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Full text of "Das Leben Jesu; Harmonie der Evangelien nach eigener Übersetzung. Nach der ungedruckten Handschrift in ungekürzter Form"

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IM  AUFTRAG  DER  SOCIETE 

DES  AMIS  DE  L'UNIVERSITE 

DE  PARIS 


G.W.  F.  HEGEL 

DAS  LEBEN  JESU 


HARMONIE  DER  EVANGELIEN 
NACH  EIGENER  ÜBERSETZUNG 


NACH  DER    UNGEDRUCKTEN 

HANDSCHRIFT  IN  UNGEKÜRZTER 

FORM  HERAUSGEGEBEN  VON 

PAUL  ROQUES 


VERLEGT  BEI  EUGEN  DIEDERICHS  JENA    1906 


VORWORT 


s  ist  in  der  letzten  Zeit  der  Wunsch  nach  einer 
ungekürzten  Ausgabe  der  von  Rosenkranz  nur 
imAuszuge  mitgeteilten  theologischen  Fragmente 
Hegels  (Vgl.  Rosenkranz,  Hegels  Leben,  Berlin 
1844,  S.  490 — 514)  mehrmals  laut  geworden.  In 
dem  auf  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin  befind- 


lichen Hegeischen  Nachlaß  nehmen  alle  theologischen  Fragmente 
aus  Hegels  Jugendzeit  drei  Bände  ein.  (Bd.  7,  Das  Leben  Jesu, 
Harmonie  der  Evangelien  nach  eigener  Übersetzung,  1794 — 95. 
Bd.  8,  Verhältnis  der  Vernunftreligion  zur  positiven  Religion, 
1795 — 9^-  Bd.  II,  Theologica,  1793 — 96.  Über  den  Begriff  der 
Religion,  1800).  Wir  bringen  im  vorliegenden  Bande  einen  un- 
gekürzten Abdruck  des  7.  Bandes  des  Nachlasses.  Ferner  sind 
aus  Bd.  1 1  alle  Bruchstücke  hinzugekommen,  die  unzweifelhaft 
zum  Thema  des  Lebens  Jesu  gehören.  Somit  dürften  alle  auf 
die  Person  Jesu  bezüglichen  Fragmente,  ausgenommen  die  in 
Bd.  8  enthaltenen,  zur  Herausgabe  gelangt  sein. 

Orthographie  und  Interpunktion  haben  wir  den  modernen 
Regeln  angepaßt,  sonst  aber  den  Urtext  genau  wiedergegeben.  Die 
in  Kursivschrift  stehenden  Wörter  haben  wir  zur  Ergänzung  oder 
grammatischen  Verbesserung  des  Manuskripts  hinzufügen  müssen. 
Die  von  Hegel  ausgestrichenen  Stellen  sind  beibehalten  worden, 
stehen  aber  in  eckigen  Klammern.  Von  Erläuterungen  und  Ver- 
gleichen mit  Parallelstellen  aus  dem  übrigen  noch  ungedruckten 
Material  haben  wir  grundsätzlich  abgesehen,  da  erst  nach  Heraus- 
gabe des  ganzen  Nachlasses  an  eine  erschöpfende  Kritik  gedacht 
werden  kann.  Ebenso  haben  wir  auf  eine  kritische  Anordnung 
der  oft  nur  lose  zusammenhängenden  Fragmente  verzichtet,  viel- 
mehr dieselben  in  gleicher  Reihenfolge  abgedruckt,  wie  sie  im 
Manuskript  zusammengeheftet  sind ;  denn  eine  solche  Anordnung 
hätte  vielleicht  willkürlich  geschienen  und  jedenfalls  nur  unter 
Weglassung  oder  Austrennung  von  ganzen,  schwerlich  einzu- 
fügenden Stellen  zustande  gebracht  werden  können.  Bruch- 
stücke, Paralipomena  liegen  uns  vor,  die  doch  einmal  ohne  jede 
Veränderung  seitens  des  Herausgebers  abgedruckt  werden  mußten, 


