison. 

Es ergiebt sich hieraus unzweifelhaft , dass die drei Wörter an 
und ftir sich mit Farbe, Stimme und Körper und deren Verneinung 
nichts zu schaffen haben. Auch die Zusammensetzung der Schrift- 
cliaraktere enthält nicht die mindeste Hinweisung darauf. Heisst es 
daher bei H6-schäng-küng : »ohne Farbe sagt^? (ww se jüe ß)\ ohne 

5 



66 

Ton sagt hi (wu schmg jüe hi); ohne Gestalt sagt wU (wü Afng jüe 
7vii); so sieht Jeder , dass diess keine Wortdefinitionen, keine Er- 
klärungen der Schriflzeichen seyn können , dass es vielmehr Erläu- 
terungen, dass es Versuche sind, mit diesen W(ktem einen Sinn zu 
verbinden, welcher der jedesmal vorangegangenen Aussage ent- 
spricht. Deshalb fiigt H6-schäng-küng selbst jenen Erläuterungen 
hinzu : »Er sagt , der Eine ist ohne Farbe nicht erschaubar , dass 
man ihn sähe , — ohne Stimmton nicht vernehmbar , dass man ihn 
hörte, — ohne Körpergestalt nicht fassbar, dass man ihn bekäme.« 
Unser Q)mmentator schloss also : La6-ts^ sagt, den man durch das 
Gesicht nicht erschauen kann , dess Name heisse ß; was nun fi 
zunächst bedeutet , das Gleiche, Schlichte, Gerade, Richtige, etc. 
kann man aber doch nicht unsichtbar nennen. Gleich wol soll ß 
etwas aussagen, wass nicht gesehen werden könne , wenn man dar- 
nach blickt. Dies kann also nur etwas seyn , was gar keinen Ein- 
druck auf die Augen macht und diess thut nur das Farblose nicht : 
ß muss folglich hier als das Farblose verstanden werden. Und 
ähnlich schloss er dann in den beiden andern Fällen. Da mit dem 
directen Sinn jener drei Radicale so wenig anzufangen war, so ent- 
nahm er eine Erklärung für sie aus der einem jeden vorausgehenden 
Aussage , und diess Verfahren erschien so plausibel , dass es nicht 
zu verwundem ist, wenn fast alle späteren Interpreten sich ihm ange- 
schlossen haben. 

Kann man nun deshalb aber sagen, die drei Sylben hätten 
hier einen klaren und entspreclienden Sinn? Man vergegenwärtige 
sich das angeführte Lexikalische und dazu den nachweislichen 
Sprachgehrauch La6-ts^'s, und man wird gestehen müssen, dass der 
Philosoph sehr mangelhafte und wenig zutreffende Bezeichnungen 
gewählt habe, wenn er mit jenen Wörtern jedesmal den Inhalt der 
vorangehenden Aussage hätte ausdrücken oder die Ursache des 
Nichtsehens, Nichthörens, Nichtbekommens angeben wollen. Wem 
würde es einfallen , Jemanden deshalb , weil er sich nicht hörbar 
macht , weil er keinen Ton von sich giebt , »Wenig« oder »Seltena 
zu nennen? 

Aber vorausgesetzt auch , unser Autor habe jene drei Bezeidi- 
nungen frei gewählt , würde er sie dann wol mit den Worten einge- 
führt haben : » (sein) Name heisst« ? Dass er in einem solchen Falle 



67 

anders verfahrt, zeigt Kap. 25. Dort sagt er von dem höchsten 
Wesen : »Ich kenne nicht seinen Namen ; bezeichne ichs, nenn' ichs 
Tad. Bemüht, ihm einen Namen zu geben, nenn' ichs Gross; als 
gross nenn' ichs Üeberschwänglich ; als überschwänglich nenn' ichs 
£ntfemt; als entfernt nenn' ichs Wiedergekehrt.« Mit solchen Vor- 
behalten legt er selbst ihm einen Namen bei, den er sofort beinahe 
wieder zurücknimmt, um ihn durch andre Bezeichnungen zu ergänzen. 
Führt er es dagegen hier als eine feststehende Thatsache an: »(sein) 
Nameheisstff, so sieht man, er will nicht erst einen Namen geben, son- 
dern mit einem bereits als gegeben betrachteten Namen einen ge- 
wissen Sinn verbinden ; er will nicht einen ausgesprochenen Gedan- 
ken, zusammenfassend, in dem Namen fixiren, sondern an den Namen 
einen möglichst schicklichen Gedanken knüpfen. Das bezeugt er 
selbst in dem folgenden Satze, der zugleich — was das Wichtigste 
ist — gar keinen Zweifel lässt, dass die drei Namen zu Einem 
Namen verbunden (kuän^ zusammengegossen, zusammengeschmol- 
zen) werden sollen. Denn er sagt wörtlich: »Diese- Drei können 
nicht durchaus {tschl^ ankommend , trefifend , bis zum Gipfel , bis 
zum Äussersten) erforscht (kie^ erfragt) werden, drum werden sie 
verbunden und machen Einen (sind Einer) .« Hö-schäng-küng geräth 
mit sich selbst in Widerspruch, wenn er die Unausforschbarkeit, wie 
wir oben sahen , auf das beziehen will, was nach seiner Auslegung^ 
die Namen bedeuten sollten, zugleich aber sagt, die Drei seien ^, 
hiy wH^ also die Namen selbst, imd richtig hinzufügt : »Drum bena- 
met man ihn mit den Dreien zusammen und sie sind Einer«, d. i. 
Ein Name. Sind die Objecte des Verbindens die drei Namen , so 
wird auch von ihnen in der ersten Satzhälfte gesagt, man könne sie 
durch Forschen und Fragen nicht erreichen , d. h. ihren Sinn nicht 
ganz ermitteln. Und so bestätigt La6-tsd selbst , dass seine eigne 
Auslegung der drei Sylben etwas Unzulängliches, etwas nur Annähern- 
des sey. Hätte er diese Namen erfunden , nicht vorgefunden , so 
hätte er offenbar umgekehrt verfahren müssen und nicht sagen dür- 
fen, die Namen könnten nicht ausgeforscht werden, sondern sie 
genügten nicht zur vollständigen Bezeichnung (etwa : thsl sän ts£hl 
pu kho Hu tschi näng); d. h. er hätte die Mangelhaftigkeit nicht dem 
forschenden Subject , sondern den gegebenen Namen zuschreiben 
müssen. Dem Charakter der chinesischen Sprache zufolge kann 

5* 



68 



man die Bedeutung eines dreisylbigen Namens nur finden, wenn 
der Sinn jeder einzelnen Sylbe feststeht; diesen festzustellen ist 
aber , wie Laö-ts^ sagt , im vorliegenden Falle unerreichbar , und 
seine eignen Auslegungsversuche beweisen diess ; darum soll man 
sich bei den einzelnen Sylben nicht aufhalten, sondern sie zu Einem 
Namen verbinden : Ji-hi-w^i. Ob und wieweit Derjenige erforsch- 
lich sey, dem dieser Name zukommt , das wird dann in dem Nach- 
folgenden beantwortet. 

Dass nun dieser dreisylbige Name das höchste Wesen, den 
unaussprechlichen Taö, bezeichnen sollte, ist klar. Eine ebenso 
unbestreitbare Thatsache aber ist es, dass er als Bezeichnung irgend 
eines ,Objects, zumal aber des höchsten Wesens, dem Chinesischen 
ganz fremd ist. Wir sind demnach darauf angewiesen, uns für die 
Herkunft dieses Namens ausserhalb Chinas umzusehen. Da bietet 
sich aber unter allen bekannten Gottesnamen des Alterthums keiner, 
der — ungeachtet der vocalischen Abweichung — in den drei ver- 
bundenen chinesischen Sylben wiederzuentdecken wäre, als der 
Name XTTT^, Allerdings könnte hiergegen sowol diese vocalische Ab- 
weichung, als auch die ZurtickfUhrung des Tetragramms auf ein Tri- 
gramm bedenklich machen. Allein Beides ist hinreichend erklärlich. 

Was zuvörderst die Vocalisation betrifft, so hat die neuere For- 
schung es bekannüich zur grössten Wahrscheinlichkeit erhoben, dass 
die alte Aussprache Jahweh gewesen. Eben so bekannt ist es aber 
auch , dass die Erfindung der ebräischen Punctation eine sehr späte 
ist, dass im sechsten Jahrhunderte v. Chr. gewiss noch Niemand an 
sie dachte. Nun denke man sich , ein schreibkundiger Ebräer habe 
Laö-ts^ den Namen überliefert und nach seinen Bestandtheilen zer- 
gliedert. Konnte er ihm bei dieser Operation etwas andres darstel- 
len und bezeichnen, als die Mitlauter ? Mussten ihm diese nicht ent- 
schieden als das Wesentliche gelten ? Dabei erklärt dann die sinesi- 
rende Aussprache im Munde des Chinesen die Alteration der Vocale 
genügend. Vielleicht war sie dem Ohre auch nicht einmal so auf- 
fallend , als sie uns jetzt scheint. Wenn wir bei Hiudn-tsäng das 
indische Schäkia durch Schi, Kharisma durch Ki-li-sse-moy Sighnak 
durch Schi-khi-ftty Kaschghar durch Kie-scha, Gatschi durch Ä'/>- 
tschi transscribirt finden, so zeigt sich dabei ebenfalls der Üebergang 
eines a in /, und wir können die Vocalveränderung von Jahweh in 



69 

Ji'hi-wei nicht mehr verwunderlich nennen. Überdiess, bei der 
Flüssigkeit des vocalischen Elements in den Sprachen , wer wollte 
dafür einstehen, dass in jenen alten Zeiten der Ebräer sowol als der 
Chinese genau so vocalisirt hätten, wie es später und vielleicht rich- 
tiger geschah ? Genug , dass wir Beispiele von chinesischer Trans- 
scription haben, bei denen eben so starke, ja ganz dieselben Vocal- 
änderungen vorkommen. 

Weit wichtiger als die Vocale sind fiir unsre Frage die Conso- 
nanten. Da jedoch die drei ersten im Ebräischen und im Chinesi- 
schen genau übereinstimmen, so kann es sich nur noch um die Fra- 
gen handeln : warum ist das Tetragramm auf ein Trigramm zurück- 
gebracht , und warum das zweisylbige Wort zu einem dreisilbigen 
erweitert? Beides erklärt nicht nur der Charakter der chinesischen 
Sprache und Schrift zur Genüge, sondern man wird sogleich sehen, 
dass er es auch nothwendig machte. Bei der sehr kräftigen Aspira- 
tionsweise aller morgenländischen Völker , die auch bei den alten 
Ebräem vorauszusetzen ist, fielen die beiden H des Tetragramms 
sehr deutlich ins Gehör. Das erste bildete mit dem folgenden 1 eine 
Art Doppelconsonanten , das zweite den Auslaut. Nun aber sind 
sowol Doppelconsonanten als consonantische Auslaute — mit Aus- 
nahme des «, ng und des / in dem einzigen Worte öll — im chine- 
sischen Idiom unzulässig. Jene müssen in ebensoviele Sylben auf- 
gelöst werden, diese werden meist abgeworfen; wie denn z.B. 
englisch ing-ki-H, Christus kt-li-sse-tü gesprochen und geschrieben 
werden. Darum musste das erste H bei der Transscription seine 
besondere Sylbe erhalten , das zweite aber schwinden , nicht ohne 
dass in dem Doppelvocal der Sylbe wH noch ein Anhauch davon 
zu spüren ist. Und so wurde nothwendigerweise das zweisylbige 
Tetragramm gerade zu einem solchen dreisylbigen Trigramm , wie 
wir es in unserer Stelle finden. 

Ist es aber der ebräische Gottesname, so kann Laö-ts^ zu des- 
sen Kenntniss allerdings nur durch Israeliten gelangt seyn. Wie ist 
diess denkbar ? Abel Rdmusat hält für glaublich , dass La6-ts^ ihn 
auf einer Reise kennen gelernt , die sich in die Westländer bis über 
Baktrien hinaus, ja vielleicht bis Syrien erstreckt habe. Allein die 
von Stanislas Julien hiergegen erhobenen Einwände fallen zu schwer 
in's Gewicht, um diese Hypothese flir annehmbar zu erachten. 



70 

Können denn aber nicht Israeliten zu I.aö-ts^'s Zeit , oder schon 
vor derselben, im siebenten, im achten Jahrhundert nach China 
gelangt seyn ? Das Tscheu-li zeigt , dass schon früher Handelsrei- 
sende aus den westlichen Ländern die chinesischen Märkte besucht 
haben. Sollten die kühnen phönikischen Kauffahrer, welche westlich 
aussegelnd bis Britannien , ja bis in die Ostsee vordrangen , nicht 
auch versucht haben, wie weit sie im Osten, die Küsten Asiens ent- 
lang , kommen konnten? Sollten sich ihren Fahrten niemals ebräi- 
sche Männer angeschlossen haben , da wir doch wissen, dass israe- 
litische Könige sich an tyrischen Handelsflotten betheiligten? Mag 
Ophir, wohin Salomos Flotten segelten, immerhin nur in Indien 
gelegen haben , so ist es doch ein merkwürdiges Zusammentrefien, 
wenn Lie-ts^ um 398 v. Chr. berichtet, zu des Tscheu Mü-wing 
Zeit, welcher von 100 1 bis 946, also mit Salomo (10 18 — 978) zu- 
gleich regierte, sey aus einem »Lande des äussersten Westens« (si ki 
tschi kuo) ein Wundermann gekommen, der allerlei Unerhörtes ver- 
richtet habe, von Mü-mfing wie ein höheres Wesen verehrt, wie ein 
Fürst behandelt worden sey, und die Menschen bekehrt habe. Wir 
behaupten nicht, dass diess ein prophetischer Israelit gewesen, des- 
sen Wirken auf die Menschen später von der Sage ins Wunderbare 
hinübergestaltet sey, wir behaupten nicht einmal, dass es ein Israe- 
lit gewesen , und legen nur Gewicht auf das Kommen des Mannes 
aus dem Lande des äussersten Westens. Dass zur Zeit Jesaja's China 
den Israeliten bekannt gewesen, macht Jes. 49, 12 höchst wahr- 
scheinlich, wie wir bereits in einem kleinen Aufsatze nachgewiesen, 
der in der zweiten Ausgabe des Commentars zum Jesaja von Fr. De- 
litzsch S. 712 abgedruckt ist. Nun finden wir aber ferner, dass sich 
noch im Jahre 1704 eine alte israelitische Colonie in China erhalten 
habe, welche der Pater Gozani von der Gesellschaft Jesu selbst gese- 
hen und besucht hat. Sein Bericht darüber steht im 18. Bande der 
Lettre^ idifiantes Ausg. v. 178 1 ; und im 24. Bande derselben be- 
findet sich ein treffliches Memoire über denselben Gegenstand, worin 
es über die Einwanderung dieser Juden in China heisst (S. 96): »Sie 
haben allen Missionaren beständig gesagt , dass sie unter der Hän- 
Dynastie eingewandert seyen und ihre Monumente sagen dasselbe. 
Die Hän-Dynastie begann im Jahre 206 v. Chr. ; nach dieser Zeit 
sind also die Juden nach China gekommen: sie hätten vor dem 



•":» 



71 

Untergange ihres Reichs dahin gehen können, aber es ist natür- 
licher , zu glauben , dass es erst nach der furchtbaren Katastrophe 
von Jerusalem gewesen sey, dass sie, nach allen Seiten hin zer- 
sprengt, von Khorassan und Transoxana aus sich in China verbrei- 
teten. Diese Vermuthung kommt selbst der Gewissheit nahe , da 
ich mich erinnere , dass mehrere dieser Juden versichert haben, sie 
seyen unter der Regierung von Mtng-tf angekommen. Dieser Fürst 
bestieg im Jahre 56 n. Chr. den Thron und starb erst im Jahre 78. 
Die Zeit könnte nicht besser zusammentreflfen mit der Zerstörung 
Jerusalems, welche im Jahre 70 stattfand.« — Die Hän-Dynastie 
bestand bis 263 n. Chr. Konnte aber vor diesem Jahre schon eine 
ganze Colonie von Israeliten, sey es zu Lande, sey es zu Wasser, 
nach China gelangen, so ist kein Grund erfindlich, weshalb Israeliten 
nicht auch schon in früheren Jahrhunderten nach einer ähnlichen 
Katastrophe bis nach China gelangt seyn sollten. Und war nicht 
die Zerstörung des Zehnstämmereichs (720 v. Chr.) eine ganz ähn- 
liche Katastrophe? Weshalb sollten damals nicht einzelne Familien 
oder einzelne Männer denselben Weg nehmen können , um sich zu 
flüchten, den nach Jerusalems Fall eine ganze Gemeinde nahm, 
wäre diess etwa auch nicht sofort , wäre es auch erst im siebenten 
oder sechsten Jahrhundert geschehen? Weshalb hätte diess nicht 
auch nach der Eroberung Jerusalems durch die Chaldäer (586 
v. Chr.) geschehen seyn können? 

Müssen wir es also ftir möglich halten, dass zur Zeit Laö-ts^*s 
Israeliten in China gewesen , dass dieselben sich vor Allem unter 
den Schutz des Kaisers begeben, in dessen Erblanden allein damals 
dauernder Friede war , dass Lad-ts^ in Berührung mit ihnen kam, 
und den Namen , den sie der Gottheit beilegten , erfahren konnte, 
so wird diese Möglichkeit doch gewiss zur grössten Wahrscheinlich- 
keit, wenn wir nun wirklich denselben Grottesnamen bei ihm finden. 
Und wollte man dagegen einwerfen, dass der Name, falls er gemeint 
sey, doch gar nicht eigentlich ausgesprochen , dass er nur herange- 
bracht und gleichsam zum Errathen aufgegeben werde, so ist zu 
erwiedem, dass diese Thatsache jene Wahrscheinlichkeit ja nur noch 
steigert. Wir wissen zwar nicht , wie alt die Scheu der Israeliten 
ist, den hochheiligen Namen auszusprechen, und möchten glauben, 
das Öhler zuweit ginge, wenn er sie schon bei den letzten Propheten 



72 

finden will. Offenbar ist sie entstanden aus der Furcht , <Jas Gebot 
gegen den Missbrauch des Nähiens zu übertreten, und diese Furcht 
konnten Männer nicht haben, die im Auftrage Jahweh's zu seinem 
Volke redeten. Bei dem gesetzbewussten, gottesfürchtigen Israeliten, 
der in ferne Länder gerathen , musste sich aber schon viel früher 
zu dieser Furcht die andre gesellen , dass er Anlass zur Lästerung 
geben, dass fremdes Volk den hehren Namen aus Missverstand oder 
Spott entheiligen könne (vgl. 3 Mos. 24, 11 — 16.), und dann Schuld 
auf ihn falle, der ihn den Unreinen mitgetheilt. Ganz glaublich 
also , dass er einem Chinesen , auch damals schon , nur unter den 
grössten Vorbehalten und Warnungen mitgetheilt worden, dass man 
ihm eine heilige Scheu einzuprägen gesucht , diesen Namen zu ge- 
brauchen oder gar öffentlich zu nennen. Diess erklärte dann auch 
die öfteren Versicherungen Laö-ts^'s, wie deren eine alsbald folgt : 
Taö's Name könne (oder dürfe) nicht genannt werden; und es 
erklärte vollständig , weshalb er hier gleichsam nur die Anleitung 
giebt , den Namen zu finden , ohne dass er ihn geradezu und offen 
nennt. 

Aber es erklärt noch mehr. Es erklärt , warum die späteren 
Ausleger von dem Namen nichts wissen , nicht einmal ahnen , dass 
auf denselben hingewiesen ist. Bei dem zurückgezogenen und 
schweigsamen Wesen Lad-tsd's , der keine unmittelbare Schüler ge- 
habt haben wird, da diess die Üeberlieferung sonst sicherlich gemel- 
det hätte, nuisste das Geheimniss des Namens wol Geheimniss blei- 
ben. Ist doch die ganze Stelle, und unverkennbar mit Absicht, so 
gefasst , dass der , welcher den Namen kannte , ihn zwar sofort an- 
gedeutet fand , der aber , dem er fremd war , genau auf die Wege 
gerathen musste, auf denen wir H6-schäng-küng und all seine Nach- 
folger getroffen. Denn ganz ohne Sinn, wie A. R^musat meint, sind 
ja die drei Grundsylben hier nicht. Sie gestatten doch wenigstens 
einigermassen , wenn auch die beiden ersten nur gezwungen , eine 
solche Ausdeutung, wie La6-ts^ sie ihn^n gegeben hat, und gerade 
desshalb wird er die angewandten Schriftzeichen für sie genommen 
haben, da es ja in seiner Wahl stand, mit welchen von den zahlrei- 
chen Charakteren, die ebenso ausgesprochen werden, er sie bezeich- 
nen wollte. Wäre es ihm nicht auf den Namen , also nicht auf den 
Klang der Sylben angekommen, so bot ihm seine Sprache weit 



73 

treffendere Namen fUr den Unsichtbaren oder Verborgenen, als ß, 
oder für den Schweigenden oder Stummen , als hi^ wie jedes Wör- 
terbuch zeigt. 

Dass übrigens die ausdrückliche Hinweisung auf den geheim- 
nissvollen Namen schon lange vor H6-schäng-küng unverstanden 
blieb, beweist der schon genannte Tao-Philosoph Lie-ts^ , dessen 
Buch etwa 120 Jahre nach Abfassung des Taö te king erschien. Er 
fuhrt im ersten Abschnitte seines Buchs die Worte an : »Man schaut 
ihn ohne zu sehen, man vernimmt ihn ohne zu hören, man fasset ihn 
ohne zu bekommen« — und bezeichnet ihn, Taö, deshalb als den 
Anfang, das Prinzip (ß, 3893^, das nichts einer Form Ähnliches 
habe, sich dann aber zur Einheit entwickle etc. Bei dieser Anfuh- 
rung lässt er aber die Worte : »sein Name heisst etc.« jedesmal weg. 
Da Lie-ts^ den La6-ts^ kennt und ihn gern anfuhrt, so würde er bei 
diesem Citat den dreifachen Namen schwerlich mit einfachem Still- 
schweigen beseitigt haben, wenn er dessen hohe Bedeutsamkeit ge- 
kannt hätte. Indess nennt er den La6-ts^ bei diesem Citate nicht, 
und dieser Umstand macht noch einer andern Vermuthung Raum. 
Könnten die von beiden Philosophen angeführten Worte nicht ein 
älterer Ausspruch seyn ? gehörten sie und noch andre »Worte der 
Alten « bei La6-ts^ nicht vielleicht dem von Lie-ts^ citirten Hoäng- 
tfschü an? (Vgl. Anm. zu Klap. 6). Wenn diess, so hätte La6-ts^ 
sie nur zu einer desto unscheinbareren Erklärung des Trigramms 
benutzt , und es wäre um so begreiflicher , weshalb die Bedeutung 
der drei Sylben und diese ihre Erklärung sich so wenig deckten. 

Alles Vorstehende nun zusammengefasst, meinen wir, der vor- 
urtheilsfreie Leser müsse uns beistimmen, wenn wir, trotz unsrer 
grössten Anerkennung der Sprachkunde und Gelehrsamkeit Stanilas 
Juliens, uns in dieser Frage für die Ansicht Abel R^musats entschei- 
den. Schelling ist offenbar im Irrthum, wenn er Rdmusats Abhand- 
lung auch in Beziehung auf diesen Punkt eine Mystification nennt, 
wie sie der gelehrten Welt in langer Zeit nicht widerfahren sey, 
und hinzufügt: »Hr. A. Rdmusat hatte durch seine anderen ver- 
dienstvollen Untersuchungen kritische Übung und Erfahrung genug 
erworben, dass man sich in der peinlichsten Verlegenheit sieht, an 
der Aufrichtigkeit seiner Versicherung zweifeln und wenigstens an- 
nehmen zu müssen, dass mehr oder weniger bewusste Rücksicht auf 



74 

die damals in Frankreich mächtigen Jesuiten den sonst hellen Geist 
des Mannes verblendet habe«. Wie ungerecht diese Verdächtigung 
ist, beweisen Rdmusats eigne Worte in jener Abhandlung. Er tadelt 
dort , wie wir schon gehört , Montucci's Auslegung der drei Wör- 
ter. »Man sieht unschwer«, fahrt er dann fort , »welchem Wunsche 
Montucci bei der Interpretation dieser Stelle nachgegeben hat. 
Ebenderselbe hat bereits drei der fähigsten Missionäre Chinas irre 
gefuhrt , die Väter Bouvet , Fouquet und Prömare , und indem er 
sie im Interesse ihres Systems die Lesung aller Denkmäler des 
chinesischen Alterthums vornehmen liess , hat er sie, trotz ihrer tie- 
fen Gelehrsamkeit und der Reinheit ihrer Absichten, zu so irri- 
gen Folgerungen geführt , dass sie nicht im mindesten auf die Ge- 
sichtspunkte gekommen sind, die ich mir bei Abfassung dieser Denk- 
schrift vorgesetzt.« So ungescheut widersprach Rdmusat gerade den 
Ansichten der Jesuiten. Und waren die Gesichtspunkte bei seiner 
Arbeit etwa darauf gerichtet , jesuitische , oder nur katholische, ja 
nur christliche Lehren oder Anschauungen bei Laö-ts^ zu finden, 
oder durch ihn zu stützen? So wenig, dass es ihm eingestande- 
nermassen nur darauf ankam nachzuweisen, es fanden sich bei 
La6-ts^ dieselben Grundideen, wie bei Pythagoras und Piaton, den 
Pythagorikem und den Platonikem, um daraus schliessen zu kön- 
nen, er müsse mit diesen aus derselben Quelle geschöpft haben. 
Allerdings war dieser Schluss irrig und selbst jene Nachweisung in 
vielen Stücken verfehlt, aber den Vorwurf Schellings verdient der 
edle Mann nicht. 

Dagegen hat der deutsche Philosoph mehr Recht, wenn er sagt, 
»dass die Ta6-Lehre so ganz im Geist des entferntesten Ostens ge- 
dacht und erfunden sey, dass von westlicher Weisheit — nicht zu 
sagen von griechisch-pythagorischer — aber auch von syrisch-palä- 
stinensischer oder auch nur indischer Denkart und Weisheit nicht 
eine Spur ist«. Dürfen wir daher auch annehmen, dass Laö-ts^ mit 
Israeliten in Berührung gekommen, dass er mit Scheu und Ehrfurcht 
ihren Aussagen über die höchste Idee der Menschen gelauscht ; so 
hat ihn diess in seiner Denkweise vielleicht bestärkt und gesteigert, 
dieselbe aber weder begründet noch bestimmt , und es sind nicht 
wenige Punkte , in denen er gewissen neutestamentlichen Anschau- 
ungen näher steht, als den alttestamentlichen. — 



75 

Betrachten wir die Aussagen unsres Textes noch kurz unter 
Absehn von dem Namen. Dass darin von der Gottheit als dem Ur- 
gründe, von dem unaussprechlichen und unnennbaren Taö, geredet 
werde, zeigt das Folgende klar. Nicht aber dessen völlige Unzu- 
gänglichkeit und Unerkennbarkeit wird behauptet — wie käme man 
sonst dazu, von ihm zu wissen und etwas von ihm auszusagen? — 
sondern nur seine Übersinnlichkeit. Denn dass wir ihn schauen 
(schi)y vernehmen (thfng)^ erfassen (tschhüan) wird nicht in Abrede 
gestellt ; gesagt wird nur, es sey diess kein Sehen (kidn)^ kein Hören 
(whi)y kein Bekommen (fe)\ und da die drei letzten Ausdrücke sich 
hier nur auf sinnliche Thätigkeiten beziehen können, so ergiebt sich 
daraus, dass die drei ersten als übersinnliche, innerliche zu fassen 
sind. Zum Theil bezeugen diess auch die Schriftzeichen; denn 
während der Charakter für kidn (sehen) aus »Auge« und »Mensch« 
zusammengesetzt ist, tritt ihm bei dem Zeichen , für scJä (schauen) 
noch der Charakter für »Geist« (6991) hinzu; w^n (hören) stellt ein 
»Ohr« unter einer »Pforte« dar ; bei thing (vernehmen) treten zu dem 
»Ohr« die 2^ichen für »gross« ( 1 7 60) und »Tugend« (2881). Tschhüan 
(fassen) wird durch »Hand« oder »Anfassen« und »Geistesanstrengung« 
bezeichnet ; fe (bekommen oder erreichen) durch die Zeichen für »Zu- 
schreiten« und »Anhalten«. (Leider liegt die chinesische Synonymik 
noch ganz im Argen und wäre erst zu begründen. Man ist daher 
auf dergleichen graphische Etymologien angewiesen, die aber, auch 
abgesehen von den rein phonetischen Charakterbestandtheilen, sehr 
oft keinen Aufschluss gewähren.) 

2) Das Subject dieses Ausspruchs, sowie der beiden folgenden, 
ist Taö, oder wie wir nun wol sagen dürfen, der mit den drei ver- 
einigten Sylben bezeichnete Jt-hi-u»H = »Tirp, in*». Ersichtlich 
wird hier an die schon im ersten Kapitel erwähnte Unterschiedenheit 
in Gott erinnert, und was dort als der Gegensatz des Unaussprech- 
lichen und des Aussprechlichen, des Unbenamten und des Benamten 
bezeichnet wurde, heisst hier sein Oberes und sein Unteres. Nur 
jenem, nicht diesem, wird die Erkennbarkeit abgesprochen, wenn 
auch nicht durchaus; und dieses ist es mithin, was wir zunächst von 
Ihm geistig schauen, vernehmen und fassen. Es ist »nicht dunkel«; 
denn dem , der in der Stille sich darein versenkt, spricht es sich 
selbst aus ; aber a 1 s Unteres, das sein Oberes voraussetzt, auf dieses 



76 

zurückweist und es daher ausweiset. Daher wissen wir auch von 
diesem, aber nur mittelbar, denn an sich selbst ist es uns »nicht 
klar«, es leuchtet nicht selbst in uns herein, daher können von ihm 
auch nur die gleich folgenden Negationen ausgesagt werden. Diesen 
Sinn ergiebt, neben dem Wortlaute, der engere und weitere Zusam- 
menhang. Hö-schäng-küng ahnt ihn wenigstens, wenn er erklärt: 
»Der Eine ist im Himmel droben nicht klar, ... ist in der Welt 
(unter dem Himmel) nicht dunkel, — verdeckt, verborgen.« Wollen 
andre Ausleger darin finden, Taö habe weder ein Oberes noch ein 
Unteres, deshalb sey er weder droben klarer, noch drunten dunkler, — 
so ist das eingelegt, nicht ausgelegt, und widerspricht überdiess dem 
Wortlaute. 

3) In dem letzten dieser Sätze liest Stanilas Julien: schi wH 
(ig, i86) hü huhngy anstatt schi wU (5595) etc. und tiberträgt: On 
tappelU vaguej indetermini. Wir finden in unsem Ausgaben nur wh 
(ist) , auch wii nicht im Variantenverzeichnisse angeführt. Hü huhng^ 
auch huäng hü kommt häufig vor fiir das Formlose, worin sich nichts 
Bestimmtes unterscheiden lässt, incomprehensibly indistincty also ziem- 
lich unser »ganz unerfasslich«. — Nach ihrem Zusammenhange 
könnte man diese Sätze auch so wiedergeben : »Der je und je Un- 
nennbare zieht sich zurück ins Nicht -Wesen: das heisst des Gestalt- 
losen Gestalt, des Bildlosen Bild ; das ist gar unerfasslich.« Es ist 
die reine blosse Gottheit, das Absolute, wozu La6-ts^ sich jetzt 
erhebt. Hier berührt er sich am innigsten und sogar, in den Aus- 
drücken mit unserm Meister Eckhart. Nun kann der Inhalt des 
Denkens, eben weil er alles Denken übersteigt, vor und über allem 
Denken ist, nur noch durch Verneinungen, oder durch Bejahungen, 
die im Voraus schon aufgehoben sind, ausgedrückt, weil gedacht 
werden. Er ist der, welcher »je und je« (schtng sching^ wie ein Seil 
fortlaufend) »nicht kann genannt werden«, vielleicht auch nicht ge- 
nannt werden darf (denn khb heisst auch licet). Ein Name wäre 
schon eine Aussage von Ihm, Er aber ist gänzlich prädicatlos, weil 
über alle Prädicate. Ja, nicht einmal als Wesen mag er bezeichnet 
werden, denn er »kehrt sich zurück in s Nicht- Wesen, in's Wesenlose, 
d. i. in die blosse Möglichkeit, Wesen zu seyn ; aus welcher blossen 
Möglichkeit er jedoch schon vor Entstehung Himmels und der Erde 
in überschwänglicher ursprünglicher Vollkommenheit als Wesen 



77 

(Kap. 25) hervortritt, um dann durch Heraussetzung des Weltalls 
sich als der Seyende zu erweisen (Kap. 32.) ; aber in seinem stillen 
Grunde ist er über Wesen und ohne Wesen. (Indess darf das Wort 
»Wesen« (woe) nicJit in unserm Sinne als das »Ueberseyende« gefasst 
werden ; diess meint vielmehr das »Nicht -Wesen« (wü woe); woe ist 
nicht das, was das Seyende ist, sondern das Seyende, das da ist.) 
Eben diese Wesenlosigkeit ist nun seine Gestalt, seine Form ; weil 
aber doch nur ein Wesen Gestalt haben kann , so ist sie zugleich 
seine Nicht-Gestalt , die Gestalt des Gestaltlosen. So ist sie auch ^ 
sein Bild, die Darstellung seiner selbst; wiederum aber kann nur 
ein Wesen sich darbilden , und das Bild eines Nicht- Wesens kann 
nur ein Nicht-Bild seyn ; daher ist seine Wesenlosigkeit auch nur 
eines Nicht-Bildes Bild. Aber nur was eine Gestalt, eine Form hat, 
was ein Bild von sich geben kann, ist erkennbar, ist als an sich 
seyend unterscheidbar. »Unbestimmt-ununterscheidbar«, d. h. gar 
unerfasslich, ist daher das Gestalt- und Bildlose, ist daher auch Er 
als der Wesenlose , als der Absolute , über und vor aller und jeder 
Bestimmtheit. — Vor solchen Gedanken können wir nicht umhin, 
daran zu erinnern , dass dies im sechsten Jahrhundert v. Chr. von 
einem Chinesen geschrieben worden ist! 

^) Der Zusammenhang ergiebt, dass hiermit nicht etwa die 
Unsichtbarkeit der Gottheit ausgedrückt seyn soll. Es ist ein tieferer 
Gedankeniluss. Von Alters her wird im Chinesischen Anfang und 
Ende bildlich durch Haupt und Schweif bezeichnet ; das letztere ist 
hier würdiger ausgedrückt, und La6-ts^ will somit sagen: Auch 
wenn man — natürlich im Denken — seinen Standpunkt gleichsam 
vor dem Anfange der Gottheit nehmen wollte , so wird man doch 
diesen Anfang, den Grund und ersten Ausgang derselben nicht auf- 
finden können (denn er tritt vor alles Denkbare in die Tiefen der 
Unendlichkeit zurück); ebenso wird man auch vergeblich suchen, 
wo sie aufhört (denn auch ihr Ausgang von jenen Tiefen hinaus er- 
streckt sich in gleiche, von keinem Denken zu verfolgende Tie- 
fen der Unendlichkeit). Der Anschluss an das Vorherige zeigt, 
dass diess zunächst ontologisch zu verstehen sey. Weil Gott sich 
jedoch dem Wesen nach so verhält , so verhält er sich ebenso auch 
in Bezug auf die Weltentwicklung d. h. auf die Zeit ; und dieser 
unausgesprochene, aber in dem bildlichen Ausdrucke dieses Satzes 



78 

mitbefasste Gedanke leitet zu dem hinüber , womit der Schluss des 
Kapitels einsetzt. 

^) Laö-tsd hatte des Allerhöchsten gedacht, wozu der Menschen- 
geist sich erheben kann, der Anschauung des Absoluten ; im folgen- 
den Kapitel will er nun , nach seiner Weise , zu denen fortgehen, 
die in dieser Anschauung stehen und leben und dadurch ihr Seyn 
und Verhalten bestimmen lassen. Er gedenkt ihrer schon hier, aber 
noch im engeren Anschluss an das zuletzt Gesagte, und der eigent- 

■ 

liehe Anschlusspunkt liegt in dem letzten Worte des Kapitels : J^. 
Kl heisst ursprünglich die gesonderten Fäden, der Aufzug, die 
Kette eines Gewebes ; dann überhaupt ein Gewebe , und in über- 
tragener Bedeutung Denkwürdigkeiten , Geschichtschreibung. Hier 
steht es in der ersteren Bedeutung. Von den Uranfängen der Welt- 
entwicklung — der Geschichte — bis in die Gegenwart erstrecken 
sich im Gewebe der Zeiten göttliche Längenfäden, welche dieselben 
sind von Anfang bis zu Ende, auf denen Halt und Bestand des 
Gewebes beruht, die aber, verdeckt durch den Emschlag des Gewe- 
bes (der das Werk menschlicher Freiheit und auch Willkür ist), nur 
in den Anfangen , wo sie gleichsam noch unverwebt heraushangen, 
rein zu erkennen sind. Man erkennt sie aber nur, wenn man sich an 
»den Tad des Alterthums hält« [tscht = fassen und festhalten), d. h. 
wenn man an den alten Gott glaubt , wie ihn die Vorzeit gekannt, 
geglaubt und gelehrt hat , da nur Er der wahre ist. Wenn man aus 
dieser Äusserung und einigen ähnlichen schliesst, dass nach La6-ts^ 
der Glaube an Ta6 der frühere , allmählich in Abnahme gekommen 
sey, so stimmt das zu den Spuren dieses Glaubens im ältesten Theile 
des Schü-king (vgl. Einl. §11). Das Alterthum, meint La6-ts6, 
besass hierin die Wahrheit , und an diese muss man sich halten, 
»um zu beherrschen der Gegenwart, des Jetzt Seyn.« Denn die 
eigentliche Macht über die gegenwärtigen Dinge ist Tab , wie die 
Vorzeit ihn hatte, und in dem Masse, als man sein theilhaftig wird, 
wird man auch jener Macht theilhaftig, — welche indess, wie später 
gelehrt wird, nicht durch Mittel und Äusserungen der Gewalt, son- 
dern gerade durch deren Gegentheil siegreich ist. Ü e b e r die Dinge 
herrscht nur, was auch in ihnen herrscht, es werde dies erkannt und 
gewollt oder nicht; in ihnen aber herrscht göttliche Bestimmung, 
und wer eins wird mit der Quelle derselben, herrscht auch über 



79 

sie ; sie müssen ihm folgsam und dienstbar seyn , ohne dass er ge- 
bietet und zwingt. Wer zu Erreichung dieses Zwecks am Taö der 
Alten hält, der kann das Mittel zum Zweck erlangen, und dieses ist 
das Erkennen und Wissen der Uranfange , aus und an denen sich 
die Dinge entwickelt haben und in denen die Fäden blosliegen, 
woran das ganze Weltgewebe hängt und sich fortsetzt. 



Fünfzehntes Kapitel. 

Die Guten des Alterthums, die da Meister worden 
sind, waren fein, geistig und tief eindringend. ^ Verbor- 
gen, konnten sie nicht erkannt werden.^ Weil sie nicht 
erkannt werden können, so mühe ich mich sie kenntlich 
zu machen. ^ — Behutsam waren sie, wie wer im Win- 
ter einen Fluss überschreitet; vorsichtig, wie wer alle 
Nachbarn furchtet; zurückhaltend, wie ein Gast; zerge- 
hend, wie Eis das schmelzen will; einfach, wie Rohholz; 
leer, wie ein Thal ; undurchsichtig, wie getrübtes Was- 
ser.'* — Wer kann das Trübe, indem er es stillt, all- 
mählich klären? Wer kann die Ruhe, indem er sie ver- 
längert, allmählich beleben?^ Wer jenen Taö festhält, 
wünscht nicht gefüllt zu seyn; ist er nur nicht gefüllt, 
so kann er mangelhaft seyn und nicht neu vollendet.* 

^) Am Ende des vorigen Kapitels wurde derer gedacht^ die da 
festhielten den Taö des Alterthums, und das sind eben die, welche 
hier die »Guten des Alterthums« im prägnanten Sinne, d. i. die 
ethisch Ausgezeichneten, wie wir sagen würden: die Besten ihrer 
Zeit — heissen. Was dort das »Beherrschen der gegenwärtigen 
Dinge« sagen wollte, heisst hier, sie »waren Meister«, ssi^ d. i. Lehrer 
und Vorbilder, Leitende und Führende, die sich als solche bewährten. 
Dort war von ihrem innersten Lebensgrunde die Rede : sie haben 
Taö aufgenommen und halten fest an ihm, was im Chinesischen 
dasselbe bezeichnen will und genau genommen besser bezeichnet, 
als was unser »glauben« sagt. Hier wird zunächst geredet von dem. 



8i 

was sie durch Aufnahme dieses Prinzips geworden, dann von ihrem 
Verhalten, das sie erkennbar macht, ferner von dessen Frucht, um 
endlich ihre äusserliche Erscheinung zu erklären und zu rechtfertigen. 
Wir haben wii mido hiuän thüng als »fein, geistig und tief eindringenda 
gefasst ; man kann auch hiuän als unabhängiges Adjectiv fassen und 
sagen : sie waren »fein, geistig, tief und durchdringend«. Immer 
heisst thüng hier »von durchdringender Einsicht«. All diese Eigen- 
schaften finden wir sonst auch Ta6 beigelegt, und dass ihrer auch 
die theilhaftig werden, die Taö aufnehmen und festhalten, das ist 
das »tiefe , das geheimnissvolle Einsseyn« mit Taö, von dem auch« 
anderswo gesprochen wird. 

2) Die vorgenannten Eigenschaften würden die grossen Meister 
des Alterthums leicht vor der Welt offenbar gemacht haben , hätte 
die Welt Wahrnehmungsvermögen und Urtheilskraft daftir. So aber 
war es ihren Augen verborgen , und um so mehr , als jene Männer 
es liebten, in die stille Tiefe versenkt, sich vor Andern verschlossen 
und verborgen zu halten. Darum »verborgen, konnten sie nicht er- 
kannt werden«. Es deutet auch diess auf ein altes Bestehen einer 
stillen Taö-Gemeinde hin , die sich an solche verborgene Meister 
gehalten , und da die Letzteren doch nicht mehr unter den Leben- 
den waren , so muss Laö-ts^ deren entweder noch gekannt haben, 
oder seine hernach folgende Schilderung knüpft sich an andre noch 
vorhandene Spuren ihres Daseyns. Vielleicht auch Beides. 

^) WillLaö-ts^ sich bemühen [khiäng, anstrengen), jene Män- 
ner der Vorzeit kenntlich (jung, fasslich , ansichtig) zu machen, so 
müssen sie auch jetzt noch »nicht erkannt werden können«, weshal]^ 
hier khb als Präsens genommen ist. Es würde aber kaum einen 
Sinn haben , Unerkennbares erkennbar zu machen, wenn es derge- 
stalt der Vorzeit angehörte, dass nichts von ihm übriggeblieben, 
was Mittel seiner Erkennung seyn könnte. Man dürfte daher wol 
nicht irren, wenn man die nachfolgende Charakteristik auf Schriften 
jener Meister des Alterthums bezieht, deren Art aus der Persönlich- 
keit der Verfasser erklärt und mit dieser zugleich geschildert wird. 
(Le style cest f hemme,) Ihren Gehalt , ihren Geist will La6-ts^ zur 
Erkenntniss bringen. 

*) Ein Theil der Wörter , welche die Eigenschaften der alten 
Meister schildern, hat mancherlei Bedeutungen; die beigeftigten 

6 



82 



Bilder weisen jedoch den beabsichtigten Sinn aus. Jln (rtverenier, 
gravis, valde compositus) von einem Gaste gesagt, scheint unser »zu- 
rückhaltenda am schicklichsten auszudrücken. Huhn wurde wörtlich 
durch »zergehend« wiedergegeben ; es wird damit das nicht Stand- 
haltende, sich unter dem näheren Anschauen Verlierende angedeu- 
tet. Pho, »Rohholz«, steht hier im eigentlichen Sinne , während es 
sonst, auch bei La6-ts^, in übertragener Bedeutung von naturwüch- 
siger Einfachheit gebraucht wird. »Leer wie ein Thal« sagt imgefahr 
dasselbe wie »arm im Geist«, ausgeleert von Allem, was andre Men- 
schen suchen , besitzen und womit sie glänzen ; es entspricht dem 
Nichtgefiilltseyn am Schlüsse des Kapitels. Huän, hier in übertra- 
gener Bedeutung gebraucht, sagt eigentlich dasselbe wie tscho, auf- 
gerührtes , schlammig und unrein gewordenes Wasser ; es ist damit 
der Mangel an Helligkeit und Klarheit , die Undurchsichtigkeit ge- 
meint. — Die aufgezählten Eigenschaften hangen innig zusammen 
mit der Gemüthsbeschaffenheit eines Menschen, der im stetigen 
Anschauen der Gottheit lebt und wandelt; sie können sich dann 
aber ebensowol in seinen Schriften ausprägen. 

*) Weder lobend noch tadelnd waren die Eigenschaften jener 
alten Meister erwähnt, nur charakterisirend. Sämmtlich aber sind 
sie der Art , dass sie das Verständniss des tieferen inneren Wesens 
erschweren, wo nicht verhindern. Diess wurde am bestimmtesten 
durch das letzte Kennzeichen, ihre Undurchsichtigkeit, ausgedrückt. 
Laö-ts^ bemüht sich zwar, sie kenntlich zumachen, d. h. nicht 
allein sie zu zeichnen , dass man sie von Andern unterscheide , viel 
mehr noch ihren Sinn aufzuschliessen, dass das erkannt werde, was 
sie verbergen. Wie aber kann man zu dieser ihrer Erkenntniss 
kommen? Natürlich nur durch Beseitigung jener Trübung. Und 
wie wird sie beseitigt? Nur dadurch, dass man das Trübe — und 
La6-ts^ hält hier das Bild des trüben Wassers fest — stillet, in 
Ruhe bringt , und so das Trübende sich allmählich niederschlagen 
lässt; d. h. durch die stille anhaltende Betrachtung des von jenen 
Meistern Überlieferten. Indess soll es doch bei dieser Ruhe nicht 
bleiben ; es soll doch ein neues Leben hervorgehen ; wodurch wird 
das bewirkt? Eben durch die Fortdauer, durch das Festhalten dieser 
Ruhe, denn gerade aus ihr entwickelt es sich. Wer aber ist zu alle 
dem im Stande? — Die Antwort giebt der ganze nachfolgende Satz. 



83 

«) Die Worte: »Wer festhält jenen Taö« (pab thsl tob tschi) 
erklären sich aus dem Ende des vorigen und dem Anfange dieses 
Kapitels. Dort war vom Halten am Ta6 des Alterthums die Rede, 
d. h. an Ta6 in dem Sinne, wie das Alterthum ihn gekannt und 
festgehalten und dessen vorzüglichste Meister ihn gelehrt hatten, 
und jener Taö ist hier gemeint. Wer ihn festhält und bewahrt, ver- 
langt nicht sein Inneres mit den falschen Realitäten der Welt zu 
erfüllen , welche ihn nur der Reinheit und Klarheit berauben und 
von der Betrachtung des Ewigen abziehen, er ist ebenfalls »leer wie 
ein Thal«. Püjtng kann sich nicht auf die eigne Beschaffenheit der 
Person beziehen , so dass es etwa hiesse »nicht vollkommen , nicht 
vollständig«, diess sagt vielmehr das Schlusswort pü — tschhing; 
(Ssxinjtng sagt das »Vollseyn, das Überflilltseyn« mit etwas Objecti- 
vem aus, daher es auch heisst »auf etwas stolz seyn«. Wer dergestalt 
unerfüllt ist mit den Dingen und Bestrebungen der Welt , der ist 
auch gleichgültig gegen die Weisheit der neueren Zeit , welche die 
Vollkommenheit eben auf andre Weise sucht. Nur er ist im Stande 
(n^ng)^ in ihren Augen mangelhaft (ptj eigentl. zerlumpt, abgerissen) 
zu seyn und nicht nach der neuen Vollendimg oder Vollkommenheit 
(shi ischhig) zu trachten. — Hierin dürfte ein Seitenblick auf Khüng- 
ts^ liegen, der das zeitlich Alte zu erneuern, und darin die Voll- 
endung suchte, während er das ewig Alte, das Prinzip wahrer Er- 
neuerung imd Verjüngung, dahinten liess. Auch in dem Ausdruck 
»jener Taö« möchten wir die Rüge finden , dass diess Wort in sei- 
nem alten grossen Sinne aufgegeben und nur noch für »Weg, Methode, 
Regel« gebraucht wurde. Dass er in Laö-ts^'s Augen zu denen ge- 
hörte, die »gefüllt« waren von weltlichen Absichten und äusserlichen 
Dingen, ei^ebt sich aus dem Gespräche der beiden Philosophen 
(Einl. §. i8), das wol nicht lange vor Abfassung des Taö te king 
stattgefunden hatte. 



Sechzehntes Kapitel. 

Wer erreicht hat der Entäusserung Gipfel, behaup- 
tet unerschütterliche Ruhe.^ Alle Wesen miteinander 
treten hervor, und wir sehen sie wieder zurückgehn. 
Wenn sich die Wesen entwickelt haben, kehrt jedes 
zurück in seinen Ursprung.*^ Zurückgekehrtseyn in den 
Ursprung, heisst ruhen. ^ Ruhen heisst, die Aufgabe 
erfüllt haben.* Die Aufgabe erfüllt haben, heisst ewig 
seyn.* »Das Ew'ge kennen, heisst erleuchtet seyn.« 
Das Ewige nicht kennen, entsittlicht und macht unglück- 
lich. ® Wer das Ewige kennt, ist umfassend ; ' umfassend, 
daher gerecht; gerecht, daher König; König, daher 
des Himmels; des Himmels, daher Taö's; Taö's, daher 
fortdauernd:® er büsst den Körper ein ohne Gefährde.^ 



^) Das Ende des vorigen Kapitels wies bereits hin auf das 
»NichtgefÜlltseyna, auf die innerliche Ablösung und Befreiung von 
der Welt, und bildete damit den Übergang zu diesem gedankenrei- 
chen und tiefsinnigen Kapitel , das von ebenderselben Entleertheit 
oder Entäusserung anhebend , bis zum höchsten Ziele , dem ewigen 
Leben fortschreitet. Wir sahen Kap. ii und 12, dass die inner- 
liche Anfiillung mit den Bildern des Sinnlichen und Weltlichen, mit 
der Begierde darnach und der Lust daran den Menschen in steter 
Unruhe und im Ringen nach Zielen erhält, die niur zu seiner Selbst- 
zerstörung gereichen. In diesem Thun und Treiben aber kann er 
nicht zu der Vollendung gelangen , welche zu erreichen seine Auf- 
gabe oder Bestimmung ist. Erst dann ist dies möglich , wenn er 



85 -^ 

innerlich wieder eingeht zu dem, von dem er ausgegangen ist; diess 
aber kann er wiederum nur, wenn er sein Inneres gänzlich leer und 
ledig macht von all jenem Begehren, Wollen, Treiben und Thun, 
auch von dem eignen Selbst und sogar von der Begier nach Taö. 
Das ist der Entäusserung Gipfel oder der Leerheit Höchstes (hiü 
kt)y — dasselbe, was Meister Eckhart die » Abgescheidenheit« nennt, — 
und wer es dazu gebracht hat, der behält seine Ruhe unerschütterlich, 
denn Leben und Tod haben ihm nichts mehr an. 

2) La6-ts^ wirft einen Blick auf die belebte Natur, um d^her 
ein allgemeines Gesetz abzuleiten. Alles Werden und Hervortreten 
(tsoy zuerst »machen, thun«, dann auch »entstehen, aufkommen, 
emporsteigen, hervorgehn«) ist Streben und Bewegung, daher Unruhe. 
Alles Belebte theilt diese Unruhe, um sich zu erhalten und zu ent- 
falten. Dennoch gelingt ihm diess, sichtbar wenigstens, nur bis zu 
einem gewissen Grade, von welchem ab wir sehen, dass es nur noch 
abnimmt und zurückgeht. Wäre das, was die Wesen an sich ernährt 
und entwickelt haben, ebendasselbe, was wir zerfallen und zerstäuben 
sehen, so hätte ihre Bewegung kein wahres Ziel und ihr Hervorgehn 
keinen wahren Zweck. Beide müssen darüber hinaus liegen , und 
das, was gestaltete und erhielt, suchte in dieser Bewegung ein 
Höheres, die Vollendung nehmlich, welche in Taö, dem Ursprünge, 
der Wurzel seines Seyns , als für das Wesen zukünftige von jeher 
wesete. Daher, von dem Augenblicke an, dass es in und an dem 
später Zerstäubenden seine höchste Blüthe erreicht hatj beginnt es 
über dieselbe hinaus sein wahres Ziel zu suchen, uin als ein Entfal- 
tetes und Entwickeltes dorthin wieder einzugehen , von wo es als 
Unentfaltetes und Unentwickeltes ausgegangen war : zu seinem Ur- 
sprünge. (Ganz ähnlich lehrt Meister Eckhart von der Rückkehr 
aller Dinge in ihren ersten Ursprung.) Junjun erklärt Khäng-hi's WB. 
z. d. St. durch tö mdo (1789, 10395), ^tätiformis; jun heisst auf- 
sprossen, hochaufschiessen ; es dürfte hier in der Verdoppelung die 
Bedeutung des vollen Auswachsens , der vollständigen Entwicklung 
haben. 

3) In Beziehung auf die Erschafiung der Dinge heisst der 
unbenannte Taö »Urgrund oder Anfang« (scht)y der benannte die 
»Mutter« (mü)^ — wie das i . Kapitel zeigt — ; als »Wurzel« oder 
Ursprung des Weltalls bezeichnet Kap. 6 den »Thalgeist«, und jener 



86 

Ausdruck (kin) ist auch hier, wie im vorigen Satze, angewendet. 
Sollen die Wesen zu diesem ihrem Ursprünge, der Kap. 6 auch die 
Pforte (min) hiess, wiederum eingehn, wenn ihre similiche Erschei- 
nung zerfällt und vergeht, so kann das, was sie eigentlich sind und 
über und innerhalb ihrer materiellen Erscheinung stets waren, auch 
nicht aufhören zu seyn; denn dieses ist es ja, was dahin wieder 
zurückkehrt, von wo es ausgegangen ist. Ist es aber dahin zurück- 
gekehrt, dann hört die Unruhe der Bewegung auf, welche selbst nur 
das Suchen und Streben nach Ruhe war, denn diese ist nun erreicht. 
Wie und wodurch, sagt der folgende Satz. 

^) Ths\ng jüe fö mlng = requiescere diciiur reddere mandaium^ 
»ruhen heisst den Auftrag zurückgeben«, mithin die Aufgabe erfüllt 
haben, in welchem Sinn /// ming z. B. Lünjü -Y, 3, 4 steht. Nach 
La6-ts6's Ansicht ist mithin jedem Wesen eine Aufgabe, ein Auftrag 
gegeben worden, was wir seine Bestimmung nennen dürfen, wenn 
wir nicht vergessen, dass diese auch von einem Bestinunenden gesetzt 
sey. Und zur Ruhe gehen die Wesen ein, wenn sie durch ihre, 
Ruhe suchende Lebensbewegung ihre Lebensaufgabe, ihre Bestim- 
mung erfüllt haben. Was seine Bestimmung nicht erreicht, kann 
auch nicht zur Ruhe kommen. 

*) Aller Bewegung und Unruhe haftet nothwendig Wandelbar- 
keit, Vergänglichkeit an; hören aber jene auf, weil ihr Zweck, 
nehmhch die Vollendung der Aufgabe, erreicht ist, so tritt das Un- 
wandelbare und Unvergängliche, d. i. das Ewige ein. Das schliess- 
liche Ziel, dem aUes Leben zustrebt, ist das Ewige. Was also seine 
Lebensaufgabe erfüllt hat und s o in seinen Ursprung zurückgekehrt 
ist, steht an diesem Ziel und wird oder ist ewig ; denn ischhäng steht 
hier zeitwortlich. Schon hier zeigt sich, was der Schluss des Kapitels 
lehrt, dass La6-ts^ der buddhistischen Auflösung der Einzelexistenz 
in die Nichtigkeit der Allgemeinheit eben so fem ist, als der con- 
sequent emanatistischen Lehre von der Wiederaufsaugung derselben 
durch die Weltseele oder die Gottheit. Denn was ruhen, was seine 
Bestimmung erreicht haben, was ewig seyn soll, das muss vor allen 
Dingen seyn und nicht aufgehört haben zu seyn. 

•) Bis hierher war nur von den sich entwickelnden, mithin 
organischen Wesen im Allgemeinen die Rede und vom Menschen 
nur erst insofern, als auch er unter dieselben mitzuzählen ist. Wir 



87 

sehen daraus, dass Laö-ts^ das belebende Prinzip jedes Einzelwesens 
für ein fortdauerndes erachtet, das nur für die Zeit und zum Zweck 
seiner Selbstentfaltung an der sinnlichen Natur, in diese hineintritt, 
nach Erfüllung dieser seiner Aufgabe aber wieder zurückkehrt, von 
wo es ausgegangen war, um dort ewig zu seyn. Geschieht diess bei 
allen Naturwesen unbewusst, so soll der Mensch diess letzte und 
höchste Ziel im erkennenden Bewusstseyn halten. Hierzu geht der 
Verfasser jetzt mit dem Citat aus einem^ Kap. 55 ausführlicher mit- 
getheilten, Spruchgedichte über. Tschhängj das Ewige, die Ewig- 
keit, das Ewigseyn, als letzter und einziger Zweck, setzt alles ihm 
Vorangehende zum Mittel herab, als vorbestimmtes Ziel bedingt es 
den ganzen Weg, und diess einsehen heisst das Ewige kennen. Wer 
nun das Ewige kennt, d. h. alles Werden, Thun und Verhalten da- 
durch bedingt und darauf bezogen erkennet, der heisst erleuchtet, 
nungj sowol selbst Licht habend, als Licht ausstrahlend. Alle aber, 
die diese Erkenntniss nicht haben, gerathen in Regellosigkeit, sitt- 
liche Verderbniss (wäng) und werden elend. Dass der Letzteren die 
grösste Mehrzahl, des Ersteren eine sehr geringe Auswahl sey, ist 
Laö-ts^'s Ansicht nach andern Stellen. 

') Aus Erfahrung kennt das Ewige nur, wer durch Vollendung 
seiner Aufgabe in dessen Bereich eingetreten ist, so dass diese Er- 
kenntniss ihn durchleuchtet. Von diesem Punkte aus geht die Rede 
fort zu den Folgen und Wirkungen dieses Zustandes, in kurzen 
grossen Schlussfolgerungen nun bis zu dem höchsten und letzten Ziel 
auch für den geistig-sittlichen Menschen aufsteigend. Heisst es hier 
zuerst, die Erkenntniss des Ewigen mache ihn »umfassend«, so ist 
das letztere Wort in der Vielsinnigkeit des chinesischen ßlng zu 
nehmen, welches »umfassen, aufnehmen, tragen, zulassen, dulden« 
heisst und sich nach La6-ts^'s Denkweise (Kap. 2, 27, etc.) auf alle 
Mitgeschöpfe beziehen muss: sie alle umschliesst er mit gleichausge- 
theiltem WolwoUen. Ist der Grund hierfür aber, dass er »das Ewige 
kennt«, tschi tschhäng; oder kann letzteres heissen, »er weiss beständig 
zu seyn«? Allein was hat die Beständigkeit eines Menschen mit seiner 
Weitherzigkeit zu schaffen ? Tschhäng kann hier nicht im subjectiven, 
es muss im objectiven Sinne zu verstehen seyn und in allen diesen 
Sätzen die volle Bedeutung haben, in welcher wir es schon im ersten 
Satze des ganzen Buches von dem absoluten Weltgrimde ausgesagt 



88 

fanden. Es ist daher in diesem Zusammenhange das in allen Ge- 
schöpfen wesende Unvergängliche, das aus Taö, ihrem Seynsgrunde, 
stammt, auf Ihn alle Wesen bezieht und allein ihren Werth und ihre 
Würde ausmacht. Denn wer so das »Ewige kennt«, wird freilich alle 
Wesen und in höherem Grade alle Menschen mit ungetheilter Zu- 
neigung und Güte umfassen. 

^) Das verbindende näi in diesen Sätzen zeigt die Folge an ; 
das ihm vorgehende Wort ist das bedingende, das nachgehende das 
bedingte (vgl. Schott, chin. Sprachl. S. 126 etc.); jung näi küng 
also: ist er umfassend, alsdann ist er gerecht; oder: er ist umfassend, 
daher gerecht. Wer mit gleicher Theilnahme Alle umfasst, wird 
Jedem auch zugestehen und zutheilen , was ihm zukommt, d. h. er 
wird gegen Alle gerecht seyn und Allen gerecht werden. Diese 
Universalität der Rechtserweisung mit dem NebenbegrifTe der Billig- 
keit liegt in dem chinesischen küng (Chalmers übersetzt es daher 
durch ci^tholtc) . Ein dergestalt Gerechter ist königlicher Art , denn 
das ist das ächte Wesen eines Königs , und wird er nicht König , so 
verdiente er es zu seyn. So waren die grossen Könige des Alter- 
thums, und dass Laö-ts^ diesen Gedanken hier gehabt und nur des 
raschen FortschÜtts wegen unterdrückt, zeigt das nächste Kapitel, 
wo er ihn in seiner kurzen Weise noch ausfuhrt. Ein solcher König 
ist eigentlich aber Jeder, der, weil er das Ewige kennt, umfassend, 
weil er umfassend , gerecht ist. Auch wird er bei aller Demuth , ja 
eben durch dieselbe Mittelpunkt und Autorität (Kap. 28 und 66) 
und erweist dadurch seine königliche Natur. Ist er nun in diesem 
Sinne König , dann ist er auch , wie es wörtlich heisst , »Himmel«. 
Da wir Himmel nicht als Prädicat gebrauchen können, wenn wir 
nicht himmlisch sagen wollen, so hat die Uebersetzung es durch »des 
Himmels« auszudrücken gesucht. Es ist mehr damit gesagt, als wenn 
die Chinesen die Kaiserwürde »des Himmels Auftrag«, thiän mlng% 
nennen ; La6-ts^ will sagen , ein Solcher habe Wesen und Art des 
Himmels. Was er- unter Himmel versteht, erklärt er nirgends. Er 
nahm es wol hier , wie in den letzten Kapiteln seines Buchs , im 
Volks thümlichen Sinne als die weltregierende Macht, die er zwar 
x' X*^^ subordinirt, aber doch nicht^als von ihm gesondert ansieht, und 
vielleicht kommt man seiner Anschauung am nächsten , wenn man 
den Himmel als das, Taö mit der Welt Vermittelnde ansieht. Darum 



• 89 

kann er dann femer sagen, der das Ewige erkennende, umfassende, 
allgerechte, königliche Mensch , welcher »Himmel« sey , sey damit 
»Taö«. Doch auchTaö können wir nicht prädicativ anwenden, sagen 
daher , er sey »Taö's« ; dem Sinne nach : er ist himmlisch , daher 
göttlich ; denn wer sein Verfahren richtet nach Taö , der wird eins 
mit Taö (Kap. 23). Wer aber »Taö«, d. h. eins mit Taö, oder 
Taö's ist , der ist dauernd , küu ; welchen Ausdruck Laö-ts^ in der 
Regel für fortwährend , immerwährend , auf die Dauer, gebraucht, 
während es sonst gewöhnlich nur diu^ lange Zeit bedeutet. Dass hier 
nicht bloss von einem langen Leben in diesem Sinne , sondern von 
immerwährender Fortdauer geredet wird, zeigt der Ausspruch selbst ; 
denn wer »Taö« , oder eins mit Taö ist , hat auch Taö's Dauer, Taö 
aber ist ewig, tschhäng. 

®) Auch hier erweiset es sich , dass Laö-ts^ unter dem Fort- 
dauern eben das versteht , was wir ewiges Leben nennen. Dieses 
ewige Fortdauern hängt genau mit dem obigen Ewigsejfe infolge er- 
füllter Aufgabe, und mit dem Erkennen desselben zusammen. Dass 
Laö-ts6 von einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode reden 
will , kann gar nicht zweifelhaft bleiben , wenn man die drei andern 
Stellen vergleicht, die eben dasselbe aussagen. Kap. 33 a. E. heisst 
es: »Wer stirbt und doch nicht vergeht, lebt lange«. Kap. 50 wird 
von dem , der sein Leben gut einrichtet , gesagt : »Er hat keinen 
Sterbensgrund«, oder »er ist ausser dem Bereich des Sterbens«. Und 
Kap. 52 heisst es von dem, der an Taö hält, ganz ebenso wie hier: 
»er büsst den Körper ein ohne Gefährde« , und dann weiterhin : »er 
verliert nichts bei des Körpers Zerstörung: das heisst das Ewige 
anziehen«. Es zeigt sich daraus, dass auch die Schlussworte unseres 
Kapitels keinen andern Sinn haben können. Mü heisst zuerst »unter- 
tauchen«, dann »untergehn, vernichtet werden«, davon »einbüssen, 
verlieren«. Auch wenn mü schtn soviel wäre als tschüng C7815) 
schifti so muss doch der Zusammenhang entscheiden, ob diess »bis 
zu Leibes Ende«, mithin »lebenslang«, oder »bei Leibes Ende« d. i. 
»im Sterben« heissen solle; (vgl. Morrison: the whole of ones äfe; 
sometimes denotes the dose of Ufe.) Wie kläglich aber würde der 
Schluss dieses grossartigen und gedankenreichen Kapitels abfallen, 
wenn er nichts sagte , als : wer Taö's ist , der wird recht alt werden 
und lebenslang nicht in Gefahr gerathen. Auch Chalmers übersetzt : 



90 

though his body perish , he is in tw danger. Uebrigens weiset unsre 
Stelle auf Kap. 13 zurück, wo die Plagen und Leiden auf den 
Körper zurückgeführt werden und gefragt wird : »Sind wir erst ohne 
Körper, welche Plage haben wir noch« ? welcher Satz die Fortdauer 
des Ich nach Einbusse des Körpers um so^stärker ausdrückt, als das 
»wir« (= »ich«) in beiden Sätzen durch das chinesische ngü hervor- 
gehoben ist , und von einem körperlosen Ich , also einer bleibenden 
Persönlichkeit, gar nicht geredet werden könnte, wenn dessen Sub- 
stanz mit dem Körper zerginge oder sich in die allgemeine Welt- 
seele auflöste. Diess Ich, diess ngü^ ist vielmehr ausser aller Gefahr, 
auch wenn sein Körper untergeht. 



Siebzehntes Kapitel. 

Bei den grossen Königen wussten die Unterthanen, 
sie hätten sie.* Deren Nachfolger liebten und lobten 
sie. Deren Nachfolger fürchteten sie. Deren Nachfolger 
verachteten sie.^ Vertraut man nicht genug, erhält man 
kein Vertrauen. ^ Wie vorsichtig ihre kostbaren Worte ! 
Verdienstliches ward vollbracht, Unternehmungen ge- 
langen, und alle hundert Geschlechter sagten : wir sind 
frei.^ 



^) Wer ein ächter König dem Wesen nach sey, wurde im vori- 
gen Kapitel kurz angedeutet. Der Verfasser kommt darauf zurück, 
anknüpfend an die alten grossen Herrscher, die Gründer der 
Dynastien, die im chinesischen Bewusstseyn immer als ideale 
Gestalten stehen, welche das Volk dtirch ihr Vorbild veredelt, 
mit Gutem gesegnet , mit Wolthaten überhäuft hatten, ohne es zu 
grossen Unternehmungen zu zwingen und durch Gesetzesmenge oder 
Vielregiererei zu belästigen. Die Könige sind hier, den Unterthanen 
gegenüber und um diess hervorzuheben, als Obere, Oberthanen, 
schöng bezeichnet. Thdi^ eigentlich nur »gross, erhaben«, deutet mit 
schdng verbunden auf die Vergangenheit hin, wie denn thdi schdfig 
Bezeichnung des verstorbenen Vaters des Kaisers ist (vgl. »der Hoch- 
selige«) ; auch La6-ts^ wird von den Ta6-ssd thdi schdng genannt. 
Diess ist indess nur conventionell , und thdi schdng^ den Mä , den 
Unterthanen gegenüber gestellt , heisst nichts weiter als die (ganz) 
»grossen Oberen« oder Könige. Diese nun verhielten sich so , dass 
die Unterthanen eben nur ihr Dase)m gewahr wurden , von ihrem 



92 

Regieren aber nichts bemerkten, weil dasselbe nur in negativem 
Verhalten bestand. 

^) Welcher Art die verschieden abgestuften Nachfolger waren, 
ist aus den Folgen zu schliessen , die in der Gesinnung des Volks 
hervortraten. Zeigt sich besondre Zuneigung, hört man lautes Lob, 
so ist das erste naive Verhältniss bereits verschwunden ; denn das, 
wofiir die Regenten werthgehalten und gepriesen werden , erscheint 
schon nicht mehr als etwas, das nur so seyn müsse und nicht anders 
zu erwarten wäre, vielmehr als ein solches, das gar wol auch anders 
seyn könnte, weil entweder die Fürsten selbst damit die Gränze ein- 
facher Pflichterfüllung überschreiten, oder die Unterthanen es jenen 
bereits als Verdienst anrechnen, wenn sie nur ihre Pflicht thun. In- 
dess suchen auf dieser Stufe die Könige doch noch die Liebe und 
das Lob der Völker. Auf der folgenden ist diess schon nicht mehr 
der Fall. Dem guten Willen folgt die Willkür , der Hingebung die 
Selbstsucht , und beide setzen ihre vermeintlichen Rechte mit Ge- 
walt durch. Gehorchen und zahlen ist die Losung, und solange ein 
solches Regiment durch Kraft und Entschiedenheit sich behauptet, 
wird es zwar nicht mehr geliebt und gelobt , aber doch noch ge- 
fürchtet. Allein bald schreitet die niedersteigende Bewegung eine 
weitre Stufe herab. Starken, entschiedenen Charakteren folgen 
schlaffe und haltlose , welche die Ansprüche ihrer Vorgänger zwar 
erheben, geltend zu m^ichen aber unvermögend sind. Ihnen wird 
nur noch Verachtung zu Theil. Nun erheben sich Unordnungen imd 
Aufrühre ; der Segen der königlichen Machtwürde ist zerstört. Was 
der erste Ursprung dieses Verfalls war, sagt der folgende Satz. 

3) Die alten grossen Oberthanen schenkten den Unterthanen 
volles Vertrauen , und diese daher rechtfertigten und vergalten es. 
Ihre Nachfolger trauten dem Volke nicht mehr zu, dass es ohne ihr 
besondres Eingreifen und Wirken zufrieden und glücklich seyn 
könne , und indem sie hiernach handelten , wurde das unbefangene 
Vertrauen der Unterthanen zuerst erschüttert ; denn sie würden diese 
Könige nicht vorwiegend geliebt und gepriesen haben ohne den Ge- 
danken, dass sie möglichenfalls ja auch anders handeln könnten. 
Wurde damit der Zweifel schon des Vertrauens Nachbar , so ward 
er sein Hausgenosse , als die Könige so wenig Vertrauen in die 
Unterthanen setzten, dass sie — auch etwa zu deren Besten — mit 



93 

Zwang und Gewalt vorschritten und sich gefürchtet machten. Wie 
aber verächtliche Schwäche nie Vertrauen erweisen kann, so zerstört 
sie vom Throne herab auch alles Vertrauen der Unterthanen. 

^) Nach Angabe des Grundes jenes traurigen Herabgangs kehrt 
die Rede zu den ersten grossen Herrschern zurück. »Wie vor- 
sichtig« — wie wer im Winter über einen Fluss geht, Kap. i6 — , 
Alles erwägend und mit grösster Umsicht waren »ihre kostbaren«, 
und daher sparsamen »Worte«! Sie verkündigten und ermahnten, 
geboten und verboten selten und nie ohne Noth , und auch dann 
nur in reiflich erwogenen , kurzen , inhaltschweren Worten , welche 
weder Kritik noch Widerspruch herausforderten; und bei allem 
Verdienstlichen , das sie vollbrachten , bei dem besten Erfolg ihres 
Wirkens, handelten sie dergestalt in Uebereinstimmung mit dem 
Volksganzen, dass die Unterthanen gar nicht fühlten dass sie regiert 
wurden , dass sie sich nur durch sich selbst bestimmt , selbständig 
handelnd, mithin frei fühlten. TsS sjän^ wörtlich »von selbst so«, 
heisst ungezwungen (Khäng-hi WB. : tuü miän khiäng 5454 , 892, 
2639 = non vi coacius)^ mithin frei , selbständig. In anderm Zu- 
sammenhange kann es auch »natürlich , selbstverständlich« , so auch 
»was seiner Natur folgt« bedeuten, — letzteres ist aber eben frei. — 
Die »hundert Geschlechter« , fe singj sind die ganze Nation, welche 
ursprünglich aus ebensoviel Clans bestand , deren Zahl jedoch im 
Laufe der Zeit bis auf 468 gestiegen ist. 



Achtzehntes Kapitel. 

Wird der grosse Taö verlassen, giebts Menschen- 
liebe und Gerechtigkeit.* Kommt kluge Gewandtheit 
auf, giebts grosse Heuchelei.^ Sind die sechs Bluts- 
freunde uneinig, giebts Kindespflicht und Vaterliebe.'* 
Ist die Landesherrschaft in Verfall und Zerrüttung, 
giebts getreue Diener/ 



^) Der Text giebt keine Veranlassung, die allgemeinen Er- 
fahrungssätze dieses Kapitels als vergangene Thatsachen zu fassen. 
Obgleich sie allerdings auch den Gegensatz zu dem ideal gedachten 
Regiment der grossen Herrscher darstellen sollen, so ist die Haupt- 
absicht doch , zu zeigen , wie das sittengesetzliche Bewusstseyn als 
solches erst beim Abfall von Taö sich entwickelt, seine Werke dann 
aber ebensowol nur Täuschung seyn können, zumal das Bewusstseyn 
des sittlich Guten erst an der Erfahrung des sittlich Schlechten er- 
wacht , jenes also diese voraussetzt. Die bedingenden Satzhälften 
stehen im Zusammenhange, indem der Abfall von Taö das Hervor- 
treten schlauer Weltklugheit, die Auflösung häuslicher Harmonie 
und die Zerrüttung des reinen Unterthanenverhältnisses zur Folge 
hat. Dieser Hintergrund setzt aber freilich die in den bedingten 
Hälften des ersten , dritten und vierten Satzes genannten Tugenden 
zu blossen Bestandtheilen gemeiner gottentfremdeter Moral herab, 
welche den Mangel unbefangenen Ausquellens ruhiger Reinheit und 
Güte aus gotterfülltem Innern durch die landläufige Münze der 
Menschenliebe und Gerechtigkeit, der Erfüllung von Familien- 
pflichten , der Unterthanen - und Amtstreue zu decken sucht. Der 



95 

schrille Laut von grosser Heuchelei zwischen diesen woltönenden 
Tugendnamen giebt diesen einen ironischen Anklang. Die chinesi- 
schen Ausleger machen mit Recht darauf aufmerksam, dass man 
beim Festhalten an Ta6 alle jene Tugenden habe und übe , aber 
unbewusst und unscheinbar. Allerdings haben sie , und haben zu- 
nächst Menschenliebe und Gerechtigkeit nur ächte Begründung, 
Lauterkeit und Werth , sofern sie aus diesem Verhältnisse unreflec- 
tirt hervorgehen, während beim Abfall von Taö sich erst der Ruf 
nach ihtien erheben muss , weil damit Unmenschlichkeit und Un- 
gerechtigkeit entfesselt werden , sie nun erst als sonderliche Tugen- 
den hervortreten , und man sie nun in der Regel nur aus Klugheit 
und Berechnung übt. 

2) Die unschuldige Einfalt , die ohne Selbstbeobachtung und 
grade vor sich hin das Rechte thut, wodurch Verstellung und Lüge 
von selbst ausgeschlossen sind, beruht auf der Einheit mit Taö ; mit 
dieser geht auch sie verloren, und was zuvor Gutes aus innerm 
Triebe geschah, geschieht nun aus Ueberlegung und Absicht. Eben 
darum ist es aber bereits mit Unwahrheit behaftet. Jeder nehmlich 
fühlt , dass Menschlichkeit , Verwandtenliebe , Diensttreue, und was 
dem gleicht , nur als Gesinnung Werth haben , und zeigt er sie aus 
Klugheit und Weltgewandtheit , so wird er ihnen auch immer den 
Anschein ächter Gesinnung geben. Das aber fühlen Andre bald 
heraus, und wie man ihnen zu heucheln sucht, so heucheln sie 
zurück. Moralität ohne Gottesglauben ist immer Heuchelei, und 
diese sittliche Heuchelei ist (auch bei uns) viel verbreiteter , als die 
religiöse. 

^) Die sechs Blutsfreunde, lu thsin^ sind Vater, Mutter, älterer 
Bruder , jüngerer Bruder , Weib und Kind ; die Personen im Haus- 
wesen , mit denen man in verwandtschaftlichen Beziehungen steht. 
Waltet unter diesen Allen herzliche Einigkeit , so wird Keiner von 
ihnen daran denken , Ehrerbietung und Liebe zu verletzen oder zu 
versagen, sie als Pflicht zu fordern oder für eine Tugend anzusehen. 
Als sittliche Forderungen treten sie erst ins Bewusstseyn , wenn ihr 
Gegentheil sich in den Gemüthem bereits erhoben hat und sich 
äussert. Werden sie aber nicht erwiesen aus reinem Herzenstriebe, 
sondern als Pflichterfüllung oder aus Klugheit, so verdecken sie nur 
die innere Abneigung und Widersetzlichkeit imd sind werthloses 



96 

Qesetzeswerk, dessen Gegner Lad-ts^ so sehr ist, wie nur irgend ein 
christlicher Apostel. 

^) Was so eben über Liebe und Treue unter Familiengliedem 
gesagt worden, wird in gleicher Weise vom Verhältnisse der Diener 
und Unterthanen zum Lahdesherm gesagt. Nicht das ist gemeint, 
dass ausgebrochene Widersetzlichkeit und Untreue erst zeige , wer 
etwa treu sey , sondern diess , dass die Treue erst nach Zerstörung 
des ursprünglichen reinen Verhältnisses , in welchem sie als etwas 
Selbstverständliches , als etwas , das gar nicht anders seyn könne, 
waltete und betrachtet wurde, oder vielmehr gar nicht als etwas 
Sonderliches beachtet wurde, — dass sie erst nach Zerstörung dieses 
Verhältnisses als Pflicht gefordert und als Tugend gepriesen wird. 
Aus Allem zeigt sich , dass Laö-ts^ dem Sittengesetze als blossem 
Gesetze eine ganz untergeordnete Stellung zutheilt. 



Neunzehntes Kapitel. 

Lasset fahren die Weisheit, gebet auf die Klug- 
heit: des Volkes Wolfahrt wird sich verhundertfachen. 
Lasset fahren die Menschenliebe, gebet auf die Ge- 
rechtigkeit: das Volk wird zurückkehren zu Kindes- 
pflicht und Vaterliebe. Lasset fahren die Geschicktheit, 
gebet auf den Gewinn: Diebe und Räuber wird es nicht 
geben. ^ Diese Drei anlangend. — ^ 

»Nimmt man den Schein nicht als genügend an, 
Drum soll man haben, dran man halten kann; 
Man zeige Lauterkeit, zieh' Einfalt an. 
Sein Eignes mindre, wenig wünsche man.«^ 



*) Der unverkennbare Zusammenhang mit dem vorangehenden 
kann allein zum Verständniss dieses Kapitels fuhren, welches wieder 
voll Paradoxie und Ironie ist. Denn was kann befremdender seyn, 
als wenn La6-ts^ fordert zu verwerfen , was in aller Welt als das 
Vortrefflichste, Wünschenswertheste gepriesen wird, und dass er 
Wolfiahrt , Sittlichkeit und Sicherheit des Volks von der Verwerfimg 
dessen abhängig macht, von dessen Bethätigung und Steigerung man 
sie abzuleiten allgemein gewohnt ist? Und doch tritt er damit nur 
auf evangelischen Boden , wo die göttliche Thorheit , die auch im 
folgenden Kapitel geschildert wird , den Preis erhält vor der Weis- 
heit und Klugheit dieser Welt. Denn keine andern Vorzüge und 
Tugenden sind hier gemeint, als die, welche und sofern sie als 
solche erst hervortreten und gefordert werden , wenn man von Taö 

7 



98 

abgefallen ist, wie sie das vorige Kapitel beeeichnete. Seine Worte 
gelten vornehmlich den Regierenden. Was sie fahren lassen sollen 
[ts/üe , »abschneiden , abthun , verwerfen«) , scheuet er sich nicht als 
schingy »Heiligkeit«, die höchste Weisheit, zu bezeichnen, während 
er allerdings nur das darunter versteht, was die von Taö Abgefallenen 
so nennen. Ihre Weisheit und Klugheit sollen sie aufgeben, worin 
sie durch selbstersonnene Einrichtungen und Gesetze die Wolfahrt 
(/y, »Gewinn, Vortheil, Glück«) des Volkes zu fördern suchen; sie 
bewirken dadurch nur das Gegentheil , und das Volk verarmt und 
verkommt (Kap. 57, 58) ; aber es wird sofort aufblühen, wenn diese 
Hindemisse weggeräumt werden , denn alsdann wird die Weisheit 
und Klugheit, die aus Taö stammt, ihren Segen verbreiten. So auch 
das Sittengesetz , das auf Seite der Regierenden durch »Menschen- 
liebe und Gerechtigkeit«, auf Seite der Regierten durch »Kindes- 
pflicht und Vaterliebe« bezeichnet, oder wenn man will, exemplificirt 
wird. Gebt es auf, sagt er, aus Menschlichkeit und Gerechtigkeit 
kindliche und elterliche Liebe zu gebieten , aus Sittengesetzlichkeit 
das "Sittengesetz zu befehlen, dann erst können die ihm entsprechen- 
den Tugenden in ihrer Wahrheit wieder aufleben. Wie Paulus , so 
will auch Lad-ts^ das Gesetz nicht aufheben , sondern aufrichten, 
aber nicht als Gesetz, sondern durch die Erfüllung ohne Gesetz. — 
»Geschicktheit« (khiao) und »Gewinn« (II) kann in gutem und 
schlimmem Sinne aufgefasst werden. Die Ausleger theilen sich darin. 
Indess scheint der Doppelsinn beabsichtigt zu seyn, um anzudeuten : 
Ihr habet Geschick und dürftet ja Gewinn davon haben , aber ihr 
missbraucht es und macht euch betrtigliche Vortheile ; darum reizen 
beide , sowol eure gehäuften Reichthümer , als die unredliche Art 
des En^'erbes die Menschen, Diebe und Räuber zu werden. 

2) Dass diess einzeln stehende ths^ sän tsch} sich auf a. Weis- 
heit und Klugheit, b. Menschenliebe und Gerechtigkeit, c. Geschickt- 
heit und Gewinn beziehe, ist ausser Zweifel. Die Ausleger wollen 
das »Fahrenlassen« und »Aufgeben« aus den vorigen Sätzen dazu 
ergänzt wissen und dann dahinter einen Ruhepunkt annehmen. 
Allein es soll den Gedanken fortfuhren, so dass der folgende Reim- 
spnich ausdrücklich auf »diese Drei« bezogen werde. Bei diesen 
drei Dingen genüge der blosse Schein nicht, soll es sagen ; und da- 
durch wird zugleich klar , dass La6-ts^ Weisheit , Sittlichkeit und 



99 

Geschicktheit nicht an sich verwirft , sondern nur sofern sie durch 
Abfall von dem höchsten ewigen Grunde kernlos und zu blossem 
Schein geworden sind. 

•*) In Betreff der genannten, wie aller, Tugenden »nimmt man 
an« ^^^h ftir etwas halten, oder ansehn) »den Schein« (win^ Malerei, 
äussrer Schmuck , sonst auch wol Schrift , Literatur) »für nicht ge- 
nügend«, — und ungenügender Schein ist es , wenn man Ta6 ver- 
lassen; »drum soll man haben« (Jhi ling jeii^ wörtlich: drum ist 
geboten zu haben) »was vorhält« ; — tschüy auch schüy heisst eigent- 
lich »zusammenseyn« , dann »zusammenbringen , zusammenhalten«, 
und ist nach Khäng-hi WB. auch synonym mit tsü »genügend«, daher 
hier als Gegensatz von dem/« tsüy »ungenügend«, des ersten Verses 
zu nehmen. Was ist nun mit diesem, was genügt, was vorhält, woran 
man sich halten kann, gemeint? Die meisten Ausleger wollen es auf 
den Inhalt der beiden folgenden Verse beziehn, auf die Lauterkeit, 
Einfalt, Genügsamkeit. Der Zusammenhang mit den beiden vorigen 
Kapiteln weiset dagegen auf Taö , dessen »Haben« dann möglich 
macht, diese. Tugenden wahrhaft zu besitzen. Sü ist das Reine, 
Ungefärbte, die Lauterkeit. Phb (vgl. Kap. 15 Anm. 4) steht hier 
im übertragenen Sinne für das unverkünstelte , natürliche Wesen, 
Einfalt im edlen Sinne, wnA päo pho heisst nur ampkcti shnpücitattfn . 



7" 



Zw^anzigstes Kapitel. 

Wer das Lernen fahrenlässt, hat keinen Kummer. ^ 
»Oh ja« und »Ja ja«, wie wenig unterscheiden sie sich! 
Gut und Bös, wie sehr unterscheiden sie sich!^ Was 
die Menschen furchten, kann man nicht nicht-fiirchten. ^ 
Die Verfinsterung, o dass sie noch nicht aufhört!* Die 
Menschen strahlen vor Lust, wie wer einen Stier opfert, 
wie wer im Frühling eine Anhöhe ersteigt: — ich allein 
liege still, noch ohne Anzeichen davon, wie ein Kindlein 
das noch nicht lächelt; ich schwanke umher, wie wer 
nicht hat wohin er sich wendet.^ Die Menschen alle 
haben Überfluss: — ich allein bin wie ausgeleert; oh 
ich habe eines Stumpfsinnigen Herz! ich bin so ver- 
wirrt!* Die gewöhnlichen Menschen sind sehr erleuch- 
tet: — ich allein bin wie verfinstert.' Die gewöhnlichen 
Menschen sind sehr lauter: — ich allein bin ganz trübe, 
vergessen wie das Meer, fortgetrieben, wie wer nicht 
hat wo er anhält.^ Die Menschen alle sind zu gebrau- 
chen: — ich allein bin tölpisch gleich einem Bauern." 
Ich allein bin anders als die Menschen, aber ich ehre 
die nährende Mutter. ^" 



^) Ueber die Schwierigkeiten dieses Kapitels , vornehmlich in 
seinem Eingange , haben sich die Ausleger dadurch hinwegzuhelfen 
gesucht , dass sie die einzelnen Aussprüche erklären , ohne den Zu- 
sammenhang zu untersuchen , wodurch ihnen Sinn und Absicht des 






• • ' 



lOI ••- 



■« ^ 



Einzelnen gerade entgehen musste. Es sind, wie in mehreren Fällen, 
die Schlussworte des Kapitels, welche Licht über das Ganze ver- 
breiten. Darin , sagt Laö-ts^ , unterscheide er sich von Anderen, 
dass er »die nährende Mutter« ehre. Weil jene sie nicht ehren, 
darum gehören sie der Welt an, in welcher sie sich vergnüglich be- 
hagen und die sie mit Leichtigkeit beurtheilen tmd behandeln, 
während ihnen ein Mann wie La6-ts^ kindisch, ohne Ziel, thöricht, 
Finsterling, haltlos, unbrauchbar erscheinen rauss. Sie aber sind es, 
die tmaufhörlich im Dunkel tappen, und daher die allgemeine Furcht 
vor dem, was ihn in ihren Augen zu einem solchen Menschen macht. 
Sie wissen nicht , dass eben hierin sich Gut und Bös scheiden , und 
können sich daher nicht zu einem rückhaltlosen »Ja ja« entscheiden, 
wenn ihnen zugemuthet wird, von dem erlernbaren und angelernten 
Wege der im vorhergehenden Kapitel verworfenen Weltförmigkeit 
abzutreten. So rückwärts abgewickelt, vom Ende bis zum Anfange, 
wird jede Stelle des Gedankenfadens klar. 