VI  VORWORT 


die  aber  jedermann  nun  für  sich  deuten  und  anordnen  darf.  Für 
unser  Teil  haben  wir  die  Lektüre  des  stellenweise  schwerver- 
ständlichen Textes  durch  kurze  Inhaltsangabe  zu  erleichtern  ver- 
sucht, sowie  ein  Register  aufgestellt.  Möge  die  vorliegende  Aus- 
gabe des  Lebens  Jesu  dazu  beitragen,  der  Hegeischen  Philosophie 
zu  neuer  Anerkennung  zu  verhelfen  und  manchen  Leser  zur 
Durchsicht  und  weiteren  Herausgabe  des  ungedruckt  gebliebenen 
Hegeischen  Nachlasses  anregen. 

Der  Generaldirektion  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin,  die  uns 
bereitM'illigst  die  Erlaubnis  zur  Durcharbeitung  sämtlicher  Hand- 
schriften und  zur  Herausgabe  des  Lebens  Jesu  erteilte,  sprechen 
wir  unsern  Dank  aus. 


EINLEITUNG 


ertvoUe  Angaben  über  das  Leben  Jesu  befinden 
sich  bei  Rosenkranz  und  Haym,  denen  der  ganze 
Nachlaß  vorlag,  und  zwar  hat  Rosenkranz  (Hegels 
Leben,  1844,  S.  49 — 53)  hauptsächlich  die  Ent- 
stehungsgeschichte, Haym  (Hegel  und  seine  Zeit, 
1857,  S.  46 — 53)  die  philosophische  Tendenz 
und  das  psychologische  Interesse  von  Hegels  Jugendwerk  berück- 
sichtigt. Keiner  der  folgenden  Biographen  aber  hat  Einsicht  in 
die  Manuskripte  genommen.  Am  gründlichsten  haben  Caird 
(1883),  K.Fischer  (190 1) und  Drews (Hegels  Religionsphilosophie, 
Diederichs  Verlag,  1905,  Historische  Einführung  S.  XL — XLVII) 
das  schon  vorhandene  Material  verwertet. 

Im  Herbst  1793  verließ  Hegel  nach  bestandenem  Kandidaten- 
examen das  Tübinger  Stift,  weilte  einige  Wochen  in  seiner  Vater- 
stadt Stuttgart  und  nahm  darauf  eine  Hauslehrerstelle  bei  einem 
Berner  Patrizier,  Herrn  Steiger  von  Tschugg,  an,  die  er  bis  Ende 
1796  bekleidete.  Aus  den  damals  von  Hegel  an  Schelling  ge- 
schriebenen Briefen  geht  hervor,  daß  Hegel  von  seinem  Amt  in 
Bern  sehr  in  Anspruch  genommen  war.  «Ganz  müßig  bin  ich 
nicht,  aber  meine  zu  heterogene  und  oft  unterbrochene  Be- 
schäftigung läßt  mich  zu  nichts  Rechtem  kommen»  (an  Schelling, 
24.  Dez.  1794;  vgl.  Briefe  von  und  an  Hegel,  herausg.  von  Karl 
Hegel,  1887.  S.  7).  Dazu  kam  der  Mangel  an  Lektüre  in  Bern 
selbst  und  noch  mehr  auf  dem  Lande,  denn  im  Frühling  und 
Sommer  wohnte  die  Familie  des  Herrn  Steiger  aufschloß  Tschugg, 
in  der  Vogtei  Erlach,  am  Bieler  See  gelegen.  «Meine  Entfernung 
von  allen  Büchern»,  so  klagt  Hegel,  «und  die  Eingeschränktheit 
meiner  Zeit  erlauben  mir  nicht,  manche  Idee  auszuführen,  die  ich 
mit  mir  herumtrage»  (Jan.  1795 ;  vgl.  Briefe,  S.  12).  Daraus  erklärt 
sich  die  bruchstückartige  Form  der  Notizen,  die  Hegel  in  dieser 
Zeit  niederschrieb,  und  die  teils  das  Wesen  der  Religion  und  die 
Möglichkeit  einer  Volksreligion,  teils  die  christliche  Lehre  und  die 
Person  Jesu  zum  Gegenstande  haben  (Nachlaß,  Bd.  7  und  11).  Erst 
nachdem  mehrere  von  diesen  Fragmenten  aufgezeichnet  waren, 
schrieb  Hegel  im  Frühjahr  1795  das  eigentUche  «Leben  Jesu»  nieder. 


VIII  EINLEITUNG 


Nicht  spurlos  war  die  Aufklärung  an  Hegel  vorübergegangen. 
Er  war  der  kirchlichen  Dogmatik,  dem  dumpfen  Beharren  «im 
System  des  Schlendrians>  höchst  abgeneigt  (vgl.  Brief  an  SchelUng, 
Jan.  179 5)  und  bewegte  sich  ganz  in  Lessingschen  Anschauungen, 
als  er  folgende  Einleitung  zu  einer  unausgeführt  gebliebenen  Dar- 
stellung der  christlichen  Religion  schrieb:  «In  bezug  auf  die  Sache 
selbst  wird  hier  bemerkt,  daß  überall  der  Grundsatz  zum  Fun- 
dament aller  Urteile  über  die  verschiedene  Gestalt,  Modifikationen 
und  Geist  der  christlichen  Religion  gelegt  worden  sei,  daß  der 
Zweck  und  das  Wesen  aller  wahren  Religion  und  auch  unserer 
Religion  Moralität  des  Menschen  sei  und  daß  alle  speziellen  Lehren 
des  Christentums,  alle  Mittel  dieselben  auszubreiten,  alle  Pflichten 
zu  meinen  und  sonst  an  sich  willkürliche  Handlungen  zu  beob- 
achten, nach  ihrer  näheren  oder  entfernteren  Verbindung  mit 
jenem  Zweck  in  Ansehung  ihres  Wertes  und  ihrer  Heiligkeit  ge- 
schätzt werden»  (Nachlaß  Bd.  11).  Im  subjektiven  Gefühl  schien 
ihm  der  Hauptwert  der  Religion  zu  liegen :  «Inwiefern  ist  Religion 
zu  schätzen.^  Als  subjektive  oder  als  objektive?  In  Ansehung  der 
Empfindung  vorzüglich?  Die  objektive  ist  vielmehr  Theologie. 
—  Auf  subjektive  Religion  kommt  alles  an.  Diese  hat  eigentlich 
wahren  Wert.  Die  Theologen  mögen  sich  über  die  Dogmen, 
über  das,  was  zur  objektiven  Religion  gehört,  über  die  näheren 
Bestimmungen  dieser  Sätze  streiten;  jeder  Religion  liegen  einige 
wenige  Fundamentalsätze  zugrunde,  die  nun  in  den  verschiedenen 
Religionen  mehr  oder  minder  modifiziert,  verunstaltet,  mehr  oder 
weniger  rein  dargestellt  sind,  die  den  Grund  allen  Glaubens,  aller 
Hoffnungen  ausmachen,  welche  die  Religion  uns  an  die  Hand 
gibt.  Wenn  ich  von  Religion  spreche,  so  abstrahiere  ich  schlechter- 
dings von  aller  wissenschaftlichen  oder  vielmehr  metaphysischen 
Erkenntnis  Gottes,  unseres  und  der  ganzen  Welt  Verhältnisses 
zu  ihm,  usw.  Eine  solche  Erkenntnis  bei  der  sich  bloß  der  räso- 
nierende Verstand  beschäftigt,  ist  Theologie,  nicht  mehr  Religion. 
Von  objektiver  ReUgion  spreche  ich  nur  insofern,  als  sie  einen 
Bestandteil  der  subjektiven  ausmacht»  (Bd.  11).  Selbst  im  Jahre 
1796,  als  der  Sinn  fürs  historisch  Festgesetzte  in  ihm  lebendig 
wurde,  ließ  er  zwar  der  positiven  Religion  in  der  Abhandlung : 
«Über  das  Verhältnis  der  Vernunftreligion  zur  positiven  Religion» 