Lauterkeit, Einfalt, Abgelösheit von der Welt, die der Schluss 
des vorigen Kapitels als Ziele aufstellte , lassen sich nicht anlernen, 
wol aber Klugheitsregeln , Sittengesetze , Geschicklichkeiten. Aber 
diess weltförmige und gesetzliche Lernen ist ein unseliges. Es ist 
das Thun derer, »die immerdar lernen und nie zur Erkenntniss der 
Wahrheit kommen können«. Es verfehlt sein Ziel und peinigt daher 
seinen Mann. Es lässt nicht die innere Ruhe und Gelassenheit, 
nicht das tiefe Selbstbesinnen aufkommen , welche allein und that- 
sädilich zum höchsten Ziele führen. Darum empfiehlt Laö-ts^ , es 
fahren zu lassen, dann werde man ohne Kummer seyn. 

2) Unser »Oh ja« und »Ja ja« entspricht ziemlich dem chinesi- 
schen jüi (wie diess Zeichen , sonst wtiy in dieser Bedeutung nach 
Khänghi ausgesprochen werden soll) und ngö. Beides ist eine Ant- 
wort und heisst auch »antworten« , doch bedeutet das erste zugleich 
»erwägen, in Betracht ziehen«, das zweite »entsprechen, beistimmen«. 
Khäng-hi's WB. erklärt jenes flir ein zögerndes, diess für ein rasches 
Beipflichten. Letzteres wäre also synonym mit/« (6io), und man 
wird an die Vorschrift des Li-kf (Ndi-tse) erinnert, womach der 
Sohn/^/ antworten darf, die Tochter aber/« zu sagen hat. — Laö- 
ts^ denkt sich, welche Antwort die Meisten geben werden auf seine 
Empfehlung, dem Lernen abzusagen. Sie werden es schon angenehm 






* 






••• I02 



finden, dass ihnen dann das Lernen keine Noth mehr mache, indem 
sie aber die Folgen für ihre Stellung in der Welt und für ihr Fort- 
kommen erwägen , werden sie es nur zu einem zögernden »Oh ja« 
bringen. Wüssten sie , worauf es ankommt , so würden sie wol mit 
einem freudigen »Ja ja« antworten. Nun ist zwar Beides eine Be- 
jahung, liegt insofern dicht beisammen und unterscheidet sich kaum, 
aber welch contradictorischer Gegensatz ist dahinter verborgen! 
Kein geringerer als der von Gut und Bös , von Hingebtmg an Taö 
und Weltfbrmigkeit. 

'*) Der Satz ist in dem Sinne zu verstehen : Was alle Anderen 
fiirchten , das muss man gleichfalls furchten ; er will also zunächst 
sagen , dass die Furcht aller Uebrigen auch den Einzelnen beherr- 
schen und bestimmen werde, dass er mithin dem, was jene scheuen, 
ebenfalls ausweichen werde. Was ist es nun, das die Menschen 
fiirchten ? Natürlich eben das , was sie von jenem freudigen »Ja ja«, 
von der raschen Entscheidung flir das Gute zurückschreckt: das 
Brechen mit der Welt , die Selbstentäussenmg , der in ihren Augen 
so klägliche Zustand des ganz Gott Hingegebenen ; davor fürchten 
sie sich ; das ist die Furcht Aller, die auch den Einzelnen kettet. — 
Die Commentatoren wissen mit der Stelle nichts anzufangen. Hö- 
schäng-küng versteht unter den » Menschen <» die Taö-Leute, und 
was sie furchten, sey, dass der Landesfürst das Lernen nicht unter- 
lasse. Andre halten Leben und Tod oder Gesetze und Strafen, oder 
auch die Lüste der Welt für das Gefürchtete. 

^) Dieser Ausruf ist nicht leicht zu erklären. Hö-schäng-küng 
vermuthet (hoe) , es sey die Rede von den Weltmenschen , die aus 
Lust zu Unordnungen an's Lernen gehn und etwas leisten wollen, 
ehe sie am Ende stehn. Das passt aber doch schwerlich in den 
Zusammenhang, der vielmehr eine Beziehung auf das, was die 
Menschen fürchten, also etwa den Grund oder Ungrund ihrer Furcht 
erwarten lässt. Da nun das Folgende zeigt, wie die ächte Hingebung 
an Taö missverstanden und gescheut werde , so dürfte der Ausruf 
die Erklärung hierfür , wenn auch nur andeutungsweise , enthalten. 
Soviel nun steht fest, dass in dem Satze: hüänghty kht wh jdng tscdl 
sich das Pronomen kM auf huäng bezieht , welches mithin Nomen 
oder Verbalnomen seyn muss , und dass die Interjection isäi klagt, 
dass dasjenige , was jdng bedeutet , von dem huäng »noch nicht« 



I03 

(ivä) auszusagen sei. Nun heisst hmng ursprünglich »Kraut, das die 
Erde bedeckt« , daher »Unkraut« ; davon dann zeitwortlich »über- 
wuchern, verderben«, femer »bedecken, verhüllen, verdunkeln, ver- 
finstern« ; und soll es die Ursache anzeigen , weshalb die Menschen 
die richtige Entscheidung ftirchten und die Verehrer Taö's so falsch 
beurtheilen , so können wir es nur im Sinne des »Verdunkelt- oder 
Verfinstertseyns« fassen , als die Decke, die vor ihren Augen hängt. 
Jdng heisst zuvörderst »Mitte«, und sofern die Mitte theilt, »Hälfte«, 
sodann als 2^itwort »ausbreiten , hinausfuhren , endigen , aufhören«. 
Zu der Klage aber, dass diess^rf«^ von dem Verfinstertseyn oder der 
Verfinsterung noch nicht auszusagen sey , passt nur die Bedeutung 
»endigen, aufhören«. Buchstäblich hiesse der Satz also: »Ver- 
finsterung — ihr noch nicht Aufhören, oh!« oder deutscher: »Die 
Verfinsterung, o dass sie noch nicht aufhört!« 

*) Alle Ausleger nehmen diese und die nachfolgenden Äusser- 
ungen Laö-ts^'s über die Alltagsmenschen und seinen Gegensatz zu 
ihnen für baare Münze, ohne Sinn für die ironische Parodie, womit 
er das Urtheil der Leute über sich selbst und über ihn zu Worte 
kommen lässt und theilweise sogar acceptirt. Dass er das Loos des 
treuen Ta6- Verehrers an seiner Person nur exemplificirt, ergiebt sich 
von selbst. Wol aber lässt sich dabei die Lage durchfühlen, in wel- 
cher La6-ts^, der Überlieferung zufolge, sein Buch geschrieben hat ; 
die Lage eines Greises , der sich längst im tiefsten Gegensatze zu 
seiner Umgebung gesehen , unter deren abschätzigem Urtheil jetzt 
eine ehrenvolle Stellung aufgegeben hat , und nun einsam und ohne 
bestimmtes Ziel in die Welt hinauswandert, um einen stillen Ruhe- 
platz aufzusuchen, wo er seine Tage beschliessen könne. Äusserlich 
angesehn, kann er denen, die ihn verachten und verhöhnen, beinahe 
Recht geben ; in Einem Punkte thut er es schliesslich sogar, indem 
er den wahren Gnmd davon anfuhrt. Man wird dabei abermals an 
Paulus erinnert, wenn auch er (i Kor. i.) von der Thorheit und 
dem Ärgemiss seiner Predigt spricht und sagt , dass Gott eben das 
auserwählt habe, was vor der Welt thöricht, schwach, unedel, ja 
nichts sey. — Tschüng sfln bedeutet , wie unser »die Menschen«, 
die gewöhnliche Durchschnittsgattung. Hi hl erklärt Basile durch 
simul laetarij und Khäng-hi's WB., unter Anführung unsrer Stelle, 
durch i^^ (i 210) = »einträchtig, vereinigen, einstimmen« etc. ; in- 



I04 

dess passt keins von beiden zu den beigefugten erläuternden Gleich- 
nissen. Hihng thdi-läo heisst »einen Stier opfern«, und deutet theils 
auf die vornehme Stellung des Opferaden, da nur ein Tä-fü^ d. h. 
ein zur höchsten Rangklasse Gehörender, ein Stieropfer bringen 
durfte, theils auf die festlich fröhliche Stimmung der Opfermahlzeit. 
In ähnlicher Stimmung ersteigt man im Frühling {tschhun^ das figür- 
lich auch Fröhlichkeit bedeutet) eine Anhöhe, einen Berg oder eine 
Terrasse mit schöner Aussicht, um an dieser die Augen zu weiden. 
Beide Gleichnisse wollen daher die sorglos geniessende Fröhlichkeit 
bezeichnen. Nun heisst hi »hell, glänzend, strahlend«, femer »blü- 
hend«, sodann auch »glücklich , vergnügt, fröhlich«, und die Über- 
setzung »vor Lust strahlen« dürfte sowol der Wortbedeutung, als 
den Gleichnissen entsprechen. Die Verdoppelung ist hier verstär- 
kend (vgl. Schott, chin. Sprachl. S. 72.). Unbegreiflich ist es, wie 
Chalmers übersetzen konnte : All the feople are füll of ambitious 
desireSf lusüng as iffor the stalled ox^ orfor sexual enjoymtnt! — 
»Ich allein«, fahrt Laö-ts^ nun fort, »liege still«, po, wörtlich : liege 
vor Anker , am Ufer wie ein Schiff, das noch nicht ausfahrt. Kht 
wä tschhdo = ilUus nondum prognosticon. Das Weissagen aus den 
Sprüngen einer über dem Feuer gerösteten Schildkrötenschale stand 
in China von Alters her in hohem Ansehn , und die auf der Schale 
sich zeigenden »Vorzeichen« oder »Anzeichen« heissen tschhdo. Es 
ist also noch nicht die geringste Andeutung vorhanden. Aber wo- 
von? worauf bezieht sich das khtr Offenbar auf das vorangegangene 
hl hl: bei ihm ist noch nicht das Anzeichen von heiterer Fröhlich- 
keit ; und dass es so gemeint sey , zeigt wiederum das angeknüpfte 
Gleichniss von dem .Kindlein, das noch nicht einmal lächelt. Eben 
diese Unempfindlichkeit gegen die fröhlichen Lebensgenüsse pflegt 
man ernsten und tiefen Gemüthem zum Vorwurf zu machen. Schtng 
schtng kann weder heissen : je suis ditachi de toutj noch : / amfor- 
lom. Khäng-hi's WB. erklärt es zu unsrer Stelle durch fin (15 15), 
»ruhen , sich stützen« ; allein diese Bedeutung scheint nur aus dem 
vorhergehenden/^ »vor Anker liegen« geschlossen zu seyn, während 
sie zu dem nachfolgenden Gleichniss nicht passt ; denn wer »nicht 
hat wo er einkehrt« oder »wo er sich hinwendet« , also Einer , der 
keine Heimath und kein Ziel hat, der wird allenfalls lunherschweifen, 
aber nicht sich aufstützen und ruhen. Schtng aber heisst »aufsteigen, 



I05 

fahren« , deutet also eine Bewegung an , welche um des Folgenden 
willen, als eine unbestimmte, ziellose angesehn werden muss. Des- 
halb obige Übersetzung. Währ^id jene Leute in ihren Genüssen 
ihre bestimmten Ziele haben, muss es ihnen vorkommen, als ob ein 
Mann, wie La6-ts^ — namentlich nachdem er Hof und Amt verlas- 
sen — ohne alles vernünftige Ziel nur hin und her schwanke. Er 
giebt diess Alles gewissermassen zu, doch nicht ohne leise anzudeu- 
ten, dass er eben im Irdischen und Weltlichen nicht einkehren könne, 
keine Heimath habe. 

•) Für ihre Lebensgenüsse mangelt den Leuten nichts , weder 
(wie H6-schäng-küng aus dem Gegensatz richtig erklärt) Reichthum, 
um verschwenden , noch Schlauigkeit, um betrügen zu können, und 
so fühlen sie es selbst mit Behagen , während sie in ihm nur einen 
Menschen sehen , der Alles verloren und hinter sich zurückgelassen 
(ß) und wie ein Stumpfsinniger (ju), wie ein Verwirrter (tAi/n thüfty 
ein Strudelnder) alle dem gegenübersteht , was sie flir den Zweck 
und das Glück des Lebens ansehn. Auch hierin giebt er ihnen 
nicht Unrecht. 

') Bei den gewöhnlichen, den Alltagsmenschen ist lauter Klar- 
heit und Sicherheit des Urtheils, lauter Helligkeit und Licht (tschäo 
ischäo), wogegen er ihnen ein Finsterling scheint, der nicht verste- 
hen kann und will , was für sie doch auf flacher Hand liegt. Wir 
sehen, dass schon damals die seichte Aufklärung keinen Begriff 
hatte von den dunklen Tiefen, in welche ein gründliches Ringen mit 
der Wahrheit niedertauchen muss, von dem schweren Ernst des 
Lebens , der nur in ihnen begriffen wird ; wie sie denn auch noch 
heute diejenigen Finsterlinge schilt, welche, diesen Tiefen zuge- 
wandt, ihre Leichtlebigkeit nicht theilen. 

^) Jene sind so rein, heiter, durchsichtig (tschha tschhä), und 
wie traurig , wie trübselig (min nUn) muss er ihnen erscheinen , der 
Alles so bedächtig und sorglich und schwer nimmt. Ist er nicht — 
zumal jetzt da er Alles hinter sich gelassen — vergessen und gering- 
geschätzt (hü) wie das Meer, das unwirthliche, gemiedene? von Wind 
und Wogen fortgetrieben , als ob es keinen Stillstand für ihn gäbe ? 
Auch alles diess räumt er nach der äusseren Erscheinung ein, wie 
mit einem bitteren Lächeln über die Weltbefangenheit seiner Beur- 
thciler. — Hü glaubten wir in seinem unsprünglichen und gewöhn- 



I o6 

liehen Sinne nehmen zu sollen. In der Ausgabe von Schfln-jäng- 
tschm-sjln findet sich die Lesart M4« (5277), was »wogend, fluthend« 
bedeutet , aber auch »ruhig , still«, und offenbar nur Conjectur ist. 

^) Das Wort l steht hier in seinem alten verbalen Sinne fiir 
yü^f (6 164) »gebrauchen, anwenden, verwenden«. Dass die seichten, 
aufgeklärten, durchsichtigen Weltmenschen die Geschäfte in ihrem 
Weltelement mit Leichtigkeit und Sicherheit handhaben, ist ebenso 
bekannt, als die beschränkte Geringschätzung, mit der sie auf jene 
tiefen, vom Göttlichen erfüllten Geister herabsehen, welche in ihrer 
erhabenen Einfalt imd fremd in jenem Elemente, sich meist schwer- 
fallig und ungeschickt in ihm bewegen, ja unfähig und unbrauchbar 
in ihm erscheinen. La6-ts^ gesteht daher auch in diesem Sinne dem 
Urtheil der Leute über ihn — von ihrem Standpunkte aus — ein 
Recht zu. — Wahrscheinlich hatte er all die erwähnten Vorwürfe am 
Hofe des Kaisers King-wäng mehr oder weniger offen zu hören 
bekommen. 

^®) Mit diesen Worten wendet sich die Ironie, die das bisher 
Gesagte tiberschwebte , in den Ernst des Geständnisses , dass ihn 
allerdings ein durchgreifender Unterschied von den übrigen Men- 
schen trenne : er ehret die »nährende Mutter«, und ist dieses der 
Unterschied, so braucht er es nicht weiter auszusprechen, dass jene 
sie nicht ehren. Mit Einem Worte: sie sind Weltmenschen, er ist 
ein Gottesmensch. Denn dass die »nährende Mutter« — ss/ mü. 
alma tnater — Bezeichnung Taö's, der allumfassenden, alle Wesen 
in ihrem Schoosse tragenden und sie aus sich speisenden imd erhal- 
tenden Gottheit sey, bedarf nach allem Bisherigen keiner Nachwei- 
sung. Warum gebraucht La6-ts^ aber gerade hier diese Bezeich- 
nung? Doch wol , um damit die grosse Schuld, Thorheit und Ver- 
blendtmg der andern Menschen, seiner Gegner, hervorzuheben, 
welche die hehre Gottheit , die sie ins Daseyn gebracht , durch die 
sie erhalten werden und bestehen , nicht kennen wollen und nicht 
verehren. Hieran schliesst sich das folgende tiefe und grossartige 
Kapitel wie mit nachdrücklichem Denn. 



Einundzwanzigstes Kapitel. 

■ 

Des leeren Vermögens Inhalt, nur Taö folget er 
nach. * Taö ist Wesen, aber unfasslich, aber unbegreif- 
lich.^ Unbegreiflich! unfasslich! in Ihm sind die Bilder."^ 
Unfasslich! unbegreiflich! in Ihm ist das Wesen. ^ Un- 
ergründlich! dunkel! in Ihm ist der Geist. Sein Geist 
ist höchst zuverlässig.^ In Ihm ist Treue. ^ Von Alters 
her bis jetzt verging sein Name nicht, dieweil er allen 
Dingen den Anfang ausersieht. " Woher weiss ich, dass 
aller Dinge Anfang also? Durch Ihn.^ 



M Wortstellung und Reim lassen ein Verscitat veraiuthen ; die 
Nachbildung der Form ist jedoch unterlassen , da sie die Sinntreue 
beeinträchtigt hätte, und in diesem Kapitel jedes Wort erwogen 
seyn will. Wir haben die Worte khüng fe tschi ßlng d\xxdti »des leeren 
Vermc^ens Inhalt« wiedergegeben und diess vor Allem zu rechtfer- 
tigen. Das ganze Kapitel geht darauf hinaus, nach staunender An- 
schauung der vermittelnden Ursachen der Dinge, die Entstehung 
oder Verwirklichung derselben auf Taö zurückzuführen , und diess 
nöthiget uns , auch die Anfangsworte in Beziehung auf diesen Ge- 
danken zu fassen, fe mithin Taö beizulegen. 27 aber, in der Regel 
unserm »Tugend« entsprechend, ist von den Khäng-hischen Lexico- 
graphen aus einem richtigen Sprachgefühl mit te (2694), »können, 
vermögen, erlangen, bekommen, besitzen«, in Verbindung gebracht, 
und auch wol mit diesem ursprünglich dasselbe Wort, obgleich es 
mit einem andern Zeichen geschrieben wird. Es heisst daher auch, 
und wahrscheinlich zuerst, »das Können, das Vermögen, die Macht« 
(Morrison: power; force); und so meinen wir es hier nehmen zu 



io8 



sollen , als Grund der Möglichkeit , als Potenz , da doch von der 
»Tugend«f der Gottheit nicht wol die Rede seyn kann. Khüng er- 
klären H6-schäng-küng und Andre nach ihm durch /rf, »gross«; 
richtiger Khäng-hi*s WB. ^\xt^ khüng-hü (7275. 9365.) »leer, in- 
haltlos« ; auch ist diess die Grundbedeutung von khüng^ das daher 
ferner »I/Och, Öffnung, Ausweitung, leeren Raum« bedeutet. Den 
Gegensatz dazu spricht das /ii«^ aus, welches ursprünglich »befassen, 
aufnehmen, enthalten«, substantivisch also der »Inhalt« heisst. In 
der zweiten Satzhälfte: wH tob seht thsüng bezeichnet das seht die 
Abhängigkeit des ihm vorausgehenden Substantivs von dem ihm 
nachfolgenden Zeitworte, (Vgl. Stan. Julien, Syntaxe nouvtüe^ p. 28.), 
und das Subject des Zeitworts thsüng ist jung. Wörtlich also : »nur 
Taö dem folgt er«, d. h. er ist eine Folge, eine Wirkung Taö's; und 
wie diess gemeint sey, erklären die Schlusssätze des Kapitels, wor- 
nach Tad Allem den Ursprung, den Anfang verliehen ; doch liegt in 
dem thsüng auch der Begriff »gehorchen, sich nach etwas richten, 
sich conformiren«, und dies ist hier mithinein zu denken. — Für 
die Erklärung des Gesagten entsteht die Frage, als was wir uns das 
blosse, ledige Vermögen, die noch inhaltleere Potenz (khüng te) zu 
denken haben. Denn wir können sie weder aus Taö hinaus verlegen, 
noch ihm beigesellen. Doch hören wir an anderen Stellen, und 
auch eine spätere Stelle unsres Kapitels bezieht sich darauf, dass 
der absolute Urgrund erst damit, dass er »aller Wesen Mutter werde«, 
oder, wie es weiter imten heisst, »Allem den Anfang zutheile«, seinen 
Namen bekommt, also erst durch die Heraussetzung oder Schöpfung 
der Welt Taö wird, womit denn, nach Kap. i., das höchste Wesen 
eine Dyas ist. Da nun gesagt wird , der Inhalt der an sich inhalt- 
leeren Potenz sey eine Folge oder Wirkung des Zweiten der Dyas, 
so wird es den sonstigen Aussagen La6-ts^'s entsprechen, wenn wir 
den Ersten als identisch ansehen mit der ledigen Potenz. Der also, 
welcher »sich zurückzieht in's Nicht- Wesen«, der oirspouaio^, in dem 
noch kein Was ist, ist lauteres, leeres Vermögen oder Kcmnen, 
blosse inhaltlose Macht; eine Macht zwar, welche weiterhin der 
Anfang oder Urgrund von Himmel und Erde wird (Kap. i.), diess 
aber an und für sich noch nicht ist. Es liegt nun nothwendig in 
diesem Gedankengewebe, dass er dem Zweiten, dem eigentlichen 
Taö gegenüber, als der Ehere und der Erzeuger anzusehen sey, 



I09 

und da er vor demselben reine Monas ist, so wird durch dessen 
Erzeugung die Dyas; wie es denn auch Kap. 42 heisst, dass die 
Eins (Monas) die Zwei (Dyas) erzeugt oder hervorgebracht (sen^) 
habe ; denn mit Erzeugung des Zweiten ist auch die Zweiheit er- 
zeugt. Dieser Zweite also, der Taö heisst — nehmlich mit diesem 
Namen eigentlich bezeichnet werden kann (Kap. i.), während die 
Anwendung des Namens auf den ersten sowol , als auf die ganze 
einige Gottheit (der vielleicht nur der Name Ji'ht-'wH zukommt) 
immer uneigentlich und nur eine Aushülfe ist (Kap. 25.) — dieser 
Zweite bringt dem leeren Vermögen, der inhaltlosen Kraft der 
Mc^lichkeit, den Inhalt zu. Da die reine Macht in Beziehung auf 
einen gegebenen Inhalt aber nur aciu zu denken ist, so müssen wir 
sogleich hinzunehmen, dass sie denselben auch setzt, d. h. schaffend 
wird. Dadurch wird er eben Inhalt des Leeren. Relativ hört also 
die reine Potenz auf, ein Inhaltloses zu seyn ; an und flir sich aber 
bleibt sie es , da sie in ihren Inhalt nicht aufgeht. Diess liegt in 
dem scheinbar paradoxen Ausdrucke , wenn von dem Inhalte des 
inhaltlosen Könnens geredet wird. Indem Letzteres aber diesen 
Inhalt als ein Reales setzt, ist es doch einzig und allein [wH=tiij 
5844.^ der Zweite, Taö, durch welchen es sein Was erhält, während 
jenes ihm sein Dass giebt. Taö folget es nach, ihm ist es conform ; 
was es ist, ist es aus und von ihm. Wie es sich damit verhalte, wird 
dann weiterhin angezeigt. 

^) Die Worte tob tschl wH woe übersetzt Stan. Julien durch : 
Voici quelle estla nature du Tao; Chalmers durch: Tau is a thing etc. 
Allein die Fassung des Satzes zeigt an , dass in ihm selbst etwas 
Bedeutendes von Taö ausgesagt und nicht bloss auf eine kommende 
Aussage hingewiesen seyn soll. Diess liegt in dem tscht wH. Denn 
tscht ist keineswegs bedeutungslos oder nur expletiv • — wie diess 
denn überhaupt von keinem Worte in dem wortkargen Altchine- 
sischen gesagt werden kann , und es nur ein Zeichen ist, dass die 
feinere Schattirung, die ein Wort dem Satze ertheilt , nicht geföhlt 
wird, wenn man es flir ganz bedeutungslos erklärt, — ts^ht^ zwischen 
Substantiv und Zeitwort gestellt, entspricht vielmehr unserm in 
demonstrativer Bedeutung nachgesetzten Artikel der Volkssprache, 
welcher die folgende Aussage nachdrücklich auf das Subject bezogen 
wissen will. WH steht aber allerdings als verbum substanH^mm, 



HO 

Wörtlich wäre daher zu tibersetzen : »Taö der ist Wesen«. Apposi- 
tion hierzu ist 7o^i huhngy ivH hü. Bedeutet diess wH (2923) nicht, 
wie im vorigen Satze soviel als tü^ »allein, nur«, so ist es im Alt- 
chinesischen eine mit leisem Gegensatze einleitende oder fortleitende 
Partikel, etwa wie unser unbetontes, auch wol enklitisches »aber«. 
Die ähnlichbedeutenden Wörter huhng und M, beide in der Schrift 
zusammengesetzt mit dem Zeichen fiir Herz, bezeichnen die subjec- 
tive Beziehung auf etwas der Betrachtung nicht Stand Haltendes 
oder Unbegränztes, mithin was nicht fasslich, nicht begreitlich ist. — 
Eben diese Apposition zeigt, dass in dem Hauptsatze ein sehr Be- 
deutsames ausgesprochen sey. Und allerdings ist es fiir Laö-ts^'s 
Lehre nicht allein von hoher Wichtigkeit, dass ihm Taö, dem ge- 
wöhnlichen Wortgebrauch entgegen, Wesen ist ; sondern die Aussage 
von der Wesenliaftigkeit Taö's soll auch erklären, wie er der blossen 
leeren Macht Inhalt geben könne, in Bezug auf welchen sie dann a 
potentia ad actum tibergeht. Es ist aber nicht zu übersetzen : »Taö 
ist ein Wesen«, sondern »ist Wesen«; denn woe soll nicht aussagen 
was Taö mit Anderem gemein habe, sondern worin er sich von der 
ersten blossen Potenz unterscheide, welche rein als solche, d. h. so- 
fern sie nur potenüä ist, nicht Wesen genannt werden kann. Man 
könnte aber auch sagen : »Taö ist das Wesen«, um nehmlich, denn 
darum handelt es sich, zu bezeichnen, dass diese zweite Potenz der 
Dyas eben das Was, das Wesen des Inhaltes fiir die erste sey. 
Dass Taö nun dergestalt Wesen und im absoluten Sinne das Wesen 
sey, kann erkannt und gedacht werden, nicht aber ist zu imter- 
scheiden, als was oder wie er Wesen sey, und es bleibt Laö-ts^ 
vor jenem Gedanken nur das Pathos des Philosophen , das Staunen 
übrig; darum heisst es: es ist so, aber unfasslich, aber unbegreiflich. 
Und als Ausruf, durch die Interjection ht angezeigt, mit Umsetzung 
und einmaliger Änderung der Ausdrücke , wiederholt sich diess je 
vor den drei folgenden Aussagen, mit denen Laö-ts^ allerdings, ^lie 
mit raschen weideuchtenden Gedankenblitzen, in die Tiefen jenes 
Wie einzudringen versucht, bei jedem Apercu aber auch wieder auf 
Unerfas.sliches, Unergründliches stösst. 

^) Während der ahnungsvolle Denker sich staunend vertieft in 
den, der überwesenden Macht Taö's, von dessen Wesen -gewor- 
dener Potenz , dargebotenen Inhalt , tritt es seiner Intuition zuerst 



1 1 1 

entgegen , dass in ihm , in Taö der da Wesen ist , vor Allem die 
»Bilder«, die Urgestalten der vielgestaltigen Welt, der »Myriaden 
Wesen«, enthalten sind. Dem Zusammenhange nach sind diess aber 
die Urbilder jenes Inhaltes selbst, durch deren Eingestaltimg in 
das ihnen gegebene »Wesen« , ihnen eben »der Anfang verliehen« 
wird • wenn daher Laö-ts^ hierin an die Ideenlehre Piatons erinnert, 
so dürfte er doch die in derselben bestehende Scheidung der Ideen 
von den Dingen vermeiden, sie aber ebensowenig in die aristotelische 
bloss begriffliche Wesenheit (fj xara Xoyov ooa(a) auflösen. Aber 
auch nicht giebt er ihnen jene gewissermassen selbständige Wesen- 
heit. Denn wenn er von Taö sagt: kht ischüng jeu siäng,, »in ihm 
sind« — oder »seine Mitte, sein Inneres hat«, enthält — »die Bil- 
der«, so bezeichnet er dadurch diese imagines als Inl^alt der Imagi- 
nation Taö's, also in jeder Hinsicht nur in ihm imd durch ihn, aber 
in keiner Weise an sich selbst seyend, sofern ihnen nicht nachgehends 
»der Anfang zugetheilt« wird in einem Selbstseyn oder Ansichseyn. 

^) Hiess es zuvor: »Taö der ist Wesen«, und heisst es jetzt 
— nach abermaligem staunenden Ruf — : kht schüng jeu woe^ » i n 
ihm ist das Wesen«, oder: »sein Inneres hat das Wesen«; so macht 
Laö-ts^ sichtlich einen Unterschied zwischen Wesen und Wesen. 
Mit dem ersten bezeichnete er Taö selbst als Substanz gegenüber 
dem überlesenden Urgründe ; das zweite aber ist diejenige Sub- 
stanz, To ui;ox£i(ievov, die Unterlage und reale Voraussetzung, worin 
und woran die Bilder aus dem blossen in und an Taö Seyn in ein 
Seyn an sich und für sich gebracht werden können. In dem ersten 
DWesen« ward Taö sich selbst in seinem ewigen Urgründe gegen- 
ständlich ; das zweite ist ihm selbst ein gegenständliches, zu dem er 
sich als Urgrund verhält; denn es ist »in ihm«, aber nicht er ist es, 
wie er das erste war. Er selbst also unterscheidet sich von ihm ; 
ihm ist es ein Anderes, obgleich ungetrennt vor ihm. Wie Laö-ts^ 
sich das genetische Verhältniss beider Wesenheiten gedacht, ist 
nicht zu ersehen. Dagegen ist wol anzunehmen, dass er sich dieses 
»Wesen« in Taö, die Substanz für die Urbilder, noch nicht als die 
physische Materie, sondern erst als die Möglichkeit derselben gedacht, 
da er sie in Taö setzt, von dem er sonst alles Materielle ausschliesst. 

^) Als drittes Moment oder Prinzip in Taö , welches Voraus- 
setzung für die Actualität des reinen Urvermögens [khittig fe) ist, 



112 

erkennt La6-ts^ den Geist. Tslng ist das Auserlesene, Reife, Reinste 
und Feinste in den Dingen; dann soviel als ling (12,020), vot>c im 
Sinne des Aristoteles, also unser »Geist«, in dem Sinne, wie er auch 
fiir die geistigen Wesen [schtn^ 7025) das Band ihrer Einheit in sich 
selbst ist (Kap. 39), in ihnen also das Person-Setzende ; dann aber 
auch der in uild an den Dingen und Geschöpfen , ihnen selbst un- 
bewusst, hervortretende Verstand» die Vemtinftigkeit , die Allem 
innewohnt, was wir etwa die geniale Zweckmässigkeit aller Natur 
nennen würden. Somit wäre es also das dritte Prinzip, vermittelst 
dessen die Einheit von Urbild und Substanz hergestellt wird und 
sich entwickeln und fortdauern kann. Die ähnliche Einleitung und 
ganz gleiche Anföhrung mit den Worten kht tschüngjeis . . . , sowie 
der Zusammenhang setzen es ausser Zweifel, dass hier von der vir- 
tuellen Präexistenz des in den Geschöpfen theils unbewusst, theils 
bewusst waltenden Geistes die Rede sey. Er, als das eigentlich 
constituirende, ist Laö-ts^, wie die einleitenden Ausrufe zeigen, das 
staunenswertheste, wundersamste und räthselhafteste unter den drei 
vorgeschöpflichen Prinzipien, diurch welche die geschöpfliche Her- 
vorbringung vermittelt wird. 

Kht tslng kann heissen »dieser Geist« oder »sein Geist«. Die 
Ausleger fassen es wol zumeist im ersten Sinne, da auch Stan. 
Julien sagt : Cette essence spirituelle — und Chalmers : This essence, 
— Allein nicht nur in den vorhergehenden symmetrischen Sätzen, 
sondern auch in den beiden folgenden können alle kht sich nur auf 
Taö, beziehen, und deshalb dürfte diess auch hier vorauszusetzen 
seyn, zumal La6-ts^ sonst nirgends ein eben vorausgegangenes Sub- 
stantiv mit dem Demonstrativen kht wiederholt. Aber auch die 
angeknüpfte Aussage von diesem Geiste zeigt , dass derselbe nicht 
bloss als vorgeschöpfliches Princip der »Myriaden Wesen«, sondern 
als ein selbstwesendes und fUr sich verantwortliches gedacht wird. 
Denn er wird sckin tschtn genannt, und tschtn heist »acht, treu, 
recht, untrüglich«, auch »geistlich« und ist nach dem alten Taö- 
Philosophen Tschuang-ts^ »der Gipfel geistiger Vollkommenheit«. 
Gesteigert wird dies aber noch durch das hinzugefügte sckkn^ welches 
soviel als »überaus, höchst« heisst und vor Beiwörtern Superlative 
bildet. »Ueberaus treu« oder höchst »zuverlässig« kann aber nur 
im ethischen Sinne gemeint seyn , wenn vom Geist geredet wird, 



113 

setzt daher schon einen fiir sich sey enden Geist voraus. Allein die 
drei, das Schaffen (dasAnfanggeben) vermittelnden Prinzipe sind 
noch nicht für sich ; Bild, Substanz und Geist sind nur erst noch 
i n Taö, khf tschung. Wir sind daher genöthigt , diesen Geist als 
tibergeschöpflichen zu fassen, der vor dem Anfange der Dinge schon 
ist, und dann nothwendig Taö's Geist seyn muss, da vor diesem 
Anfange nichts anderes war, als Taö (Kap. 25 a. A.). Wie oben 
zwischen dem Wesen, welches Taö ist, und dem Wesen, das i n Taö 
ist, so scheint auch hier unterschieden zu seyn, zwischen seinem 
Geist, und dem Geist, der i n ihm ist, obgleich diess nicht deutlich 
gesagt ist, und es immer möglich bleibt, dass Laö-ts^ sich den in 
und an die Schöpfung sich austheilenden Geist und den Geist Taö's 
(den Thal-Geist, ku schtn} Kap. 6) identisch gedacht habe. In 
diesem Falle dürfte dann die Auffassung des kht tslng als «dieser 
Geist) nicht unberechtigt seyn ; dann aber ist dieser Geist beides 
zugleich, nehmlich Potenz in Taö, welche die Dyas zu einer Trias 
erhebt (vgl. Kap. 42), und Schöpfung vermittelndes Prinzip. 

^) Da es hier ganz parallel mit den vorigen Stellen heist khi 
tschung jeU sin, so kann diess kht tschung^ «in ihm», sich wiederum 
nur auf Taö beziehen, und um so mehr, als das gleich nachfolgende 
kM mtngy »sein Name«, gar keine andere Beziehung zulässt. Be- 
deutet nun aber sin »Aufrichtigkeit, Treue, Zuverlässigkeit« — das 
Schriftzeichen sagt : »Ein Mann ein Wort« — und ist es daher mit- 
dem vorhergehnden tschln^ das von dem Geiste ausgesagt wurde, ziem- 
lich gleichbedeutend, so bezeugt uns auch diess, dass der Geist 
dort in gewisser Weise Taö ist oder dass Taö in seinem Geiste zu- 
verlässig und treu ist. Hier aber wird diese Eigenschaft in ihn selbst 
gesetzt, um anzudeuten, wie alle (in ihm vorgebildeten) Wesen sich 
auf ihn verlassen können, dass er sie in's Daseyn rufe. Denn davon 
soll sogleich gesagt werden. 

') Der Satz : »von Alters bis jetzt verging sein Name nicht« — 
würde unmotivirt und zusammenhangslos dastehen, wenn das nach- 
folgende \ jüe tschung fö (buchstäbl. : »nehmend ersehen Menge 
Anfang«), »weil er ersah aller Dinge Anfang«, nicht damit in Ver- 
bindung stände. Nach Kap. i und Kap. 32 hängt das Hervor- 
bringen aller Dinge, das Anfangen zu schaffen, genau mit der Be- 
namung Taö's zusammen, erst von da an hat er einen Namen ; was 

8 



114 

wöl so zu erklären ist, dass nicht eher etwas von ihm ausgesprochen 
werden kann, als bis Er sich ausgeprochen hat^ was durch das 
Schaffen geschieht. Fü kommt auch sonst in der Bedeutung von 
»Anfang, Ursprung, Entstehen« vor. /u^ heisst »beaufeichtigen, 
mustern, prüfen«. H6-schäng-kung und nach ihm das Khänghi'- 
sche WB. erklären es durch iin oder/i« (7 196), ursprünglich »Koni 
austheilen«, dann überhaupt »ertheilen, übertragen, geben ;«womach 
Julien : // danne issue (naissance) ä t&us les ^tres. Da nach dem fol- 
genden Satze die Menge (der Wesen) solchergestalt wirklich an- 
fangt oder entspringt, so muss in dem Beaufsichtigen oder Besehen 
d^jue zugleich der Begriff einer Bewirkung liegen. So sagen wir. 
Einem etwas ausersehen, in dem Sinne, es musternd oder prüfend 
ihm zutheilen. Hierbei aber dürfen wir uns dann wol die zu Anfang 
als inhaltleer gedachte Kraft (Kküng te) als das Wirkende denken, 
welche ja ebenfalls Taö*s ist, insofern er als Einheit gefasst wird. 

Wir haben also in diesem Kapitel Laö-ts^'s Schöpfungslehre 
vor Augen, und sie ist bedeutend genug, um sie uns in unserer Re- 
deweise zurechtzulegen. Zuerst ist die Gottheit reines inhaltleeres 
Vermögen, blosse unendliche Kraft, aus welcher vor Allem der we- 
senhafte Gott hervorgeht, der jener allen Inhalt gewährt und be- 
stimmt. In ihm aber sind auch aller geschöpflichen Wesen Urbilder 
und Substanz, beide jedoch noch als vorgeschöpfliche, in denen die 
Wesen noch keinen Anfang, kein Fürsichseyn haben, weshalb auch 
diese Substanz noch nicht die Materie, sondern nur deren Gnmd 
und Voraussetzung seyn kann.. Aber in ihm ist auch der Geist, das 
Prinzip der Einheit und der Einigung, der eben deshalb sowol sein 
Geist, als der Geist aller Wesen ist. Auf diesen Geist ist zu ver- 
trauen, dass er auch Urbild und Substanz einigen werde ; und diess 
ist zugleich ein Vertrauen auf Gott, in welchem er ist, und welcher 
diess Vertrauen rechtfertigt, damit aber aus seiner Unerkennbarkeit 
und Unnennbarkeit hervortritt, indem er nun, als der Einige zu- 
sammengefasst, nach seiner Treue und Zuverlässigkeit allen vorer- 
sehenen Wesen zu ihrer Zeit den Anfang eines eigenen I>aseyns für 
sich verleiht. Diese Schöpfung hat (nach Kap. 25. a. A.) zwar 
emen Anfang gehabt, ist aber von da an eine stetig fortdauernde, 
dergestalt, dass auf sie die Entstehung eines jeden Wesens zurück- 
zufuliren ist. — Wir wüssten nicht, dass das ganze Altertlium etwas 



115 

aufzuweisen hätte, das sich in diesser Lehre mit Laö-ts^s Specula- 
tion messen könnte. 

^) Auf die Frage : »Wodurch (hd t) weiss ich dass aller Dinge 
Anfang also ?« antwortet La6-ts^ in grossartiger Kürze : »Durch Ihna 
— l thsl, wörtlich : durch diesen ; was nicht, mit H6-schäng-köng, 
auf das »Jetzt, das Heutige, Gegenwärtige«, sondern mit den Aus- 
legern, denen Julien folgt, auf Taö zu beziehen ist. Natürlich will 
er sich damit nicht auf eine besondere Offenbarung berufen, von 
der er überhaupt nichts weiss, aber auch schwerlich sagen, dass er 
diese Erkenntniss aus dem Durchdenken des absoluten Prinzips ent- 
wickelt habe. Die ganze Darstellungsweise des Kapitels, mit den 
staunenden Ausrufen über die Unerfasslichkeit und Unergründlich- 
keit des geistig Wahrgenommenen, zeigt, dass er selbst sich wol be- 
wusst war, über diesen grossen Gegenstand nur höchst bedeutsame 
intuitive Apergus gehabt zu haben, und wenn er hier sagt, er ver- 
danke sie Taö selbst, so dürfte diess wol etwa heissen : Durch mein 
Festhalten an Taö unmittelbar mit ihm vereiniget, schaue ich in ihm 
die Voraussetzungen seiner Verursachung der Dinge. 



Zw^.eiundzwanzigstes Kapitel. 

»Wenn knimm, so werd' es vollkommen; wenn un- 
» gleich, so werd' es gerade ; wenn vertieft, so werd' es 
»ausgefüllt; wenn zerrissen, so werd' es neu; wenn we- 
»nig, so werd' erreicht; wenn viel, so werde verfehlt. a^ 
— Daher der heilige Mensch umfasst das Eine, und 
wird der Welt Vorbild.^ — Nicht sich siehet er an, drum 
leuchtet er ; nicht sich ist er recht, drum zeichnet er sich 
aus ; nicht sich rühmet er, drum hat er Verdienst ; nicht 
sich erhebt er, drum ragt er hervor.^ — Weil e r nicht 
streitet, drum kann Keiner in der Welt mit ihm strei- 
ten.^ — Was die Alten sagten : »Wenn krumm, so werd' 
es vollkommen«, sind es denn leere Worte? Ein wahr- 
haft Vollkommener, — und man kehrt dahin zurück."' 

• 

*) Diese Sprüche gehören so entschieden zusammen, dass sie, 
wenn La6-ts^ gegen Ende des Kapitels den ersten auf »die Alten« 
zurückführt, sämmtlich als Anflihrung aus einem älteren Buche an- 
gesehen werden müssen. Sie haben im Chinesischen eine unvergleich- 
liche Kürze, da es dort wörtlich nur heisst : »Krumm, dann voll- 
kommen; ungleich, dann gerade« pp. Da aber diess dann (tse) 
das ihm Vorausgehende zum Bedingenden macht, so kann die dem- 
selben entgegengesetzte bedingte Aussage nicht gefasst werden als 
etwas das schon sey, sondern als etwas das werden solle. Diess in 
Betreff der vier ersten Sprüche, welche die Beseitigung von Ge- 
brechen und Unzukömmlichkeiten, die offenbar als an den mensch- 
lichen Zuständen vorhanden zu denken sind, in Aussicht stellen. 



117 

Bei der beabsichtigten Gegensätzlichkeit ist das »Knimme« als das 
Unvollkommene, das »Zerrissene« (Schlechte, Abgenutzte, //) als das 
Altgewordene zu fassen. Wer die verheissene Wandlung herbeiführen 
werde, ist nicht g'esagt und Laö-ts^ selbst deutet es erst am Ende 
des Kapitels an. Orakelhaft, wie diese vier Sprüche, sind auch die 
beiden folgenden ; da sich jedoch das Erreichen (Erlangen, /?,) und 
Verfehlen [hoe^ irren, sich täuschen, getäuscht werden) nur auf die 
erwähnten vollendeten Zustände beziehen kann, so muss sich das 
Wenige und Viele auf die Mittel zu ihrer Herstellung beziehen. 
Hierzu genügt wenig, ja, wie Laö-ts^ sogleich sagt, nur Eins. Wer 
es mit Vielerlei und auf vielerlei Weise erreichen will, liefert nur 
den Beweis, dass er das Eine, worauf es ankommt, nicht kennt, und 
muss seinen Zweck nothwendig verfehlen. — Das Christenthum lehrt 
nicht anders, und es ist ein bedenkliches Zeichen, dass unsre Zeit, 
die ihren Gebrechen durch hundert Mittel abhelfen will und der 
doch längst gesagt ist. Eins sey noth, sich von dem Worte eines ur- 
alten Chinesen muss richten lassen. — 

Uebrigens haben die drei ersten Sprüche eine sonderbare Aehn- 
lichkeit mit Jes. 40, 4. und machen fast den Eindruck einer Remi- 
niscenz von dorther ; was um so auflallender ist, als sie Sprüche der 
Alten genannt werden. Ist dabei an keinen Zusammenhang zu den- 
ken, so ist es wenigstens ein seltsamer Zufall. 

2) Die in Aussicht gestellten geheilten Zustände herzustellen, 
ist das Trachten des heiligen Menschen, der auch weiss, dass er 
diess mit »Vielem« nur verfehlen würde. »Daher umfasster (pab=zem- 
brasse) das Eine«, d. i. den Einen, von welchem im vorigen Ka- 
pitel die Rede war, an welches sich dieses dadurch anschliesst. 
Denn der Eine, der die Ursache von Allem ist, ist auch die Ursache 
aller Vollendung, aller Heilung krankhafter und ungenügender Zu- 
stände. Indem der heilige Mensch Ihn in sich aufnimmt, wird er da- 
durch schty Mass, Gesetz, Beispiel, mit einem Worte »Vorbild« für 
die Welt, so dass er nicht, wie wir bereits hörten, durch Lehre und 
Werke, sondern durch sein blosses Seyn und Erscheinen, aus dem 
das Göttliche mahnend, züchtigend, überwindend, dann zündend, 
belebend, begeisternd hervorstrahlt. Allen eine heilsame Autorität 
wird. 

•*) Bei dem vorbildlichen heiligen Menschen ereignet sich nun 



ii8 

das Venvunderliche, dass er das, wornach die Meisten mit Anstren- 
gung vergebens streben, erreicht, indem er darauf verzichtet, ja 
eben dadurch es erreicht, dass er darauf verzichtet. Indem er weder 
hervorleuchten noch herrlich werden will, weder Verdienst noch 
Autorität sucht, fallt ihm diess Alles von selbst zu durch seine De- 
muth. Pu isi schl heisst : nicht sich selbst ist er recht, in dem Sinne : 
er hat an sich selbst kein Gefallen. 

^) Er ist eben so sanftmüthig, als demüthig. Selbst wer mit ihm 
streiten wollte, kann es nicht, denn Er macht Keinem etwas streitig, 
und thut man ihm Unrecht, so vergilt er Beleidigungen mit Wol- 
thaten (Kap. 63) und widerstrebt dem Uebel nicht. 

*) Der Fragesatz hat keine Schwierigkeit und ist nur insofern 
interessant, als er die Herleitung der Eingangssprüche aus einer äl- 
teren Quelle bezeugt. Auch über die drei ersten Wörter des Schluss- 
satzes dürfte kein Zweifel seyn. Tschhing thsiüan heisst ein »wahr- 
haft Vollkommener«, vollkommen Integrer, und das nachfolgende 
oll gleicht dem ebräischen 1 consecutizmm. Es fragt sich daher nur 
um die beiden letzten Wörter küei tschi, Kuei heisst »zurückkehren 
zu« — uud tschi ist objectives Pronomen, zeigt also das an, wozu 
oder wohin zurückgekehrt wird. Was ist nun das Subject zu Ktüi\ 
und welches Object ist mit tscht gemeint? Bei Beantwortimg dieser 
Fragen darf vor Allem nicht vergessen werden, dass der Schlusssatz 
die Antwort darauf enthalten soll, ob die Verheissung, das Krumme 
werde vollkommen werden, nur leere Worte seyen. Offenbar indi- 
rect wird diese Antwort gegeben, denn nicht auf die »leeren Worte« 
nimmt sie Bezug, sondern auf die Herstellung des Volikonmienen, 
und wir müssen demnächst erwarten, dass die Frage beantwortet 
werde durch die Nachweisung, es werde hergestellt werden. Als 
dann aber kann sich das Pronomen tscht nur auf das thsiüan des in 
dem Fragesatze angeführten Spruches beziehen : zu ihm, dem Voll- 
kommenen wird zurückgekehrt, d. h. zu dem vollkommenen Zu- 
stande. Dem oll geht nun die Voraussetzung vorher, an welche sich 
diess Zurückkehren knüpft, entweder in dem Sinne: »der heilige 
Mensch sey nur wahrhaft vollkommen, « oder allgemeiner : »es er- 
scheine nur ein wahrhaft Vollkommener« ; was sachlich auf dasselbe 
hinauskommt. Dieser kann nun nicht das Subject zu kuei tscht seyn, 
da er nicht erst noch zur Vollkommenheit zurückzuljehren braucht, 



119 

sondern nur die können es seyn, welche dieser Rückkehr bedürfen, 
also die Menschen überhaupt, die Welt, thiän hih, — Ueberträgt 
und erläutert Chalmers den Satz so : Verify^ he shall be retumedhome 
entire (to his origine, See XVI.\ so bringt diess einen hier ganz 
fremdartigen Gedanken herein, da von lauter diesseitigen Zuständen 
die Rede ist, und ihnen gegenüber die Vertröstimg auf ein vollkom- 
menes Jenseits ganz ausser dem Gedankenkreise Laö-ts^'s liegt. — 
Nachdem aber unsre Auffassung ausführlich begründet worden 
ist, darf wol auf das wahrhaft Prophetische des Kapitels hingewiesen 
werden. Der Grundgedanke ist : Nur die Erscheinung des wahrhaft 
vollkommenen, des idealen Menschen kann das Unvollkommene 
vollkommen, das Krumme gerade machen, das Versunkene heben, 
das Verdorbene erneuern, und dazu bedarf es nicht vieler Mittel, 
sondern nur eines einzigen. Dass diess einmal geschehen werde, ist 
eine Verheissung des Alterthums. La6-ts^ führt sie an uud schildert 
dann den vorbildlichen Heiligen in seiner Hoheit, Demuth und 
Sanftmuth, wie es uns npthwendig an den Einen erinnern muss, 
der in Wirklichkeit der Welt Vorbild geworden ist. Wird sich aber, 
fragt er dann , jene Verheissung auch bewähren ? Und die Antwort 
darauf lautet bejahend. Wäre sie hypothetisch, setzte sie die Er- 
scheinung des wahrhaft VoUkonunenen nur als unerlässliche Bedin- 
gimg, deren Verwirklichung jedoch dahin gestellt bliebe, so würde 
die Frage; ob die Verheissung »leere Worte« sey, nicht beantwortet, 
sondern umgangen. Es soll eben sagen, das seyen keine leeren 
Worte, und muss deshalb positiv aussprechen, der ideale Mensch 
werde erscheinen und dadurch werde das Verheissene erfüllt werden. 
Und so ist denn der Sinn des letzten Satzes: »Der wahrhaft Voll- 
kommene, wird erscheinen, und dann wird die Welt zurückkehren 
zum vollkommenen Wesen.« 



Dreiundzwanzigstes Kapitel. 

Wenig reden ist naturgemäss. * Wirbelwind währt 
keinen Morgen; Platzregen währt keinen Tag. Wer 
macht diese? Himmel und Erde. Himmel und Erde 
sogar können nicht länger, um wie viel weniger denn 
der Mensch!^ Drum, wessThun mitTaö einstimmt, wird 
eins mit Taö; der Tugendsame wird eins mit der 
Tugend ; der Verderbte wird eins mit der Verderbniss. 
Wer eins wird mit Taö, auch Taö freuts, ihn zu be- 
kommen; wer eins wird mit der Tugend, auch die 
Tugend freuts, ihn zu bekommen ; wer eins wird mit der 
Verderbniss, auch die Verderbniss freuts, ihn zu verder- 
ben.^ Vertraut man nicht genug, erhält man kein Vertraun.* 



*) Der Anfang dieses Kapitels erinnert an das Ende des fünften ; 
doch wird hier weder empfohlen noch ermahnt , »wenig zu reden«, 
sondern es wird nur als etwas anerkannt , das »von selbst also«, das 
sich von selbst versteht, also natürlich, naturgemäss ist. Anders 
kann tsi sjän (vgl. Kap. 17, Anm. 4) hier weder aufgefasst noch 
ausgelegt werden, und wie es nach chinesischen Auslegern das Nicht- 
Thun bedeuten könne, ist nicht abzusehen. Das nachfolgende 
Gleichniss zeigt , dass hier von dem die Rede sey , was dem natür- 
lichen Vermögen des Menschen entspreche. Eben diess schränkt 
aber unsern Satz auf die Beziehung des Menschen zu den hier in 
Rede stehenden grossen und grössten Anschauxmgen ein, denen 
gegenüber ein staunendes Betrachten natürlicher ist , als ein langes 
und häufiges Reden , das überdem nicht bloss eher sich selbst er- 
schöpft als seinen Gegenstand , sondern auch entfernt nicht so ein- 
drücklich lehrt und wirkt , wie dieser selbst. Nur wie in einem 



121 

raschen Sturme, wie in einem plötzlichen Regenerguss lässt sich das 
Grösste einmal aussprechen ; dabei aber bleibt bestehn , dass Ta6 
und die Tugend hier , die Verderbniss dort , an denen, welche sich 
ihnen hingeben, sich selbst am schlagendsten zur Anschauung 
bringen und dadurch am eindringlichsten lehren. Wer dieser Wir- 
kung und der Zugänglichkeit der Menschen fiir sie nicht hinreichend 
traut, dem wird vieles und langes Reden das Vertrauen in das von ihm 
Gepriesene nicht erwerben. Diess dürfte der Gedankengang des Kapi- 
tels seyn, das im Einzelnen jedoch noch wichtige Gedanken ausspricht. 

2) Wenn auch die grössten Naturmächte , wenn Himmel und 
Erde zusammenwirken, um Wirbelstunti oder Platzregen zu erzeugen, 
so gewaltsamen Vorgängen vermögen sie doch nur kurze Dauer zu 
verleihn. Diesen Aeusserungen sonst zurückgehaltener Naturkräfte 
vergleicht Laö-ts^ die Redeäusserungen des Menschen über die 
grossen Gegenstände, von denen er spricht. Um recht von ihnen zu 
reden, bedarf es gleichfalls der Aufbietung der tiefsten und gewaltig- 
sten Kräfte des Geistes ; das Wort soll dann, ja es kann nicht anders, 
es muss dann einem Wirbelsturme, einem Platzregen gleichen, aber 
auch noch rascher als diese zu Ende eilen. Denn wie viel geringer 
ist das Vermögen des Menschen , als das von Himmel und Erde \ 
Strengt er auch alle Kräfte an, um auszusprechen was ihn erftillt, es 
kann doch immer nur ein Vorgang seyn , der flüchtiger vorübereilt 
als jene Naturerscheinungen , da er ebenso wie sie etwas Ausser- 
ordentliches ist, selten eintritt und kurz währt. Ganz ähnlich äussert 
einmal Jacob Böhme , er habe seine Grundintuitionen zwölf Jahre 
bei sich herumgetragen : »bis es mich hernach überfiel als ein Platz- 
regen ; was der trifft, das trifft er ; also erging es mir auch.« — Sagt 
der Text von Himmel und Erde : pu n^ng kihi , sie vermögen nicht 
lange , oder nicht länger , nicht auf die Dauer , so ergiebt der Zu- 
sammenhang, dass diess nur von der Verlängerung jener gewaltsamen 
Vorgänge gesagt seyn kann ; an die Dauer von Himmel und Erde 
ist dabei so wenig zu denken, als an die des Menschen. 

•*) Dieser Theil des Kapitels scheint schon frühe missverstanden 
zu seyn und deshalb im Texte Beschädigungen erlitten zu haben. 
Uns erschien er — mit Ausnahme einer Wiederholung des iab tsche 
im ersten Satze — bei H6-schäng-küng vorzüglicher, als in der von 
Stan. Julien aufgenommenen Fassung. Aeusserst merkwürdig und 



122 

tief hineinleuchtend in Laö-ts^'s Denkweise sind vornehmlich die 
drei ersten Aussagen. Sst', Geschäft, Verrichtung, Angelegenheit, 
hier das ganze Thiin und Verhalten des Menschen, steht im Gegen- 
satz zu dem vorher erwähnten Reden. Thsüng ssi . , . tschlj wer 
einstimmig macht sein praktisches Verhalten , oder sich conformirt 
in seinem Thun — wess Thun einstimmt y«^ tab^ mit Taö, d. h. wer 
in allen Dingen Taö nachfolgt , ihm gemäss ist , von dem wird ge- 
sagt: thüng ju taoy er wird eins, wird vereinigt, wird dasselbe mit 
Taö; er tritt also mit ihm in innere Wesenseinheit, er wird «der 
göttlichen Natur theilhaftig«. Diess Einswerden, diess Verselbstigen 
mit Taö erinnert wiederum an Eckhart, sowie an die ateutsche 
Theologie« etc. und bringt in manche andre Aeusserungen Laö-ts^'s 
erst Licht imd Zusammenhang, Es ist ein um so bedeutsamerer 
(jedanke , als es keineswegs auf pantheistische Voraussetzungen be- 
gründet, sondern lediglich aus dem ethischen Verhalten hergeleitet 
wird, — Diess zeigen auch die beiden angeschlossenen Aussagen 
von dem Tugendlichen und dem Verderbten. Denn nur diess heisst 
te tscJü und seht tsckl^ und man kann hierzu nicht etwa thsüng ssi jii 
in Gedanken ergänzen, da es sich ganz von selbst versteht, dass der 
Tugendsame in seinem Thun mit der Tugend, der Verderbte mit der 
Verderbniss zusammenstimmt. Darum aber wird nun auch der 
Tugendsame eins und dasselbe mit der Tugend , der Verderbte eins 
und dasselbe mit der Verderbniss; womit Tugend und Verderbniss 
indess keineswegs substanziirt werden, sondern nur diess gesagt wird, 
dass durch den Taö-Ergebenen, den Tugendsamen und den Ver- 
derbten, vermöge dieser Identification, das Wesen Taö's, der Tugend 
und des Verderbens selbst vor Augen gestellt und zur Erkenntniss 
gebracht wird. 

»Wer eins wird mit Taö , — Taö auch freut's zu bekommen 
ihna, tab fi 16 ie tscht. Bei Julien fehlt hier wie in den beiden folgen- 
den Sätzen das 16 (4460) , und während in dem letzten Satze H6- 
schäng-küng liest: schtfi 16 seht tscht ^ »die Verderbniss auch freut's 
zu verderben ihn«, hat Julien: schtfi te tscht ^ »die Verderbniss auch 
bekommt ihn«. Denn die Auffassung chinesischer Ausleger, womach 
er tibersetzt : Celui gut sidenHfic au Tao gagne le Tao ; celtä qtd 
sidentifie ä la vertu gagne la vertu; celui qiä sidentifie au crime gagne 
(la honte du) crime — Diese Auffassung dürfte sich vor der Gram- 



123 

matik schwerlich rechtfertigen lassen. Durch das nachgesetzte jl 
können die ihm vorangehenden Substantiva nicht zu Accusativen 
werden , und nichts deutet darauf hin , dass man gegen die Satz- 
ordnung etwa ie (bekommt oder gewinnt) auf thüng ju tab (wer eins 
wird mit Taö) und tscJü (ihn) auf tab zu beziehen habe. Auch dürfte 
der Gedanke schwerlich passend seyn ; denn um sich mit Taö etc. 
zu identificiren , muss man ihn bereits erlangt (te) haben , und wenn 
man sich mit ihm identificirt , kann diess nicht erst das Mittel seyn, 
um ihn zu erlangen. Die textgemässe Uebersetzung ergiebt dagegen 
folgende Gedanken. Wer durch Nachfolge (thsüng) Taö's zur 
Wesenseinheit mit ihm kommt, der wird auch von Taö mit Freuden 
aufgenommen und angeeignet. Taö bewegt sich ihm entgegen, 
fördert und vollendet sein Streben und freut sich, ihn zu erhalten. 
Aehnlich die Tugend , die (und so auch die Verderbnbs) hier ent- 
weder rhetonÄh personificirt wird, oder auch durch diejenigen, 
welche sich mit ihr bereits identificirt haben, vertreten gedacht werden 
mag. Die Verderbniss aber freuts, den, der mit ihr sich einiget, zu 
verderben , und diess ist ein unzweifelhafter Erfahrungssatz. Diese 
Thatsachen sind nun aber nichts, was heimlich oder im Verborgenen 
bleibt. Denn ob Jemand Taö geeiniget und sein Eigenthum ist, und 
so auch der Tugend oder der Verderbniss , das tritt an das Licht 
und zeigt sich, auch ohne dass er es will. Er lehrt, ohne dass er 
redet. Daher setzt das kü am Anfange diese Gedankenreihe in ein 
Causalverhältniss zu dem ersten ITieile des Kapitels , der von der 
Schweigsamkeit spricht , und weiset darauf hin , dass die im zweiten 
Theile erwähnten Thatsachen die Stelle des Redens und Lehrens 
vertreten. 

^) Derselbe Ausspruch kam schon Kap. 17 vor, wo er auf das 
Vertrauen der Regierenden zu den Unterthanen ging. Hier ist er 
allgemeiner. Um bessernd und veredelnd auf die Menschen einzu- 
wirken, soll man nicht viel reden, sondern selbst das Beispiel eines 
Menschen darstellen , der eins ist mit Taö und der Tugend , und 
dann vertrauen, dass dieses seinen Erfolg haben werde. Wem diess 
Vertrauen gebricht, wird um so mehr auf die Menschen hinein lehren 
und reden , eben darum aber kein Vertrauen finden ; denn je mehr 
eine Waare angepriesen wird, desto weniger traut man dem Verkäufer. 



Vierundzwanzigstes Kapitel. 

Wer sich auf den Zehen erhebt , steht nicht fest , 
wer die Beine spreizt, schreitet nicht fort. ^ Wer sich 
ansiehet, leuchtet nicht; wer sich recht ist, zeichnet sich 
nicht aus; wer sich rühmt, hat kein Verdienst; wer 
sich erhebt, ragt nicht hervor. ^ Er vor Taö — heisst 
Abhub vom Essen, unanständig Gebaren. Jeder ver- 
abscheuet es. ^ Drum wer Taö hat, hält es nicht so. * 

1) Nachdem Kap. 22 den vorbildlichen Heiligen geschildert 
hatte, sagte Kap. 23, wie den Menschen das Ideal nicht durch 
Reden, sondern Seyn und Verhalten begreiflich gemacht werde. 
Hier wird , unter wörtlicher Zurückbeziehung auf die , Kap. 2 2 dar- 
gestellte, selbstverzichtende Demuth, gezeigt, wie deren Gegentheil, 
der selbstgefällige Pharisäismus , durch sein Verhalten nicht nur 
seines Zweckes verfehle, sondern auch an sich schon im wider- 
wärtigsten Contrast zu Taö stehe. Denn nicht von Verderbten, 
Sittenlosen ist die Rede, sondern von solchen, die auf ihre Trefflich- 
keit und guten Werke Werth legen und gleiche Werthschätzung von • 
der Welt verlangen. — Zwei sinnige Gleichnisse stehen voran. Wer 
sich auf die Zehen stellt, will sich grösser machen als er ist, will 
Andre überragen, und verliert damit nur die sichere Stellung seiner 
natürlichen Grösse , ohne sich in der erkünstelten Höhe erhalten zu 
können. Wer die Beine auseinanderspreizt , will mehr Raum ein- 
nehmen, als ihm gebührt und als er ausftillen kann ; während er sich 
aber »breit macht« , kommt er nicht vom Plecke und bringt es zu 
nichts. Die Anwendung dieser Gleichnisse auf das Sittliche wird 
dem Leser überlassen; trefflich aber leiten sie die folgenden Sätze 



125 

dadurch ein, dass bei ihnen Ursach und Wirkung sofort klar ist, 
deren Aufsuchung sie bei diesen, wo sie sich mehr verbirgt, ver- 
anlassen wollen. — Unnachahmlich ist hier , wie so oft , die Kürze 
des Altchinesischen , da wir doch nicht wol sagen können : Wer 
zehet, steht nicht ; wer spreizet, geht nicht. — 

2) Diese vier Aussprüche bilden den symmetrischen Gegensatz 
zu dem, was Kap. 22 vom vorbildlichen Heiligen gesagt wurde. 
Wer Ansehn, Auszeichnung, Verdienst, Erhöhung aus eitler Selbst- 
schätzung beansprucht, geht ihrer gerade deshalb verlustig, da diess 
Motiv auch das, was die Gestalt des Guten an ihm hat, in sein Gegen- 
theil verkehrt, was der Welt denn auch nicht verborgen bleibt. 

•*) Wer sich dergestalt eitel und anmassend vordrängt, kann — 
dieser Gedanke liegt in dem Zusammenhang der drei letzten Kapitel — 
weder durch Wort noch durch Beispiel heilsam wirken. Denn dazu 
bedarf es vor Allem der Vereintheit mit Taö, zu der ein Solcher 
unmöglich gelangen kann , da sein Verfialten in Beziehung auf Taö 
ist wie Speisenüberreste, wie ein unanständiges Benehmen, die Jeder 
mit Widerwillen ansieht; d. h. Taö verabscheuet ein solches Ver- 
halten, er will mit ihnen nichts gemein haben. — Tsckiii htng fassen 
wir nach dem Khäng-hi'schen WB. (htng pü täng ß) als »unziem- 
liches, unanständiges Gebaren, Vorgehn, Benehmen«. Die von einigen 
Auslegern angenommene Bedeutung von tsc/iüi als »Cieschwulst, 
Kropf«, erfordert, dass eine angeblich alterthümliche Zeichen- 
verwechselung für hing (9658 statt 2657) stattgefunden habe, und 
tschüi htngh\e!s&t dann : »ein geschwollenes oder kropfiges Aussehen«. 
IVoe hde haben wir durch »Jeder« wiedergegeben. Hoe bezeichnet 
etwas Ungewisses, Unbestimmtes, heisst daher auch »Jemand, 
iigendwer , wer oder was es auch sey« ; wir glaubten daher woe hde 
fassen zu sollen als: »Wesen, was es auch sey«, d. h. jedes Wesen, 
oder hier »Jeder«. 

4) »Wer Taö hat« oder besitzt, jeu iah tsüiky ist eine so realistische 
Bezeichnung für das innige Verhältniss des Menschen zu Gott , dass 
wir sie uns kaum gestatten würden , und doch sagt sie im Grunde 
mehr, als unser »an Gott glauben«. 



Fünfundzwanzigstes Kapitel. 

Es gab ein Wesen, unbegreiflich vollkommen, ehe 
denn Himmel und Erde entstanden. * So still ! so über- 
sinnlich I^ Es allein beharrt und wandelt sich nicht 
Durch Alles geht's und gefährdet sich nicht. ^ Man darf 
es ansehn als der Welt Mutter. * Ich kenne nicht seinen 
Namen ; bezeichne ich es, nenn' ichs Taö. ^ Bemüht, ihm 
einen Namen zu geben, nenn' ichs Gross; als gross 
nenn' ichs Überschwänglich ; als überschwänglich nenn' 
ichs Entfernt; als entfernt nenn' ichs Zurückkehrend. * 
Denn Ta6 ist gross, der Himmel ist gross, die Erde ist 
gross , der König ist auch gross. In der Welt giebts 
viererlei Grosse, und der König bleibt deren Einer.' 
Des Menschen Richtmass ist die Erde, der Erde Richt- 
mass der Himmel, des Himmels Richtmass Taö, Taö's 
Richtmass sein Selbst. ^ 



*) Unser Denker kehrt sich auf seinem freien kühnen Gange 
\fieder zu seinem Hauptgegenstande , und wir treffen hier abermals 
eins jener grossartigen Kapitel von einem Gedankengehalte, von 
einer Höhe der Anschauung , von einer Reinheit des Gottesbegriffs, 
wie wir sie in dem ganzen ausserisraelitischen Alterthume vor Christo , 

vergeblich suchen. Hätte es irgendwo scheinen können, als sey der ^ 

Begriff des Absoluten bei La6-ts^ nur eine letzte Abstraction, so 
wird dieser Schein hier völlig zerstört. Diess geschieht schon mit 
. den beiden ersten Wörtern : jeü zew, welche (mit Julien) nicht anders 
übersetzt werden können, als »es giebt ein Wesen«. Im 14. Kapitel 



127 

hatte Laö-ts^ gesagt : »Er zieht sich zurück in's Wesenlose« (um woe)^ 
in's Nicht- Wesen, um sich dort zur reinen Anschauung des Absoluten zu 
erheben. Das scheint einen Theil der Ausleger gehindert zu haben, 
woe hier in der Einzahl zu fassen und auf Taö zu beziehen, während 
Andre, das Richtige erkennend, in ihren Commentarien das Zahlwort 
fty »eins« , vor Tvoe einschieben. Sinn und Zusammenhang gestatten 
es nicht anders; wie denn auchyV^ am Anfang eines Satzes und mit 
nachfolgendem Subject nicht wol anders heissen kann , als habetur j 
es giebt. Dass von Taö die Rede sey , wird hernach ausdrücklich 
gesagt, und schon Kap. 21 hatte es hinreichend vorbereitet, dass er 
nun in seiner Einheit als Wesen bezeichnet werden kann. Und so 
wird denn hier die Substantialität des Absoluten ausgesprochen, 
dessen Einheit und Einzigkeit übrigens an mehr als Einer Stelle 
betont ist. — Die beiden folgenden Wörter huän tschMng sind 
Adjectiva, hier aussaglich nachgesetzt, theils um die Bedeutsamkeit 
des jeu woe nicht abzuschwächen, theils um sie in nächste Beziehung 
zum Nachfolgenden zu setzen , da gerade gesagt werden soll, diess 
Wesen sey ein solches schon vor Himmels und der Erden Entstehung 
gewesen. Huhn heisst ursprünglich »zusammengiessen und dadurch 
trüben«, als3eschaffenheitswort »gemischt, getrübt, ununterscheidbar, 
quod distingui nequih. Genau lässt es sich nicht übersetzen. Immer 
aber hat es eine so entschieden andere Bedeutung als tschhtng^ 
welches »vollendet , fertig , vollkommen« heisst , dass es mit diesem 
zugleich nicht wol auf dasselbe Subject angewendet werden kann, 
und daher in adverbialer Beziehung zu nehmen ist, etwa : indisHncte 
perfectum. Von einer Vollkommenheit wird demnach geredet, in 
welcher nichts Einzelnes zu unterscheiden ist, die kein Prädicat zu- 
lässt, in der nichts zu fassen, zu begreifen ist ; imd deshalb glaubten 
wir berechtigt zu seyn, die beiden Wörter durch »unbegreiflich voll- 
kommen« zu übersetzen. — In den folgenden Worten sian thtan H 
settgy »vor Hiiximels (und der) Erde Entstehen«, kann das stan^ »früher, 
vor , vorhergehend« , nur auf ein Vergangenes deuten , welches war, 
bevor Himmel und Erde waren , weshalb auch dasy«5f zu Anfang, 
durch »es gab« übersetzt wurde. Seng aber, in dem Sinne von ncKci^ 
bezieht sich nicht auf das entferntere woej sondern auf M^^z^i ä. Jenes 
unbegreiflich vollkommene Wesen also gab es bereits vor Entstehung 
Himmels und der Erden ; womit folglich auch schon La6*ts^ erkannte. 



128 



dass Gott zur Vollendung seines Wesens keiner Weltschöpfung 
bediu-fte. 

2) Tsi heisst »unhörbar, schweigend, stilla ; auch »zunickgezogen, 
einsam«. Liäo'y&X. ein verwandter Begriff, heisst aber auch »körper- 
los, gestaltlos, immateriell«. Beide Ausdrücke, diu-ch die Interjection 
M betont, bezeichnen die in sich ruhende Verborgenheit und Über- 
weltlichkeit Gottes, welche La6-ts^ sowol vor der Schöpfung als 
nach derselben, nehmlich im Lichte der Ewigkeit fasst. 

•^) Ist es nicht zufallig , dass diese beiden Sätze gereimt sind, 
und liegt ein Verscitat vor, so könnte auch tibersetzt werden : »Allein 
beharrt's , und ist unwandelbar ; durch Alles geht es hin , und ohne 
Fahr«. — Tscha kann nicht dass blosse Daseyn, das Subsistiren 
bedeuten ,^ sondern heisst »stehnbleiben , stillstehn, beharren« ; es ist 
der (Gegensatz von käi^ »sich ändern, sich wandeln«. Gott allein 
bleibt imwandelbar was und wie er ist ; Alles was nicht Gott , ist 
stetiger Änderung, Werden und Entwerden unterworfen. Auch 
dieser Ausspruch wäre mit einer pantheistischen Denkweise unver- 
einbar , denn wenn Gott allein unveränderlich ist , so kann die in 
steter Änderung begriffene Welt in keiner Weise mit dem göttlichen 
Wesen identisch seyn, und die Aussage von Gottes ünwandelbarkeit 
hebt ihn bestimmt und deutiich von der Welt ab. Aber es trennt 
ihn nicht von ihr; denn »durch Alles hin« (ischeu = circuitfr^ 
undiqueversum) »geht er« , wandelt er , überall durchdringt er Alles, 
und damit ist seine innerste Anwesenheit in jedem denkbaren Punkte 
ausgesprochen. Allein diess gefährdet ihn nicht, d. h. es kann ihm 
nichts nehmen , noch etwas an seinem Wesen ändern. Obwol Alles 
durchwesend oder , nach Baaderischem Ausdruck , durchwohnend, 
bleibt er doch immer und überall ganz Derselbe, der er ist. 

^) »Der Welt Mutter« bezieht sich, wie chinesische Ausleger be- 
merken, sowol auf das Hervorbringen, als das Erhalten (Ernähren) 
aller Dinge, doch soll das Erste hier wol vorwiegen. Betrachtet Laö- 
ts^ die Schöpfung auch nicht als eine zu einem gewissen Zeitjiunkte 
dergestalt vollendete, dass nun das Schaffen als solches aufgehört 
habe und fernere Steigenmg oder Fortsetzung aus der Kraft des Ge- 
schaffenen selbst erfolge, sieht er das Schaffen vielmehr als ein stetig 
fortgesetztes an (Kap. 22, Anm. 7.), so hat ihm die geschaffene 
Welt doch, nach dem Anfangssatze dieses Kapitels, einen Anfang 



129 

genommen, sie war einst nicht, und ist dann von Gott hervorgebracht 
worden. Dass die Vergleichung mit einer »Mutter« nicht durchaus 
passe, gibt er selbst zu, wenn er sagt, das göttliche Wesen, »könne 
man dafür nehmen« oder ansehen (khblw^i). Aber nicht zu be- 
zweifeln ist, dass er es damit hier, wie an den gleichlautenden Stel- 
len, als Weltgrund und Weltursache bezeichnen will. 

^) Schon im ersten Kapitel war gesagt, dass ein nennbarer Name 
nicht Gottes ewiger Name sey, imd Laö-ts^ wiederholt öfter, dass 
sein Name nicht zu nennen sey, dass er ihn nicht kenne. Damit 
meint er den dem Wesen entsprechenden, das Wesen Gottes aussa- 
genden Namen. So auch hier und in dem Folgenden. »Bezeichne 
ich es« * — giebt den Text nicht genau wieder. Tsi ist der Titel- oder 
Anstandsname, der dem Erwachsenen beigelegt wird, und bei dem 
sie nun schicklicherweise genannt werden; als Zeitwort heisst es 
dann,« einen Anstandsnamen beilegen,« und so steht es hier. Mit 
dem eigentlichen oder Milch-Namen (sjü mtng 56. 1142.) bezeich- 
net man sich selbst. Diesem Passus liegt daher der Sinn tmter : Den 
Namen, der Gottes Wesen ausspricht und mit dem er sich selbst be- 
zeichnen würde, kenne ich nicht ; ich kann ihm daher nur einen an- 
deren, einen Titel- ödes Anstandsnamen beilegen, tmd wenn ich 
diess thue, so nenne ich ihn Ta6. 

^) Zwinge ich mich, strenge ich mich an (khiäng), ihm einen 
Namen zu geben (machen, wH), welcher Bezeichnung seines Wesens 
ist, so nenn' ich ihn Gross, das absolut Grosse, welches alle Grösse 
in und tmter sich befasst, nicht allein die extensive, sondern auch 
die intensive. Aber eben diese Anschauung treibt mich weiter ; ich 
kann bei der Grösse nicht stehen bleiben und daher wird dieser 
Name unzutreffend. Denn das absolut Grosse ist zugleich das über 
mich absolut Hinausgehende, Transscendente oderÜberschwängliche. 
Den ich gross nannte, muss ich daher auch überschwänglich nennen. 
Doch auch darin liegt schon ein Weiteres. Das absolut über mich 
Hinausgehende ist eben damit auch das absolut Feme oder Ent- 
fernte, uud auch so muss ich es nennen. Aber diess Entfernte ist 
ja das Absolute, das Wesen, das, wo es ist, ganz ist, in dem Alles 
ist und das durch Alles hindurchgeht, das auch in mir, das eben jetzt 
auch in meinem Denken ist, und deshalb muss ich es sofort auch als 
das Wiedergekehrte bezeichnen. (Vgl. Jerem. 23, 23. 24. »Bin ich 

9 



I30 

nicht ein Gott, der nahe ist^ spricht der Herr; und nicht ein Grott 
der ferne ist? — iHn ich's nicht, der Hinunel und &de erfüllet?«) 
— Dass alle Versuche der Wesensbezeichnung Gottes durch Namen 
ungenügend seyen, braucht La6-ts^ nicht hinzuzufügen, da er be- 
reits gesagt, er kenne seinen Namen nicht. Diess Geständniss steht 
mit Kap. 14 nicht im Widerspruch, da die Bestandtheile, des dort 
angedeuteten geheinmissvollen Namens weder einzeln noch verbun- 
den, eine adäquate Wesensbezeichnung der Gottheit für La6-ts^ 
waren. — Treffend ist übrig^as der noth wendige Fortschritt im Den- 
ken des Absoluten angegeb«). »Gross,« im unbedingten Sinne, ist 
vielleicht der beste bejahende Ausdruck für das doppeltvemeinende 
Dunendlicha'. Denkt man Gott als den absolut Grossen, so treibtdiess 
zu dem Gedanken seiner Transsoendenz, welcher sich weiter zu dem 
der Überweltiichkeit steigern, in diesem und durdi diesen aber zu 
dem der Immanenz wieder zurückkehren muss. 

^) Gross, als alleinige Wesensbezeichnung für Taö, zeigte sich 
unzulänglich. Vom Absoluten ausgesagt hat es zwar seinen guten, 
inhaltschweren Sinn, »denn Taö ist gross« ; als allgemeiner Begriff 
aber ist es auch nodi von Anderem auszusagen, denn auch »der 
Himmel ist gross, die Erde ist gross, ja auch der König iist gross.« 
Wiefern sie gross sind, und wodurch, dass sagt dann der Sdilusssatz. 
Hält es der Verfasser aber für nöthig, nochmals zu bestätigen, dass 
zu den vier Grössen auch der König zu rechnen sey, so sieht man, 
dass die Grösse hier nicht von der Ausdehnung, sondern von der 
Macht gesagt sey. Es wurde bereits bemerkt, dass Läo*ts^ Himeid 
und Erde nicht als blosse Naturgegenstände auffasse, sondom als le- 
bendige Weltmächte. Diess war der allgemeinen Vorstellung seiner 
Zeit gemäss. Sie besass zwar noch den Begriff des lebecidigen und 
persönlichen »Höchst^i Herrn« (das schdng H), den auch noch Laö- 
ts^ anerkennt (Kap, 4. a. E.), doch war ihr diese Anschauung schon 
mehr und mehr in die unbestimmte des »Himmels« verschwommen, 
so dass ihr Gottesbegriff in diesen allmählich zerfloss. Wol deshalb 
hat unser Denker dem ältesten und höchsten Wesen, dess Name un- 
bekannt ist, jiicht die »Ehrenbezeichnung« Schdng Hj sondern die 
ältere Tod beigelegt, um den reinen Begriff des absoluiten, schon an 
sich vollkommenen Wesens herzustellen. Gleichwol war er, wie die 
späteren Kapitel zeigen, der Vorstellung des »Himmeb«, als einer 



131 

Ta6 gleichsam vertreteiKlen, die irdischen Dinge beherrschenden 
Macht, nicht abhold. Auch die Erde war ihm, wie den Chinesen 
zum Theil noch jetzt, keine bloss materielle Masse, sondern eine 
ehrwürdige lebendige Macht. Der König xat* iSo^TQV war während 
der Tscheu-Dynastie, die zu Lad-tsö's Zeit noch bestand, immer der 
Kaiser, thian tsi, »der Himmelssohn« ; so geheissen, weil er seine 
Würde aus des Himmels Auftrag, /Man ming was unserm »von Got- 
tes Gnaden« entspricht, erhalten hatte. Darum wird er hier als Re- 
präsentant und Haupt der Menschen betrachtet. Er galt den Chine- 
sen, wie unserm Mittelalter sein Kaiser, als die von Rechtswegen 
höchste und einzige Obrigkeit über alle Wdt, als die einzige wahre 
Grossmacht Zum Repräsentanten Aller macht in China aber das 
kaiserliche Amt um so mehr, als mit ihm allein auch das Priester- 
thum für »die Menschen« verbunden ist. 

^ F& heisst »Regel, Norm, Richtmass, Vorschrift, Gesetz,« und 
als Zeitwort« mas^eben, bestimmen,« auch »sich bestimmen, sich 
nach etwas richten, nachahmen.« Will man fö nicht als Nenn- 
wort, sondern zeitwortlich fassen, so müsste man etwa sagen: »Der 
Mensch bestimmt sich, oder richtet sich nach dem Himmel« pp. 
Der Wortsinn ist klar. Dass diese Aussagen, wie A. Rdmusat meint, den 
Menschen als Mikrokosmos darstellen, ist nicht erfindlich, wenn auch 
die von ihm beigebrachten Beweisstellen darthun, dass dieser Begriff 
spätem chinesischen Denkern geläufig war. Nicht vom Wesensbestan- 
de, sondern vom Thun und Verhalten der vier Grossen ist die Rede. 
Der König wird »der Mensch« genannt, weil er hier zugleich als sol- 
cher in Betracht kommen, und was von ihm gesagt wird, sich auf 
den Menschen überhaupt beziehen soll. Die Redekette zeigt, dass 
der Mensch durch das Irdische das Himmlische tmd durch das 
Himmlische das Göttliche gewahr werde, und in des Menschen 
Macht steht es, nach dem Richtmass, das ihm auf diesem Wege als 
das göttliche vorgehalten wird, sich zu bestimmen. Dass er diess 
frei thue, macht eben seinen Begriff Mensch aus, und dass diese 
Forderung in den ersten Worten liege, hat H6-schäng-küng erkannt, 
wenn er erklärend sagt: sjtn fang fa pp., hämo oportet $e dirigat. 
Und so soll der Mensch vor Allem auch im königlichen Amte der 
göttlichen Norm folgen. Wie er sie am Irdischen, an der Erde er- 
kennt, so — das müssen wir schliessen, — erkennt die Erde sie am 

9* 



132 

Himmlischen, am Himmel, und dieser an Ta6. Dass die Erde 
durch den Himmel bestimmt wird, ist naturwissenschaftlich voll- 
kommen festgestellt. Befremdend ist hur der Gedanke, dass die 
Erde sich nach dem Hiomiel, der Himmel sich nach Ta6 in, wenn 
auch nicht gleicher, doch ähnlicher Weise wie der Mensch selbst 
bestimmen soll und nicht lediglich blinder Natumothwendigkeit 
folgen. Ächte Wissenschaft der Natur dürfte jedoch La6-ts^*s An- 
sicht der Wahrheit näher finden, als die heute beliebte Reduction 
des göttlich-kosmischen Organismus auf einen lediglich materialisti- 
schen Mechanismus. — Haben nun Mensch, Erde, Himmel ihren 
Bestimmui^sgrund jedesmal in einem Anderen, Höheren, so heisst 
es vonTa6 in grossartiger Kürze, er bestimmt sich durch sich selbst, 
»von selbst also« (isi sjän)\ womit denn schliesslich die absolute 
Freiheit Gottes ausgesprochen ist, ein Begrifi^ der von dem der 
Persönlichkeit so tmabtrennbar ist, dass wir, uns an alle übrigen 
Aussagen über Ta6 erinnernd, anerkennen müssen, La6-ts^ habe 
auch die Persönlichkeit Gottes, wenn auch nicht explicite, doch im- 
plicite anerkannt. 



Sechsundzwanzigstes Kapitel. 

Das Schwere ist des Leichten Wurzel ; das Ruhige 
ist des Unruhigen Herr.^ Daher der heilige Mensch den 
ganzen Tag wandelt ohne zu weichen von ruhigem Ernst.^ 
Hat er gleich Prachtpaläste, gelassen bewohnt er sie 
und verlässt sie ebenso.^ Wie aber, wenn der Myriaden 
Wagen Gebieter um seinetwillen leicht nimmt das 
Reich ?* Nimmt ers leicht, so verliert er die Vasallen ; 
ist er unruhig, so verliert er die Herrschaft.^ 



') Dem vorigen schliesst dieses Kapitel sich an als eine Exem- 
plification zu den Worten, dass der rechte Mensch, zumal der könig- 
liche, sich richte nach der Norm, welche das Gesetz irdischer Dinge 
ihm vorhält. Voran steht ein solches aus den Erscheinungen abge- 
zogenes Gesetz für des Menschen Verhalten. Wurzel, d. h. Grund- 
lage und Träger des Leichten ist das Schwere. So trägt das schwere 
Gebirge den Wald, so dessen Holz die leichten Blätter und Blüthen ; 
so steigt aus schwerem Gewässer der leichte Wolkendunst empor u. 
s. w. Herr des Unruhigen ist das Ruhende : das unbewegliche Strom- 
bette gebietet dem Laufe des beweglichen Wassers, am festen Ge- 
mäuer bricht sich der unruhige Wind, und was dess mehr ist. Das- 
selbe Gesetz behauptet sich in seiner Anwendung auf den Menschen, 
sowol am Einzelnen für sich, als in dessen Verhältnissen zu Ande- 
ren. Wer im Sittlichen, im Wissen oder in einer Kunst das 
Schwere schwer oder ernst genommen — denn isckiingy wie das lat. 
gravisy heisst beides, — dem wird hernach Alles darin leicht, wäh- 



134 

rend auch das Leichte dem misslingt, dem jene Unterlage des Ern- 
stes fehlt. Und die Unruhe, die von Innen oder von Aussen den 
Menschen verwirren will, beherrscht nur, wer es zur festen Ruhe der 
Seele gebracht hat. So wird auch die Behandlung der Menschen tmd 
ihrer Verhältnisse nur dem leicht, der es gründlich ernst damit nimmt, 
und die Unruhigen beherrscht und lenkt nur der Ruhige. — Übrigens 
machen die beiden Sprüche den Eindruck eines Verscitates, obgleich 
sie nicht gereimt sind. 