EINLEITUNG  IX 


(Nachlaß,  Bd.  8)  gewissermaßen  Recht  widerfahren,  aber  er  be- 
tonte nicht  sowohl  ihren  dogmatischen  als  ihren  psychologischen 
Wert;  er  erklärte  sie  aus  menschlichen  Herzensbedürfnissen  und 
fand  sie  nur  als  Volksreligion  berechtigt.  Er  war  jedem  Dogma- 
tismus so  sehr  abgeneigt,  daß  er  auch  den  aus  der  Aufklärung 
entsprungenen  bekämpfte,  nämlich  die  Tendenz  des  Kantischen 
Moralismus  wieder  in  Dogmatismus  umzuschlagen;  die  Ethiko- 
theologie  schien  ihm  wieder  zur  Physikotheologie  hinüberzu- 
leiten: «Zu  dem  Unfug,  wovon  Du  schreibst,  hat  unstreitig  Fichte 
durch  seine  Kritik  der  Offenbarung  Tür  und  Angel  geöffnet;  er 
selbst  hat  mäßigen  Gebrauch  davon  gemacht,  aber  wenn  seine 
Grundsätze  einmal  fest  angenommen  sind,  so  ist  der  theologischen 
Logik  kein  Ziel  und  Damm  mehr  zu  setzen.  Er  räsoniert  aus 
der  Heiligkeit  Gottes,  was  er  vermöge  seiner  moralischen  Natur 
tun  müsse  und  solle  und  hat  dadurch  ^die  alte  Manier,  in  der 
Dogmatik  zu  beweisen,  wiedereingeführt»  (an  Schelling,  Jan.1795, 
Briefe,  S.  11). 

Damit  aber  war  Hegel  über  die  Aufklärung  hinaus.  Die  Auf- 
klärung trug  noch  viel  Verstandesmäßiges,  Positives  in  sich,  viel 
moralische  Wertmaßstäbe  und  Nutzanwendungen ;  Hegels  Stand- 
punkt aber  war  nicht  der  der  diskursiven,  sondern  der  intuitiven 
Erkenntnis.  Dies  erhellt  z.  B.  in  seinem  «Leben  Jesu»  aus  seiner 
Besprechung  des  Eingangs  des  Johannesevangeliums,  wo  es  heißt: 
«Im  Anfang  war  der  Logos,  der  Logos  war  bei  Gott  und  Gott 
war  der  Logos»;  aber  diese  Sätze,  meint  Hegel,  sind  nicht  als 
gewöhnliche  Urteile  aufzufassen,  in  welchen  einem  Subjekt  ein 
Prädikat  hinzugefügt  wird;  Prädikat  und  Subjekt  sind  ein  und 
dasselbe,  ein  Seiendes,  Lebendiges,  denn  jedes  über  Göttliches  in 
Form  der  Reflexion  Ausgedrückte  wäre  widersinnig.  Desgleichen 
ist  das  Verhältnis  Gottes  zur  Welt  kein  toter  Zusammenhang, 
keine  Entgegensetzung  des  Vernünftigen  gegen  das  Sinnliche, 
sondern  eine  Verbindung,  die  wahrhaft  nur  als  lebendiger  Zu- 
sammenhang genommen  und  bei  welcher  von  den  Verhältnissen 
der  Bezogenen  nur  mystisch  gesprochen  werden  kann.  Daher 
durfte  sich  Jesus  als  Sohn  Gottes  bezeichnen ;  dies  Verhältnis  des 
Sohnes  zum  Vater  ist  nicht  bloße  Vereinigung  im  Begriffe,  sondern 
lebendige  Beziehung  Lebendiger,  gleiches  Leben,  nur  Modifika- 


X  EINLEITUNG 


tionen  desselben  Wesens;  Gottes  Sohn  ist  dasselbe  Wesen,  das 
der  Vater  ist,  zwar  für  jeden  Akt  der  Reflexion,  jedoch  auch  nur 
für  einen  solchen  ein  Besonderes.  Im  selben  Sinn  leugnete  Hegel 
das  Wunder.  Er  versuchte  nicht,  es  durch  verstandesmäßige 
Reflexion,  etwa  als  von  den  Jüngern  Jesu  nicht  verstandene  Natur- 
erscheinungen hinzustellen ;  er  leugnete  es  einfach  deshalb,  weil  es 
der  Vernunft  widerstreite.  Im  Wunder  als  einzelnem  Gescheh- 
nisse, meinte  er,  könne  sich  unmöglich  das  Göttliche  off"enbaren, 
denn  Göttliches  sei  nicht  Geschehendes,  sondern  Allgemeinseien- 
des; es  heiße  die  Vernunft  herabwürdigen,  wenn  man  die  Wunder 
exegetisch  zu  erklären  versuche,  denn  man  tue  schon  dadurch, 
daß  man  mit  den  Wunderverteidigern  auf  das  Feld  des  Verstandes 
heruntersteige,  der  Autonomie  der  Vernunft  Abbruch:  «Denn, 
wenn  man  auch  schon  von  jedem  einzelnen  Wunder  zeigen  könnte, 
daß  es  sich  natürlich  erklären  lasse,  so  hat  man  dem  Verteidiger 
schon  zu  viel  eingeräumt.  Auf  die  Führung  des  Streites  vor  den 
Richterstuhl  des  Verstandes  sich  einzulassen,  beweist  schon,  daß 
uns  die  Erzählung  von  Wunderbegebenheiten  stutzig  gemacht 
hat,  daß  wir  es  nicht  allein  vom  Standpunkt  der  Vernunft  aus 
wagen,  sie  von  der  Hand  zu  weisen,  sondern  daß  die  Tatsachen, 
die  man  uns  als  Wunder  ausgibt,  fähig  sein  könnten,  jene  Selb- 
ständigkeit der  Vernunft  umzustoßen»  (Vgl.  Rosenkranz,  S.  511). 
Dieselbe  Neigung  Hegels  nur  nach  dem  Ganzen  hinzustreben, 
das  Einige,  Lebendige  hervorzukehren,  macht  sich  auch  in  seinem 
Wegwerfen  jeder  positiven  Moral,  jeder  Sittenrichterei,  ja  selbst 
des  Kantischen  Imperativs  geltend.  Moralprinzipien  sind  für  den 
Menschen  ein  Fremdes,  Äußerliches,  ein  Entgegensetzen  des  Sein- 
sollenden und  der  Natur.  Am  Kantischen  Sittlichkeitsbegriffe 
hielt  doch  Hegel  insofern  fest,  als  er  dem  Menschen  das  Bewußt- 
sein seines  absoluten  Wertes,  seiner  Gottähnlichkeit  verschaffe. 
«Vom  Kantischen  System  und  dessen  höchster  Vollendung  er- 
warte ich  eine  Revolution  in  Deutschland.  Man  wird  schwindeln 
bei  dieser  höchsten  Höhe,  wodurch  der  Mensch  so  sehr  gehoben 
wird;  aber  warum  ist  man  so  spät  daraufgekommen,  die  Würde 
des  Menschen  höher  anzuschlagen,  sein  Vermögen  der  Freiheit 
anzuerkennen,  das  ihn  in  die  gleiche  Ordnung  der  Geister  setzt?» 
(An  Schelling,  16.  April  1795.    Briefe,  S.  15). 