^ »Daher« — weil er nehmlich jenes Gesetz an den irdischen 
Dingen erkannt hat und sich nach demselben bestimmt. »Der hei- 
lige Mensch« ist hier nicht der im höchsten Sinne so bezeichnete ur- 
und vorbildliche des Kap. 22, sondern, wie auch sonst meistentheils, 
der ausgezeichnet Weise. Wahrscheinlich um jenem Missverständ- 
nisse vorzubeugen, ist von einigen Herausgebern die Lesart kiuH fy^f 
»der höhere oder edlere Mensch, der Weise,« behebt, doch bestätigt 
der Commentar H6-schäng-küngs die Lesart uM^g sftn^ in welchem 
Ausdrucke bei La6-ts^ allerdings immer das Ideal durchschimmert 
Er »wandelt ohne zu weichen«, oder er wandelt und weicht nicht» 
heisst nur, sein täglicher Wandel ist stets untrennbar von — . Dass 
mit dem einfachen Worte hing, »wandehi, vorgehen«, das Eingehen 
oder Fortschreiten in Ta6 gemeint sey, deutet nichts im Texte an; 
es bezeiclmet nur das Thtin und Verhalten im Allgemeinen. Tse 
tschtinghß\si!ii eigentlich ein »schwerbepackter Lastwagen«, wird auch 
von einem Reisenden gesagt» der all seine Habe mit sich führt. Das 
Bild wollte sich nicht verständlich übersetzen lassen ; wir haben tms 
daher (mit Julien tmd Chalmers) der Erklärung H6-schäng-küngs 
angeschlossen, doch die sprachgebräuchliche Verbindung der beiden 
Wörter beibehalten. Indess lässt sich auch denken, das Bild solle 
auf die Last obliegender Pflichten hindeuten, da bald hernach sota. 
dem Kaiser geredet wird, der die seinigen leicht nimmt 

^) Den heiligen Menschen verlässt die ruhige Fassung so wenig 
bei aller Fülle des Besitzes tmd der Hoheit, als bei deren Verlust 
Kein Schicksalswechsel treibt ihn aus seiner besonnenen Gelassen- 
heit Jdn^ »ruhig, gelassen«, heisst zugleich die »Schwalbe«; das 
bildliche des Ausdrucks geht uns hier gleichfalls verloren. — Alle in 
diesen Stellen gebrauchten Bilder lagen La6-ts^ nahe, wenn er kurz 
vor Abfassung seines Buchs, wie ims überliefert ist, den Kaiserhof 



135 

verlassen hatte und omnia sua secum portans auf der Reise begriffen 
war. 

^) »Wie aber, wenn« -»— so glaubten wir ndi hd wiedergeben zu 
sollen, da der nachfolgende Satz eine ähnliche Wendung voraussetzt. 
Der Gebieter der Zehntausende von Wagen ist der Kaiser oder 
König. Das zeitwortliche khmg mit nachfolgendem Object heisst, 
dieses »leicht nehmen, leichtfertig behandeln, vernachlässigen«, und 
da thtan Jäh das Object ist, so kann schhi nicht ab pronomen re- 
fleoavum stehen, sondern ist von \ abhängig so dass \ schin propter 
p€r$onam hdsM und adoerHaUUr dem Zeitworte vorgeht : Seinetwe- 
gen, über seine eigene Person, deren Genüsse tmd Leidenschaften 
ihm im Vordergrunde stehen, zeigt er sich leicht oder leichtsinnig 
beim Reichsregiment. Das Wort »leicht« weist auf den Anfangssatz 
zurück, und bezeichnet hier die falsche wurzellose Leichtigkeit, die 
nicht den schweren Ernst zur Unterlage hat. So aber war der da- 
malige Tscheu-Kaiser Kfng-wdng beschaffen ; nachlässig und leicht- 
sinnig im Regiment, durch seinen unruhigen Geist in zahllose Feh- 
den verwickelt, welche die schon tief gesunkene Kaisermacht immer 
mehr untergruben. Wenn La6-ts^ indess den auf ihn bezüglichen 
Satz nur hypothetisch hält, und ihn auch nicht nennt, so geschah 
diess sicherlich nicht aus Furcht, sondern aus geziemender Ehrer- 
bietung vor der höchsten Würde. 

•) Der Altmeister spricht hier entweder aus Erfahrung oder im 
Voraussehn dessen, wps bald geschah ; dton Kfng-w^ng, nach ge- 
waltsamer Besitznahme des Throns, sah seine Lehnsflirsten bald als 
Aufruhrer sich gegenüber und musste sogar aus der Hauptstadt flüch- 
ten. Er gewann sie zwar wieder, blieb aber stets in Gefahr, das 
Reich zu verlieren, über welches er nur eine geringe, von den Reichs- 
flirsten vielbestrittene Gewalt ausübte. — 



Siebenundzwanzigstes Kapitel. 

»Ein guter Wandrer lässt niqht Fussspurmäler, 
Ein guter Sprecher macht nicht Redefehler, 
Ein guter Rechner braucht nicht Rechenmarken- 

zählen 
Ein guter Schliesser braucht nicht Schloss noch 

Riegel, 
und dennoch ist nicht aufzulüpfen, 
Ein guter Binder schlinget keine Knoten, 
und dennoch ist nicht loszuknUpfen.« ' 
Daher der heilige Mensch ist immer ein guter 
Helfer der Menschen, drum verlässt er keinen Menschen ; 
immer ein guter Helfer der Geschöpfe, drum verlässt er 
kein Geschöpf, ' Das heisst herrlich leuchten. ^ Drum 
ist der gute Mensch des nichtguten Menschen Erzieher ; 
der nichtgute Mensch des guten Menschen Schatz. * 
Nicht ehren seinen Erzieher, nicht lieben seinen Schatz, 
ist bei aller Klugheit grosse Verblendung.* — Das 
heisst bedeutsam und geistig. * 

^) 2^igte das vorige Kapitel , dass der heilige Mensch , zumal 
im königlichen Amte, nur durch Ernst, Gleichmuth und Ruhe Ueber- 
gewicht und Herrschaft gewinnt und behauptet, so wird nun gesagt, 
welchen Zweck das habe, diesen nehmlich, dass er sich hülfreich und 
menschenveredelnd erweise. Denn hierin besteht seine Trefflichkeit 
und Kunst, darin »ist er gut«. In diesem verbalen Sinne steht eigent- 



- — 137 

lieh das Wort scMn sowol in den Versen , als den ihnen zunächst 
angeschlossenen Sätzen, und drückt sowol die Fähigkeit als die 
Neigung zu einer Handlung aus und hat zugleich eine ethische Be- 
deutung. Die gebrauchte Wendung dürfte diess einigermassen aus- 
drücken. Die dtirten einleitenden Denkreime sind vieldeutend, wenn 
auch nicht in dem mystischen Sinne späterer taöistischer Ausleger, 
da das Wandern, Sprechen, Rechnen etc. unbezweifelt im ganz 
alltäglichen Sinne zu nehmen ist. Aber das ist darin angedeutet, 
dass, wer etwas trefflich thut, dabei weder Unschickliches begeht, — 
denn auf reinlichem Wege Spuren von Fussstapfen zurückzulassen ist 
ungeziemend ; noch sich unzulänglich erweist, — denn wer Sprach- 
fehler begeht, ist der Rede nicht mächtig; noch auch künstlicher 
Beihülfe bedarf, — wie zum Rechnen des Rechenknechts ; vielmehr 
seinen Zweck erreieht durch die einfachsten Mittel, — wie wer ohne 
Riegel und Schloss zuschliesst, ohne dass geöfifhet werden kann ; und 
durch die einfachste Anwendung der Mittel, — wie wer beim Binden 
die Schnur so zu schürzen weiss , dass Andre sie nicht aufknüpfen 
können, ohne dass er Knoten darin gemacht. Tschheü thse ist ein 
Rechenschema, ein Rechenknecht. Für die Ausdrücke »Rechen-^ 
markenzählera und »aufzulüpfen« (statt zu öfihen) möge der Reim 
die Entschuldigung übernehmen. 

^) Der Autor setzt voraus, man werde nicht bei dem stofflichen 
Inhalt der Verse stehn bleiben, sondern sich zu dem darin ent- 
haltenen allgemeinen Gedanken erheben, dass wer in Etwas aus- 
gezeichnet sey , es auf die beste Weise auch gern thun werde ; diess 
setzt das »Daher« voraus, mit welchem er fortfllhrt. Wie die 
Angeführten alle je in etwas Besonderem sich auszeichnen , so der 
heilige Mensch darin, dass er andern Menschen beisteht, sie errettet, 
ihnen hilft (kieü) ; und weil er diess versteht und gern thut , darum 
verlässt er Keinen, stösst er Keinen ztuück (Mi), Denn jene htilf- 
reiche Barmherzigkeit ist »immer« seine Gesinnung tmd erstreckt sich 
nicht bloss auf die Menschen , sondern auf jedes lebendige Wesen. 
Es ist diess eine Eigenschaft aller edlen Gemüther, und wenn 
Laö-ts^ sie als solche erwähnt, so ist er weit entfernt von der super- 
stitiösen gesetzlichen Fordenmg ähnlicher Rücksichten gegen die 
Thiere» wie sie der Buddhismus infolge des Dogmas von der Seelen- 
wanderung aufstellt. 



138 ; 

^) St m^ übersetzt Julien durch dauöUmetU Iclairiy Chahner^ 
durch comprchinsive inteUigefue; beide beziehen m£n^ (»Licht, Gla2i2, 
leuchten, glänzen, erkochtet, klar, einsichtig« etc. auf die innerlkhe 
Beschaffenheit des heiligen Menschen. AHein gerade das äusBerliche 
Verhalten in allgemeiner Hülfserweisung wird so genannti und ming 
bezeichnet daher dieses als ein von ihm ausgehendes Lichte als ein 
»Leuchten«, durch wdches er Klarheit verbreitet. Das adverbiale s^ 
unterstützt diese Auffassung. Ursprünglich heisst es »ein Doppel^ 
kleid , Obergewand , auch Pelzkleid« ; davon dann »hinzukcnnmend, 
zufällig, auch doppelt«; aber auch «von angenehmem Äusseren, 
schön« (Uchhüng-mti; 577 — 8186). In diesem Sinne ward über- 
setzt »herrlich leuchten«. 

^) Der Heilige wird hier der gute Mensch, schin sfht, genannt, 
sowol um ihn als den, der Andern zu helfen iahig und wiDig ist, wie 
auch als den tugendlichen im Gegensatze zu dem Nichlguten, Nicht- 
tugendlichen , pu schin sjiHf zu bezeichnen. Weil er dadurch so 
herrlidi leuchtet, dass es auch Andern vorleuchten und einleuchten 
muss, »drum« hat er den Beruf, des Nichtguten Erzieher (sihl oder 
ssiy Führer, Aufseher, Lehrer, Meister) zu seyn. Dieser hinwieder 
ist des Guten »Schatz«, Reichthum, Gut, welches er, um seinen 
höchsten Beruf, den der Menschenveredlung, zu erfüllen, gebraucht, 
welches ihm dazu nützt und hilft ; denn in diesem Sinne wird tse^ 
Reichthum, Schatz, bald durch /i^n;^ (6164) »gebrauchen«, bald 
durch t$ü (874) , »helfen, nützen« erklärt. Der Gedanke an sich ist 
klar tmd von der höchsten ethischen Würde. 

^) Wird das natürlich gegebene Verhältniss zwischen dem, der 
zum Leiter und Erzieher Anderer geeignet ist, und denen, die 
seiner Leitung und Erziehung bedürfen , gegenseitig erkannt und 
anerkannt, so entwickelt sich darin die schönste persönliche Be- 
ziehung; emporsteigende Ehrerbietung und herabsteigende Liebe 
begegnen einander und g^ade dadurch wird der Zweck jenes Ver- 
hältnisses gefördert, ja es beruht darauf seine Eireichong. Deshalb 
ist es grosse Verblendimg, es an jener Ehrerbietung und Liebe 
mangeln zu lassen, und die Idügste Belehrung und die klügste Auf« 
nähme derselben wiegen diesen Mangel nicht auf. 

^) »Das heisst«, scMwiiy bezieht sich natürlich nicht auf den 
letzten Ausspruch, sondern auf den ganzen Inhalt des Voraus- 



— 139 

gegangenen. Dass der heilige, der gute Mensch Allen helfend ent- 
gegenkommt, sich als Erzieher des ihm dazu unentbehrlichen nicht- 
guten Mensdien betrachtet, sich ihm liebevoll zuwendet, und 
wiederum, dass der noch nicht Gute sich als Zögling des Guten 
ansieht, und ihn als leitenden Meister ehrt, das heisst — jdo miäo; 
jäOf »erwünscht, wichtig, bedeutsam , von grossem Interesse«, weil 
dadurch das Heil des Einzehien wie der ganzen Gemeinschaft er- 
wirkt wird; »tido^ »geistig, herrlich, wundersam«, weil so der heil- 
samste Zustand Aller auf durchaus geistigem Wege, durch das 
reinste sittliche Mittel, in der eddsten Weise herbeigeführt wird. 



Achtundzwanzigstes Kapitel. 

»Wer seine Mannheit kennt, an seiner Weib- 

heit hält, 
Der ist das Strombett aller Welt. * 
Ist er das Strombett aller Welt: — 
Die State Tugend nicht entfällt, 
Und wieder kehrt er ein zur ersten Kindheit. '^ 

Wer seine Helle kennt, sich in sein Dunkel 

hüllt, 
Ist aller Welt ein Musterbild. -^ 
Ist er der Welt ein Musterbild : — 
Die State Tugend bleibt sein Schild, 
Und wieder kehrt er ein in's Unbefangne. * 

Wer seine Hoheit kennt , und hält Demüthi- 

gung, 
Ist aller Welt Thalniederung. 
Ist er der Welt Thalniederung : — 
Dann stäter Tugend ists genung, 
Und wieder kehrt er ein zur ersten Einfalt.« * 

Die Einfalt wird zerstört und dann wird man brauch- 
bar. Wendet der heilige Mensch sie an , dann wird er 
der Amtleute Oberster; denn er regiert grossartig und 
verletzt nicht. ® 



*) Die angeflihrten Verse theilen sich in drei Strophen, weldie 
denselben Gedanken in symmetrischer Form von verschiedenen 



141 

Seiten beleuchten und so einander gegenseitig erläutern. Das Ganze 
nimmt sich in der Verdeutschung kaum fremdartiger aus, als im 
Grundtexte. Um es richtig zu fassen, beachte man, dass La6-ts^ in 
diesem und den nächsten Kapiteln das Verhalten des^ Heiligen in 
öffentlichen und Reichsämtem bespricht. Hier erfahren wir, weshalb 
gerade er der Geeignetste für sie ist. Denn von ihm reden die drei 
Strophen. Was der erste Vers (der auch in zweie getheilt werden 
könnte) unter der Männlichkeit und Weiblichkeit verstehe, erläutert 
Kap. 6i, wo es heisst : »Ein grosses Land sey — des Reiches Weib; 
das Weib überwindet immer mit Ruhe den Mann : mit Ruhe ist es 
unterthana. So haben wir auch hier die Weiblichkeit als ruhige 
Herablassung und dienende Hingebung zu fassen , dem gegenüber 
die Männlichkeit das herrscherliche Ansehen wäre , und es ist also 
von dem die Rede, der gebietende Autorität besitzt und sich deren 
bewusst ist (tscht)j gleichwol aber daran festhält (es bewahrt, scheu) f 
allhülfreich Jedermann unterthan zu seyn. Diess setzt aUerdings 
voraus, dass die Seele eine Androgyne ist, welche die beiden in ihr 
verknüpften Prinzipe harmonisch entwickelt hat und bethätiget ; was 
denn auch in den Worten des Verses liegt. Wer demgemäss nun 
sich erweist, von dem heisst es, »er ist aller Welt Strombette«, d. i. 
Alles strömt bei ihm und um seinetwillen zusammen, ordnet 
und richtet sich nach ihm und erkennt seine Autorität an. Vgl. 
Kap. 66. 

^) In allen drei Strophen bildet der dritte Vers einen bedingen* 
den, der vierte einen bedingten Satz , und der fünfte sagt die Folge 
dieses Verhältnisses aus. Der dritte Vers spricht die Voraussetzung 
aus , dass eingetreten sey , was der zweite Vers dem im ersten ge- 
schilderten Verhalten verhiess, wiederholt ihn im Grundtext daher 
wörtlich. Wer also , sagt die erste Strophe , dergestalt »aller Welt 
Strombett« geworden, oder wie wir in einem verwandten Bilde sagen 
würden, bei aller Welt unwiderstehlichen Einfluss gewonnen, den 
wird auch, weil diess auf jenem Verhalten beruhet, die State 
(tschhäfigi die beständige, unveränderliche) Tugend nicht verlassen, 
und da er vermöge ihrer immer das Rechte trifft und thut, ohne zu 
wählen und zu reflectiren, so heisst es, »er kehrt wieder tun in erste 
Kindheit«, er ist wie ein ebengeborenes Kindlein, d. h. (vgl. Kap. lo 
und 55) er kann ohne Furcht und Begierde in ruhiger Unschuld die 



141 

karmomsche Fülle seines Wesens darleben und erreicht dennoch 
den Zweck seines Daseyns. 

^) Pt ist das Weisse y Helle, Hervorleuchtende, he das 
Schwarze, Dunkle, Unscheinbare. Wer, sagt der Dichter, sich be- 
wusst ist, dass er hervorleuditet , und doch seine Dunkelheit, seine 
Unscheinbarkeit bewahrt, wer also hohe Vorzüge besitzt als besässe 
er sie nicht , dessen Erscheinung macht den tie&ten Eindruck und 
regt am meisten zur Nachfolge an ; darum ist er »aller Welt Muster- 
bild«, und Jeder richtet ^ch nach ihm. 

^) Hier zwang der Reim zur Ungenauigkeit. Tschhän^ ie p& 
tki heisst wörtlich : »Die beharrliche Tugend irrt nicht« , geht nicht 
fehl, *d. h. sie erreidit das Ziel; und daher kehrt der, welcher 
glänzende Vorzüge unter unscheinbarem Äussern bi^, wieder 
zurück zum wü B^ wörtlich »Nichthaben Gipfel, Höchstes oder 
Spitze« etc., womit offenbar ein Zustand gemeint ist , in weldiem es 
für ihn kein Äusserstes , kein Ziel giebt , er also kein Streben und 
Trachten keant , absichtslos und unbefangen ist Dass der Dichter 
dabei die Unbefiangenfaeit der Kindheit im Sinne gdiabt , ergid>t 
der Ausdruck: »er kehrt wieder zurück«, fti kuH; denn diess setzt 
voraus, dnas er in jenem Zustande sdson gewesen sey. 

^) J^^ ^ »Henrlichkeit^ Blüdie, Ehre, hoher Rangt, und um 
die beiden letzten Begriffe zn bezeichnen, wurde der Aosdnick 
»Hoheit« gewählt ; sfü\^X dasGegentheil: Geringschätzung, Schmach, 
Erniedrigung. Vi& sich geehrt und efarenwesth weiss , und dabei 
seine GeringaBchätenng bewahrt, sich demüdxiget, dem eilen Alle zn, 
wie die G^ewässtr den Thale , weshalb er , mit gleich kühner Wen- 
dung ine in der ersten Strophe, aller Welt Thalgnmd gensomt wird. 
Ist er dos geworden, so ist darni (näi) seine Tugend genügend, aus- 
langend (eigentlidi »Hissend« , tsu) i sie erweist fäxSä aus ausreichend 
fttr seine Bcstinnniing. Und nun kdnt er wieder zurück jü pABy 
eigendidi in's »Rohholz«, in dcnZusland ursprttngüdier, natttdidier 
Einfeit (vgL Kap. 15 und 19^). E>as Wort wird eben so oft in über- 
tragener ah etgendicher Bedeutung gebraucht, tmd die sogleich 
fdgende Wcndtmg lonüpft an diesen Dktppelsinn. — Ein eigentlicher 
FoBtBchritt ist in den drei Strophen nidit. Sie sagen : wer in aller 
Weise ausgezeichnet ist utkl sich dessen dennoch entsehlägt, wird 
allgemeine Autorität werden , und wird er diess , so bewährt sich 



r 



— 143 — 

darin sein Können und Wollen des Guten, seine Tugend ; dann darf 
er nur kindlich, absichtlos und natürlich gerade vor sich hinausleben. 
*) Was nun La6-ts^ hinzufügt , ist schwierig und die Ausleger 
suchen Tiefes hinter den einzelnen Sätzen ohne ihren Zusammenhang 
zu erkennen. Nach ihnen übersetzt Julien den ersten Satz : p^ sän 
oli wH khij durch : Quand la simpÜcUi parfaiie (le Tao) s'esi ripanduiy 
eile a formi les itres; und Chalmers: TAis SimpHcity (the primary 
existence) is whai^ being distrünäed^ becames (all the) vessels (forms of 
existence in the universe). Aber man fragt, wie ein solcher Gedanke 
hierher komme, und was er hier solle ? — Pho folgt so unmittelbar 
und ohne sonstige Bestimmung auf das /^^y womit der letzte Vers 
schliesst , dass es hier nur denselben Sinn haben kann wie dort , wo 
es die Gedankensymmetrie der Strophen mit der Kindlichkeit der 
ersten und der Unbefangenheit der zweiten Strophe zusammenstellt, 
so dass es (im übertragenen Sinne) nur die Einfalt, die unver- 
künstelte Natur der Menschen bezeichnen kann, also auch hier 
ebendieselbe anzeigt. Steht aber diess fest, so ergiebt sich das 
übrige von selbst. Nur ist das reizende Sinnspiel zu beachten , wie 
Laö-ts6 hier die eigentliche und uneigentliche Bedeutung der Wörter 
durcheinander schimmern lässt, denn es heisst ebensowol : »Rohholz 
wird zertheilt (zerstört) und dann wird es Werkzeug«, als: »Die Ein- 
falt wird zerstört (vernichtet) und dann wird sie Brauchbares« ; — 
denn khi^ Gefass, Werkzeug, bedeutet auch überhaupt etwas Brauch- 
bares , und wird häufig von Menschen in diesem Sinne gesagt. Der 
Sinn , wobei Bild und Anwendung ineinanderfallen , ist also , des 
Menschen ursprüngliche Einfalt und Natürlichkeit werde und müsse 
erst zerstört und künstlich zugerichtet werden, damit er zu bestimm- 
tem Zweck (im Staate, wie das Folgende zeigt) ein brauchbares 
Werkzeug werde. Der Heilige aber wendet gerade seine einfache 
Natürlichkeit (pho) an; denn die Worte sching sjtnjüng tschi dürfen 
schwerlich anders aufgefasst werden , als dass jüng^ »gebrauchen, 
anwenden«, als Activum von sching sjtn , »der heilige Mensch«, ab- 
hängig ist, und das Pronomen tschJ sich ajifpho bezieht. Und da der 
causale Schlusssatz logisch zwischen den durch das nachfolgende tsCf 
»dann« , angezeigten bedingenden Satz und den mit diesem tse be- 
ginnenden hineinfallt , so erhalten wir den Sinn : Bedient sich der 
heilige Mensch seiner reinen unverkünstelten Natur, — was zur 



144 



Folge hat, dass er in grossem Sinne regiert und Niemand bedrückt, — 
d^nn wird er eben hierdurch der Beamten Oberster. Wir würden, 
etwa so sagen : Staatsmänner von wahrer Grossheit, die immer auch 
eine sittliche ist , wie überhaupt grosse Menschen , erweisen sich als 
solche nicht durch das Erlernte, Angeeignete, was Allen zugänglich 
ist, sondern durch ihre geniale Ursprünglichkeit, durch das An- 
geborene, dessen Gewalt bei aller Milde, Anspruchslosigkeit und 
Demuth die Menschen beherrscht, und sie von selbst über die 
Minderbegabten emporhebt. 



Neunundzwanzigstes Kapitel. 

Wer da trachten würde das Reich zu nehmen und 
es zu machen, wir sehen ihm nicht gelingen. Das Reich 
ist ein geistig Gefäss, es kann nicht gemacht werden. 
Der Macher zerstört es, der Nehmer verliert es.^ Denn 
ein Wesen — 

»Bald geht es vor, bald folgt es nach, 
Bald bläst es warm, bald kalt darein, 
Bald wird es stark, bald wird es schwach. 
Bald steigt es auf, bald stürzt es ein.« 2 
Daher der heilige Mensch meidet das Übersteigen, 
meidet die Überhebung, meidet die Grösse.^ 

*) Bei diesem und den nächsten Kapiteln wolle man sich er- 
inneni, was in der Einleitung über die damaligen politischen Zu- 
stände des Mittelreiches bemerkt ist, wie die Reichsfürsten einander 
bekriegten ohne sich um den Kaiser zu bekümmern, ja auch wol 
gegen ihn ihre Heere führten, wie zu diesen Übeln noch heftige, ja 
blutige Thronstreitigkeiten in der kaiserlichen Familie selbst kamen. 
Laö-ts^ konnte aus Erfahrung von solchen reden, die da »trachten 
würden das Reich zu nehmena. Bei seinen nahen Beziehungen zum 
Kaiserhofe mochte er unter den Prätendenten auch Männer gefunden 
haben, welche die Uebelstände der Zeit und die Schwäche der Kai- 
sergewalt vermeinten durch Abänderung der Reichsverfassung, neue 
Regierungsgrundsätze, selbstersonnene Einrichtungen imd gewalt- 
thätiges Auftreten zu heilen. Das waren diejenigen, und vielleicht ge- 
hörte der Kaiser Kfng-wäng selbst zu ihnen, welche zugleich (BU) 

10 



146 

trachten würden, das Reich zu »machen«. (Denn wH tschly »machen 
es«, hängt noch von tsiäng jüy »würde trachten oder begehren«, ab.) 
Solchen aber verheisst Laö-ts^, und wol auch im Hinblick auf Er- 
fahrenes, dass sie ihr Ziel nicht erreichen würden. (Pü fe t heisst ge- 
wöhnlich, »nicht anders seyn können, unvermeidlich seyn«. Da diess 
hier dem Sinne widerstrebt, so hat man angenommen, i sey Final- 
partikel, wie es auch sonst vorkommt. Ich vermuthe, dass jene Re- 
densart hier im alten genaueren Sinne steht : »er kann es nicht zu 
Ende bringen«.) Als Grund jenes JMisslingens führt unser Denker 
eine tiefe politische Wahrheit an. Erkennt man, dass der Staat, und 
in höherer Ordnung ein Reich, ein geistiges Organon, ein Gefass 
(khi) des Geistes sey, das man nicht machen könne, so wird es 
weder doctrinäre Verfassungsmachereien noch rechtlos-gewaltsame 
Reichsmachereien geben. Die Geschichte China's bestätigte nach 
wenigen Jahrhunderten im grossartigsten Massstabe die Aussprüche 
unseres Denkers. Der altchinesische Volksgeist verlangte zu seiner 
vollen Entfaltung die Selbständigkeit der Stämme unter eignen Für- 
sten, die sie verbürgten, innerhalb einer starken Reichseinheit, wi- 
derstrebte daher ebenso einer Zersplitterung in unabhängige Staaten, 
wie einer einheitsstaatlichen Uniformität. Dieses Geistes Organ war 
das wolgegliederte Reich, und solange es bestand, sehen wir den chi- 
nesischen Geist in mannigfaltigem kräftigen Aufstreben. Mit eintre- 
tender Zersplitterung beginnt er zu retardiren und zieht sich in's 
Innerliche zurück. Nun treten die verschiedenen Philosophen auf, 
Khüng-ts^'s naturalistischer Rationalismus greift um sich und zer- 
stört vollends den alten Glauben, den die Taö-Philosophen verge- 
bens neu zu beleben suchen. Indess verfallt das Reich immer mehr, 
bis es im dritten Jahrh. v. Chr. einem mächtigen Vasallenkönige ge- 
lingt, die Kaiserwürde an sich zu reissen, und seinem Sohn durch 
Talent, Tapferkeit und rücksichtloses Hinwegschreiten über alle be- 
stehenden Rechte gelingt, ganz China in einen centralisirten Ein- 
heitsstaat zu verwandeln. Eine Dynastie zu gründen vermochte er 
nicht, - — denn wer das Reich nimmt, verliert es. Aber es war ein 
»Machen«, welches das Reich zerstörte, indem es nun aufhörte, Ge- 
fass altchinesischen Geistes zu seyn, der alsbald zu stocken begann, 
nach und nach erstarrte, und endlich zu dem ward, was er jetzt ist, 
andern Völkern ein warnendes Beispiel. — Denn jene Form des 



147 

Gemeinlebens, die wir Staat und in höherer Gliederung Reich nen- 
nen und die weder ein Erfundenes noch Verabredetes ist, sondern 
als Thatsache all ihrer Erkenntniss zuvorkommt, — sie ist die uner- 
lässliche Vermittlerin der Entwicklung des Gesammtgeistes flir eine 
Vielheit von Menschen. Hat er sich aber durch diess Organon und 
durch dessen ihm entsprechende Gestaltung einmal herausgesetzt, so 
ist er weit umfassender und inhaltreicher, als der einzelne Verstand 
begreifen und erschöpfen kann. Dasselbe Organon dann dient wie- 
der dazu, das Individuum mit dem Gesammtgeiste zu vermitteln, 
jenes über seine Beschränktheit hinaus zu steigern und es in's Grosse, 
Ganze und Rechte zu erheben, diesen in mannigfaltiger Personifica- 
tion auseinanderzulegen. Da aber dieser Geist des Ganzen keine 
Individualität ist und daher nicht mit sittlicher Freiheit verfahren, 
sondern sein Organon nur wie in einem unbewussten Naturprozesse 
gestalten kann, so muss er hierin um so ungestörter sich selbst über- 
lassen bleiben, als auch das mächtigste Individuum nicht im Stande 
ist, eine entsprechendere Form zu erfinden und ihm aufzudrängen ; 
daher der genialste Staatsmann nichts Grösseres thun kann, als das 
Urbild der von dem Gesammtgeiste herausgesetzten oder angestrebten 
Form zu erkennen und ihm zur möglichst adäquaten Darstellung zu 
verhelfen. Jeder anderen selbstersonnenen und selbstwüligen Ma- 
cherei undThuerei im Regiment sich zu enthalten, das ist dasNicht- 
Thun und Nicht-Machen, worauf La6-ts^ dringt Einer solchen, 
dem Gesammtgeiste widerstreitenden Thätigkeit muss nothwendig 
misslingen : dringt sie durch, so zerstört sie das wahre geistige Or- 
ganon; bemächtigt sie sich dessen, so erweist es sich stärker und 
entledigt sich ihrer. Darum heissts von dem Reiche, als geistigem 
Gefasse : Wer es macht, zerstört es ; wer es nimmt, verliert es. — 

^) Den sich anschliessenden Gedanken lässt der Verfasser wieder- 
um durch citirte Denkreime aussprechen. Die Worte kü woe , »denn 
Wesena, — statt deren sich auch die Lesart fän (7 20) woe^ »jedes 
Wesen« findet — gehören nicht zu den Versen, sie bilden nur den 
Übergang. Ist das ursächliche kü acht, so kann es dem Sinne nach 
nach nur »Denn«, nicht »Darum« heissen, und entspricht genau un- 
serm veralteten »Ursach«. Woe^ als allgemeine Bezeichnung, gestat- 
tet sowol die Beziehung auf das Reich, als auf den, der es bean- 
spruchen und neugestalten wollte : denn von Allem, was Leben, Be- 

10* 



-^ — 148 

wegung, Fortschritt hat, gelten die einzelnen Aussprüche der Verse. 
Sie sind jedesmal getrennt und verbunden durch das Wort hoe^ das 
wir durch »bald« wiedergegeben, und genauer hier »entweder — 
oder« bedeutet. Die aufgestellten Gegensätze der einzelnen Verse 
werden jedesmal von demselben Subject ausgesagt. Wie beim Reichs- 
regiment, so auch beim einzelnen Menschen, folgen einander Wer- 
den und Entwerden, Aufsteigen und Sinken. Dem rüstigen Voran- 
schreiten, der jugendlichen Wärme, dem Erstarken und Völligwer- 
den (so tsäi wörtl.) folgt ermattetes Nachgehen, Erkaltung, Schwä- 
chung, Untergang. Das führt nur aus, was der Vers im folgenden 
Kapitel sagt: »Was stark geworden ist, ergreist,« So wird eine an- 
gemasste Herrschaft, eine selbstersonnene Reichsgestaltung ihre 
Höhe nicht behaupten können ; damit aber auch nicht ihr Urheber. 
Allein die Reime zeigen auch im Allgemeinen die Wandelbarkeit 
aller Dinge, die Vergänglichkeit alles dessen, was in der Welt als 
vorzüglich und wünschenswerth gilt, und daran knüpft die Schluss- 
anwendung. 

^) Waren die Verse durch ein »Denn« eingeleitet, und verbindet 
mit ihnen wieder ein »Daher« diesen Schlusssatz, so kann er nicht 
wol ganz neue, mit dem Früheren nicht zusammenhangende Gedan- 
ken bringen. Solche wären es aber, wenn die drei Dinge, die der 
heilige Mensch meidet, Ausschweifung, Verschwendung und Pracht- 
liebe seyn sollten, wie H6-schäng-küng meint. Die drei Wörter 
schin sehe und ihdi köimen daher nur Bedeutungen haben, welche 
sich auf das Verhältniss des heiligen Menschen zum Reiche bezie- 
hen ; in diesem Sinne sind sie als das Übersteigen (Hochhinauswol- 
len), die Uberhebung über Andre, und das Grossseyn (an Macht und 
Ehren) zu fassen, was sie zunächst auch bedeuten. Sie meidet der 
Heilige, verschmäht sie (kht^). Er weiss, dass ihnen nur Fall, Er- 
niedrigung und Demüthigimg nachfolgen. 



Dreissigstes Kapitel. 

Wer mit Taö beisteht dem Menschenherrscher, 
nicht mit Waffen vergewaltigt er das Reicht Sein Ver- 
fahren liebt zurückzukehren.^ Wo Heerhaufen lagern, 
gehn Diesteln und Dornen auf. Grosser Kriegszüge Folge 
sind sicherlich Nothjahre.^ Der Gute siegt, und damit 
genug; er wagt nicht zur Vergewaltigung zu greifen.* 
Er siegt, und ist nicht stolz ; siegt, und triumphirt nicht; 
siegt, und überhebt sich nicht ;* er siegt, und kanns nicht 
vermeiden ; siegt und vergewaltiget nicht.** 

»Was stark geworden ist, ergreist; 

Und das ist, was man Taö-los heisst. 

Was Taö-los ist, das endet früh.«' 



^) Hätte es scheinen können, als wäre in diesen Kapiteln und 
dem nächsten der Hauptgegenstand ganz verlassen, so erinnern die 
beiden ersten Worte des gegenwärtigen l Tab, daran, dass hier, in 
Satz und Gegensatz, tiberall nur gezeigt wird, was das Einsseyn mit 
Taö (Kap. 23.) beim Menschen bewirke, d. i. wie Taö den mit ihm 
geeinigten Menschen bestimme. In diesem Sinne spricht Laö-ts^ 
hier und in dem nächsten Kapitel, des unter zahllosen Fehden und 
Aufständen leidenden grossen Reichs gedenkend, seine tiefe Abnei- 
gung gegen Waffengebrauch und Krieg innerhalb desselben aus. In- 
dem er sich jedoch nicht verhehlt, dass auch der friedliebenste Weise 
im Rathe des Kaisers durch Friedensstörer und Empörer gedrängt 
werden kann, die Waffen zu ergreifen, zeigt er hier, mit welcher 
Zurückhaltung derselbe sich als Sieger benehmen werde, im folgenden 



ISO 

Kapitel aber, wie ungern und zögernd er sich zur Anwendung der 
Waffen entschliessen und nach dem Siege sich dessen nicht freuen, 
sondern weit mehr die blutigen Opfer desselben beklagen werde. 
— »Wer dem Beherrscher der Menschen«, d. i. dem Kaiser, »bei- 
steht« — tsöy zur Seite, eigentlich zur Linken ist, — gehört zu den 
höchsten Reichsbeamten, denen es obliegt, Ruhe und Ordnung zu 
erhalten und wo nöthig herzustellen. Thut er diess »mitTaö«, so thut 
ers »nicht mit Waffen«, und muss er Waffen anwenden, so thut er es 
nicht, um hernach Zwang und Gewalt zu üben. 

2) Was er den Menschen thut, pflegt von ihnen wieder auf ihn 
zurückzukehren; wie er gegen sie verfahrt, verfahren sie gegen ihn. 
Die Betrachtung ist ganz allgemein, und so versteht es auch Khäng- 
hi's W. B. wenn es zu u. St. huän durch tschMng (528), »zurückzah- 
len, heimgeben, aufrechnen« erklärt. Wie dem Wolwollen Wolwollen, 
so pflegt der Waffengewalt Waffengewalt zu begegnen. 

^) Krieg ist dann die Folge und somit die Übel des Kriegs, 
Vernichtung des Landbaues, Verwüstung der Felder, Hungersnoth, 
Krankheiten, Elend aller Art auf Jahre hinaus. Belege sind in Erin- 
nerung. 

^) Schln tschl, »der Gute«, ist, wer mit Taö sein Amt fiihrt. 
Ko heisst ursprünglich »acht, tüchtig, tapfer«, dann sich so erweisen, 
weshalb esKhäng-hi durch schlng (906), »siegen, schlagen« — nehm- 
lich den Feind — und Morrison durch io overcome erklärt. Dass.der 
Gute siegen müsse, ist als selbstverständlich vorausgesetzt. Öll l ist 
bekanntlich eine Redensart, welche einen völligen Abschluss anzeigt, 
wörtlich »und enden«, d. h. und damit ist es zu Ende. Der Gute 
also siegt, und damit ist für ihn der Waffengebrauch abgethan. Er 
missbräucht den Sieg nicht, um zu Gewaltthaten zu greifen und 
Zwang zu handhaben. Ein Mehres dürfte nicht liegen in den Wor- 
ten : pu kän l thsiü khiäng, buchstäblich : »nicht wagt er nehmend 
zu ergreifen Gewalt« oder »Zwang« ; und sicherlich gehen die Aus- 
leger zu weit, welche darin finden wollen, er werde die siegreiche 
Gewalt nicht missbrauchen um sich des Reiches zu bemächtigen, 
wovon hier überall keine Rede ist. 

^) Auch die persönliche Haltung des Guten bleibt ungeachtet 
des Sieges gelassen und bescheiden. Er rechnet ihn sich weder zum 
Ruhme an (woe k'ing)^ noch hält er grosse Einzüge mit Siegesgepränge 



151 

(woefö)y noch zeigt er sich anmassend (woe kiäo). Der Charakter 
für das letzte Wort, aus »Pferd« und »hoch« zusammengesetzt, ent- 
spricht unsrer Redeweise, »sich aufs hohe Pferd setzen«. — 

^) Pu feli wörtlich : »nicht finden zu enden«, heisst hier ; »nicht 
umhin können, nicht vermeiden können« ; indess begreift man, dass 
damit nicht gesagt seyn soll, er könne nicht anders als den Sieg da- 
vontragen, sondern, er siege durch Waffen, weil er nicht anders ver- 
fahren könne ; daher Stan. Julien die Worte öU pü te \ richtig durch 
et ne combat que par necessiti umschreibt. Haben ihn aber auch die 
Gegner zum Kampfe gezwungen, so übt er dennoch nach dem Siege 
keine Gewalt weiter gegen sie aus. Er erobert und annectirt nicht, 
was ihm nicht gehört, erzwingt keine Rechte, die ihm nicht zukom- 
men, und fordert keine Kriegscontributionen ein. 

') Zwischen dem Vorigen und diesem Sinnspruche ist der Ge- 
danke zu ergänzen, dass der, welcher nicht wie »der Gute« verfährt, 
wer also ohne Noth die Waffen ergreift, dann mit seinem Siege 
stolz prunkt und ihn zu Vergrösserungen, Unterdrückung und Er- 
pressung missbraucht, dass dieser zwar Grösse, Ruhm und Macht 
erlangen kann, dann aber unaufhaltsam einem höheren Gesetze ver- 
fallt. Das Letztere sprechen die drei Verse aus, die sich Kap. 55 
wiederholen, l^oe tschudng tse lab heisst wörtlich : ist ein »Wesen 
erstarkt, dann altert« es. Die Zunahme an Grösse und Kraft ist 
selbst schon Beweis jener Wandelbarkeit, womach ihr unvermeidlich 
die Abnahme, das Altem, folgt. Da Taö unwandelbar (Kap. 25), 
mithin ohne Zunahme und Abnahme ist, so folgt, dass dasjenige, 
was zu- und abnimmt, insofern/« tab, Ta6-los, d. h. ungöttlich ist. 
Bei ihm ist deshalb an einen Bestand der erlangten Fülle und Kraft 
nicht zu denken ; kaiun sind diese eingetreten, so tritt sofort auch 
deren Verfall (vgl. Kap. 36), das Altem, das Ergreisen ein. Mit 
dem Taö-losen ist es frühe (tsäo) am Ende. Wer also nicht mit Ta6 
dem Menschenbeherrscher beisteht, geht bald seinem Untergange 
entgegen. Er stieg nur, um desto sicherer zu fallen. Und Gleiches 
gilt von der gewaltsam b^ründeten Macht. 



Einunddreissigstes Kapitel. 

Die schönsten Waffen sind Unglückswerkzeuge, 
alle Wesen verabscheuen sie ; drum wer Taö hat fuhrt 
sie nicht.* Ist der Weise daheim, dann schätzt er die 
Linke; braucht er die Waffen, dann schätzt er die 
Rechte.^ Waffen sind Unglückswerkzeuge, nicht des 
Weisen Werkzeuge. Kann er nicht umhin und braucht 
sie, sind ihm Fried und Ruh doch das Höchste.^ Er siegt, 
aber ungern. Es gern thun ist sich freuen Menschen zu 
tödten. Wer sich freuet Menschen zu tödten, kann seine 
Absicht am Reich nicht erreichen.* — Erfreuliche 
Handlungen bevorzugen die Linke, schmerzliche Hand- 
lungen bevorzugen die Rechte. Der Unterfeldherr steht 
links, der Oberfeldherr steht rechts ; anzuzeigen, er stehe 
wie bei der Leichenfeier. Wer viele Menschen getödtet, 
mit Schmerz und Mitleid bewein' er sie. Wer im Kampfe 
gesiegt, der stehe wie bei der Leichenfeier.* 

1) So verhasst sind dem zarten Sinn unsres Philosophen Streit, 
Krieg und Blutvergiessen, dass er nochmals darauf zurückkommt, um 
das Verhältniss des besseren Menschen dazu noch von andern Seiten 
darzustellen. — Jene schönen Waffen , mit dem sich Fürsten und 
Gewaltige schmücken, auf deren Pracht und Glanz sie halten, die 
man an ihnen bewundert, sie sind im Grunde doch nur Werkzeuge, 
die Unheil verkündigen und anrichten. Lebende Wesen, welche sie 
auch seyen (das ist hier die Bedeutung von hoe) , fürchten und hassen 
sie. Woe hoe auf die Menschen zu beschränken, ist kein Grund. 



153 

Alle Wesen verabscheuen die Werkzeuge, die ihnen Wunden, Schmer- 
zen und Tod zufügen. Weil der, welcher Ta6 hat, ihm auch darin 
ähnlich ist, dass er alle Wesen liebt und erhält, darum braucht er 
die Werkzeuge ihrer Leiden nicht; — pütschhü^ eigentlich : nonstatwi, 

2) Kium tsly ursprünglich »Fürstensohn«, ein Vornehmer, in 
welcher Bedeutung es auch im Schl-king noch vorkommt, heisst im 
allgemeineren Sinn auch der ausgezeichnete, der höhere Mensch, 
der Weise. Kiu^ wohnen, stillsitzen, steht im Gegensatz zMJüngpingy 
die Waffen brauchen, deutet also ein friedliches »Daheimseyn« an. 
Die linke Hand ist die schwächere, die rechte die stärkere, und wir 
kennen bereits Laö-ts^'s Grundsatz, womach in der Schwäche, 
d. h. in der Milde und Nachgiebigkeit, die Stärke des Weisen besteht. 
Ist er in Ruhe daheim, so kann er sie üben, und in diesem Sinne 
»schätzt er die Linke«. Braucht er die Waffen, so ist ihm das ver- 
sagt, er ist genöthigt diejenige Stärke zu zeigen, bei welcher die 
Rechte gebraucht werden muss, und da »schätzt er die Rechte«. 

^) Dem chinesischen Leser musste bei den letzten Worten schon 
die Volkssitte einfallen, welche bei glücklichen Anlässen die linke, 
bei unglücklichen die rechte Seite bevorzugte. Deshalb also schätzte 
der Weise beim Waffengebrauch auch die Rechte, weil er dabei mit 
unheilbringendem Geräth zu thun hat. Das aber ist es nicht, was 
der Weise als solcher handhabt. Kann er es nicht vermeiden {pü fe 
/, vgl. Kap. 30, Anm. 6), so macht er freilich auch Gebrauch von 
den Waffen, — eine Äusserung, welche darthut, dass nicht Weich- 
lichkeit und Mangel an Muth aus Lad-ts6 reden, — aber, setzt er 
hinzu, er schätzt (oder ihm sind, gelten, wii) Ruhe und Friede, 
für ihn und für Andre, höher als alle Waffenerfolge. 

^) Selbst der Sieg ist dem Weisen nicht angenehm, nicht lieb 
(pü mU)j da er durch Blutvergiessen erkauft werden muss. Kriegs- 
und Siegslust sind untrennbar von der Lust an Blutvergiessen, an 
Menschentödtung, und wer diese beweist, »kann nicht erreichen« 
tschi ju thtan hiä, (seine) »Absichten« (in Beziehung) »auf das Reich«. 
Da in dem vorigen und diesem Kapitel, welche eng zusammenhan- 
gen, weder von Königen noch Kronprätendenten, sondern nur von 
Reichsbeamten, Ober- und Unterfeldherm geredet wird, so kann hier 
nicht das Streben nach dem Throne gemeint seyn, sondern über- 
haupt nur das, was ein Solcher rücksichtlich des Reiches beabsich- 



154 

tigt. Er wird im Regiment nichts durchführen können, da jene Ei- 
genschaft ihm die Geraüther entfremdet und sein eigenes Verfahren 
gegen ihn kehrt (Kap. 30.). 

*) Hier erwähnt La6-ts^ die Volkssitte, womach glückliche, er- 
freuliche (JSu) Verrichtungen, z. B. Hochzeiten, die linke Seite, 
unheilvolle, schmerzliche (hiung)^ z. B. Leichenbestattungen, die 
rechte Seite bevorzugen (schdng als Zeitwert »erhöhen, auszeichnen, 
den Vorzug geben«) ; um davon eine andre Anwendung zu machen, 
und zwar auf die fernere Sitte, dass der UnteranfUhrer eines Heeres 
sich links, der oberste Befehlshaber sich rechts aufstellte ; dieser also, 
der eigentlich leitende und verantwortliche KriegfUhrer, wie bei 
schmerzlichen Handlungen, wie bei einer Trauerfeierlichkeit stand. 
Damit, meint er, habe man schon im Voraus das Richtige getroffen, 
denn schon die Absicht, Blut zu vergiessen und Menschen zu tödten. 
sey zu betrauern. Sey es nun aber geschehn, habe der Feldherr ge- 
siegt und also eine grosse Menschenmenge getödtet, so solle er sie 
nun auch, wie bei einem wirklichen Leichenbegängnisse, mit Be- 
trübniss und Mitleid beweinen. Laö-ts^ verlangt eben nur die ächte 
Menschlicheit, welche die Lust am Siege gar nicht aufkommen lasse 
vor dem Schmerze, dass man so Vielen habe Jammer und Tod bereiten 
müssen. Daher verhiess er in den vorigen Kapiteln dem wegen sei- 
nes ungöttlichen Verfahrens ein baldiges Ende, der nicht aus Unver- 
meidlichkeit, sondern etwa aus Eigennutz, Machterweiterungsgelüsten 
und Übermuth die Waffen ergreift, dann als Sieger sich in stolzen 
Triumphzügen brüstet, die Besiegten vergewaltiget, und so ein Reich 
machen und nehmen will. — Damit der Sieger nach unvermeidlichem 
und gerechtem Kampfe aber nicht vergesse , seine blutigen Gross- 
thaten zu betrauern, so soll er auch dann zur Rechten, d. i. wie bei 
Trauerfeierlichkeiten stehn. Denn ohne Zweifel ist dies nicht, wie 
H6-schäng-küng glaubt, alte Sitte gewesen, sondern tschhü ischt (er 
stehe — ischt ist hier Zeichen des subjectiven Verbums) muss hier, 
wie das vorangehende khi tschi (er beweine sie) als Jussiv genommen 
werden. 



ZAveiunddreissigstes Kapitel. 

Taö , der Ewige , hat keinen Namen. Seine Ein- 
fältiglichkeit , so zart sie auch ist , die ganze Welt wagt 
nicht sie dienstbar zu machen. * Wenn Fürsten und 
Könige sie vermöchten zu halten, alle Wesen würden 
von selbst huldigen, Himmel und Erde sich vereinigen, 
erquicklichen Thau herabzusenken ; das Volk, Niemand 
geböte ihm , und von selbst wäre es rechtschaffen. *^ — 
Der da anhebt zu schaffen, hat einen Namen. ^ Ist der 
Name denn bereits da, so wolle man auch anzuhalten 
wissen. Wer anzuhalten weiss, ist dadurch ausser 
Gefahr. Ähnlich ist Taö's Seyn in der Welt, wie Bäche 
und Flüsse, die zu Strömen und Meeren werden.* 



') In diesem Kapitel wird wieder das Centrum der ganzen 
Erörterungen in den Vordergrund gebracht , während zugleich der 
bisher behandelte Stoff weiter entwickelt wird. Denn war gesagt 
worden , das Reich , als geistiges Gefsiss , sey mit Ta6 zu leiten, 
nicht mit Waffen zu zwingen , an welche sich nicht halte , wer Taö 
habe , tmd war diess von der verneinenden Seite ausgeführt , so soll 
nun dargelegt werden , wie mit Ta6 der Reichszweck ohne Gewalt 
erreicht werde. Deshalb wird zunächst auf die absolute Gottheit 
zurückgegangen , auf den Einen , der da ist, und ewiger Weise ist, 
vor und über seinem Taö- oder Gott-Seyn. Denn in den Worten 
Taö ischh^fig steht tschhäng im Appositionsverhältnisse: Taö, 
welcher oder sofern er ewig ist. Diese Auffassung folgt aus den 
Anfangssätzen des i . Kapitels. Als der eine Absolute ist er mehr 



156 

denn Taö , obwol noch nicht Taö — oder Gott , denn wir können 
hierbei unsre Bezeichnung imbedenklich substituiren. In seiner 
reinen Absolutheit ist er erst der , welcher Gott seyn kann. Denn 
nicht sich ist er Gott , sondern der Welt , und erst sofern er diese 
gesetzt hat , ist er Gott für und bei sich selbst und kann Gott (Taö) 
heissen. Es ist daher richtig, wenn man gesagt hat, Gott sey ohne 
Welt nicht zu denken; denn so ist er nicht als Gott zu denken, 
sondern nur als das ewige , absolute Seyn ; welches Seyn aber nur 
dasjenige ist , was sich zu seinem Gottseyn als Überseyn , und mit 
demselben verglichen als Nicht-Seyn darstellt. Und insofern ist er 
»ohne Namen«. Nicht , weil dann erst , wenn er die Welt gesetzt, 
Wesen vorhanden gewesen wären , die ihn hätten nennen können ; 
sondern weil er damit erst Gott (Taö) ist, und daher mm erst so 
genannt werden kann. — Aber auch als der rein Absolute ist er 
ewig, und hat es zu seyn nicht etwa deshalb aufgehört, weil er auch 
Gott geworden ist ; vielmehr auch nach seiner Ursprünglicbkeit und 
in seiner ersten Wesenheit, seiner »Einfaltiglichkeit« (pAo, vgl. 
Kap. 28 , Anm. 5) umfasst und durchdringt er fortdauernd Alles. 
Diese seine Einfaltiglichkeit (aicXoT7j(;) , das was er gleichsam zuerst 
von Natur ist, ist zwar »zart« (siäo = klein, fein, wenig etc.), allein 
in dieser verschwindenden und imerfasslichen Zartheit ist sie doch 
Weltgrund und Weltursache — denn sie bestimmte sich dazu, die 
Welt zu setzen und Gott zu seyn — und ist daher so gewaltig und 
erhaben, dass »die ganze Welt« sich nicht herausnimmt, »nicht 
wagt« (pu kän) y »sie dienstbar zu machen« , d. h. sich über oder 
gegen sie zu erheben , vielmehr , was hinzuzudenken ist , sie in aller 
Weise ehret imd ihre Wolthat preiset (Kap. 51). — P& kän ist die 
richtige Lesart, die auch Julien aufgenommen hat, obgleich er nach 
der verworfenen: mu ntngj übersetzt: ne pourrait. TschJdn^ 
»Minister , Diener , Unterthan« , heisst als Zeitwort »dienstbar oder 
unterthänig machen, binden, unterwerfen«. — 

2) Heuy »Fürsten«, bezeichnete im damaligen China eigentlich 
nur die zweite Rangklasse der Reichsfürsten , steht jedoch hier im 
weiteren Sinne für alle , welche unter dem Kaiser , der während der 
Tscheu-Dynastie sich wängy »König« nannte , regierten. Nach den 
Worten heu wäng sß ning scheu (»Fürsten, Könige wenn vermöchten 
halten«) liest Hö-schäng-küng das Pronomen tschly und jedenfalls ist 



157 

dasselbe hinzuzudenken. Die Ausleger halten Taö fiir das Object 
von scheu 9 welches »festhalten, halten, wahren, hüten« etc. heisst; 
genauer ist es jedoch fhoy d. h. das Absolute in seiner ursprüng- 
lichen Einfachheit. Denn nicht diesem , wie so eben gesagt wurde, 
kann sich die Welt widersetzen, noch seiner unbedingten Herrschaft 
entziehen , wol aber kann es die freie Creatur Gotte als Gotte ; und 
wenn also, sagt Laö-tsd, die Regenten sich und ihr Verfahren in der 
Einheit mit jenem zu erhalten und zu erweisen vermöchten , dann 
würden sie eine eben so unmerkbare , aber unwiderstehliche Macht 
ausüben, zum äussern und innem Heile der Welt ; Alles würde ihnen 
»huldigen«, //«, ihnen in freudiger Ergebenheit gleichsam gasdich 
entgegenkommen, und zwar tsi, »von selbst«, ohne irgend eine 
äusserliche Nöthigimg ; sogar die grossen Weltmächte, Himmel und 
Erde, würden das in ihnen sich manifestirende Göttliche freudig 
erkennen und Segen über die Lande ergiessen , — denn was sonst 
hinter und über der Creatur verborgen ist, würde nun innerhalb 
derselben zur Erscheinung kommen ; und die Regierten , von der 
überwältigenden Macht dieser Erscheinung erfasst und fortgezogen, 
würden ohne Verbote und Zwangsbefehle der Oberen »von selbst«, 
freiwillig »rechtschaffen« , integer und gleichgesinnt seyn und han- 
deln. — Denkt sich der chinesische Volksglaube nicht bloss die 
Zustände der Bevölkerungen , sondern aucli Gunst und Ungunst der 
Natur abhängig von dem sittlichen Verhalten des ELaisers , so wird 
diess von Laö-ts^ auf seinen vernünftigen Gehalt zurückgeführt, 
indem er zeigt, wie der Gottheit Alles unterthan sey, imd das 
lebendige Verhältniss der Regierenden und der Regierten zu ihr in 
organischer Wechselbeziehung untereinander , dann aber wieder zu 
der Natur stehe, welche sowol auf die Herstellung als auf die 
Störung der geforderten göttlichen Harmonie entsprechend zurück- 
wirke. Denn — fiigen wir hinzu — die Obrigkeiten haben einer- 
seits das Göttliche im Staate als von Gott her zu vertreten , ander- 
seits-reflectirt sich in ihnen nothwendig der ethische Zustand des 
Volks im Ganzen , so dass in der Wirklichkeit eins durch das andre 
bedingt wird, und sie nach dem Gesammtresultate auch als die 
Repräsentanten der Volksverantwortlichkeit anzusehen sind. — 

^) Hatte Laö-ts^ oben den absoluten Grund der Gottheit Taö 
genannt, so musste er doch diesen Namen sofort wieder zurück- 



158 

nehmen (wu ming). Denn Taö- oder Gottseyn ist ein Prädicat des 
Absoluten, welches von ihm nur insofern auszusagen ist als er nicht 
bloss überhaupt Ist, sondern als Gott ist, welches, wie wir Anm. i 
sahen, der Weltsetzung correlat ist. Er kann also den Namen nur 
haben , sofern er Schöpfer ist, und dass Laö-ts^ sich in der That zu 
diesem Gedanken der Schöpfung durch Gott erhoben , dass in den 
betreffenden Stellen Kap. 21 und 25 nichts anders gesagt sey, be- 
stätigen hier die Worte sM tschl. Die chinesischen Ausleger hatten 
diesen Begriff nicht, weshalb Julien diese Worte wiedergiebt durch : 
dts gue le Tao sefut divisi; und Chalmers umschreibt sie durch : If 
he should ever hegin to regulate things (tuäh distincüans of names) und 
scheint sie auf heu wäng zu beziehen. — Schi tschl ist das Satz- 
subject, entweder so dass Letzteres nur in dem seht liegt, und tschi 
von diesem abhängig ist , oder so dass beide Zeitwörter es enthalten 
und copulativ stehen. Schi aber heisst »anfangen, anheben, be- 
ginnen« — wie auch Kap. i der Namenlose »Himmels und der 
Erde schly Anfang«, Urgrund, genannt wurde. (Als Zeitwort 
wechselt schl den Accent.) Tschi heisst ursprünglich »ausschneiden, 
zuschneiden« und sein Charakter war in der älteren Gestalt aus den 
Zeichen für »hoch«, »Umfang« und »schneidendes Werkzeug« zu- 
sammengesetzt, wovon der jetzige nur eine Abkürzung ist. Abge- 
leitete Bedeutungen sind dann : »zurechtmachen , ordnen , regieren, 
machen, erschaffen«, -ssz tsäo (11,078). Ganz ähnlich heisst 
tschhudng eigentlich »schneiden, verwunden«, dann auch »erschaffen^ 
ursprünglich hervorbringen« , und die chinesische Bibelübersetzung 
giebt das »schuf« i . Mos. i , i durch ischhuöng tsäo wieder , was 
fast genau übereinstimmt mit unserm schi tschi. (Merkwürdig ist es, 
dass auch das ebräische tt'l^ ursprünglich »zuschneiden, aus- 
schneiden, aushauen« und auch die altbaktrischen Wörter für 
Erschaffen, thwerezy sowie kerent^ zuerst »schneiden« heissen. In all 
diesen Sprachen scheint die Wortbezeichnung von dem Abscheiden 
und Setzen der Begränzung ausgegangen zu seyn.) Schi tschi heisst 
demnach »der da anfängt zu schaffen« oder »der da anfkngt und 
schafit«, mit Einem Worte »der Schöpfer«. Und Dieser erst »hat 
einen Namen« , nehmlich den Namen Taö oder Gott , weil er nun 
erst durch sein Verhältniss zu dem Geschaffenen das ist , was dieser 
Name aussagen soll. 



159 

*) »Weil der Name denn nun da ist«, d. h. der Unerkennbare 
sich erkennbar, der Unnennbare sich nennbar gemacht und der 
Überseyende ein Seyender und in der Welt Seyender geworden, »so 
wolle man (tsiäng im Jussiv) auch wissen anzuhalten«, stehnzu- 
bleiben, nehmlich bei ihm, dem Namenhabenden, der sich als Taö, 
als Gott manifestirt ; man soll nicht auch noch in die Tiefen des 
Namenlosen einzudringen versuchen. Denn hierin erkennt unser 
Denker eine Gefahr, der man entgeht, wenn man dort anzuhalten 
weiss. Welche Gefahr diess sey , wird nicht näher angedeutet. Zu 
vermuthen ist wol , dass er das Gefährliche solcher theosophischen 
Speculationen, die sich zu tief in das Urseyn der Gottheit eindrängen 
wollen , erkannt habe und davor warnen wolle. Auch scheint der 
Schlusssatz dahin zu deuten. »Taö's Seyn in der Welt« (tsdithian 
hih) ist an seinen Werken und Schickungen und seinem sittlichen 
Wirken in den Menschen erkennbar und fasslich, und es gleicht dem 
Ausquellen und Fliessen der Flüsse und Bäche. Wie diese all- 
mählich zu Strömen und Meeren werden, so wird der, welcher Taö 
zu erkennen sucht und sich an das Erkennbare imd Fassliche hält, 
dasselbe zu einem immer grösseren Ganzen zusammenfliessen sehen. 
Vom Zurückkehren der Wesen in Taö ist hier gar nicht die Rede. 



Dreiunddreissigstes Kapitel. 

Wer Andre kennt, ist klug ; wer sich selbst kennt, 
ist erleuchtet.* Wer Andre überwindet, hat Stärke; 
wer sich selbst überwindet, ist tapfer. ^ Wer sich zu 
genügen weiss, ist reich; wer tapfer vorgeht, hat 
Willen.^ Wer seinen Ort nicht verliert, dauert fort; 
wer stirbt und doch nicht untergeht, lebt lange. * 



*) Es ist schwer zu sagen, weshalb diese Aussprüche gerade 
hier eingeflochten sind. Sie bilden keine Art Übergang von dem 
vorigen zum folgenden Kapitel , und viel natürlicher schlösse dieses 
sich jenem sofort an. Man möchte dahef fast eine Verwerfung des 
Textes vermuthen. Denn so frei La6-ts^*s Gedankengang auch ist, 
dass er, wenn auch oftmals unterhalb der Oberfläche, nicht zu- 
sammenhangslos sey, hat sich bisher schon gezeigt. Unserm Denker, 
wie andern altmorgenländischen , kommt es indess nur darauf an, 
die Früchte seiner Gedankenarbeit zu bieten , nicht den Baum zu 
zeigen, der sie erzeugte, und die Folge, in welcher er sie darreicht, 
hängt oft von so geheimnissvollen und versteckten Beziehungen ab, 
dass man ihnen schwer auf die Spur kommt. Und so mag diess 
Kapitel wol an seinem ursprünglichen Platze stehen, wenn wir jenes 
verborgene, wahrscheinlich nur subjective Band auch nicht ent- 
decken konnten. 

Wer in den beiden ersten Doppelsätzen etwa abgegriflene 
Gemeinplätze erblickte, der wolle sich erinnern, dass diese noch 
immer inhaltschweren Wahrheiten hier mit dem vollen Anrecht auf 
Ursprünglichkeit und Erstgeburt auftreten. Laö-ts^'s »Sich selbst 
kennen« , ä/ tscÄi , ist dem berühmten yväJ^i aeaotov vollkommen 



161 

ebenbürtig. Andere — wörtlich »Menschen«, sßny was aber im 
Gegensatz zu einer bestimmten Person immer »Andere« bedeutet — 
Andere kennen ohne Selbsterkenntnisse ist jene gemeine Menschen- 
kenntnisse die der Arglistige bedarf und deren erste Grade auch der 
Hund besitzt, jene triebartige, nur nach Aussen gerichtete, an 
Zwecke gebundene Klugheit, deren man freilich im Leben nicht 
entrathen kann , ohne dass sie doch höhere Würde hat oder giebt, 
und bei der das eigne Innre sich selber fremd und verdüstert bleiben 
kann. Ächte Selbsterkenntniss , deren hohe Bedeutung keiner Er- 
örterung bedarf, ist jedoch selbst Licht, obgleich kein ursprüng- 
liches , sondern — wie sich ontologisch und aus der Erfahrung 
beweisen lässt — immer nur durch das Hereinlassen und Herein- 
scheinen einer höchsten Lichtquelle gewirktes. (»In deinem Lichte 
sehen wir das Licht.«) Denn wie das Selbst beschaffen sey , lässt 
sich nur erkennen , wenn man weiss , wie es beschaffen seyn soll, 
diess aber lässt sich aus der Beschaffenheit des Selbst allein nicht 
erkennen. Daher weisen beide, der delphische Spruch und der 
chinesische, deshalb den rechten Weg, weil beide über sich hinaus- 
weisen. 

2) Der Parallelismus dieses Öoppelsatzes mit dem ersten ist 
augenfällig. Was dort vom Erkennen, gilt hier ebenso von der sich 
bethätigenden Kraft. Wenn diese, nach Aussen gekehrt, sich 
Anderen (wieder sßn) tiberlegen erweist , sie besiegt und unterwirft, 
so wird man sie immer anerkennen , obwol sie f)ir sich allein ohne 
allen sittlichen Werth ist wie beim Thiere , und Werth erst dadurch 
erlangt, dass sie sittlichen Zwecken sich selbst unterwirft und in 
Dienst stellt. Damit sie diess aber sowol könne als thue, muss das 
Sittliche selbst, nicht als todtes Gesetz, sondern als lebendige Kraft, 
in den Menschen hineinwirken und seine zur innerlichen Herrschaft 
berufene Kraft tiberwtmden und in Dienst genommen haben; ja 
mehr, sie muss eine innere Entzweiung, einen Kampf in dem 
Menschen selbst erregt haben, wenn er, wie Laö-ts^ fordert, sich 
selbst überwinden soll. Besiegt er dann so sich selbst (»das Fleisch 
durch den Geist«) , dann übt er die ideale Gewalt und Tapferkeit 
(khiäng) aus, welche sich geltend zu machen allein berechtigt ist. 

3) Die beiden folgenden Antithesen treten so ähnlich gestaltet 
zu den vorigen, dass in ihnen auch eine ähnliche Gedankenbewegung 

II 



102 

vorauszusetzen , und daher anzunehmen ist , es werde auch hier im 
ersten Satze jedesmal eine als bekannt angenommene Wahrheit aus- 
gesprochen, deren wesentlicher Inhalt im zweiten Satze durch die 
Erhebung ins Idesde zur Antithese gesteigert werde. Zugleich sahen 
wir, dass die ersten Sätze jedesmal auf ein Verhältniss nach Aussen 
Bezug hatten. So ist auch hier in dem ersten Satze von äusseren 
Gütern geredet, und es wird als bekannt angeführt, dass der, welcher 
an dem Seinigen genug habe, wolversehen, reich (fü) sey. Dagegen 
kann sich das »tapfere Vorgehen« oder Fortschreiten in der Antithese 
wiederum nur auf ein Innerliches und Ideales beziehen , und schön 
sagt H6-schäng-küng hierzu: »Vermag der Mensch mit tapferer 
Krafl zum Guten vorzugehn, so ist es, weil er sein Trachten auf Ta6 
gerichtet hat; auch Ta6 hat ein Trachten nach dem Menschen.« 
Diess Trachten ist der Wille , das Wollen , ischi^ welches hier also 
im idealen Sinne zu verstehen ist, — ein Wollen , das sein höchstes 
Ziel habe. Da dem Reichseyn des sich Genügenden der Wille oder 
das Trachten des tapfer Vorgehenden entg^engesetzt ist , so liegt 
darin , dass jener kein Mehreres wolle , dieser aber sich nicht reich 
finde, und darum mit entschlossener Kraft zum Höchsten dringe. 

^) Nach dem soeben Bemerkten ist nicht zu erwarten, dass die 
erste Aussage etwas sonderlich Tiefes enthalten werde: Auch ist 
nur gesagt , der , welcher seinen Ort, sein Wo, die Stelle, die er im 
Daseyn einnimmt , nicht verliert , nicht daraus scheidet , der habe 
Dauer. Grössere Tiefe gewinnt dieser Ausspruch durch seine Be- 
ziehung zu der Antithese. Denn wer stirbt und damit nicht unter- 
geht, nicht umkommt, nicht verlisdit (pu wäng)^ mithin fortdauert, 
der muss seinen Ort, sein Wo unverlierbar in einem Ewigen ge- 
wonnen haben. Er hört nicht auf zu leben, ob er gleich stirbt, viel- 
mehr hat er nun erst j^^^, »Lebenslange« xat i^fiyyn ^ d. i. das 
ewige Leben. 



Vierunddreissigstes KapiteL 

Der grosse Taö, wie er umherschwebt ! Er kann 
links seyn und rechts J Alle Wesen verlassen sich auf 
ihn um zu leben, und er versagt nicht.^ Ist das Werk voll- 
endet, nennt er's nicht sein.^ Er liebt und nährt alle 
Wesen und macht nicht den Herren.* Ewig ohne Ver- 
langen, kann er klein genannt werden.* Alle Wesen keh- 
ren sich (zu ihm), und er macht nicht den Herren, — er 
kann gross genannt werden.® Daher der heilige Mensch 
nie den Grossen macht, drum kann er seine Grossheit 
vollenden.' 



*) Wieder aufnehmend den Gedankenzug des 32. Kapitels, 
taucht unser Denker von Neuem in die Anschauung der Gottheit, sie- 
het, wie deren Machtgrösse durch ihre ethische Grossheit überragt 
und verklärt werde, und zeigt, wie sich darin der heilige Mensch ihm 
anahnliche. Hier aber wird nicht mehr der Absolute in seiner er- 
sten Ureinfachheit betrachtet, sQudern Taö als der Namen-Habende, 
d. i. Gott als Gott, in seiner lebendigen Beziehung zu der Creatui^. 
Auch so kommt ihm jedoch das Prädicat »gross« im absoluten Sinne 
zu. Fdn heisst »fluthen, wogen«, auch »schwimmen, schweben«, und 
deutet im Zusammenhange mit jenem »gross« sowol auf seine grän- 
zenlose Ausbreitung, als auf seine quellende Lebensbewegung. Kht 
khh isbjeü heisst sowol: »Er kann (se)m) links (und) rechts«. Zum 
Theil ist damit gesagt, dass er allenthalben zugleich sey; dann aber 
heisst »Jemandem links und rechts seyn« auch, ihm zur Seite seyn, 
ihm aufwarten, beistehen, helfen. Der volle Inhalt dieser Worte 

II* 



i64 — I — 

wäre demnach : Er ist allenthalben mit dem Vermögen seiner htilf- 
reichen Machterweisung. 

2) »Die Myriaden Wesen verlassen sich auf ihn, l sengy um zu 
leben«, was sowol heissen kann, um das Leben zu bekommen, um 
zu entstehen, als auch, um das Leben zu haben, um es zu erhalten. 
Dass Letzteres mit eingeschlossen seyn solle, zeigt das Nachherige : 
»er nähret alle Wesen«. Wie es zu verstehen sey, dass die Wesen, 
ehe sie ins Leben getreten, ihr Leben von Taö erwarten, ist aus 
Kap. 21 zu erklären. In Taö sind, vor ihrer Verselbständigung, die 
Urbilder der Wesen, und Er siehet sie als solche, die von ihm die 
Setzung in ein eignes Seyn erwarten, sich darin auf ihn verlassen. 
»Und er versagt nichta — thsi, »sagen, reden«, auch »verreden, ver- 
sagen, weigern« — : er giebt ihnen Leben. 

3) Küng tsckhtng, auf Menschen angewandt, heisst: »Verdienst- 
liches ist vollendet« ; von der Gottheit kann diess nicht gesagt wer- 
den. Allein küng heisst auch allgemein »eine Handlung, ein Ge- 
schäft, ein Werk«, und so ist es hier zu nehmen. Es erklärt den 
vorigen Satz und wird durch ihn erklärt. Taö's Handlung, sein Werk 
ist, dass er den Wesen Leben giebt; diess aber »vollendet« er auch, 
er bringt sie zur vollständigen Entfaltung. Dennoch eignet er sich 
diess Werk, diese That nicht zu, »er nennt es nicht Haben«, d. h. 
nicht sein. 

*) Für Laö-tsd's GottesbegrifT kann es nicht hoch genug gewür- 
digt werden, dass er Taö hier ausdrücklich L i e b e zu allen Geschoß 
pfen zuerkennt. Ngäi ist daß mitleidende und sich mitfreuende, das 
sich erbarmende und wolthuende Lieben, ganz wie das neutestament- 
liche aifaTcav, und setzt immer ein lebendiges Gemüth, eine Persön- 
lichkeit voraus. Das sich anschliessende/^^ heisst nicht bloss »er- 
nähren« , sondern auch im weitesten Sinne »versorgen, erhalten«. 
Obgleich nun Taö die Myriaden Wesen erschaut, vollendet, liebt 
und versorgt, so stellt er sich doch nicht in das Verhältniss eines 
Herrschers und Gebieters, pü wH tschüj was genau das deutsche »nicht 
macht er den Herrn« wiedergiebt. Wie er ihnen auch alles Können 
und Wirken, alle Liebe und Wohlthat zuwendet, so sind sie doch 
seine Freien und Freigelassenen, die er nicht zwingt zu Dienst und 
Gehorsam. 

*) Was nun Taö auch erschaffe und fUr seine Geschaffenen 



!^ 



i65 

thue, er thut es nicht aus Bedürfniss, er begehrt und verlangt damit 
ewig nichts, darum auch nicht die Herrschaft über sie. Seine Liebe 
ist ebenso selbstlos als bedürfnisslos, und das eine, weil das andre. 
Dergestalt nichts für sich fordernd und selbst immer zurücktretend, 
scheint er jedem Maasse der Betrachtung zu entschwinden, so dass 
er »klein«, gering, wenigbedeutend genannt werden kann. Denn 
»klein«, stäoj ist hier nicht in Beziehung auf den Umfang des Wesens 
zu verstehen, in welcher Hinsicht ihm die Grösse bereits zuerkannt 
wurde, sondern in Beziehung auf die herrscherliche Stellung und 
Würde, in welcher Hinsicht derjenige ja klein erscheint, der sich 
zum Diener Aller macht. 

•) Der nun so eben klein genannt werden konnte, der ist es 
dennoch, zu dem alle Wesen sich hinkehren (»alles Heisch kommt zu 
dir«) und den sie, weil sie alles, was sie sind und haben, seiner Güte 
verdanken, ausnahmslos und ungeheissen allezeit von selbst ehren 
und preisen (Kap. 51) ; und da er dessungeachtet sich nicht zu ihrem 
Herrn und Gebieter macht, so tritt gerade hierdurch seine absolute 
ethische Grösse hervor. Der an Allen Alles thut aus reiner bedürf- 
nissloser Liebe, ohne dafUr ewig etwas zu verlangen, mit wie grossem 
Rechte kann Der gross genannt werden ! 

') Das fordeitende »Daher«, seht i, schliesst die Voraussetzung 
ein, dass des heiligen Menschen Wesen darin bestehe, Taö nachzu- 
folgen und dessen Abbild und Gleichniss zu seyn. Dem vorherigen 
pu wH tsckkj »nicht macht er den Herma, entspricht hier/» wH tdj 
»nicht madit er den Grossen«; nicht: er sieht sich nicht als gross 
an ; sondern : er will nicht gross sein. Tschüng heisst »Ende« (Ju- 
lien : jusquä laßn de sa vie) ; tschüng pu entspricht unserm »nie, nie- 
mals«. Der heilige Mensch will immer in dem Sinne klein seyn, 

• 

wie diess von Taö gesagt werden kann, denn das macht ihm möglich 
[f^ng) zu vollenden, hinauszufuhren (tschhtng)^ was ihn gross macht 
in demselben Sinne, wie dies von Taö auszusagen ist, nehmlich im 
ethischen. Nicht von Ausführung grosser Dinge ist die Rede, denn 
diess würde mit jener Machtgrösse zusammenfallen, vor welcher er 
gerade zurückstrebt, sondern von der Vollendung der sittlichen Gross- 
heit, die nur aus diesem Verzicht hervorgeht. Welche Folgen sich 
daran knüpfen würden, sagen die Verse zu Anfang des nächsten Ka- 
pitels, die sich hier unmittelbar anschliessen. 



Fünfunddreissigstes Kapitel. 

«Wer's grosse Bild festhält, 

Zu dem kommt alle Welt ; 

Kommt — und da ist kein Weheklagen, 

Nur Friede, Ruh, Behagen.«^ — 
Bei Musik und Leckereien steht der vorbeigehende 
Fremde still ; — geht Taö hervor vom Munde : wie un- 
gesalzen ! der ist ohne Schmack !^ Ihn anschauen genügt 
dem Gesicht nicht; ihn vernehmen genügt dem Gehör 
nicht.^ Ihn brauchen — kann kein Ende finden.* 



^) Das vorige Kapitel schloss mit einer Anwendung auf den hei- 
ligen Menschen, welche voraussetzte, dass dieser sich nach Taö zu 
gestalten suche. Dasselbe sagt dieses Verscitat in den Worten: 
»Wer da festhält « [tsc/u^ annimmt, behält und bewahrt) »das grosse 
Bild« [siängf Vorbild, Urbild), womit selbstverständlich die ethische 
Gestalt Taö's gemeint ist. Indem ein Solcher das verborgene Gött- 
liche zur sichtlichen Darstellung bringt und Abbild des Urbildes 
wird, werden die Menschen davon überwunden und angezogen, wen- 
den sich zu ihm und gehn zu ihm über, gleichwie alle Wesen sich 
zu Taö kehren, ja vielmehr weil sie diess thim. Alle Welt, die Welt, 
Man hiä, kann freilich auch das Reich heissen, hier wird aber nicht 
sowol vom Weltregiment, als von der geistig-sittlichen Herrschaft 
dessen gehandelt, der in seiner Person der Welt das leuchtende Ab- 
bild Ta6*s darstellen würde (Kap. 22). Kommt die Welt zu ihm, 
tritt sie in sein sittliches Reich ein, so ist da »keine Verletztmg« oder 



l67 

Kränkung (so pü hdi wörtlich) , sondern nur Ruhe (ngän)^ Friede 
(phtng)j Genüge [thäi^ eigentl. »Weite«, also keine Einengung, keine 
Bedrängniss, tiefste Befriedigung). Von der Manifestation des gött- 
lichen F^benbildes in einem Menschen wird eine Umgestaltung der 
Welt, werden die glückseligsten Zustände erwartet (Kap. 22). Lei- 
der niuss Lad-ts6 sofort klagen, dass von dieser Segensquelle Nie- 
mand wissen wolle. 

2) Für sinnliche Reize sind die Menschen empfanglich. »Musik 
und Leckereien« [pll^ süsser Reisskuchen, Köder) — »der vorbeige- 
hende Fremde bleibt stehn«; auch der, den es nichts angeht, ver- 
weilt und richtet seine Aufmerksamkeit auf solche Dinge. »Geht Ta6 
hervor vom Munde« (oder nach andrer Lesart jän^ 9937, »aus den 
Worten, aus der Rede«), so bleibt man nicht stehen, man wendet 
sich ab, findet ihn fade, geschmacklos, ist unempfänglich für ihn. 

'*) In diesen Aussprüchen findet sich eine doppelte Lesart. 
Nach der schwierigeren , daher vorzuziehenden, heisst es pü tsu^ 
»nicht genügt« ; nach der andern pü khb, »nicht kann«. Stan. Julien 
hat mit Recht die erste 'in seinen Text aufgenommen, obgleich er 
nach der zweiten übersetzt : on ne peut levoiry — onne peut t entendre. 
Die Worte pü tsü kidn^ pü tsü wtn können nicht heissen : »nicht ge- 
nügt das Sehen, nicht genügt das Hören«, sonst müsste stehen kidn 
pü tsüj w^npü tsü; denn hinter dem verbalen tsü können kidn und 
w^n nur im statu obliquo stehen. Der Sinn ist : Taö zu schauen, ihn 
zu vernehmen, genüge den Sinnesempfindungen nicht, sey des Se- 
hens und Hörens nicht werth. Es ist somit nicht die Meinung Laö- 
ts^'s, sondern der, die von Taö nicht wissen wollen, weil er nicht 
wie Musik und Leckereien die Sinne reizend beschäftigt. Es schliesst 
sich also noch unmittelbar der Erklärung an, dass er salzlos und un- 
schmackhaft sey. 

^) Dem gleichförmigen schi tschiy thing tscht^ schauen ihn, ver- 
nehmen ihn«, tritt ein emphatisches jung tschty »brauchen ihn«, ge- 
genüber. Mit den fünf Schlussworten, welche die letzten Wendungen 
nachahmen, wird den abgeneigten Weltleuten schlagend geantwortet, 
und es ist, als stände ein : Ich aber sage euch — dazwischen. Jung 
heisst »brauchen, nutzen, anwenden, nehmen«, auch »anhalten, fest- 
halten (Khäng-hfs WB. =ßng. 2536.) Das Wort dürfte in Be- 
ziehung auf das zu Anfang erwähnte grosse Ur- oder Vorbild gewählt 



i68 

seyn. WerTad als solches festhält und braucht, der kann darin kein 
Ende finden. Dieses/« kb khij »nicht können endigen«, nicht auf- 
hören oder kein Ende finden können, bezieht sich auf die Thatsache 
^e&jüng tschi und deren Subject: wer ihn braucht, kann darin kein 
Ende finden ; und mit Recht weisen die Ausleger darauf hin, dass 
La6-ts^ den Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit irdischer, sinn- 
licher Genüsse und der Unvergänglichkeit dessen, was Taö gewährt, 
im Sinne habe. 



Sechsunddreissigstes Kapitel. 

Was sich einziehen will, hatte sich sicherlich aus- 
gedehnt ; was schwach werden will, war sicherlich stark 
geworden ; was fallen will, war sicherlich aufgestiegen ; 
was sich entreissen will, hatte sich sicherlich mitgetheilt.* 
Dasheisst: Verborgenes wird klar.^ Weich und Schwach 
überwindet Hart und Stark.^ Der Fisch darf die Was- 
sertiefe nicht verlassen; des Landes scharf Geräth, nicht 
darf man es den Menschen zeigen.** 

*) In der praktischen Entwicklung seines Prinzips hatte Laö-tsd 
sich gegen die Anwendung von Waffengewalt und Zwang im Reichs- 
regiment erklärt (Kap. 30. 31), und gezeigt, wie ohne dieselben die 
Regierenden Ansehen und Gehorsam finden würden, wenn sie an 
Ta6 sich hielten (Kap. 32), zuvörderst sich selbst veredelten und 
vollendeten (Kap. 33?) und dann Taö nachfolgten in selbstloser 
Liebe und Wohlthun (Kap. 34). Obwol diess aber unfehlbar zum 
Heil Aller seyn würde, so wolle doch Niemand darauf eingehen, 
Niemand habe Sinn dafür (Kap. 35). Deshalb lehrt er nun, wie 
gerade Milde und Sanftmuth am sichersten allen Widerstand über- 
winden. Er weiset auf die Erfahrung hin, welche lehre, dass jeder 
Abnahme das Vorhandensejm und daher die Gegenwirkung des Ab- 
nehmenden vorausgehe, dass dessen Widerstand aber ersichtlich 
nicht fruchte. Darin offenbare sich eine geheime Macht, welche 
jenen Widerstand überwinde, nicht aber diu"ch Gewalt und Zwang, 
sondern gerade durch deren Gegentheil. Da man also dieser Wir- 
kung gewiss seyn könne, solle man darnach auch im Reichsregiment 



170 

verfahren. — In den ersten vier Aussprücherr ist der Vordersatz je- 
desmal durch tsiängjü, der Nachsatz durch// kü eingeleitet. Tsiäng 
jü heisst »im Begriff seyn zu wollen«, oder »vorhaben zu wollen«, 
wofiir unser blosses »wollen« genügt ; und da es ein unbestimmtes 
Subject includirt, so ist es durch : »Was will« zu übersetzen. Kü 
heisst »fest, festmachen«, bezeichnet auch etwas als »ausgemacht« 
oder »abgemacht«; es tritt daher dem in die Zukunft deutenden 
tsiäng als in die Vergangenheit deutend entgegen und wird genügend 
durch die vergangene Zeit des Verbums ausgedrückt. Pt heisst be- 
kanntlich »sicher, gewiss, nothwendig«. Die tschi, womit jeder Vor- 
der- und Nachsatz schliesst, machen jedesmal die vorausgehenden 
Wörter zu neutralen Zeitwörtern (Julien Syntaxe p. 75. No. 7.). 

^) Durch das tsiäng jü der vorhergehenden Sätze sind die Dinge, 
welche als Gegenstände der Beobachtung vorausgesetzt werden, in 
dem Zustande gedacht, wo die Abnahme an Ausdehnung, Kraft, 
Höhe und Gaben soeben eingetreten ist, um nun stetig fortzuschrei- 
ten. Der Beobachtende sieht also nur, wie sie abnehmen. Daraus 
aber wircj ihm »klar«, was er nicht sieht, was ihm »verborgen« ist, 
nehmlich nicht bloss, dass sie vorher in denselben Beziehungen 
müssen zugenommen haben, sondern auch, dass der ferneren Zu- 
nahme sich Etwas entgegengestellt habe, was nun fort und fort auch 
die weitere Abnahme bewirkt, obwol es weder plötzlich noch gewalt- 
sam eingreift und auf die sanfteste und gelindeste Weise verfährt. 
So wird Verborgenes klar, und desshalb fassen wir die Worte wH 
ming (reconditum clarere) in diesem Sinne. Es ist weder von einem 
geheimen Verständniss, noch davon die Rede, däss dem Weisen klar, 
was der Menge verborgen sey. 

■*) Diess ist etwas von dem, was sich durch jenes Abnelunen 
manifestirt. Alles kann nur seiner eignen Natur gemäss wirken. 
Nachgiebig machen kann nur das Nachgiebige, schwächen nur das 
Schwache. Sehn wir daher in jenen Thatsachen das Starke schwach, 
da« Harte weich werden, so kann das Wirkende, das die Härte und 
Stärke überwindet, selbst nur ein Weiches und Schwaches seyn. 
Das klingt paradox und berührt sich doch aufs nächste mit der neu- 
testamentlichen Ethik, die auf Überwindung der Welt durch die hin- 
gebende, duldende Liebe gebaut ist. Denn freilich meint La6-ts^ 
nicht die schlechte Weichheit und Schwäche, die nur ein Mangel, 



171 

sondern jene, die ein Erwerb und Gewinn aus dem siegreichen 
Kampfe ist, von dem es Kap. 33 hiess: d Wer sich selbst überwindet, 
ist tapfer«. Und von hieraus, auf den Menschen angewendet, ge- 
winnen die vier Anfangssätze noch eine tiefere Bedeutung, indem sie 
gleichsam einen Blick in den Kampf eröffnen, in welchem Grösse, 
Stärke, Höhe und Begabung innerlich tiberwunden werden. — Wir 
folgen übrigens in diesem Satze der Lesart bei H6-schäng-küng. 
Julien u. A. haben ihn in zwei Sätze umgestellt: »Weiches überwindet 
Hartes, Schwaches überwindet Starkes.« 

*) Indem La6-ts^ aus dem Gesagten den Schluss ziehen und 
die Anwendung machen will, thut er diess zuerst an einem physi- 
schen Verhältnisse, um dadurch eine Bestätigung für das nachfol- 
gende ethische zu erhalten. Das weiche nachgiebige Wasser ist das 
X.ebenselement des Fisches. Bleibt er in ihm, so ist er wolbehalten 
und geschützt; geräth er aber auf das feste 'harte Land, so ist es um 
ihn geschehen. Beweis, dass in Beziehung auf das Wol des Fisches 
die Weichheit des Wassers die Härte der Erde tibertrifft. Er bleibe 
also in seinem Elemente! So ist das ethische Element des Menschen, 
vor Allen des regierenden, jene Weichheit und Schwäche, welche 
in der überwundenen und zurückgehaltenen Härte und Stärke be- 
steht. Auch um ihn ist es bald geschehn, wenn er diess Element 
verlässt. Durch diese edle Weichheit und Schwäche wird er den 
Widerstand gegnerischer Kräfte allmählich verzehren. Wenn er den 
Menschen aber »das scharfe Geräth des Landes zeigt«, d. h. mit 
Waffendrohung und Waffengewalt vorschreitet, so macht er sich die 
Gemtither abwendig, reizt sie auf, der Gewalt mit Gewalt zu begeg- 
nen, und bereitet sich seinen eignen Untergang. — Was das gram- 
matische Verhältniss des letzten Satzes anlangt, so bedarf es da kei- 
ner von der Wortfolge abweichenden Construction , welche tiber- 
haupt beim Chinesischen kaum zulässig seyn dürfte. Die Worte küo 
tschi li khi (des Landes scharf Geräth) stehen im statu absoluto ; bei 
den folgenden Worten/« kAd i seht sßn liegt das allgemeine Subject 
(»man«) in khbf und das Object (»es«) ist zu dem l hinzuzuverstehen, 
so dass wörtlich zu übersetzen ist : »nicht darf man nehmend es zei- 
gen den Menschen.« 



Siebenunddreissigstes Kapitel. 

Taö ist ewig ohne Thun, und doch ohne Nicht- 
Thun. ' Wenn Könige und Fürsten (das) zu beobachten 
vermöchten, alle Wesen würden von selbst sich um- 
wandeln. ^ Wandelten sie sich um, und wollten sich 
aufthun, ich würde sie niederhalten mit des Namenlosen . 
Einfachheit. * 

»Des Namenlosen Einfachheit 

Bringt auch Begehrenslosigkeit ; * 

Begehrenslosigkeit macht ruhn 

Und alle Welt Von selbst das Rechte thuri.« * 

*) Dieser zusammenfassende Beschluss des ersten Buchs ist 
zugleich Begründung und Erläuterung des Nächstvorangegangenen. 
Nicht mit Thaten der Strenge und Gewalt sollen die Regierenden 
vorgehn , sondern auch ihrerseits das Verfahren Taö's beobachten, 
der, als der unbewegte Allbewegende, durch die Macht dessen, was 
er Ist , Nicht-Thun und Thun auf geheimnissvolle Weise vereinigt. 
Bei Allem , was in der Welt geschieht , tritt das Thun Gottes als 
solcheß nie heraus; der sorgfaltigsten Beobachtung erscheint nur 
eine untibersehliche Kette von nothwendigen Wirkungen gegebener 
Ursachen. Und gerade hierin , gerade in der wundervollen Stätig- 
keit, Hoheit und Schönheit des sittlichen und natürlichen Welt- 
gesetzes, welches jene beherrscht, wird dem aufgeschlossenen Auge 
das immer wirkende Wollen Gottes erkennbar (wii mtngj Kap. 36). 
Sein Thun, d. i. sein Nicht-Nichtthun , ist, dass er Seinen Willen 
in den Dingen und Ereignissen und durch dieselben zur That 
werden lässt. So »thut er«, und ist doch »ohne Thun«. Dasselbe 



173 

bewährt sich in der Welt der sittlichen Freiheit. Wer Gott erkannt 
hat und ihn im Geiste schauet und vernimmt, den muss die Grösse 
seiner HerrHchkeit und die Herablassung seiner Liebe überwinden, 
dass er sich alles Eignen entäussert , Gotte sich ganz hingiebt und 
von Ihm sich bestimmen lässt. Das hat ja dann allerdings Gott 
gethan, wie Er denn auch femer thut, was ein Solcher Gutes wirkt, 
und doch ist Gott dabei ohne Thun. Er ist über dem Thun , wie 
über dem Seyn, — dennoch thut er und ist er. 

^) Scheu , »beobachten« wie ein Gesetz , eine Vorschrift , hat 
nicht, wie in dem gleichlautenden Satze Kap. 32, eine Objects- 
bezeichnung bei sich; denn das. in einigen Drucken hinzugefügte 
tscht dürfte allerdings (mit Stan. Julien) zu verwerfen seyn ; eben- 
deshalb aber ist nicht Taö , sondern das in dem vorhergehenden 
Satze von ihm Ausgesagte als das Object des Beobachtens oder 
Haltens anzusehen ; wobei sich von selbst versteht , dass Niemand 
verfahren kann wie Ta6, wer ihn nicht kennt, hat und festhält. 
Unter den Myriaden oder »allen Wesen« sind zwar hier, wie öfter, 
zunächst die Menschen zu verstehen , und hda , »sich umwandeln«, 
hat insofern den sittlichen Sinn von »sich bekehren« ; doch zeigte 
Kap. 32, dass Laö-ts^ mit einer solchen Umwandlung sich auch eine 
Wandlung der Natur verbunden denkt. Die Meinung ist also: 
Wären die Regierenden, auf deren Beispiel Jeder hinblickt, im 
Stande, Taö's Verfahren zu beobachten, d. h. göttlich zu leben und 
zu handeln, und nur dadurch, ohne Thun, d. h. ohne Verbote, 
Zwang etc., also rein sittlich zu wirken, so würde diess auf Alle eine 
so überwindende Macht ausüben, dass alle Anstalten tmd Massregeln 
zu Herstellung und Aufrechthaltung von Sitte und Recht unnöthig 
würden und Jeder von selbst sich einem reinen und gerechten Leben 
zuwendete. Ob unser Philosoph hierin optimistisch schwärme ,• lässt 
sich nicht entscheiden, da Könige und Fürsten von so göttlicher 
Hoheit und Reinheit, wie er sie verlangt, bisher, auch unter den 
Christen, noch nicht regiert haben, die Wirkung ihres Waltens aber, 
wenn sie erschienen, a priori nicht zu beurtheilen ist. 

^) Tso und ischin beziehen sich auf einander. Tso^ gewöhnlich 
»machen, handeln, thun«, heisst auch »etwas anfangen, unternehmen«, 
femer »sich aufthun, erheben, hervorthun«. Da nun tschin »nieder- 
drücken , niederhalten , steuern« heisst , so sind die letzteren Be- 



174 

deutungen von £so anzunehmen. Wegen /^^ vgl. Kap. 32 Anm. i. 
Träte, sagt Laö-ts^, jene Bekehrung wirklich ein, und die Menschen 
würden doch noch etwas anfangen wollen , was mit dem Zustande 
eines Bekehrten sich nicht verträgt , so würde es hinreichen , sie auf 
den unnennbaren höchsten Grund, d. i. auf Gott hinzuweisen, um 
sie davon zurückzubringen. Er setzt mithin voraus, dass jene Um- 
wandlung die Erkenntniss und Anerkenntniss Ta6's zum Grunde 
habe, und baut also auf das Festhalten an Taö, d. i. auf den 
Glauben an Gott, seine ganze Ethik. Das namenlose Urwesen ist 
ihr einziges Motiv. 

*) Diess Verscitat ist für das zuletzt Gesagte belegend und 
erklärend. Die von Julien wiedergegebene chinesische Interpretation 
von ß tsiäftg püjü^ nehmlich: ul ne fatäfas mime U desirer^ (c. ä. 
d. THre simple gut riapas de nom) j dürfte mit La6-ts^'s Denkweise 
kaum verträglich seyn, auch dem Vorhergehenden widersprechen. 
Denn kann man die Menschen durch das einfache Urwesen des 
Namenlosen vom Verkehrten zurückhalten, so muss ihnen jenes 
begehrenswerther sein, als alles Andre. Tsiäng heisst aber auch so 
viel dXssüngj 11,048 (Khäng-hi WB.) , d. h. »darbieten, bringen, 
verleihen«, und so giebt es hier den richtigen Sinn. Die Versenkung 
in die einfaltige Gottheit verleiht Begierdenlosigkeit. Wörtlich 
heissen dann diese Verse : »Des Namenlosen Einfachheit bringt auch 
Nicht-Begehren« ; und letzteres erstreckt sich auf Alles , was nicht 
begehrt werden soll. Nicht begehren ist befriedigt seyn. 

*) Im dritten YcTstipüjü } tsing xsxpäjü vom nachgesetzten l 
abhängig, ganz wie wenn wir sagen ; Des Nichtbegehrens wegen — 
ist Ruhe. Hat alle Begier und Leidenschaft aufgehört, so tritt die 
innere Ruhe ein, nicht die Ruhe des Quietismus (Kap. 2) , sondern 
die Ruhe in Gott» aus dessen Gemeinschaft auch deren Ursache, die 
Begehrenslosigkeit hervorging. Und in diesem Zustande wird alle 
Welt thtan hihy was sich zwar auch mit dem Begriffe des Reiches 
deckt , doch mehr die Menschen , als deren politische Gesammtheit 
meint — '■ alle Welt wird von selbst, d. i. ohne Zwang imd freiwillig, 
ischfngj recht, so seyn, wie sie seyn soll. 



k 



Zweites Buch. 



Achtunddreissigstes Kapitel. 

Hohe Tugend keine Tugend, daher ist sie Tugend; 
niedere Tugend unfehlbar Tugend , daher ist sie nicht 
Tugend. ^ Hohe Tugend ist ohne Thun , und es ist ihr 
nicht um's Thun ; niedere Tugend thut , und es ist ihr 
ums Thun. 2 Hohe Menschenliebe thut, und es ist ihr 
nicht um's Thun.' Hohe Gerechtigkeit thut, und es ist 
ihr um's Thun. ^ Hohe Anständigkeit thut, und ent- 
spricht ihr Keiner, dann streckt sie den Arm aus und 
erzwingt es.^ Darum: verliert man Taö, hernach hat 
man Tugend; verliert man die Tugend, hernach hat 
man Menschenliebe; verliert man die Menschenliebe, 
hernach hat man Gerechtigkeit; verliert man die Ge- 
rechtigkeit , hernach hat . man Anständigkeit. ^ Diese 
Anständigkeit ist der Treu' und Redlichkeit Aussen- 
seite und der Unbotmässigkeit Beginn.' Das ausser- 
liehe Wissen ist Taö's Blüthe und der Unwissenheit 
Anfang. ® Daher ein grosser Mann bleibt bei seinem 
Inhalt und weilt nicht bei seiner Aussenseite ; bleibt bei 
seiner Frucht und weilt nicht bei seiner Blüthe,'* Drum 
lasset er jenes und ergreift dieses. ^^ 

^) Schon im ersten Buche beschränkte sich Laö-ts^ nicht auf 
die blosse Entwicklung seines Prinzips, zeigte vielmehr verschiedent- 



176 

lieh, wie aus demselben die Hauptgrandsätze seiner Ethik und 
Politik hervorgingen. Während er nun in den nächsten fünfzehn 
Kapiteln die Ethik vornehmlich behandelt , geht er dennoch immer 
wieder auf das Prinzip zurück, um zu zeigen, wie fest sie auf diesem 
begründet sey. Nur das aus dem Ta6-Haben , aus der Einheit mit 
Taö hervorgehende Ethos ist ihm die rechte, wahre, die »hohe 
Tugend«, nur dieses umfasst ihm auch die »hohe Menschenliebe, 
Gerechtigkeit und Würde des Benehmens«; bei dem heiligen 
Menschen sind dieselben jedoch natürlich und untergeordnete Aus- 
flüsse seines Prinzips. Werden aber Menschenliebe , Gerechtigkeit 
und Anstand selbst als Prinzipien hingestellt, gleichsam aufs Boden- 
lose, wie es von Khüng-ts^ geschah, so droht eins nach dem andern 
verloren zu gehn. Es werden daher nun diese Begriffe einzeln als 
Prinzipe nach ihrem Werth abgestuft und charakterisirt ; dann ge- 
zeigt , wie sie , von ihrem höchsten Grande abgelöst , nacheinander 
heraustreten und nacheinander verschwinden, um schliesslich eine 
Anwendung zu machen , in welcher man sich kaum enüjalten kann 
eine Polemik gegen Khüng-ts^ zu erblicken. — Nur bei der Tugend 
wird ein Unterschied zwischen hoher und niedriger gemacht ; und 
unter der »hohen Tugend« dürfen wir wol die verstehen, welche aus 
der Einheit mit Taö folgt , und in dieser Gestalt noch eine 2^itlang 
fortdauert, wenn auch ihr wahrer höchster Grand ihr abhanden 
gekommen. In dieser ihrer reinen Gestalt ist sie, wie die Ver- 
gleichung von Kap. 2 und 10 mit Kap. 34 und 51 zeigt, in ihrem 
Tiefsten Gottähnlichkeit und besteht daher nicht im Thun , sondern 
im Seyn. Sie ist sich auch nicht etwa Selbstzweck. Denn alsdann 
wüsste und wollte sie sich selbst als Tugend. Nun aber heisst es : 
»Hohe Tugend keine Tugend« ; nehmlich sich selbst ist sie keine 
Tugend, kennt weder, noch will sich als solche, sondern ist sich wie 
die erste Kindesunschuld (Kap. 55) ihrer selbst unbewusst; nicht 
wie jene Unbewusstheit, die noch nichts von sich weiss, sondern wie 
jenes Selbstvergessen vor der Fülle des Göttlichen , welches nur aus 
Antrieb des letzteren handelt ; nicht eine noch unverlorene, sondern 
eine durch Ta6 wiedergewonnene Unschuld. »Niedrige Tugend« 
dagegen ist sich selbst »unfehlbar« , d. h. nie abhanden kommende, 
nie sich verlierende (pü scfü) , ^Tugend«. Sie will sich als Tugend 
und ist sich ihrer als Tugend bewusst , und sey diess immerhin der 



177 

höchste moralgesetzliche Standpunkt, so ist er doch nur dieses, und 
in jenem reinen hohen Sinne »ist sie nicht Tugend«. Durch die 
Kürze und paradoxe Form dieser Aussprüche soll zu um so schär- 
ferem Nachdenken angereizt werden. 

2) Weil die Tugend im Seyn , nicht im Thun besteht , so ist 
auch die »hohe Tugend ohne Thun« ; was bei Laö-ts^ , wie schon 
wiederholt bemerkt wurde , nicht heisst , dass der Hochtugendliche 
ganz und gar nichts thue , — denn er kommt ja allen Wesen un- 
ermüdlich zu Hülfe und erweiset ihnen Liebe und Wolthat, — 
sondern das heisst es , dass er nicht thut als thäte er , und thut als 
thäte er nicht , dass sein Thun i h m kein Thun ist , dass es un- 
berechnet und unbeabsichtigt von ihm ausgeht. IFÜ l ///^/heisst 
wörtlich: »sie hat nicht um zu thun«, d. h. es ist ihr nicht ums 
Thun, sie legt keinen Werth darauf; sie will sich nicht als Tugend 
erweisen und nichts durch ihr Thun erreichen , auch nicht einmal 
ihre Selbstbezeugung. Anders die niedrige Tugend. Sie sucht ihr 
Wesen nicht im Seyn , sondern im Thun und sie legt Werth darauf; 
ihr ist es ums Thun , denn sie will das Bewusstseyn guter Werke 
haben und will anerkannt seyn. Damit ist sie verworfen. 

•*) »Hohe Menschenliebe« verdient diesen Namen nur dadurch, 
dass sie zur That wijd , dass sie »thut«. Sie geht auf ihre Selbst- 
bezeugung aus, sie wäre werthlos, wenn sie nur Gefühl und Wort bliebe. 
Aber indem sie sich handelnd bewährt, »ist es ihr nicht ums Thun«, 
und sie verhält sich in dieser Hinsicht ganz wie die hohe Tugend. 

*) Wessen Lebensprinzip Taö, oder auch nur jene hohe 
Tugend, oder hohe Menschenliebe ist , der wird auch gerecht seyn ; 
seine Gerechtigkeit begleitet und umkleidet aber nur ein Höheres 
und Edleres, und bethätiget sich nicht um ihrer selbst willen ; es ist 
nicht die »hohe Gerechtigkeit« in dem Sinne , dass sie allein Prinzip 
sey, wie es hier gemeint ist. Gerechtigkeit als einziges Prinzip will 
und muss sich mit Bewusstseyn bethätigen und es kommt ihr darauf 
an, dass sie es thue, sie hat es zur Absicht und legt Werth darauf. — 
Von niederer Menschenliebe imd niederer Gerechtigkeit spricht 
Laö-ts^ nicht; nach dem, was er bereits von der Tugend gesagt, 
würden sie keine Menschenliebe , keine Gerechtigkeit seyn ; und er 
überlässt es dem Nachdenken , beide durch die Gegensätze seiner 
Aussagen zu charakterisiren. 

12 



178 

^) »Anständigkeit« entspricht nicht ganz dem chinesischen H. 
»Es bedeutete ursprünglich nur soviel als Gottes- oder Geisterdienst. 
Daran knüpfte sich die Bedeutung »äusserlich kundgethane Ehrfurcht 
gegen Höhere« , wie des Unterthans gegen den Fürsten und seine 
hohen Diener, der Kinder gegen die Eltern u. s. w. Endlich ward 
es auf alle Höflichkeit und Rücksicht im Umgange, auch mit seines 
Gleichen und mit Niederen, ausgedehnt.« (W. Schott, Entw. e. 
Beschreibung der chin. Literatur.) Das II begreift alle Bräuche 
äusserlicher Schicklichkeit und Sitte, welche in China von Alters her 
in hohem Ansehn gestanden und schon zu Laö-ts^'s Zeit ihren um- 
fassenden Codex imji II gefunden. Das Schriftzeichen fUr // besteht 
aus den Zeichen fiir »Geist« und »volles Opfergefass« , woraus die 
Urbedeutung hervorgeht. Wo äusserliche Anständigkeit und Höf- 
lichkeit das Höchste ist , da wird sie nicht bloss völlig zum Thun 
und Erweisen, sondern sie verlangt auch Erwiederung, denn nur 
dabei kann sie sich behaupten. Wird ihr diese versagt, so muss sie, 
um sich zu retten, mit sich selbst in Widerspruch treten und durch 
Drohung und Gewalt Erwiederung erzwingen. Sie allein ist , weil 
ganz äusserlich , auch erzwingbar. La6-ts^'s weiteres Urtheil über 
das R folgt hernach. 

•) Ta6 ist das Band aller Vollkommenheiten und ihr inner- 
licher Quellbrunn. Wer Ta6 hat , wer mit Ihm sich in lebendiger 
Berührung erhält, der hat sie alle. Wird aber Taö vergessen und 
verloren , so sterben sie allmählich in derselben Reihenfolge ab, in 
welcher es zu ihrem Wesen gehört , nicht im Thun aufzugehen und 
reine Gesinnung zu seyn. Wiefern sie sich stufenweise zum blossen 
Thun veräusserlichten , ist in den vorhergehenden Sätzen gesagt; 
darnach ordnet sich ihr allmähliches Schwinden , und deshalb wird 
die Nachweisung dieser Reihenfolge durch ein »Darum« angeknüpft. 
Es ist diess ein sehr geistreicher Gedanke , und die Stufenleiter, 
welche das nothwendige Herabsinken bis in die äusserlichsten 
Civilisationsformen schildert, wenn das lebendige Gottesbewusstseyn 
abhanden kommt, ist sittlich, psychologisch imd geschichtiich wahr. 

^) »Diese Anständigkeit« , die nehmlich übrigbleibt , wenn alle 
die andern höheren Tugenden geschwunden sind, ist nur ein dünner 
Überzug (po, ursprünglich Walddach, Waldbelaubung) von Treu und 
Glauben, die sie schmückende Aussenseite, ihre Form, die dann 



179 

auch ohne Inhalt seyn, xur Heuchelei werden, und damit jede Zucht- 
losigkeit überhüllen und erwachsen lassen kann. Ja , weil ohne den 
Inhalt jener Tugenden , ist sie selbst schon ludn tschi scheu , »der 
Unbotmässigkeit« , der staatlichen Wirren, der Empörung und 
Anarchie »Kopf« oder Anfang. 

^) Th^an scKi wird mehrfaltig erklärt. Nach dem Zusammen- 
hange kann es weder das Vorher- Wissen, noch das scheinbare oder 
falsche Wissen heissen, denn jenes kann nicht Anfang oder Ursprung 
der Unwissenheit, dieses nicht Blüthe Taö's genannt werden. Thstan 
heisst , was vorn , voran oder zuerst ist , und bedeutet daher auch 
(wie thsihtij 5067) das Oberflächige , Äusserliche. Es steht in Be- 
ziehung zu dem vorhergehenden/^ (Anm. 7) , und das Ȋusserliche 
Wissen« ist die Formen-Kenntniss , die Kenntniss des li; denn das 
li besteht eben in der äusserlichen Schicklichkeit und Würde. Da 
diese als der letzte Schmuck, als die Blüthe sicherlich vorhanden ist, 
wo das ganze Leben in Taö wurzelt, so wird diese Aussen-Kenntniss 
»Taö*s Blüthe« genannt. Getrennt aber von diesem Wurzelboden \md 
ohne Innerlichkeit, entwickelt sich unter der Kenntniss der blossen 
äusserlichen Umgangsformen von selbst Unwissenheit und Herzensroh- 
heit. Wem sollten Beläge dieser Wahrheiten aus der Erfahrung fehlen? 

^) »Ein grosser Mann« , td tschäng fü , wörtlich etwa : »ein 
grosser Aldermann« , hier soviel , als der wahre Weise. Das khi in 
khj heüj »seinen Inhalt«, kht po^ »seiner Aussenseite«, khtschty »seiner 
Frucht«, und kht hoa^ »seiner Blüthe«, ist possessives Pronomen und 
darf nicht unbeachtet gelassen werden. Der wahre Weise, sagt 
Laö-tsd, hält bei sich selbst vor Allem auf Inhalt, auf Frucht, auf 
Treu und Glauben, auf Taö, und bleibt nicht stehen bei der Aussen- 
seite, bei der Blüthe ; er weiss, worauf er bei sich den wahren Werth 
zu legen hat und aus der leeren Form äusserer Würde und Artigkeit 
macht er sich nichts. Es ist also von seinem eignen Verhalten, 
nicht von Beurtheilung des Verhaltens Anderer die Rede. 

^^) Wir würden eine Umstellung der hinweisenden Fürwörter 
erwarten, da wir gewohnt sind, deren Beziehung auf Feme oder Nähe 
in der Redefolge zu suchen. Allein Laö-ts^ will durch /i, »jenes«, 
das bezeichnen, was dem grossen Manne femer, durch thsl^ «dieses«, 
das was ihm näher liegt. * 



12* 



Neununddreissigstes Kapitel. 

Was einstmals Einheit gekriegt.^ 

»Himmel kriegte Einheit, damit Glast, 
Erde Einheit, damit Ruh und Rast, 
Geister Einheit, damit den Verstand, 
Bäche Einheit, damit vollen Rand, 
Alle Wesen Einheit, damit Leben, 
Fürst und König Einheit, um der Welt das rechte 

Maass zu geben.« 
Das bewirkt die Einheit. 

»Gäbe nichts dem Himmel Glast, 

Würd' er, traun, zerschellen; 
Gäbe nichts der Erde Rast, 

Würde sie zerspellen ; 
Gab' den Geistern nichts Verstand, 

Würden sie zerfliegen ; 
Füllte nichts der Bäche Rand, 

Würden sie versiegen; 
Gäbe nichts den Wesen Leben, 

Würden sie zerwallen ; 
Hätten Fürst und König nicht, um hoch und edel 

Maass zu geben, 
Traun, sie würden fallen.«^ 
Drum macht das Edle das Geringe zu seiner Wur- 
zel, das Hohe macht das Niedrige zu seiner Grundlage. 
Daher Fürsten und Könige sich nennen Verwaisete, 
^yenigkeiten, Unwürdige. Machen sie deon das Geringe 



i8i 

zu ihrer Wurzel, oder nicht ?^ Drum, fertige Wagen- 
stücke sind kein Wagen.* Wer nicht will hoch geschätzt 
werden wie ein Nephrit, wird gering geschätzt wie ein 
Stein.* 



^) Das vorige Kapitel zeigte, wie ohne Taö alle sittlichen Grund- 
lagen auseinanderfallen und nacheinander schwinden, bis nur noch 
ein äusserliches Ceremoniell von sehr zweifelhaftem Werthe zurück- 
bleibt. Warum das? Weil sie mit Taö das Band der Einheit ver- 
loren. Diese allein kann jene stufenweise Zersplitterung und Ver- 
äusserlichung verhindern. Darum wird nun die fundamentale Be- 
deutimg der Einheit hervorgehoben. Zu diesem Zwecke citirt Laö- 
ts^ abermals mehrere Verse, denen er einige Worte hinzufügt, um an- 
zudeuten, was ihm darin die Hauptsache sey. Die Eins oder die 
Einheit, y7, ist das Einsseyn der genannten Dinge mit sich selber, 
also nicht die Einheit der Zahl, sondern der Wesenheit, und wenn 
auch nach der Denkweise des Verfassers ohne Zweifel als eine Wir- 
kung Taö's anzusehen, doch sicherlich nicht, wie ein buddhistischer 
Ausleger meint, Taö selbst. 

^) 7>4^/Ä^ ist die Helle, Klarheit, Durchsichtigkeit des Himmels. 
Wenn es heisst : »Der Himmel erhielt Einheit — l thsing^ , so 
steht l hier prägnant, indem es seinObject in sich schliesst: »sie (die 
Einheit) nehmend (erhielt er) Helle« ; es wird also durch unser »da- 
mit« entsprechend ausgedrückt. Mit der ihm verliehenen Einheit 
trat zugleich seine Helle ein, so dass diese jene voraussetzt. Die 
Einheit verleiht dem Himmel daher seine eigentliche Wesenheit, die 
darin besteht, als dasselbe Ganze reine Klarheit zu seyn. Das ent- 
sprechende Verspaar der zweiten Strophe zeigt dann, wie mithin an 
der Voraussetzung dieser Helle, d. i. an der Einheit, das Bestehn 
des Himmels selber hange : »Der Himmel, nicht habend wodurch 
er hell ist, mtisste, fürchf ich, zerreissen«, d. h. zu Grunde gehen; 
welch allgemeiner Begriff durch die zweiten sechs Reime der ande- 
ren Strophe (Itey fie, hie, kuj muj kie) verschiedentlich specificirt 
wird. — »Die Erde erhielt Einheit, damit Ruhe«, d. h. Fest- und 
Stillliegen, fang. Ohne die Einheit, welche diess bewirkt, »müsste 



l82 

sie, furcht' ich, zusammenstürzen«, wie die zweite Strophe sagt. — 
Da die grossen Weltmächte, Himmel und Erde, vorangenannt sind, 
so dürften unter den Geistern, schin^ zunächst die Wesen der Gei- 
sterwelt zu verstehen seyn, ohne jedoch die Menschengeister auszu- 
schliessen, da auch diese sc hin heissen und der Ausspruch auf sie 
gleichfalls passt. Man sieht indess, dass die Geister der unsichtbaren 
Welt von dem Dichter auch als mit Intelligenz begabt angesehen 
werden, denn das bedeutet hier /?ä^. Es ist ein bedeutender Gedanke, 
wenn die Intelligenz ^ — Verstand, Vernunft, oder wie man das 
Vermögen und die Thätigkeit, zu begreifen und Ideen zu bilden, 
benennen möge, — wenn diese höchste Fähigkeit des Geistes, in 
deren Bethätigung er erst wahrhaft Geist ist, von der in ihm gesetzten 
Einheit hergeleitet wird. Denn was der Geist erkennen soll, das 
muss auf geistige Weise in ihm seyn, indem er es in sich als ein von 
ihm Unterschiedenes, Anderes und Selbständiges setzt, dann sich 
selbst ihm gegenüber, zugleich aber in Einheit mit ihm findet; 
welche Einheit des Subjects und Objects eben das Erkennen ist. 
Auch sein selbst wird der Geist nicht anders bewusst, als indem er 
sich als Object mit sich selbst als Subject in Einheit findet. Und 
was dem Selbstbewusstseyn erst Werth giebt, es zur Persönlichkeit 
macht, nehmlich seine Fortdauer zwischen und über allem Wechsel, 
ist wieder nur diess, dass es sich auch in und über dem Andersseyn, 
d. i. der Zeit, als Einheit findet. So sehr beruht auf dieser Einheit 
das Wesen des Geistes, dass er ohne dieselbe fürchten müsste zu 
enden, aufzuhören (hte)j wie die zweite Strophe sagt. — Kü ist auch 
Kap. 66 für Bäche, kleinere Flüsse gebraucht, bedeutet aber eigent- 
lich Flussbett, Rinnsal, auch Thalgrund. Die sich entsprechenden 
Verse der beiden Strophen heissen genauer : »Thalgründe erhielten 
Einheit, damit Füllung« ; — »Thalgründe, nicht habend , wodurch 
sie gefüllt werden, müssten, furcht' ich, austrocknen« (kie). Die 
Einheit ist hier die zusammenhangende Erstreckung des Flussbettes 
von den Quellen bis zur Mündung, die es allein möglich macht, dass 
es mit dem eben so zusammenhangend hinströmenden Wasser gefüllt 
werde. Hörte diese Einheit auf, so könnte die Füllung nicht mehr 
zugeführt werden \md Austrocknung träte ein. — Wieder ein tiefer 
Qlick in die Natur ist es, wenn das Leben aller Wesen je auf eine 
ihnen zu Gnmde liegende Einheit (Monas) zurückgeführt .wird. Denn 



i83 

die Worte : »Die Myriaden Wesen erhielten Einheit, damit Leben«, 
wollen sagen, es habe jedes Wesen seine Einheit und dadurch lebe 
es. Nur indem Alles, was in und an einem (oiganischen) Wesen 
ist, und alle Wandlungen in und an ihm, sich auf eine ihm inne- 
wohnende Einheit beziehen und durch sie bestimmt werden, kann 
es lebendig heissen. Ohne eine solche unsichtbare Monas kann alle 
Stofifverbindung und aller Stoffwechsel kein Leben erzeugen. Und 
»hätten die Myriaden Wesen nicht, wodurch sie leben«, d. i. die 
Einheit, »müssten sie, furcht' ich, auslöschen« oder »vernichtet wer- 
den, zergehen« (tnte), — »Fürsten und Könige erhielten Einheit, 
damit sie wären der Welt (oder des Reiches) Richtmaass«, oder 
Ordner, Regenten, Maassgeber. Das correspondirende Verspaar der 
zweiten Strophe hat verschiedene Lesarten und scheint gelitten zu 
haben. Bei H6-schäng-küng heisst es : ffeü wäng wü l kuii käo, 
tsiäng khüng kie \ d. h. »Fürsten und Könige, nicht habend wodurch 
sie geehrt und hoch (wären), müssten fürchten zu stürzen«. Neuere 
Lesart ist: Heü wäng um \ wHischlng^ öll hUi käoy tsiäng pp., d. h. 
Fürsten und Könige, nicht habend, wodurch sie Richtmaass wären, 
und doch geehrt und hoch, müssten« pp. Stan. Julien, auf die 
Erklärung eines Commentators (Liu-kie-fu) sich stützend, setzt: 
Heü wäng kuii kady oll wä t w^i tsching, fsiängpp., d. h. »Fürsten 
und Könige, geehrt und hoch, und doch nicht habend wodurch 
sie wären Richtmass, müssten« pp. Er überträgt diess also: Si 
Us princes et les rats senorgueillissaient de leur noblesse et de leur 
ilivatian^ et cessment ^Hre Us modkles [du mande) , ils seraUnt 
renversis. Gegen diese Auffassung des genannten Commentators 
ist indess zu erinnern, dass in den sofort folgenden Worten La6- 
tsib'^'kuii und käo durchaus nicht im tadelnden Sinne als Adelstolz 
und Überhebung genommen werden können, mithin auch hier 
nicht ; \md da die Textänderung auf dieser unzulässigen Erklärung 
beruht, so dürfte sie nicht zu billigen seyn. Die Lesart bei HO* 
schäng-küng ist zu beanstanden, weil sie nicht bloss die von den 
übrigen Versen bezeugte Übereinstimmung mit der ersten Strophe 
verleugnet, sondern auch den Reim fallen lässt Diesen nimmt die 
neuere Lesart zwar wieder auf, theils aber zerstört sie den Rhythmus 
der Gedanken, indem sie im letzten Verse zweierlei nicht Zusammen- 
gehöriges vereinigt, theils bringt auch sie ktUi und käo in einen Ge- 



i84 

gensatz zu isching^ der dem angeschlossenen Folgesatze widerspricht* 
Wahrscheinlich stand in dem citirten Gedichte ursprünglich : Heüwäng 
wü \ wH th&an hiä tsching^ und La6-ts^ ersetzte, um des Nachfolgenden 
wiUen, die Wörter ihtan hiä, durch kuii käOy wobei dann das Unge- 
wöhnliche dieser Fassung die Abschreiber zu vermeintlichen Emen- 
dationen verleitete. Wir sind dieser Lesart gefolgt, da der Zusam- 
menhang jedenfalls den Sinn verlangt : Hätten Fürsten und Könige 
nicht, wodurch sie edel und hoch ein Richtmass wären, — also nicht 
die Einheit, — so müssten sie zu stürzen fürchten. Es entsteht hier 
aber die Frage, was mit dieser Einheit gemeint sei? Am nächsten 
läge es, an die sittliche Einheit der Regierenden zudenken, vermöge 
deren jene progressive Scheidung von Tugend, Menschenliebe, 
Gerechtigkeit und Schicklichkeit, welche das vorige Kapitel bddagte, 
nicht stattfinden könnte ; was denn auch zugleich die Einheit des 
Seyns mit der Erscheinung wäre, welche zur Anerkennung des sitt- 
lichen Adels, der sittlichen Hoheit zwingt. Auch ist diess keines- 
wegs auszuschliessen, vielmehr stark betont voranzustellen. Allein 
das Nächstfolgende zeigt, dass damit noch nicht erschöpft ist, was 
Laö-ts^ unter dieser Einsicht verstanden wissen will. 

^) Wenn um jener Einheit willen (»drum«, kü) die Edlen und 
Vornehmen das Geringe, d. i. das Volk, zu ihrer Wurzel machen 
(»zu etwas machen«, in dem Sinne von »als etwas annehmen oder 
ansehen«, entspricht genau dem chinesischen l — wii) , die Hohen das 
Niedrige als ihre Grundlage betrachten, so erkennen sie an, dass sie 
auch als Fürsten und Könige in einer Einheit mit dem gesanmiten 
Volke stehen, die eine wesentlich sittliche ist. Mit dieser Einheit 
und vermöge derselben sind sie als maassgebende Centra [tsching 
bedeutet auch diess) gesetzt, tmd die Bewahrung und Bewährung 
dieser Centralität in der sittlichen Einheit verbürgt ihnen die Dauer 
ihrer äusserlichen Stellung. Aber nur die in ihnen centralisirte 
Einheit verleiht ihnen diese Stellung \ an imd für sich sind sie wie 
jeder Geringste. Diess erkannte der alte Brauch der Könige und 
Fürsten an, zu welchem das Schu-king Belege giebt, und womach sie 
die eigne Person den Verlassensten und Geringsten gleichstellen, 
damit aber gerade das Bewusstseyn jener Einheit bezeugen, in 
welcher sie auch mit allen Niedrigen und Geringen stehen, aus denen 
sie hervorgegangen sind und auf die sie sich stützen. 



^— 185 — 

*) Der Sinn dieses Satzes ist nicht misszu verstehen, obgleich 
die Worterklärung Schwierigkeit hat. In den Worten iscÄi su tschhe 
wird tschlvon H6-schäng-küng und (nach ihm) in dem Khäng-hi' sehen 
WB. durch tsi€ü (2226), »fertig, fertigen, vollenden« pp. erklärt. 
Sü heisst »Zahl, zählen«, auch »einzeln, stückweise«. Hiemach hiesse 
der Satz: »fertigen im Einzelnen einen Wagen (ist) nicht haben 
einen Wagen«. Allein diese Bedeutung von tschi ist nicht gesichert. 
Nach seiner Grundbedeutung heisst es, »erreichen, bekommen«, auch 
»darbieten«. Wie man es auch erkläre, immer zeigt sich, dass von 
den wirklichen Bestandtheilen eines Wagens, nicht bloss von ihrer 
Hemennung die Rede sey. Auch findet sich in den Worten keine 
Andeutung, dass jene Stücke bereits ein Wagen gewesen seyen, der 
nun zerlegt worden und dann keiner mehr sey. Umgekehrt wird 
vielmehr gesagt, dass die fertigen (oder bekommenen, dargebotenen) 
Theile des Wagens noch kein Wagen seyen. Der Sinn der bild- 
lichen Rede ist mithin : der Stoff, das Material, wenn auch vereinzelt 
schon für seine Bestimmung formirt, werde das, was es seyn solle, 
nicht ohne dass die Idee der Einheit sich in und an ihm verwirkliche. 
Denn die Einheit ist es, welche das was ohne sie die Dinge an sich 
sind, welche deren Substrat, deren Stoff erst in das Wesen bringt, 
das an sich Werthlose imd Nichtige erst zu etwas Tauglichem und 
Würdigem macht. 

^) Übersetzt man diese Stelle : »Nicht wolle man hochgeschätzt 
werden wie ein Nephrit, noch geringgeschätzt wie ein Stein« — so 
ist das zwar grammatisch zulässig, passt aber weder in den Zusam- 
menhang, noch in La6-ts^'s Denkweise. Man übersehe nicht, dass 
der ganze prosaische Theil des Kapitels sich auf das bezieht, was in 
den Versen von Fürsten und Königen gesagt ist, und dasselbe daher 
von diesen Schlussworten gilt. Wenn sie kraft der Einheit ihrer 
sittlichen Persönlichkeit als maassgebende Centra sich mit ihrem Volke 
zusammenschliessen und so die sittlich-politische Einheit des Ganzen 
herstellen (aus Wagenstücken einen Wagen machen), so werden sie 
so hoch und edel geschätzt, wie der seltene kostbare Nephrit (Nie- 
renstein). Geht aber nicht ihr Wille imd Verlangen (pujü) auf diess 
hohe Ziel, so gehören sie schon zu dem gemeinen Haufen, finden 
Viele ihres Gleichen, wie der gemeine Stein, und werden deshalb 
geringgeschätzt, wie dieser. 



Vierzigstes KapiteL 

» Rückkehr ist Taö's Bewegniss; 
Schwachseyn ist Taö's Gepflegniss«J 
Alle Wesen der Welt entstehen aus dem Seyn, 
Das Seyn entsteht aus dem Nichtseyn.^ 



*) Das 38. Kapitel zeigte, dass der Verlust Taö's, des Bandes 
der Einheit, die niedersteigende Zersetzung des Sittlichen zur Folge 
habe, und Kap. 39 wies die prinzipielle Bedeutung der das Wesen 
setzenden und erhaltenden Einheit nach. Da dieselbe für die Sitt- 
lichkeit in Taö besteht, so erinnert der Verfasser in diesem kurzen, 
aber inhaltschweren ICapitel an die unendliche Bedeutsamkeit des 
weltwaltenden Prinzips. Je mehr dem gemeinen Bewusstseyn der 
Mitlebenden die Gottheit als der »Höchste Herr« (schdng Ti) oder 
der »Himmel« (thttm) ein Jenseitiges war, um so mehr bestrebt sich 
La6-ts^, sie unter dem Begriffe Tad als ein Diessseitiges, AUdurch- 
waltendes vorzuführen; weshalb er denn auch nie lange von der 
Welt, den Menschen oder menschlichen Dingen reden kann, ohne 
sich wiederum in die Gottheit und ihre Tiefen zu versenken, um von 
daher wieder zur Betrachtung des Menschlichen mit der Forderung 
zurückzukehren, dass dieses sich dem Göttliclien einergebe, zugestalte 
und anähnliche. — Taö ist der Ursprung aller Wesen, und wenn 
sie in Blüthe gestanden, kehrt jedes wieder zurück zu seinem 
Ursprünge. Von dieser Rückkehr (fhn) ist in den citirten Versen die 
Rede. Sie ist das Wirken, das thunlose Thun des Unbewegten, der 
Alles bewegt, Taö's Bewegniss oder Bewegen (tüng). Nicht das ist 
gesagt, weder hier noch an anderen Stellen, dass die Wesen eine 
vorübergehende Individuation des Allgemeinen seien und nach 



i87 

Ablauf und Entkräftung ihrer Entwicklungsfähigkeit wieder ins All- 
gemeine zurückkehren. Die Unzulässigkeit dieses Gedankens würde 
La6-ts^ nicht entgangen seyn. Das Allgemeine kann sich nie in 
Individuelles wandeln ; es kann nur die Unterlage geben, welche in 
das Untheilbare, das Wesenseinheit ist, gefasst wird. Reale Indi- 
viduation ist Setzung des Monas in dasjenige Seyn, aus und an 
welchem sie ihr Wesen entwickeln kann. Bis dahin war sie nicht 
etwa gar nicht, sie war nur noch nicht an sich, sondern »Bild in 
Taöa (Kap. 21), Seynkönnendes. Entwicklung des Wesens aber 
ist Überwindung des blossen Seyns und endet mit dessen Nieder- 
werfung. Indem es sich jedoch aus dem blossen Seyn, d. h. aus 
dem ihm äusserlichen, von ihm nur an- und aufgenommenen, löset 
und befreiet, kann ihm das gewonnene Ansichseyn nicht wieder 
verloren gehn, denn dieses ist ihm als Wesen zugefallen; und als 
entfaltetes Wesen, also nicht als blosse involvirte Potenz, sondern 
als evolvirte Substanz, geht es dahin .zurück, von wannen es ausge- 
gangen war, in seinen Grund und Ursprung, in Tad. So ist denn 
die Hinausbewegung in das Leben bereits Anfang der Hinausbe- 
wegung aus dem Leben, der Zurückbewegung in Ta6. Nicht aber 
geht dieser ganze Verlauf ursächlich von den Wesen selbst aus; Ta6 
vielmehr, gerade indem er die Wesen erschafft, nährt, entwickelt, 
vollendet, wirkt eben dadurch ihre Rückbewegung zu ihm. Und so 
ist denn »Rückkehren Taö's Bewegen«. — Dabei gebraucht er aber 
nicht seiner Kraft und Gewalt, sondern »Schwachseyn ist Ta6*s 
Gepflegniss«, sein Verfahren, sein Anwenden (jung). Es ist, als ob 
er nicht einmal dabei wäre, als ob es eine reine Selbstbewegung der 
Wesen, wäre , während doch jener ganze Prozess eben die Einheit 
eigner creatürlicher Zurückbewegung und göttlich selbständigen 
Zurückbringens ist. Weil der höchste Wille sich selbst der Creatur 
als ihr Lebensgesetz und als dessen Consequenzen einergeben hat, 
so kann er ihr in dieser Beziehung nie als Macht gegenübertreten. 
Sie selbst vollzieht unbewusst, aber auch ungezwungen und mit dem 
Gefühle selbständiger Freiheit die Consequenzen des ihr innewoh- 
nenden Gesetzes, das doch nur der constante Wille der mit demselben 
sie lebendig durchwaltenden Gottheit ist, imd Taö kann dabei 
»schwach seyn«. — 

•) »Alle Wesen der Welt entstehen« oder »werden geboren« ju 



i88 

jeüy d. h. sowol aus dem Seyn, als im Seyn, da ju das Verhältniss 
des Subjects zu seinem Grunde, mithin zu dem, worin oder wodurch 
es gesetzt ist , bezeichnet. Ebenso im zweiten Satze : »Das Seyn« 
entsteht aus oder »im Nichtseyn«, jü wü, — Obgleich nach anderen 
Stellen kein Zweifel ist, dass nach Laö-ts^ auch der seyende Taö 
aus und in dem vor- und überseyenden, insofern also nichtseyenden 
Taö hervorgeht, so ist doch hier nicht zunächst von Tad die Rede ; 
weder Seyn noch Nichtseyn ist von ihm ausgesagt ; sondern von dem, 
was durch Ihn ist, wird geredet, von dem Seyn, in und aus welchem 
alle Geschöpfe hervorgehn und welches flir diese die Vermittlung des 
Wesens mit der Erscheinung ist. Diess Seyn hat Taö nicht an sich, 
darum erscheint er nicht ; und in Beziehung auf dieses Seyn verhält 
sich Taö*s Seyn als Nichtseyn, als lauterer (leerer) Abgrund. War 
aber Taö vor Himmel und Erde, und ist er der Welt Anfang und 
Ursache, so ist Er auch Ursache, dass das Seyn aus dem Nichtseyn 
hervorgehe, und da Er (als der Namen Habende) »aller Wesen 
Mutter« ist, so kann das Entstehen des Seyns aus dem Nichtseyn 
eben so wenig nur blinde Evolution seyn, als das Entstehen der 
Wesen aus dem Seyn. — Zu den Versen sind diese beiden Aussagen 
insofern eine Erläuterung, als sie den Weg zeigen, den die Rückkehr 
umgekehrt zu gehen hat. Allein dasjenige Nichtseyn, in welches 
Taö die Wesen zurtickbewegt, ist nicht etwa ihre absolute Negation ; 
es ist nur die Freiheit von demjenigen Seyn, welches nicht das den 
Wesen gesetzte Ansich ist, sondern welches sie haben 0'^)$ 
welches ihnen zur Erscheinung und Entwicklung ihres substantiellen 
Seyns dient, und für sie accidentiell ist. Das ihnen gesetzte und nun 
entwickelte, unverlierbare Selbstseyn verhält sich wie ein Nichtseyn 
zu jenem Seyn. Auch Taö, sofern er sich »in das Nichtseyn zurück- 
zieht«, ist ewig und hört nicht auf. Hätte er freilich das Seyn, 
welches die Wesen haben (jfü)j so wäre er auch Erscheinung, und 
die Welt hätte keinen Platz neben ihm. So aber »geht er durch Alles 
hin ohne Gefährde«. 



Einundvierzigstes Kapitel. 

Hören Hochgebildete von Taö , werden sie eifrig 
und wandeln in ihm. Hören Mittelgebildete von Taö, 
bald behalten sie ihn, bald verlieren sie ihn. Hören 
Niedriggebildete von Taö, verlachen sie ihn höchlich. 
Lachten sie nicht , so genügte es nicht , um für Taö zu 
gelten. ^ Denn aufrichtige Worte sind es : ^ 

»Wer licht in Taö, ist wie voll Nacht, 
Wer weit in Taö, wie rückgebracht. 
Wer hehr in Taö, wie ungeschlacht, ^ 
Wer hoch an Tugend, wie ein Thal, 
Wer gross an Reinheit, wie voll Mal', 
Wer reich an Tugend, wie am Nöth'gen kahl. 
Wer fest an Tugend, wie in Schwanken, 
Wer acht an Glauben, wie in Wanken, — * 
Ein gross Quadrat ohn' Winkelflanken, 
Ein gross Gefäss, unfertig alt. 
Ein grosser Klang, der schwach erschallt. 
Ein grosses Bildniss ohn' Gestalt. "^ 
Taö ist verborgen, namenlos. 
Doch Taö nur im Verleihn und im Vollenden 

gross.« • 

• 

*) Obwol für den Menschen Alles darauf ankommt , dass er in 
die Einheit mit Taö , zu dem auch er zurückkehren soll , eintrete 
und sich in ihr erhalte, so findet die Lehre von Tad doch unter den 



igO 

Leuten gar verschiedenartige Aufnahme. Diese ist nach den 
Bildungsstufen geartet. Denn was wir im vollen Sinne e.inen Ge- 
bildeten nennen, dürfte hier dem ssi am meisten entsprechen. Der 
Schriftcharakter für ssi^ aus den Zahlzeichen für Eins und Zehn 
zusammengesetzt , bezeichnet Einen , der für Zehn gilt , und ur- 
sprünglich war ss^ wol nur ein Ausgezeichneter, ein Hervorragender, 
ein Weiserer als Andre. Davon bedeutete es dann eine obrigkeitliche 
Person , und dann einen Wolunterrichteten , da nur ein solcher ein 
Amt erhielt. Den Begriff eines doctor üteris excultus erhielt es wol 
erst bei Ausbildung der Gelehrtenhierarchie , und schwerlich dürfte 
Laö-ts^ einen eigentlich Gelehrten (Uttri^ scholar) damit bezeichnen 
wollen. Unter s<:hdng ss6y tschüng ssi und läh ssi sind also Leute von 
hoher , mittlerer imd niedriger Befähigung und Ausbildung zu ver- 
stehen. Die Ersteren, die geistig Bedeutsamsten und Gewecktesten, 
»hören sie 1 aö«, nehmlich die Lehre von ihm, »ereifern und wandeln 
in ihm«, htngtscht; — worin zugleich eine Anspielung auf die in tab 
liegende Bedeutung »Weg« ist; denn /äng heisst eigentlich »gehn, 
vorgehn , mit etwas vorgehn , thun« ; dann aber entspricht es auch 
unserm »Wandel« in übertragener Bedeutung, wie wir von einem 
Wandel in Gott reden. Rechter aufgeschlossener Geist wird sofort 
vom Göttlichen ergriffen , belebt und bestimmt , so wie es ihm ge- 
bracht wird und sucht eifrig (khin) sich ihm gemäss zu erweisen. 
Leute der zweiten Stufe, zwischen Geistes- imd Sinnenleben 
schwankend, werden von der hohen Lehre wol getroffen, von ihrem 
Inhalt aber nicht durchdrungen ; zuerst halten sie daran , dann aber 
können sie sich nicht entschliessen, sich ganz dem hinzugeben, was 
den ganzen Menschen fordert; sie wollen ihr Theil an der Welt 
behalten, und verlieren darüber wiederum ihr Antheil an Taö, 
während es bei Einigen doch auch wol Wurzel fasst und sie dann 
allmählich überwindet. Denen endlich , die nur ein gebildetes 
Sinnenleben führen und somit auf der untersten Stufe der Bildung 
stehen, ist das göttlich Übersinnliche geradezu lächerlich. Sie kitzelt 
der Widerspruch , den sie darin finden , dass ihnen das Höchste, 
welches sie in Sinnenlust und Genuss bereits zu besitzen tiberzeugt 
sind, gerade durch das, was demselben widerstrebt, zufallen sollte. 
Ihrem erdigen , nur auf Materielles gerichtetem Sinne muss es be- 
lustigend erscheinen , dass man um Etwas sorgen solle , was ihnen 



191 

gar nicht einmal denkbar erscheint. Wenn sie deshalb aber Taö's 
lachen , so ist das nur ein Beweis , dass ihnen wirklich der Über- 
sinnliche und Überirdische verkündet worden ist ; lachten sie nicht, 
so wäre das, was sie gehört, nicht genügend, um wirklich ihnen flir 
Taö zu gelten. 

2) Diessmal zeigt Laö-ts^ ausdrücklich an, dass die nachfolgen- 
den Reimzeilen ein Citat seyen. Da die beiden letzten Zeilen im 
Grundtexte genau mit den drei vorhergehenden reimen , so ist wol 
nicht zu zweifeln, dass sie ebenfalls noch zu dem Citat gehören. 
Der Zwang des durchgehenden dreifachen Reimes machte die Über- 
setzung weniger genau. Die Anmerkungen weisen die wörtlichen 
Bedeutungen nach. 

•*) Der allgemeine Gegenstand dieser Verse ist der Widerspruch 
zwischen der inwendigen Herrlichkeil des gotterleuchteten Menschen 
und seiner äusserlichen Erscheinung in der Welt, und- das Zu- 
geständniss, dass göttliche Weisheit Thorheit vor der Welt sey, 
weshalb diese sie auch verlacht. Die beiden Schlussverse enthalten 
eine Erklärung und Tröstung darüber. In den zwölf vorangehenden 
spricht die erste Vershälfte jedesmal das innere Wesen des Tad- 
getreuen , die zweite die Auffassung und das Urtheil der Welt aus, 
wie sie dem äusseren Scheine folgen. — Wem Licht über Taö auf- 
gegangen, wer im Lichte Taö's steht, dessen Geist concentrirt sich 
nach Innen und nach Oben ; er kümmert sich wenig um die Dinge 
der Welt und hat einen andern Massstab dir sie als die Welt- 
menschen, denen er deshalb »wie verfinstert« (sfi müi) erscheint, als 
fehle es ihm an der richtigen Einsicht und Schätzung derselben. 
Sein »Fortschreiten in Taö« (tsin tob) ist in ihren Augen daher »wie 
Rückschreiten« (sjo fhüi); denn je weiter er darin gelangt, desto 
gleichgültiger zeigt er sich gegen ihre höchsten Anliegen ; und je 
mehr er »erhaben in Taö« (ß tabj eigentlich »Täö gleichartig, eben- 
massig«) ist, desto mehr erscheint er ihnen »wie gemein, wie ordinär« 
(sjo lüi) ; denn was vor der Welt gross oder glänzend , gewählt oder 
fein erscheint, sucht er nicht, verschmäht er vielmehr. 

*) Ist er »hoch an Tugend«, so erscheint er der Welt niedrig 
»wie ein Thal«, weil auch Demuth, Bescheidenheit, Verbergen seiner 
sittlichen Schätze zu seiner Tugend gehört. »Gross an Reinheit«, an 
sittlicher Lauterkeit , verschmäht er allen blossen Schein und Alles, 



192 

was ihm äusserliche Ehren verschaffen könnte y daher er den Welt- 
leuten »wie schimpflich, wie schmachvoll« (sjo sjü) bedünkt. Und wie 
»reich an Tugend« er sey, sie werden ihn »wie nicht genügend« (sjo 
pu tsü) ansehen , weil ihm das fehlt, was sie für das Vorzügliche , ja 
Nöthige halten. Ist er »festgestellt, aufgerichtet an Tugend« (kidn 
te) f so ist er ihnen »wie schlaff, gedankenlos ,, unentschlossen« (sjo 
theü) , wie Einer, der nicht weiss was er will , da er alle die Mittel 
nicht benutzt, die ihm Vortheil verschaffen könnten, und überall 
Bedenken hat, die sie nicht verstehen. Ist er endlich »acht, bewährt 
an Glauben oder Treue« tsM tschtn)^ so muss er ihnen dennoch 
»wie wandelbar« (sjojü) erscheinen, d. h. wie unzuverlässig, da sie 
auch an ihn den Massstab gesellschaftlicher Heuchelei legen , und 
ihm deshalb am wenigsten trauen, wenn- und weil er ganz auf- 
richtig ist. 

^) Das Subject dieser vier Verse kann kein anderes seyn , als 
von dem bisher geredet wurde, auch bleibt in ihren Hälften die 
Entgegensetzung von Wesen und Erscheinung dieselbe, nur die 
Wendung wird eine andere. Ein so göttlicher tugendfester Mann ist 
ein »grosses Rechteck«, d. h. alle Seiten sind bei ihm wol und recht 
bemessen, und es folgt daraus, dass sie auch in entsprechenden 
Winkeln zusammentreffen; dafür hat die Welt keine Augen, ihr 
erscheint er als ein grosses Rechteck »ohne Winkel«, (um fü)^ mithin 
als Etwas, das sich selbst widerspricht. In Wahrheit ist er ein 
»grosses Gefllss« oder Rüstzeug (td khi)^ d. i. recht eigentlich und 
im höchsten Sinne brauchbar ; aber die Welt nach ihrem Sinne kann 
es nicht brauchen, für sie ist es »zu spät fertig« (whn tschJäng)^ d. h. 
nie eigentlich fertig ; sie weiss nichts mit ihm anzufangen. Hätte sie 
nur aufgeschlossene Sinne für ihn ! Denn er ist wirklich ein »grosser 
Klang« (tdfin), eine mächtige Stimme, die sie aus ihrem Sinnen- 
traume aufwecken könnte ; aber sie hat dafür kein Ohr , ihr ist sie 
von »wenigem Ton« (hi schtng). Er ist wirklich ein »grosses Bild« 
(td sidftg)^ ihr hingestellt um daran zu sehen, wie sie seyn sollte und 
wie sie nicht ist ; sie aber hat kein Auge dafür, ihr scheint es form- 
los, »ohne Gestalt« (wü htng) . — Gegen die ersten acht Verse ist in 
diesen vier folgenden insofern ein Fortschritt, der das Verhalten der 
gemeinen Welt um so mehr verdammt , als die grosse Erscheinung 
des Taövereinigten Menschen allerdings von ihr wahrgenommen, 



»93 

aber in ihrer Grösse und Bedeutung nicht gefasst wird. Man hat 
diese vier Verse auf Taö beziehen wollen ; dazu bietet jedoch der 
Text nicht nur keinen Anhalt, sondern steht ihm geradezu entgegen. 
Denn von Taö heisst es , er werde geschaut , aber nicht gesehen, 
vernommen, aber nicht gehört, gefasst, aber nicht bekommen; der 
aber , von dem hier gesagt wird , wird nach dem Sinn der Verse 
gesehn, aber nicht geschaut, gehört, aber nicht vernommen, er ist 
greifbar, wird aber nicht gefasst. 

®) Warum jene Spannung, jener Widerspruch zwischen dem 
Wesen des heiligen Menschen und seiner Erscheinung und Be- 
urtheilung bei der Welt? Weil Der, welcher sein Wesen bestimmt, 
weil Taö ein Verborgener, nach seinem Wesen Unnennbarer, der 
als solcher dem blossen Sinnenmenschen sich entzieht imd ihm auch 
nicht zu vermitteln ist. Doch nur Taö »ist gut«, schin^ taugt, weiss 
»zu verleihen«, zu versorgen, »und auch zu vollenden« ; was zugleich 
noch Erklärung , aber auch Tröstung ist , wie wenn gesagt wäre : 
Alle vollkommene Gabe kommt von Oben, von Dem, den die Welt 
nicht kennt , der aber den Seinen bekannt ist , sie versorgt und sie 
auch vollenden wird. 



13 



Zweiundvierzigstes Kapitel. 

Taö erzeugt Eins , Eins erzeugt Zwei , Zwei er- 
zeugen Drei , Drei erzeugen alle Wesen. Alle Wesen 
tragen das Ruhende und umschliessen das Thätige ; die 
vermittelnde Naturseele bewirkt die Vereinigung. ^ 

Was die Menschen hassen, ist Verwaisete, Wenig- 
keiten , Unwürdige zu seyn , und Könige und Fürsten 
machen es zu ihrer Bezeichnung. Denn ein Wesen — • 
»bald nimmts ab und nimmt doch zu , bald nimmts zu 
und nimmt doch ab«.^ Was Andre lehren, das lehre 
ich auch.^ »Gewaltthätige, Halsstarrige erreichen nicht 
ihren Tod. « * Ich will daraus einen Lehrgrund machen. ^ 



^) Auf den ersten Blick scheint diess Kapitel in zwei unzu- 
sammenhängende Stücke auseinanderzufallen. Es wird sich zeigen, 
dass dem nicht so sey , und dass das erste Stück seinen bestimmten 
Platz im Gedankenflusse des Verfassers einnimmt, ja dass es, so tief 
und bedeutsam es an sich ist , hier doch nur zur Bestätigung eines 
anderweiten allgemeinen Gedankens verwendet wird. Eben diess 
aber lässt vermuthen, dass es nur Dogmen anführt, die bei den Taö- 
Bekennem längst bekannt waren und weder einer Einführung noch 
Erklärung zu bedürfen schienen. Auch ist bei ihnen das erste Satz- 
ganze noch heute Hauptdogma und Symbol, obwol sie es inzwischen 
mit dem abgeschmacktesten Inhalt ausgekleidet haben. Von den 
chinesischen Auslegern sind diese wichtigen Aussprüche theils nicht 
nach ihrer grundlegenden Bedeutung gewürdigt, theils nicht mit der 
erforderlichen Voraussetzungslosigkeit untersucht worden. Am 



195 

wenigsten haben sie der Aufgabe genügt , sie aus dem Ganzen des 
Systems zu erklären. Stan. Julien, seinem Plane getreu, bringt nur 
Mittheilungen aus ihren Commentaren und lässt sich auf die rück- 
ständigen Schwierigkeiten nicht ein. Ausführlicher hat es A. R^musat 
in seinem Mitnoire sur la vie ei les oeuvres de Laa-iseu behandelt. 
Allein das Bestreben , bei La6-ts^ Verwandtes mit pythagoräischen, 
platonischen und neoplatonischen Philosophemen nachzuweisen, hat 
des geistvollen Mannes Blick getrübt. — Zunächst bedarf es der 
Feststellung einiger Begriffe, und zwar aus dem zweiten Satzganzen. 
Was der obige Text durch das »Ruhende« , das »Thätige« und die 
»Naturseele« wiedergiebt, sind die drei berühmten Begriffe jin^ jäng 
und khi, welche die ganze spätere Naturphilosophie der Chinesen 
beherrschen und längst ins allgemeine Bewusstseyn übergegangen 
sind. Schon bei Khüng-ts^ , im Commentar zum Ji king und im 
Hf tsd, finden wir sie häufig angewendet, bei Lie-ts^ mehrfach 
durchgearbeitet. Dagegen kommen die Wörter in der übertragenen 
Bedeutung für die drei Naturprinzipe in der älteren Literatur (in 
den Texten Wön-wängs und Tscheä-küng's ziun Ji king , im Schü 
king , Schi king und Ji 11) nicht vor ; sie stehen da nur in ihren 
ursprünglichen, eigentlichen Bedeutungen. Bei La6-ts^ finden sie 
sich nur hier und vereinzelt einige Mal khi. Die Art und Weise 
jedoch, wie La6-ts^ und bald nach ihm Khüng-ts^ diese Ausdrücke 
als bekannt gebrauchen , lässt schliessen , dass ältere Denker sie für 
die auch von ihnen angenommenen bestimmten Begriffe bereits ge- 
prägt hatten. Sonst hätte Lie-ts^ (um 400 v. Chr.) kaum sagen 
können : »Vor Alters (ä tschl) haben die heiligen Menschen fest- 
gestellt, Jin und Jäng seien die Prinzipe von Himmel und Erde. 
Indem sie das Gestaltete aus dem Ungestalteten hervorgebracht, 
seien Himmel und Erde wiikiich hervorgebracht worden» etc. — 
Jtn heisst ursprünglich »dunkel«, dann das finster Gestaltlose, 
Schwere , in sich Verschlossene , daher die abstracte inerte Masse, 
aber als empfängliche ; weshalb es auch das Weibliche, Unterthänige, 
Irdische bezeichnet. Jäng ist das Hellstrahlende, Alles Erleuch- 
tende, Gestaltende, Leichte, Aufschliessende, Zeugende, daher auch 
das Männliche, Herrschende, Himmlische. Khl (vgl. Kap. 10, 
Anm. 2) ist Hauch, Athem, Lebenshauch, Lebensseele, doch 
durchaus als ein Physisches , allen Naturgebilden noth wendig Inne- 

13*. 



196 

wohnendes gedacht. Alle drei Prinzipe gehören lediglich dem 
natürlichen Daseyn an und constituiren vornehmlich das Organische, 
doch auch das Anorganische. Alles was Krafläusserung ist, An- 
ziehung und Abstossung, Licht und Wärme, Erregen und Bewegen, 
Zeugen und Nähren etc. gehört dem/V2^, weshalb wir es am an- 
gemessensten durch »das Thätige« wiederzugeben vermeinten. Diess 
thätige Prinzip müsste sich jedoch in sich selbst verlieren , hätte es 
nicht ein Object seines Wirkens ; das ist das an sich Unthätige , der 
blosse Stoff, als inert und als begränzendes Accidens des thätigen 
Prinzipes gedacht , also das an sich selbst durchaus »Ruhende«, das 
j'm, Inimer aber wird dsis Jm als das Frühere und Ältere betrachtet, 
zu dem das Jäng hinzukommt, und beide treten erst vermittelst des 
sie einigenden JkAi in Verbindimg. Man sieht , dass die Chinesen 
schon vor etlichen tausend Jahren über das Verhältniss von Stoff und 
Kraft gedacht haben, und schon durch die reinliche Unterscheidimg 
der beiden Prinzipe, sowie durch die Einsicht, dass diese nur durch 
ein drittes synthetisches Prinzip aneinander gebunden sein können, 
dem trüb umhertastenden modernen Materialismus bei weitem über- 
legen sind. — Betrachten wir nun das zweite Satzganze näher, so 
zeigt uns das Zeitwort /jj^ , wie die Wesen sich zumyx«, das Zeitwort 
päoy wie sie sich zum y<^^ verhalten, ßti heisst »tragen«, an sich 
oder auf sich tragen, stützen, sowie sich worauf stützen (scAif 2807), 
auch aufnehmen , auf sich nehmen. Alle diese Bedeutungen sagen, 
dass die Wesen , die Geschöpfe (woe) das ßn als etwas für sie 
Äusserliches an sich haben. Pdo heisst »umschliessen«, umfassen, 
enthalten, innehaben, auch in sich aufnehmen. Das jät^ ist ihnen 
also ein Innerliches, Inwendiges. Die Verbindung jenes Äusser- 
lichen, an sich Inerten, mit diesem Innerlichen, nur Thätigen, wäre 
aber nicht schon von selbst da, sie muss durch ein Drittes bereits — 
von Anfang, in der Erzeugung — vollzogen seyn : »Das Mi bewirkt 
die Vereinigung« , die harmonische Verbindung beider. H^M erhält 
das Beiwort ischhüng^ das soviel ist als tschüng (4886) und hiemach, 
zufolge des Kuäiig jtin , »verbinden, vereinigen, vermitteln« heisst ; 
eine Bedeutung, die hier ungleich passender ist, als parvutusy 
ascendensy vacuus etc, — Geht nun hiemach der Begriff eines Ge- 
schöpfes in dessen Verbindung seines//« mit seinem 7^^ vermittelst 
des khl auf? Ist es nur diess? Das kann nicht La6-ts^'s Meinung 



197 

seyn. Nach ihm waren ja (Kap. 21) die Bilder, d. h. wie die 
Geschöpfe sind, und ihr Wesen, d. i. was sie sind, in Taö auf 
übersinnliche Weise, bevor sie noch entstanden. Und »die Myriaden 
Wesen« sind ja die Subjecte, welche dasßn an sich und da&jäng in 
sich haben. Wir können daher nur annehmen , dass das , w a s die 
Geschöpfe sind , mittelst des hier angegebenen Naturvorganges zu- 
gleich im Seyn (Kap. 40) heraustrete und so ein Seyn für sich 
erhalte. Und wenn es (ebenda) heisst , alle Wesen entständen im 
Seyn , so irren wir wol nicht , wenn wir diess geschöpfliche , noch 
unterschiedslose Seyn als die ursprüngliche Indifferenz des//« und 
jäng bei Laö-ts^ voraussetzen, aus welcher sich vermöge der 
Diiferenziirung dann das khi entbindet. Jedenfalls aber zeigt die 
nähere Betrachtung, dass hier nur von Verhältnissen innerhalb der 
geschöpflichen Welt und von geschöpflichen Prinzipen geredet sey. 
Wenden wir uns nun zu den Anfangsaussagen ! Was haben wir 
uns unter den Eins , Zwei , Drei zu denken ? Berechtiget uns irgend 
Etwas zu der Annahme , dass hier Ähnliches zu Grunde liege wie 
die Zahlenlehre des Pythagoras oder die Zahlenmystik der Cabbalah ? 
Was Kap. 39 von der den Dingen eingeschaffenen (Wesens-) Ein- 
heit gesagt ist , wird man dazu nicht rechnen , die Erwähnung der 
Zahl Dreizehn im 50. Kap. bietet zu wenig Anhalt, und nach 
sonstigen Belegstellen wird man sich umsonst umsehen. Dennoch 
möchten wir nicht mit Abel R^musat sagen , es sey klar , dass der 
chinesische Philosoph die 2^hlen nur als Symbole gebrauche oder 
als räthselartige Bezeichnungen , um Wesen anzudeuten , denen er 
keinen Namen geben könne oder wolle. Man sieht nich^ab, warum 
den Zahlen ihre Bedeutung sowol für die Priorität als für die Wesen- 
heit des durch sie Bezeichneten entzogen werden solle; vielmehr 
wird anzunehmen seyn , dass in dem Eins , Zwei , Drei sowol der 
BegriflT des Ersten , Zweiten , Dritten , als der der Monas, Dyas und 
Trias enthalten seyn und dadurch gera<}e die Wesenheit des Be- 
zeichneten ausgedrückt werden solle. Richtig aber ist , dass es zu- 
gleich dem Nachsinnen des Lesers überlassen werde , aufzufinden, 
was denn dieses so Bezeichnete sey. Die herkömmliche Auslegung 
ist darüber nicht im Zweifel. Das Eins , sagt sie , ist Taö sofern er 
das Nichtseyn ins Seyn wandelt, die Zwei sind //« updy<J«if, die 
Drei sind ebendieselben, durch das khi verbunden. Auf den ersten 



198 

Blick empfiehlt sich diese Auslegung, bei näherer Prüfung erregt sie 
jedoch die grössten Bedenken. Da hier mit klaren Worten steht: 
San s^ttg wdn woe^ »die Drei erzeugen oder bringen hervor die 
Myriaden Wesen« , und Laö-ts^ sonst überall betont , Ta6 sei aller 
Wesen Mutter, Taö bringe sie hervor tahs^ng tschi (z. B. Kap. 51.), 
so können wir dem Schlüsse nicht entgehen, dass jene Drei eben 
T a ö s e i e n. Dann aber würde obige Auslegung uns nöthigen , die 
drei Naturprinzipien y/«,/^«5f imd khi als innere Wesenheiten Tad's 
selbst anzusehen, und diess wäre nicht nur im Widerspruch mit dem 
diu-chaus tibersinnlichen Begriffe Tad's bei La6-ts^, sondern es wäre 
dann auch höchlich zu verwundem , dass er sonst nie und hier nur 
gelegentlich anführte , was doch darnach zum Wesen Ta6*s not- 
wendig gehören würde. Diesem Bedenken, das an sich schon 
schwer genug ist , gesellt sich das zweite , dass der Ausdruck sing^ 
hervorbringen, erzeugen, ins Leben setzen, bei jener Erklärung, auf 
die Entstehung der drei Naturprinzipe auseinander in einer ganz 
unangemessenen Weise angewendet würde. Müssen uns schon diese 
Bedenken, denen sich noch andre hinzufügen Hessen, dahin führen, 
die Auslegung der chinesischen Interpreten zu verlassen, und tms 
in La6-tse's Gedankenkreise nach einer treffenderen umzusehen, so 
werden wir doch dabei den Satz, dass die Drei Taö seien, festhalten 
müssen. Zu seiner Erklärung aber bieten die Kap. i, 6, 21 und 25 
hinreichenden Stoff. 

Schon im Ersten Kapitel war von einer Dyas in Taö die Rede, 
welche dort »diese Beiden , diese Zwei« (thsl Uäng) genannt wurde ; 
der Erste von ihnen war der ewig Namenlose, der Zweite der 
Namen-Habende ; Beide zusammen aber heissen Taö. Diess ist die 
einzige Dyas im Wesen Taö's , von welcher Laö-tsd weiss , und sie 
haben wir mithin auch als diejenige zu erkennen , von welcher hier 
die Rede ist. Von diesem gesicherten Punkte aus haben wir sowol 
die Monas, als die Trias aufzusuchen. Doch über die Erste kann 
kein Zweifel seyn. Denn da der benannte Taö, welcher aller Wesen 
Mutter, der Nachfolgende und Zweite ist, so muss der Unaussprech- 
liche und Unnennbare vor ihm und somit der Erste und Alleinige 
seyn. Wie aber ist es dann zu verstehen, dass nach der ersten Aus- 
sage, Taö diesen Ersten und Alleinigen erzeuge oder hervorbringe? 
Dieses s^ng ist von Wichtigkeit, denn es bezeugt, dass Laö-ts^ einen 



199 

inneren Lebensprozess in Taö erkennt , vermöge deren die Gottheit 
sich zu einer Mehrheit (Dreiheit) entfaltet, innerhalb und über 
welcher sie der einige Taö (oder Gott) ist. Hier bezeichnet er sie 
Noth halber, weil er ihren Namen nicht kennt (Kap. 25), schon 
insofern sie nur erst das allgemeine Urwesen ist, mit dem Namen 
Taö. Es ist der Absolute, Alles Enthaltende, als noch unentfaltetes 
Urwesen (Kap. 21), womit das Kapitel anhebt. In diesem war auch 
die Möglichkeit des Seyns und insofern war er noch ein Vorseyender 
und Nichtseyender. Die erste Stufe des göttlichen Lebensprozesses 
ist es nun, sich als Monas ins Seyn zu setzen und damit zugleich das 
Seyn aus dem Nichtseyn hervorzubringen. Jetzt ist er die wirkliche 
Monas, der Alleinige, aber weil noch Eins mit dem Seyn, noch 
nicht der alleinige Gott. Daher zieht er sich wieder zurück , kehrt 
er wieder zurück ins Nichtseyn (fu kuii jü wü wce — eigentlich 
noch kühner: ins Nichtwesen, Kap. 14), erzeugt aber damit zugleich 
den Zweiten, den als Taö, als Gott Seyenden, über dem von ihm 
herausgesetzten Seyn. Weil er diess Seyn, in und aus welchem Alles 
hervorgeht (Kap. 40), als ein Seyn an sich heraussetzt, heisst er der 
Urgrund oder Anfang Himmels und der Erde, d. i. des Universums 
(Kap. i). Sein von ihm erzeugtes anderes Selbst aber, der Zweite, 
der seyende Gott, ist es, der im Seyn aller Wesen Mutter wird, 
d. h. sie gestaltet und entwickelt. Welches ist nun aber das Dritte, 
das von der Dyas hervorgebracht wird imd mit ihr die Trias bildet? 
Schon das Ende des Ersten Kapitels giebt darüber einen Fingerzeig. 
Die Dyas wird dort bezeichnet als »alles Geistigen Pforte«, als die 
tiefste Tiefe, von der alles Geistige ausgehe. Kap. 6 hörten wir von 
dem unsterblichen Geiste (Thal-Geist), welcher ewig wie seyend 
und das tiefe Weibliche, zugleich die Wurzel Himmels und der Erde, 
und als solche ebenfalls die Pforte genannt wurde. Und Kap. 21 
wusste von dem höchst zuverlässigen Geiste Taö's , der in Taö sey. 
Da eine solche Zugehörigkeit zu Taö mit gleich göttlichen Attributen 
von nichts Anderem ausgesagt wird, so dürfen wir wol unbedenklich 
annehmen , dass dieser aus den Tiefen der Dyas ausgehende Geist 
das Dritte sey , welches , zu jener hinzutretend , sie nun zur Trias 
vollendet, womit dann der innere Lebensprozess der SelbstentÜEiltung 
Tad's abschliesst. Und nun erst , als in diesen drei Gestalten der 
lebensvoll Eine Taö, wendet er sein reines Wollen, d. i. sein Thun 



200 

ohne Thun , dem ihm zum Object gewordenen Seyn zu , um in und 
aus diesem allen Dingen den Ursprung zu geben und sie hervorzu- 
bringen. — Wer die verschiedenen Aussagen tmseres Denkers sorg- 
fältig prüft und durch einander ergänzt , wird nicht finden , dass wir 
zuviel aus ihnen entwickelt oder gar Fremdes in sie hineingetragen 
hätten. Aber mit freudiger Verwunderung wird er bemerken, bis' 
zu welcher reinen Höhe bei diesen alten Taö-Bekennem die Er- 
kenntniss der göttlichen Trinität bereits gelangt war , welche , weil 
sie der Nothwendigkeit, nicht der Freiheit Gottes angehört, auch in 
den höheren mythologischen Religionen, wenn auch nur beschränkt 
und verworren, zum Ausdruck gebracht war. 

Nach der vorstehenden Erklärung würde nun freilich der von 
den chinesischen Auslegern zwischen dem ersten und zweiten 
Satzganzen angenommene Zusammenhang, womach im zweiten 
genannt würde, was im ersten durch die 2^1 bezeichnet ist, auf- 
gehoben ; allein diess fordert auch der Zweck dieser Aussagen im 
Fortschritt der Gedanken. Nicht ohne Grund wird in dem Nächst- 
folgenden an einen Ausspruch des 39. Kapitels erinnert. Dort war 
gezeigt, wie das Höhere, Entwickelte, zu seiner Grundlage das 
Niedere, Unentwickelte habe. Kap. 40 warf ein neues Schlaglicht 
auf diesen Gedanken, und Kap. 41 wies nach, wie bei den Menschen 
daraus eine Spannung zwischen Wesen und Erscheinung entstehe. 
Um nun von jenem Gedanken fortschreiten zu können, sollen ihn, 
bevor er in neuer Wendung und Anwendung zurückgerufen wird, 
unsere beiden Sätze als für Gott und Welt geltend belegen. Taö's 
unterschiedlose Abgründigkeit ist die einfache unscheinbare Grund- 
lage, aus welcher er sich durdi dreimal gesteigerte Selbstsetzung zur 
Schöpferherrlichkeit erhebt. Und in der Schöpfung selber ist das 
leT^los Ruhende, der dunkle Niederschlag des Seyns, das /«i, die 
niedrige Grundlage, aus welcher durch Aufnahme des belebend 
Thätigen, dts Jängj und durch Erhebung beider zu einer .Einheit 
mittelst des- ausgleichenden und begränzenden Prinzips, des JkAif die 
Weltfülle der Naturwesen hervorgeht. 

2) Was das Leben Taö's und der ganzen Natur lehrt, das wollen 
die Menschen bei sich selber nicht gelten lassen. Sie wollen nicht 
anerkennen, dass die Grundlage ihres Seyns an und für sich selbst 
ein Hülfloses, Weniges, Werthloses ist, was doch Könige und Fürsten. 



201 

aus Bescheidenheit anerkennen und womit sie zugestehen, was der 
letzte Vers des vorigen Kapitels sagte, dass Taö allein zu verleihen 
und zu vollenden vermag ; weshalb sie gerade als Mächtige, Grosse 
und Treflfliche anerkannt werden. Und nun folgt ein Paradoxon,, 
von welchem nach seiner EinfUhrungsformel (kü woe^ vgl. Kap. 29, 
Anm. 2)y nach seiner Allgemeinheit und seiner Fassung, sowie nach 
dem folgenden Satze, anzunehmen ist, dass es zu Laö-ts^^s Zeit ein 
bekanntes Sprüchwort gewesen sey. Im Zusanomenhange mit dem 
Voranstehenden hat es etwa den Sinn des Schriftwortes : Wer sich 
selbst erniedriget, wird erhöhet, wer sich selbst erhöht, wird ernie- 
driget; doch sagt es noch allgemeiner: Wess man sich freiwillig 
entäussert, das wird Einem gewährt, was man sich anmaassen will, 
erlangt man nicht. Nach La6-ts^ Gesinnung würde es sagen : Wer 
sich seines Selbst entäussert, wird es gewinnen, wer sein Selbst 
voranstellt, wird es verlieren. Man wird an das Wort bei Lucas 
erinnert, (17,33): Wer suchet seine Seele zu erhalten, wird sie 
verlieren, und wer sie verlieren wird, wird sie lebendig machen. — 

^) Die Ausleger wissen mit diesem Satze nichts anzufangen und 
einige erklären ihn sogar, als ob das Gegentheil dastände. Er wird 
sofort klar, wenn man die vorangehenden Worte ftir ein volksläufiges 
Sprüchwort erkennt. La6-ts^ hat sie aus der andern Menschen 
Munde genommen, und er hält ihnen als seine Lehre vor, was sie 
selbst lehren, aber weder gründlich verstehen noch befolgen. 

^) Ohne Zweifel war auch diess ein allbekannter Spruch, wie 
ihn denn Khäng-hi's WB. (unter Uän^ als eine alte Goldschmieds- 
inschrifl anführt. »Sein Tod« oder »sein Sterben«, khi s/i^ ist das 
Gegentheil von dem Sterben durch Andere, also, wie Stan. Julien 
richtig umschreibt, um mort naturelle. Wer gedächte hierbei nicht 
abermals des Spruches: Wer das Schwert nimmt, wird durch das 
Schwert umkommen ? — Liäng heisst eigentlich ein Balken, Brücken- 
balken, dann dias Festie, Harte, Starre. Wer mit Gewalt und Hart- 
näckigkeit vorgeht, will dadurch die Herrschaft seines Willens 
durchsetzen, verliert darüber aber das Leben. Er will gewinnen 
und büsst ein. Insofern ist dieser Spruch Erläuterung und Beleg des 
vorigen. Dem Nachsinnenden beweist er zugleich, dass dadurch 
sich ein Waltendes und Leitendes kundgiebt, das, obgleich es — 
und gerade weil es nie an sich hervortritt, das AUermächtigste und 



202 



Durchdringendste ist, so dass weder Cvcwalt noch Hartnäckigkeit vor 
ihm Stand hält. 

*) Von den ebengenannten Gesichtspunkten aus will der Ver- 
fasser die Andern (»die Menschen«) mit ihren eignen Waffen schlagen, 
aus dem, was sie lehren, seine Lehre ableiten. Diese folgt dann im 
nächsten Kapitel. In den Worten: ngü tsmng / ivh kidofü bezieht 
sich das \ (»nehmend«) nicht ^juifü^ aber auch nicht, wie Hö-schäng- 
küng will, auf das Subject des vorbeigehenden Satzes, sondern auf 
den ganzen Inhalt desselben: »Ich werde daraus (es nehmend) machen 
kidofü^ der Lehre Grund«. Fü, gewöhnlich »Vater«, wird zunächst 
durch kHi (6806), »Gesetz, Regel, Grundsatz« erklärt; es ist im 
Allgemeinen, wovon Jemand oder Etwas herkommt, und Vater ohne 
Zweifel die ursprüngliche Bedeutung. Etwas zum Grunde oder Aus- 
gange einer Lehre machen, heisst, sie daraus ableiten. 



Dreiundvierzigstes Kapitel. 

Der Welt Allemachgiebigstes überwältigt der Welt 
AllerhärtestesJ Das Nicht-Seyende durchdringt das 
Zwischenraumlose.2 Daraus erkenne ich des Nicht-Thuns 
Vortheil.^ — Des Nicht-Redens Lehre, des Nicht-Thuns 
Vortheil, Wenige in der Welt erreichen sie«^ 



^) Es folgt nun, was La6-ts^ aus den von ihm aufgenommenen 
Volkssprtichen geschlossen hat. Tschht tschhtng kam Kap. 12 im 
Sinne von Pferderennen vor. Als Zeitwort mit einem Object ver- 
bunden heisst es »voranrennen, überrennen«, und in übertragener 
Bedeutung »übertreffen, übermögen, überwältigen«. Das Nachgie- 
bigste, Weichste zeigt sich mächtiger, als das Härteste. Die Inter- 
preten denken hierbei an das Wasser, von dem dasselbe im 78. Kap. 
gesagt wird. Der Eine erinnert daran, dass es in Metall und Stein 
eindringe, der Andre, dass es Hügel und Berge umstürze. So richtig 
das ist, so kommt es dem Verfasser doch offenbar auf ein Höheres 
an, als das Wasser. Da das gleich folgende »Nicht-Seyende« wie 
wir früher gesehen, nur Ta6 sein kann, so zeigt der Zusammenhang, 
dass das »Allemachgiebigste« gleiche Bedeutung haben muss. Das 
Allerhärteste (die Vorliebe La6-ts^, fUr Symmetrie des Ausdrucks 
spricht für die Lesart thtan hiä tscht tschi kiän) ist sowol ethisch als 
physisch zu verstehen. Wie bei Stein und Fels, so auch bei dem 
Gewaltthätigen und Starren zeigt Taö sich nie hemmend und ent- 
g^enstemmend, nie beherrschend und Zwang übend, nie setzt er 
eigne Gewalt der Gewalt, eigne Härte der Härte entgegen ; dem 
Natürlichen gegenüber ist das Übernatürliche, dem Seyenden gegen- 



204 

über das Überseyende das Allernachgiebigste , Biegsamste, Allem 
Weichende. Aber ohne eigne Gewalt und Härte weiss es den 
gewaltsamen Tod des Gewaltthätigen und Harten herbeizuführen. 
Auf Kampf verzichtend weiss es den Widersacher zu besiegen. 

2) Das Nicht -Seyende ist ohne Zweifel Taö, von dem alles 
Seyn urständet, sowol sein eignes, als das der Weltwesen. Wü jeü 
kann hier nicht durch »Nicht-Seyn«, sondern, da eine Thätigkeit von 
ihm ausgesagt wird, nur durch das »Nicht-Seyende« übersetzt werden. 
Es kann damit ebensowol das lautere Wesen gemeint seyn, sofern es 
nur wesend, noch nicht seyend ist, als sofern es zwar seyend, aber 
im. Vergleich zu dem geschöpflich Seyenden wie nicht seyend ist. 
So geht es ein in (sji ju) oder durchdringt es »das Zwischenraum- 
lose«, wü kiän. Kiän heisst ursprünglich »Thürspalte, Spalte«, dann 
»Öffnung, Zwischenraum« . Wü kiän ist also was keine Zwischenräume 
hat, das Continuirliche, Ungetheilte, was durchaus ein geschlossenes 
Ganze ausmacht, wie ein Individuum. So fasst es auch H6-schäng- 
küng, indem er trefilich bemerkt : »Taö — durchdringt die Geister 
und alles Lebendige«. Denn jedes geistige und lebendige Prinzip, 
jede geschöpfliche Monas, ist flir alles Seyende, was nicht es selbst 
ist oder nicht sich unterworfen und in sein eignes Seyn hineingezogen 
hat, undurchdringlich, weil es ein Ungetheiltes ist \ es schliesst aber 
nur aus, was wie es selbst, einSeyendes ist, nicht Taö, dem es einen 
Widerstand nicht entgegensetzen kann. 

'^) Laö-ts^ schloss daraus, dass der Gewaltthätige, Halsstarrige 
seiner Strafe nicht entgeht, er müsse Taö nicht widerstehen können, 
und daraus ergeben sich ihm diebeiden allgemeinen Sätze, mit denen 
diess Kapitel beginnt. Nun aber wirkt Taö dergestalt durch seine 
blosse Anwesenheit, ohne selbst zu handeln, mithin nicht-thuend, 
und das erweist den Vortheil , das Gewinnbringende (jeu fi) des 
Nicht-Thuns. Denn das Thun findet Widerstand, setzt ihn sogar 
voraus, was beim Wirken durch blosse Kimdgebung des Wesens 
nicht der Fall ist. In Wahrheit gewonnen wird daher nur durch das 
Nicht-Thun,. nicht durch das Thun. Vom Thun gilt daher: wer es 
verliert oder darauf verzichtet, der gewinnt. 

*) Lehre ohne Worte, schweigende Lehre kann nur geben, wer 
durch sittliche Grösse und Reinheit den Menschen zur Anschauung 
bringt, wie sie nicht seyen, imd wie sie seyn jsoUen und können. 



205 

Nichts schreiet lauter, als das stumme Beispiel. Dadurch wird eine 
unwiderstehliche sittliche Macht ausgeübt , welche zur Erreichung 
der sittlichen Zwecke alles Thuns überhebt, mithin den erwünschten 
Vortheil oder Gewinn bringt ohne Thun. So zu lehren und zu 
gewinnen setzt indessen eine solche Vollendung der Persönlichkeit 
voraus, dass nur Wenige es dahin bringen. -^ Wir lesen denSchluss- 
satz mit Stan. Julien : thtan hiä hl ki tschi. Minder verbürgt ist die 
Lesart: thicm hiä tscht hl jeü ischh tsäi^ »ach das ist selten in der 
Welt!« Bei unserm Schriftsteller spricht die geringere WortfUUe und 
die grössere Gedankenmenge ftir die Ursprünglichkeit, und das ki 
fugt doch den Gedanken der Erreichbarkeit jener Vorzüge hinzu. 



Vierundvierzigstes Kapitel. 