EINLEITUNG  XI 


Aus  jenem  fortwährenden  Betonen  des  Vernünftigen  und  jenem 
Vertrauen  auf  die  Allmacht  des  menschUchen  Geistes  läßt  sich 
erkennen,  daß  Hegel  sich  schon  damals  über  das  Grundproblem 
seiner  spätem  Philosophie,  nämlich  das  Wirklichwerden  von 
Vernunft  und  Freiheit  durch  Überwindung  aller  beschränkenden 
Bestimmungen  klar  geworden  war.  Aber  er  hatte  noch  nicht  die 
ganze  spekulative  Kraft  seines  späteren  Denkens  erreicht;  daher 
hat  die  Art,  wie  er  jetzt  die  das  menschliche  Denken  und  Wirken 
hemmenden  Schranken  aufzuheben  versuchte,  noch  wenig  von 
der  späteren  Dialektik  an  sich.  Vielmehr  hat  sein  Philosophieren 
einen  starken  Zug  ins  Mystisch-poetische ;  seine  Weltanschauung 
ist  eine  überwiegend  ästhetische;  ist  doch  Schönheit,  wie  Ver- 
nunft, Versöhnung  der  Gegensätze,  Offenbarung  des  Absoluten. 
Am  tiefsten  ist  Hegel  damals  von  Dichtern  beeinflußt  worden. 
Schiller,  den  er  eifrig  las,  hatte  eben  durch  seinen  ästhetischen 
Idealismus  die  Gegensätze  überwunden,  bei  denen  Kant  stehen 
geblieben  war;  er  hatte  im  Ideal  der  «schönen  Seele»  Sinnlich- 
keit und  Sittlichkeit,  Neigung  und  Pflicht,  Notwendigkeit  und 
Freiheit,  Natur  und  Geist  versöhnt.  Hölderlin,  mit  dem  Hegel 
sich  auf  dem  Tübinger  Stift  befreundet  hatte,  begeisterte  ihn  für 
die  Schönheit  der  griechischen  Welt;  unzweifelhaft  schwebte 
Hegel  das  Griechentum  vor,  als  er  von  jeder  positiven  Religion 
eine  lebendige  Harmonie  von  Kirche  und  Staat,  ein  schönes  Ver- 
hältnis des  Gottesdienstes  und  der  übrigen  Lebensformen,  sowie 
Befriedigung  des  Gemüts  und  der  Phantasie  in  den  Grenzen  ver- 
nünftigen Glaubens  verlangte  (Nachlaß,  Bd.  ii).  Mit  Schelling 
endlich,  den  er  ebenfalls  auf  dem  Stifte  kennen  lernte,  hatte  er 
das  Bedürfnis  nach  Totalität,  nach  Auflösung  aller  Gegensätze  in 
unmittelbarer  Einheit  gemein;  bekanntlich  hörte  er  erst  ums  Jahr 
1803  ^uf,  der  SchelHngschen  Identitätsphilosophie  zu  huldigen 
und  versuchte,  nicht  durch  mystische  Anschauung  des  Absoluten, 
sondern  durch  schrittweise  durchgeführte  Dialektik  zur  Idee  vor- 
zudringen. 

So  mischen  sich  in  Hegels  damaliger  Bildung  der  Rationalis- 
mus der  Aufklärung,  ästhetische  Weltanschauung  und  über- 
schwengHche  Mystik.  Alles  dies  tritt  in  den  vorliegenden  Frag- 
menten deutlich  hervor.    Unter  denselben  nimmt  das  eigentliche 


XII  EINLEITUNG 


Leben  Jesu  eine  eigene  Stelle  ein.  Kein  Bruchstück  ist  es,  sondern 
ein  vollständiges  Manuskript  in  Reinschriftform.  Obgleich  Hegels 
Anlage  zum  Erzählen  gering  war,  bequemte  er  sich  doch,  das  rein 
Faktische  des  Lebens  Jesu  vorzutragen,  ohne  dasselbe  begrifflich 
zu  deuten.  Die  schlichte  Erzählung  macht  eben  deswegen  einen 
starken  Eindruck,  weil  Hegel  völlig  unbefangen  die  Geschichte 
Jesu  erzählt.  Ihm  war  Jesus  ein  bloßer  Mensch,  dem  zwar  das  Gött- 
liche rein  zum  Bewußtsein  gekommen  war,  der  aber  als  Mensch 
lebte  und  starb.  Von  den  Wundern  sah  Hegel  gänzlich  ab,  legte 
aber  das  Gewicht  auf  das  Predigen  Jesu.  Er  stellte  keinen  exege- 
tischen Vergleich  der  Evangelien  an,  da  ihm  wenig  am  geschicht- 
lichen Detail  lag  und  er  das  kirchlich-dogmatische  Interesse  des 
Neuen  Testaments  nicht  ins  Auge  fassen  wollte.  Nie  erregt  er 
durch  persönliche  Bemerkungen  Anstoß;  die  Erzählung  schreitet 
ruhig  vorwärts;  in  voller  Wirkhchkeit  erscheint  der  Mensch  Jesus, 
wie  er  mitten  unter  den  Juden  lebte  und  webte.  Einfach  realistisch 
ist  die  Darstellung.  Nach  der  Harmonie  der  Evangelien  faßte 
Hegel  die  Hauptereignisse  des  Lebens  Jesu  und  die  Hauptzüge 
seiner  Lehre  zusammen,  als  wäre  Jesus  ein  Sokrates  gewesen. 
Auch  hier  schwebten  ihm  in  der  Tat  griechische  Ideale  vor: 
nicht  als  Erlöser  der  leidenden  Menschheit  im  Sinne  des  Christen- 
tums, sondern  als  Philosoph  und  Held  wird  Jesus  hingestellt. 

Die  Fragmente  zerfallen  in  folgende  Teile:  i.  Moral  Jesu,  (seine 
neue  Beurteilung  menschlicher  Werte,  Liebe,  Versöhnlichkeit). 

2.  Religion,  (Reich  Gottes,  die  Taufe,  der  Mensch  als  Sohn  Gottes). 

3.  Geschichte,  (Verhältnis  Jesu  zum  Judentum,  Ausbreitung  seiner 
Lehre).  Meistenteils  sind  die  auf  Moral  und  Religion  bezüglichen 
Fragmente  kaum  als  ein  Kommentar  zum  Leben  Jesu  zu  betrachten. 
Das  Neue  Testament  gab  Hegel  nur  den  Anstoß  zur  Darlegung 
eigner  Anschauungen  allgemeinphilosophischen  Inhalts.  Hegels 
Tendenz,  das  Faktische  zu  logisieren,  tritt  deutlich  in  die  Er- 
scheinung. Es  war  ihm  hauptsächlich  darum  zu  tun,  den  Text 
der  EvangeUen  gedankenmäßig  zu  verarbeiten.  An  der  Lebens- 
geschichte und  Lehre  Christi  entwickelt  er  Begriffe,  und  zwar 
überhaupt  solche,  in  die  das  Element  der  Empfindung  und  mysti- 
scher Anschauung  hineinspielt,  als  da  sind  die  der  Liebe,  des  un- 
entzweiten  Lebens,  der  Vereinigung  mit  Gott  im  Glauben  usw. 


EINLEITUNG  XIII 


Der  Inhalt  jener  Fragmente  mag  in  logischer  Anordnung  folgen- 
dermaßen dargelegt  werden. 