Name oder Person, was ist näher? Person oder 
Besitz, was ist mehr? Erwerben oder verlieren, was ist 
schlimmer?^ Daher — 

»Wer zu sehr liebt, 

Nothwendig gross drangiebt ; 

Wer viel ergiert, 

Nothwendig stark verliert.^ 

Wer Gnüge kennt, 

Wird nicht geschändt ; 

Wer still kann stehn, 

Wird Fahr entgehn ;^ 

Kann dabei lange dauern«.^ 



^) In welchem Sinne sich La6-ts^ das im 42. Kapitel angeführte 
sprüchwörtliche Paradoxon angeeignet habe, und was demnach eigent- 
lich für Ge inn und Verlust achten sey, — mit Beantwortung dieser 
Frage beschäftigen sich dieses und die nächsten Kapitel. Dass die 
Person, das eigne Selbst (schln)^ Jedem näher liegen sollte, als der 
Name oder Ruhm vor der Welt, Jedem schätzbarer sein sollte, als 
der zeitliche Besitz von Hab und Gut, versteht sich eigendich von 
selbst ; und doch mag man wol fragen, ob dem auch so sey» wenn 
man sieht, wie viele ihre Person dransetzen, um Ruhm oder Reich- 
thum zu erwerben. Gleichwol wird Jeder zugeben, dass Verlieren 
schlimmer, schmerzlicher ist, als Erwerben oder Erlangen. Und 
soviel Einer an Ruhm und Reichthum erwirbt, soviel verliert er an 
seinem Selbst, oder wie wir sagen würden, an seiner Seele. Und 
nicht sdlein diess, sondern er muss auch das Erworbene wieder 
aufgeben, und hat am Ende nur den Schmerz doppelten Verlustes. 



207 

^) Was unser Autor aus der dem Leser zugeschobenen Antwort 
auf die gestellten Fragen weiter schliesst, lässt er ein Versdtat aus- 
sprechen. Nach dem Zusammenhange , in welchen er es zu dem 
Vorhergesagten bringt, bezieht sich das »zu sehr lieben«, scAin ngäiy 
zunächst auf Ruhm und Besitz, war ursprunglich aber wol allgemeiner 
gedacht und in Bezug auf Alles, dem man eine grosse Leidenschaft 
widmet. Bei solcher Leidenschaft muss man die richtige Schätzung 
der Dinge verlieren, und lun zu erreichen, was man liebt, giebt man 
oder wendet man beträchtlich dran. Fähevsst »ausstreuen, ausgeben, 
aufwenden, sich's kosten lassen, dransetzena. In La6-ts^'s Sinne 
dürfte sich diess auf das Selbst beziehen, von dem man der Leiden- 
schaft beträchtlich opfert. »Ergiert«, mit Gier ansammelt. Thsäng 
heisst »hüten, verbergen, ansammeln, aufhäufen«. »Wer viel auf- 
häuft, verliert nothwendig erheblich«, wenn er nehmlich verliert, was 
ja einmal, am Ende des Lebens, eintreten muss. Also : Was man 
leidenschaftlich liebt, möchte man gewinnen, und um es zu gewinnen, 
setzt man beträchtlich dran, was man also verliert. Was man aber 
auch gewinne und aufhäufe, je mehr es ist, desto grösser der Verlust, 
wenn man es einmal aufgeben muss. 

^) Genügsamkeit und Zurückhaltung schützen vor jenem doppelten 
Verlust. Warum sollte man sie denn nicht vorziehn ? Durch die Erste 
leidet man nicht an seine Ehre, denn »sich genügen wissen, schändet 
nicht«. Durch die Zweite entgeht man der Gefahr, welcher Leiden- 
schaft entgegentreibt, denn »stillstehn zu wissen, gefährdet nicht«. 
TsM heisst »stillstehn, stehn bleiben, anhalten«, und vor Etwas 
stillstehn bedeutet sich seiner enthalten. Khäng-hi's WB. erklärt es 
in unsrer Stelle für synonym mit tsü^ sich genügen, also gleichsam 
bei Etwas stehn bleiben. 

^) Zu entscheiden, ob dieser Sprudi noch zu den Versen geh^e 
oder ein Zusatz La6-ts^*s sey, kann nur dem Gefühle für poetische 
Abrundimg überlassen werden, wornachwir uns für das Erste erklären 
müssen. Sehr gut bemerkt Hö-schäng-küng zu dieser Stelle : »Weiss 
der Mensch stillzustehn und sich zu genügen, so hat er Glück und 
Gut in sich selbst. Sich selbst beherrschend, beschwert er seinen 
Geist nicht; ein Land beherrschend, drückt er das Volk nicht; drum 
kann er lange dauern«; — weder sich selbst reibt er auf, noch 
gefährdet ihn äussere Gewalt. 



Fünfundvierzigstes Kapitel. 

■ 

»Der recht Vollkommne ist wie unzulänglich; 
Wess e r gebraucht, ist unvergänglich. 
Der recht Erfüllte ist wie leer ; 
Wess e r gebraucht, erschöpft sich nimmermehr. 
Der recht Gerade ist wie krumm, 
Der recht Gescheidte ist wie dumm. 
Der recht Beredte ist wie stumm «.^ 
Unruhe überwindet Kälte, Ruhe überwindet Hitze. 
Der Reine, Ruhige wird der Welt Richtmaass.^ 

^) Nachdem Laö-tsd gelehrt, man solle verzichten, um zii 
gewinnen (Kap. 42), auch auf das eigne Thun verzichten (Kap. 43), 
denn was man damit gewinne, sey in Wahrheit doch nur Verlust 
(Kap. 44), so zeigt er nun, wie der heilige Mensch sich des eignen 
Hervortretens und Darbietens enthalte und doch gerade dadurch 
fllr die Welt seinen höchsten Zweck erreiche. Für das Erstere nimmt 
er abermals ein Verscitat zum Ausdruck seiner Gedanken. Der recht 
(hier, wie in den folgenden Versen, chinesisch fäf eigenüich »gross«, 
magnopere) — der recht Vollkommne ist wie khu^ in heutiger Aus- 
sprache khiuii ursprünglich »zerbrochenes Gefass, Scherben«, sodann 
»mangelhaft, unbrauchbar«, also das Gegentheil von Vollkommenheit; 
er i s t wie unzulänglich ; nicht stellt er sich so, auch nicht betrachtet 
er seine Vollkommenheit wie mangelhaft, sondern wirklich ist er so, 
wie wenn die Vollkommenheit ihm mangele. Denn nicht durch sich 
oder an sich ist er vollkommen, sondern durch das, dessen er 
gebraucht, d. h. wodurch er wirkt, woher er nimmt, durch die Quelle 



209 

aller Vollkommenheit, an welcher er festhält, die ein/«/i?, ein »nie 
Zerreissendes, nie sich Abnutzendes, nie mangelhaft oder unvoll- 
kommen Werdendes« ist. Ebenso, wer recht erfüllt ist in seinem 
Innern von Dem, der auch in die Geister eingeht, ist wirklich an 
sich wie leer; es ist ja das im Vergleich mit seinem und der ganzen 
Welt Seyn Nicht-Seyende , was ihn erfüllt. Aber diess, was er 
anwendet, woraus er nimmt, entleert sich nie : »Er wendet an Uner- 
schöpfliches«. — Die drei letzten Verse beschränken sich darauf, in 
gleicher Weise wie Vers i und 3 das Verhalten des recht Geraden 
oder Getreuen (tä tscht)y des recht Gescheidten oder Befähigten (td 
khiäo) und des recht Beredten (td pidn) zu ^schildern ; er ist wie 
krumm (sß khiüe), wie dumm oder unfähig (sjotschüe)^ wie stammelnd 
oder schwerzUngig, denn diess heisst nüe eigentlich nur. Die Ergän- 
zungen, welche Vers 2 und 4 enthielten, fehlen hier, da sie jeder 
hinzudenken kann. Und so sagen denn die angeführten Verse im 
Ganzen, derjenige, welcher in der vollen inneren Gegenwart des 
unerschöpflich Allvollkommenen lebe, wisse und wolle nichts von 
eignen persönlichen Vorzügen, trete mit denselben nicht hervor und 
erscheine daher als ihrer entbehrend, und gerade darin bestehe sein 
grösster Vorzug. 

2) Dass Unruhe, heftige Bewegung (isdo) die Kälte, Ruhe, 
Nichtbewegung (tsifig) die Hitze überwinde, ist im Natürlichen eine 
bekannte Erscheinung, welche jedoch nur erwähnt wird, damit man 
sie sofort auf das Sittliche übertrage. In der Welt, der weltlichen 
Ordnung, dem Reiche (Man hiä)^ d. i. in der sittlichen Ordnung, 
ist nicht die Kälte, die Leidenschaftslosigkeit, sondern die Hitze 
der Begierden und I^idenschaflen zu fürchten und zu bekämpfen. 
Durch unruhige, heflige Gegenbewegung würde sie nur gesteigert, 
würden die noch Leidenschaftslosen nur erhitzt werden. Ist aber im 
heissen Weltgewirre ein Reiner, ein lauterer und klarer Mensch, der 
in überlegener Ruhe verharrt, so richten alle Blicke sich sofort auf 
ihn ; ohne Reden, Thun, Eingreifen wirkt er beruhigend, durch sein 
blosses Wesen und Verhalten wird er sowol Offenbarer des rechten 
Lebensgesetzes, als Mahner und Treiber zu dessen Erfüllung, und 
dadurch Richtmass {tsching=d\e rechte, alles in richtige Ordnung 
bringende Autorität) der Welt, des Reiches. Ein Solcher ist in den 
voranstehenden Versen geschildert, der bei all seinen hohen und 

14 



210 

edlen Eigenschaften in ruhiger Zurückhaltung verbleibt. La6-ts^ 
weiset hier, wie öfter, auf das Ideal hin, ohne dessen Verwiddichung 
in der Vergangenheit tmd Gegenwart zu behaupten. 

Man gestatte dazu eine Bemerkung. Manche dürften rasch 
damit bei der Hand seyn, onsem Denker im tadelnden Sinne einen 
Idealisten zu nennen, weil er nicht nur eine so reine, hohe, selbst- 
verzichtende Sittlichkeit verfangt, sondern ihr auch die grössten 
Wii'kungen auf die Welt verheisst. Was das Erste betrifft, so fordert 
Christus, der Herr, von dem sittlichen Menschen nicht weniger, eher 
mehr, und kein Einsichtiger hat diess je getadelt. Auf das Zweite 
aber ist zu erwiedenv dass man doch nur einmal Ernst machen möge 
mit der völligen Darstellung des sittlichen Ideales an der eignen 
Person, um zu erfeben, welch ausserordentliche Wirkungen man, 
zwar nicht plötzlich, sicher aber allmählich, dadurch in immer 
grösseren Kreisen ausüben werde. Annähernde Beispiele fehlen in 
der Geschichte nicht. Die Frage ist nicht eine theoretische, sondern 
eine praktische. Beugte die Menschheit sich nicht mehr der reinen 
sittlichen Hoheit, so verdiente sie untennigehn und würde untergehn. 



Sechsundvierzigstes Kapitel. 

Hat das Reich Ta6, so behält man Gangrosse zur 
Felddüngung; hat das Reich nicht Taö, so leben 
Kriegsrosse im Auslande. ^ 

»Kein grössrer Frevel, als Gelüst erlaubt zu 

nennen ; 
Kein grössres Unheil, als Genügen nicht zu 

kennen ; 
Kein grössres Laster, als nach Mehrbesitz zu 

brennen«.^ 
Drum, wer sich zu genügen weiss, hat ewig genug. ^ 



^) Dass nicht jeder Gewinn Gewinn sey , dass Ungenügsamkeit 
und Habsucht an sich stindlich und in ihren Folgen verderblich 
seien, wird nun an grösseren Verhältnissen gezeigt. Die beiden 
ersten Sätze übergehen die Mittelursachen des öffentlichen Leidens 
oder Wolseyns und weisen auf das Verhältniss zu Ta6 als auf die 
Grundursache. Man sieht, dass von Krieg und Frieden geredet 
wird, weshalb f/itan hiä vorwiegend in politischer Beziehung, als »das 
Reicha , zu fassen ist. Den Anfangssatz auf die Vergangenheit zu 
beziehen, giebt der Text nicht die mmdeste Veranlassung. Khioy in 
activer Bedeutung , heisst »anhalten , festhalten , behalten«. Tseüf 
»gehen, laufen, Gang, Lauf«, steht hier als Bestimmungswort zu ^ ; 
Heü mä sind daher »Gang- oder Laufrosse« , — soviel als Arbeits- 
pferde, im G^ensatz zu sfüng mä, »Kriegsrosse«. Seng im zweiten 

14* 



212 

Satze durch nasci zw übersetzen , da es ebenso gut t^were bedeutet, 
möchte um so weniger Anlass seyn, als man im Kriege nicht gerade 
Pferde zu züchten pflegt. — Die beiden Nachsätze sollen in con- 
cretem Ausdrucke vom Segen des Friedens , bei dem man ungestört 
des Landbaues pflege zu Ernährung und Wolstand Aller , und vom 
Unsegen des Krieges sagen, der diese Verhältnisse zerrüttet. Beides 
sey davon abhängig, ob das Reich Ta6 habe, d. h. sich an ihn 
halte und ihm folge , oder nicht ; doch wird es nur als Folge dieses 
Verhaltens , nicht als besondre Erweisung Taö's bezeichnet. Dass 
Laö-ts6 beim »Reiche« insbesondre — nach H6-schäng-küng*s An- 
deutung — die Herrschenden im Auge habe, ergiebt sich theils aus 
der Bedeutung , die er ihnen überhaupt zuschreibt , theils aus den 
folgenden Versen. 

^) Nach dem Zusammenhange , in welchen die Verse zu dem 
Vorigen gebracht sind, sind die Übel, die sie bezeichnen, ebenso als 
Folgen des Abfalls von Ta6 , wie als Ursachen des Kriegsunglückes 
anzusehen. Die Regierenden und Mächtigen sind dabei zunächst 
gemeint, ohne die Anwendung auf Andre auszuschliessen. Als 
grössten Frevel oder grösste Sünde [tsüi) bezeichnet der i. Vers, 
»sich das Begehren, das Gelüsten gestatten«, khh jü\ denn khh heisst 
ausser »können«, auch »dürfen , erlaubt seyn , sich gestatten«. Man 
wird dabei an das tiefsinnige zehnte Gebot erinnert. An dem Ge- 
lüsten nach dem, was man nicht hat, entzündet sich die Unzufrieden- 
heit mit dem , was man hat ; diess , dass man kein Genüge kennt, 
sich »nicht zu genügen weiss« (pu tschi tsü) y heisst das grösste Un- 
heil, A4>y was ein selbstverschuldetes Unglück bedeutet, also gleich- 
falls als Vorwurf gemeint ist. Jenes Gelüsten und diese Ungenüge 
erzeugen dann als grösstes Laster das Begehren nach Erwerb , die 
Sucht nach Mehrbesitz, hier im engeren Sinne die Eroberungssucht, 
welche sodann zum Kriege führt. So hat es schon vor 2400 Jahren 
der chinesische Weltweise als Sünde, Heillosigkeit und Laster 
gekennzeichnet, wenn ein Staat sich der Nachbarländer gelüsten 
lässt, es ihm an der erreichten Grösse und Macht nicht genügt, und 
er seiner daraus erwachsenen Eroberungssucht nachgiebt , um ver- 
bündete Länder wider ihren Willen zu unterwerfen. Wie sollten es 
denn Christen beurtheilen, wenn dergleichen imter Christen 
geschieht? Aber es scheint, als ob das sittliche Urtheil nach 



213 

2400 Jahren und trotz des Christenthums eher gesunken als ge- 
stiegen wäre. 

'^) Eine andre Lesart heisst: kü tschi tsu iscJü tsü^ tschhäng 
tsüi »drum, wer des Genügens Genüge kennt« (wer weiss , dass das 
Genügende genug ist) , »hat ewig genug«. Es scheint damit auf das 
Kennen des Ewiggentigenden angespielt zu werden. Hat man Gott, 
so hat man auch genug. 



Siebenundvierzigstes Kapitel. 

Nicht ausgehend zur Thür , kennt man die Welt ; 
nicht ausblickend durchs Fenster , sieht man des Him- 
mels Weg. * Je weiter man ausgeht , desto weniger 
kennt man. ^ Weshalb der heilige Mensch — 

»Nicht hingeht, und kennt, 

Nicht sieht, und benennt, 

Nicht thut, und voUendt«.^ 



') Den Gedanken , dass man durch Verzichten gewinne » führt 
diess Kapitel weiter aus, indem es zeigt, dass man vmter Entsagen 
auf alles äusserliche Dazuthun das, was zu wissen noth ist, gar wol 
erkennen und auch so seinen Zweck erreichen könne. Die Eingangs- 
sprüche kann Jeder auf sich anwenden. Der Mikrokosmos ist Spiegel 
und Lehrbuch des Makrokosmos. Wer sich selbst und seine Haus- 
genossen gründlich kennt, kennt auch die übrige Menschenwelt Wer 
an sich und an ihnen des Himmels Weg, d. i. sein Gesetz und seine 
Verfahrensweise , beobachtet , nimmt sie wahr , ohne auf die Gasse 
hinausblicken zu müssen. Dass iab hier diesen Smn habe und nicht 
das göttliche Wesen bezeichnen , höchstens auf dasselbe hinwinken 
solle, zeigt der vorausgehende Genitiv thian^ des Himmels, wozu das 
Man tab'xa Kap. 73 und 77 zu vergleichen ist. In dieser Redeweise 
tritt vielmehr iktan an die Stelle des Gottesbegriflfe iab. La6-ts^ 
bequemt sich in beiden Ausdrücken dem gemeinüblichen Gebrauche, 
und die Übersetzung von Chalmers ueUsHal Tau^ ist daher nicht zu 
billigen. . 

^ Wörtlich: »Dess Ausgehn je femer, dess Erkennen je 
weniger«. Nur am Kleinen kann man das Grosse , am Nahen das 



215 

Entfernte, am Besonderen das Allgemeine kennen lernen. Je mehr 
man ins Grosse, Weite, Allgemeine geht, desto mehr schwindet dem 
Blick das Enge , Concrete , in welchem allein Aufschluss über jenes 
zu finden ist ; wie denn auch schon sinnlich die Dinge , von denen 
man sich entfernt, immer undeutlicher und unerkennbarer werden. 
Je mehr der Mensch aus sich selbst hinausgeht, sich in die Aussen- 
weit verliert, desto weniger kommt er zur Selbsterkenntniss , welche 
die Grundlage aller Erkenntnfss ist. Voxi diescni Gesichtspimkte 
aus die ersten Sätze auch so aufzufassen, dass nur der die Welt 
kennen lerne ,. der nicht aus der Thür geht^ nur der dies Himmels 
Weg' sehe, der nicht aus dem Fenster blickt, dürfte der paradoxen 
Weise La6-ts6*s ganz gemäss seyn. Wir halten es für zufallig , dass 
sich zu tob »Weg«, das spätere schäoy »weniger«, als Reim verhält. 

•*) Was auf die Worte »Drum , der heilige Mensch« folgt , sind 
offenbar drei Verse, wenn sich im Grundtext auch nur die beiden 
letzten reimen. Bei dem Schlussworte des ersten findet sich eine 
doppelte Lesart Statt tscht, erkennen, lesen Einige ischly anlangen ; 
womach es hiesse : »er geht nicht vor und langt an«, welcher Lesart 
sich Julien anschliesst. Dadurch wird jedoch nicht bloss ein ganz 
fremder Gedanke hereingebracht, sondern die Beziehung auf das 
Vorhergdiende, welche das Citat erst rechtfertiget, verwischt. Tschl 
dürfte daher die richtige Lesart seyn. Der Sinn ist: Der heilige 
Mensch wandert nicht hinaus um die Erkenntniss zu suchen, dennoch 
findet er sie ; er bedarf nicht des sinnlichen Anblicks , um etwas 
richtig zu bezeichnen, dennoch giebt er ihm seinen rechten Namen; 
er verliert sich nicht in äusserliche Thätigkeit, um seine Aufgabe zu 
vollenden, und dennoch vollendet er sie. — 

Ob^ei'ch La6-tB^ niemals sich selbst einen heiligen Menschen 
nennt, so. hat ihm diess Ideal doch sicherlich immer vorgeschwebt 
und schwedtch hat er mijt Überlegung etwas gethan, was demselben 
widers{Ȋche. Aach, das ist schwediqh anzunehmen, dass er von 
demHieiligen etwas aussage, dem er selbst bereits offenbar entgegen- 
gehandelt. Ebendeshalb dürfte aber diess Kapitel eine schlagende 
*Widerk^ung dessen seyn, was die spätere Sage und, auf sie gestützt^ 
Abel Ri^musat von weiten Reisen unsres Philosophen in die West- 
länder, »um dort Weisheit zu suchena, wissen wollen. 



Achtundvierzigstes Kapitel. 

Wer thut im Lernen , nimmt täglich zu ; wer thut 
in Taö, nimmt täglich ab ; nimmt ab und nimmt weiter 
ab, um anzulangen am Nicht-Thun. * Er thut nicht, 
und doch ist er nicht unthätig. ^ Bekommt er das Reich, 
(so ist es) immer durch Nicht-Geschäftigkeit, * Solange 
Einer Geschäftigkeit hat , verdient er nicht , das Reich 
zu bekommen, * 



') Noch bis in dieses Kapitel reicht die Ausfiihning des Para- 
doxons vom Verlieren und Gewinnen, und von jenem wird hier sogar 
der Erwerb der Reichsherrschaft abhängig gemacht Zunächst knüpft 
La6-ts^ an das von den emporstrebenden Weltformigen (damals wie 
jetzt) so eifrig betriebene äusserliche Lernen an , gegen welches er 
sich schon Kap. 20 erklärte. Wer sich in diesem Sinne den Erwerb 
von Kenntnissen , das Wissen von dem , was Andre gewusst haben, 
das Lernen zum Geschäft macht (w^i hio) , der häuft allerdings des 
Angeeigneten immer mehr an, während er das Selbsteigne zu mehren 
vermeint ; denn »das Wissen blähet auf«. Wer dagegen zum Gegen- 
stande seines Thuns Taö hat (wHtab)^ der entkleidet sich immer 
mehr alles Weltlichen und Unächten, alles Eigenen und Selbstischen, 
und das Ende dieser Entkleidung ist Verzicht auf alles eigne Thun. 
Er hat überhaupt ein andres Ziel als Jener. Nicht sein Selbst ist 
dieses , sondern Taö , und ihn gewinnt er durch den Verlust seiner 
Eigenheit. Je mehr er in diesem Streben verzichtet auf alles eigne 
Thun, desto mehr nimmt er zu im wahren Seyn. 

^) Er wird dadurch Taö ähnlich, von welchem im 37. Kap. 



217 

dasselbe ausgesagt wurde. Beim Menschen erhält die^s jedoch 
andre Beziehung. »Er ist ohne Thun und doch ohne Nichts- 
Thun« ; — dieser Zusatz entfernt jeden Gedanken an (den späteren) 
buddhistischen Quietismus, dem auch die meisten nichtbuddhistischen 
Interpreten nicht ganz fremd geblieben sind. Indess darf man nicht 
übersetzen: »und doch ist nichts, das er nicht thun könne«, oder 
»was ihm unmöglich wäre«. OU u>ü pu wH kann nicht gefasst werden, 
als sey das wu von pü wH abhängig , vielmehr verhält es sich um- 
gekehrt, ühd kann nur heissen : er ist nicht unthätig. Auch hörten 
wir bereits , wie der heilige Mensch allen Wesen liebevoll hilft , sie 
versorgt u. s. w., und heisst es dennoch, er sey ein nicht Thuender, 
so kann diess nur den Sinn haben, dass er diess Thun sich nicht 
zueignet, dass er es thut als thäte er es nicht, wie denn auch gesagt 
ist, er stütze sich nicht darauf, mache sich nichts daraus. Diess die 
eine Seite. Die andre aber ist, dass er, Mensch unter Menschen, 
durch die edle Grossheit und Reinheit seines Wesens überwindend 
und veredelnd auf Alle wirkt, und so ohne Thun dennoch thätig ist. 

^) Wir folgen mit Stan. Julien der wahrscheinlich älteren Les- 
art : thsiü thtan hiä. Die jüngere : ikü thsiü thian hih tschl^ ist jedoch 
in dem Rel^tivum tsc?it Ausdruck des richtigen grammatischen Ge- 
fühls , denn in thsiu liegt das Subject. EMe folgenden Worte sind 
dann declarativ : »Wer das Reich bekommt (bekommt es) immerdar 
wegen Nicht-Geschäftigkeit«. Thsiu ist sofern doppelsinnig , als es 
sowol »empfangen« als »in Besitz nehmen« heisst. Nun ist zwar von 
einer widerrechtlichen Zueignung der Reichsherrschaft nicht die 
Rede , allein da von jeher in China der Kaiser seinen Nachfolger 
selbst bestimmte, so koniiten es seine Nachkommen sich ja allerdings 
zum Geschäft machen, durch regsames Hervorthun untereinander zu 
wetteifern , um die Augen des Kaisers für jene Wahl auf sich zu 
lenken. Der Satz kann daher den Sinn haben, es werde nur der 
jenes Ziel erreichen, der selbst nichts dazu thue. Der erwähnte 
Doppelsinn von thsiu macht es jedoch wahrscheinlicher, dass ge- 
meint sey , wer das Reich erhalte , der werde dessen erst wirklich 
Herr durch. Verzicht auf alle Thaten und Unternehmungen , welche 
über das oben gedachte Nichtunthätigseyn hinausgehn. 

*) So lange der vielleicht oder wirklich zum Reich Berufene 
noch in jenem Sinne thätig tmd handelnd sich hervorzuthun strebt, 



2l8 

solange steht ihm auch noch seine Person im Vordergrunde, und er 
hat durch Taö noch nicht der Selbstheit und Eigenheit entsagt, ver- 
dient daher nicht (pü (suj genügt nicht, ist unzulänglich), das Reich 
zu bekommen. Es wird überhaupt nicht oder doch nicht in Wahr- 
heit sein werden. Diess richtet sich gegen die thatenlustige Gross- 
mannssucht und Vielr^ererei der Herrscher. Erst wenn sie diese 
Volieren, gewinnen sie das Reich. 



Neunund vierzigstes Kapitel. 

Der heilige Mensch hat kein beharrlich Herz ; aus 
der hundert Geschlechter Herzen macht er sein Herz. * 
Den Guten behandle ich gut, den Nichtguten behandle 
ich auch gut. Tugend ist Güte. Den Aufrichtigen be- 
handle ich aufrichtig, den Nichtaufrichtigen behandle 
ich auch aufrichtig. Tugend ist Aufrichtigkeit. ^ Der 
heilige Mensch ist in der Welt voller Furcht, dass er 
durch die Welt sein Herz verunreinige. ^ Die hundert 
Geschlechter alle richten auf ihn Ohr und Auge. Dem 
heiligen Menschen sind sie Alle Kinder. * 



^) Auch auf den Ruhm der Consequenz verzichtet dier Heilige. 
Consequent wäre es, gegen den Nichtguten nicht gut, gegen dea 
Nichtaufrichtigen nicht aufrichtig zu seyn.* Allein das wäre eine 
Verletzung der Tugend und der Lauterkeit des Herzens, welche er 
ui» so mdir scheuet, als gerade er Gegenstand allgemeiner Auf- 
merksamkeit ist und Vorbild Aller seyn soll, dite mit ihm verglichen, 
Unmündige sind , was doch sein Herz erbarmt , sie mit väterlicher 
Weisheit und Liebe zu erziehen*. Aus diesem Gedank^igange des 
Kapitels ergiebt sich die Erklänmg des Anfanges.' Nicht das kaan 
die Meinung seyn, dass der heilige Mensch die Meinungen und Ge- 
sinnungen der Menge annehme oder nach ihnen sich richte, — das 
dürfte eher sein Herz verunreinigen und trüben, was er ja fttrchtet; 
auch soll er Richtmaass für das Vt:^ und nicht das Volk Richtmaass 
für ihn^ seyn, — sondern gemeint ist, dass er auf die Beharrlichkeit 
(>jr^>iA<i«^heisst »mächst »beharren, beharsKch«, hing) seines Herzens 
verzichte und ntdit darin fest und consequent erscheinen wolle, dass 



2 20 

er nach seinem eignen Maassstabe alle Andern beurtheile und be- 
handle ; indem er vielmehr »aus (l) der hundert Geschlechter Herzen 
macht (te/h') sein Herz« , d. h. ihre Herzen für sein Herz ansieht 
(1 . . . . wii bekanntlich soviel als existi?narej habere pro)y mit ihnen 
Allen flihlt, kurz, sie liebt wie sich selber. 

^) Die Rede geht hier in die erste Person über, da Laö-ts^ 
diess ohne Anmaassung von sich sagen kann, obgleich es ebenso von 
dem heiligen Menschen gilt Wer aber wirklich Jedermann ohne 
Unterschied gut und aufrichtig behandelt, darf diess auch unbedenk- 
lich von sich aussagen. Schin tschl , »der Gute« , steht in absoluter 
Stellung, und in dem folgenden ngü schin tscht bekommt schdn zeit- 
wortliche Bedeutung, gleichsam »ich gute ihm, d. h. nehme ihn als 
Guten und bin daher auch gut gegen ihn. Mit sin, »aufrichtig, acht, 
treu«, hat es dieselbe Bewandtniss. Gut auch gegen den Bösen, treu 
auch gegen den Untreuen zu seyn , erinnert an die zartesten For- 
derungen christlicher Ethik. Zu dieser Höhe hat sich Khüng-ts^ 
nie erhoben; sein Standpunkt blieb immer der der beharrlichen 
Vergeltung. Übrigens beweist jenes Verfahren des heiligen Menschen, 
für den La6-ts^ gewissermassen eintritt, dass ihm wirklich »der 
himdert Geschlechter Herzen für sein Herz gelten«. Femer enthält 
es nicht nur eine grosse erzieherische Weisheit, indem es durch Be- 
schämung bessert , sondern es ist auch gerade das Richtige für die 
sittliche Selbstbewahrung. 

^) »Voller Furchta; tschhu tschhu (2803) oder nach andrer 
Lesart thteihie (2932) ist augmentative Verdoppelung, die Fortdauer 
anzeigend: »immer fürchtend«. Wiiy hier in dritter Betonung , ist 
Präposition, und Man hiä Instrumentalis ; abhängig von wü ist erst 
huän, so dass wÜ Man hiä huän kht sin buchstäblich heissen würde : 
»wegen durch die Welt Verunreinigens sein Herz« ; denn huän als 
Zeitwort heisst »trüben , verunreinigen , vermischen , verwirren«. Es 
ist daher ebensowenig in diesen Worten der Sinn, dass er dieselben 
Gesinnungen für Alle bewahre, als dass er sein Gemüth in Sym- 
pathie mit Allen mische; sondern das wird von dem heiligen 
Menschen gesagt, daJss er, in der Welt seyend, stets Furdit habe, 
dass er durch die Welt sein Herz verwirre, trübe, verunreinige. Und 
diess fürchtet er nicht bloss seinetwegen , sondern auch desshalb, 
weil er dann nicht mehr reines VorbUd Aller seyn, nicht ohne Worte 



221 



lehren, ohne Thun seine Aufgabe erfüllen könnte. Diess bildet 
gerade den Übergang zu dem Folgenden. Denn -^ 

*) »Die hundert Geschlechter alle richten auf ihn Ohr und 
Auge« , — nicht desshalb , weil sie sich verwundem , dass er Gute 
und Böse gleichmässig behandelt, sondern weil der heilige Mensch 
an sich schon die auffallendste Erscheinung, das grösste Räthsel und 
die höchste Autorität für sie ist; wir dürfen hinzufügen, weil das 
Göttliche, vor dem sich zu beugen jeder Menschenseele das Postulat 
innewohnt , aus ihm sich manifestirt. Und weil sie mit Spannung 
auf ihn hören und mit vollstem Vertrauen zu ihm aufblicken, darum 
stellt er sich zu ihnen wie ein Vater zu Kindern in Liebe, Fürsorge 
und Leitung und in sorglicher Behutsamkeit fUr die Unbeflecktheit 
des eignen Wandels. — Häi^ Kind, Kindlein, steht hier ebenfalls in 
verbaler Bedeutung , wie wenn wir sagten : »Der heilige Mensch — 
alle kindet er sie« , d.h. er betrachtet und behandelt sie wie seine 
Kinder. 



Fünfzigstes Kapitel. 

Ausgehn zum Leben ist Eingehn zum Sterbend 
»Des Lebens Gesellen sind dreizehn, des Sterbens 
Gesellen dreizehn. Lebt der Mensch, so regt er der 
tödtlichen Stellen auch dreizehn«.^ Warum das ? Wegen 
seiner Lebenslust Übermaasses.*^ Denn wir hören : »Wer 
das Leben zu erfassen weiss, geht geradezu ohne zu 
fliehn vor Nashorn und Tiger ; geht in ein Kriegsheer 
ohne anzulegen Panzer und Waffen. Das Nashorn hat 
nicht wo es sein Hom einstosse, der Tiger hat nicht wo 
er seine Klauen einschlage, Waffen haben nicht wo sie 
ihre Schneide einbringen«. Warum das ? Weil er keine 
tödtliche Stelle hat.' 

^) Auch dieses Kapitel dient noch zur endlichen Ausflihning der 
Lehre vom »Verlieren oder Verzichten um zu gewinnen«, indem es 
nun den Satz recht eigentlich in's Auge fasst, dass man das Leben 
nur gewinne, wenn man auf das Leben verzichte, dass man durch 
das Eingehn auf das Sterben den Tod tiberwinde. — Der erste Satz 
ist doppelsinnig, wie das Folgende zeigt, indem Leben und Sterben 
einmal im natürlichen, einmal im Übernatürlichen Sinne gefasst 
werden. Tschhü seng könnte allerdings in anderm Zusammenhange 
heissen »aus dem Leben hinausgehen«. Wollte man es hier in diesem 
Sinne nehmen, so stände ein so platter Gemeinplatz da, wie wir ihn 
bei La6-ts^ nicht voraussetzen können. Allein tschhü heisst nicht 
bloss »aus etwas hinausgehn«, sondern auch »in etwas hinausgehen«, 
in welchem Sinne z. B. tschkii tschi (16) »in die Welt ausgehen«, 



223 

nehmlich »zur Welt kommea« heisst, und Khäng-hi's WB, es gerade 
durch seng-=^ nasci erklärt. So ist es, und auchdas ganz entsprechende 
»Ausgehn zum Leben«, hier zu verstehen. Heraustretend in das natür- 
Kche Leben, haben wir eben damit das Sterben begonnen ; der Tod 
ist nur dessen letzter Act. Leben selbst' ist Sterben, ist die stete Hin- 
bewegung zum Tode. Lebend, kommen wir um das Leben. Aber 
die Geburt der Seele in das wahre , in das göttliche Leben , ihr 
Ausgehen in dieses, ist Eingang zum Sterben för die Welt, für die 
Begierden und Leidenschaften. Je mehr sie zum Leben kommt, desto 
mehr stirbt sie in diesem Shkne zu ihrem Heüe. So überwindet das 
Leben des geistlichen Sterbens das Sterben des natürlichen Lebens. 
— Dass dieser Doppelsinn vorliege, zeigt nicht nur der Verfolg, es 
zeigen es auch die chinesischen Ausleger, von denen Einige nur die na- 
türliche, Andre (wie HÄ-sdiäng-küng) nur die geistliche Seite auffassen. 
2) Die Worte seng tschi fd und ssl tscht tu übersetzt Julien durch 
causes de tney causes de mart, Chalmers durch mvnisters oflwej Ministers 
of death. Tu ist ein btldKcher Ausdruck, den wir in derselben 
Anwendung Kap. 76 antreflfen. Als Hauptwort heisst es ursprünglich 
AFussgänger«, dann auch »Begleiter, Geselle, Schttlerv. Kap. 76 
bemerkt, Alles trete schwach und nadigiebig in's Leben und sterbe 
stark und hart, und deshalb wird dort Schwäche tmd Nachgiebigkeit 
seng tscht tü^ Stärke und Härte ssl tscht tu genannt. Wir meinen 
daher tü^ im Sinne von Geßthrte, Geselle auffassen zu sollen ; es ist 
das, was sich dem Leben, was sich dem Sterben gesellet. Berechtigt 
uns nun Kap. 76 auch wol, zu den dreizehn lebenbegieitend6n 
Stüdcen Schwädie und Weichheit, zu den dreizehn sterbenbegleiten- 
den Stärke und Härte zu nehmen, so finden wir doch nicht den 
geringsten Aufschluss über die elf übrigen Stücke iS<^ einen oder der 
andern Art. Die Versuche der chitiesisdien Erklärer, diesen Mangel 
zu ergänzen, sind ganz willkürlich. Eben 90 dunkel ist der folgende 
Satz. Tüng ist von einem abhängigen Substantiv gefolgt, ^eht daher 
als acrives Zeitwort xmd heisst als solches «bewegen, tegen, erregen«. 
Ss} ti wird von Julien einfach durch tripas^ von Chalmers 6m^ place 
of death wiedergegeben. TY, ursprünglich »die Erde«, auch »das 
Land«, heisst in übertragener Bedeuttmg »Grundlage, Sttz, Stelle«. 
Unter ssk ti dürften daher Sitze des Todes, tödtüche Stellen, Gnmd- 
lagen für den Tod zu verstehen seyn; und deren (tschi) sind »auch 



224 

dreizehn« — fi seht jeü säfh '9f2& sich mithin nicht auf die dreizehn 
Sterbensgesellen beziehen kann, da sonst ein thsl oder ein andres 
Demonstrativum dabei stehn raüsste. Es wird vielmehr anzunehmen 
seyn, dass diese dreizehn Todesstellen sich als die Grundlagen oder 
Stützpunkte für die Todesgesellen verhalten. Ein Weiteres lässt sich 
darüber kaum sagen. Nun aber ist schwer zu denken, dass La6-ts^ 
etwas für seine Leser durchaus Unverständliches hat vorbringen wollen, 
und doch findet sich in seiner ganzen Schrifl kein Au&chluss über 
diese dreimal Dreizehn. Erklärlich wird diess Verfahren nur, wenn 
wir annehmen, er habe diese ganze Stelle, vielleicht mit Hinzurech- 
nung der Anfangsworte, aus einer damals bekannten älteren taö- 
istischen Schrift (vielleicht dem Hoäng-tl schü) entnommen, in welcher 
sich auch die nähere Nachweisung jener Punkte gefunden. Eine 
Bestätigung dieser Annahme ist das angeschlossene : »Warum das« 
(ja hd kü) ? welches sich genau so am Schlüsse der späteren Aus- 
sprüche findet, die durch das einleitende käi w^n, »denn wir hören«, 
ausdrücklich als ein Citat gekennzeichnet sind. 

-'*) Blieb uns das Besondere der vorangegangenen Aussprüche 
unauflöslich, so dürfte der allgemeine Gedanke doch dieser seyn : 
Den Eigenschaften, welche das Leben begleiten und daher ausweisen, 
stehen eben so viel entgegengesetzte Eigenschaften gegenüber, welche 
Begleiter und deshalb Zeichen des Sterbens sind; diese letzteren 
beruhen auf eben so viel inneren Ursachen, welche der Mensch, 
sofern er sich dem Leben hingiebt, in Trieb und Bewegung setzt, 
wodurch sie ihn dem Tode zuführen. Auf diess Letztere bezieht 
sich die Frage : Warum das? Und die eben so paradoxe als richtige 
Antwort ist : Gerade dadurch treibt er sich dem Tode entgegen, dass 
er zu viel, zu begierig lebt, und so durch das Leben das Leben auf- 
zehrt. Der Verdoppelung seng seng würde ein deutsches, nach Ana- 
logie von Lebemann gebildetes Lebeleben entsprechen. 

^) »Wer taugt zu ergreifen das Leben« — schfn nie seng tsch>y 
— der hat, nach den Schlussworten, »keine tödtlichen Stellen, keine 
Sitze des Todes«, ivü ssh H; mithin kann seng hier nicht das natürliche 
Leben, das. Leibesleben, sondern nur das geistige, überleibliche 
Leben bezeichnen, das mit dem Sterben nichts zu schaffen hat. 
Nur dieses ist das wahre Leben, und wer es zu erfassen weiss, kann 
es von Leibesgefahren nie bedroht finden, weder von den Hörnern 



225 

und Tatzen wilder Bestien, noch von den Waffen feindlicher Heere ; 
er flieht sie daher auf seinem Wege nicht, bedarf auch keines 
Schutzes wider sie. Das Leben oder Sterben des Leibes hat gegen 
dieses Leben gar keine Bedeutung für ihn. Sein rechtes Leben kennt 
keinen Tod, und dem Leben, das dem Sterben zutreibt, ist er abge- 
storben. 



IS 



Einundfünfzigstes Kapitel. 

Taö erzeugt sie, seine Macht erhält sie, sein Wesen 
gestaltet sie, seine Kraft vollendet sie : daher von allen 
Wesen Keines, das nicht anbete Taö und verehre seine 
Macht J Tao's Anbetung, seiner Macht Verehrung ist 
Niemandes Gebot und immerdar freiwillig.^ Denn Taö 
erzeugt sie, erhält sie, zieht sie gross, bildet sie aus, 
vollendet sie, reifet sie, verpflegt sie, beschirmet sie.* 
Erzeugen und nicht besitzen, thun und nichts drauf 
geben, grossziehn und nicht beherrschen, -r— das heisst 
tiefe Tugend.* 

^) Diess Kapitel kehrt zur Betrachtung des göttlichen Wesens 
zurück, um zu zeigen, wie dessen liebevolle Fürsorge allen Wesen 
in vollkommener Selbstlosigkeit zugewendet sey, wodurch es der 
höchste ethische Anziehungspunkt und ethisches Urbild wird. Zu- 
gleich -wird damit der Übergang zu der Betrachtung der Bürgschaft 
für die persönliche Fortdauer im Tode gewonnen, wodurch das 
nächste Kapitel an das vorige angeschlossen wird und dann dessen 
Hauptgedanke» tiefer begründet. — Was die vier ersten Aussagen 
betrifft, so sind die den activen Zeitwörtern nachgesetzten tscht 
keineswegs beziehungslos, wie es Chalmers auffasst ; die damit pro- 
leptisch bezeichneten Objecte sind vielmehr die im Folgesatze 
genannten »Myriaden Wesen«. Das seng in der ersten Aussage wird 
dadurch als Activum ausgewiesen, wo es dann producere^ proer eare 
heisst und auch durch »erschaffen« hätte wiedergegeben werden 
können. Bei »Macht, Wesen, Kraft« haben wir das Fossessivum 
hinzugefügt, wozu wir die Berechtigung theils aus dem Kapitel selbst, 
theils aus Kap. 2 1 entnehmen, das hier überhaupt zu vergleichen ist 
Letzteres auch hinsichtlich dessen, was dort Anm. i über /?, gewöhn- 
lich »Tugend«, dann auch »Vermögen« oder »Macht« — wie es hier 



- — 227 

am schicklichsten zu übersetzen erschien — gesagt ist. T^ ist die 
gute wolthätige Macht Taö*s, von der hier die Erhaltung oder 
Ernährung aller Wesen abgeleitet wird, weshalb es weiterhin auch 
unmittelbar von Taö heisst : »er erhält siea. Es ist daher gar kein 
Grund vorhanden, wegen der Nichtbezeichniing des Possessivums 
diess fe als oMacht« oder »Tugend« mit den chinesischen Auslegern 
gleichsam zu hypostasiren und als ein Zweites neben Taö hinzustellen. 
Überall bei Laö-ts^ ist fe nur Attribut. Auch müsste man dann mit 
wde^ »Wesen«, und schl^ »Kraft«, ganz ebenso verfahren, während 
doch »Wesen« nur ein Prädicativ von Taö ist (vgl. Kap. 25 a. A.) ; 
denn sofern Taö Wesen ist, ist diess sein Wesen, durch welches er 
das Wesen aller Wesen ist (Kap. 21 Anm. 2), und ihr Wesen ist 
ursprünglich in Ihm und wird vdh ihm gestaltet (das. Anm. 3,4); 
und da das, was hier von der »Kraft« ausgesagt ist, nehmlich dass 
sie alle Wesen »vollende«, weiter imtenganz ebenso Taö zugeschrieben 
wird, so ist nicht zu bezweifeln, dass hier auch von seiner Kraft 
die Rede sey. Schi aber heisst einfach nur »Kraft, Vermögen, 
Autorität, Einfluss«. Wir können daher weder die Wiedergabe der 
höchst einfachen Sätze bei Julien durch: Le Tao produit les ttresj la 
Vertu les nourrit. Ils leur dotment un corps et ks perfectiannent par 
une secrUe impuhion ; noch bei Chalmers durch : Tau produces and 
Virtuenaurishes ; everything takesforntj and theforces bring toperfection 
— billigen. — In dem Folgesatze hielten wir uns gleichfalls für 
befugt, bei Ü das Possessivum zu subintelligiren. Wenn wir tsun hier 
durch »anbeten« übersetzten, so bitten wir diess nur im orientalischen 
Sinne als die höchste Verehrungsbezeugung zu verstehen, wie es 
auch Luther in der Bibeltibersetzung gebraucht. Sagt Laö-ts^, dass 
keins der Myriaden Wesen Taö nicht anbete und seine Macht nicht 
verehre [kuli)^ so ist damit nicht gesagt, dass jedes Geschöpf diess 
mit Bewusstseyn thue ; das aber ist gemeint, dass sie in bedürftiger 
Hingebung und Unterwürfigkeit sich alle der einigen Quelle des 
Lebens und jedes Guten zukehren. 

^) Niemand, auch Taö selbst nicht, gebietet seinen Geschöpfen, 
ihn anzubeten und seine Macht zu verehren, und dennoch thun sie 
es immerdar, tschhängj und zwar tsi sjän^ »von selbst also«, d. h. 
freiwillig und von Natur. Es ist dies auch ein von dem Menschen 
unablöslicher Trieb, obwol er bei ihm sich verirren oder zerrüttet 

'5' 



228 

werden, aber auch zum heiligen Bewusstseyn sich erheben kann. 
Immer aber wird er in ursprünglicher Unbewusstheit mit dem 
Menschen geboren und niemals kann er ganz ausgerottet werden. 
In dem Ausspruche liegt daher die stärkste AufTorderung, das, was 
alle Wesen unbewusst thun, menschenwürdig mit Bewusstseyn zu 
thun. Er lehrt aber auch, was das sey, wodurch Alle zur Ehrfurclit 
und Hingebung angezogen werden, und enthält daher ebenso die 
Aufforderung, Taö darin ähnlich zu werden. 

^) Die Aufzählung alles des Guten, das Taö den Geschöpfen 
erweiset, wird durch ein kü eingeleitet, das aber nicht durch »darum«, 
sondern durch »denn« (Ursach:) zu übersetzen ist. Weil sie Alles, 
was sie sind und haben, allein durch ihn sind und von ihm haben, 
danun kommen sie alle zu ihm mit ehrfürchtiger Beugung. Die drei 
Zeitwörter hio^jo vxAjäng haben keineswegs, wie behauptet worden 
ist, gleichen Sinn. Hio ist das Erhalten, die Sicherung des Lebens 
durch Gewährung der erforderlichen Mittel; jo das Aufziehen, 
Erziehen, Bilden (Basile : filios enutrire efficiendo ut honi evadant^ 
und ebenso Khäng-hi's WB. an erster Stelle : jhng tsl ssl tsd schin) ; 
jhng ist das Verpflegen durch Speise, das Versorgen, Alimentiren. 
Betrachtet man übrigens diese Reihe von Thätigkeiten, welche Taö 
zugeschrieben werden, so muss man sich überzeugen, dass, wenn 
Taö anderswo das wüwH^ das Nicht-Thun beigelegt wird, diess 
nichts weniger als einen ganz unthätigen Zustand aussagen könne, 
und mithin auch als Eigenschaft des heiligen Menschen unmöglich 
mit dem Quietismus zusammenfalle. 

*) Während Jaö fiir seine Geschöpfe Alles thut, verfährt er doch 
dabei auf das allerselbstloseste. Für sich will er mit alle dem nichts. 
Er setzt nicht in's Leben, schafft nicht, um dadurch Etwas zu 
haben, er thut, erweiset (wH) nichts, um sein selbst willen, er bringt 
sie empor, ziehet und leitet sie, ohne ihnen den Zwang der Herr- 
schaft aufzulegen. Und da diess nun im ursprünglichen und eigent- 
lichen Sinne von Taö ganz so ausgesagt wird, wie es Kap. 2 (s. Anm. 5) 
und Kap. 10 (s. Anm. 7) von dem heiligen Menschen gesagt war, 
so liegt in diesen Schlussworten auch eine Beziehung auf jene Aus- 
sprüche und eine Forderung ethischer Gottähnlichkeit des Menschen. 
Diese deutliche Wendung auf das Ethische Hess denn auch die Über- 
setzung des /? durch »Tugend« an dieser Stelle angemessen erscheinen. 



Zweiundfünfzigstes Kapitel. 

Die Welt hat einen Urgrund, der ward aller 
Wesen Mutter. ^ Hat man seine Mutter gefunden , so 
erkennt man dadurch seine Kindschaft. Hat man seine 
Kindschaft erkannt, und kehret zurück zu seiner Mutter, 
so ist des Leibes Untergang ohne Gefahr.*^ »Schliessl 
man seine Ausgänge, macht zu seine Pforten« , so ist 
des Leibes Ende ohne Sorge. ^ Öffnet man sejne Aus- 
gänge , fördert man seine Anliegen , so ist man bei des 
Leibes Ende ohne Rettung. * Auf das Kleine sehen, 
heisst erleuchtet seyn ; Weichheit bewahren, heisst stark 
seyn. * Braucht man seine Klarheit und kehrt zurück 
zu seinem Lichte, so verliert man nichts bei des Leibes 
Zerstörung. ^ Das heisst Ewigkeit anziehen. ' 

*) Die vorstehende Übersetzung weicht so sehr ab von der 
herkömmlichen Erkläning dieses Kapitels, dass vor Allem nach- 
zuweisen ist, worin die Befugniss dazu gefunden wurde. Im Wesent- 
lichen handelt es sich darum, ob die Ausdrücke mu schln und 
tscküng schln den termnus ad quem oder den termmus in quo be- 
zeichnen. Dass beide synonym seien und jenes den »untergehenden 
Leib«, dieses den »endigenden Leib«, d. h. das Lebensende be- 
deute, ist ausser Streit. Nach Basile, der (unter Nr. 10,821) 
tschüng schln durch infinem usque vUae erklärt, könnte es scheinen, 
als bezeichne es immer nur den terminus ad quem] allein schon 
Morrison (unter chun^ erklärt es durch the end ofthe body; the close 
of life; death; to the close of Hfe\ the whole of life; und bemerkt 



_ _ 230 

nochmals (unter scAin) es heisse tAe whoie of ones life; sometimes 
denotes the dose of life. Die Sache steht so, dass es an und für sich 
überhaupt nur den temunus^ den ßnis t^//^ bezeichnet, und dass der 
Zusammenhang darüber entscheiden muss, ob es als temunus ad 
quem oder in quo zu verstehen sey. Nähmen wir für unser Kapitel 
das Erstere an, so würde tschüng schtnfü kiiu heissen : »bis Lebens- 
ende wird er nicht gerettet« oder »erhalten«, wie denn auch Stan. 
Julien übersetzt : jusqtih lafin de sa vie^ ü ne poufra itre sauvi; was 
denn doch einen etwas sonderbaren Sinn giebt. Weiterhin aber 
hetsst es von dem , welcher zu seinem Lichte (zu Ta6) zurückkehrt, 
Tvüfi schinjängi »nicht hat er Verlust, wird der Leib zerstört« oder 
»er verliert nichts bei des Leibes Zerstörung«. Sollte diess auch 
sagen , er verliere nichts, bis sein Leib zerstört wird ? Denn %soh 
Corps fiauraplus ä crcdndre aucune cälamiiifk kann es nicht heissen, 
wiewol jäng als Substantiv auch »Unheil , Unglück« bedeutet. Jt 
heisst »verlieren« , femer auch »vergessen , hinterlassen , überlassen, 
aufgeben, übrig lassen« etc., aber niemals »zu fürchten haben«. Auch 
ist nicht abzusehen, wie scktn Subject des Satzes seyn könne. Sehin 
jängkB.nn in dieser Stelle (s. Anm. 6) nur heissen »der Leib wird 
zerstört« oder »des Leibes Zerstönmg«; was durch den Schlusssatz, 
bei dessen richtiger, d. h. wörtlicher Auffassung (s. Anm. 7), be- 
stätigt wird. Ist dem nun so, dann müssen im Zusammenhange des 
ganzen Kapitels auch die früheren Bestimmungen mu schtn und 
tschüng sc hin den terminus tn quo bezeichnen, und zwar um so mehr, 
als kein Grund ersichtlich, weshalb hier drei oder vier Mal mit 
solchem Nachdruck ein terminus ad quem hinzugefügt seyn sollte. 
Alsdann aber handelt diess Kapitel nicht von der Gefahrlosigkeit, 
Mühelosigkeit, Rettungslosigkeit und Verlustlosigkeit des Menschen 
bei seinem . Leben , sondern bei seinem Sterben ; ein Gedanke, 
welcher, vermittelt durch das vorige Kapitel, dann zur Erklärung 
der Hauptaussage des vorvorigen wird, indem er zeigt, warum der, 
welcher das wahre Leben zu ergreifen weiss , gegenstandlos für den 
Tod sey. 

Ein zweiter Punkt , der gleich hier erörtert seyn will , ist die 
Auffassung des tsh im zweiten und dritten Satze. Diesem tsi geht 
jedesmal ein kh^ voraus, welches sowol von den Interpreten, als von 
den Übersetzern als bedeutungslos behandelt ist. Diess dürfen wir 



231 

uns jedoch bei einem Wortsparer wie Laö-ts^ nicht gestatten ; und 
da diess khi jedesmal zwischen dem das Subject einschliessenden 
activen Zeitwort und dessen Object steht, so kann es keine andre 
Bedeutung haben , als v^sein, suus«^ , imd muss sich auf das Subject 
des Zeitwortes beziehen. Diess zeigt aber schon, dass tsk hier nicht 
einfach Kind , weder in der Einzahl noch in der Mehrzahl heissen 
kann. Denn welchen Sinn könnte es haben , zu sagen : Hat man 
seine Mutter gefunden, so erkennt man daraus sein Kind oder seine 
Kinder? Nun aber kann isi nicht bloss Hauptwort, sondern auch 
Zeitwort seyn , und als solches wieder zum Verbalnomen werden. 
Als Zeitwort steht es z. B. Tscküng jung XX.^ 12 und 13. Tsl mtn 
heisst dann : er behandelt das Volk als Kind oder als Kinder ; und 
Trän tsl : das Volk wird als Kind behandelt. Und so heisst kA^ tsi 
hier : sein als-Kind-behandelt-werden , d. i. »seine Kindschaft«. — 
Der Gedankengang des Kapitels würde nunmehr folgender 
seyn : Die grosse Weltursache , der ewige Taö , ist dadurch der 
Zweite , der offenbare Taö geworden , dass er sich durch die Her- 
vorbringung der Geschöpfe in ein mütterliches Verhältniss zu ihnen 
gesetzt, welches er, wie es das vorige Kapitel beschrieb, dadurch 
bewährt , dass er sie erhält , vollendet , beschirmt u. s. w. Wer ihn 
nun nach diesem seinem Mutterverhältniss lebendig erfasst , der er- 
kennt auch sein eigenes Kindesverhältniss , in welchem auch er zu 
seinem Schöpfer nur wieder zurückkehrt, der Tod für ihn also keine 
Gefahr hat. Ja , hatte er sich gegen die Sinneswelt abgeschlossen 
und ins Inwendige zurückgezogen , so wird ihm ^in Abscheiden 
keine Beschwer oder Sorge machen , während der , welcher seine 
Interessen in die Aussenwelt verlegte und sie dort verfolgte^ bei 
Lebensende nicht zu retten ist , denn er sah auf das , was vor der 
Welt gross und stark ist,. und eben diess geht ihm unwiederbringlich 
verloren. Wer aber erleuchtet ist , weil er auf das sieht , was der 
sinnlichen Betrachtung, der berechtigten sowol als der unberechtig- 
ten, klein und gering erscheint; wer stark ist, weil er auf eigne Kraft 
und Festigkeit entsagt hat, der darf nur seine innere, ihm von Ta6 
zuströmende Klarheit brauchen , und so zu dem zurückkehren , der 
sein Licht ist, so besitzt er das Unverlierbare, das ihm auch beim 
Zerfallen des Leibes nicht abhanden konmit. So verfahren , heisst, 
sich mit Ewigkeit bekleiden. — Dieser Gedankeninhalt des Kapitels 



232 

ist schon seit alten 2^iten misskannt worden und die daraus folgende 
Unsicherheit dürfte die vielen verschiedenen Lesarten veranlasst 
haben. — 

Der Anfangssatz fasst den Inhalt des vorigen Kapitels be- 
stätigend zusammen und ist gleichsam eine Folgerung daratis. Ja, 
die Welt hat einen Urgrund, der Nachdruck liegt aufjeäf und auf 
dieses bezieht sich das nachfolgende l wH: von diesem Verhältnisse 
aus wtu'de er aller Wesen Mutter. Mehre Ausgaben , imd mit ihnen 
Stan. Julien, lesen statt wdn woe mü — »der Myriaden Wesen 
Mutter« — : Man hiä mü — »der Welt Mutter«. Ersteres dürfte 
jedoch für das Richtigere zu erachten seyn, da der sich offenbarende 
(namenhabende) Taö bei La6-ts^ immer wdn woe mü, niemals thtan 
hiä mü heisst, und scßäf »Prinzip, Anbeginn, Ursprung« immer nur 
der unoffenbarte, namenlose, mü dagegen der offenbare Taö ge- 
nannt wird. 

^) ^XBXXkifCi »man hat gefunden« oder»eriangt, bekonunen« 
(kij »bereits«, ist bekanntlich Bezeichnung des Präteritums) , haben 
mehre Ausgaben kl tschtj »man hat erkannt«, was aus einer an sich 
richtigen Auslegung in den Text geflossen seyn dürfte ; doch setzt 
jene ursprüngliche Lesart ein reales Verhältniss zu der grossen 
Wesenmutter voraus, wie es das vorige Kapitel schilderte, und womit 
deren Erkenntniss dann zusammenfallt. Gerade durch das wesen- 
hafte Inneseyn Ta6*s kommt man zur Erkenntniss und Verständniss 
der Thatsache, dafts man Taö's Kind sey und von ihm als solches 
behandelt werde. Diess wird durch das l tschlj »nehmend ericennt 
man«, d. h. »daraus, dadurch erkennt man« — ausgedrückt. Wir 
halten diese Lesart, mit Julien, flir die richtige, während die andere, 
futscht^ »wiederum erkennt man« — aus einer missverständlichen 
Auffassung des Kapitels herrührt imd nur durch 6^a&fö des folgenden 
Satzes veranlasst seyn möchte. Über die Bedeutung von tsl als 
Kindschaft ist oben das Erforderliche nachgewiesen. — Den zweiten 
Folgesatz liest Julien mit mehren Ausgaben : fö scheu khi mü und 
übersetzt diess durch : // conserve leur mkre. Er hatte nehmlich kht 
tsl durch ses en/ants wiedergegeben , und auf diese bezieht sich das 
leur, Düs/ü (iterum) hat er indessen auszudrücken unterlassen, imd 
wahrscheinlich aus dem ganz richtigen Geftihle, dass es in Ver- 
bindung mit Scheuß »bewahren, festhalten« hier keinen passenden 



233 

Sinn hat ; weshalb denn auch die hesaxt/u küei^ »wieder zurück- 
kehrt« , vorzuziehen ist , bei welcher dieses fü küei khi mü dem 
späteren /tf küei khl nüng parallel steht. Dann bezieht es sich aber 
nicht auf ein sittliches Verhältniss zu Taö, sondern auf die Rückkehr 
des Menschen zu ihm (Kap. i6), auf dessen Abscheiden und Heim- 
gang. Dieser ist nun allerdings mit einem Untergehn des Körpers 
verbunden. Wer sich aber weiss in dem Kindesverhältnisse zu Taö, 
der auch jetzt seine mütterliche Obsorge nicht von ihm abzieht , für 
den ist »der untergehende Leib keine Gefahr« ; er weiss , dass der 
Tod ihn nicht gefährden kann, da er an sich selbst bleibt was er ist. 
Mu heisst ursprünglich «tmtertauchen« , dann »aufhören, endigen«; 
unser »tmtergehn« bewahrt dasselbe Bild vom Versinken im Wasser. 

"*) Ausgänge (iüi = permeabUj apassage through\ Morris,) und 
Pforten sind die körperlich sinnlichen Vermittlungsorgane des Geistes 
mit der Aussenwelt. Wer sie verschliesst und zumacht, zieht sich 
ab von der Sinnlichkeit und dem Sinnenleben und giebt das bereits 
auf, wovon der Tod ihn scheidet; für ihn ist es daher keine Sorge, 
keine Anstrengung oder Beschwerde (pu khtn)^ zu sterben. — Es ist 
möglich, dass La6-ts^, wie die Interpreten meinen, unter Hi^ »Aus- 
gang« , den Mund , unter m^ , »Pforten« , Augen und Ohren ver- 
standen wissen wollte. Solche Erklärungen in den Text aufzunehmen, 
verträgt sich jedoch nicht mit den deutschen Begriffen von einer 
Übersetzung. Übrigens wird sich Kap. 56 zeigen, dass die Worte 
se kfä tüi^pl khü min Citat aus einem Gedichte sin^ 

^) Das dem vorigen entgegengesetzte Verfahren, das Ausgehn 
ins Sinnenleben imd Hereinlassen der Aussenwelt, um zu »fordern 
seine Geschäfte«, um seine weltlichen Angdegenheiten zu betreiben, 
verlegt das wesentliche Interesse des Menschen in das, was er bei 
aufhörendem Leibesleben jedenfalls verliert. Wer das thut, ist beim 
Sterben »nicht zu retten« (pü kilu) , denn mit dem , was er verliert, 
verliert er , was er zum grössten Theile seines Selbst gemacht hat. 
Denselben Gedanken finden wir in Platon*s Phädon. 

*) Wer »auf das Kleine sieht« (kidn siäo) wird »licht, klar, er- 
leuchtet« {mtng) genannt. Siho heisst »klein , zart , wenig , gering«, 
auch »Kleinheit etc.« Hö-schäng-küng will darunter »die ersten 
Keime noch nicht ausgebrochener Calamitäten und Unordnungen« 
verstehen, was ganz gegen den Sinn des Kapitels und den Gedanken- 



234 

gang ist. Siäo ist hier, was gegen alles irdische Grosse und Augen- 
fallige, worauf jene weltlichen Anliegen gehen, als klein, zart und 
gering erscheint , von der Welt auch als gering angesehen wird, die 
Blicke des heiligen Menschen aber festhält und erleuchtet \ denn im 
Kleinsten erscheint ihm das Grösste. So auch in seiner »Weichheit«, 
in dem nachgebenden Verzicht auf alle eigne Festigkeit, auf jeden 
Widerstand , hat er. die grösste Stärke. Nach dem Fortschritt der 
Gedanken muss beides sich auf das Verhalten beim Lebensende 
beziehen. Da verdient erleuchtet genannt zu werden , wer auf das 
Zarteste hinblickt, stark, wer ohne Widerstand sich hingiebt. 

*) Seine Klarheit oder Herrlichkeit, ktiängj ist der Urglanz, die 
Lichtquelle, die der Mensch in dem mütterlichen Taö gefunden hat, 
und sie brauchen , heisst , sich mit ihr füllen, sie sich aneignen und 
sie anwenden. Das Zurückkehren zu seinem Lichte ist der Wieder- 
eingang des Menschen in seinen Ursprung und die Vollendung 
dessen , was ihn schon erleuchtete , däss er das »Kleine« davon er- 
blickte. Dieser Übergang in Taö's Lichtreich fällt allerdings mit der 
Zerstörung des Leibes zusammen , aber diese ist für ihn in keiner 
Weise ein Verlust. — Dass ß »verlieren, Verlust« heisst, wurde schon 
Anm. I angeführt Jäng bedeutet »Sträfliches, Strafurtheil , Strafe, 
Unglück, Verderben, Zerstören«. Die drei ersten Bedeutungen 
können hier nicht Platz greifen. Unglück , Unheil (Khang-hi : hd^ 
7061), als vorübergehende Nöthe (caiamitis) passt nicht zu der 
Verneinung des Verlustes, Nur wenn etwas völlig verderbt und 
zerstört wird , kann man aus einem andern Gesichtspunkte sagen, 
das sey fUr den Betroffenen kein Verlust; und deshalb kann unter 
schin jäng in diesem Zusammenhange nur »des Körpers Zerstört* 
werden« zu verstehen seyn. 

^) Die verschiedenen Erklärungen der Worte 5/ hchMng theilt 
Stanislas Julien mit. Er selbst hat seinem Grundsatze getreu in die 
Übersetzung die Erklärung chinesischer Interpreten aufgenommen : 
itrt daubUtnctä ickdri. Zuvörderst aber heisst tschh&ng niemals 
»erleuchtet« ; es so wiederzugeben , kann Auslegung seyn , ist aber 
keine XJbersetzimg. Als Object, wenn es — wie hier — Bezeichnung 
eines allgemeinen Begriffes ist , kann es nur »das Immerwährende, 
Ewige , das Ewigseyn , die Ewigkeit« heissen. Si kann hier seine 
Grundbedeutung »Doppelkleid« nicht haben , und ebensowenig die 



235 — 

abgeleitete adverbiale »doppelt«, da eine doppelte Ewigkeit ein 
Ungedanke wäre. Auf schiwii, »das heisst«, folgend, wird es als 
Verbalnomen anzusehen seyn, wie auch wir den Infinitiv so ge- 
brauchen. Als Zeitwort aber heisst st »sich bekleiden , anziehen« 
(Khäng'hi : /») Nr. 4034), auch »eingehen, annehmen, ererben«. Si 
tschhäng heisst daher ganz wörtlich induereaetema^ »das Ewige« oder 
»Ewigkeit anziehen« ^ — ein ganz verständlicher Begriff. Natürlich 
wusste man damit nichts anzufangen , wenn man die Gefahr- und 
Sorgenlosigkeit, Unrettbarkeit und Verlustlosigkeit nur bis zum 
Lebensende, und nicht gerade bei demselben gelten Hess. Wenn 
H6-schäng-küng mit Beziehung auf das im Texte Voranstehende 
bemerkt : »Der Mensch vermag diess zu bewirken ; das heisst : Sich 
aneignen {n sieu^ 8242, 8514) den ewigen Taö«, so erklärt diess nur 
unsre Auffassung des. Zeitworts; tmd wahrscheinlich ist aus seiner 
Erklärung das leichtere si (8242) anstatt des seltneren st (9844] in 
verschiedene Texte gerathen ; mit ihm jedoch tschhäng geradezu auf 
Taö zu beziehen, dürfte sich nicht empfehlen. Es ist der Allgemein- 
begriff, »das Ewige«, und sofern es von dem Menschen »angezogen« 
ist , dessen Ewigseyn , und zugleich Besitz des Ewigseyenden. — 
Wer das Leben zu ergreifen weiss, verliert das Leibesleben , um 
das ewige Leben zu gewinnen. Das ist in Kürze der Inhalt des 
Kapitels. 

Im Schü kmg wie im Schi king beweisen zahlreiche Stellen, 
. dass die Fortdauer des menschlichen Geistes nach dem Tode bei 
. den alten Chinesen, keinem Zweifel unterlag. Unbestimmt bleibt 
sein' jenseitiger Zustand. Doch heisst es im Schi king (Tä ja, i) von 
WÄn-wäng, dem Stifter der Tscheu-Dynastie, als er gestorben und 
letztere gleich darauf das kaiserliche Amt (mingj den Auftrag vom 
HErm, dem schäng Ti) errungen : 

»Droben ist W6n-wäng's Aufenthalt. 

Wie strahlend er im Himmel prangt! 

Das Land der Tscheu, wenn auch schon alt. 

Hat jüngst sein Weltamt erst erlangt. 

Ist nicht der Ruhm der Tscheu erschallt? 

War's zu dem Amt vom HErm nicht 2^it? 

Wfin-wäng, der auf und nieder wallt, 

Ist links und rechts den> HErrn zur Seit'«. 



236 

Was den Bösen widerfahre, ist nirgends ausgesprochen. Glaube und 
Überlieferung der Ta6-Gemeinde scheint darüber nicht hinaus- 
gegangen zu seyn. La6-ts^'s Begründung des Unsterblichkeit- 
gedankens durch die Gotteskindschafl ist tief und schön , und seine 
Unterscheidung zwischen denen, die nicht zu retten sind, und denen, 
welche mit Ewigkeit angethan zu Gott zurückkehren , hätte grosse 
Folgen haben können. In Beiden aber — so rächte sich seine 
Nichtachtung lebendiger Überlieferung — blieb er unverstanden, 
wie seine Nachfolger und seine Ausleger zeigen. 



Dreiundfünfzisgtes Kapitel. 

»Wenn ich hinreichend erkannt habe, wandle ich 
im grossen Tao ; nur bei der Durchfuhrung ist diess zu 
furchten: Der grosse Tao ist sehr gerade, aber das Volk 
liebt die Umwege«.^ — Sind die Paläste sehr prächtig: 
sind die Felder sehr wüst, die Speicher sehr leer.^ 
Bunte Kleider anziehn, scharfe Schwerter umgürten, 
sich füllen mit Trank und Speisen, kostbare Kleinodien 
haben in Überfluss, dass heisst mit Diebstahl prahlen ; 
wahrlich nicht Taö haben.' 



^) Inhalt und Gang der letzten Kapitel hatten bereits etwas 
Abschliessendes. Mit diesem 53. Kapitel beginnt die Darstellung 
der aus den bereits vorgetragenen religiös-metaphysischen und ethi- 
schen Grundsätzen abgeleiteten Politik, bei welcher jedoch, um 
diesen Zusammenhang in lebendigem Bewusstseyn zu erhalten, der 
Verfasser wiederholt auf jene Grundsätze zurückkommt und sie nach 
neuen Seiten hin erläutert und erweitert. Der Wucht des Alles um- 
fassenden chinesischen Patriarchaistaates konnte und wollte auch 
La6-ts^ sich nicht entziehen, aber indem er ihn durchaus zu einem 
Organismus freier Sittlichkeit erhoben wissen will, geht er doch schon 
über die herkömmlichen Ansichten weit hinaus. Nach ihm soll der 
Staat dem Leben und seinen Zwecken dienen, nicht es beherrschen. 
In manchem Betracht können auch wir von dem chinesischen Alt- 
meister noch lernen. 

Den Übergang zu seinem nunmehrigen Hauptthema macht er 
auf geistreiche Weise durch einen Einwand gegen die allgemeine 
Anwendbarkeit seiner bisher entwickelten Lehre. Denn es ist hierbei 



238 

Hö-schäng-küng zuzustimmen, wenn er sagt: »In La6-ts^*s Übeln 
Zeiten wandelten die Könige nicht in dem jgrossen Ta6, darum 
unterstellt er (sche-^supponit) diese Worte«, d. h. er legt sie ihnen 
unter. Doch muss sich diess bis zu dem oben bezeichneten Ende 
der Periode erstrecken, da der Tadel, dass das Volk krumme Wege 
liebe, an dieser Stelle nur Sinn hat, wenn er als das Motiv gefasst 
wird, um deswillen von den Königen der grosse göttliche Weg nicht 
praktisch durchgeftihrt werde. — Kiäi sjän^ erklärt Julien mit den 
meisten Auslegern durch fipetit^ mince, un peu^\ Hd-schäng~küng 
durch tdy »gross«. Kiäi heisst ursprünglich »das Ziel« ; als Zeitwort 
»zum Ziele bringen, darstellen, helfen«; als Beiwort wird es durch 
»gross, klein, gut« u. s. w. erklärt. Da i;i/r bekanntlich das voran- 
gehende Wort adverbialisirt, so dürfte unser »hinreichend« die ent- 
sprechendste Übersetzung seyn, da es ebenfalls die Hinweisung auf 
ein Ziel enthält. Td tob haben wir geradezu durch »den grossen 
Ta6« wiedergegeben, da der Ausdruck »in Gott wandeln« Niemand 
befremden kann. Aliein die Bedeutung »Weg« soll hier allerdings 
in den Vordergrund treten. Der redend Eingeftihrte macht absichtlich 
ein Wortspiel und braucht das Wort taby nach Art Khüng-ts^'s und 
seiner Schule, in der geringeren Bedeutung, um sich die Lehre vom 
ewigen Ta6, dem grossen Grundwesen und Grundprinzip Laö-ts^'s, 
gleichsam vom Halse zu schaffen. Nicht unmöglich, dass unserm 
Philosophen eine solche Äusserung einmal von höchster Stelle ent- 
gegengeworfen ; man möchte diess aus der gereizten Schärfe schliessen, 
in welcher er dem Redenden am Schlüsse des Kapitels niit einem 
andern bitteren Wortspiele dient. Denn »Diebstahle heisst auch iäo^ 
nur anders betont und geschrieben. Wir müssen diesen Schluss 
schon hier kurz betrachten, da er die richtige Auf&ssung des Ein- 
ganges bedingt. La6-ts^ sagt dort, Prachtliebe und Schlemmerei 
der Fürsten heisse »mit Diebstahl (täp) prahlen, und wahrlich nicht 
Ta6«. Diess letzte /ri tob tsäi ist noch von dem scAi wiij »das heisst«, 
abhängig und zeigt, dass der, dem es gilt, behauptet haben müsse, 
er habe Taö, oder wandle in ihm, als dem rechten Wege. Diese 
Behauptung kann nur der Anfangssatz enthalten, der also auch nicht 
unbestimmt zu fassen ist, sondern geradezu sagt: »Wenn ich es 
hinreichend erkannt habe, so wandle ich auf dem grossen Wege 
(tab)^. Dass dieses die gröbste Selbsttäuschung sey, soll der Rest 



239 — 

des Kapitels nachweisen. 5r/i/heisst )>entfaltei>, ausbreiten, ausfuhren, 
anwenden, hinzufügen« ; ofTenbaf ist hier die praktische Durchfüh- 
rung, die allgemeine Anwendung gemeint. Der Redende, der flir 
sich selbst den Besitz des ethischen Prinzips in Anspruch genommen, 
will sich rechtfertigen, weshalb er dasselbe nicht auch als Regierungs- 
prinzip entfalte, ausbreite und durchführe. Er fürchtet, sagt er, die 
Folgen. Der grosse göttliche Weg sey sehr gerade und schlicht, das 
Volk liebe aber einmal die krummen Wege und werde daher mit 
jenem Heuchelei treiben oder sich ihm widersetzen. Der unsittliche 
Zustand, des Volks verhindere die Durchführmig des höchsten sitt- 
lichen Prinzips im Regiment. Hierauf antwortet dann das nächste 
Kapitel. 

^) Die Anwendung dieser allgemeinen Sätze als Erwiederung 
für den, der einen göttlichen Wandel zu führen vermeint, ist nicht 
misszuverstehen. Unter der übertriebenen Baulust der chinesischen 
Kaiser hat das Volk ofl gelitten , und wird dessen Kraft, Zeit und 
Gut zum Bau prächtiger [tschhü^ »hochaufsteigender«) Palaste in 
Anspruch genommen, so hat diess Vernachlässigung des Ackerbaues 
und Verarmung zur Folge. 

^) Um übermässiger Kleider- und Waffenpracht, üppigen Gaste- 
reien und sonstiger Prunkliebe fröhnen zu können, müssen die Könige 
ihre Unterthanen bedrücken und aussaugen. Was sie zu solchen 
Zwecken ihnen abnehmen, ist so gut wie gestohlen. Das heisst tda 
khüa^ »mit Diebstahl prahlen«, — wahrlich nicht Ta6 haben, (vgl. 
Anm. I.) — Statt khüa lesen einige Ausgaben ht (614), ein Bekräf- 
tigungsausruf, womach es etwa hiesse : »das heisst Diebstahl, traun ! 
nicht Taö, fürwahr!« — Über die weitere, wenig beglaubigte Lesart 
tdoß (7403) sehe man Stan. Julien S. 233. — 



Vierundfünfzigstes Kapitel. 

Baut Einer gut, wird nicht abgerissen; verwahrt 
Einer gut, kommts nicht abhanden ; Kinder und Kindes- 
kinder bringen ihm Opfer ohn' AufhörenJ 
»Er flihrt Ihn bei sich selber ein. 
Dann hat sein' Tugend acht Gedeihn ; 
Er führt Ihn ein in seinem Haus, 
Dann fliesst sein' Tugend reichlich aus ; 
Er fuhrt Ihn ein in seinem Ort, 
Dann wächst sein' Tugend mächtig fort ; 
Er fuhrt Ihn ein in seinem Land, 
Dann hat sein' Tugend BlUthenstand ; 
Er flihrt im ganzen Reich Ihn ein 
Dann schliesst sein' Tugend Alles ein«.^ 
Darum : an der Person prüft man die Personen, an 
dem Hause prüft man die Häuser, an dem Orte prüft 
man die Örter, an dem Lande prüft man die Länder, 
an dem Reiche prüft man das Reich.' — Woran erkenne 
ich, dass das Reich also sey? — An ihm. — ^ 



*) Auf die am Anfange des vorigen Kapitels stehende Einwen- 
dung war zunächst nachgewiesen, wie unbegründet die Meinung der 
Könige sey, sie wandelten in Taö. Sie brauchen daher seine Aus- 
breitung und Anwendung gar nicht zu furchten, da diese — wie jetzt 
ausgeführt wird — vor allem einen festen Ausgangspunkt verlangt, 
der in der eignen Person liegen muss. Erst was da wolgegrtindet 
und wolbewahrt ist, kann auch Andern zu gute kommen, und wird 



241 

dann nach dem Maasse der eignen sittlichen Tüchtigkeit in immer 
weitere Kreise heraus- und fortgesetzt werden. Und da mit der 
Aufnahme Taö's auch die durch dieselbe gewirkte »Tugend« sich 
fortpflanzt, so fallt auch der Vorwand, dass das Volk dann krumme 
Wege noch lieben werde. — In den ersten Sätzen vergleicht La6-ts^ 
die Eingründung Taö's in den Herzen mit der Stiftung einer Familie 
durch Familienhaus und Familiengut. Ist jenes zweckmässig und 
dauerhaft errichtet, so wird es weder niedergerissen werden noch 
einstürzen ; ist dieses wol zusammengehalten und gesichert, so wird 
es weder geraubt werden noch abhanden kommen ; so werden die 
künftigen Geschlechter sich beider dauernd erfreuen und nicht 
ablassep, dem Stifter, nach chinesischer Sitte, dankbar die üblichen 
Todtenopfer darzubringen. Die Vergleichung ist durchsichtig genug, 
um weiterer Erklärung nicht zu bedürfen. 

^) Die Verse haben den Charakter früherer Citate. Ihr Subject 
ist offenbar überall dasselbe und kann, dem letzten Reimpaare zu- 
folge, nur der Kaiser seyn. Siä4^ (8574) ist schwer genau wiederzu- 
geben. Es ist gleichbedeutend mit dem sleu No. 254 und wird durch 
»ordnen, gut einrichten, herstellen, zubereiten, flirsorgen«, femer durch 
»angewöhnen, einüben, lange anhalten, eingehen, verehren« erklärt. 
DadasObject »Ihn« (tsc?il) unbestreitbar Taö ist, so schien »einftihren« 
noch das angemessenste. Übrigens ist der Mangel einer bestimmteren 
Bezeichnung sowol des Subjects als des Objects Beweis des Fragmen- 
tarischen der Verse ; wie denn auch La6-ts^ nur dann das richtige 
Verständniss voraussetzen konnte, wenn das Citat ein bekanntes war. 
Cultus und Cultur Taö's muss in der eignen Person, dem Selbst 
(schln) beginnen ; thut sie das, so erweiset sich die Tugend dieser 
Person »acht, treu, wahrhaft«, tschtn. Je kräftiger, je umfassender 
dieser Erweis wird, desto grösser werden nach und nach die Kreise 
(Familie, Ortschaft, Land, Reich), in welchen er Cultus und Cultur 
Taö's, und eben damit jene seine wahre und ächte Tugend ausbreitet, 
so dass natürlich in demselben Masse von einer Vorliebe des Volkes 
für Abw^e uud Umwege nicht mehr die Rede sein kann. 

^) Das Subject dieser Sätze ist weder das der vorhergehenden 
Verse, noch das erst am Schluss des Kapitels auftretende ngü^ »ich«, 
sondern im Allgemeinen Jeder, von dem das Zeitwort küanj »prüfend 
ansehn, genau betrachten«, ausgesagt werden kann. Die Person, an 

16 



242 

welcher man andre Personen prüft, ist nicht die eigne, sondern jene, 
von der es am Anfang der Verse hiess, dass sie Taö in sich einführe, 
weshalb ihre Tugend acht sey. Ebenso verhält es sich hier mit 
Haus, Ort, pp. Wenn die Verse sagten, wie die Wirkung des ächten 
Taö - Verehrers auf dem Throne sich in immer weiteren Kreisen 
ausdehne, bis sie das ganze Reich umfasse, so soll nun gesagt werden, 
wie und warum diese Wirkimg zu erwarten sey. Wird das höchste 
Prinzip der Sittlichkeit an einer Person erkennbar, so kann Keiner 
umhin. Andre sowie sich selbst an diesem Maassstabe zu prüfen (i 
sc/im kuän schln = »nehmend die Person anzusehn die Personen«) 
und es geht dadurch der Trieb in ihm auf, nicht allein selbst diesem 
Vorbilde gleich zu werden, sondern auch bei Anderen, soweit sein 
Wirkungskreis reicht, diese Gleichheit zu pflanzen. Auf solche Weise 
entzündet sich in dem Streben, Taö zu cultiviren und dadurch ächte 
Tugend darzustellen, Person an Person, Haus an Haus, Ort an Ort, 
Land an Land. Wenn es aber zuletzt heisst : »An dem Reiche prüft 
man das Reich«, so kann diess nicht wiederum heissen, dass Ein 
Reich zum Maassstabe eines anderen, neben ihm befindlichen diene ; 
denn nach chinesischen Begriffen ist das Reich (thian hih = orbis 
terrarum) nur ein einziges, das Reich der Mitte. Es kann nur sagen 
sollen : Ist das Reich einmal so geworden, so kann es fernerhin nur 
in dieser Beschaffenheit sich zum Maassstabe dienen. Daran aber 
schliesst sich die sogleich folgende Frage. 

^) Soll in gedachter Weise das Reich an sich selber gemessen 
werden, so fragt sich, ob es auch also (sjän) sey, wie es zu diesem 
Zweck seyn muss. Woran erkenne ich — oder erkennen wir diess? 
Laö-tse's kurze Antwort : \ thsl^ wörtlich »an diesem« ist von den 
Auslegern verschiedentlich erklärt worden. Am Schlüsse des 
2 1 . Kapitels fanden wir auf eine ähnlich gestellte Frage ganz dieselbe 
Antwort, und es zeigte sich dort, dass ihsl^ als Demonstrativum der 
Nähe, sich auf Taö bezog, von dessen Schöpfungsprozess das ganze 
Kapitel geredet hatte. Analog ist das Subject unsres Kapitels die 
oberste Person, welche den Cultus Taö' s zuerst in sich selbst begründet 
und dann fortschreitend über das Reich ausgedehnt. Daran also 
erkennt man die vorbildliche Beschaffenheit des Reichs, dass dieselbe 
ächte Sittlichkeit in ihm ausgebreitet sey, wie sie in jener Person sich 
manifestirt. Damit ist dann der frühere Einwand völlig beseitigt. 



243 

Da es hierbei aber vor Allem um den sittlichen Zustand, »die Tugend«, 
der obersten Reichsperson sich handelt, so wendet sich La6-ts^ im 
Folgenden zur positiven Darstellung derselben. — 

Das vorstehende Kapitel erinnert so sehr an das von Khüng- 
ts^ herrührende erste Kapitel des tä hto^ der »grossen Lehre«, dass 
man sich schwer enthalten kann, hier einen Einfluss der Schrift 
unsres Altmeisters zu vermuthen, obgleich Khüng-ts^ und seine 
Schüler denselben stets mit dem tiefsten Schweigen beehren. Zur 
Vergleichung lassen wir Khüng-tsl's Kapitel hier folgen. 

»§. I. Der grossen Lehre »Weg« (tao) besteht im Einleuchten 
der lichten Tugend, besteht in der I^iebe zum Volke, besteht im 
Stehnbleiben beim Besten. 

Ȥ. 2. Kennt man, wo stehnzubleiben, dann hat man ein Ziel ; 
— das Ziel, dann kann man stillhalten ; — das Stillhalten, dann 
kann man ruhen ; — das Ruhen, dann kann man forschen ; — das 
Forschen, dann kann man erreichen. 

»§. 3. Die Dinge haben Grund (»Wurzel«) und Folgen (»Zweige«) . 
Die Handlungen haben Ende und Anfang. Weiss man, was voran- 
geht und nachfolgt, dann naht man dem »Wege« [tao). 

»§. 4. Die Alten, welche wünschten, es leuchte die lichte Tugend 
im ganzen Reich, ordneten zuvor ihr Land; die da wünschten, ihr 
Land zu ordnen, regelten zuvor ihr Haus ; die da wünschten, ihr 
Haus zu regeln, veredelten [sieu^ vgl. Anm. 2.) zuvor ihre Person; 
die da wünschten, ihre Person zu veredeln, berichtigten zuvor ihr 
Herz ; die da wünschten, ihr Herz zu berichtigen, läuterten zuvor ihre 
Ansichten ; die da wünschten, ihre Ansichten zu läutern, vervoll- 
ständigten zuvor ihr Wissen- Das vollständige Wissen besteht im 
Begreifen der Dinge. 

Ȥ. 5. Sind die Dinge begriffen, dann wird das Wissen voll- 
ständig; ist das Wissen vollständig, dann werden die Ansichten ge- 
läutert ; sind die Ansichten geläutert, dann wird das Herz berich-' 
tigt ; ist das Herz berichtigt, dann wird die Person veredelt ; ist die 
Person veredelt, dann wird das Haus geregelt, ist das Haus geregelt, 
dann wird das Land geordnet ; ist das Land geordnet, dann wird 
das ganze Reich recht. 

Ȥ. 6. Vom Kaiser bis herab zum gemeinen Mann, ist das 

16* 



244 

einzige Rechte , dass alle die Veredlung der Person zum Grunde 
(»Wurzel«) machen. 

D§. 7 . Den Gnmd ungeordnet lassen und die Folgen ordnen, 
ist Nichts ! Dass das Hauptsächliche Nebensache, und das Neben- 
sächliche Hauptsache sey, ist noch nicht dagewesen.« — 

Vergleicht man diese Darstellung mit unserm Kapitel, wen wird 
nicht das Gefiihl überschleichen, Khüng-ts^ habe damit den Alt- 
meister übertreffen wollen, indem er ihm doch zugleich nachgeahmt? 
Diess gilt gerade von der Hauptsache, den Paragraphen 4 und 5 ; 
denn die übrigen sind nur einleitendes und ausleitendes Beiwerk. 
Dort ist nun freilich ein zierlicher Wechsel der Zeitwörter, welche 
sämmtlich den Gedanken, etwas in seinen richtigen Zustand bringen, 
ausdrücken, und wenn La6-ts^ von der Person verlangt, sie solle 
dadurch zur ächten Tugend kommen, dass sie Ihn, Taö, pflege und 
verehre (süu)j so glaubte Khüng-ts^, der hierin Mystik oder Schwär- 
merei wittern mochte, jenen dadurch zu übertreffen, auch wol dessen 
Forderung dadurch zu beseitigen, dass er in acht rationalistischem 
Sinne alles Weitere in den Menschen selbst verlegte und, in dem an- 
geschlagenen Tone fortläutend, mit falsch psychologischer Zuspitzung, 
den Zustand des Selbst (der Person, sc hin) von dem des Herzens, des 
Herzens von den Ansichten (oder Absichten, /, 2958), der Ansichten 
von dem Wissen oder der Erkenntniss abhängig machte, und die 
Erkenntniss im Begreifen [ke^ 42 16] des äusserlich Gegenständlichen 
[woe, 5653), der Wesen, Dinge, Geschäfte, Handlungen, bestehen 
lässt. Sollte eine gewisse religionslose Ethik unsrer Tage in Khüng- 
ts^ nicht Fleisch von ihrem Reische und Bein von ihrem Beine 
erkennen? Hier aber zeigt sich am deutlichsten, wo die Wege der 
beiden chinesischen Philosophen auseinander gehen. Und auch 
deshalb hielten wir obige Mittheilung flir angemessen. 



Fünfundfünfzigstes Kapitel. 

Wer in sich hat der Tugend Fülle, gleicht dem 
neugeborenen Kinde : * Giftig Gewürm sticht es nicht, 
reissende Thiere packen es nicht, Raubvögel stossen es 
nicht. 2 Die Knochen sind schwach , die Sehnen weich, 
und doch greift es fest zu.' Oötccd i[vpi&oxti tJjv twv 
YüvatxÄv avSpuiv te 96|ji[Jtt8iv ' xaixoi t^ aJfiorov otüetai — 
OTcepfxaToc TceptoosCof . ^ Den ganzen Tag schreiet es, und 
doch wird das Schluchzen nicht heiser, aus Fülle des 
Einklangs. ^ 

»Den Einklang kennen, heisst Ewigkeit; 

Das Ew'ge kennen, Erleuchtetheit ; 

Voll leben, heisst Unseligkeit ; 

Das Herz ins Seelische legen. Kräftigkeit. 

Was stark geworden ist, ergreist. 

Und das ist, was man Taö-los heisst. 

Was Taö-los ist, das endet früh«.® 

') Für den Höchstregierenden , sagte Laö-ts^ , kommeves vor 
Allem darauf an , ob es mit seiner eignen Person recht bestellt sey, 
ob er Taö in sich selber habe, und ob daher seine Tugend acht sey. 
Wie er in diesem Falle beschaffen sey und sich verhalte, sagen dieses 
und das nächste Kapitel. Die allgemeine Anwendung auf Jeden ist 
dabei nicht ausgeschlossen. — Vollendete Tugend — denn diess ist 
der Sinn von /e tschi htu = viriutis abundantia — fallt nach Laö-ts^ 
mit der Unschuld zusammen , nicht mit der unversuchten , sondern 
mit der in der Versuchung bewährten Unschuld, wie der Schluss des 



246 

nächsten Kapitels zeigt. Deshalb vergleicht er den, der sie hat, 
ähnlich wie Kap. 10 (vgl. das. Anm. 2), mit dem ebengeborenen 
Kinde. Er nennt ihn aber den , der sie enthält, in sich hat, hän^ 
weil hier von dem innerlichen Zustande der Person und deren daraus 
folgendem Verhalten, noch nicht von der Wirlcung nach Aussen ge- 
. redet werden soll. Die chinesische Bezeichnung eines Neugeborenen, 
tschhi tsl , »ein röthliches Kind« , ist von der Hautfarbe unmittelbar 
nach der Geburt genommen ; tschht tsh wird jedoch auch überhaupt 
für ein Kind im zarteren Alter gebraucht. 

2) Nicht so ist diess gemeint, als ob solche Gefahren dem 
Kinde nicht drohen könnten , sondern das Kind hält sie nicht flir 
Gefahren , i h m sind giftige Gewtirme nicht giftig etc. , und es ent- 
setzt sich daher vor der Erscheinung der verderblichen Thiere nicht. 
Das Dritte der Vergleichung liegt in dieser völligen Furchtlosigkeit. 
Ganz so sagte das 50. Kapitel, der, welcher das wahre Leben zu 
erfassen gewusst — und das ist deir vollendet Tugendliche, * — 
fürchte weder Nashorn , Tiger , noch Kriegsheer. Die hernach an- 
geflihrten Verse zeigen, dass hier derselbe Gnmd dafiir gelten solle, 
wie dort; denn wer sein ewiges Seyn von leiblicher Gefahr un- 
gefährdet weiss , hat keine »tödtliche Stelle« , und fühlt sein eignes 
Selbst , in kindlicher Unbefangenheit und Ruhe , sicher vor jedem 
Angriff äusserer Feinde. 

^) Das Zugreifen mit der Hand (7vtw f »fassen , ergreifen«) , bei 
aller Zartheit und Schwäche, dürfte das Gleichniss des Mannes von 
völliger Tugend seyn , der ungeachtet seiner Sanftmuth und seines 
weichen Gemüths seinen Vorsätzen beharrlich treu bleibt. 

*) Wir dürfen diese Vergleichung dem Nachsinnen des Ver- 
stehenden überlassen, und bemerken nur, dass tslng tscht tschi 
(oicipiiOTOc irepioae(a) , ebenso wie im folgenden Satze hb tschi tschi 
(des Einklangs Fülle) in statu absoluta steht und durch das jedesmal 
nachfolgende y^ zu der vorhergehenden Aussage sich declarativ ver- 
hält. Tschi ist hier das völlig Erreichte und sagt dasselbe, was 
oben hiu. 

^) Weil das Kind im Vollbesitz des Einklangs , der Harmonie 
(hd)f weil es in reiner Übereinstimmung mit sich selbst ist, darum ist 
sein Schreien nicht Zeichen innerer Missstimmung und Unordnung, 
überreizt daher das Stinunorgan nicht, und diess bleibt immer rein 



247 

und klar. So sind auch alle Äussenlngen des Menschen von 
vollendeter Tugend fortwährend freundlich und gleichmässig sanft, 
weil er (wie voll hervorbringender Kraft, so auch) voll innerer Über- 
einstimmung, voll Harmonie ist. 

ß) Einige dieser Verse fanden sich schon früher citirt , so der 
zweite Kap. i6 und die drei letzten Kap. 30. Es dürfte um so 
gewisser seyn, dass sie hier in ihrem ursprünglichen Zusammen- 
hange angeführt sind , als strenggenommen nur die beiden ersten 
hierher gehören und die folgenden einen Gegensatz bezeichnen, der 
flir den Fortschritt der Gedanken weniger am Platze ist. »Kennen 
den Einklang« kann nach dem Anschluss an das Vorangegangene 
hur heissen, zum Bewusstseyn jener Übereinstimmung mit sich selbst 
gekommen seyn , und kann sich nun natürlich nicht mehr auf das 
Kind beziehen. Diese Thatsache verbürgt einen Zustand des er- 
kennenden Subjects — denn tschi ho heisst auch »der da erkennt 
den Einklang« — einen Zustand , der mit tschMng, ewig, Ewigseyn 
oder Ewigkeit , bezeichnet wird. Dehn jene innere Harmonie , die 
in reiner Einheit stehende innere Mannigfaltigkeit, oder vielmehr die 
Einheit, welche diese Mannigfaltigkeit durchdringt und enthält, diese 
Harmonie, welche beim Kinde Voraussetzung und unbewusst war, 
ist^bei dem vollendet Tugendlichen bewusstes Resultat und Er- 
reichung seiner Bestimmung , damit aber Eingang in den Zustand 
der Ewigkeit, als dem der Veränderlichkeit entnommenen. Und die 
Erkenntniss dieses höchsten Zieles , welches mit der Rückkehr in 
Taö (Kap. 16) identisch ist, giebt daher Erleuchtung (mtng, hier 
nach alter Aussprache mäng)^ das innere Licht xat' l5oj(r^v. 

• Hiermit wäre die Entwicklung im Grunde abgeschlossen. Die 
alten Verse führen jedoch noch einen Gedanken aus , dessen Zweck 
wol nur aus dem Ganzen des citirten Gedichts zu erkennen wäre, 
y / sing heisst entweder »vielmachen , überftillen das Leben« , oder 
»voll, in Fülle leben« ; beides kann nur soviel sagen wollen, als sich 
in die Mannigfaltigkeit des Lebens zerstreuen und dadurch jene 
innere Harmonie vergessen und verlieren. Diess wird genannt 
thsiäng oder nach anderer Lesart pü ihsi&ng, Thsiäng bedeutet 
zuerst ein Vorzeichen künftiger Ereignisse, dann Glückseligkeit, 
Gutes, aber auch Unheil, Unseligkeit ; und um letztere zu bezeichnen 
kann das verneinende /« ebensowol stehn als fehlen. Sin schl klii 



248 

ist als Ganzes Subject .zu^? (»heisst« — was im Deutschen nicht 
wiederholt ist) und bezeichnet das thatsächliche Verhältniss, wo das 
Herz (sl/tf das Centrum des inneren Lebens) seine Thätigkeit über- 
trägt (denn sM heisst sich dienen lassen , sich einer Sache oder 
Person bedienen, verwenden etc.) an das unbewusste Lebensprinzip, 
das Animale, Seelische (i^, vgl. Kap. 10, Anm. 2). Gemeint ist 
also die Hingebung des Herzens an die sinnliche Lebenskraft, seine 
Knechtschaft unter diese. Diess heisst zwar kräftig, stark, gewaltig 
seyn (khiäng) ; allein damit verfallt man auch dem bloss natürlichen 
Gesetze, wie denn jenes Seelische nur der Natur angehört und 
Luther in dieser Hinsicht nicht mit Unrecht (|;u}(txoc durch »natür- 
lich« übersetzte. Nicht aber diess Naturseelische des Geschöpfes 
kehrt zu Taö zurück, sondern das ihm zu Grunde liegende, von Ta6 
ausersehene und ausgegangene , an dem natürlichen Seyn erst zum 
Seyn gebrachte Wesen (Kap. 21), und insofern ist das dem blossen 
Naturgesetze Unterliegende Taö -los oder ungötdich zu nennen. 
Denn da es keine eigene Einheit, diese vielmehr nur an dem 
Wesen hat , das zu Taö zurückgeht , so fehlt ihm als solchem die 
Vorbedingung des Ewigseyns (Mf Harmonie), und hat jenes sich 
in , durch und mit ihm entwickelt , so geht es durdi Altem oder 
Ergreisen (lai^) seinem Ende zu. (Vgl. Kap. 30, Anm. 7.) )yer 
sein Lebenscentrum daher in diess Naturseelische schickt, und 
dadurch äusserlich Held wird, muss als Taö-los bald enden. 



Sechsundfünfzigstes Kapitel. 

Der Wissende redet nicht; der Redende weiss 
nicht — * 

»Sein' Ausgänge schliesst er, 
Macht zu seine Pforten, 
Er bricht seine Schärfe, 
Streut aus seine Fülle, 
Macht milde sein Glänzen, 
Wird eins seinem Staube«. — ^ 

Das heisst tiefes Einswerden. ^ — Darum ist er un- 
zugänglich für Anfreundung, unzugäijglich für Ent- 
fremdung , unzugänglich für Vortheil , unzugänglich für 
Schaden, unzugänglich für Ehre, unzugänglich ftir 
Schmach. * Drum wird er von aller Welt geehrt. * 



^) Die zweite Hälfte des Kapitels zeigt, dass auch die erste auf 
die Regierenden bezogen werden soll , obgleich diese zunächst von 
allgemeiner Geltung ist und femer zeigt , wie der an Tugend Voll- 
endete verfahire. — Der Wissende (iscAi tschi) ist, da kein Object 
des Wissens oder Erkennens bezeichnet wird , der , welcher besitzt, 
was Erkenntniss im auszeichnenden Sinne zu heissen verdient, 
worunter freilich Taö die erste Stelle einnimmt, ohne dass man 
jedoch unter tscht tscht gerade nur den Taö Erkennenden zu ver- 
stehen hätte. Es ist überhaupt so , dass ein rechtes Erkennen , aus- 



250 

schliesslich seinem Gegenstande zugekehrt , nur sich selbst zu voll- 
enden trachtet, und schon deshalb es vermeidet, sich in Reden über 
denselben gegen Andre zu ergiessen, da ihm am besten bekannt ist, 
wie wenig es noch immer an ihn hinanreicht. Denn alle Gegen- 
stände des Erkennens sind unendlich , endlich aber ist immer das 
Erkennen. Weil es aber auch diess weiss, findet es sich nie reif 
genug, um redend seinem Gegenstande genugzuthun. Ja man kann 
sagen, das Beste, was der ächte Wahrheitforscher erkannt hat, ist 
nicht mittheilbar, ist unaussprechlich. Wer viel redet von dem, was 
er erkannt habe, beweist dadurch, dass seine geistige Thätigkeit 
noch an seinem Gegenstande umherföhrt , noch nicht in ihm selber 
aufgeht, dass er die Grösse und Tiefe desselben noch nicht kennt 
und das , was eigentlich gewusst seyn will , nicht weiss. — Diese 
Allgemeinheit des Ausspruches hindert jedoch nicht anzunehmen, 
dass La6-ts^ bei dem tschi tscht das tschi der ersten beiden Verse 
im vorigen Kapitel noch im Sinne gehabt. 

2) Die beiden ersten Verse waren schon Kap. 52 und die vier 
folgenden Kap. 4 angeführt. Die Reime, welche sich ohne Be- 
einträchtigung der Gedanken im Deutschen nicht geben wollten, 
beweisen , dass die Verse hier in ihrem ursprünglichen Zusammen- 
hange stehen. Die vier ersten reimen sich folgendermassen : Se khi 
tüi — PI khi mhi — Thsö kht sjüi — Kihi khi fbi, Dass die 
beiden letzten : Hb kht kuäng — Thttng kht ischhin — nicht reimen, 
zeigt, dass nur das Bruchstück einer Strophe vorliegt. Die zwei 
ersten Verse (vgl. Kap. 52 , Anm. 3) schliessen sich erläuternd an 
den vorstehenden Ausspruch an. Denn bei aller Unge\vissheit über 
das Subject derselben in dem ursprünglichen Gedichte, können sich 
hier alle daraus citirten Verse nur auf den bezichen, der so eben der 
Wissende und im vorigen Kapitel der die Tugend in vollem Maasse 
Besitzende genannt wurde. Nicht aber nur das wird von ihm gesagt, 
dass er sich von dem sinnlichen Verkehr mit der Aussenwelt ab- 
schliesse , sondern auch , wie er derselben sich zukehre . und zwar 
sagen diess die vier weiteren Verse, die wir Kap. 4 (vgl. das. 
Anm. 2) auf Taö angewendet fanden. Denn auch er , ähnlich Taö, 
bricht, den (beherrschten) Menschen gegenüber , der durchdringen- 
den Schärfe seines Wesens die verletzende Spitze ab , theilt seinen 
inneren Reichthum an sie aus, bringt seinen (majestätischen) 



251 

Glanz in Einklang mit ihnen und identificirt sich mit den Aller- 
niedrigsten. 

'*) Da das »Einswerden« des letzten Verses und das »Eins- 
werden« dieses Satzes mit demselben Charakter Mng bezeichnet ist, 
so könnte es auf den ersten Blick scheinen , als bezögen sich die 
Worte schi wii^ »das heisst« , nur auf diess thüng khi tschhtn^ »eins- 
werden seinem Staube«. Dazu passt jedoch das Beiwort >4/i^ä nicht, 
welches (ursprünglich »himmelblau«) nur »tief« im Sinne von dunkel, 
geheimnissvoll, mystisch heissen kann. Denn so kann nicht genannt 
werden, dass der Tugendvolle imd Wissende als König sich mit dem 
Niedrigsten identificirt. Es wird vielmehr anzunehmen seyn , dass 
schon in dem ursprünglichen Gedichte Anlass gegeben war, die vor- 
hergehenden Verse einmal, wie Kap. 4, aufTaö, einmal auf den 
heiligen Menschen und König zu beziehen ; und da jenes von Laö- 
ts6 selber bereits geschah , so wird sich in dieser Stelle das »tiefe 
Einswerden« oder die mystische Union auf das Verhältniss zu Taö 
beziehen, mit welchem der heilige Mensch sich in den genannten 
Stücken gleich und eins erweiset; so jedoch, dass diese Erweise 
Folgen jener unio mystica sind. 

^) Weil er stets im Bewusstseyn , in der Gegenwärtigkejt. des 
Höchsten und der Ewigkeit lebt, dabei allen äusseren Einflüssen 
den Zugang wehrt und sich doch des Niedrigsten wie sein selbst 
annimmt , so können alle hier aufgezählten Beweggründe , die das 
Verfahren gewöhnlicher Menschen zu beeinflussen pflegen, ihn nicht 
veranlassen, den Einen vorzuziehen, den Andern zurückzusetzen, 
oder von Recht und Wahrheit abzuweichen. Pü khb te heisst wört- 
lich : »er kann nicht erreicht, nicht gewonnen werden«, d. h. er ist 
unzugänglich ; das anschliessende oll heisst hier »und auch« oder 
»wenn auch« ; und das ihm folgende Wort hat passiv verbale Be- 
deutung, so dass z. B, pü khb fe öll kuä; pü khb fe öll tsiän buch- 
stäblich heisst : »nicht kann er gewonnen werden , und wird er auch 
geehrt; nicht kann er gewonnen werden, und wird er auch ge- 
schmäht«. Über diesen bei La6-ts^ seltenen, sonst öfter vorkommen- 
den Gebrauch des $11 \g\. Schott, chin. Sprachl. S. 130. 

^) Eine solche Unbestechlichkeit, die sichtlich auf Verhältnisse 
deutet , wie sie bei Regierenden vorkommen und oft von Einfluss 
sind, macht den, der sie beweiset, obwol ihn auch Ehrung und 



252 

Schmähung darin nicht irre macht , doch von aller Welt geehrt. 
Thtan hiäj einem Beiwort vorangehend, hat öfter die Bedeutung der 
höchsten Steigerung, ganz wie wir auch im Deutschen dem Super- 
lativ die Worte »von der Welt« hinzufügen. Sagte hier der Positiv 
nicht mehr, als jede Steigerungsform, so könnte kü wH thtan 
Jüä kuH auch richtig übersetzt werden : »Drum ist er der Geehrteste 
von der Welt«. 



Siebenundfünfzigstes Kapitel. 

Mit Redlichkeit regiert man das Land, mit Arglist 
braucht man Waffen, mit Ungeschäftigkeit gewinnt man 
das Reich J Woher weiss ich, dass dem also? Daher :*^ 
Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat, 
desto mehr verarmt das Volk ; ^ je mehr scharf Geräth 
das Volk hat, desto mehr wird das Land beunruhigt ; * 
je mehr Kunstfertigkeit das Volk hat, desto wunder- 
lichere Dinge kommen auf; * je mehr Gesetze und Ver- 
ordnungen kundgemacht werden, desto mehr Diebe 
und Räuber giebt es.® Drum sagt der heilige Mensch : 
Ich bin ohne Thun, und das Volk bessert sich von 
selbst ; ' ich liebe Ruhe, und das Volk wird von selbst 
redlich ; ® ich bin ohne Geschäftigkeit, und das Volk wird 
von selbst reich ; ^ ich bin ohne Begierden, und das Volk 
wird von selbst einfache® 

^) Von der persönlichen BeschafTenheit des Regierenden geht 
diess Kapitel zu dessen Verhalten bei der Regierung über, indem es 
zunächst in dem Begriffe der Redlichkeit {tsching) zusammenfasst, 
was das vorige Kapitel durch die Unzugänglichkeit für alle Art 
äusserer Einflüsse bereits angedeutet hatte. Wiurde dort gesagt, wer 
sich so erweise, werde von aller Welt oder vom ganzen Reiche 
geehrt, so liegt darin, dass er des grössten Ansehens geniesse, 
welches ihn in die Lage setzt, ein Land so zu regieren, wie diess 
durch tschi ausgedrückt ist, das, wie schon früher bemerkt, nicht 
bloss die Thätigkeit des Regierens, sondern zugleich das rechte, 



254 

gute, heilsame Regieren bezeichnet. Diess aber ist nur bei fried- 
lichen Zuständen durchzuführen. Beim Gebrauche der Waffen, d. i. 
bei Kriegführung, geht es nicht zu ohne allerlei kht^ d. h. Verwun- 
derliches, Ungeheuerliches, Ungerades, Unrechtes ; hier daher, als 
Gegensatz von Redlichkeit, Unredlichkeit, Arglist ; wie denn auch 
aus Unredlichkeit zu den Waffen gegriffen wird, deren Gebrauch nach 
Kap. 31 nur im Nothfalle gestattet ist. Soll aber bei redlichem 
Regiment Waffengebrauch ausgeschlossen seyn, so fragt sich, wie 
man der Nothwendigkeit desselben vorbauen könne. Hierzu ist es 
nur erforderlich, dass der König das Reich wirklich in seine Hand 
bekomme. Diess sagt genau das thsiii thian hih^ das wir wieder- 
gegeben durch »man gewinnt das Reich«, womit nicht die äusserliche 
Erlangung des Herrscheramts, sondern die Erlangung wirksamer 
Macht und Autorität, wenn man dasselbe schon innehat, gemeint ist. 
In diesem Sinne gewinnt man das Reich nur durch »Nichthaben Ge- 
schäftigkeit«, durch Ungeschäftigkeit (ufü ssi)j was ungefähr dasselbe 
sagt, wie das schon öfter erwähnte Nicht-Thun. Was näher darunter 
verstanden werden solle, sagt das Folgende ; es ist die Enthaltung 
von Verboten und Einschränkungen, von Kriegszurtistungen, von 
Beförderung blosser Luxuskünste, von gesetzgeberischer Einmischung 
in die gesellschaftlichen Zustände, mit Einem Worte: vom Viel- 
regieren; einer Krankheit auch unsrer Zeit, obgleich weniger bei 
den Fürsten, als bei den Theilnehmern an ihrer Macht. 

2) Die Behauptung, dass der König gerade durch Enthaltung 
von jener Vielgeschäftigkeit in den wahren Besitz der Herrschaft 
gelange, war so sehr allen herkönunlichen Ansichten zuwider, dass 
La6-ts^ voraussieht, man werde einen Beweis dafür verlangen. Er 
stellt daher die Fordenmg desselben durch die fortleitende Frage 
an sich selbst. Denn allerdings bezieht sich das »dem also« (kMsjdn) 
zunächst nur auf die letztvorhergegangene Aussage, obgleich die 
Lesart: thta$i hih tschi sjän^ »(dass es) mit dem Reiche also«, wenig 
verbürgt ist und nur durch Herübemahme aus Kap. 54 a. E. ent- 
standen seyn wird. 

^) Der geforderte Beweis wird aus der Erfahrung genommen. 
Es pflegt eine Hauptthätigkeit der Regierenden zu seyn, durch Ver- 
böte und Beschränkungen mancher Art die Freiheit der Personen, 
der Beschäftigung, des Aufenthalts, des Eigenthums, des Gewerbes 



255 

und Verkehrs zu hemmen, zum Theil wenigstens in der Meinung, 
dadurch den Wolstand der Gesammtheit zu heben. Dagegen lehrt 
die Erfahrung, dass" gerade durch die Häufung solcher Maassregeln 
das Volk gehindert wird, durch Entwicklimg eigner Kraft und ITiä- 
tigkeit seine Lage zu bessern, daher nur immer mehr verarmt. Den 
Sinn der chinesischen Wendung giebt unser »je mehr — desto mehr« 
wol am entsprechendsten wieder. Wörtlich müsste es heissen : »das 
Reich hat viel Verbote und Beschränkungen, und das Volk verarmt 
desto mehr«. 

^) Li khi heisst »scharfe Werkzeuge« und ist ein öfter vorkom- 
mender Ausdruck (ur schneidende Waffen, wie es Laö-ts^ selbst denn 
schon am Ende des 36. Kapitels in diesem Sinne brauchte. Es ist 
kein Grund hier eine künstlichere Erklärung anzuwenden. Nach dem 
Tscheu-ll soll zwar Eigenthum und Aufbewahrung der Kriegswaffen 
Reichssache seyn, allein bei Laö-ts^ (Kap. 80) finden wir das Volk 
selbst in deren Besitz, und da so eben erst im tadelnden Sinne von 
Kriegführung geredet ward, und dieselbe ohne Zweifel zu den »Ge- 
schäften« (s$i) gehört, durch deren Unterlassung man des Reiches 
mächtig wird, hier auch wesentlich auf das Verfahren der Regierenden 
hingewiesen wird, so ist die natürlichere Erklänmg (gegen die chin. 
AusU.) vorzuziehen. Diess ist also die Meinung : Je mehr Waffen das 
Volk, aus Anlass kriegerischer Unternehmungen der Regierenden, 
in Händen hat, desto leichter {tse, eigentl. »gemer«) wird das Land 
(buchstäbl. »die Landesfamilie«, kuo kiä) durch Aufstände und Un- 
ordnungen beunruhigt (huäitj urspr. »verfinstert«, dann soviel als 
lüan (59) mit dem es auch verbunden vorkommt, huän iuän^ soviel 
als »Wirrwarr«). 

^) Diess bezieht sich auf die Begünstigung solcher Kunst- 
geschicklichkeiten, welche unnütze Luxusgegenstände hervorbringen, 
was unserm Denker schon an und fiir sich als Übelstand erscheint. 
Auch jene B^ünstigung rechnet er unter die »Geschäfte«, deren die 
Könige sich enthalten sollten, denn erfahrungsmässig reizen sie nur 
zu thörichten Erzeugnissen. — Zu dem Vordersatze mtn td ki khiah 
(buchstäbl. »Volk hat viel Kunst-Fertigkeit«) finden sich mehre ab- 
abweichende Lesarten. Statt mtn^ »Volk«, lesen mehre Ausgaben 
sfin^ »Menschen«, was auch die Glosse Hö-schäng-küngs bestätigt. 
Indess dürfte min vorzuziehen seyn, da es sich hier überall um das 



256 

Verhältniss der Regierenden zum Volke handelt, und in Hinsicht 
auf ein solches, sßn nicht Menschen im Allgemeinen, sondern 
Beamten und Diener zu bezeichnen pflegt, was hier unpassend wäre. 
Das Khäng-hüsche Wörterbuch, das die Stelle citirt, liest tö sßn^ 
womach der Satz heissen würde: »viele Menschen (haben) Kunst- 
fertigkeiten«, oder »je mehr Menschen Kunstfertigkeiten haben«; 
diess würde jedoch theils den Sinn unangemessen verrücken, theils 
gegen die symmetrische Ausdrucksweise Laö-ts^*s seyn, welche das 
td an zweiter Stelle verlangt. Für ki endlich findet sich bald der 
Charakter No. 133, bald No. 3258 ; beide bedeuten Geschicklich- 
keit, doch (fer erste — mit »Mensch« zusammengesetzt — mehr 
geistige Begabtheit, Erfindungsgabe, der zweite — mit »Hand« com- 
ponirt — vorzugsweise körperliche Fertigkeit, Handgeschick. Jener 
dürfte dem Sinne unsrer Stelle wol gemässer seyn; doch ist zu 
bemerken, dass die Chinesen selbst nicht immer so scharfe Unter- 
scheidungen machen. 

®) Die Gesetze und Verordnungen (fa ling) beziehen sich auf 
die Strafrechtspflege, welche Raub und Diebstahl abstellen will. 
Sie verfehlen nicht bloss diesen Zweck, sondern, indem sie mit den 
Verbrechen bekanntmachen und die Aufmerksamkeit auf dieselben 
leiten, erregen sie vielmehr das Gelüst und reizen zur Übertretung, 
da die nach fremdem Gut Lüsternen sich immer Klugheit genug 
zutrauen, die Verbrechen so auszufahren, dass sie unentdeckt bleiben 
und der Strafe entgehen. Die aufgezählten Übelstande haben einen 
inneren Zusammenhang und Fortschritt : denn ein verarmendes Volk 
ist in der Regel zu Unruhen und Gewaltsamkeiten geneigt, und wird 
bei ihm die Begier nach überflüssigem Luxus erregt, so werden deren 
immer mehr seyn, welche sich die Mittel dazu auf unrechtmässige 
Weise zu verschaffen suchen. 

^) ^Weil also die Erfahrung zeigt, dass jene öffentlichen Übel 
gerade durch die schlimmangebrachte Thätigkeit der Herrschenden 
hervorgerufen werden, — Übel, welche ihnen des Volkes Herz ent- 
fremden und ihr Ansehen untergraben, sie folglich hindern, »das 
Reich zu gewinnen«, — »darum sagt der heilige Mensch«, welcher 
nehmlich das Herrscheramt überkommen hat: »Ich enthalte mich 
des Thuns« (ngb Ufü wH); solches Thuns, wie es in den vorangegan- 
genen Aussprüchen geschildert ist; was denn wol zuvörderst die 



257 

Enthaltung von schädlicher Strafgesetzgebung in sich schliessen soll, 
da jeder der nun folgenden vier Aussprüche sich auf einen der vier 
angeführten Erfahrungssätze bezieht, und dieser erste sofort an deji 
letzten anknüpft. Denn der dort erwähnten Zunahme der Räuber 
und Diebe steht hier die Selbstbesserung des Volks gegenüber. Höa 
heisst umwandeln , und zwar im sittlichen Sinne, daher bekehren, 
»bessern«, sowol Andre als auch sich selbst. — Da aus dem ganzen 
Zusammenhange der Lehre La6-ts^'s hervorgeht, dass er nicht, wie 
Khüng-ts^, die Menschen als bereits von Natur gut anerkennt, so 
würde sich hier fragen, wie denn auch ohne Strafgesetze pp. das 
Volk von selbst sittlich werden könne ? Darauf ist aber die Antwort 
schon an anderen Stellen gegeben. Wird von dem heiligen Menschen 
gesagt, er enthalte sich jener Thätigkeit, so wird vorausgesetzt, er 
regiere. Bewährt sich aber der König als heiligen Menschen, so 
richtet alles Volk Aug und Ohr auf ihn, wird durch sein Vorbild zur 
Erkenntniss dessen gebracht, was sittlich ist, und durch die geistig 
überwindende Macht, die von ihm ausgeht, zur Nachfolge seines 
Vorbildes getrieben. Man wolle sich dabei gegenwärtig halten, dass 
Laö-ts^ nirgends eine neue Staatsform heraustheoretisirt , sondern 
den im chinesischeYi Wesen begründeten Patriarchalstaat stets voraus- 
setzt, diesem aber die ideale Darstellung gegeben wissen will, deren er, 
sowie jede andere Staatsform, die aus der bestimmten Artung eines 
gebildeten Volkes sich entwickelt hat, allerdings annähernd fähig ist. 
^) Der Satz : »ich liebe Ruhe, und das Volk wird von selbst 
redlich«, steht dem Erfahrungsausspruche: »je mehr scharf Geräth 
das Volk hat, desto mehr wird das Land beunruhigt«, ebenso gegen- 
über, wie die beiden Anfangssätze des Kapitels sich gegenüberstehen : 
»mit Redlichkeit regiert man (in Frieden) ein Land«, und »mit Arg- 
list braucht man Waffen«. Eins erklärt das Andre, und wir haben 
daher die Liebe zur Ruhe als Friedensliebe und Abneigung gegen 
Krieg zu verstehen. Unter friedlichem Regiment entfremdet sich 
das Volk der Anwendung von Waffen, wird zu der Unredlichkeit 
(kht)^ die mit ihr verbunden ist, nicht verleitet und der Regierung 
gegenüber aufrichtig und redlich {tschlng)^ weder zu Unruhen noch 
zu Widersetzlichkeiten geneigt. So aber wird es sich »von selbst« 
(tsi) verhalten, weil mit dem Anreiz zu Unordnungen auch die Be- 
gierde darnach wegfallt. 

17 



258 

^) Wird hier gesagt, das Volk werde voifselbst xeich, weil der 
heilige Mensch als Regent »ohne Geschäfdgkeit« sey, so muss er bei 
diesem Verhalten das unterlassen, was oben als Ursachen der Ver- 
armung des Volks angesehen wurde, nehmlich die Verbote und 
Beschränkungen, welche die freie Entwicklung des Wolstandes ver- 
hinderten. Ist daher an diese bei der »Geschäftigkeit« oder den 
»Geschäften« (ss^) zunächst zu denken, so schliesst das doch nicht 
aus, darunter auch solche königliche Unternehmungen zu begreifen, 
welche die Kräfte und den Besitz des Volkes aufzehren, weil sie ihm 
wehren, dieselben zur Hebung des eignen Wolstandes zu verwenden. 

*®) Soll das »Ohne-Begierden-Seyn« des Herrschers die natür- 
liche Einfachheit (pho) . des Volkes zur Folge haben (und offenbar 
steht in allen vier Schlusssätzen das oll consecudv) so müssen die 
Begierden sich auf die Dinge erstrecken, welche dieser Einfachheit 
zuwider sind. Das sind nun eben die vorhin genannten wunderlichen 
und ausserordentlichen Sachen eines unnützen Luxus, welche auf- 
kommen, wenn die Erfinder derselben von obenher begünstigt 
werden. Man darf indessen auch hier weitergehn und die Liebhaberei 
für Alles dahin rechnen, was einer würdigen Einfachheit entgegen- 
steht Es war vor 2400 Jahren nicht anders als heute, dass das 
Beispiel der Höfe auf alle Gesellschaftsklassen fortwirkt. — Ist nun 
nach diesen letzten Sätzen das Ziel eines guten Herrschers innerliche 
Sittlichkeit, äusserliche Rechtschaffenheit, Wolstand und Lebensein- 
fachheit seines Volkes, so wird nicht zu leugnen seyn, dass unser 
Denker damit die wesentlichsten Grundlagen glücklicher öffentlicher 
Zustände bezeichnet hat. Sie bleiben es auch bei jeder andern 
Regierungsform , die am Ende doch, was uns La6-ts^ auch »ohne 
Worte lehrt« , nur das Mittel seyn soll , um sie zu erreichen und 
herzustellen. Und es dürfte allerdings Untersuchung verdienen, 
ob wir uns in dieser Beziehung gegenwärtig auf dem rechten Wege 
befinden. 



Achtundfünfzigstes Kapitel. 

Wesi5 Regierung recht trübselig, dessen Volk kommt 
recht empor ; wess Regierung recht durchspähend, dessen 
Volk verfällt erst recht. ^ Unglück, — das Glück beruht 
auf ihn! Glück, — das Unglück liegt unter ihm! Wer 
kennt ihren Ausgang?^ — Ist Jener nicht redlich, so 
werden die Redlichen zu Schelmen, die Guten werden 
zu Heuchlern.'^ Des Volkes Verblendung, — ihr Tag 
währt lange ! ^ Daher der heilige Mensch gerecht ist und 
nicht verletzend, bieder und nicht beleidigend, ehrlich 
und nicht willkürlich, leuchtend und nicht blendend. * 



*) deich die ersten Worte zeigen, dass hier weiter von der 
rechten Regierungsweise geredet werde. Tsching ist die Handhabung 
der Gesetze durch die obrigkeitliche Gewalt, das Regieren, also nicht 
die Behörde, sondern das Verfahren. Buchstäblich würden diese 
Sätze heissen: »(Ist) sein Regieren trübselig trübselig: sein Volk 
kommt empor kommt empor; (ist) sein Regieren durchspähend 
durchspähend: sein Volk verfallt verfällto. Das persönliche Fürwort 
kht bezieht sich hier, wie in dem späteren Satze : »Ist Jener (kM) 
nicht redlich« — auf die Person der höchsten Obrigkeit, deren directe 
Bezeichnung gern umgangen wird. Die Verdoppelung der Wörter 
ist eine Verstärkung der Aussagen. Die eine Regierungs weise heisst 
ftün min, die andre thsa thsßj und die Entgegensetzung beider Aus- 
drücke dient zu ihrer Erklärung. Thsa heisst prüfen, untersuchen, 
scharf beobachten , in verstärkender Doppelung also »recht genau 

17* 



26o 

durchspähen«, d. h. sich um Alles bekümmern. M^n (vgl. min^ 
3126) heisst traurig, betrübt, trübselig, kümmerlich, auch unwillig, 
widerwillig ; m^n men würde also vom Regieren aussagen, es geschehe 
betrübt, ungern d. h. es kümmere sich um wenig. Vom Volk unter 
recht lässlichem Regiment heisst es schun schurty von dem unter überall 
eingreifender Regierung khiüe khiüe. Letzteres bedeutet Scherben, 
in Scherben gehn, zerfallen, verfallen. Schun heisst im eigen tl. Sinne 
ein edler oder reiner Wein, uneigentlich: rein, trefflich, völlig, reich- 
lich, sowie diess Alles seyn oder werden; als Gegensatz von khiüe 
also »in den rechten Zustand kommen, emporkommen«. Beides 
lediglich auf den Wolstand zu beziehen, hat um so weniger Grund, 
als vom Verhalten der Regierenden schon im vorigen Kapitel auch 
der sittliche Zustand des Volks abhängig gezeigt wurde und gleich 
hernach wieder von demselben die Rede ist. Zu Grunde liegt der 
Gedanke, dass eine Regierung, die Alles be^immen und fUr Alles 
sorgen will , die freie Entwicklung des Volkes hemmt und dessen 
Kräfte lähmt, eine solche aber, die dem Volke die möglichste Frei- 
heit lässt, ihm am förderlichsten ist. 

2) Eine Regierung, die Alles beachten will, meint jedem Un- 
glück abhelfen, das Glück eines Jeden sichern zu sollen, greift damit 
aber in die Weltordnung ein und wirkt nachtheilig auf die sittliche 
Spannkraft der Menschen. Die Zeitwörter der beiden Sätze \ »auf 
etwas liegen oder beruhen« und /// »unter etwas liegen« werden fiir 
sich schon oft verbunden gebraucht, und Morrison bemerkt: they 
say prosperiiy and ndversiiy are nearly allied. Aber nicht bloss das 
soll hier gesagt seyn, sondern diess, dass Glück und Unglück, dem 
Verhalten des Menschen gemäss, sich auseinander entwickeln. Wer 
sein Unglück weise benutzt, wird dadurch sein Glück gründen. 
Denn des Unglücks Zweck ist, die sittlichen Kräfte des Menschen, 
die dessen Glück begründen, zu wecken und zu stählen. Das Glück, 
das nicht so errungen ist, das zufallige Glück, ist eine Prüfung des 
Menschen, ob er dadurch seine sittliche Kraft lähmen und sich zu 
Selbstsucht, Übermuth und Geniesslichkeit verleiten lasse. Erliegt 
er diesem ethischen Unglück, so folgt dem auch das äusserliche 
nach. Diess Alles gehört der sittlichen Weltordnung an, und es ist 
daher eine falsche Regierungsweise, in solche Verhältnisse fort- 
während von oben her einzugreifen und gleichsam Vorsehung zu 



201 

spielen» da man ja gar nicht weiss, worauf jenes Unglück oder dieses 
Glück hinauslaufen wird. Denn dies sagt die Frage: Wer kennt 
ihren Ausgang (khi ki) ? Das Fürwort k/it ist hier Possessivum und 
bezieht sich auf Glück und Unglück. Kt ist der Giebel, Gipfel, das 
Höchste, Aeusserste, worin etwas ausgeht, daher auch Zweck. 

3) Wie das bisher Gesagte weiter begründete, was das vorige 
Kapitel von der Nichtgeschäftigkeit aussagte, so wird durch das 
Folgende der dort zu Anfang stehende Satz, dass nur mit Redlichkeit 
heilsam regiert werde, weiter ausgeführt. »Jener« (khi) ist hier 
demonstrativ und bezieht sich, wie bereits bemerkt, auf den Höchst- 
regierenden. (Man sieht, dass j^ nicht bloss Fragelaut ist, sondern 
auch einen präsumtiven bedingenden Satz anzeigen kann.) Laö-ts^ 
wird nicht müde, den sittlichen Einfluss der allbeobachteten höchsten 
Person zu betonen, und wie sonst im Guten, thut er es hier im 
Schlimmen. Tschingy »Redlichkeit«, umfasst Geradheit, Ehrlichkeit, 
Gerechtigkeit, Billigkeit, und wo der König diese nicht hat (wü)^ 
also das Gegentheil darthut, da zerstört dieses, sich allseitig ausbrei- 
tend, die ganze ethische Atmosphäre eines Volkes, verwirrt das sitt- 
liche Urtheil, verführt zur Nachahmung; die Redlichen fü wH^ 
»kehren um und sind«, d. h. sie werden zu khi (vgl. Kap, 57 A. i), 
zu Unredlichen, Arglistigen, Schelmen, die Guten zu jcu>, Schön- 
thuern, Schmeichlern, Heuchlern. 

^) -O^j/7, »ihrTag«, deutet nicht in die Vergangenheit, sondern 
bezeichnet überhaupt die lange Dauer von des Volkes Verblendung, 
///?, — womit die sittliche Verfinsterung gemeint ist, welche sich als 
Unredlichkeit und Heuchelei darstellt, und welche, wie der Tag, 
allmählich kommt, auch nur allmählich schwindet, aber von langer 
Dauer ist, wenn einmal das Volk auf die angegebene Weise irrege- 
führt wurde. Gerade diess macht die Unredlichkeit der Könige um 
so verderblicher. 

^) In Betracht solcher Folgen unredlichen Regiments, also nicht 
bloss um sein selbst, sondern auch um des Volkes willen, ist der 
heilige Mensch, wenn er regiert, gerecht (fäng^ eigentlich »recht- 
winklig«) und nicht ko^ eigen tl. »er schindet nicht«, verletzt Keinen ; 
er ist brav und maassvoll (Mn) und beleidiget nicht, pu kuii^ wofür 
einige Ausgaben pu hdi (2132) haben, was ziemlich dasselbe sagt; 
er ist ehrlich (tschi) d. h. er bleibt aufrichtig im geraden Wege, und 



202 



verfährt nicht willkürlich, w^, was hier soviel ist wie tsi (2834), nach 
Gelüst oder Willkür handeln. Endlich ist er kuängj was hier nicht 
erleuchtet heisseti kann, obwoi es diess voraussetzt, sondern leuch- 
tend, Licht verbreitend ; aber er verdunkelt Andern die Augen nicht 
mit seinem Licht, *er blendet nicht (pii jdo)^ und eben dadurch zeigt 
er ihnen den Weg, seinem Vorbilde nachzufolgen. 



Neunundfünfzigstes Kapitel. 

Regiert man die Menschen und dient dem Himmel, 
so gleicht nichts der Sparsamkeit. * -Nur das Sparen, 
das heisst zeitig versorgen.*^ Zeitig Vorsorgen heisst 
Wolthaten reichlich aufhäufen.-* Häuft man reichlich 
Wolthaten, dann ist nichts unüberwindlich. ^ Ist Einem 

nichts unüberwindlich, so weiss Keiner sein Äusserstes. '^ 

• • • 

Weiss Keiner sein Äusserstes, so kann er das Land 
haben.® Hat. er des Landes Mutter, so kann er lange 
dauern.^ Das heisst tiefe Gründung, feste Wurzel; 
langen Lebens, dauernden Bestehens Weg. ^ 



*) Hatte der Verfasser in den vorigen Kapiteln allgemeine 
Forderungen für Rechtspflege und Verwaltung aufgestellt, so wirft 
er nun einen Blick auf den Staatshaushalt , indem er den Regieren- 
den Sparsamkeit empfiehlt. Wie auch Kap. 67 zeigt, legt er auf 
diese grossen Werth. Der Charakter ftir diesen Begriff, se, zu- 
sammengesetzt aus den Zeichen für Kommen und Scheune, bezeich- 
net das Einscheuern, Aufspeichern, das Zusammen- und in Vorrath 
halten , also »geizen« im schlimmen , »sparen« im guten Sinne , und 
ist — im Gegensatz zu dem Jüan (507) des Kap. 67 — gerade hier 
seht passend gebraucht , da die beträchtlichsten königlichen Ein- ' 
ktinfte in Naturalien bestanden. Es ist hier durchaus im eigent- 
lichen Sinne als Sparsamkeit zu nehmen, nicht etwa in übertragener 
oder gar mystischer Bedeutung. Mit den Anfangsworten tsM sßn 



264 

ssi tkian (»regieren Menschen, dienen Himmel«) werden nicht 
Zwecke angegeben, für welche — , sondern Thätigkeiten, bei welchen 
nichts besser sey als Sparsamkeit. S$6 Man ist Apposition zu tschl 
sßn , anzeigend : wer die Menschen regiere und dadurch oder dabei 
dem Himmel diene , oder Geschäfte des Himmels verrichte ; nicht 
aber kann es meinen, wie ein chines. Ausl. will, dass der König 
auch beim Opfer fiir den Himmel sparsam seyn solle. Eher dürfte 
in den Worten eine Anspielung auf den Titel des chinesischen 
Oberkönigs, »Himmels Sohn«, und die Mahnung liegen, mit dem 
Regieren auch wirklich dem Himmel zu dienen. 

^) Tsab heisst »frühe, zeitig, bei Zeiten , vorher« ; fü zunächst 
»sich kleiden, anziehen«, dann auch »an etwas gehen, es bedenken, 
besorgen, Fürsorge tragen«. Der Sinn ist einfach: der Sparsame 
sorgt bei 2^iten für die Bedürfnisse der Zukunft. Die Lesart /«, 
2708, ist eine nicht glückliche Emendation. Wenn man übrigens 
auch tsäofü durch siän ssi (580. 64.) erklärt, so würde diess doch 
nicht »das erste Geschäft« , sondern »das vorhergehende Geschäft« 
heissen. Auch sagt La6-ts^ nicht, Sparsamkeit müsse die erste 
Sorge seyn, sondern, wer sie habe, der sorge bei Zeiten vor. 

3) Nicht ftir sich sammelt und spart das Haupt eines Reiches, 
sondern ftir die Erfordernisse der Gesammtheit und um Allen helfen 
zu können, die dess bedürfen. Hat sich der Herrscher zu diesem 
Zweck zeitig vorgesehen, so häuft er damit Wolthaten in dem 
doppelten Sinne, dass er sie erweisen kann, und dass er sie erweist. 
Denn der Zusammenhang ergiebt , dass diess hier der Sinn von te 
sey , welches nicht bloss »Tugend« als subjectives Wollen und Ver- 
halten, sondern auch die objectiven Erweise derselben an Anderen, 
Wolthaten, Unterstützungen (Khäng-hi: ho6iy 2924; ngen^ 2839) 
bedeutet ; wie denn auch nur von diesen , schwerlich aber von der 
Tugend, gesagt werden kann, dass sie reichlich angehäuft werden, 
und tschhüfig ist doch nichts anderes heisst. 

^) Wer durch rechte und reichliche Wolthaten die Herzen der 
Unterthanen in Dankbarkeit, Liebe und Vertrauen gewonnen , der 
hat dadurch die ausgedehnteste Macht erlangt und kann Alles durch- 
setzen, was Absicht eines »heiligen« Königs seyn kann. So hat er 
nichts, was er nicht könnte, tuüpü khe; ihm ist nichts immöglich, 
nichts unüberwindlich. 



265 

^) »Keiner weiss sein Äusserstes« [kiy s. Kap. 58, Anm. 2 a. E.) 
heisst , Keiner weiss , wie weit seine Macht — sein Nichthaben was 
er nicht könnte — reicht. In diesem Sinne kann man kht ki 
auch durch »seine Gränzena übersetzen , ohne diess jedoch auf die 
Dauer seiner Herrschaft zu beziehen, von der erst weiterhin die 
Rede ist. 

•) Hat er durch gehäufte Wolthaten eine innerliche Gewalt über 
die Bevölkerungen erlangt, von der Niemand weiss, wie weit sie sich 
erstreckt, welche deshalb auch die scheuen, die ihm etwa noch 
widerstehen oder ihn gar im Besitze des Landes stören wollten , so 
gelangt er dadurch nun in den wahren , vollen , durchgreifenden 
Besitz desselben. Denn haben, jeü^ steht hier prägnant und in 
ähnlichem Sinne, wie am Anfange des 57. Kapitels das thsiuy »be- 
kommen, gewinnen^, stand ; auch wird es lexikalisch (bei Khäng-hi) 
u. A. durch thsiu erklärt. 

^) Nach der bisherigen Ausdrucksweise wäre zu erwarten, dass 
lediglich die vorige Wendung wiederholt und gesagt würde : »Hat er 
das Land« ; statt dessen steht : jeü kuo tsckl mü , »hat er des Landes 
Mutter«. Aber gerade die Wiederaufnahme derselben Wendung mit 
der einzigen Erweiterung fscM mü zeigt, dass nicht etwas wesentlich 
Neues oder Anderes eingeführt , sondern der vorige Begriff nur mit 
einer näheren Bestimmung wiederholt seyn soll , als stände da : Hat 
er das Land und damit dessen Mutter. Es kann daher unter der 
Mutter des Landes weder Taö , noch die Sparsamkeit , noch etwas 
dem Ähnliches zu verstehen seyn, sondern das, was mit dem Lande 
oder Staate zugleich dessen Nährmutter ist, ihn versorgt und speiset, 
nehmlich der Boden mit seinen Erzeugnissen und Vorräthen , die 
bei ihm zusammenfliessen , durch die er überallhin Gutes thut und 
die Gesinnungen der Menschen fiir sich und sein Regiment gewinnt. 
Denn hierdurch kann er seiner Regierung Dauer verschaffen , und 
diess ist mit den Worten gemeint: »er kann lange dauern«. Dass 
auch er selbst dabei lange leben und bestehen kann , liegt in der 
ganzen glücklichen und friedlichen Lage einer solchen Regierung 
und wird im Folgenden noch ausdrücklich erwähnt. 

^) Die »tiefe Gründung« [ken, eigentlich auch Wurzel) und 
»feste oder starke Wurzel« bezieht sich auf den Regierenden als 
solchen : seine Regierung oder er als Regierender wird tief und fest 



266 



gewurzelt seyn , wenn er durch sorgsamen Haushalt sich zum steten 
Wolthäter Aller macht. Eben das ist ftir ihn der Weg (tabj hier im 
gewöhnlichen Sinne , doch nicht ohne Hindeuturig auf das grosse 
Prinzip) , lange zu leben und »es auf die Dauer anzusehen«, oder 
auch »dauernd gesehn zu werden«, kieü schl^ was wir durch »dauern- 
des Bestehen« ausgedrückt haben. 



Sechzigstes Kapitel. 

Man regiere ein gross Land, wie man kleine Fische 
kocht. * Waltet man mit Taö des Reichs , so geisten 
seine Manen nichti Wenn nicht seine Manen nicht 
geisten, so verletzt ihr Geisten die Menschen nicht. 
Wenn nicht ihr Geisten die Menschen nicht verletzt, so 
verletzt doch der heilige Mensch die Menschen nicht. 
Sie beide verletzen miteinander nicht, denn die Tugend 
verbindet und eint sie. *^ 

^) Das Gleichniss ist nicht leichtverständlich. Hö-schäng-küng 
meint, wenn man kleine Fische koche, so entferne man die Ein- 
geweide nicht, entferne die Schupp)en nicht, und wage nicht sie 
umzurühren, aus Furcht, dass sie zerkochten ; und falle man mit der 
Regierung dem Lande beschwerlich , so empörten sich die Unter- 
thanen etc. Davon dürfte soviel richtig seyn, dass sich für das 
Regieren , wie flir das Fischkochen, Schonung und Zurückhaltung 
empfiehlt. Es scheint jedoch, als habe La6-ts^ bei seiner Ver- 
gleichung jene häusliche Verrichtung mehr im Allgemeinen im Auge, 
und wir möchten seine Meinung folgendermaassen umschreiben: 
Wie der , welcher kleine Fische kocht , zuerst alles dazu Erforder- 
liche vorbereitet , Feuer anzündet , den Kessel mit Wasser fUllt, ihn 
auf die Gluth setzt und ins Kochen gerathen lässt, hierauf die Fisch- 
lein, ohne sie durch weitere Zurüstung zu verletzen, in das siedende 
Wasser setzt , und dann nicht weiter selbst eingreift , sondern ruhig 
die Naturkräfte walten und wirken lässt , welche nun die zarten Ge- 
schöpfe , ebenfalls ohne sie zu verletzen , gar und essbar machen : 
so soll der Regierer eines grossen Landes zuvörderst für Alles sorgen, 



268 



was Sittlichkeit und VVolstand der Unterthanen erfordern — und 
was diess sey , ist bereits hinreichend gezeigt worden ; er wird sie 
dann . ohne sie durch Gewalt und Zwang zu verletzen , diesen Ein- 
wirkungen geduldig überlassen , und darf versichert seyn , dass die 
Kraft dieser sittlichen Elemente, die sie von allen Seiten umgeben 
und deren Fortwirkung sorgsam zu überwachen seine einzige Auf- 
gabe ist, sie auch innerlich umwandeln und in den wünschenswerthen 
Zustand versetzen werde, der auch noch andre Übel von ihnen fern- 
hält. Dass fiir ein solches Verfahren nur Taö die rechte Gnmdlage 
sey , ist bei unserm Denker selbstverständliche Voraussetzung , wird 
als solche aber überdiess durch die sogleich folgenden Worte be- 
stätigt. 

2) Dieser grössere Rest des Kapitels hat manche Schwierig- 
keiten. Zuerst fragt sich , wie er mit dem ersten Satze zusammen- 
hange. Wie man nun auch auslege , jedenfalls ist gesagt, gewisse 
übersinnliche Wesen (kuh) würden die Menschen nicht beschädigen, 
wehn die höchste Reichsperson im göttlichen Geiste — mit oder 
durch Taö — regiere. Ist aber bei einem solchen Herrscher Alles 
zugerichtet zu einem heilsamen Regiment , so darf er, das sagte der 
Anfangssatz, den Erfolg davon in Ruhe abwarten, und dieser Erfolg 
wird sich auch darauf erstrecken , dass jene übersinnlichen Wesen 
seine guten Gesinnungen gegen die Menschen theilen , und wie er 
diese so wenig verletzt, als der Koch die Fischlein, so werden auch 
jene sie nicht verletzen. — Für die weitere Erklärung kommen zu- 
nächst die Ausdrücke Haiti und schtn in Betracht. Im Allgemeinen 
verweisen wir auf Dr. Plath's ileissige und gelehrte Abhandlung: 
»Die Religion und der Cultus der alten Chinesen«, I. S. 43 — 67, 
wo auch unsere Stelle besprochen wird, und bemerken nur, dass die 
Grundbedeutung von kuU ist : »wozu der Mensch zurückkehrt«, das, 
was beim Untergange des Körpers von ihm übrigbleibt, die ab- 
geschiedene Menschenseele, die Manen. ScMnj im Gegensatz von 
ktäi^ sind Genien oder Dämonen , Wesen die von jeher und ihrer 
Art nach Geister sind und mancherlei Macht imd Einfluss auf die 
irdischen Dinge ausüben. In unserm Texte ist schtn aber stets prä- 
dicativ gebraucht, daher zeitwortlich zu nehmen : »Geister seyn, sich 
als Geister verhalten, als Geister verfahren«, wofür wir das alte Wort 
»geisten« gewählt haben. Alles Weitere über die beiden Begriffe 



269 

haben wir jedoch lediglich aus unsenn Texte zu nehmen , um dem 
Verfasser nichts Fremdes oder Späteres zuzuschreiben. 

Dabei haben wir aber den Text zu lassen wie er ist und nicht 
mit Dr. Plath das zweimalige/?/ (»wenn nicht«) zu streichen. Es ist 
wahr, durch dieses Streichen wird die Auslegung ungemein erleich- 
tert. Gegen dasselbe spricht aber erstens , dass kein chinesischer 
Text das fei ausgestossen hat , wie denn überhaupt diess Kapitel 
ohne Varianten ist; zweitens, dass es durch Hö-schäng-küng*s 
Glosse schon im 2. Jahrh. v. Chr. bestätigt wird ; und drittens, 
•nach bekannter Regel , gerade der Umstand , dass die überlieferte 
Lesart die schwierigere ist. Auch können wir die Änderung Stan. 
Julien's nicht billigen', welche , allen Ausgaben zuwider , statt schln 
in den beiden Fällen, wo wir es durch »ihr Geisten« übertragen, küh 
setzt, afin de riiablir le parallelisme qui semble de^mr exister entre ces 
deux phrases et Celles qui pricldent. Dr. Plath schliesst sich dieser 
Änderung an, ohne ihrer zu erwähnen. Indem wir bei dem ein- 
stimmig überlieferten Text bleiben, umschreiben wir denselben 
wesentlich in Übereinstimmung mit Hö-schäng-küng folgender- 
maassen. 

Waltet der Herrschende so, dass Taö die Seele seines Regierens 
ist, so verfahren die Geister Verstorbener (kuli) nicht wie die Natur- 
geister (schtn); verfahren sie aber dennoch so (diess ist der Sinn 
der doppelten Negation fei — pti) , so geschieht es nicht um die 
Menschen zu beschädigen ; und wenn dennoch ihr Verfahren in 
jener Weise den Menschen immer schädlich ist, so fügt ja der heilige 
Herrscher den Menschen kein Leid zu , und deshalb — ist zu er- 
gänzen — thun auch sie es nicht ; denn vermöge einer gegenseitigen 
Beziehung unter ihnen (siäng) ruft seine Tugend, seine wolwoUende 
Gesinnung auch die ihrige hervor, und so ist es die Tugend, welche 
sie miteinander vereinigt. [Te^ Tugend , kann im Schlusssatze nur 
Subject seyn.) 

Darnach stehen die Geister der Abgeschiedenen mit der 
Menschenwelt noch in Beziehung und ihr Wirken ist bald auf Be- 
schädigung, bald auf Begünstigung der Menschen gerichtet. Sie 
selbst sind nicht geschiedener Weise entweder gute oder böse Geister, 
sondern sie können sich freundlich oder feindlich erweisen, und 
werden zu dem Ersteren bewogen, wenn mittels eines heiligen 



270 

Menschen als Herrschers das öffentliche Leben durch Ta6 bestimmt 
wird. Diess zu zeigen dürfte die Hauptabsicht des Kapitels seyn, 
welches zugleich geeignet wat , den ausschweifenden Volksglauben 
an die kuii auf ein bestimmtes Maass zu bringen tmd die Furcht vor 
ihnen durch den Glauben an die segensreichen Folgen des Fest- 
haltens an Ta6 zu zerstreuen. 



Einundsechzigstes Kapitel. 

Ein gross Land , dass sich herunterlässt, ist des 
Reiches Band, des Reiches Wei]b. * Das Weib überwindet 
immerdar mit Ruhe den Mann; mit Ruhe ist es unter- 
than.^ Drum ein gross Land, ist es uriterthan dem 
kleinen Lande, dann gewinnt es das kleine Land ; ein 
klein Land, ist es unterthan dem grossen Lande, dann 
gewinnt es das grosse Land. ^ Drum etliche sind unter- 
than um zu gewinnen, etliche unterthan um gewonnen 
zu werden.^ Ein gross Land überschreite nicht den 
Wunsch, die Menschen zu verbinden und zu weiden; 
ein klein Land überschreite nicht den Wunsch, einzu- 
treten und den Menschen zu dienen. * Erreichen sie beide, 
jedes was es wünscht, so soll das grosse unterthan s^yn.® 

*) Zu den Regierenden gehörten auch die Fürsten der Lehn- 
staaten, welche, von sehr verschiedener Grösse , nebeneinander in 
dem weiten Reiche bestanden, und da auch ihnen galt, was von den 
Regierenden im Allgemeinen gesagt wurde, so fiigt Laö-ts^ noch ein 
Kapitel über ihr gegenseitiges Verhalten hinzu, worin er zeigt, was 
ein ehrliches und friedliches Zusammenleben grösserer und kleinerer 
Staaten allein möglich dlache. Diese Staaten standen sich nicht als 
fremde gegenüber, sondern als Glieder Eines grossen Körpers, 
ähnlich wie die deutschen Staaten solange Deutschland als Reich 
oder als Bund noch bestand; sie waren daher aufeinander ange- 
wiesen, obwol gegenseitig voneinander unabhängig, und ihr Verhalten 
unter sich war von der grössten Bedeutung für die Gesammtheit. 



272 

Ist ftir die Aufgabe der Menschheit, für eine sittliche Culturentwick- 
lung, nichts förderlicher als eine solche reiche Gliederung eines 
grossen Ganzen, so bringt diese doch auch manche Gefahren mit 
sich. Der grosse Staat wird übermüthig, herrschsüchtig, sucht die 
kleineren zu verschlingen oder zu unterdrücken und mit Gewalt sich 
dienstbar zu machen. Kleine Staaten, aufihre Selbständigkeit pochend, 
überheben sich, werden den grossen hinderlich und reizen sie. Um 
solchen Übelständen und den daraus quellenden Wirren zuvorzu- 
kommen^ dringtLaö-ts^auf die praktische Bethätigung eines ethischen 
Motivs ; denn bei ihm war es ausser Frage, ob das Sittliche auch 
Fürsten und Staaten bändigen und beherrschen solle ; und es ist als 
wende er auf die Staatenverhältnisse nur den evangelischen Grundsatz 
an: »Seid allesammt einander unterthan« (1 Petr. 5, 5. Eph. 5, 21.) 
Denn diess ist es, was er zum Heil des Ganzen sowol vom grossen 
als vom kleinen Lande fordert. Den gemilderten Begriff von »unter- 
than seyn« (uTuoTaaaeabat) kennt Jeder aus der Schrift. — 

Hiä liiu, das wir durch »sich herunter lassen« wiedergegeben, 
heisst eigentlich »unterhalb oder niedrig iliessen« und findet seine 
Erklärung im 66. Kapitel, wo es heisst, dass Ströme und Meere 
deshalb vermöchten aller Bäche Könige zu seyn, weil sie sich 
unterhalb derselben, d. h. in einem niedrigeren Niveau, zu 
erhalten wissen. Es sagt also dasselbe, was das spätere blosse hiäi 
»sich unterbegeben, unterthan seyn« ; doch ist iiiu deshalb gesetzt, 
um sogleich an das Naturgesetz zu erinnern, wornach nur dem, was 
niedriger fliesst, Anderes zuströmt. Verfahrt so ein grosses Land, 
dann erweiset es sich nach seiner ihm für das ganze Reich zukom- 
menden bindenden und weiblichen Natur. Die beiden Wortgefiige 
thtan hiä tschi kiäo und thtan hiä tschi ph\n sind prädicativ und 
beziehen sich beide auf dasselbe Subject, nehmlich das grosse Land, 
das sich herunterhält. Kiäo heisst als Substantiv »was zusammen- 
bringt, vereinigt, verbindet«, also das Band. Es ist damit die Eigen- 
schaft des grossen Landes gemeint, woma<^ es für das Reichsganze 
die kleineren Länder zusammenhält und einiget. Phln ist nicht das 
Weib als Gattin, sondern die weibliche Natur, (ft^Xu^. Die Erklä- 
rung hierzu giebt der folgende Satz. 

•) Das Weibliche überwindet immerdar mit Ruhe das Männliche« 
{oL^Bv) , und gerade dadurch , dass es »mit Ruhe unterthan ist« 



273 

(Md). Der Mann ist der Stärkere, von Natur Heftigere und Gewalt- 
samere, und wird dessungeachtet durch die immer stille und sanfte 
Unterwürfigkeit des Weibes überwunden. Ist diess eine Erläuterung 
von Lad-ts^'s mehrfach wiederholtem Satze, dass das Schwache das 
Starke überwinde, so muss das »Weib« als das physisch Schwächere 
gedacht seyn. Wenn daher im vorigen Satze das sich niedrigende 
grosse Land »des Reiches Weib« genannt wurde, und es nun heisst, 
das Weib überwinde den Mann, so musste es dort einem Stärkeren, 
Männlichen gegenüber gedacht seyn, und diess kann nichts andres 
seyn, als das Reichsganze unter dem Reichshaupte. Es wird also, 
das gilt Hir dort, den grössten und siegenden Einfluss auf das ganze 
Reich gewinnen, wenn es in Ruhe sich unterthan macht. Hier gilt 
die Aussage ganz allgemein. Denn auch für das Verhältniss zu den 
kleineren Staaten, wovon im Folgenden die Rede, soll das grosse 
Land auf seine Stärke verzichten; es soll nicht mit physischen, 
sondern mit ethischen Kräften wirken, »moralische Eroberungen« . 
machen, nicht unmoralische. 

^) Solche moralische Eroberungen sind gemeint mit dem ihsiüj 
»gewinnen«, sowol hier wie im Anfange des 57. Kap., und keinesr 
wegs handelt es sich um Erwerb der kleineren Länder, sey es durch 
Annexion oder erzwungene Abhängigkeit. Denn unter kuOj »Land, 
Staat«, ist bei den kleinen^ wie bei den grossen, die politische Ge- 
sammtheit einschliesslich des Landesherm, ja dieser vornehmlich 
zu verstehen ; so dass der kleinere Staat, auch wenn der grosse ihn 
für sich gewinnt, ihm weder pflichtig nodi unterworfen wird,» viel- 
mehr dem Wesen nach selbständig bleibt; der grosse aber, auch 
wenn er sich gewinnen lässt, das unerlässlich^ Maass seiner Selbst- 
bestimmung nicht aufgiebt. Denn auf beiden Seiten ist das hidj das 
Unterthanseyn, als ein freies, nicht auf Rechtspflichten, noch weniger 
auf einer Nöthigung beruhendes zu denken, und will nicht mehr 
sagen, als Abwesenheit von Überhebung und Anmaasslichkeit tmter 
Hingebung, Ehrerbietung und rücksichtsvoller Dienstwilligkeit auf 
beiden Seiten, und zwar aus ehrlichem Herzen und nicht vortheils- 
halber erheuchelt. 

^) Beide Aussagen beziehen sich sowol auf grosse als kleine 
Länder. Indem jedes dem andern sich dienstfreundlich ergeben 
zeigt, ist jedes in der Lage, sowol das andre für sich zu gewinnen, 

18 



274 

als auch für das andre gewonnen zu werden. Die Absicht der Anti- 
these ist, zu zeigen, dass der Wunsch, den andern Staat für sich 
einzunehmen, nur zu erreichen sey, wenn auch dieser zu gleicher 
Hingebung sich herunterthue und nicht aus Anmaasslichkeit mehr 
für sich verlange, als er seiner Bedeutung nach fordern darf; worauf 
dann der folgende Satz eingeht 

*) Das, wortiberhinaus der Wunsch (oder das Begehren, /«) des 
grossen wie des kleinen Landes sich nicht erstrecken soll, bezieht 
sich lediglich auf ihr gegenseitiges Verhältnisse oder wie man zu 
sagen pflegt, auf ihre auswärtige Politik untereinander. Bei geord- 
neten Reichsverhältnissen — und diese sind hier vorausgesetzt — 
konnte kein einzelner Staat sich seiner Selbständigkeit begeben, da 
er Reichslehn war. Von einer Einmischung oder Beschränkung in 
Betreff der innem Angelegenheiten ist also nicht die Rede. Bleibt 
aber in dieser Hinsicht die Integrität jedes Staates gewahrt, so ist 
das Verlangen des grossen Staates, für das allgemeine Wol die 
Bevölkerungen miteinander zu verbinden und zu diesem Zweck 
gleichsam das Hirtenamt zu führen, ebenso berechtigt, als das Ver- 
langen des kleinen Staates, in diese Verbindung einzutreten, um 
damit den Leuten, zunächst den eigenen, zu dienen. Unter ^i>r, 
»Menschen«, können nur die Angehörigen der in Betracht kom^^enden 
Länder gemeint seyn, natürlich nicht bloss mit Einschluss, sondern 
unter Vortritt ihrer Fürsten ; es deutet aber nichts darauf hin, dass 
die Fürsten allein damit bezeichnet seyn sollen. Kiän ischhü (oder 
auch hio) könnte auch durch »zusammen weidena wiedergegeben 
werden, da kiän sehr häufig die adverbiale Bedeutung »mit, zugleich, 
zusammena hat; im Hinblick auf das Idäo des Anfanges glaubten 
wir es jedoch als selbständiges Zeitwort nehmen zu sollen. Stan. 
Julien übersetzt ebenfalls rlunir et gauvemer. Für tschhü scheint 
aber gouvemer etwas zu stark, auch lässt es das darin gegebene Bild 
fallen. Tschhü^ dessen Charakter aus »dunkel« und »Feld« zusammen- 
gesetzt ist, heisst ursprünglich »Weideland«, dann auch »Weidethiere, 
Hausthiere«, als Zeitwort »ernähren, erhalten«, femer »versammeln, 
zusammenhalten« ; diese verbalen Begriffe fallen in unserm »Weiden« 
zusammen ; wie denn auch H&-schäng-küng ischhü durch mu (5650, 
pastorj pascere) erklärt und Julien sehr gut an das griechische itot- 
{iraCveiv erinnert. Jedenfalls bezeichnet es ein friedliches schützendes 



275 

Führen und Zusammenhalten, das den Menschen ihren Unterhalt 
sichert. Der berechtigte Wunsch des kleinen Landes soll seyn : sfi 
ss6 sflftj buchstäbl. ^eintreten dienen Menschen«. Diess kann ent- 
weder heissen, in den Dienst Anderer eintreten, oder eintreten und 
den Menschen dienen. Nach dem allgemeinen Sinne glaubten wir 
das Letztere vorziehen zu sollen, wo sich dann das »Eintreten« auf 
die Verbindung unter des grossen Staates Führung, das »Dienen den 
Menschen« aber auf die Förderung der Interessen Aller, zunächst 
aber der eigenen Bevölkerung bezieht. Es handelt sich hier um ein 
freies Freundschaftsbündniss, das auf gegenseitiger Condescendenz 
(hid) beruhend, zum Besten Aller dem grossen Staate die Führer- 
schaft, dem kleinen den Eintritt unter dieselbe gewährt. Mehr als 
diess soll keiner von Beiden verlangen, also keiner dem andern in 
seinem eignen Gebiete Beschränkungen auflegen oder anderweite 
Vortheile ihm abnöthigen. 

®) Julien sieht in dem ersten dieser Sätze, den wir als bedin- 
genden fassen, eine Art Folgesatz zu dem Vorhergehenden, indem er 
ihn mit alors beginnt, und in dem zweiten einen nachträglich bedin- 
genden, indem er ihn mit mais anfangt. Im Grundtexte stehn diese 
Partikeln nicht, indess drückt sich durch. das mais das richtige Gefühl 
aus, dass der Schlusssatz nicht so nackt dastehen könne und eine 
Beziehung zu dem Vorangehenden haben müsse. Welch andre aber 
könnte diess bei dem Mangel jeder conjunctiven Partikel seyn , als 
die eines Nachsatzes, eines abhängigen Satzes? (vgl. Schott, chines. 
Sprachl. S. 74. B.) Diess wehrt dann aber, den ersten Satz in der 
Abhängigkeit vom Vorangehenden zu fassen, die ihm das alors bei- 
legt. Der Gedanke vielmehr, den die Worte durch das alors erhalten, 
wird als selbstverständlich stillschweigend vorausgesetzt, um nun die 
Lehre anzuknüpfen, dass auch nach Erlangung dessen, was jedes 
Land von dem andern in Folge seiner Condescendenz erwarten 
durfte, das grosse Land diese Haltung nicht wieder aufgeben dürfe. 
Für das kleine Lan^ wenn es nur verlangt der Gesammtheit zu 
dienen, war diese Erinnerung unnöthig; in der Führerschaft des 
grossen aber liegt allerdings die Versuchung, nach deren Erreichung 
jene gewinnende Herunterlassung und Selbstnachsetzung wieder 
fahren zu lassen. Der Sinn ist nicht, wenn beide erlangen wollten, 
was jedes wünscht, so müsse das grosse unterthan seyn, sondern, 

18* 



276 

es müsse diess auch dann noch seyn, wenn sie es bereits erlangt 
haben. — 

Uns aber darf Jüngsterlebtes wol erinnern , wieviel Weisheit 
diese Aussprüche eines uralten Denkers enthalten. Würde es nicht 
seiner Verdammung anheimfallen müssen ? Man pocht auf das Christen- 
thum, aber so feig und abgestorben ist es unter uns, dass Keiner 
wagt, die Gebote der Gerechtigkeit, der Treue, der Achtung vor dem 
Besitz, dem Recht, der Freiheit Anderer, geschweige das evange- 
lische Gebot: »Seid allesammt einander unterthan«, christlichen 
Staaten entgegenzuhalten, die doch Gott zu einer gegliederten Ge- 
meinschaft in gegenseitiger Treue berufen hatte. Wer es tbäte, würde 
mit Gelächter bezahlt. Selbst die Besten macht der erhoffte »Gewinn« 
einer formalen deutschen Einheit blind gegen den »Schaden an ihrer 
Seele«. Glaubt man denn im Ernste, der Gott vom Sinai habe seine 
einschneidenden Verbote — , der göttliche Herr der Christenheit 
seine Gebote der Liebe, der Treue, des Friedens, des Gottgehor- 
sams, der Sanftmuth und Demuth nur den Privatleuten geben wollen, 
nicht auch Königen, Fürsten, Regierungen und Staaten? Glaubt man 
wirklich, nur jenen, nicht auch diesen gälten seine daran geknüpften 
Drohungen und Verheissungen und sein Gericht? Ist er nicht mehr 
»König der Könige, Herr der Herrn«? Wahrlich es ist, als sey fias 
nur ein Ehrentitel, mit dem man Ihn pensionirt habe, als sey es 
nicht sein unentreissbares Amt, vermöge dessen Er »einst mit ihnen 
reden wird in seinem Zorn und mit seinem Grimm sie schrecken«. 
Diener seines Worts, die nicht mehr die Ehrlichkeit haben, mit ihm 
auch gekrönte Christen zu strafen, und die' deren Anmassungen und 
Gelüste schweifwedelnd salben, sollten sich erröthend verkriechen, 
wenn sie die schlichten treuherzigen Mahnungen eines alten Heiden 
aus einem hundertmal verlachten und verspotteten Volke hör^, 
welche christlicher sind» als all ihr Gerede von göttlicher Mission und 
göttlichem Wolgefallen am Erfolge Eroberungssüchtiger. 



Zweiundsechzigstes Kapitel. 

»Taö ist aller Wesen Bergungsplatz, 
Guter Menschen höchster Schatz^ 
Unguter Menschen rettender Ersatz«. ^ 
Anmuthende Worte können erkaufen ; ehrenhafter 
Wandel kann noch mehr thun. Sind Menschen nicht 
gut , wie dürfte man sie aufgeben ? ^ Darum setzte man 
einen Kaiser und bestellte drei höchste Räthe. ^ Mag 
er auch haben, die da Nephrittafeln emporhalten, und 
vor sich nehmen ein Vierspann Rosse, — so ist es doch 
besser stillsitzend weiterzukonunen in diesem Taö.* 
Warum verehrten die Alten diesen Ta6 ? Nicht, weil er 
durch täglich Suchen gefunden wird und denen , die 
Schuld haben , vergiebt ? Darum ist er das Köstlichste 
in aller Welt. * 

^) SdneF freien Weise gemäss kommt La6-ts^ in diesem und 
den beiden nächsten Kapiteln wieder auf die grossen Prinzipien 
seiner Lehre zurück, doch ohne den Hauptgegenstand aus den Augen 
zu lassen. Denn was er über diesen — nennen wir ihn Regierungs- 
kunst — zu sagen hat, will er als durch jene Prinzipien begründet 
nachweisen. Die drei Verse , welche diesem Kapitel vorangestellt 
werden, sind ein kostbares Kleinod uralten Gottesglaubens und 
sicherlich Citat. Sie sprechen das Verhältniss Taö's zu allen Ge- 
schdpfen, dann zu den guten Menschen, zuletzt zu den unguten aus, 
damit sich darnach das Verhalten der Regierenden namentlich zu 
den letzteren bestimme ; denn auch darin soll dem höchsten Wesen 



278 

der Herrscher sich anähnlichen. — Taö heisst aller Wesen ngdoj 
was durchaus an das ebräische ']^Tü , Ps. 90 , i . erinnert , — eine 
sichere, bergende Wohnung. Denn ngäo wird nach dem Li-k( (kkiu 
li) »des Hauses Südwest- Winkel, wo der Mensch ausruhet<s genannt. 
Es ist damit gesagt, dass Taö Alle schirmend umschliesst. Dem 
Guten sodann , der ihn kennt und hat , ist er ein köstlich Kleinod 
(päo) , dessen Besitz ihn beglückt , denn in ihm hat und vermag er 
Alles. Der Ungute ist von Ihm zwar nicht geschieden und aus- 
geschlossen , hat aber sich selbst ihm abgewandt und entfremdet, 
denn sonst wäre er ein Guter. Dennoch bleibt Taö sein sbpdo (nach 
alter Betonung im* Reim ; sonst päo) . Päo heisst »erhalten , stützen, 
schützen, helfen, retten« (=/m^, 163); x^/^ mithin: »was hilft, 
was rettet« — seine Hülfe oder Rettung. Damit ist nicht bloss ge- 
meint, dass Taö seine bewahrende, schützende Hand auch von dem 
Unguten nicht abzieht, sondern vornehmlich, dass er ihn auch 
wieder zu Sich zurückzuführen sucht , um ihn dadurch von Sünde 
und Schuld [tsüiy s. unten) zu befreien , indem er ihm , wie H6- 
schäng-köng bemerkt, durch Unglück und Noth zur Erkenntniss und 
Reue bringt. 

^) J/^/yi«, schöne, anmuthende, freundliche Worte oder Reden, 
soll hier nicht den tadelnden Seitenblick haben, wie im 81. Kapitel ; 
es ist soviel wie schinjän^ gute Worte. Schi^ als Substantiv »Markt«, 
heisst als Zeitwort »handeln, kaufen, erkaufen«, und kann nach khb l 
nur Activum seyn. Gemeint ist, durch freundliches gutes Zureden 
lassen die Leute mit sich handeln, imd man kann sie gewinnen. 
Ehrenhafter, ausgezeichneter, edeler Wandel (tsün Mng) kann 
(wieder das activirende khb l) noch mehr thun — kiäy hinzufügen, 
vermehren, darüber hinzuthun — d. h. sein Beispiel kann bewirken, 
dass die durch gute Worte Gewonnenen nun auch noch weiter fort- 
schreiten , dass sie dem ihnen vorleuchtenden Wandel nachfolgen. 
Es ist also Hoffnung da , dass die Nichtguten auf diesem Wege be- 
kehrt und gebessert werden , und da diess , wie wir hörten , Taö's 
Wille ist , — wie dürfte man sie denn aufgeben ? Nur diese mildere 
Bedeutung dürfte kM hier haben , denn es^eisst nicht bloss »ver- 
werfen, Verstössen, verachten«, sondern auch »verlassen , vergessen, 
aufgeben«. Jeü bedeutet hier die ))Ursache<( ; hd khi tschi jeü also : 
quaenam abjüiendi causa? — 



279 

^) »Darum« , um die Nichtguten durch Wort und Vorbild zu 
bessern , setzte man eine höchste Obrigkeit im Reiche. Diess wird 
also immer als sittlicher Organismus betrachtet. Der chinesische 
Ausdruck für Kaiser, thian tsl^ »Himmels Sohn«, ist unserem »von 
Gottes Gnaden« analog. Der Kaiser hat sein Amt (ming^ 1200, == 
numdatum) unmittelbar vom Himmel, der im Vaterverhältnisse zu 
ihm gedacht wird, welches ihn zum unbedingten Gehorsam und 
höchster Ehrerbietung gegen denselben verpflichtet. Küng hatte 
ehedem doppelte Bedeutung. Einmal hiessen so die landeshohen 
erblichen Lehnsftirsten erster Klasse; dann wurden damit auch die 
drei höchsten Räthe des Kaisers bezeichnet, in diesem Falle jedoch 
immer mit dem Zusätze sän^ »drei«. 

*) Fl ist eine rundlich geschliffene blaue Nephritplatte, welche 
die hohen Würdenträger , wenn sie mit dem Kaiser redeten , »mit 
beiden Händen vorhielten« (küng)j um ihn nicht anzuathmen. Wenn 
wir süi jeu (»obgleich er hat« oder »mag er auch haben«) auf den 
Kaiser beziehen , von dem auch das Fahren mit dem Viergespann 
gesagt ist , so wird auf eine doppelte Beschäftigung desselben ge- 
deutet , auf seine Berathungen mit den höchsten Beamten im Palast 
und auf sein Hinausfahren in friedlichen oder kriegerischen An- 
gelegenheiten. Beides, sagt La6-ts^, halte keinen Vergleich aus — 
es sey »nicht wie« (pu sjü) das »Stillsitzen« (tsö) und Vorwärtsgehen, 
Weiterkommen (tsln) in »diesem Taö« (thsl tob). Wenn durch das 
isin auch auf die Bedeutung von tob als »Weg« angespielt wird , so 
beugt jedem Missverständnisse doch das dem tsin vorangesetzte tsö, 
sowie auch das dem tob hinzugefügte thsl vor , indem Letzteres auf 
denjenigen Taö hinweiset, von dem nach den Anfangsversen in 
diesem Kapitel die Rede ist Alle äusserliche Betreibung von 
R^erungsgeschäften, meint La6-ts^, habe nicht den Werth, welchen 
die ruhige Nachfolge Taö's in Rettung der nichtguten Menschen 
diurch Zureden und erweckendes Beispiel hat , wozu ja die Höchst- 
regierenden daseyen. 

^) Weiset das wiederholte thsl tob abermals auf die voran- 
stehenden Verse, und sagt die Frage, dass der von ihnen geschilderte 
Tad schon vom Alterthume hochgeehrt (küei) worden sey, so möchte 
diess wol bezeugen , dass die Verse selbst jener Vorzeit angehören. 
Überaus bedeutungsvoll für La6-ts^'s Theologie ist aber die , wieder 



28o 

in eine Frage gekleidete Antwort. Diese Erkenntniss der jederzeit 
möglichen Wiedervereinigung mit Gott und der Gewissheit, dass Er 
dem anhaltenden Suchen \Jihitu ^ »suchen, verlangen, bittent) sich 
nicht versagt und dass er die Sünde oder Schuld (tsüi) vergiebt, 
berührt sich mit dem Höchsten und Tiefsten reiner Religion , und 
man wird dadurch an Schriftstellen erinnert, wie : »So ihr mich von 
ganzem Herzen suchet , will ich mich finden lassen« — »Wo ist ein 
solcher Gott wie Du , der die Sünde vergiebt« u. v. a. Dergleichen 
wurde jedoch von dem Nachgeschlechte unsres Autors am wenigsten 
verstanden, und deshalb sind hier manche Textänderungen versucht 
worden. H6'Schäng-küng bestätigt die von tms angenommene 
Lesart, der sich auch Stan. Julien anschliesst, nur dass er statt khüu 
fef »durch Suchen gefunden« , liest : khüu tsi tCy »durch Suchen von 
selbst gefunden«. Seine Übersetzung sonjeü tsüi l miänßf durch : 
fiesi ce pas parce que les coupabks obtiennent par hu la überü et la 
vie? ist mehr Umschreibung als Übersetzimg; denn miän heisst ein- 
fach »vergeben , erlassen« , in welchem Sinne es auch im Vaterunser 
der chinesischen Bibelübersetzung steht, und miän tsüi heisst immer 
»Sünde oder Schuld vergeben« (s. Morrison). Das l halten wir für 
Postposition zu Jeü tsüiy wodurch diess zum cästts obliquus wird. D^s 
fragende y^ am Schlüsse macht die Aussage nur um so bestimmter. — 
Den ganz gleichlautenden Schlusssatz hatten wir Kap. 56 übersetzt: 
»Danun wird er von aller Welt geehrt« ; was hier nicht passend er- 
scheint, da Ta6 leider nicht von aller Welt geehrt wird. Er ist aber 
das Herrlichste, Köstlichste (küci) in aller Welt. Und wie tief und 
sdiön ist es wieder, dass er dieses »darum« genannt wird, weil er 
die Sünde vergiebt! — Hier nun aber ist diess AUes von Tad aus- 
gesagt damit der rechte Herrscher ihm darin nachfolge, denn dazu, 
hiess es, sey er gesetzt ; und thut er es, so bekehrt er auch die Nicht- 
guten zu Taö, vergiebt ihnen, wie dieser, ihre Sünde, und findet in 
Taö's Ehre seine eigne. 



Dreiundsechzigstes Kapitel. 

Das Thun sei Nichtthun, das Geschäft Nicht- 
geschäft, der Genuss Nichtgenuss, das Grosse Kleines, 
das Viele Weniges. ^ Vergilt Feindschaft mit Wolthun, ^ 
Unternimm das Schwere in seinem Leichtseyn, thue 
das Grosse in seinem Kleinseyn; die schwersten Dinge 
der Welt beginnen ja mit Leichtseyn, die grössten 
Dinge der Welt beginnen ja mit Kleinseyn. ^ Daher der 
heilige Mensch niemals das Grosse thut^ drum vermag 
er sein Grosses zu vollenden. ^ Wer leichthin verspricht, 
hält sicherlich selten. Wem vieles leicht ist, wird sicher- 
lich vieles schwer. Daher der heilige Mensch es wie 
schwer behandelt, drum lebenslang nichts ihm zu 
schwer wird. * 

■ I ■■! ■ M ■ » I «I I ■ ^— — ^ MI I 111 I MI ■ ■ «^1^^— ^^M— ■ J^^— ■ ■ II ■ I ■ ■! ■! ■ ^WM Ig ^^^^Ml I I ^^^^^ M»IM 

^) Die Subjectlosigkeit dieser und der nächsten Aussprüche 
giebt ihnen die Bedeutung eines gemilderten Jussivs , den wir uns 
nach dem Hauptinhalte dieses Theilä des Buches zumeist an die 
Regierenden gerichtet zu denken haben, ohne dadurch die Allgemein- 
gültigkeit des Gesagten einzuschränken. Die Kürze und die para- 
doxe Einkleidung erschwert das Verstäiidniss. Betrachten wir die 
beiden ersten Sätze : wü wü wÜf ssi wü ssS; so kann dadurch un- 
möglich der Quietismus anempfohlen werden. Es vertrüge sich 
diess, wie schon früher bemerkt, mitLa6-ts^*s sonstigen Äusserungen, 
ja mit den gleich folgenden, womach man Feinden wolthun. 
Schweres» wenn es noch leicht ist, unternehmen, Grosses, wenn es 
noch klein ist, thun soU, ebensowenig, als mit dem Schlusssatze des 



282 

ganzen Buchs, der allen Nachdruck gerade auf das Thun legt. Wir 
können daher wü wii und wü ssi nicht als Object , sondern nur als 
Prädicat ansehen. Wenn La6-ts^ darnach sagt, das Thun solle kein 
Thun seyn , so versteht sich von selbst , dass er einen Unterschied 
macht zwischen Thun und Thun , dass er will , das Thun der einen 
Art solle nichts vom Thun der andern Art an sich haben. Auch 
sahen wir schon , dass er ebenso auf alles selbstlose, zum Heil und 
Wol Anderer gereichende Thun dringt, als er jedes aus selbstischen 
Gründen geschehende Thun verwirft. Jenes Thun soll mithin die 
Verneinung (wü) dieses Thuns seyn. — Ganz analog sind nun die 
beiden folgenden Aussprüche zu fassen, die keineswegs blosse 
stylistische Ausfüllungen sind. Denn ssij Geschäft, tmterscheidet 
sich dadurch von wÜj Thun , dass es ein noth wendiges , ein durch 
Pflicht auferlegtes Verrichten ist , weshalb es als Zeitwort »dienen« 
heisst. Ssi wü ssi sagt daher, das, was geschehen müsse, solle ver- 
richtet werden als sey es ein nicht geschehen Müssendes , als sey es 
mithin ein Freiwilliges ; es ist daher nicht Wiederholung , sondern 
wesentliche Erweiterung des ersten Gedankens. Noch mehr ist 
dieses der dritte Ausspruch : wit wü wH. Wii heisst das Süsse, 
dann gewöhnlich der Geschmack , das Schmecken , auch Ergötzung, 
im umfassendsten Sinne also Genuss. Nach dem Vorangegangenen 
und dem ganzen Zusammenhange kann dieser Ausspruch ebenfalls 
nur zwischen einem Geniessen unvermeidlicher oder unschuldiger 
Art und einem verwerflichen , weil selbstischen , unterscheiden und 
die Forderung stellen, jenes solle nicht dieses oder ohne dieses seyn. 
Denn jede Befriedigung eines Bedürfnisses, z. B. des Hungers, ist 
mit einem Genuss verbunden und dieser insofern vorwurfsfrei ; ver- 
werflich wird er aber , wenn das Geniessen Zweck und Hauptsache, 
also z. B. das Essen nicht mehr Befriedigung eines Naturbedtirf- 
nisses, sondern sinnlicher Lüsternheit ist. Wü wii hier als das, was 
»nicht geschmeckt werde«, auf Taö zu beziehen, ist ebensowenig am 
Orte, als Hö-schäng-köng's an sich schöne und tiefsinnige Be- 
merkung: wenn tiefes Nachdenken die Zweifel beseitigt habe, so 
schmecke man Taö's Willen. — 

Die sich weiter anschliessenden vier Wörter : td siäOf td scßiäo 
klingen wie ein alter Reimspruch und erscheinen dem ersten Blicke 
sehr räthselhaft. Stan. Julien, nachdem er schon den vorigen Sätzen 



283 

das Subject le sage hinzugefügt , übersetzt sie : ks choses grandes ou 
petitesj nambreuses ou rares (soni igales h ses yeux) ; wie denn auch 
die meisten chinesischen Interpreten, nach seiner Angabe, die Worte 
dahin auslegen , der Weise betrachte Kleines ebenso wie Grosses, 
Weniges ebenso wie Vieles, und umgekehrt. Indess so fiir sich 
allein dastehend, können diess die Worte doch nicht sagen. Chalmers 
übersetzt erklärend: find your greai in what is Utile ^ and your 
many in the fewy und scheint sowol td als td verbal zu fassen. 
Seine Deutung lässt sich hören, obwol sie ganz zutreffend noch nicht 
seyn dürfte. Nach den vorangehenden Sprüchen möchten wir die 
Erklärung folgendermaassen fassen. Da das Kleine das Nichtgrosse 
und das Wenige das Nichtviele ist, so ist es ebenso, als stände da: 
»Das Grosse sey Nichtgrosses, das Viele Nichtvieles«, — ebenso wie 
vorher gesagt war : das Thun sey Nichtthun etc. Es wird somit auch 
ein Unterschied gedacht zwischen Grossem und Grossem , Vielem 
und Vielem , von dem das Eine bejaht , das Andre verneint werden 
solle, und diess verneinte Grosse und Viele ist eben das Kleine tmd 
Wenige. In der Anrede wird also das Grosse gefordert , aber als 
Nichtgrosses, als Kleines, und das Viele, aber als Nichtvieles, d. h. 
als Weniges. Denn um es zu dem Grossen und Vielen zu bringen, 
mit dem der höhere Mensch sich vollendet, darf er es nicht als 
Grosses und Vieles wollen ; und soweit er es bereits dazu gebracht, 
darf sein Grosses ihm nicht gross — mithin nur klein — , sein 
Vieles ihm nicht viel — mithin nur wenig seyn. 

2) Verfahrt der Mensch, zumal der Herrscher, in so ungewöhn- 
licher , alle Welt befremdender Weise , wie sie so eben gefordert 
worden, so wird er zunächst den Nichtguten ein schweigender Vor- 
wurf seyn, kann daher insofern dem Widerstände, ja der Feindschaft 
der Welt nicht entgehn , die alles Andre eher erträgt und verzeiht, 
als die reine selbstlose Tugend. Dieser Feindschaft soll er mit nichts 
begegnen, als mit ebenderselben nur in Wolthaten gegen die Feinde 
sich ergiessenden Tugend. Wir brauchen nicht zu eriimem , dass 
diess wörtlich die evangelische Forderung ist : »Thut wol denen, die 
euch hassen«r. Aber merkwürdig ist es und bezeichnend, wie 
Khüng-ts^ sich über diesen Grundsatz unsres Autors äussert. Im 
Lfln j6 (XIV., 36) wird berichtet: »Jemand sprach: Mit Woltfaun 
vergilt Feindschaft — wie ist das ? Der Meister sprach : Womit ver- 



284 

gölte man Wolthun? Mit Recht vergilt Feindschaft; mit Wolthun 
vergilt Wolthuna. So glaubte dieser zum »Lehrfürsten des Mittel- 
reichs« erhobene Mann das Wiedervergeltungsrecht einem Lad-tsö 
gegenüber begründen zu können ! — 

^) Die aufgestellten sittlichen Forderungen gehören vornehm- 
lich zu dem Schweren und Grossen , das vollbracht seyn will , und 
die sittliche Kraft will dazu nicht genügen, wenn der selbstische 
Trieb im Menschen sich dagegen auflehnt und losbricht. Die erste 
Hälfte des folgenden Kapitels zeigt , dass La6-ts^ hier das Grosse 
und Schwere in die Besiegung dieses Triebes gel^ wissen will; 
denn ist dieser überwunden , so sind jene sitdichen Forderungen 
klein und leicht Ebenso wird dort erläutert , wie auch diese Über- 
windung ein Kleines und Leichtes werde, wenn man nach den hier 
aufgestellten allgemeinen Sätzen verfahre ; wenn man das Schwere 
unternimmt (thüf sich vorzeichnet) , wo und wenn es noch leicht ist 
(ju khi /y in seinem Leichtseyn; /, »leicht« , bezeichnet hier die Zu- 
ständlichkeit , wie ebenso ^i »klein«); und wenn man das Grosse 
thut, wo und wenn es noch klein ist. Denn dass alles Schwerste im 
ersten Entstehen nur ein Leichtes , alles Grösste im ersten Werden 
niu" ein Kleines sey, wird als allgemeine Erfahrung hinzugefügt. 

^) Wörtlich : »Daher der heilige Mensch endet (tschäng) und 
nicht das Grosse gethan hat«. Vom höheren Menschen sagt man : 
er endet ; vom gemeinen Menschen sagt man : er stirbt. Tsckütig 
pu^ »enden (und) nicht« heisst in solcher Wendung daher soviel als 
»niemals«.- Das Grosse, das er niemals thut, wird hier seinem 
Grossen, d. h. dem Grossen, das nur der heilige Mensch als solcher 
vollbringt , entgegengesetzt. Das Erstere muss also das seyn , was 
nicht Sache des Heiligen ist , was nur vor der Welt als gross gilt. 
Das Letztere , das im Stillen und Kleinen und allmählich geschieht 
und zur Grösse heranwächst , ist nicht was der Menge als gross er- 

« 

scheint ;diess thut nur das Mächtige, Gewaltsam^, Welterschüttemde 
in schneller, wo möglich plötzlicher Vollziehung. Nur weil der 
heilige Mensch auf diess Grosse verzichtet, kann er sein Grosses 
vollenden. 

' ^) Je unscheinbarer das Wirken des heiligen Menschen ist, da 
er sich nur mit Kleinem und Leichtem zu befassen scheint , desto 
eher möchte man glauben, er könne diess nun auch leicht und oben- 



285 

hin behandeln. Dass es ihm dabei nicht gelingen würde , lehrt die 
Erfahrung an denen, die Jedermann mit Versprechungen entgegen- 
kommen, und sie gar selten halten, weil sie zuviel. für leicht erachten, 
was ihnen denn doch zu schwer zur Ausführung ist. Deshalb ver- 
fahrt der heilige Mensch umgekehrt. Seine Aufgabe hat er bei allen 
Dingen zu erfüllen , und sie ist immer ein Grosses und Schweres. 
Im Hinblick auf sie behandelt er daher Alles wie ein Schweres. Da 
er es aber thut , während es an sich noch leicht ist, so wird ihm 
ebendarum lebenslang [tschüfig, vgl. Anm. 4) nichts schwer. 



Vierundsechzigstes Kapitel. 

Das Ruhende wird leicht gehalten, dem noch nicht 
sich Zeigenden leicht zuvorgekommen, das Zarte leicht 
gebrochen, das Feine leicht zertheilt. * Thue das, wenn 
es noch nicht daist; walte dessen, wenn es noch nicht 
in Aufruhr ist.^ Ein umfangreicher Baum entsteht aus 
haarfeinem Spross ; ein neunstöckiger Thurm erhebt sich 
aus einem Häuflein Erde ; eine Reise von tausend Feld- 
weges beginnt mit einem Schritt.* — Wer thut, dem 
missräth; wer nimmt, der verliert. Daher der heilige 
Mensch nicht thut, drum ihm nicht missräth, nicht nimmt, 
drum er nicht verliert.^ Das Volk, das ein Geschäft 
vornimmt, ist immer nahe am Vollenden, und es miss- 
räth ihm. Sorgt man fiirs Ende wie fiir den Anfang, 
7\ dann missräth kein Geschäft. ^ Daher der heilige Mensch 
begehrt nicht zu begehren, und nicht hochschätzt Güter 
schweren Erwerbes ; lernet nicht zu lernen, und umkehrt 
wo die meisten Menschen übertreten ; allen Wesen ver- 
hilft zu ihrer Freiheit, und doch nicht wagt zu thun. ^ 



I 1 



) Dass dieses Kapitel erläuternde Ausführung zum vorigen ist, 
zeigt sich am deutlichsten in der ersten Hälfte. In der zweiten wird 
das, was dort als das Nichtthun des Grossen bezeichnet war, ins 
Allgemeine gebracht, indem die besonnene Zurückhaltung des hei- 
ligen Menschen überhaupt dargestellt wird. Auch hier fehlt die 
Beziehung auf die Regierenden nicht. Ohne Grund hat man die 



287 

ersten Sätze nur von innerlichen Vorgängen des Subjects wollen 
gelten lassen; sie sind aber von ganz allgemeiner Bedeutung und 
gelten nicht minder von der Erziehung^ der Regierung und noch 
manchem Anderen. Alle Anlange sind tmmerklich und gering, die 
des Schlimmen sowol als die des Guten, und jene werden hier zuerst 
betrachtet. Solange nur erst noch die Vorbedingungen des Bösen 
vorhanden sind, ist es selbst ein Ruhendes, noch nicht Erregtes, 
und so ist es noch leicht zu handhaben, zu halten (tschht). Es ist 
dann wie ein Samenkorn, dem man die Möglichkeiten des Keimens 
entzieht. Wenn diese schon hinzugekommen sind, es sich aber noch 
nicht andeutet, noch nicht zeigt [wii tschdo^ — letzteres eigentlidi 
vom weissagenden Zeichen) , so kann man seiner Entwicklung noch 
zuvorkommen (meü). Wird es aber erregt und deutet sich bereits 
an, ja kommt hervor, so ist es doch zuerst immer zerbrechlich, zart 
(ihsüt) und dünn, fein (wii)j und auch so ist es leicht zu brechen 
(phö)j zu zerstreuen oder zu zertheilen (sän). Es ist noch zu beherr- 
schen, zu beseitigen. 

^) WH tscht ju wiijeü heisst wörtlich : »Thu es im Nochnicht- 
Seyn«. Stan. Julien tibersetzt diess (S. 2^6. (3) ) durch faire les 
choses avani queUes fi existent; und meint, dieser Gedanke wider- 
spreche dem Geist des Kapitels und der Lehre La6-ts^*s, weshalb 
er denn den Text — gegen alle Ausgaben — geändert und statt 
wH das Zeichen/4«^ (i 1,756) gesetzt hat, weil ein chines. Ausleger 
wH tscht durch fang tscht erklärt. Er beruft sich zugleich darauf, 
dass H6-schäng-kang diesen Gedanken diurch x? C1673) ausdrücke. 
Es dürfte diess weniger eine Verbesserung, als ein Missverständniss 
seyn. Der Gedanke, dass man etwas thun solle, wenn es noch nicht 
daist, kann La6-ts^*s Lehre nicht widersprechen , weil er an sich 
ganz richtig, aber auch ebenso nichtssagend wäre. Man thut ja 
immer nur etwas, wenn es noch nicht daist, denn wenn es schon 
daisi;, braucht man es nicht mehr zu thun. Aber diess wollen jene 
Worte durchaus nicht sagen, und gerade die Erklärungen der beiden 
Ausleger lehren , was mit dem wH tscht gemeint sey. Jenes fang 
heisst obsistere^ cohiberey und drückt den allgemeinen Sinn der in den 
vorherigen Sätzen befindlichen Zeitwörter ganz passend aus, indem 
es sie nun im activen Sinne einem Subjecte zuweiset. Letzteres 
geschieht ebenfalls durch das wH tscht ^ »thue es«, nehmlich das 



__- 288 — - 

Halten, Zuvorkommen, Brechen, Zertheüen; und zwar soll diess 
geschehn »im Nochnicht-Seyn«, d. h. wenn das noch nicht daist, 
was zurückgehalten werden, was nicht in*s Seyn treten soll. Ebenso 
sagt H&-schäng-küng : se kM fuän ,(1^13- 6i8. 7382.) »verhindern 
ihren Ursprung«. — Ganz in gleicher Weise ist das folgende ^M 
tschl (moderare ea) aufzufassen. Jenes Zurückhalten, Zuvorkommen 
pp. soll wolregirt, soll überwaltet werden, solange das, was als 
Ruhendes leicht zu halten ist pp. ju wii lüan^ »im Nochnicht-Auf- 
ruhr«, noch nicht in Unordnung, in Empörung ausgebrochen ist. 
Sinn und Zusammenhang sind hiemach klar. 

^) Diese drei Gleichnisse, welche die Entstehung des Grossen 
und Kleinen zeigen, unterscheiden sich gar sinnig, indem das erste 
den organischen .Wachsthum aus zartestem Keime durch stetige 
Selbstausdehnung, das zweite das Zunehmen aus kleinem Anfange 
durch fortwährendes äusseres Hinzukommen, das dritte das Gross- 
werden durch dauernde Wiederholung des Anfanges darstellt. Baum, 
Thurm und Reise werden zuerst in ihrer Grösse genannt, um dann zu 
zeigen, wie gering ihr Anfang gewesen, und wie leicht man da ihrer 
Vergrösserung noch hätte Einhalt thun können. — Ein chinesisches 
Feldweges, li^ ist vom Stadium nicht sehr verschieden. Es gehn 
. ihrer etwa 20 auf die geographische Meile, doch war das alte l\ etwas 
grösser. — »Schritt«, tsü hiä^ wörtl. Fusses Unteres, was unterm 
Fusse ist. In der neueren Umgangssprache ist tsu hiä ein Höflich- 
keitsausdruck statt des Pronomens der zweiten Person. — 

^) Es werden nun die das Thun angehenden Gedanken des 
vorigen Kapitels weiter ausgeführt und auf das Nehmen, Sich-zueignen 
(tscM) mitangewandt. Welches Thün Laö-ts^ verwirft, ist schon ver- 
schiedentlich bemerkt worden. Wesentlich ist es das selbstische 
Thun, wozu auch das doctrinäre Machen gehört, bei welchem der 
Mensch, seinem Denkproducte dienend, im Grunde auch nur sich 
selber dient. Alles selbstische Thun aber geht imter, missräth (p^) 
an seinem Zweck, denn es tritt in Widerspruch mit der sittlichen 
Ordnung und nimmt dadurch den Keim der eignen Verderbniss, 
der Selbstzerstörung in sich auf. Weil das Thun der Menschen im 

* ■ 

Allgemeinen so beschaffen ist, drum nennt Lad-ts^ es das Thun 
xaTiSoxi^v. Mit dem sich Zueignen ist es nicht anders; es ist nur 
eine besondere Art des selbstischen Thuns, und die ihm innehaftende 



289 

Selbstvernichtung ist der Verlust. In diesem Sinne kann der heilige 
Mensch weder thun noch nehmen, da er vom Selbstischen frei ist. 

*) Von dem Thun aus eigner Wahl wird, ganz wie im Anfange 
des vorigen Kapitels, zu dem obliegenden , zu dem Geschäft (ssfj 
fortgeschritten. Dass der heilige Mensch sich diesem nicht zu ent- 
ziehen habe, wenn er es auch nicht als Geschäft verrichtet, wird als 
selbstverständlich vorausgesetzt. Das Volk hat immer nur Geschäft. 
Warum ihm, d. h. dem gewöhnlichen Menschen, sein Geschäft stets 
missräth, auch wenn es nahezu vollendet ist, wird daraus erklärt, 
dass er auf dessen Ende nicht gleiche Aufmerksamkeit wendet, wie 
auf den Anfang. Das Ende eines Geschäfts ist dessen Zweck ; nur 
wer diesen fest im Auge behält, und zwar ebenso fest wie am An- 
fange — denn der Zweck ist schon am Anfange und erzeugt den 
Anfang — , nur der wird den Zweck auch erreichen, worin die Voll- 
endung des Geschäfts besteht. Darin liegt, dass das Geschäft Mittel 
zu seinem Zweck bleiben müsse, also weder selbst zum Zweck 
werden, noch anderen Zwecken dienen dürfe, denn beides verwan- 
delt das Geschäft aus einem Mittel zu seinem Zweck in ein Mittel 
zu selbstischen Zwecken. Von diesen aber wird der gewöhnliche 
Mensch geleitet, sie rücken ihm den objectiven Zweck aus den Augen, 
und hat er sie erreicht, oder ist er ihrer Erreichung gewiss, so hat 
die Vollendung keinen Wertli mehr für ihn, er vernachlässigt sie, 
und die eigentliche Aufgabe kommt nicht zu Stande : das Geschäft 
missräth. 

®) Das »Daher«, scM t, womit diese Sätze beginnen, bezieht 
sich auf den unterdrückten Zwischengedanken, dass auch der heilige 
Mensch sein Geschäft, seine Aufgabe habe, deren Ende und Vollen- 
dung er stets im Auge behalten müsse. Daher verhält er sich so, 
wie die folgenden Sätze sagen. Alle Begierden würden seinen Blick 
ablenken von seinem* hohen Ziele, darum begehrt er nicht, ja das 
Einzige was er begehrt ist das Nicht -Begehren. Deshalb legt er 
auch keinen Werth auf solche Gegenstände, die, weil sie kostbar und 
selten, auch schwer zu erwerben sind (vgl. Kap. 3) ; sie erregen in 
ihm nicht die Begierde, sie zu besitzen , und kein Streben darnach 
entfremdet ihn seiner Aufgabe. Wie Laö-ts^ mit den Worten; »er 
begehrt nicht zu begehren« einen Unterschied macht zwischen 
Begehren und Begehren, so macht er ihn auch zwischen Lernen und 

^9 



290 

Lernen. Welches Lernen er verwirft, sahen wir bereits Kap. 20 und 
48. Dieses Lernen zu verneinen , gehört zum Lernen des heiligen 
Menschen ; denn es ist ein Lernen, welches das Wissen als Zweck, 
nicht als Mittel behandelt, welches nur das Wissen Andrer in eigenes 
Wissen verwandelt ohne den Menschen sittlich zu ergreifen und zu 
veredeln. Wie das Gleichgültigseyn gegen kostbare Besitzthümer 
sich verhält zum Begehren des Nichtbegehrens, so verhält sich zum 
Lernen des Nichtlemens das Umkehren bei den Übertretungen der 
Menschenmenge. Denn jene Gleichgültigkeit lässt das schlechte 
Begehren nicht aufkommen, diess Umkehren nicht das schlechte 
Lernen. Kö^^ in eigentlicher wie in übertragener Bedeutung ist ganz 
unser Überschreiten oder Übertreten, und/« ist die entgegengesetzte 
Bewegung, das Zurückgehn, das Umkehren. Kö , uneigentlich ge- 
braucht, geht immer aufs Sittliche; das Sittliche ist demnach als 
Gegenstand des Lernens gedacht, und dieses ist verwerflich, sofern 
es bloss auf das Wissen des Sittlichen ausgeht, das an sich vor 
Übertretungen nicht schützt. Fü^ das Umkehren, ist das sittliche 
Verhalten selbst, und damit setzt Lad-ts^ dem unkräfdgen Lernen 
das inhaltvolle Leben entgegen. Indem aber so der heilige Mensch 
auf alles Selbstische verzichtet, lebt er nur für Andre. Allen Wesen 
verhilft er zu ihrem isi sjäriy »von selbst also«, d.i. zu ihrer Freiheit 
oder Selbständigkeit ; denn nichts anderes ist es, wenn Jemand so, 
wie er ist, von selbst ist. Diess Helfen ist freilich ein Wirken und 
Thun, aber durchweg verschieden von jenem Thun xax iEojjTjV, dem 
Thun um des Thuns willen, dem selbstwilligen Machen, den soge- 
nannten grossen Thaten. An dieses Thun wagt der heilige Mensch 
sich nicht. 



Fünfundsechzigstes Kapitel. 

Die vor Alters rechte Thäter Taö's waren, klärten 
damit das Volk nicht auf; sie wollten es damit einfach 
erhalten. ^ Das Volk ist schwer regieren , wenn es all- 
zuklug ist.^ Durch die Klugheit das Land regieren, ist 
des Landes Verderben; nicht durch die Klugheit das 
Land regieren, ist des Landes Segen. ^ Wer diess 
Beides weiss , ist auch ein Musterbild. * Immerdar sich 
bewusst seyn des Musterbildes, das heisst tiefe Tugend. ^ 
Tiefe Tugend ist abgründig , ist unerreichbar , ist mit 
den Wesen in Widerspruch ; dann aber kommt sie zu 
grosser Nachfolge.*^ 



1) La6-ts6 wendet sich in diesem Kapitel gegen diejenige Art 
Aufklärung, welche schon damals durch Khüng-ts^ Verbreitung 
fand und mit der unter uns aufgekommenen offenbarungsfeindlichen 
Aufklärung eine so erschreckende Ähnlichkeit hat , dass , wenn sie 
auch unter uns Siegerin und Herrsqherin würde, ihre Folgen 
schlimmere Zustände als die chinesischen herbeiführen müssten , da 
uns jener Patriarchalismus fehlt, der dort die völlige Zerrüttung 
noch aufhält. Füllt man die grosse Menge mit demjenigen Wissen, 
das sie zwar zu verschlucken , aber nicht zu verdauen im Stande ist, 
so entkettet man sofort den souverainen Hoqhmuth des Durch- 
schnittsverstandes , der seine mit Vorliebe schaugetragene Moral- 
casuistik immer auf dem Altare selbstsüchtiger Interessen darbringt, 
mit den vom Verstände gedrehten Schnüren des rechnenden Utilis- 
mus wird das Gewissen erdrosselt , und was diese beschränkte Halb- 

19* 



292 

bildung nicht unter sich bringen kann , duldet sie auch nicht über 
sich. Gegen die Beförderung dieser Aufklärung und Vielkhigheit 
redet unser Kapitel. — Schin wH tob tschtj »die da gut waren, Taö 
zu thum oder »die da gut ausübten Taö«, m. a. W. die rechte Thäter 
Taö's waren , bezeichnet solche Männer des Alterthums {kü tscht)^ 
welche ihr Einsseyn mit Taö durch die That bewiesen. Diese ihre 
Stellung gebrauchten sie nicht, um das Volk aufzuklären, mhig<^ was 
hier , wie der Verfolg zeigt , genau dasselbe sagen soll , wie tscU^ 
diejenige Klugheit nehmlich , welche theils im Wissen von allerlei 
Dingen besteht, theils in der Fertigkeit, Menschen und Verhältnisse 
zu beurtheilen , um ohne Rücksicht auf das Sittliche , daraus den 
möglichsten Nutzen zu ziehen ; wie denn auch Stan. Julien bemerkt : 
Dans ce chapitre^ les mots lumilre^prudence^ sc premtent en mau- 
vaise pari. Jene Alten , die sich auf die. rechte Weise Taö's be- 
flissen , bestrebten sich vielmehr , damit oder dadurch (i) das Volk 
einfaltig zu erhalten — ju tschi^ in welchen Worten das ischt sich 
zwar auch auf das Volk bezieht, zugleich aber das Adjectiv^i?, »un- 
wissend, einfach« in ein verbum activum verwandelt ; — also dadurch, 
dass sie durch ihr Vorbild und Wort dem Volke die Erkenntniss 
Taö's brachten, sollte es in der glücklichen Unkenntniss alles dessen 
erhalten werden, was seine Sitteneinfalt, Zufriedenheit und Redlich- 
keit hätte aufheben und die oben bezeichneten Folgen der Auf- 
klärerei herbeiführen können. 

2) Dieser und der folgende Ausspruch zeigen , dass schon die 
erste Aussage sich auf die Könige des Alterthums beziehen sollte, 
die allgemein als hohe Musterbilder angesehen wurden. Laö-ts^ 
macht hier ein zierliches Wortspiel , indem »Regieren« ebenso tsckt 
heisst , wie das »Klugseyn oder Klugmachen« , und beides nur tnit 
verschiedenen Charakteren geschrieben wird. Die besseren Aus- 
gaben bezeichnen das Letztere nicht durch Nr. 6801, welches mehr 
»Erkennen, Wissen« bedeutet , sondern durch Nr. 3949 , das vor- 
wiegend »Klugheit , Schlauheit« , auch »Klugmachen , Witzigen« {tsö 
tschi =■ reddere prudtntioreih s. caUidiorem) heisst, in welchem 
doppelten Sinne es auch in den nächsten Sätzen vorkonunt. Da 
unter dem Regieren wiederum das gut und heilsam Regieren ver- 
standen wird, so ist die Meinung, eine Regierung könne nicht leicht 
das Volk glücklich machen, wenn bei demselben die einseitige, dem 



293 

Ethischen abgewandte Verstandesbildung vorherrscht , welche , weil 
hier immer nur von dem Durchschnittsverstande die Rede seyn kann, 
nothwendig die Selbstüberhebung der Seichtigkeit, Unzufriedenheit, 
Unredlichkeit zur Folge hat. Die Worte l kht tschi td heissen wört- 
lich »wegen seines Klugseyns Vielheit«, d. i. wenn es allzuklug ist. 

^ Einige Ausgaben beginnert" diese Sätze mit einem küy 
»darum« , das jedoch nicht am Platze seyn dürfte. Das \ tschi <, »an- 
wendend die Klugheit« hat hier die Bedeutung des Instrumentalis : 
»durch die Klugheit«, und will nach Wortbedeutung und Zusammen- 
hang ebensowol sagen, dass die Regierenden ihrerseits lediglich klug 
verfahren wollen, als dass sie durch Klugmachung, durch Auf- 
klärung des Volkes dasselbe gut zu regieren denken. Immer ist hier 
die Klugheit als das alleinige Regierungsmittel, unter Absehn von 
der Sittlichkeit — Taö und der Tugend — gedacht ; auf Seite der 
Regierenden also wesentlich jener macchiavellistische Pragmaticismus 
gemeint , der auf seine Zwecke losgeht durch kluges Vorausplanen, 
schlaues Berechnen, Aufregung der Volksleidenschaften , gewandte 
Benutzung derselben und kühnes Hinwegschreiten über Sittlichkeit 
und Recht, Treue und Wahrheit, wo es sicheren Vortheil bringt. 
Die beiden Sätze sind so zu verstehen , dass bei dem ersten eine 
Verneinung, bei dem zweiten eine Bejahung hinzuzudenken ist: 
Durch die Klugheit — und nicht durch Frömmigkeit und Tugend — 
das Land regieren, ist des Landes Verderben; nicht durch die 
Klugheit — sondern durch Taö und Tugend — das Land regieren, 
ist des Landes Segen. Tse^ »Verderben«, heisst eigentlich »berauben, 
misshandeln , auch morden« , und fö bedeutet Gutes das von Oben 
kommt, also »Heil, Segen«. — Wir sind freilich so sehr in das 
hineingerathen, wovon unser Altmeister des Landes Verderben vor- 
aussagt , dass ihn hier nur Wenige verstehen und seine kindliche 
Weisheit nicht belächeln werden ; aber die Weltgeschichte wird, wie 
sie es schon oft gethan , auch diessmal das Siegel unter seine Worte 
drücken. — 

^) Zuerst waren, die alten Herrscher als Muster darin auf- 
gestellt , dass sie ihre höhere Weisheit nicht dazu gebraucht , das 
blosse Wissen und Klugseyn im Volke emporzubringen , dazu viel- 
mehr, es in seiner Sitteneinfalt zu erhalten. An das Erstere ist das 
Unheil, an das Letztere das Heil des Staats geknüpft. »Wer diess 



294 

Beides«! heisst es nun, »weiss« (erkennt, begreift; hier ist das tschi 
Nr. 6801 am Platze und alle Ausgaben haben es) ; — wer es weiss, 
und darnach, wie hinzuzudenken ist , verfahrt, »ist auch (fi) ein 
Musterbild«, — nehmlich wie jene Alten es waren, auf die sich diess 
p bezieht. 

5) »Immerdar erkennen (oder sich bewusst seyn) Musterbild« 
— will sagen, sich stets dieser Aufgabe bewusst bleiben und sie er- 
füllen — »das heisst tiefe Tugend« , was nicht mit H6-schäng-küng 
durch »himmlische Tugend« zu erklären ist , da der folgende Satz 
erklärt , warum oder wiefern sie tief sey. — Einige Ausgaben lesen 
statt tschhäng tschi ^ »immerdar erkennen«, ning tschl^ »im Stande 
seyn zu erkennen« , was jedoch von der irrigen Auffassung herrührt, 
als handle es sich hier um ein andres Musterbild, nicht darum, 
selbst solches zu seyn. 

®) Wiefern diess auswirkende sittliche Vermögen tief genannt 
worden , sagen die nachfolgenden Prädicate , die jedesmal durch ein 
bekräftigendes ß voneinander getrennt sind. Es ist schtn^ »ab- 
gründig« , verborgen , tiefinnerlich ; juänj fem, entfernt, »unerreich- 
bar«, nicht abzureichen; ju woe fän^ »den Wesen« — den Ge- 
schöpfen, worunter hier vornehmlich die Menschen zu verstehen 
sind — »widerstrebend« , entgegengesetzt , ihnen zuwider , sie be- 
fremdend. »Dann aber« — näi sagt diess allein schon. Bei Julien 
gehen noch die Worte sjän heü =postea voraus, die jedoch schwache 
Gewährsmänner haben und späteres Einschiebsel seyn möchten. 
Zuerst, meint La6-ts^, erscheine die tiefe Tugend, die stetig ihre 
Musterbildlichkeit erweiset , zwar transcendent , unfasslich und be- 
fremdlich, dann aber werde sie ihre Wirksamkeit zeigen und erreiche 
grosse Nachfolge, schun — auch Zustimmung, Folgsamkeit, Will- 
fahrigkeit. Diess kann dann allerdings zu allgemeinem Frieden 
führen , aber td scktin an sich heisst so wenig une paix ghUrak 
(Julien), als universal freedam (Chalmers). 



Sechsundsechzigstes Kapitel. 

Ströme und Meere, wodurch sie vermögen der 
hundert Flüsse Könige zu seyn, ist, dass sie gut sich 
ihnen unterthun. Darum vermögen sie der hundert 
Flüsse Könige zu seyn,^ Daher der heilige Mensch, 
wünscht er über dem Volke zu seyn, muss mit dem 
Worte sich ihm unterthun; wünscht er dem Volke 
voranzugehn, muss mit der Person sich ihm nachsetzen. ^ 
Daher der heilige Mensch oben bleibt und das Volk 
ist unbeschwert, voran bleibt und das Volk ist un- 
beschädigt»* Daher alle Welt sich freut ihm zu ge- 
horchen und es nicht müde wird,^ Weil er nicht 
streitet, drum vermag Keiner in der Welt mit ihm zu 
streiten. * 



*) Im Anschluss an die letzten Worte des vorigen Kapitels will 
der Verfasser ausführen , wie es sich damit verhalte , dass jene tiefe 
Tugend , wenn sie bei dem Landesoberhaupt sich finde , — oder 
dass der Herrscher, wenn- er ein heiliger Mensch sey, grosse Nach- 
folge oder Folgsamkeit erreiche ; daher wird an einem Gleichnisse 
gezeigt, dass dem bedeutenden Manne, wenn er demüthig und selbst- 
los ist , sich Jedermann zuneigt und ihm den Vorrang gerade dann 
einräumt, wenn er ihn nicht in Anspruch nimmt. Abermals ein 
Anklang an das Wort : »Wer sich selbst erniedriget , der wird er- 
höhet werden« , — hier auf die höchsten Personen im Reich an- 
gewandt. •:— Das so If »wodurch«, kann hier nicht fragend seyn, es 
wird vielmehr durch das den Vordersatz beschliessende tscAi als das 



296 

bezeichnet, wozu der Nachsatz sich prädicativ verhält, und zwischen 
beiden Sätzen ist daher die Copula zu ergänzen. Hid wird durch 
das nachfolgende tscht als Zeitwort gekennzeichnet: »sich unter- 
geben , unterthun« ; und deshalb steht das ihm vorgehende schin^ 
»gut, vortrefflicho adverbial. Alle Gewässer eilen gehorsam Strömen 
und Meeren zu und erkennen sie willig als ihre Gebieter , aber nur 
darum , weil diese , obwol sie die Grösseren und Mächtigeren sind, 
sich nicht über sie erheben , vielmehr in trefiflicher Weise sich unter 
sie erniedrigen. Diese Thatsache, dass gerade die Erniedrigung sie 
zu Herrschenden macht, erscheint so auffallend und bedenkenswerth, 
dass es wiederholentlich bestätigt wird, das sey der Grund, weshalb 
sie aller Flüsse Könige zu seyn vermögen. Der Ton liegt dabei auf 
dem ncng<i »vermögen, im Stande seyn«. 

2) Schi t sagt eigentlich mehr als unser »daher« ; wörtlich heisst 
es : »diess nehmend , diess anwendend«, oder wenn man / als Sub- 
stantiv ansehen will: »diess Ursach«. Jüy gewöhnlich in der Be- 
deutung »begehren , verlangen« , kann hier nur als leidenschaftloses 
Wünschen genommen werden, da jenes sich nach früheren Aussagen 
bei dem heiligen Menschen nicht findet. Weil dieser hier aber als 
König gedacht wird , so ziemt ihm der Wunsch , »über dem Volke 
zu seyn« , schäng mtn ; wobei schhng als Zeitwort das Gegentheil ist 
von hidy also »über etwas seyn, sich über etwas erheben«. Als Sub- 
stantiv bedeutet dasselbe schdng, nur mit andrer Betonung, auch die 
Obrigkeit, und darauf wird hier angespielt. Pty »nothwendig, sicher- 
lich« , führt den Nachsatz als etwas Unerlässliches ein , entspricht 
also unserem »so muss«. Dass nun der heilige Mensch »mit dem 
Wort« oder der Rede , si9h dem Volke^u^rthue« , hid tscht (seil, 
min) , sich unter dasselbe^stelle , soll njji^t sagen , dass er nur den 
Schein annehme , sondern dass sein Wort seine wirkliche Gesinnung 
ausspreche. Diess zeigt das Folgende. Denn dem Volke voranseyn 
oder vorangehn (sidn) , bezeichnet dieselbe Autorität , wie über dem 
Volke seyn , nur dass hier die Stellung , dort die Führung hervor- 
gehoben wird; und wenn dabei das Ijäny »mit dem Wort«, ersetzt 
ist durch l sch'm , »mit der Person« , so zeigt diess , dass der heilige 
Mensch nicht bloss im Reden, sondern auch in seinem thatsächHchen 
Verhalten seine Person und seine persönlichen Interessen dem Volke, 
d. i. den Interessen der Gesammtheit nachsetze und unterordne. 



297 

^) Das abermals anschliessende »daher« (schi t) bezieht sich 
nur auf die nächstvorhergehenden Aussagen. Weil der heilige 
Herrscher in Wort und Wirklichkeit sich selbst dem Volke nach- 
ordnet , wie er muss, um den Zweck seiner Stellung zu erflillen , so 
bleibt er oben (schdng), ohne dass er dem Volke dadurch schwer, 
lästig , drückend (tschüng) wäre ; er bleibt voran (tstan) , ohne dass 
es beschädigt , verletzt wird (höi) ; denn seine Worte wie sein Ver- 
halten bezeugen , dass die Sorge für das Wol des Volkes ihm über 
alle persönlichen Anliegen gehe. 

*) Auch diess »daher« bezieht sich nur auf das Nächstvorige. 
Weil es dem Volke nicht verborgen bleiben kann, dass es der hohen, 
fuhrenden Stellung des heiligen Herrschers Glück und Wolseyn ver- 
dankt , so ordnet sich alle Welt (oder das ganze Reich , thtcm hiä) 
mit Freuden ihm unter, und wird dessen nicht satt, überdrüssig oder 
müde , fi. Wir haben tschüi durch »gehorchen« übersetzt j es wird 
zunächst durch »zurückweichen , nachgeben , gehorchen (= scAiin, 
12,188)« erklärt, was hier vollkommen passend ist. Das Zeichen 
wird auch M^/ gelesen und heisst dann anordnen, treiben, befördern. 

*) »Weil Er nicht streitet« (^ tseng)^ d. h. Anderen nichts 
streitig macht, sich in keinen Wetteifer einlässt, nichts vor Anderen 
vorauszuhaben verlangt , »darum vermag Keiner in der Welt (oder 
im Reich) mit ihm« in demselben Sinne »zu streiten« , da zu jedem 
Streit mindestens Zweie gehören, die streiten wollen. 



Siebenundsechzigstes Kapitel. 

Alle in der Welt nennen mich gross als Unnach- 
schlachtenden. Man sey nur gross, so erscheint man 
als Unnachschlachtender. Betreffs Nachschlachtender 
— lange sind sie da, in ihrer Unbedeutenheit * — Mei- 
nerseits habe iA drei Schätze, bewahre und schätze sie 
hoch. ^ Der erste heisst Banpherzigkeit, der zweite heisst 
Sparsamkeit, der dritte heisst Nicht wagen im Reich 
vornan zu seyn.^ Barmherzigkeit, — drum kann ich 
kühn seyn ; Sparsamkeit, — drum kann ich ausgeben ; 
Nicht wagen im Reich vornan zu seyn, — drum kann 
ich der Begabten Oberster werden. * Gegenwärtig ver- 
schmäht man Barmherzigkeit, und doch ist man kühn, 
verschmäht Sparsamkeit, und doch giebt man aus, ver- 
schmäht Zurückstehn und doch ist man vornan.'^ Zum 
Tode — !* Ist man barmherzig beim Kämpfen, dann 
siegt man; beim Vertheidigen, dann widersteht man. 
Wen der Himmel retten will, den schützt er durch Barm- 
herzigkeit. ' 



*) In diesem Kapitel, das für das Verständniss weniger Schwie- 
rigkeiten hat als ftir die Übersetzung, will La6 - ts^ denen , die im 
Regiment sind oder an ihm Theil haben, drei Tugenden empfehlen, 
die seinen Mitlebenden abhanden gekommen sind und deren er 
selbst als ihm geschenkter Kleinode sich rühmen darf. Die Zusam- 
menstellung lässt vermuthen, dass gerade um ihretwillen die Menschen 



299 

ihn einen Solchen nannten, der sich von der herkömmlichen Weise 
entferne und aus der Art geschlagen sey. Diesen letzteren Sinn 
haben die Worte /ii^ sidoy die wir durch einen »Unnachschlachtenden« 
wiederzugeben wagten. Das Zeichen für siäOy aus »klein« und 
»Fleisch« zusammengesetzt, sagt eigentlich »einen Andern im Kleinen 
darstellen«, und wird insoesondere von der Gleichheit und Ähnlich- 
keit zwischen Vater und Sohn gebraucht, weshalb auch der Sohn 
dem Vater gegenüber sich in demüthiger Höflichkeit als pü siäo 
bezeichnet. In unserm Texte ist es von denen, die La6-ts^ so nennen, 
natürlich tadelnd gemeint : ss/pü siäoj er gleiche, oder erscheine als 
ein aus der Art Geschlagener, — selbstverständlich nicht in physi- 
scher, sondern in moralischer Hinsicht ; er folge nicht dem Wandel 
in väterlicher Weise, dem Herkömmlichen. Auffallend ist es nun, 
dass zwischen dem tdy »gross«, und diesen Worten kein Bindewort 
steht, nicht einmal oli oder thsü ; denn soll das td lobend , das ssd 
pü siäo tadelnd seyn, so kann weder »und« noch »oder« ergänzt 
werden, und ein gar nicht angedeutetes »aber« einzuschalten, sind 
wir nicht befugt. Wollte man nun dem zweiten Satze auch ein t^b 
(ich) hinzudenken und übersetzen : »Nur weil ich gross bin, erscheine 
ich als ein« — sagen wir — »Sonderling« ; so würden die beiden 
Aussagen dadurch erst in einen solchen, jetzt als causativ bezeich- 
neten, Gegensatz gestellt, den wir dort vermissten. Wir müssen also 
schliessen, dass diese Entgegensetzung in dem ersten Satze nicht 
beabsichtigt seyn sollte und das Prädicat »gross« gar nicht im rein 
lobenden und anerkennei;>den Sinne, sondern nur so gemeint wsgr, 
wie der gleich folgende Zusatz es modificirte. Diess drückt unsre 
Übersetzung aus. Wenn nun auch La6-ts^ das Wort »gross« eilends 
vom Munde seiner Tadler nimmt, um zu sagen, dass wahrer Grösse 
es immer eigen sey, aus dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise 
herauszutreten, so dürfte es sich zu seiner überall bezeugten Sinnes- 
art doch nicht schicken, dass er sich selbst geradezu »gross« nennt. 
Wir haben daher hier kein ngb ergänzt und den Satz allgemein ge-, 
fasst. Die La6-ts^ einen aus der Art Geschlagenen nennen, sind 
selbst natürlich die in der herkömmlichen Art Gebliebenen, die 
den Vätern Nachschlachtenden, und was sie betrifft (sfö^ hier = 
quoad)y so braucht man deren Erscheinung nicht besonders zu er- 
warten, sie sind schon lange oder auch immer da (kih4)y und eben 



300 

dass sie nur Allermanns Heerstrasse zu gehn wissen , das beweist 
ihre Unbedeutenheit oder Kleinheit (sf). Dass aus diesen Zeilen 
immerhin das Bewusstseyn eigner Bedeutsamkeit spricht, ist unver- 
kennbar; sie sind aber auch desshalb merkwürdig, weil unser Alt- 
meister damit kühn die Schranke des chinesischen Geistes durchbricht, 
dem nichts höher gilt, als das Herkömmliche und die ererbte Weise. 

^) Das fü ngb (wörtl. ille ego) »meinerseits« knüpft passend an 
den ersten Satz wieder an und ist daher der Lesart, welche dasy» 
ausstösst, vorzuziehen. Pab als Nennwort heisst eigentlich »Kleinod«, 
als Zeitwort »etwas als Kleinod behandeln«. Des Gleichklangs wegen 
wurde »Schätze« und »schätzen« gewählt. Weichherzigkeit, Sparsam- 
keit und Mangel an Ehrgeiz scheint man unserm Denker hauptsäch- 
lich vorgeworfen zu haben. Indem er alle drei Punkte sogleich 
mit den richtigen Namen bezeichnen will, nennt er sie hier schon 
Kleinodien, die er als solche behandle, während die Welt sie nicht 
zu schätzen weiss. 

•*) Barmherzigkeit = ths^y eigentlich die herabsteigende Liebe 
wie von den Eltern zum Kinde, die mitleidige Liebe und Gütigkeit. 

— Aus welchem Gesichtspunkte der Philosoph die Sparsamkeit be- 
trachtet, sahen wir im 59. Kapitel. — Sein Nicht wagen, seine 
Scheu , im Reich vornan zu seyn, wirft neben den Anfangs worten 
des Kapitels einiges Licht auf La6-ts^'s persönliche Stellung am 
Hofe der Tscheu. Ungeachtet man ihn als Sonderling betrachtele, 
war er doch aller Welt oder Allen im Reiche [fhtan hih kirn) bekannt, 
und wenn er sich nicht herausnehmen wollte, vornan oder der Vor- 
derste im Reich zu seyn, so wäre diess geradezu eine lächerliche 
Äusserung , wenn nicht die Möglichkeit und Gelegenheit für ihn 
gewesen wäre, an die Spitze der Regierung zu treten. Die Äusserung 
lässt vermuthen, dass er hierzu aufgefordert worden, es jedoch ab- 
gelehnt habe. 

*) Als die Vortheile , welche die treue Bewahrung dieser drei 
Kleinode gewähre, nennt er in Betreff der Barmherzigkeit, dass sie 
in den Stand setze, tapfer, muthig, kühn (jung) zu seyn. Die Erläu- 
terung dazu giebt der Schluss des Kapitels, auch noch die beiden 
nächsten Kapitel. Sparsamkeit, sagt er sodann, mache ihm möglich 

— kuängy eigentlich, »gross oder weit zu seyn, sich auszudehnen«, 
hier soviel als »ausgeben, freigebig seyn«. Da er fiir sich wenig imd 



30I 

für Unnützes nichts verwendet, so kann er umsomehr für das Nöthige 
und für andere thun. Und weil er endlich nicht wagt der Vorderste 
im Reich zu seyn, darum kann er — tschhtng khi tschhng — eine 
verschiedenartig ausgelegte Stelle. Grammatisch kann jedoch 
tschhtng nur das von n^ (ich kann) abhängige Zeitwort seyn ; das 
direct wieder von ihm abhängige Wort ist tschhng^ und zu diesem 
steht khi im Genitiwerhältnisse. Khi^ gewöhnlich »Gefass, Werkzeug« 
heisst auf Menschen übertragen »ein Brauchbarer, Fähiger, Begabter« 
(vgl. axeoo^). Tschhäng heisst zwar »lange« auch «fortdauern« pp. ; 
dasselbe Zeichen jedoch, nicht aspirirt und im- steigenden Tone, 
mithin tschäng gesprochen, heisst substantivisch »der Erste, Höchste. 
Oberste« (so schon Kap. 28 a. E.). Khi tschäng heisst demnach 
der Brauchbaren oder Begabten Oberster. Und hiemach ist nun die 
Bedeutung von tschhtng zu bestimmen. Es heisst »vollenden, fertig 
machen, fertig werden«, auch bloss »werden« [to becamCy Morris. ) , 
und die letzte Bedeutung ist offenbar die hier angezeigte. Im Ganzen 
stimmt damit auch Stan. Julien tiberein, nur dass er khi überhaupt 
für »Menschen« nimmt und tibersetzt : je puis devenir le che/ de tous 
les hommesy was doch schwerlich Laö-ts^'s Meinung sein dtirfle. Er 
will vielmehr sagen : Gerade weil ich mich scheute, im Reichsregiment 
den ersten Platz einzunehmen, kann ich es fertig bringen, unter den 
begabten Menschen der Erste zu seyn. Hö-schäng-küng erklärt 
diese Begabten (k?^ geradezu durch tob sßn^ »Taö-Menschen«, was 
zu seiner Zeit (wie wir zu Stan, Julien^ Introduction p, X bemerken) - 
nicht die Buddhisten bezeichnen konnte, die damals im Mittelreiche 
noch ganz unbekannt waren. Jedenfalls lässt diese Stelle vermuthen, 
dass La6~ts6 in der Ta6-Gemeinde seiner Zeit die angesehenste 
Autorität war, obgleich er nur sagt, er könne es werden. 

*) In allen drei Stücken unterscheidet sich La6-ts^ von den 
Mitlebenden und erscheint ihnen auch deshalb, wie überhaupt (vgl. 
Kap. 20), anders als alle Andern, und daher wie aus der Art 
geschlagen. Hier aber rückt er ihnen ihre Thorheit vor, dass sie 
ohne die erforderlichen Voraussetzungen das thun, was nur vermöge 
dieser Voraussetzungen durchführbar ist. 

®) Hier folgt das einzige Wort ssly »Tod« oder »sterben« ; denn 
das nachfolgende y? ist nur Bekräftigungslaut. Juliens Umschreibung : 
Voilä ce gut conduH ä la mort^ erklärt die Meinung und rechtfertigt 



3C^2 

unsre Übersetzung. Unbarmherzigkeit, sinnlose Verschwendung und 
holFährtiger Ehrgeiz führen zu einem schlimmen Tode. Einige Aus- 
gaben ziehen das nachfolgende fü als Interjection noch zu diesein 
Satze. Wir verweisen es mit Hö-schäng-kung und Stan. Julien in 
den folgenden Satz. 

'^) Hier wird erklärt, weshalb man kühn seyn könne, wenn man 
erbarmende Liebe habe, denn alsdann sey man beim Kämpfen des 
Siegens, beim Vertheidigen des Behauptens gewiss. Nicht das mit- 
leidige WolwoUen, das der Kriegführende den Seinigen erweist, die 
etwa um deswillen ihm aufs Äusserste beiständen, ist gemeint, 
sondern wie der parallele Gedanke am Ende des 69. Kapitel zeigt, 
seine Barmherzigkeit gegen die Feinde. Diese sichert ihm die Über- 
macht. Würdig schliesst der Endsatz diesen schönen Gedanken. 
Hier aber, wie überhaupt in diesen letzten Kapiteln (68. 73. 77. 79. 
81). bedient sich La6-ts6 der gewöhnlidhen volksüblichen Bezeich- 
nung der höchsten Macht durch th^ofi, der Himmel, wie darin denn 
auch häufiger als sonst tah in dem Sinne von Weg, Regel, Ver- 
fahrensweise vorkommt. Will man nicht annehmen, dass der Text 
gelitten habe, so muss man voraussetzen , dass La6-ts^ vermeine, 
sich bereits über das höchste Wesen hinreichend ausgesprochen zu 
haben, um es jetzt durch die allgemeingebräuchliche- Benennung 
bezeichnen zu können, da von dem geschöpflichen Himmel offenbar 
nicht geredet wird, wir aber keine Andeutung haben, dass sich der 
Autor den Himmel als eine geistige Macht unterschieden denke an 
Taö. In diesen Schlussworten sehen wir zunächst, wie Lad-ts6 sich 
denkt, dass Gott den Menschen beistehe, nehmlich durch sittliche, 
jedenfalls geistige^ Einwirkung , indem er ihm dasjenige in's Herz 
giebt — und immer giebt er dem guten Menschen (Kap. 79 a. E.) — , 
wodurch ihm Rettung und Heil werden kann. Dann aber zeigt sich 
auch , dass die Barmherzigkeit als etwas vom Himmel Verliehenes 
betrachtet wird ; denn dieser ist es ja , der den Menschen schützt 
durch die Barmherzigkeit, die der Mensch hat. Nicht also schützt 
der Mensch selbst sich durch die Barmherzigkeit, die er erweist, 
sondern dadurch schützt Der ihn, der ihm diese Barmherzigkeit giebt. 



Achtundsechzigstes Kapitel. 

Wer tüchtig ist Anführer zu seyn, ist nicht krie- 
gerisch ; wer tüchtig ist zu kämpfen, wird nicht zornig ; 
wer tüchtig ist Gegner zu überwinden, streitet nicht; 
wer tüchtig ist Leute zu gebrauchen, ist ihnen unter- 
than. * Das heisst die Tugend des NichtStreitens ; das 
heisst die Kraft Leute zu gebrauchen ; das heisst dem 
Himmel gepaart seyn, — des Alterthums Höchstes.^ 

^) Die allgemeinen Gedanken, mit denen das Vorkapitel schloss, 
werden hier weiter ergänzt, indem sie zugleich mit den Gedanken 
des 66. Kapitels in Synthese gebracht werden. Auch der heilige 
Mensch im Reichsregiment kann in die Lage kommen, von den 
Waffen Gebrauch machen zu müssen und Feinde sich gegenüber zu 
sehen, von denen man nicht wissen kann, wie weit sie es treiben. 
Da muss er denn freilich anführen, kämpfen, siegen können und 
dabei seine Leute gebrauchen. »Wer« tu dem Allen nun »tüchtig« 
oder gut ist, scA^n schly — d. h, wer darin dem sittlichen Begriff 
entspricht, der wird sich für das gewöhnliche Urtheil gleichsam im 
Widerspruch mit diesen Aufgaben erweisen, nehmlich unkriegerisch, 
ohne Feuer, Streit vermeidend seine Interessen unter die seiner Leute 
setzen; aber durch diese Friedfertigkeit und Selbstlosigkeit eine 
moralische Macht, wird er damit der überweltlichen Macht ähnlich 
und vereinigt. — Ssi steht hier in seiner ursprünglichen Bedeutung, 
wie es auch im Schi-king vorkommt, als Haupt, Oberhaupt (der vier 



304 

Stände: der .Gelehrten, Ackerbauer, Handwerker und Kaufleute); 
erst davon heisst es dann ein Beamter, ein graduirter Gelehrter. Da, 
wie der Zusammenhang zeigt, hier ein Oberhaupt gemeint ist, dem 
die Kriegführung zusteht, so wird es richtig durch Heerführer oder 
Anfuhrer wiedergegeben. Wer nun dazu im sittlichen Sinne taugt, 
ist pu Ti/ü, »nicht kriegerisch«, d. h. er liebt nicht Schlacht und 
Kampf, sucht sie nicht auf. Wer sittlich taugt, Kampf xmd Schlacht 
zu liefern, lässt sich nicht durch leidenschafdiche Aufwallung fort- 
reissen, /» nüj »er wird nicht erzürnt«. Ja, seine sittliche Tüchtigkeit 
zur Überwindung der Feinde lässt ihn zum wirklichen Streite gar 
nicht kommen, pä tseng^ »er streitet nicht« — und, wie zu ergänzen 
ist, er überwindet doch ; nicht dadurch, dass er, wie man geroeint 
hat, »im Ahnensaal und Palaste Taö verehrt«, sondern dass er, wie 
H6-schäng-küng sagt, »mit Menschenliebe sich nähernd, mit Tugend 
sich entfernend, ohne Streit die Feinde zu freiwilliger Unterwerfung 
bringt«. Denn sittlich tüchtig (schin . . . tscht)^ Leute zu gebrauchen 
(jung sfin)^ d. h. mit Andern zu verfahren, zeigt er, dass er Keinen 
zur Unterwerfung zwingen, zum Blutvergiessen treiben wolle, indem 
er seine Person, seine Interessen unter die ihrigen setzt — wH tscht 
hiä, »er ist ihnen unter« ; und gerade dadurch siegt und herrscht er. 
(Liest die Ausgabe mit H6-schäng-küng's Commentar im dritten 
Satze : schhi sching tschin tschl pu ju {8702), so entscheidet doch 
der Commentar selbst für die Lesart : schin sching fi tscht pü Uitngy 
wie auch Julien hat.) 

^) Hier zeigt sich, dass das Tüchtigseyn zum NichtStreiten — 
worin das »Nicht kriegerisch seyn, sich nicht erzürnen« gipfelte — als 
sittliches gemeint war, da es nun als Tugend bezeichnet wird.- Affir- 
mativ würden wir diese Tugend Friedfertigkeit nennen. In den Worten 
schl wii jung sjin tschl li ist das ti^ nicht das jüng^ direct abhängig 
von wiij und das tschl gehört nicht zu sfln^ sondern zMJiing. Es ist daher 
nicht zu übersetzen: »Das heisst gebrauchen der Menschen Kräfte«, 
sondern: »Das heisst des Menschen-Gebrauchens Kraft«. Die wahre 
Kraft, Menschen zu gebrauchen, besteht darin, dass man selbst 
ihnen unterthan ist, d. h. ihnen dient; dann kann man sie leiten, wie 
man will. (Vgl. »Wer da will gross seyn unter euch, der sey euer 
Diener; und wer da will der Erste von euch seyn, der sey Aller 
Knecht«.) Ohne Streit durch die Kraft selbstloser Herablassung zum 



305 



Dienst Aller überwinden, das ist das Verfahren der himmlischen 
Macht, und ihr ist gepaart {phii = als gleichend geeint imd als 
geeint gleichend), wer ebenso verfahrt. Dergestalt der Gottheit ver- 
eint seyn und ihr entsprechen, war »des Alterthums Gipfel« , sein 
Höchstes, sein Ideal*; womit denn allerdings auch das höchste sitt- 
liche Prinzip getroffen se)m möchte. 



20 



Neunundsechzigstes Kapitel. 

Ein Kriegserfahrener hat gesagt: »Ich wage nicht 
den Wirth zu machen, aber ich mache den Gast; ich 
wage nicht einen Zoll vorzugehn, aber ich weiche einen 
Fuss zurück«.^ Das heisst Vorgehn ohne Vorgehn, 
Zurückwerfen ohne Arme, Nachsetzen ohne Angriff, 
Gefangennehmen ohne Waffen. ^ Kein grösser Unheil, 
als leichtfertig angreifen. Leichtfertig angreifen ist 
nahezu unsem Schatz einbüssen. ^ Denn stossen ent- 
gegenstehende Heere aufeinander , so siegt wer barm- 
herzig ist. * 

1) Im vorigen Kapitel war gesagt , wie der Weise dem Kriege 
zuvorzukommen suche ; bei aller Friedfertigkeit kann er jedoch , wie 
schon Kap. 31 eingeräumt war, in Lagen gerathen, wo er von den 
Waffen Gebrauch machen muss, und wie er sich dann verhalte, 
hören wir jetzt. Mit 2^gem und Zurückhaltung wird er darangehen, 
dem Feinde zeigen , dass er seiner gern verschonte , und ihm Zeit 
zur Überlegung geben; zum wirklichen Angriff wird er sich nur 
schwer entschliessen , weil er festhält an der erbarmenden Liebe, 
aber eben diess wird ihn zum Sieger machen. — Die Worte eines 
erfahrenen Kriegers sind vielleicht ein Citat. Stan. Julien bemerkt 
zu ihnen, in der chinesischen Gesellschaft pflegten die Gäste in 
Allem dem Vorgange des Wirthes zu folgen. Das Dritte der Ver- 
gleichung liegt aber nicht hierin , sondern in der Einladung. Ich 
nöthige Niemand zur Schlacht , nöthigt er aber mich , so bin ich 
bereit, obgleich auch dann noch zaudernd. 



307 

*^) Wer zu einer Schlacht, nicht aus Muthlosigkeit, sondern aus 
Menschenfreundlichkeit , sich nur zaudernd zwingen lässt , der wird 
dieselbe Gesinnung auch während des Kampfes beweisen und da- 
durch seine wahren Erfolge erringen , dadurch vordringen , zurück- 
werfen, nachsetzen, gefangennehmen ; nicht aber wird er sie erreichen 
durch sein Vorgehn, seine Arme, seinen Angriff, seine Waffen, 
welches alles er vielmehr anwendet, als wendete er es nicht an. 
Diess giebt ihm die sittliche Überlegenheit, welche die Gegner mehr 
als die Waffen zur Unterwerfung bringt. — In dem ersten dieser 
Sätze lesen wir Mng tvü fang (nicht häng) = progredi nan pro- 
grediendo s, operari non cperando, Sfing als Zeitwort heisst »fort- 
setzen, nachfolgen«; hier »nachsetzen«. 7^2, als Substantiv ist »der 
Feind«, und so nehmen es Julien und Chalmers hier, während jener 
es in den beiden späteren Sätzen durch risister giebt. Als Zeitwort 
wird es bei Morrison durch to opposcj to withstand^ to attack erklärt, 
und wir glauben es im letzteren Sinne als Verbalnomen um so mehr 
fassen zu sollen, da es, wie in den drei parallelen Sätzen, etwas dem 
vorausgesetzten Subject Zukommendes seyn muss. Das tschi (er- 
greifen) der vierten Aussage hat man auf die Waffen beziehen wollen. 
Da aber Vorgehn, Zurückwerfen, Nachsetzen den im* Sinne behaltenen 
Feind zum Objecte haben, so muss ein Gleiches auch für diess 
»Ergreifen« oder »Gefangennehmen« gelten. Weder Julien noch 
Chalmers haben die Paradoxie dieser Sätze erkannt. 

^) Sich selbst schädigt am meisten , wer es leicht nimmt , an- 
zugreifen, oder wer leichtfertig angreift {khing ft). Denn da das 
bedenkliche Zögern des guten Menschen in solchem Falle seine 
erbarmende Liebe zur Ursache hat, so kommt es schon einem Ver- 
luste [sang heisst Trauer, betrauern; mit veränderter Betonung, 
sang', zu betrauern haben, daher verlieren, einbüssen) dieses 
Kleinods oder Schatzes (pab) nahe , wenn man leichtfertig angreift. 
Dass unter »unserem (oder meinem) Schatze« eben diese erbarmende 
Liebe zu verstehen sey, ergiebt theils der Zusammenhang mit 
Kap. 67, theils das sogleich Folgende. 

4) Das leichtfertige Aufnehmen der Schlacht und die damit 
verbtmdene Gefahr des Verlustes jenes Schatzes ist deswegen ein so 
grosses Unheil , weil man durch diesen Verlust des Sieges verlustig 
geht. Denn geschieht es nun , dass »gegnerische Kriegsheere mit- 

20* 



3o8 

einander zusammenkommen«, so ist der Barmherzige, mithin der 
seinen Schatz bewahrt hat, Sieger. So sagt auch Shakespeare: 
»Wenn Milde und Grausamkeit um ein Königreich spielen , so wird 
der gelindeste Spieler am ersten gewinnen.« — Khdng fing heisst 
übrigens nur »gegnerische Waffen oder Krieger« , feindliche Heere, 
und wenn ein Ausleger dazu bemerkt , damit seien zwei Heere von 
gleicher Stärke gemeint, deren keins dem andern überlegen sey, so 
dass der Sieg sich nicht voraussehen lasse, — so ist das erläuternder 
Zusatz, aber keine Worterklärung. 



Siebzigstes Kapitel. 

Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen , sehr 
leicht zu befolgen , — Keiner in der Welt vermag sie 
zu verstehen , Keiner vermag sie zu befolgen. * Die 
Worte haben einen Urheber, die Werke haben einen 
Gebieter; dieser nur wird nicht verstanden, deshalb 
werde ich nicht verstanden. ^ Die mich verstehen , sind 
Wenige ; demgemäss werd' ich geschätzt. ^ Daher der 
heilige Mensch sich kleidet in Wolle und birgt die 
Juwelen. * 

^) Das einheitliche und einzige absolute Weltprinzip ist La6-ts^ 
nicht bloss Erkenntnissprinzip , sondern durchaus auch Prinzip des 
sittlichen Lebens , dessen objective Form (»Geistesgefass«) ihm der 
Staat ist. So wendet er es daher auch stets auf das praktische Leben 
an imd verlangt darin seine Bethätigung mit allem Ernste. Was wir 
der Art von ihm vernommen, das hat er ohne Zweifel auch während 
seiner Amtsführung am rechten Ort und zur rechten Zeit nicht ver- 
schwiegen j und jetzt, da er in diesem Buche gleichsam die Summe 
seines Denkens und Lebens zieht , musste er sich wol erinnern , wie 
oft seine Worte vergeblich gewesen , wie oft seine Lehre und sein 
Verhalten von den Leuten der herrschenden Weltbildung, die 
höchstens dem gottleeren klugen Moralismus Khüng-ts^'s zugänglich 
waren , als unverständlich und unpraktisch zurückgewiesen worden* 
Wie ej sich diese Erfahrungen zurechtgelegt, welche Lehre er 
schliesslich daraus gezogen , das spricht er nun aus. Wir hören zu 
Anfang die Klage aller tiefen und weisen Männer und werden an 
die Worte eines Höheren gemahnt, welcher sagte: »Mein Joch ist 



— — 3^o 

sanft, und meine Last ist leicht«; der aber von denen, die seine 
Worte hörten und seine Werke sahen, sprach : »Mit sehenden Augen 
sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht , denn sie 
verstehen es nicht.« Das Nichtbefolgen kommt vom Nichtverstehen. 
Woher aber das Nichtverstehen komme, wird hiemächst gesagt. 

2) Er redet seine Worte nicht aus sich selber, auch sein Thun 
ist kein eigengewähltes ; denn jene haben einen höheren Ursprung, 
und mit diesen erfüllt er einen höheren Befehl. EHess wird aber 
beides als von einer Person herkommend ausgedilickt. Denn tnlng 
heisst der Ahnherr, der Stifter oder Gründer einer Familie, der 
Urheber ; und kiün heisst Oberhaupt, Fürst, Gebieter. Für »Werke« 
steht ss^f was den Nebenbegriff des Dienens hat imd daher, ein über- 
tragenes Geschäft, ein anbefohlenes Werk bezeichnet. Dass unter 
dem »Urheber« Taö zu verstehen sey , ist kein Zweifel ; wollen 
chinesische Ausleger aber unter dem »Gebieter« oder Fürsten die 
Tugend gemeint wissen, so ist zu erinnern, dass Laö-ts^ die Tugend 
nirgends (auch nicht Kap. 21) als ein zweites Wesen für sich neben 
Taö , sondern überall nur als Wesenheit fasst. Wäre mit tsüng und 
kiün nicht Einer, wären damit Zwei bezeichnet, so würde der 
folgende Satz auch wol wie in ähnlichen Fällen mit tAsi Häng 
(Kap. 1 , 56, 73) beginnen, nicht einfach mit fö wii. Der, dessen 
Werke er verrichtet , ist daher ebenfalls Taö , umsomehr , als die 
Werke ja gerade in Befolgung der Worte bestehen. Und für dicss 
höchste Prinzip , für das göttliche Wesen , fehlt den Menschen das 
Verständniss , deshalb können sie auch die von demselben her- 
stammenden und von ihm zeugenden Worte nicht verstehen , seien 
sie noch so leichtverständlich ; und deshalb verstehen sie den nicht, 
der sie ihnen sagt, und begreifen ebensowenig seine damit stimmen- 
den Werke. Denn freilich sind diese Worte nur leicht für den , der 
ihr lebendiges Prinzip hat und kennt. Ihm vermitteln sie bereits 
Geahntes. 

^) Wir halten mit Stan. Julien die Lesart ist ngb küei ft^ die 
auch von H6-schäng-küng's Glosse bestätigt wird , für richtiger , als 
tse ngb tscht küei. Letzteres würde heissen : »Die sich richten nach 
mir, werden geschätzt«. Diess würde eine ganz seitabliegende Rück- 
sicht auf die Schätzung der Nachfolger Laö-ts^*s seyn und zu der 
Frage berechtigen , wie es denn zugehe , dass diesen eine Schätzung 



311 

zufalle, die ihm selbst versagt werde. Der Sinn ist : Wie gar Wenige 
sind, die mich verstehen; so gar wenig werde ich auch nur geschätzt. 
*) Nie nennt La6-tsd sich selbst einen heiligen Menschen, 
dieser ist ihm stets das in der Gegenwart nicht zu findende Ideal. 
Demnach bezieht sich das scM Ij »daher«, womit dieser Satz beginnt, 
hur auf den allgemeinen Inhalt des Vorhergehenden , sofern dieser 
ausspricht, dass die Weltmenge immer blind und taub ist fUr die 
höchste Wahrheit , daher auch unzugänglich ftir das Einfachste und 
Fasslichste , was aus ihr folgt Die beiden Bilder , welche andeuten, 
wie daher der heilige Mensch verfahre , zeigen ihn als Einen , der 
sich äusserlich unscheinbar und gering darstelle und seinen inneren 
Reichthum der Welt nicht preisgebe. In einem Lande , wo selbst 
der wolhabende Bauer in Seide geht, ist Wollenzeug (hü) etwas sehr 
geringes. /T^^^' heisst genauer : »im Busen tragen«, und /», eigent- 
lich der Nephrit, wird im weiteren Sinne für alle Edelsteine gebraucht. 
Auch hier wird man an Worte des Evangeliums erinnert ; denn was 
wollen die Worte : »er birgt im Busen die Edelsteine«, anders sagen, 
als: »er giebt sein Heiligthum nicht den Hunden preis imd wirft 
seine Perlen nicht vor die Säue«? — Dass La6-ts^ selbst so ver- 
fahren, wie er hier von dem heiligen Menschen sagt, wissen wir. 



Einundsiebzigstes Kapitel. 

Erkennen das Nicht-Erkennen ist das Höchste.* 
Nicht erkennen das Erkennen ist Krankheit. * Wen nur 
die Krankheit kränkt, der ist .dadurch nicht-krank.' 
Der heilige Mensch ist nicht krank, weil ihn seine 
Krankheit kränkt. Daher ist er nicht krank.* 

*) Im vorigen Kapitel war tschi^ »erkennen, wissen, verstehen«, 
durch den letzten Ausdruck wiedergegeben, weil sich damit das 
Deutsche dem Gedanken besser anschmiegte. Wäre dort gesagt: 
»Meine Worte haben einen Urheber, meine Werke haben einen 
Gebieter; dieser nur wird nicht erkannta etc. , so würde der Zu- 
sammenhang dieses Kapitels mit dem vorigen sofort in die Augen 
springen. La6-ts^'s Worte werden nicht verstanden, weil das Prinzip, 
dem sie entstammen, nicht erkannt wird, und es wird nicht erkannt, 
weil die Menschen den Mangel dieser Erkenntniss, an welchem sie 
kranken, nicht verspüren. Diess höchste Object der Erkenntniss 
wäre aber nicht , was es ist , wenn es nicht als ein solches erkannt 
wird, das die Erkenntniss zugleich unendlich überragt. Wird es 
erkannt, so ist es dem Erkennen zwar immanent, aber als Transscen- 
dentes. Daher hat das Erkennen das Unbedingte und Unbegränzte 
nur, sofern es im Verhältniss zu ihm seine Bedingtheit und Be- 
gränztheit, d. h. sein Nicht-Erkennen erkennt; was um deswillen 
das Höchste ist , weil es das Erkennen der absoluten Überschwang- 
lichkeit seines Objects in sich schliesst. Auch das sokratische Wissen 
des Nichtwissens hat nur so seine grosse Bedeutung und würde, 
genau wie der obige Satz, wenig sagen, wenn es nur von dem Nicht- 
wissen dessen redete , was man wol wissen könnte imd Andre auch 
vielleicht wüssten. 



313 

2) Könnte dem Absoluten auch nur ein absolutes Erkennen 
gerecht werden, und ist uns dieses versagt, so vermögen wir es doch 
bedingt zu erkennen sofern es dem Erkennen nicht nur transscendent, 
sondern auch immanent ist, und auf diesem Erkennen beruht jede 
bewusste Beziehung des Mensdien zu dem Unbedingten. Diese 
Beziehung macht erst den Menschen zu einem vollen und gestmden 
^enschen. Auch sie zwar ist immer nur annähernd zu erreichen, 
aber wer ihre Voraussetzung nicht hat , wer auch von diesem Er- 
kennen nicht weiss, es nicht erkennt, der leidet an einem anormalen 
Zustande, einem schweren Gebrechen, einer Krankheit. 

^) Wenn Einen nur diese »Krankheit kränkt« (pingplng)^ d. h. 
wenn er nur den anormalen Zustand als solchen fiihlt und begreift, 
so tritt er »dadurdi« (schi \) über ihn hinaus ; er ist insofern nicht 
krank. Nicht, als ob der normale Zustand dadurch sofort hergestellt 
wäre^ aber das Bewusstseyn ist über ihn erhoben, es wird nicht mehr 
von der Krankheit beherrscht , es beherrscht sie bereits durch ihre 
Erkenntniss. 

*) Auch bei dem heiligen Menschen besteht die geforderte 
geistige Gesundheit nur in dem stetigen Überwinden und Beherrschen 
der Krankheit , und immer wird daher das schmerzliche Gefühl in 
ihm bleiben, dass diese noch nicht überwunden ist. Insofern er 
diess aber fühlt und erkennt , ist auch seine Krankheit — in dem 
bekannten HegeVschen Doppelsinne — aufgehoben: der heilige 
Mensch als solcher ist nicht krank» und seine, jetzt nur noch im 
relativen Sinne vorhandene, weil stetig verneinte, Krankheit ist 
keine Krankheit in dem Sinne zu nennen, in welchem sie es bei dem 
ist, der sich dem Erkennen überhaupt abwendet. Diess will der 
Schlusssatz bekräftigen. — Einige Ausgaben haben eine andere 
Satzabtheilung in diesem Kapitel, die aber keinen guten Sinn giebt. 
Wir haben ujis mit Stan. Julien der bei Hö-schäng-küng zu Grunde 
liegenden Eintheilung angeschlossen. 



Zweiundsiebzigstes iSLapitel. 

Fürchtet das Volk nicht das Furchtbare, dann 
kommt das Furchtbarste.^ Keinem sey zu eng seine 
Wohnung, Keinem zu beschränkt sein Leben! Macht 
man sichs nur nicht zu beschränkt, dann ists auch nicht 
zu beschränkt.^ Daher der heilige Mensch sich selbst 
erkennt, nicht sich selbst ansiehet; sich selbst liebt, 
nicht sich selbst hochschätzt. Drum lasset er jenes und 
ergreift dieses.^ 

^) Dieses Kapitel hängt eng mit den beiden folgenden zusammen, 
und alle drei haben das Strafredit und insbesondere die Todesstrafe 
zu ihrem Gegenstande. Das vorliegende Kapitel leitet diess ein, 
indem es zunächst von den Ursachen der Verbrechen ganz allgemein 
und von deren Vorbeugung spricht. — Was nach dem ersten, 
bedingenden Satze das Volk flirchten soll, wird wei genannt. IVei 
heisst, was Furcht oder Ehrfurcht einflösst, weshalb es gewöhnlich die 
Majestät, Übergewalt, dann auch das Furchtbare, Schreckliche be- 
deutet. Fürchtet das Volk dieses nicht, dann wird das td wU, »das 
gross Furchtbare«', das Furchtbarste herbeikommen. Es fragt sich, 
was mit dem ersten wei gemeint sey? Kann das td wei nur gänzliches 
Verderben und Umkommen bedeuten, was für das Volk immer das 
Furchtbarste ist, so muss nach dem allgemeinen Sinn von wei doch 
angenommen werden , dass diess von einer zu fürchtenden Macht 
ausgehe, die jenes, den Tod, verhängt. Sie verhängt ihn aber, wenn 
das Volk nicht fürchtet, was es fürchten soll, und diess durch wei 
Ausgedrückte kann daher nur der Bruch des Gesetzes^ die Heraus- 
forderung der Todesstrafe, mithin das Verbrechen seyn. Der Sinn 



- 3^5 

ist also: Scheuet sich das Volk nicht vor dem Furchtbaren, die 
Majestät der Strafgewalt durch Verbrechen herauszufordern, so wird 
das Furchtbarste eintreten, dass diese sidi mit ihrer ganzen er- 
drückenden Wucht gegen die Verbrecher kehrt und sie tödtet. Es 
ist damit noch nicht ausgesprochen, ob man sich diese richtende 
Macht als eine menschliche oder als eine übermenschliche zu denken 
habe. 

^) Wenn sogleich nach dem ersten drohenden Satze davon geredet 
wird , dass man seine Wohntmg zu eng, sein Leben zu beschränkt 
oder gedrückt finden könnte, so luhrt die Forderung des Zusammen- 
hangs nothwendig darauf, diese Unzufriedenheit mit den gegebenen 
Zuständen als die Ursache jener Verbrechen anzusehen. Auch ist ja 
in Wirklichkeit die Ungenüge am Eigenen Mutter der Begier nach 
Fremdem, welche, in That Übergehend, das Verbrechen gebiert. So 
nicht minder im Grossen bei Länder- und Kronenraub, als im 
Kleineren bei Strassenraub und Diebstahl. Folgt aber dem Ver- 
bredien das »Furchtbarste« mit^ der Nothwendigkeit eines Natur- 
gesetzes, so ist es Sache sittlicher Freiheit, die erste Quelle des 
Furchtbaren, des Verbrechens, zu verstopfen ; weshalb die beiden 
mit dem prohibitiven tvü anfangenden Sätze die Forderung stellen 
und stellen können, dass man nicht seine Wohnung für zu beengt, 
nicht sein Leben, d. i. seine Lebensweise, für zu beschränkt ansehen 
solle. Denn Glück und Zufriedenheit beruhen nicht auf Erlangung 
versagter Güter, sondern auf dem heiteren Verzidit auf sie, indem 
liebevolle Werthschätzung dessen, was man hat, auch volle Genüge 
an demselben giebt. Ein beschränktes einfaches Leben ist dem 
Menschen nur drückend, wenn er sein Verlangen und Trachten 
darüber hinaus erstreckt. Dadurch macht er es drückend, was es an 
sich nicht wäre ; thut er das nicht, so ist es das nicht. Nach La6-ts^'s 
Ansicht liegt es bei den Regierenden und dem Volke, dass diesem 
seine Wohnplätze genügen, seine Lebensweise ihm lieb und behaglich 
ist, und Kap. 80 giebt hierzu vollständige Erläuterung. Er kann 
daher die Forderung stellen, dass man sich demgemäss verhalte. — 
Julien liest das Zeichen 1076 jin und übersetzt es mit digaüty di- 
goüter. Liest man es fty so ist seine Grundbedeutung »einengen, 
beschränken, drücken«, dann heisst es auch »unterdrücken, zu- 
sammenbringen, verletzen« pp. ; jln gelesen heisst es »schielen. 



3i6 

scheel ansehen, hassen, ül3erdriissig seyn«, also auch digoüter. Wir 
glaubten bei der ersten Bedeutung bleiben zu sollen, da diese sich 
entsprechend dem synonymen Kia^ »enge«, gegenüberstellt. Im 
letzten Satze wird das erste je durch das fü als causativ gekenn- 
zeichnet, während das zweite/? nur den Zustand aussagt. 

^ Das fortleitende »Daher« knüpft mehr an vorausgesetzte als 
ausgesprochene Gedanken. Die Anforderung, mit seinem Lebens- 
loose zufrieden zu seyn, ist bei den meisten Menschen nöthig, denn 
sie genügen ihr nicht, weil sie weder die rechte Selbsterkenntniss 
noch die rechte Selbstliebe, immer aber sich selbst im Auge haben 
und sich überschätzen. Aus dieser sittlichen Verdunkelung durch 
die Selbstsucht stammt ihre Ungenügsamkeit und Unzufriedenheit 
mit Zuständen und Lebensweise. Diess erkennt der heilige Mensch. 
»Daher« kommt er dem Postulate, sein wie immer beschränktes 
Leben nicht Air drückend zu erachten, dadurch nach, dass er »sich 
selbst erkennt« als solchen, dessen Genüge und Zufriedenheit nicht 
an jenen äusserlichen Bedingungen hängt, aber »nicht sich selbst 
ansieht«, d. h. nicht seine Person und seine Interessen im Auge bat; 
dass er »sich selbst liebt«, mit derjenigen Selbstliebe nehmlich, 
welche dem heiligen Menschen zusteht, mit welcher aUe ächte 
Menschenliebe beginnt, und deren Gegenstand der inwendige, nicht 
der äusserlich bedingte Mensch, ist; dass er dabei aber micht sich 
selbst hochschätzt«, als ob er ein Solcher sey, der eine viel günstigere 
Lage verdiene, da ächte Selbstliebe der gerade Gegensatz der Selbst- 
sucht ist. — Es dürfte dem Sinne und Zusammenhange des Ganzen 
nicht entsprechen, in herkömmlicher Weise, anstatt tsS'kidfiy »sich 
selbst ansieht«, zu lesen isi hidn^ »sich selbst sichtbar macht« oder 
manifestirt, da diess einen fremdartigen Gedanken hereinziehen, 
auch dem Parallelismus mit tsi küeiy »sich selbst hochschätzt« nicht 
entsprechen würde. Man vergleiche dazu das tsi ktän im Kap.. 22 
und 24. Aus den einfachen Worten tsingdij »sich selbst liebt«, wird 
man nur einen andern Sinn herauszukünsteln suchen, wenn man ent- 
weder die Bedeutung der reinen selbstsuchtfreien Selbstliebe nicht 
begreift, oder Laö-ts^ nicht zutraut, sie begriffen zu haben. 



Dreiundsiebzigstes Kapitel. 

Hat man Muth, zu wagen, dann tödtet man ; hat 
man Muth, nicht zu wagen, dann lässt man leben J 
Diess Beides ist bald nützlich bald schädlich. ^ 
»Was dem Himmel ist gehass, 
Wer erkennet, warum das ?« ^ 
Daher der heilige Mensch es für schwer hält * Des Him- 
mels Weise ist : ^ 

»Er streitet nicht, und weiss zu überwinden, 
Er redet nicht, und weiss Antwort zu finden, 
Er ruft nicht, und man kommt von selbst vor ihn, 
Langmüthig, weiss er doch herbeizuleiten. 
Des Himmels Netz fasst weite Weiten, 
Klafft offen, — und lässt nichts entfliehn.«^ 

^) Der Zusammenhang dieses Kapitels mit dem vorigen und 
dem nachfolgenden kann allein über die richtige Auslegung ent- 
scheiden, führt allerdings aber zu einer Auffassung , die sowol von 
derjenigen der chinesischen Interpreten, als der beiden europäischen 
Bearbeiter durchaus abweicht. Sie alle beachten diesen Zusammen- 
hang nicht, verstehen unter dem »wagen« bald das Streiten um die 
erste Stelle, bald das »Thun« in La6-tsd's Sinne, bald überhaupt nur 
das Unternehmen von Gefahrlichem, und lassen die ersten beiden 
Sätze sagen: »Hat man Muth zu wagen, dann wird man getödtet 
(oder kommt um) ; hat man Muth nicht zu wagen, dann bleibt man 
leben«. Wird dann der folgende Satz so verstanden : »Von diesen 
Beiden ist eins (nehmlich das Lebenbleiben) nützlich, das andre 



3i8 

(nehmUch das Umkommen) schädlich«, — so finden wir uns einer 
Menge solcher Trivialitäten gegenüber, wie sie uns, ihm zuzutrauen, 
La6-ts^ bisher keinen Anlass geboten bat, und mit denen das Fol- 
gende in gar keine vernünftige Verbindung zu bringen ist. Alles 
wird verständlich tind inhaltschwer, wenn man die Aussagen La6-ts^*s 
auf die Todesstrafe bezidbit, wozu die sichtlichen Beziehungen zu 
den beiden einschliessenden Kapitdn nöthigen. Als das Subject der 
beiden Anfangssätze ist ein Solcher gedadit, der die Strafe des Todes 
verhängen oder auch nicht verhängen kann. »Hat er Muth, zu wagen, 
dann tödtet er«, tse scAa. Stan. Julien bemerkt hierzu nach einem 
chinesischen Interpreten : Ze mot schoj vtdgo i^hters signifie ici *mourir* 
(ü devient passif par Position). Die Behauptung des Chinesen ist 
grundlos und der Zusatz Juliens irrig. Ein actives Zeitwort wird 
keineswegs schon dadurch allein zum Passivum, dass es ohne 
Bezeichnung des Objects am Ende des Satzes steht, am wenigsten 
wenn es, wie hier, mit einem tse ganz allein den Nachsatz bildet; es 
müssen andre Satzverhältnisse vorausgegangen seyn, und der Sinn 
muss ein Passivum fordern. Im folgenden Kapitel steht scha zweimal 
am Schlüsse des Satzes nach dem subjectbildenden tschl^ enthält 
also, wie hier, eine ganz einfache Aussage: warum übersetzt es 
Julien da denn durch i^infligt la mortt^ ja das zweite Mal sogar (ohne 
allen Grund) durch Mnfliger soi-näme la morh} Mit Einem Worte es 
heisst hier, wie dort, nur »er tödtet« oder »man tödtet«. So heisst 
auch der zweite Nachsatz, tsli hoy nicht »er bleibt am Leben«, tHrauve 
la vicj sondern »er giebt das Leben« oder »lässt am Leben« (Morrison : 
to vivify). Den Tod zu verhängen ist ein Wagniss; was man dabei 
wagt, wagt man nicht, wenn man begnadiget ; aber zu Beiden gehört 
Muthy denn man nimmt dabei immer eine grosse Verantwortlichkeit 
auf sich. 

^ Bezieht sich thsl Uhfig tschtj »diess Beides«, auf das Tödten 
und Lebenlassen , wie nicht zu bezweifeln ist, so muss die daran 
geknüpfte Aussage sich auf das Eine wie auf das Andere beziehen, 
und was so zusammengefügt ist, wird durch das partitive hol . . . hoe 
nicht wieder auseinandergerisseir. [Hol ist immer Bezeichnung des 
Ungewissen, heisst daher als Zeitwort »irren, zweifeln«, als Fürwort 
»Jemand«, als Adverbium »vielleicht« und behält dieses Ungewisse 
auch als Conjunction, weshalb wir es durch »bald . . . bald« wieder- 



319 

gaben.) Demnach sagt unser Satz, dass sowol TodesurtheU als Be 
gnadigung bald nützlich bald schädlich seyn können. Denn nützlich 
ist beides^ wenn es dahin trifit wo es hingehört, schädlich am unrechten 
Orte eins wie das andre ; zweifelhaft aber ist, wie es damit im ein- 
zelnen Falle sey ; und weshalb diess , sagen die beiden folgenden 
Verse. 

^) Unter allen Umständen soll nur das gestraft werden, zumal 
mit dem Tode, »was der Himmel hasset«. Die eigentliche Ursache 
dieses Missfallens aber (kM kü) ist dem Menschen verborgen : »wer 
kennt dessen Ursache?« wer weiss was ihn dazu bewegt? Denn der 
Mensch sieht nur was vor Augen ist ; die Gottheit richtet nadi dem, 
was er nicht sieht, — und doch soll er richten, was ihr missfallig ist. 

^) In dem Satze schi l sching sßn jiu nän tscht (buchstäblich : 
»Daher heiliger Mensch als schwer es«) wird das Beiwort nän durdi 
das nachfolgende isckt zum activen Zeitworte> während das voraus- 
gehende Adverbium der Ähnlichkeit, jh^^ ihm den Sinn giebt, etwas 
»als schwer ansehen, für schwer halten«. Was ist mm dieses tschit 
»es«, das dem heiligen Menschen schwer erscheint? Stan. Julien, 
chinesischer Interpretation folgend, übersetzt erklärend : C\si pour- 
quoi U Saint se dicide diffieiUment ä agir; und ohne Zweifel ist es 
richtig, dass es sich ma eine Entscheidung handelt, die dem heiligen 
Menschen schwer bedankt. Aber vom »Thun« (agir) war in dem 
ganzen Kapitel nicht die Rede, sondern von der Alternative zwischen 
dem Tödten und dem Lebenlassen, und nur von der Entscheidung 
zwischen diesen beiden handelt es sich. »Daher« wird dem heiligen 
Menschen diese Entscheidung so schwer, weil er den Grund dessen 
nicht kennt, was dem Himmel gehass ist, weil ihm die Gesinnungen 
und Motive nicht zugänglich sind, aus denen die That entsprungen, 
die er richten soll, und weil er daher leicht fehlgreifen und eben so 
leicht das »Nützliche« wie das »Schädliche« thun kann. 

^) Die nachfolgenden Verse — ohne Zweifel ebenso, wie der 
vorherige Reimspruch, ein Citat — zeigen, wie im Unterschiede von 
dem rasch zufahrenden Menschen der Himmel gegen die Missethäter 
verfahrt, was den heiligen Menschen, sofern er ihm nachahmen soll, 
noch bed^^nklicher macht, ihm aber auch den Trost verleiht, dass 
der Übelthäter, wenn dessen Begnadigung auch einmal ein Fehlgriff 
ist, doch der endlichen Bestrafung nicht entgehen wird. Wird diess 



320 

Citat mit den Worten thian tscht iah eingeführt, so heisst dies zwar 
nur »des Himmels Weg, Verfahren, Weise«, soll aber doch an das 
grosse Prinzip erinnern, das in gewisser Hinsicht mit dem »Himmel« 
als identisch zu denken ist. Wir hätten auch allenfalls sagen können : 
»Des Himmels Ta6, — Er« pp. 

®) Zu der Übersetzung dieser tiefsinnigen Verse werde bemerkt, 
dass es in der zweiten Hälfte des dritten Verses nur heisst: oll tsi li 
(so die alte Aussprache für läi im Reim) »und von selbst kommen 
sie«, diejenigen nehmlich, auf die es abgesehen ist. Das »vor ihn« 
findet seine Rechtfertigtmg in dem vorhergehenden pü tschdo^ was 
eigentlich heisst : »er ruft nicht herbei« (tschäo = to cite to appear^ 
Morrison) . Für »herbeizuleiten« steht mü (so im Reim ; jetzt meü) 
»vorausplanen, planmässig herbeiführen«. In dem letzten Verse: 
SU oll pü sc/Uf bedeutet sü das weite Abstehn der Netzfaden v<»i-' 
einander , und die letzten drei Worte sagen eigentlich nur : »und 
nicht verlierts«, d. h, ihm entgeht nichts. — Die göttliche Macht, 
sich niemals unmittelbar kundgebend, weiss sich doch überall geltend 
zu machen ; ihr muss Alles unterliegen, entsprechen und gehorchen. 
Wir meinen, dass in den drei ersten Versen vornehmlich ihre Wir- 
kung im Gewissen angedeutet sey: da überwindet sie ohne zu 
streiten, da antwortet sie ohne zu reden, da muss man vor ihr 
erscheinen ohne dass sie dazu aufruft. Der vierte Vers, — so lang- 
müthig er , der Himmel , ist , so weiss er doch vorauszuplanen, — 
sagt dasselbe , wie : »Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber 
trefiflich fein , ob aus Langmuth er sich säumet, bringt mit Schärf 
er alles ein«. Die allumschliessende Strafgewalt Gottes wird auch in 
der heil. Schrift mit einem Netze verglichen. Weit, weit ist es, so 
dass die schon Gefangenen noch frei zu seyn meinen ; es ist so durch- 
lässig, dass ihnen selbst das Entkommen noch leicht ersdieint; 
gleichwol geht ihm nichts verloren : die Strafe ergreift den Schuldigen 
unentfliehbar. 



Vierundsiebzigstes Kapitel. 

Fürchtet das Volk nicht den Tod, wie will man es 
mit dem Tode schrecken?* Wenn man macht, dass 
das Volk stets den Tod fürchtet, und wir können den, 
der Schreckliches thut, ergreifen und tödten : wer wagt 
es ? '^ Immerdar giebts einen Blutrichter, der da tödtet. ■* 
Wenn man anstatt des Blutrichters tödtet, das heisst 
anstatt des Zimmermanns behauen. Wenn man anstatt 
des Zimmermanns behauet , bleibt selten die Hand un- 
verwundet. * 

^) Der Anfangssatz des 72. Kapitels setzte voraus, dass das 
Volk das Furchtbare wol flirchten würde, wenn es das Furchtbarste, 
den Tod, als dessen Folge voraussehe. Daran schliesst sich hier der 
Gedanke, dass, um diesen Zweck zu erreichen, d. h. um das Volk 
vom Furchtbaren durch den angedrohten Tod zurückzuschrecken, 
es auch erforderlich sey, dass es den Tod fUrchte. Es wird ihn aber 
nicht Airchten, wenn das Leben ihm ebenso schrecklich gemacht 
wird als der Tod ; wenn nicht bloss jene Enge und Beschränkung es 
drückt , über welche der Geist sich erheben , ja die er liebgewinnen 
kann, sondern Mangel am Unentbehrlichsten, Lebensunsicherheit 
tmd dabei Überbürdung die hülflosen Menschen täglich ängstiget 
und plagt. (Vgl. Kap. 75.) Die Erfahrung lehrt, wie bei solchen 
Zuständen die Gleichgültigkeit gegen den Tod um sich greifen kann, 
zugleich aber auch die Verbrechen zunehmen , weil dann der Tod, 
den das Gesetz androht und der Richter verhängt , kein Schreck- 
mittel mehr flir das Volk ist. 

21 



322 

^) Gleichgültigkeit gegen den Tod ist Gleichgültigkeit gegen 
das Leben. Man ftirchtet den Tod nur, wenn man das Leben liebt. 
Man liebt das Leben nur , wenn es das Nöthige gewährt , gesichert 
und unbelastet ist. Ist diess beim Volke der Fall , so wird es den 
Tod Hirchten , und befindet es sich bleibend [fschhäng<t »stets«) in 
diesem Zustande, dann werden auch die Todesstrafen wirksam seyn, 
und das Bewusstseyn, dass der Missethäter (7m kht tsch}^ »der 
Ungeheuerliches thut«) ergriffen und getödtet werden kann, wird die 
Menschen abhalten , dergleichen zu wagen. Laö-ts^ spricht in der 
ersten terson , »ich« oder auch »wir«, um zunächst anzudeuten, dass 
bei jenen Zustanden die Todesstrafe immer von Verbrechen abhalten 
werde, es mag sie vollziehen wer da will. Allein nicht Jeder soll sie 
vollziehen, sondern der allein, der dazu bestellt ist. 

3) Wörtlichst: »Immer giebts einen das Tödten Richtenden, 
und er tödtet.« Hö-schäng-küng versteht hierunter den Himmel, 
»der in der Höhe wohnt und herunter schaut und urtheilt der 
Menschen Übertretungen« ; wobei er sich auf die beiden letzten 
Verse des vorigen Kapitels bezieht. Die späteren Interpreten sind 
ihm in dieser Auffassung gefolgt, und sie hat viel Ansprechendes. 
Dennoch dürfte sie mehr fromm als richtig seyn ; denn man sieht 
nicht ab, wozu so eben erst die Furcht vor der Todesstrafe fiir noth- 
wendig und das Bewusstseyn ihrer Ausübung für ein heilsames 
Schreckmittel erklärt worden, wenn nun doch die Bestrafung des 
Schuldigen lediglich dem Himmel überlassen werden sollte, was sich 
bei jener Auffassung aus dem Nachfolgenden ergeben würde. Ob- 
gleich sse scha tscßil, »der da richtet (vorsteht, verwaltet) das Tödten«, 
ebensowol vom Himmel, als von einem menschlichen Richter gesagt 
seyn könnte, so zwingt dieses Bedenken doch zur Amiahme des 
letzteren, und dann bildet der Ausspruch eine Ergänzung und Be- 
gränzung des Vorhergehenden. Wer wird eine Missethat wagen, 
hiess es, wenn wir, d. h. jedes Ich, ihn dafiir mit dem Tode strafen 
können? Allein nicht Jeder soll diess thun, denn zu diesem Zwecke 
sinti ordentliche Strafrichter bestellt und immer vorhanden. Nicht 
unabsichtlich dürfte nur das Tödten dem Strafrichter zugewiesen 
seyn , nicht aber das »Ergreifen« , wozu Laö-ts6 wol Jeden (lir be; 
rechtigt, wo nicht flir verpflichtet halten mochte. 

^) Das artige Gleichniss ist nicht misszuverstehen. Nur der 



323 

ordentliche Strafrichter hat die Kenntniss und das Geschick, im 
geeigneten Falle mit dem Tode zu strafen , und Niemand soll ihm 
in's Amt greifen, da er sich hierdurch zumeist nur selbst beschädigen 
würde. Ohne Zweifel soll diess auch den Regierenden gesagt seyn, 
schwerlich aber im Sinne einer Verwerfung der Todesstrafe über- 
haupt; was ganz gegen die Absicht der ersten Sätze dieses Kapitels 
anliefe. Nur mit der Weisheit des Meisters soll die Todesstrafe 
gespart werden. Zugleich richtet es sich entschieden gegen die her- 
kömmliche Blutrache, welche Khüng-ts^ dagegen warm empfiehlt. 



21 * 



Fünfundsiebzigstes Kapitel. 

Das Volk hungert, weil seine Obrigkeit zuviel 
Abgaben verzehrt. Deshalb hungert esJ Das Volk 
wird schwer regiert, weil seine Obrigkeit zu thun hat. 
Deshalb wird es schwer regiert.^ Das Volk achtet den 
Tod gering, weil es Lebensübermaass verlangt. Des- 
halb achtet es den Tod gering.^ Nur wer nichts um 
des Lebens willen thut , ist weise gegen den , der das 
Leben hochschätzt. ^ 



^) Die Wirksamkeit der Todesstrafen zur Verhindening der 
Verbrechen flihrte das vorige Kapitel auf die Furcht des Volks vor 
dem Tode überhaupt zurück. Eben zu Laö-ts^'s Zeit ist es eine 
allgemeine Klage unter anderen Klagen , dass dieses Grundmotiv 
nicht vorhanden sey. Nachdem er in den letzten Erörterungen 
empfohlen hatte, mit Todesstrafen sparsam und bedächtig und nicht 
ohne die ordentlichen Strafrichter vorzugehen, hört er sich gleichsam 
einwenden : Wie ist das möglich, da Hunger und Noth das Volk zu 
Verbrechen reizen und dasselbe an sich schon zu Widerstand und 
Empörung geneigt ist ? Und wie kann man dem Volke die Werth- 
schätzung des Lebens einpflanzen? Auf diese Fragen soll das Kapitel 
antworten , und zwar gerade den Regierenden , von denen Laö-ts^ 
jene Einwände gehört haben mochte. — Sie selbst, die Oberen 
{schäng) , sind Schuld an dem Hunger des Volks , sie nehmen ihm 
zuviel an Abgaben hinweg , um selbst damit in Üppigkeit zu leben. 
Da die Abgaben grossentheils in Naturalien und Bodenerzeugnissen 
bestanden, so musste ihre Übersteigerung in den schon damals zahl- 
reichen Bevölkerungen sofort Mangel hervorrufen, und der Ausdruck, 



325 

dass die Abgaben verzehrt, sckij eigentlich »gegessen« würden, ist 
daher ganz passend. Mochte indess bei dem ausschweifenden 
Leben und den grossen Gastereien der zahlreichen Hofhalte viel 
auch im eigentlichen Sinne aufgezehrt werden , so ist das sc/u doch 
auch im weiteren Sinne zu verstehen von aller Verwendung zu un- 
nöthigem oder vermeidlichem Aufwände, wobei in unsern Tagen die 
ungeheuren Militärbudgets als Illustration dienen können. 

2) Wird hier über die Unbotmässigkeit des Volks geklagt , der 
doch nur mit schweren Strafen gesteuert werden kann, so wird auch 
daran die Schuld den Regierenden zugeschoben, denn sie »haben zu 
thun« (Jeu wH) , d. h. sie nehmen Zeit und Kräfte des Volkes fiir 
ihre Unternehmungen, Bauten und Anlagen, Jagden und Kriegszüge 
in Anspruch , während sie zugleich die natürliche Freiheit durch 
geschäftiges Vielregieren unleidlich beschränken. 

3) Während die Fürsten auf jene Weise dem Volke Nahrung, 
Erwerb und Freiheit entziehen, geben sie und ihre Zugehörigen ihm 
zugleich das Beispiel und Schauspiel eines üppigen Lebensgenusses 
(Kap. 53) und erregen dadurch bei ihm die Begierde nach gleichem 
Lebensübermaasse (seng tscht heü). Und weil diess sein Verlangen 
unter solchen Umständen ihm immer versagt bleibt , erzeugt sich in 
ihm der Lebensüberdruss , der ihm den Tod gleichgültig macht. 
Unter seng, Leben, ist hier wie in dem folgenden Satze nicht das 
blosse Fortbestehen , sondern im prägnanten Sinne dasjenige Leben 
zu verstehen, das man geniesst und empfindet, also der Lebens- 
genuss. Da man diess nicht verstand, änderte man seng tscht heu in 
seng tscht thsie (746), »des Lebens Nothwendigstes«, was aber nichts 
ftir sich hat. 

^) Im Vergleich mit dem , der auf den Lebensgenuss Werth 
legt, ist nur der weise zu nennen, der nichts um des Lebensgenusses 
willen thut. Diese Weisheit kann der Menge nur zugänglich werden 
durch den Vorangang und das Vorbild seiner Oberen, und ihnen vor 
Allen gilt daher dieser Satz. Thut der Regierende nichts um des 
Lebens willen in jenem Sinne , oder , wie man wtt l seng wH auch 
übersetzen könnte , »macht er sich nichts aus dem Leben« , so wird 
er weder durch Abgaben , noch durch unruhige Geschäftigkeit das 
Volk bedrücken , es auch nicht durch sein Beispiel verleiten , seine 
Einfachheit mit Aufwand und vielartigem Genuss vertauschen zu 



326 

wollen , und während er selbst seine Geistesklarheit und Seelenruhe 
nicht durch das unbefriedigende Streben nach falschen Gütern zer- 
stört y verfällt auch das Volk nicht den zuvor beklagten Übeln ; es 
hungert nicht, ist leicht zu regieren und schätzt das Dase)ni. — 
Anstatt scAi hianjü ktUi sengy »ist weise gegen den , der das Leben 
hochschätzt«, lesen Einige: schi kuiiju tschhäng (11,629) stngy »ist 
hochgeschätzt gegen den , der lange lebt« , oder »ist höher geschätzt 
als der lange Lebende«. Diese Lesart dürfte aus dem Nicht- 
verständniss des Sinns, den seng nach dem Zusammenhange hier 
haben muss, hervorgegangen seyn. Die erstere ist durch Hö-schäng- 
küng's Glosse beglaubigt, auch von Julien aufgenommen. 



Sechsundsiebzigstes Kapitel. 

Der Mensch tritt ins Leben weich und schwach ; 
er stirbt hart und stark. Alle Wesen, Kräuter und 
Bäume treten ins Leben weich und zart; sie sterben 
vertrocknet und dürre. Drum: Hart und Stark ist 
Todesgeselle, Weich und Schwach Lebensgeselle.* 
Daher ein Kriegsheer, ist es stark', dann siegts nicht. 
Ein Baum , ist er stark , dann ist er geliefert. ^ Stark 
und Gross bleibt unten , Weich und Schwach bleibt 
oben. ^ 



^) Der letzte Ausspruch des Kapitels , zu dessen Begründung 
und Erläuterung das Übrige dienen soll , zeigt , dass es sich hier 
noch um das Verhalten der Oberen , der Regierenden handelt , und 
es darf gleich hier bemerkt werden, dass die Weichheit imd Schwäche, 
die ftir sie empfohlen wird, ebensowenig im tadelnden Sinne zu 
fassen ist, als man sie im Geleit des Lebensanfanges zu schelten hat. 
Nicht der Mangel an Widerstandsfähigkeit, scMidem ihr weiser 
Nichtgebrauch ist mit der Weichheit giemeint, und mit der Schwäche 
nicht Unkraft, sondern Zurückhaltung der Kraft. In der Natur — 
und nur nach der Naturseite wird zunächst auch des Menschen 
gedacht — geht das Organische durch den Verlauf des Lebens all- 
mählich ins Mechanische und Anorganische über , und eben darin 
besteht der Prozess des Absterbens. In der ersten Jugend selbst- 
ständiger Organismen ist die wirkende Kraft ihres unsichtbaren 
Individualprinzips und deren Thätigkeit am grössten , während ihr 
sichtbares Stoffgebilde noch am nachgiebigsten und fiir Aussen- 
eindrücke am empfänglichsten ist. Darum ist das Weiche und 



328 

Schwache im Geleit des Lebens und seines Emporwachsens. Hat 
das immaterielle Prinzip im Gestalten des materiellen Gebildes und 
in seiner hierdurch bedingten Selbstentfaltung seine Aufgabe er- 
schöpft , so zieht es sich von jenem allmählich auf sich zurück , und 
in demselben Verhältnisse beginnt die Materie sich selbständig zu 
behaupten, stockt, starrt und erhärtet Da der Ausgang dieses 
Prozesses der Tod ist, so sind das Harte und Starke oder Feste 
(einige Ausgaben lesen im ersten Satze käng (806) anstatt khi/tng] 
Begleiter des Todes. — Seng^ als Zeitwort, »ins Leben treten, auch 
ins Leben setzen, hervorbringen, dann auch leben«, hat in den 
beiden Anfangssätzen die erstere Bedeutung. »Alle Wesen«, ivdn 
ivoe^ fehlt bei Julien. Das »Drum«, kü^ hat den Sinn : Daraus ist zu 
schliessen. Wegen des Ausdrucks »Todesgeselle«, ss6 tscht /», und 
»Lebensgeselle«, seng tscht /«, s. Kap. 50, Anm. 2. 

^) Aus den letzten allgemeinen Aussagen wird nun an rwei 
Beispielen geschlossen, dass im Menschenleben wie in der Natur 
das, was sich nur als stark erweiset, zu seinem Falle reif sey. 
Khiängi von einem Kriegsheere ausgesagt, heisst »mächtig, gewalt- 
sam«, auch »übermüthig« ; von einem Baume gesagt, heisst es »aus- 
gewachsen , fest«. Der Sinn ist demnach : Wo ein Heer im blossen 
Vertrauen auf seine Stärke rücksichtslos in den Krieg zieht, da ist 
diess bereits die Anzeige, dass es unterliegen wird. Wo ein Baum 
bereits die volle Stärke seines Wachsthums erreicht hat , da ist diess 
ein Zeichen, dass er bald fallt. Tse küng haben wir übersetzt: »Dann 
ist er geliefert«. Mit dieser Betonung heisst küng »geben, liefern«, 
wenn es, wie hier, Zeitwort ist. Alle andere Bedeutungen, bei 
andrer Betonung, geben keinen passenden Sinn. Die von den Aus- 
legern versuchten Erklärungen sind theils zu erkünstelt, theils ent- 
fernen sie sich, wie bei Hö-schäng-küng, von dem hier geforderten 
Gedanken. Auch unsre Übersetzung ist ein Nothbehelf. Es scheint 
hier ein Verderbniss des Textes obzuwalten und vielleicht hatte 
ursprünglich sse (3814) = r^^^//^r gestanden. 

•*) Dass die bisher erwähnten physischen Verhältnisse ins 
Ethische zu übertragen seien , kann Niemand entgehn , und so will 
dieser Schlusssatz sie verstanden haben. Unter Stark und Gross ist 
daher zu begreifen, was, für sich fertig und abgeschlossen, in seiner 
Entwicklung bereits erstarrt ist , der Wille , der nur noch sich selbst 



329 

durchsetzen will , das Gemüth , das nicht mehr durch Aufnahme 
fremder Interessen seine Fülle erneuert. Wie ein Heer, das ge- 
schlagen , wie ein Baum , der gefallt wird , wie das Ausgelebte , das 
dem Tode entgegen zu Boden sinkt , gehören sie hinunter , müssen 
unterliegen, sind untauglich zum königlichen Herrschen und werden 
vergeblich streben, sich oben zu erhalten oder wieder emporzu- 
kommen. Weich und Schwach im edlen Sinne bezeichnet die gross- 
herzige Milde und Hingebung dessen , der sich selbst vergessend 
und voll quellenden Gemüthslebens das Wol und Heil Aller als das 
seinige fühlt und ansieht, der darin sein Leben, wie immer wieder 
von vorn beginnend, segensreich auswirkt und stetig weiter entfaltet. 
Diess ist das königliche Gemüth, recht dazu beschaffen um oben — 
um Obrigkeit zu seyn und in seiner Höhe zu beharren. 



Siebenundsiebzigstes Kapitel. 

Des Himmels Verfahren, wie gleicht es dem Bogen- 
spänner ! Das Hohe erniedert er, das Untere erhebt er, 
[das Überflüssige mindert er, das Ungenügende ergänzt 
er'. Des Himmels Verfahren ist: mindern das Über- 
flüssige und ergänzen das Ungenügende. ' Des Menschen 
Verfahrensweise ist nicht also; er mindert das Un- 
genügende, um es dem Überflüssigen darzubringen. - 
Wer vermag Überflüssiges dem Reiche darzubringen? 
Nur wer Tao hat. * Daher der heilige Mensch thut und 
nichts draus macht. Verdienstliches vollbringt und nicht 
dabei verweilt. Er wünscht nicht seine Weisheit sehn 
zu lassen.^ 



*) Es ist ein wesentliches Stück in der Weisheit des Regieren- 
den , die Macht , die er über die Vertheihmg irdischer Glücksgtiter 
auszuüben befugt ist, zur Ausgleichung der verschiedenen Loose der 
Mensc;Jien mit Billigkeit zu handhaben, und dabei die Fülle der 
Güter, die bei ihm zusammenfliessen , ohne Werkheüigkeit und 
Eitelkeit zum Besten des Reichs zu verwenden, was aber freilich nur 
der im Stande seyn wird zu thun , der Taö's theilhaftig , somit ein 
heiliger Mensch ist. Denn so ist auch des Himmels »Verfahren«, 
tah^ womit hier um so mehr auf das grosse Urwesen hingedeutet 
wird, als es hernach beim Menschen nicht einfach tah^ sondern iah 
/j?, »Verfahrensmaass« oder »Verfahrensweise« heisst; denn ist ist 
dort nicht Conjunction, sondern Nennwort. Tschäng küng ist wört- 
lich »der den Bogen spannt«, der Bogenspänner, und dieser »erniedert 



331 

das Hohe und hebt das Untere« , indem er beim Spannen des auf- 
recht gehaltenen Bogens das obere Ende herab- und das untere 
hinaufzieht. Wir haben die folgenden Worte eingeschlossen , da wir 
sie für ein späteres Einschiebsel halten. Ihr Inhalt passt nicht auf den, 
der den Bogen spannt, sondern nur etwa auf den, der ihn verfertigt, 
weshalb man auch tschäng küng durch Bogenmacher hat erklären 
wollen, was es aber nicht heissen kann. Sodann wäre es auffallend, 
dass bei der Anwendung des Gleichnisses das, was in ihm an die 
Spitze gestellt ist , gar nicht mehr beachtet würde. Endlich würde 
es wunderlich seyn , wenn in der Anwendimg nur Dasselbe mit den- 
selben Worten gesagt würde , was schon in dem Gleichnisse gesagt 
wäre. Es scheint , man habe das Gleichniss oder die Anwendung 
nicht richtig verstanden und Aussagen der letzteren jenem hinzu- 
gefugt, um beide homogener zu machen. Das tertium comparationis 
ist aber die Ausgleichung des Ungleichen, dort in der Lage der 
Bogenenden , hier in der Vertheilung der Güter ; jene werden durch 
das Spannen des Bogens, diese durch das Verfahren des Himmels 
einander angenähert. Ein ähnlicher Gedanke bei ähnlicher Ver- 
bindung findet sich i. Sam. 2, 7. »Jahweh macht arm und macht 
reich , er erniedriget und erhöhet«. In unsrer Stelle dient das Letzte 
zum Gleichniss des Ersteren. Gesagt soll seyn": Der Himmel nimmt 
denen, die zuviel haben, und giebt denen, die zu wenig haben. 

2) Dass mit dem Menschen der Mächtige , der Regierende ge- 
meint sey , ergiebt sich daraus , dass nur dieser im Stande ist , das 
Gesagte auszuflihren. Er wird aber als Mensch bezeichnet , weil er 
eben damit nach seiner menschlichen Natur verfährt , und da diess 
der Weise des Himmels entgegengesetzt ist, so zeigt sich, dassLa6-ts^ 
eine andre Ansicht von der sittlichen Beschaffenheit des Menßchen 
hatte , als Khüng-ts^ , nach welchem der Mensch von Natur gut ist. 
Nach Laö-ts^'s Begriffen wird er diess erst durch Taö, wie auch das 
sogleich Folgende zeigt. 

•*) Es wird als selbstverständlich übergangen, dass es das 
Richtige wäre, wenn des Menschen Verfahren dem des Himmels 
entspräche, und in der erhobenen Frage wird ebenfalls nur an- 
gedeutet , dass es das Rechte sey , wenn der Herrschende den in 
seine Hände gelangenden Überfluss sammt dem , was ihm an dem 
Seinigen von Überfluss seyn kann, dem Reiche, d. h. den Unter- 



332 

thanen. und nach dem vorhin Gesagten vor Allen denen , die nicht 
genug haben , darbringt. Schon der vorangehende Satz sprach aus, 
dass diess in der Regel nicht geschehe, und Kap. 75 hörten wir, 
dass das Volk hungere, weil seine Obrigkeit zuviel Abgaben ver- 
schlinge. Anders darin zu handeln, als die Menschen ihrer Natur 
nach zu thun pflegen, ist nur der im Stande, »der Taö hat« , d. h. 
dem das höchste Prinzip auch höchstes Motiv ftlr sein Verhalten ist. 
^) Der »heilige Mensch« ist es , der Taö hat , und daher »thut* 
er , — nehmlich was darnach von ihm gefordert ist , und «vollbringt 
Verdienstliches« ; allein da er sich bewusst ist, dass er es nur vermag 
durch Taö, so »macht er nichts aus« seinem Thun, wörtlich er stützt 
sich nicht darauf (pü scki) , und »verweilt nicht« bei seinem Ver- 
dienst, er geht darüber hinweg. Solch Verfahren kann nur aus 
rechter Weisheit, hiättj sittlich-geistiger Bedeutsamkeit, hervorgehen, 
allein er verfährt so nur geradehin , weil er Taö hat , nicht um seine 
Weisheit sehn zu lassen, nicht damit er sich weise weise (hidn hiän). 



Achtundsiebzigstes Kapitel- 
Nichts in der Welt ist weicher und schwächer denn 
das Wasser, und nichts, was Hartes und Starkes an- 
greift, vermag es zu übertreffen ; es hat nichts, wodurch 
es zu ersetzen wäre. * Schwaches überwindet das Starke, 
Weiches überwindet das Harte. ^ Keinem in der Welt ist 
es unbekannt, und Keiner vermag es zu üben.^ Daher 
der heilige Mensch sagt : 

»Tragen des Lands Unreinigkeiten, 
Das heisst voran beim Hirseopfer schreiten. 
Tragen des Landes Noth und Pein, 
Das heisst des Reiches Königs seyn.« — * 
Wahre Worte wie umgekehrt. "^ 



^) Unser Denker wird nicht müde, den Königen Milde und 
Hingebung anzuempfehlen, — denn dass unter Weichheit und 
Schwäche diese Tugenden gemeint seyen, ist nun wol hinreichend 
klar, — und nachdem er sie schon im 76. Kapitel gepriesen als das, 
was die Verheissung des Lebens habe, will er nun zeigen, dass man 
damit auch am meisten durchzuaetzen vermöge. Ein treffendes 
Gleichniss leitet den aligemeinen Satz, der diess ausspricht, beweisend 
ein. Das Wasser muss Jeder ftir den nachgiebigsten, lindesten Körper 
erkennen, und doch ist es in seinen stillen allmählichen Einwirkungen 
auf das Harte und Starke unwiderstehlicher, als irgendwas, das dieses 
sonst angreifen {Jhhig = mit Erfolg angreifen wie eine Armee, eine 
Feile, ein Ätzmittel, also corrodiren, aufreiben) könnte. Dies kann 
sich auf das Abspülen von Gebirgen, Zer waschen von Felsen, Zer- 



334 

schwemmen von Gebäuden, das Auflösen von Erz und Eisen durch 
Oxydation u. dgl., nicht aber auf stürmische und gewaltsame Zer- 
stönmgen durch das flüssige Element beziehen, welche der Sinn des 
Gleichnisses ausschliesst. In dem zweiten Satze : khtunitfitsch}. 
buchstäblich : »das hat nicht, womit auszuwechseln es« , mag man 
unter kht das Wasser, oder das was Hartes und Starkes angreift ver- 
stehen, so ist in beiden Fällen der Sinn, es könne in Ansehung der 
gedachten Wirkung nichts andres an die Stelle des Wassers treten. 

2) Nach der Erläuterung durch das Gleichniss erscheint dieser 
Satz schon weniger paradox. Er ist so gehalten, dass er auf mensch- 
liches Verhalten bezogen werden kann, aber nicht muss, obwol auch 
diess nicht zu umgehen ist, wenn er in seiner Allgemeinheit einmal 
eingeräumt wird. 

•t) Was jener Satz sagt, ist aus Erfahrung Keinem unbekannt, 
und doch ist Keiner fähig (n^ng), es anzuwenden, zu üben (htng)\ 
Keiner nehmlich ausser dem heiligen Menschen. Thut man aber 
nicht, was man als das Richtige erkennt, so muss ein sittliches Hin- 
derniss unfähig machen , das Erkannte auszuüben : es fehlt die 
Demuth, welche mild, die selbstlose Liebe, welche hingebend macht. 

*) Hält man die Worte : »Daher der heilige Mensch sagt«, mit 
der Schlussbemerkung zusammen, so sieht man, dass jene ein Citat 
einfuhren sollen und sich auf einen bestimmten, d«i ersten Lesern 
bekannten, heiligen Mann beziehen, dem der folgende Spruch an- 
gehört. KiUf hier im Reim alterthümlich.>^, heisst »Staub, Schmutz, 
Unreinigkeit« ; imd diese »tragen«, auf sich nehmen, scheu, soll 
unstreitig sagen, dass der Regierende das, was das Land verunreinigt 
und befleckt, in demüthiger Herablassung sich selber auferlegt. Schi 
ist das Opfer, das jährlich bei der Sonnenwende dem Geist der Erde 
oder in Beziehung auf diesen dargebracht wird, denn nach Khüng- 
ts^'s Erklärung gilt diess Opfer dem »Höchsten Herrn«, dem schdng 
tf. Es war ein Vorrecht des Kaisers (Königs) , dies» Opfer in Ver- 
tretung des ganzen Volks darzubringen. Der Sinn der beiden ersten 
Verse ist daher : Wer das , was durch des Volks Verimingen und 
Sünden den Staat befleckt, auf sich selber nimmt und als das Seine 
trägt, der verdient in Wahrheit der königliche Stellvertreter des Volks 
vor den oberen Mächten zu heissen. Giebt Stan. Julien diese Verse 
wieder durch die Worte : Cebii qui Supporte les epprohres du roycaime 



• 335 

detnent chef du royaume;, so ist diess, wie man sieht, nicht Über- 
setzung, sondern Erklärung. Übrigens ist nicht vom Gelangen zur 
Reichswürde die Rede, wobei das Opfer des schwarzen Stieres 
stattfand , sondern von dem , was zu ihrer wesentlichen Ausfüllung 
erforderlich sey. — Im dritten Verse heisst/i/ ihsiäng Unglücksfälle, 
Missgeschick, und es sind damit die unglücklichen Ereignisse 
gemeint, welche den Staat in seinem natürlichen Bestände treffen, 
wie feindliche Überfälle , Missernten , Hungersnöthe , verheerende 
Seuchen, Überschwemmungen u. dgl. Wenn der Regierende auch 
diese als sein eignes Unglück trägt, so bezeugt das^ seine selbstlose 
Hingebung an das Volk und adelt ihn als dessen 'ächten König und 
Herrscher. Dies will der letzte Vers sagen , und nicht dass* man 
durch diess Verhalten zur Königswürde gelange. 

^) Dsijän alterthümlich im Reim axkch Jan betont wird, so sind 
diese Schlussworte vielleicht ein Reimspruch : tsching jhn sjofän = 
rede dicta velut contraria; etwa : Wer »Wahrheit lehrt, spricht als ver- 
kehrt«. Chalmers giebt statt Übersetzung die gute Sinnerläuterung : 
Thh is the language of strict truthy though it seems paradoxical. — 
Das Wort des Evangeliums : »Die Sanftmüthigen werden das Erdreich 
besitzen« , und das Wort des Apostels : »Wenn ich schwach bin, so 
bin ich stark«, sind ganz solche Paradoxen, wie die unsres Kapitels. 



Neunundsiebzigstes Kapitel. 

Versöhnt man grossen Groll, so bleibt sicherlich 
Groll übrig. Wie kann man gut machen ? * Daher der 
heilige Mensch übernimmt den linken Vertrag, und nicht 
eintreibt vom Andern.^ Wer Tugend hat, besorgt den 
Vertrag ; wer keine Tugend hat, besorgt das Auszehnten. * 
Des Himmels Tao hat keine Günstlinge, immerdar giebt 
er dem guten Menschen. ^ 

*) Es wird nicht fehlen, dass auch der beste Fürst noch Wider- 
sacher hat, und wenn er sie auch durch Milde und Herablassung — 
durch jene edle Schwäche und Weichheit — tiberwindet {Kap. 78K 
so dass sie dem Versöhnenden sich versöhnt zeigen, so kann er doch 
die Wurzel ihrer Feindschaft nicht aus den Herzen reissen , denn 
darin haftet diese, dass sie nicht gut sind, tmd es ist ja nicht möglich, 
wie Jeder einsieht — das liegt in der Frage — , sie auch gut zu 
machen. 

2) Nur der gute, der heilige Mensch ist im Stande, bei einer 
Aussöhnung alle seine Forderungen, auch die berechtigtsten, fallen 
zu lassen und dem Andern die seinigen zuzugestehn. Die Interpreten 
berichten (s. Stan. Julien, S. 284, A 3.), in alter Zeit seien die Ver- 
träge auf Holztäfelchen geschrieben worden, dergestalt, dass auf die 
linke Seite die zugestandene Verpflichtung, auf die rechte die stipu- 
lirte Berechtigimg gekommen; dann sey das Täfelchen durchgebrochen 
und jedem Contrahenten sein Theil zur Aufbewahrung gegeben. Bei 
Anforderung der Erfüllung sei die Richtigkeit des Contracts durch 
Aneinanderhalten des Bruchs constatirt worden. Hiemach wird das 
Bild verständlich. Das Verhältniss zu Widersachern, die man ver- 



337 

gebens gründlich auszusöhnen sucht, wird mit einem Vertrage ver- 
glichen, dessen Verpflichtungen der heilige Mensch allein übernimmt, 
ohne Forderungen an den Anderen beizutreiben. 

^) Das Bild vom Vertrage wird fortgesetzt. Die Worte jeü tfy 
»der da hat Tugend«, wobei der Nachdruck dMijeü liegt, machen die 
Voraussetzung, dass man sey, was der letzte Satz sagte, nehnüich ein 
heiliger Mensch, der folglich den linken Vertrag, d. h. den verjiflich- 
tenden Theil desselben übernommen habe. In diesem Falle »besorgt 
man den Vertrag«, sse khiy d. h. man achtet darauf, denselben 
seinerseits zu erfüllen; denn sse heisst »walten, verwalten, besorgen, 
Huram gerere^y und besorgt man den Vertrag, so erfüllt man die 
daraus übernommenen Verpflichtungen. Hat man keine Tugend, 
so hat man bereits den rechten Theil des Vertrags mit seinen 
Rechtsansprüchen an sich genommen, und »besorgt das Auszehnten«, 
d. h. die Beitreibung des vertragsmässig Gebührenden. TschKe war 
unter der Tscheu-Dynastie ein ordentlicher Zehnten, der von den 
Ackerbauern für ausgethanes Land eingefordert wurde. Das Wort 
bedeutet, gerade wie unser Zehnten, nicht bloss die Abgabe, sondern 
auch die Erhebung derselben, das Zehnten, Zehntziehen oder Aus- 
zehnten. Stan. Julien giebt statt Übersetzung die treffende Erklänmg 
der Stelle : C est pourguoi celui gut a de la vertu songe ä donnery celui 
gut est Sans vertu songe ä demander. Indessen geht damit das Bild 
verloren, das den heiligen Menschen, der seine Feinde zu versöhnen 
bemüht ist, als einen solchen darstellt, der in dem dadurch ent- 
stehenden, vertragsahnlichen Verhältnisse nur die I^eistungen über- 
nimmt ohne Gegenleistung zu verlangen, während der Nicht-Tugend- 
liche, als welcher der Widersacher des heiligen Menschen gewisslich 
anzusehen ist, seinen ganzen Zehnten aus diesem Verhältnisse einhebt. 

^) Wir haben thtan tob hier geradezu durch »des Himmels Taö« 
übersetzt, da tob Satzsubject ist, und die Prädicate des Satzes sich 
auf einen blossen Gemeinbegriff, ein Verfahren, Verhalten, Weise, 
nicht anwenden lassen. Es ist hier ersichtlich, wie in diesen letzten 
Kapiteln ebensowol der Begriff des höchsten Prinzips in den der ihm 
eignenden Erweisung übergeht, als die Bezeichnung desselben in 
den volksüblichen Ausdruck »Himmel«. Es scheint Laö-ts^ in diesem 
praktischen Theile seines Buches auf eine schärfere Auseinander- 
haltung der Begriffe nicht mehr anzukommen. Vom Himmel oder 

22 



338 

Taö wird nun gesagt, er habe nicht ths'm. Nah verwandte oder Ver- 
wandtenliebe, d. h. er bevorzuge Niemand, er habe keine Begünstigte, 
denen er vor Anderen seine Gaben zuwende ; stets aber gebe er den 
Guten. Schwerlich ist diess hinzugefügt, um den heiligen, den guten 
Menschen desto williger zum Geben zu machen durch die Aussicht, 
dass der Himmel es ihm ersetzen werde. Es bliebe dann nicht bloss 
unerklärlich, weshalb dabei vom Himmel verneint werde, dass er 
Günstlinge bevorzuge, sondern es würde auch das Thema, welches 
durch das Bild vom contractmässigen Geben und Fordern nur erläu- 
tert wird, verlassen, um das Bild zum Thema zu machen. Anders 
ist es, wenn man den Zweck des Satzes darin findet, dass der heilige 
Mensch auch hierin dem Himmel nachzuahmen habe. Dann ist der 
Gedankengang des Kapitels folgender. Da man Feinde nie ganz ver- 
söhnt, weil man sie nicht zu guten Menschen machen kann, so kümmert 
der heilige Mensch sich nicht weiter darum, ob sie ihm seine Gaben 
und Wolthaten auch von Herzen vergelten. Er betrachtet diese als 
Verpflichtimgen, die er zu erfüllen habe, fordert von den Anderen 
nichts, und folgt darin dem Verfahren des Himmels, dass er Niemand ' 
bevorzugt, gegen gute Menschen aber immer freigebig und wolthätig ist. 



Achtzigstes Kapitel. 

Eines kleinen Landes weniges Volk' — mache, 
dass es das Rüstzeug von zehn Aldermännern habe, 
und nicht gebrauche^; mäche, dass das Volk ungern 
sterbe, und doch nicht in die Ferne auswandere^; ob- 
gleich es Schiffe und Wagen hat, sie nicht zu besteigen 
habe^; obgleich es Panzer und Waffen hat, sie nicht 
anzlegenhabe^; mache, dass das Volk wiederum Schnüre 
knote , und sie gebrauche :^ ■ — so ist ihm süss seine 
Speise, schön seine Kleidung, behaglich seine Wohnung, 
lieb seine Sitte.' Das Nachbarland ist gegenüber zu 
sehen, der Hühner und Hunde Stimmen sind gegenüber 
zu hören, und das Volk erreicht Alter und Tod ohne 
hinübergekommen zu seyn.^ 



^) Ehe der Verfasser zum Schlüsse übergeht, malt er in engem 
Rahmen das Bild eines glücklichen Völkchens, wie es durch Anwen- 
dung seiner Regierungsgrundsätze sich in Sittlichkeit, Genüge, 
Frieden und Sitteneinfalt ausbilden würde. Man ftihlt der Darstellung 
die Wärme ab, die ihn dabei dtu-chdrungen ; selbst der Satzbau ist 
diessmal reicher ausgebreitet als sonst. Dass Laö-ts^ gewünscht 
habe, ein kleines Lehnftirstenthum zu erhalten, um es nach seinen 
Grundsätz^i zu regieren, ist möglich, aber nicht zu beweisen, und 
weder sein Buch noch die Überlieferung enthalten Andeutungen 
darüber. Auch in diesem Kapitel ist nichts davon zu finden, und es 
bietet keinen Anlass, zu übersetzen , als rede er hier in der ersten 
Person. Nur entdecken wir- eine unverkennbare Vorliebe fiir kleine 



22* 



340 

Länder mit geringer, wenig zahlreicher (kuh) Bevölkerung, und «lass 
die Eingesessenen kleiner Länder in der Regel glücklicher und zu- 
friedener sind, auch aus vielen Gründen es eher seyn können, als 
die Angehörigen grosser Staaten, wird nur von denen geleugnet, 
welche entweder die kleinen Länder nicht kennen, oder das bürger- 
liche Glück an falschen Zielen suchen. Merkwürdig ist es immerhin, 
dass Laö-ts^ zu dieser Ansicht gelangt ist, nachdem er lange Jahre 
dem so umfangreichen Staate der Tscheu gedient. 

2) Die Auslegung der Worte seh) pe tschi khi'xsX zweifelhaft. Schi 
ist das Zahlwort Zehn, auf Menschen angewendet, denaniis hom'mum 
nufnerus. Fe (138), wie es fast alle Ausgaben haben, ist zusammen- 
gesetzt aus »Mensch« und »weiss, hell, hervorleuchtend«, und bedeutet 
»Älterer, Höherer, auch die dritte Rangstufe des alten Reichsadels« 
(Morrison : a senior^ a superior) überhaupt »ein Vorsteher« (>*!€ in 
tsüng pe = Vorsteher des Ceremoniels, u»ü pe = Heerführer) ; also 
TTpeapuTspo? als Amtsname, »Aldermann«. Tschi ist das Genitiv- 
zeichen zu sc hl pe. Was aber bedeutet khlr Es heisst bekanntlich 
»Gefäss, Werkzeug, Geräth, Rüstzeug«, und in übertragener Bedeutung 
»Brauchbarkeit, Fähigkeit«. Hiemach kann unter khi ebensogut die 
amtliche Ausrüstung der Aldermänner, als deren Fähigkeit zu ver- 
stehen seyn; wir haben die Zweideutigkeit in der Übersetzung zu 
bewahren gesucht. Der Sinn ist wol jedenfalls, dass es als ein glück- 
licher Zustand angesehen wird, wenn das Volk eines kleinen Staates 
(die kleinsten Fürstenthümer waren etwa fiinf Quadratmeilen gross) 
nur zehn zu ihrem Amte wolgerüstete Aldermänner besässe und selbst 
diesen Wenigen keinen Anlass gäbe, ihre Ausrüstung zu gebrauchen, 
weil weder Anklagen, Streitigkeiten, noch Unordnungen oder Ver- 
brechen vorkämen. Stan. Julien schreibt statt dem pe No. 138 mit 
einer einzelnen Ausgabe das/^ No. 179, was »hundert Mann« heisst, 
und erklärt khi durch //«^ iW/,»Kriegsgeräth«; wornach zu übersetzen 
wäre : »mache , dass es Kriegsgeräth für zehn oder hundert Mann 
habe, und nicht gebrauche«. So sehr sich diese Auslegung empfiehlt, 
so ist doch nicht anzunehmen, dass La6-ts^ gerade in dieser gedräng- 
ten Schilderung ganz denselben Gedanken zweimal habe vorbringen 
wollen, da von dem Nichtgebrauch der Panzer und Waffen hernach 
ausdrücklich geredet wird. H6-schäng-küng, der vor tschi noch ein 
sjtn einschiebt, versteht unter khi Ackerbaugeräth , welches nicht 



341 

gebraucht, d. h. nicht hervorgeholt werde, um den Leuten nicht die 
schöne Zeit zu rauben. Eine solche Auslegung ist nur möglich bei 
gänzlichem Missverstande der Lehre Laö-ts6's vom Nicht-Thun. 

•^) Da es die durch Vorbild des heiligen Regenten bewirkte 
Sittenreinheit ist, welche die Aldermänner unnöthig macht, so ist die 
Liebe zum Leben, welche macht, dass das Volk schwer oder ungern 
(tschüng) stirbt, mithin denTodftirchtet, zwar nicht mehr erforderlich 
um es von Verbrechen zurückzuhalten, wol aber könnte sie ihm 
ein Anlass werden, das Land zu verlassen und in die Feme auszu- 
wandern, wenn etwa die Zustände in der Heimath unerträglich 
würden. Drum wird als ein weiterer Strich zu dem Gemälde hinzu- 
gefugt, die Zustände seien so glücklich, dass sie den Menschen nicht 
bloss das Leben lieb, sondern auch dessen Genuss im Heimathlande 
wünschenswerth machen und dadurch eine bleibende Anhänglichkeit 
an dasselbe gründen; was denn freilich eine milde, väterliche 
Regierung voraussetzt , die des Volkes Kraft, Zeit und Gut auf alle 
Weise schont und ihm möglichst freie Selbstentwicklung gestattet. 

^) Zum engeren Gebrauch täglichen Verkehrs haben die Leute 
Schiffe und Wagen, was aber könnte sie veranlassen, dieselben zu 
Reisen zu besteigen? Doch nur Wünsche und Begierden nach Dingen, 
die sie daheim vermissten, nun aber nicht entbehren, weil sie die- 
selben nicht kennen, oder nicht begehren, weil ihnen genügt was sie 
besitzen. (Vgl. Kap. 3, Anm. 5). Noch Hesse sich denken, sie 
müssten sie besteigen, um vor eindringenden Feinden zu flüchten ; 
aber wem wird ihr friedfertiger Landesfürst Anlass geben, ihn zu 
bekriegen? Genügsam und friedlich verharren sie in ihren Wohn- 
sitzen. 

'^) Besitzen die Leute für Nothfalle auch Schutz- und Trutz- 
waffen, so werden sie doch nie in den Fall kommen, sie anzulegen, 
sich damit zu rüsten (tschhtn)y denn ihr Fürst hat keine Feinde und 
strebt nicht nach Thaten und Ruhm, sie selbst sind friedfertig und 
hassen Keinen. 

®) Im Anhange zum Jiking , dem Hftsö , wird berichtet , das 
hohe Alterthum habe sich des Knotens von Schnüren anstatt der 
Schrifl bedient, ein Verfahren, wie man es auch bei den alten Mexi- 
canern vorgefunden hat. Laö-ts^, wie wir wiederholt sahen, ist auf 
das verhängnissvolle Band aufmerksam geworden, das höhere Geistes- 



342 

cultur und Sittenverderbniss aneinanderbindet, und sein Hass gegen 
die letztere erstreckt sich auch auf die erste. Rühmt er es daher als 
glücklichen Zustand ^ dass das Völkchen jenes kleinen Staats zur 
Anwendung des Schnüreknotens zurückkehre, so ist ihm diess nur 
Bezeichnung für dessen Rückkehr zur anfanglichen Sitteneinfalt, wo 
die Menschen noch »unverarbeitetes Holz« (plw)', noch unverkünstelt 
und natürlich-einfach sind. 

') Alle vorausgegangenen Sätze verhalten sich wie bedingend 
zu diesen Aussagen, so dass das Kapitel bis hierher gleichsam eine 
längere Periode bildet. Ist die Lage des Volkes so, wie dort gesagt 
wurde, so wird es in all seinen Zuständen glücklich und befriedigt 
seyn, was denn doch das Endziel jeder Regierung seyn sollte. 

^) So sehr wird das kleine Volk in seinem engen Glück sich 
begnügt finden , so sehr sein beschränktes Heimathland lieben, so 
fern seyn von allen darüber hinausstrebenden Wünschen, dass es die 
Leute lebenslang auch nicht einmal in das dicht angränzende Nach- 
barland hinübertreibt. Mit Recht erinnert ein chinesischer Ausleger, 
welchen Gegensatz diese idyllische Schilderung bilde zu dem un- 
ruhigen, leidenschaftlichen, kriegerischen Treiben damaliger I^andes- 
fiirsten, bei dem die Völker vernachlässigt wurden, litten, verarmten 
und in Unordnung und Zügellosigkeit verdarben. 



Einundachtzigstes Kapitel. 

Wahre Worte sind nicht angenehm.; angenehme 
Worte nicht wahr. ^ Wer gut ist, redekünstelt nicht ; wer 
redekünstelt, ist nicht gut.^ Wer erkennt, ist kein Viel- 
wisser; wer Vielwisser ist, erkennt nicht. ^ Der heilige 
Mensch sammelt nicht an : je mehr er für die Menschen 
verwendet, desto mehr hat er; je mehr er den Menschen 
gegeben, desto reicher ist er. ^ Des Himmels Weise ist, 
wolthun und nicht beschädigen ; des heiligen Menschen 
Weise, thun und nicht streiten. ^ 



*) Eine Nachrede zum ganzen Buche ist diess Schlusskapitel : 
es sagt, was sonst wol Vorreden sagen, die auch zuletzt geschrieben 
werden. In seinen allgemeinen Aussprüchen giebt es zuvörderst 
Rechenschaft über die Form der Darstellung .und über die Beschrän- 
kung des Inhalts, sodaiii) über das Motiv der Abfassung, und schliesst 
unter Hindeutung auf das Prinzip mit einem Satze, der sowol das 
Verhalten des Verfassers im Ganzen rechtfertigen, als auch dem 
Leser ein gleiches Verhalten zur Welt empfehlen kann. — Auf wahre, 
treue, ehrliche Worte oder Rede (sin Jan) kam es Laö-ts^ an, und 
so meint er geschrieben zu haben , aber er weiss , dass er sich mit 
seinem Zeitalter im Gegensatz befindet, dass diesem solche Rede 
nicht mundet^ sie ist ihm nicht süss , nicht angenehm. Denn diess 
ist die Gnmdbedeufung von m^if »süss, lieblich«, da es sonst, auf die 
Gestalt übertragen, gewöhnlich »schön« heisst. Hier kann es diese 
Bedeutung nicht haben, da Wahr und Schön durchaus nicht in dem 
Widerspruche stehen, dass Wahrheiten nicht auch schön gesagt 
werden könnten, ohne an ihrem Wesen einzubüssen, was einem 



344 

Denker wie Laö-tsd kein Geheimniss war (vgl. Kap. 62}. Noch 
weniger liegt in den Worten pü mit eine Andeutung von der Über- 
flüssigkeit fremden Schmuckes für wahre Reden. Weil aber die 
Menschen im Allgemeinen der Wahrheit nicht hold sind , da diese 
sie immer straft und verletzt, auch wenn sie die schönste Form hätte, 
darum kann Laö-ts^ es als allgemeinen Satz hinstellen , dass wahre 
Worte nicht angenehm seyen. Und freilich ist dann auch das Um- 
gekehrte richtig , dass Reden , die den Leuten angenehm und süss 
sind, nicht wahr seyn können. 

2) Wer gut ist , oder der Gute , schin tscht , ist im ethischen 
Sinne zu verstehn , aber nicht auf das Handeln , sondern auf das 
Seyn zu beziehen. Was von dem Guten gesagt wird , das er nicht 
thue , — pidn , heisst im guten , hier also nicht anwendbaren Sinne, 
»unterscheiden, entscheiden , abtheilen« , auch »prüfen, erforschen, 
ausfindig machen« ; im schlimmen Sinne, »listig reden, sophistisiren, 
vernünfteln , redekünsteln« , und so ist es hier zu fassen. Der Satz 
lehnt sich an den vorigen. Wer gut ist, redet die Wahrheit, und 
das Bewusstseyn, dass diese die Menschen nicht anmuthet, kann ihn 
nicht veranlassen, listig sophistisirend den Leuten nach dem Munde 
zu reden. Vielmehr wer diess thut, ist nicht sittlich gut, ihm 
mangelt der ernste sittliche Untergrund. Damit deutet unser Ver- 
fasser denn auch an, dass er bei seinem Streben nach sittlich gutem 
Verhalten nicht habe darauf ausgehen können, durch Verdrehung 
der Wahrheit sich den Leuten aiigenehm zu machen. 

^) Erkennen steht hier im prägnanten Sinne, — das Höchste, 
einzig Erkennenswerthe erkennen. Ohne Zweifel bezieht sich diess 
auf das Erkennen Taö's, aber sicherlich nicht auf das Erkennen der 
Taö-Gelehrten. Fo^ das wir durch »Vielwisser seyn« wiedergegeben, 
heisst ursprünglich »ausdehnen, ausbreiten«, auch »herumhören, sich 
überall umthun« , und letzteres auch in Bezug auf Wahrnehmungen, 
weshalb H6-schäng-küng sagt, po sey Einer, der vieles geseheft, 
gehört und nicht erkannt. Einen Solchen, dessen Wissen nur in die 
Breite und nicht in die Tiefe wahrer Erkenntniss geht , nennen wir 
»Vielwisser«. [Po hio heisst Polyhistor.) Vermisst demnach der 
Leser bei La6-ts^ ein in die Breite gehendes Wissen , so soll er 
bedenken, dass ihm auch nur Erkenntniss xat' iEo/T^v geboten 
werden sollte. Wer auf diese sich concentrirt , bedarf weder , noch 



345 

sucht er ein Vielwissen; wer in letzterem seinen Geist zerstreut, 
kann zu jener nicht gelangen. 

'•) Nie nennt Laö-ts^ sich selbst schlug sßriy einen heiligen 
Menschen, obgleich er verschiedentlich andeutet, dass er gleich 
diesem verfahre oder doch zu verfahren suche. Nur in diesem 
Sinne erwähnt er auch hier das Verfahren des Heiligen. Ob das 
Object von tsi, »ansammeln, aufhäufen«, zeitliche oder geistig- 
sittliche Güter seyen, drückt der Text unmittelbar nicht aus. Er 
passt auf beide. Ohne daher die ersteren auszuschliessen, sind doch 
vornehmlich wol die letzteren gemeint, die man auch nicht als einen 
todten Schatz aufhäufen soll , sondern dann erst wahrhaft besitzt, 
wenn man sie für Andere verwendet , und die dann erst viel oder 
mehr werden (tö) , wenn man sie Andern giebt. Das l wH (nicht 
w^i) heisst hier »verwenden für« — , indem t Zeitwort und wH 
Präposition ist. Nach Sinn und Zweck des Kapitels müssen wir in 
diesen Sätzen zugleich einen Fingerzeig sehen, weslialb Laö-tse, 
ähnlich verfahrend, sich zur schriftlichen Mittheilung seiner geistigen 
Erwerbnisse und Reichthümer entschlossen ; undjjann enthielten sie 
eine feine Ablehnung des Dankes dessen , für den er zunächst 

geschrieben. 

*) Noch einmal , um auch zum Schlüsse an das grosse Prinzip 

zu erinnern, mit dem das ganze Buch begann und auf dem es beruht, 
wird des Himmels und des heiligen Menschen Verfahrensweise tah 
(oBo;) genannt, und Laö-ts^ hat uns hinreichend grosse Tiefen 
gezeigt, um ihm zuzutrauen, er wolle damit andeuten, dass eben- 
derselbe Ta6 das wirke, was vom Himmel, wie das, was vom heiligen 
Menschen ausgesagt wird , gleich als stände da : Des Himmels Taö 
(Taö im Himmel) thut wol, und beschädiget nicht; des heiligen 
Menschen Taö (Taö im heiligen Menschen) thut, und streitet nicht. 
Wird dem Himmel Wolthun und Nicht- Wehethun zugeschrieben, so 
.weiset das Thun des heiligen Menschen* in dem' folgenden Parallel- 
satze hierauf zurück, da, wie H6-schäng-küng erinnert, das was der 
Himmel thut des Heiligen Vorbild und Gesetz ist. Vom Himmel 
heisst es : // öllpü hätj und // heisst als Zeitwort nicht sowol »nützen«, 
als »wolthun, erhalten, ernähren«; hdi aber »schaden, verletzen, 
wehethun«. Vom heiligen Menschen heissts: w^i oll pü tseng^ »er 
thut und streitet nicht« . E r t h u t — imd damit wird der Begriff 



346 

des so oft erwähnten Nicht-Thuns in die gehörigen Schranken 
zurückgebracht, auf welche vorkommenden Falls hinzuweisen auch 
nicht tmterlassen worden ist. Er bestreitet Niemanden etwas, — 
denn seine Polemik und Apologetik besteht lediglich in Thun und 
Sieyn. Der Zweck dieses Ausspruchs dürfte seyn, dass auch La6-tse 
— vielleicht mit Bezugnahme auf sein Leben, gewiss rücksichtlich 
seiner Lehre — verfahren haben wolle, wie der heilige Mensch ver- 
fahrt , und dass er dem Leser zum Schluss andeuten wollte : Gehe 
hin und thue desgleichen. 



Anhang. 



TSCHUANG-TSE'S 

Erzählung von dem Gespräche Khüng-tse's 

mit Lao-tse. 

(Nän hba tschin kingy kiüan S-)*) 

Khüng-tsd wandelte einundfiinfzig Jahr und hörte nicht von 
Taö. Da besuchte er am südlichen Ph^i Laö-tan. * 

*) Für geschichtlich glaubwürdig dürfte nur der Bericht Sse-m^-thsiäns 
über den Besuch Khüng-tse's bei unserm Altmeister zu halten seyn. Die 
nachfolgend mitgetheilte Erzählung des geistreichen Philosophen Tschuäng- 
tse, der Lao-tse an Tiefe nicht erreicht, in der Form aber übertrifft, ist 
zwar um mehr als zwei Jahrhunderte älter, kann aber auf geschichtliche 
Zuverlässigkeit nicht mehr Aftsprüche machen, als die Darstellungen Platon^s 
von den Gesprächen des Sokrates. Sie ist jedoch in vieler Hinsicht so 
bedeutsam und lehrreich, dass ihre Mittheilung hier am Schlüsse des Ganzen 
wol am Platze erschien. Auch hier wurde genau und mit möglichstem 
Anschluss an die Wendungen des Grundtextes übersetzt, dessen Formen 
unter uns noch so unbekannt sind, dass der Leser wol mit Shakespeare's. 
Horatio ausrufen möchte: *Beim Himmel, dieses ist erstaunlich fremd«! Er 
lasse sich aber hierauf von Hamlet antworten : »So heiss' als einen Fremden 
es willkommen«! Jede Befreundung mit einer bisher unbekannten Geistes- 
form ist eine geistige Bereicherung. Einige erklärende Anmerkungen sind 
auch hier unerlässlich. 

1} Man sieht, dass Tschuäng-tse den Besuch später setzt, als die be- 
glaubigte Überlieferung. Im 51. Jahre Khüng-tse's hatte der ältere Meister 
schon über hundert Jahre gezählt. Ph^i.hiessen zwei Flüsse, von denen der 
nördliche in der Provinz Schän-sT. der südliche in der Provinz H6-nÄn ent- 
springt. Man erinnere sich^ dass Tän Lao-tse's Ehrenname im Tode war. 



• 348 

La6-tän sprach : Der Herr kommt um mich zu hören ; der 
Herr, welcher der Weise der Nordlande ist. Hat der Herr auch 
Ta6 gefunden? 

Khüng-tsd sprach : Noch nicht gefunden. 

La6-ts^ sprach : Scheute es der Herr, ihn zu suchen ? 

Er sprach : Ich suchte ihn in Maass und Zahl fünf Jahr und 
fand nicht. 

La6-ts^ sprach : Scheute der Herr es dann, ihn zu suchen ? 

Er sprach : Ich suchte ihn im Ruhenden und Thätigen zwölf 
Jahr und fand nicht. 2 

La6-ts^ sprach : Ja, wäre er ein Weg (tab) und könnte betreten 
werden, so würde kein Mensch ihn nicht betreten vor seinem Fürsten ; 
war' er eine Strasse (tab) und könnte gegangen werden , so würde 
kein Mensch ihn nicht gehen bei seinen Verwandten ; wäre er eine 
Lehre (tab) und könnte Andre ermahnen, so würde kein Mensch 
seine Brüder nicht ermahnen; wäre er eine Regel (tab) und man 
könnte sie Andern geben, so würde kein Mensch sie seinen Kindern 
und Enkeln nicht geben. ^ Aber wer nicht kann, hat Ihn nicht.* 
Im Innern hat er kein Prinzip und steht nicht fest, im Äussern hat 
er keine Richtschnur und geht nicht fort. Wer aus dem Inneren 
heraustritt, bekommt das Äussere nicht. Der heilige Mensch tritt 
nicht heraus. Wer vom Äusseren hereintritt, hat kein Prinzip für das 
Innere. Bleibt der heilige Mensch nicht verborgen, so rühmt man 
ihn als brauchbares Werkzeug; mehr kann er nicht erreichen.* — 



2, Das Ruhende und Thätige. jm und Jäng der Chinesen, als Prinzipien 
gedacht, entspricht am meisten unserm »Stoff und Kraft«. Vgl. Lao-tse, 
Kap. 42, Anm. 2. 

^) Die Aussagen, welche dem Worte tao in diesen Sätzen jedesmal 
beigefügt sind, zeigen, dass der Redende von diesem vieldeutigen Worte 
immer nur eine deijenigen beschränkten Bedeutungen ins Auge fasst, welche 
sich Khüng-ts^ angeeignet hatte. Mit alle diesen bleibt man aber dem 
grossen Tao als absolutem Prinzip noch ganz fem. 

^) Ta6 selbst ist absolutes Können. Wer ihn hat, kann im Sittlichen 
(wohin die vorigen Sätze wiesen) Alles. Der sittlich Unvermögende, Nicht- 
könnende, hat ihn nicht. 

^, Nur Ta6 kann das Prinzip für ein innerliches Leben seyn und diesem 
beständige Haltung geben, und nur diese Voraussetzung zeichnet auch den 



349 

Menschenliebe und Gerechtigkeit war der ehemaligen Könige äusser- 
lich Gehaben. Ruhig konnten sie an Einem Ort verweilen, aber sie 
konnten nicht lange bleiben. Sie hatten Gegner und wurden viel 
getadelt. Die grössten Menschen des Alterthums kamen durch Ta6 
zur Menschenliebe , und verliessen sich darauf bei der Gerechtigkeit 
zu verweilen. Wenn sie wandernd und umherstreifend der Speisen 
ermangelten, suchten sie aufs Gerathewol, was auf dem Felde stand ; 
bot sich da nichts, so streiften sie in den Gärten umher ohne Thun. 
Aufs Gerathewol suchend, wechselten sie die Nahnmg. Bot sich 
nichts, so gingen sie nicht aus. Die Alten nannten diess, das 
Wandern auf Glauben wählen. An dem Reichen , der diess that, 
konnte man die Einkünfte nicht tadeln ; an dem Erlauchten , der 
diess that, konnte man den Namen nicht tadeln. * — Wer Autorität 
liebt, darf Andern das Heft nicht geben. Hält er es fest, so wird er 
gefürchtet ; lässt er es los, so wird er bemitleidet und das Ganze hat 
keinen Spiegel, um seine Stellung zu beobachten. Wer nicht schonet, 



richtigen Gang für das äusserliche Leben und führt auf ihm vorwärts. Wer 
dann aber nicht vor Allem nach dem trachtet, was inwendig in ihm ist, 
dem fallt auch das Äussere nicht zu. Wer sich in der Äusserlichkeit des 
Lebens und der Dinge angesiedelt hat und damit in die Innerlichkeit ein- 
treten will, findet sich hier ganz prinziplos. Wenn der heilige Mensch, 
dessen inneres Leben verborgen ist in Ta6, hieran kein Genüge hat und 
aus der Verborgenheit ins Äusserliche heraustritt, so kann er es höchstens 
zu dem Ruhme eines sehr brauchbaren Mannes bringen und befördert werden, 
während doch seine eigentliche Aufgabe weit darüber hinausliegt. 

^; Menschenliebe und Gerechtigkeit waren Khung-ts^'s moralische Schlag- 
wörter. La6-ts^ zeigt, dass diese nur den Werth eines Abgeleiteten haben. 
Diejenigen alten Könige, welche sie äusserlich darzustellen strebten, hätten, 
wenn sie Ruhe gehabt , ihre Pflicht daheim verrichten können, nun aber trieb 
es sie umher, um sich nach den Grundsätzen der Menschenliebe mid Gerechtig- 
keit überall thätig zu erweisen, und eben dadurch erwuchs ihnen nur Feind- 
schaft und Tadel. Nicht so die grossen Adepten [tschi sjtn, 8676, 91} des 
Alterthums. Diese hielten sich vor Allem an Ta6, das verlieh ihnen Menschen- 
liebe, dem vertrauten sie es an, auch bei der Gerechtigkeit zu beharren. Die 
Ausübung dieser Tugenden machten sie aber nicht zu ihrem Geschäft. Ver- 
zichtend auf die Vortheile des Reichthums oder einer berühmten Herkunft, 
damit Niemand sagen könne , sie stützten ihre Autorität auf diese, wählten 
sie das im Text beschriebene »Wandern auf Glauben«. 



350 

ist des Himtnels Scharfrichter fürs Volk. ' — Zürnen und Wolthun, 
Nehmen und Geben , Schelten und Belehren , am Leben Erhalten 
und Tödten , diese acht sind des Gerecliten Werkzeuge. Nur wer 
eine grosse Veränderung herbeigeführt hat, ohne dabei unterzugehn, 
ist im Stande sie anzuwenden. Darum sagt man: Der Recht- 
schaffene schafft Recht. Wess Herz nicht also beschaffen , dem ist 
des Himmels Pforte nicht aufgethan. ® — 

Da Khüng-ts^ Laö-tan besuchte und dabei auch der Menschen- 
liebe und Gerechtigkeit gedachte y sagte Laö-tän : Säet man Spreu 
aus und blendet die Augen , so verwandeln Himmel und Erde und 
alle Weltgegenden ihre Stellung. Zerstechen Mücken imd Fliegen 
die Haut, so schläfl man die ganze Nacht nicht. Wenn Menschen- 
liebe und Gerechtigkeit dergestalt quälen , dann erbittern sie unser 
Herz und nichts empört mehr. ^^ Bewirke mein Herr , dass die Welt 
ihre Natureinfalt nicht verliere , so wird mein Herr auch die Sitten 
herstellen, und sie kommen in Gang, die Tugend einfuhren, und sie 
besteht. Aber wie gescheidt, wenn man die grosse Trommel trägt 
und doch den Kindern entgehen will ! ^^ Die Wildgans badet nicht 



'^) Auf Autorität beruhen Ordnung und Sicherheit des Ganzen. Ohne 
strenge Gerechtigkeit kann der Regierende den ihm hierfilr vom Himmel 
gegebenen Auftrag nicht vollziehen. 

8) Auf der richtigen Vertheilung von Gütigkeit und Strenge beruht alle 
Regierungskunst, und nur der beweist, dass er sie besitzt, der dem allgemeinen 
Verderben widerstanden und dabei Sieger geblieben. In ihm lebte das 
Rechte und darum konnte er das Rechte herstellen. Die Schlussworte be- 
ziehen sich auf das ganze Vorhergesagte. Wer nicht durch Ta6 die rechte 
Gütigkeit und Strenge, die rechte Weise .beide zu vertheilen, Autorität zu 
erhalten und zugleich auf alles Eigne zu verzichten gelernt hat, dem ist des 
Himmels Pforte nicht aufgeschlossen. Die Ausleger sind über die Bedeutung 
dieses Ausdrucks uneinig. Es muss doch wol heissen: Er ist von dem 
Himmlischen (Ta6) ausgeschlossen und desäen Segen kann nicht auf ihn 
kommen. 

^) Khüng-ts^ bringt seine Prinzipien, Menschenliebe und Gerechtigkeit^ 
zur Sprache. Diese, auf sich selbst gestellt, meint Lao-ts^, sind Spreu ohne 
Korn; sie ausstreuen, verblendet nur über die wahren Verhältnisse; mit ihnen 
sich den Menschen aufdrängen^ peinigt und erbittert nur. Blosse Moral, 
ohne die Grundlage göttlichen Lebens, widerstrebt der Menschennatur ^ die 
auf diese Grundlage hin angelegt ist. 

. ^^) Khüng-ts^'s Lehre dient nur, die Menschen zu verkünsteln und ihr 
Wesen zu verfälschen; reine Sitte im Leben, ächte Sittlichkeit im Herzen 



351 

täglich und ist weiss, der Rabe wird nicht t^lich geschwärzt und ist 
schwarz. Die Einfachheit des Schwarzen oder Weissen genügt nicht, 
um unterschieden zu seyn. Die Äusserlichkeit des Ruhms und Lobes 
genügt nicht, um gross zu seyn. ** Versieget die Quelle , sogeben 
die Fische einander Platz auf dem Grunde , bespritzen einander um 
sich anzufeuchten , drängen einander um besprudelt zu werden : — 
besser, sie vergessen einander in Fluss und See. ** 

Khüng-ts^, vom Besuch bei La6-tän zurückgekehrt, redete drei 
l'age lang nicht. Die Schüler fragten ihn und sprachen : Der Meister 
hat Laö-tän gesehen ; wie möchte er ihn wol schildern ? 

Khüng-ts^ sprach : Jetzt habe ich wahrhaftiglich da den Drachen 
gesehen ! Der Drache rollte sich zusammen und war ganz verkörpert, 
er entrollte sich und war ganz vollendet. Er stieg auf mit Wolken 
und Winden und speisete mit Jin und Jäng. ^-^ Mein Mund stand 
offen, und ich konnte nicht athmen. Wie soll ich La6-tän weiter 
schildern ? 

Ts^-küng*^ sprach: Ja, dawar ein Andrer gewiss eine Leiche, 
verweilte er , und der Drache erschiene , Donner ertönte, und des 
Abgrunds Finsterniss bräche hervor unter Erschütterung Himmels 
und der Erde ! Beliebe aber auch , wenn es seyn kann , und erzähle 



sind nur möglich, wenn die, Menschen einfach und natürlich sind. Jener 
verlangt, dass Jeder bei Sitte und Sittlichkeit bleibe, aber er betäubt die 
Ohren mit der falschen Lehre, schleppt selbst die grosse Trommel, und ist 
der Thor, zu meinen, Kinder, die noch Einfalt und Natürlichkeit hieben, 
würden damit nicht verfuhrt werden. 

11) Zwei Lehren stehen einander gegenüber, wie Weiss und Sch\varz. 
Was eine jede ist, ist sie aus ihrem eignen Wesen; diess wird man aber 
nur kennen lernen , wenn man beide vergleicht ; daraus wird ihr Werth 
hervorgehn. Die einzelne, für sich allein betrachtet, zeigt ihn nicht, und 
ihr Verkündiger wird durch alles Preisen — etwa der Kinder, die hinter 
seiner grossen Trommel herlaufen >— noch kein grosser Mann. 

1*^) Die Quelle ist Ta6, das gegenseitige Verhalten der Fische, die mit 
Versiegen der Quelle ihr natürliches Element verlieren, ist Gleichniss der 
Gerechtigkeit und Menschenliebe. Nach Verlust des Göttlichen sind diese 
nur jämmerliche Nothbehelfe. Besser die Menschen brauchen ihrer nicht zu 
gedenken, weil sie in Fülle des Gotteslebens schwimmen. 

13) Die beiden schon bekannten Ausdrücke sind hier unübersetzt gelassen. 

1^) Ein im LUn-jU oft genannter Schüler Khüng-tsVs. 



352 

was folgte , als Khüng-tse's Stimme dem La6-tän zeigte , La6-tän 
seines Orts wolle einen Palast errichten und entspreche wenig. *^ 

Er sprach: Meine Jahre sind herum und ich gehe dahin. 
Warum will der Herr mich aufhalten ? *^ 

Ts^-küng sprach: Der drei Könige und der fünf Herrscher 
Reichsregierung *" war nicht Einunddasselbe : ihr Gemeinsames war 
die Einheit berühmter Namen , und wäre der Ehrwürdige allein etwa 
nicht für einen heiligen Menschen zu halten? ^^ Laö-tän hat gesagt : 
Kleine Meister — wenig Fortschritt! Womit hat der Herr ihm 
gezeigt, nicht Einunddasselbe sey das Entsprechende? *^ 

Er sprach: Jäo bestellte Schün, Schün bestellte jü; Jü ge- 
brauchte die Macht und Thdng gebrauchte die Waffen ; Wön-wdng 
gehorchte dem Tscheü und wagte nicht sich zu widersetzen ; Wü- 
wäng widersetzte sich Tscheü und war nicht gewillt zu gehorchen ; 



^^) Ts^-küng meint, sein Lehrer übertreibe wol, und werde nach dem 
ersten imponirenden Eindrucke den Alten bald seiner Unzulänglichkeit über- 
führt haben. 

1^ Diese Antwort zeigt Khüng-ts^ so überwältigt von dem Eindruck, 
den er empfangen, dass er seine Zeit für abgelaufen und sich selbst zum 
Abscheiden reif erklärt. 

17; Die chinesischen Gelehrten sind nicht einig, wer damit bezeichnet 
werde. Meist werden als die drei Könige (sän loäng) oder die drei Hoch- 
erlauchten (sän hoäng)^ die noch sehr mythischen Kaiser Fä-hi, Schin-nfing 
und Hodng-ti angenommen. Tschuäng-ts^ scheint nach dem Folgenden unter 
den fünf Herrschern [v ti) die Kaiser J&o, SchÜn, Ju, Thing und Wü-wäng 
zu verstehen. 

'S) Mit dem »Ehrwürdigen« (wörtlich »dem Vorgeborenen«, siän seng] 
l>ezeichnet der Redende seinen Lehrer Kh&ng-tse selbst. Der Sinn seiner 
Worte ist: Jene alten Kaiser werden verehrt, nicht weil sie auf einerlei 
Weise regiert hätten, sondern weil sie den Ruhm haben, heilige Menschen 
gewesen zu seyn, ein Ruhm, der auch Dir, mein I^hrer, gebührt und Dir 
allein nicht darum abgesprochen werden kann, weil Du nicht zu jenen 
grossen Kaisem gehörst. 

19) In dem angeführten Ausspruche La^-ts^'s sieht der Schüler eine 
missverständliche Zurücksetzung seines Lehrers. Allerdings, meint er, wirke 
Khüng-ts^ auf andere Weise, als jene alten Kaiser, aber diess, nehmlich 
»nicht Einunddasselbe« zu thun, sey bei den veränderten Verhältnissen gerade 
das Entsprechende, und er wünscht zu hören, wie Khung-ts^ diess dem 
Altmeister auseinandergesetzt habe. 



353 

darum heissts: »nicht Einunddasselbe«. ^^ Lad -tan hat gesagt: 
Kleine Meister — wenig Fortschritt ! Ich erinnere Dich an der drei 
Könige und der fünf Herrscher Reichsregierung. Hoäng-tfs Reichs- 
regierung machte des Volkes Herzen zu Einem : das Volk hat seiner 
Verwandten Tod nicht mit Klaggeschrei beweint, und das Volk 
sündigte nicht, ^i Jäo's Reichsregierung machte d^s Volkes Herzen 
verwandtenliebend : Das Volk hat bewirkt , dass seine Verwandten 
ihre Abstufung abstuften, und das Volk sündigte nicht. ^^ Schfin's 
Reichsregierung machte des Volkes. Herzen kräftig : die schwangeren 
Weiber des Volks gebaren im zehnten Monat Kinder , die Kinder 



Khüng-ts^ beantwortet die Fragen seines Schülers zuerst durch eine 
eigene Erörterung, dann .durch eine Erzählung aus seinem Gespräche mit 
Lao-ts^. In jener giebt er zuerst zu und weiset nach, wiefern das Verfahren 
der fünf Herrscher nicht Einunddasselbe gewesen sey. Dann aber, um 
Lao-ts^'s Ausspruch zu bestätigen, zeigt er an den drei ersten, die sich 
äusserlich noch am gleichmässigsten verhalten, worin ihre Wirkung eigent- 
lich bestanden , nehmHch in einer allgemeinen Umwandlung des Volks imd 
seilies Herzens und Geistes. Davon erfahre man bei den mythischen Kaisem 
noch nichts, weshalb auch die Natuü zu ihren Zeiten noch wild und un- 
geordnet gewesen ^ey. Nach Absicht des Verfassers soll Khung-tse damit 
einräumen , dass nur eine- allgemeine Wandlung oder Bekehrung des Volks 
das Werk eines nicht-kleinen Meisters, eines heiligen Menschen sey. — 
Schün wurde von JÄo und Jü von Schun zum Nachfolger ernannt. Die von 
JÜ gestiftete Hia-Dynastie endete" 1766 v. Chr., indem ihr letzter nichts- 
würdiger und schwelgerischer Spross von ThÄng, dem Stifter der Schäng- 
I>ynastie, gestürzt und vertrieben wurde. Tscheü (1154—^1123), der Letzte 
der Schäng, ein nichtswürdiger, boshafter und' grausamer Mensch, trieb das 
Volk zur Verzweiflung. Alles wandte sich zu dem edlen vielgepriesenen 
Lehnskönig W4n-wftng um Abhülfe, allein er wollte die. Lehnspflicht nicht 
brechen und blieb gehorsam. Nach seinem. Tode aber ergriiT sein Sohn 
Wü-wÄng die Waffen, stürzte den Tyrannen und gründete die Tscheu- 
Dynastie. Die Stifter der verschiedenen Kaiserhäuser verfuhren demnach 
nicht auf einerlei Weise. 

^) Unter Hodng-ti war das ganze Volk zu einer solchen Einheit ge- 
macht, dass Nahverwandte und Fremde noch nicht unterschieden wurden, 
und weil man diesen Unterschied nicht kannte , war kein Unrecht ,' was aus 
dieser Unbekanntschaft folgte. 

^) Unter J&o kam es zur Erkenntniss der Verwandtschaft, denn das 
Volk war durch ihn dazu bekehrt. Descendenten wurden den Ascendenlen 
unterworfen, und obgleich diess den früheren Zustand abänderte, war es doch 
kein Unrecht, sondern ein Fortschritt. 

23 



354 

lebten fünf Monat und konnten sprechen ; sie kamen nicht bis zu 
Enkeln und fingen an — was? Dann fingen sie an den Himmel zu 
haben. *^ Jti's Reichsregierung machte des Volkes Herzen anders : 
die Männer hatten Herz und die Waffen hatten Folge ; Räuber tödten 
war kein Tödten ; die Männer machten von selbst Ordnung imd das 
Reich hörte es ; daher das Reich höchlich erstaunte, als die Meiige 
Gelehrter aufkam , diese den Anfang machten Unterscheidungen zu 
haben, und jetzt — wie Weiber sind die Mädchen! Was soll mah 
sagen? 2* — Ich erinnere Dich an der drei Hochcrlauchten und der 
ftinf Herrscher Reichsregierung. Ihr Ruhm heisst, sie regierten, und 
doch war die grösste Unordnung. Unter der Herrschaft der drei 
Hocherlauchten verkehrte das Oben der Sonne und des Mondes 
Schein , das Unten entzweite die Berg- und Flusswesen , die Mitte 
zerrüttete die Ordnung der vier Jahreszeiten. Unter ihrer Herrschaft 
war Qual von Schlangen und Skorpionenschwänzen ; keins der schön- 
gestaltigen Thiere kam zu Ruhe nach dem Triebe seiner natürlichen 
Bestimmung und wie sie von selbst thun. Die heiligen Menschen 
konnten sich nicht schämen bei ihrem Mangel an Scham. ^^ 



^) Eine abermalige Wandlung unter Schiin: allgemeine Erkräftigimg 
des Volkes an Körper und Begabung. Die Worte : »sie fingen an den Himmel 
zu haben« erklären die Ausleger: "Konnten sie jene (entfernteren Nach- 
kommen) nicht bei sich behalten, so waren ihre Herzen sUik, sich von 
ihnen zu trennen, drum endete ihre bestimmte Lebenszeit >— »Himmelsjahre«, 
t/iian ntan — nicht«. Sehr unwahrscheinlich! Die einleitende emphatische 
Frage weist auf Bedeutsameres. Vielleicht soll gesagt seyn: noch ehe sie 
Enkel hatten, also schon im kräftigsten Mannesalter, schlössen sie mit dem 
Irdischen ab, um nur noch für das Überirdische zu leben. 

2*) Neue Wandlung; Muth und Tapferkeit traten hervor, und Waffen 
schallten Ordnung, die Gesellschaft gliederte sich, Bildung und Wissenschaft 
begannen, und deren zahlreiche Vertreter lehrten zuerst auf Unterschied des 
Geschlechts, Alters, Lebensstandes zu halten. Bis dahin gekommen, unter- 
bricht sich der Redende durch einen Blick auf die Gegenwart, wo der Ver- 
fall der Sitten so weit ist, dass Mädchen sich wie verheirathete Frauen 
benehmen. 

V) Von der Gesittung und Bildung der Menschen hängt die Gestalt der 
sie umgebenden Natur ab, sogar der Zustand der Atmosphäre, and was 
dieser bedingt. Da es unter den drei mythischen Kaisem an jener Cultur 
gebrach, so war auch die ganze Natur noch wild und ungeordnet, dazu voll 
schädlicher giftiger Thiere, imd die heiligen Hocherlauchten konnten sich 
dess nicht schämen, da sie noch nichts Besseres kannten. 



355 

Ts^-küng zuckle mit den Füssen und stand unruhig. 2« 
Khüng-ts^ redete mit Laö-tän und sprach: Khieu^' redigirte 
das Schi, Schü, Li, Jo, Ji, TschhHn-thsieu, die sechs kanonischen 
Bticher, und beschäftigte sich lange damit. Wer weiss, warum das? 
In den Texten haben zweiundsiebzig Fürsten den Weg (tob) der 
früheren Könige kundgemacht und die Fusstapfen sämmtlicher An- 
forderungen ins Licht gestellt. Der einzelne Fürst hat nicht , von 
dessen Anwendung oft am meisten abhängt. Jene Männer sind 
schwer auszulegen; wäre der Weg (tob) denn nicht schwer ein- 
zusehen? ^^ 

La6-ts^ sprach ; Glücklicherweise trifft es den Herrn nicht, die 
Fürsten dieser Zeit in Ordnung zu bringen ! ^9 Jene sechs kanonischen 
Bücher sind der früheren Könige dargelegte Fusstapfen. Wodurch 
wurden sie ihre Fusstapfen denn ? Was die heutigen Meister reden, 
gleicht Fusstapfen. Die Fusstapfen Jener traten, was sie kund- 
thun ; ^^ und wie traten die Fusstapfen ? — Wenn die weissen Nt- 



^j Ein eingeschobener Satz, wie eine Parenthese. Es beunnihigt Tse- 
küng, so von den allgepriesenen Grossen der Vorzeit seinen Meister reden 
zu hören. Das Nachfolgende ist Bericht Khüng-ts^^s an seinen Schüler über 
sein Gespräch mit La6-ts^. 

^ Khieu ist der Milch- oder Kindheitsname Khüng-ts^'s, mit welchem 
er aus Bescheidenheit in der Regel sich selbst bezeichnet. Aus seinem 
Munde wird hier das zu Anfang berichtete Gespräch der beiden Philosophen 
weiter erzählt 

^jl Khung-ts^ kennt T a 6 nicht anders , denn als den rechten * Weg« 
des Verhaltens und Thuns. Um diesen kennen zu lernen und zu lehren, 
hat er die sechs King in Ordnung gebracht, aber sein Verständniss findet er 
immer noch schwer, da jene schwer auszulegen seien. 

^) Eine ironische und zugleich doppelsinnige Beglückwünschung, denn 
einmal heisst es: Dir wird es nicht begegnen, die Fürsten dieser Zeit zu 
leiten, zurechtzufiihren ; dann aber auch: Ein Glück für Dich, dass Du die 
'Fusstapfen« der heutigen Fürsten nicht auch zu redigiren hast. 

^) Indem La6-ts^ hiermit den Unterschied der grossen Alten und der 
Meister seiner Zeit charakterisirt , wird zugleich sein Brocardicon: 'Kleine 
Meister — wenig Fortschritt« — rechtfertigend erläutert. Die Fusstapfen 
der Alten waren Fusstapfen, denn sie zeigten, wie sie selbst gewandelt. 
Jetzt wird vom rechten Wandel nur geredet, das gleicht Fusstapfen, aber 
es sind keine. 

23* 



356 

Gänse einander anblicken, regen sich ihre Augapfel nicht, und doch 
wandelt sich ihr Zustand. Wenn Insectenmännchen von obenher 
summen , so entgegnen ihnen die Weibchen von untenher , und ihr 
Zustand wandelt sich. An Geschlecht sind sie von selbst männlich 
oder weiblich, drum wandelt sich ihr Zustand. ^^ Die Natur kann 
nicht gewechselt, die Bestimmung kann nicht geändert, die Zeit 
kann nicht aufgehalten, Taö kann nicht ausgeschlossen werden. 
Wenn man zu Taö kommt , geschieht es nicht von selbst, und man 
kann's nicht ; ihn verlieren , geschieht auch nicht von selbst , aber 
man kann es. .''^ — 

Khüng-ts^ ging drei Monate nicht aus; dann wiederholte er 
den Besuch und sprach : Khieü hats gefunden ! Junge Elstern und 
Fische halten sich an die Dunkelheit. Wer wenig verlangt, wird 
gewandelt. Giebts einen jüngeren Bruder, so weint der ältere. 
Schon lange bewirkte dieser Khieu keine Wandlung bei den 



^1) Die von ihm selbst aufgeworfene Frage , wie jene Alten denn ver- 
fahren^ beantwortet Lao-tse durch ein paar Gleichnisse. NT erklärt Morrison 
durch: a ceriain waier birdj said to conctwe by looking cU each otker. Eine 
ähnliche Wirkung legte man dem blossen Summen geflügelter Insecten bei. 
*flfer heilige Mensch, meint Lao-tse, verhält sich zum Volke, wie in den 
beiden Gleichnissen das männliche Geschlecht zu dem weiblichen. Richtet 
1^ heilige Mensch seine Augen auf das Volk, so blickt, das Volk auf- 
merksam nach ihm, — giebt er droben sich zu erkennen, so entspricht 
ihm drunten das Volk und dessen Zustand . [füng, was zugleich Sitte heisst,) 
wird gewandelt, d. h. es wird ohne weiteres Dazuthun geistig und sittlich 
befruchtet. 

82j Jene Wandlung erfolgt dann nach ewigem Gesetz : die Eigenschaften 
des Männlichen und Weiblichen können sich nicht verleugnen; die damit 
verbundene Aufgabe kann nicht abgeändert werden; die vollendende Zeit 
kann nicht ausbleiben; Tao — hier ganz in Lao-ts^'s Sinne als .das all- 
durchdringende göttliche Prinzip zu fassen — Tao kann nicht zurückgehalten 
werden und wird sich manifestiren. Von sich aus kommt Keiner zu Tao, 
das ist unmöglich. Hat man ihn, so verliert man ihn auch von selbst nicht 
wieder, aber man kann ihn verlieren; — die treffendste Beschreibung der 
Freiheit in Gott, womach der Wille, bei der steten Möglichkeit des Gegen- 
theils, treu im Göttlichen beharrt. 



357 . 

Menschen. Bewirkt man keine Wandlung bei den Menschen , so 
vermag Ruhe die Menschen zu wandeln. ^^ 

La6-ts^ sprach : Khieu könnte das erreichen. 3* 



88) Khüng-ts^, nach dreimonatigem Sinnen über das Gehörte, glaubt es 
nun gefasst zu haben. Wie die Elstembrut und Fische, sagt er, sich, um 
ungefährdet heranzuwachsen, im Dunkeln halten, so kann auch der Mensch 
nur in dunkler Unscheinbarkeit und Weltentsagung (wenig fordernd und 
erwartend, jäo^ 9S54) zu seiner rechten Entwicklung kommen, welche innere 
Wandlung, Bekehrung, (jieTdtNoia ist. Damit aber wird dann ein Neues 
geboren, vor dem der alte Mensch seine Zurücksetzung schmerzlich empfindet. 
So lange ich auch schon um die Menschen mich mühe, zu. Gewandelten, 
Bekehrten habe- ich sie nicht machen können. Kann man dazu nichts thun, 
so sehe ich ein. dass man sich ihnen nur in Ruhe selbst als Gewandelten 
darstellen und abwarten müsse, dass auch sie, dadurch angefasst, von selbst 
sich wandeln. 

84) Bezeichnete Lao-tse seinen Besucher hiermit einfach bei seinem 
Milchnamen, so wäre das eine grobe Unhöflichkeit. Aber schon die Wort- 
stellung im Chinesischen — kho Khieu U tscht t — zeigt, dass gesagt seyn 
solle: Kannst Du Khieu- seyn, d. h. wieder zu einem anspruchlosen, un- 
befangenen, bildsamen Kinde werden, dann wirst Du es erreichen. — 
Tschuäng-tse, der das Gespräch hiermit schliesst, war allerdings der Meinung, 
dass es Khüng-tse nie dazu gebracht habe. 



'• 



Druck « ca Brcitko|>r and Haitel in Leipzig. 



Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig. 



! 



AN INITIAL FINE 07 26 CENTS 

WILL BE AaaESSES POR rAILURK TO RRTURK 
TKia BOOK ON THE DATE DUE. THE PENALTY 
WILL INCREABE TO SO CENTS ON THE POURTH 
DAY AND TO «I.OO ON THE BKVENTH DAY 
OVERDUE. 



JUL 26 1940 



JAW 28 tun 



RECO LP 



AU S 2 9 1 9 56 



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"TEcrcnoötrrr^ 



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