Von  einem  Zustand  absoluter  Entgegensetzung  und  Zerrissen- 
heit ausgehend,  versucht  Hegel  den  Weg  zum  Zustand  völliger 
Einheit  und  Harmonie  zu  zeigen.  Bei  jeder  Zerreißung  natür- 
licher Bande  trete  unausbleiblich  dem  Menschen  das  verletzte 
Leben  als  Schicksal  entgegen,  eine  feindliche  Macht,  die  es  zu 
versöhnen  gelte.  Ais  solche  trete  zuerst  das  Gesetz  auf,  das  durch 
die  Strafe  befriedigt  werde.  Aber  das  Gesetz  sei  nur  eine  Ver- 
einigung im  Begriff,  nämlich  die  Gleichsetzung  des  verletzten  und 
des  eignen  verwirkten  Lebens.  Der  Verbrecher  bleibe  mit  der 
Welt  und  mit  sich  selbst  entzweit;  denn  Leben  sei  von  Leben 
nicht  verschieden,  und  indem  der  Verbrecher  fremdes  Leben  zu 
zerstören  und  sich  damit  zu  erweitern  vermeine,  habe  er  sein 
eignes  zerstört  und  die  Freundlichkeit  des  Lebens  in  einen  Feind 
verkehrt.  Erst  dadurch,  daß  er  im  Bewußtsein  seiner  selbst 
die  Zerstörung  seines  eignen  Lebens  fühle  und  sich  nach  dem 
Verlorenen  sehne,  vereinige  er  sich  mit  dem  verletzten  Leben 
und  versöhne  das  Schicksal.  Darin,  daß  das  Feindliche  als  Leben 
gefühlt  werde,  in  der  Liebe  also  liege  die  Möglichkeit  der  Ver- 
söhnung. Ein  reines  Gemüt,  eine  schöne  Seele  vergebe  die  Sünden, 
trete  in  die  Verhältnisse  der  Freundschaft  und  Liebe  sogleich 
wieder  ein.  Liebe  sei  völlige  Hingebung,  Verzichten  auf  Indivi- 
dualität, lebendige  Vereinigung  der  Gegensätze.  Diese  allgemein- 
philosophischen Motive  bilden,  sozusagen,  selbständige  Aufsätze 
(von  Rosenkranz  unter  dem  Titel  «Das  Schicksal  und  seine  Ver- 
söhnung», «Die  Liebe  und  die  Scham»  mitgeteilt;  vgl.  Hegels 
Leben  S.  493  ff.).  Aber  Hegel  bezog  sie  in  konkreter  Form  auf 
die  Lehre  Jesu.  Jesus  machte  es  sich  zur  Aufgabe,  jedes  Objektive 
zu  vernichten,  jedes  äußere  Gesetz  aufzuheben.  Die  Wurzel  des 
Judentums  war  das  Objektive,  d.  h.  der  Dienst  des  Fremden;  die 
Juden  waren  Knechte,  sie  gehorchten  widersinnigen  Satzungen 
und  Formeln,  sie  waren  mit  sich  selbst  entzweit.  Moralität  hebt 
diese  Entzweiung  auf,  aber  Moralität  (im  Kantischen  Sinne)  ist 
nicht  lebendige  Vereinigung  mit  dem  Gesetz  des  Lebens,  sondern 
selbst  Entzweiung,  Entgegensetzung  der  objektiven  Pflicht  und 
der  Neigung.   Vereinigung  findet  nur  in  Liebe  statt;  reine  Tugen- 


XIV  EINLEITUNG 


den  sind  nur  Modifikationen  der  Liebe.  Durch  Liebe  also  ver- 
suchte Jesus  die  Passivität  der  Juden  zu  überwinden ;  er  wollte  sie 
befreien,  ihre  beschränkten  Gesetze  zu  lebendigen  Beziehungen 
vervollständigen;  er  strebte  danach,  jede  Beschränkung  des  ge- 
wöhnlichen Daseins  aufzuheben,  stellte  also  keine  neuen  Satzungen 
auf;  seine  Parabeln  enthalten  kein  Fabula  docet,  sondern  stellen 
den  Fortgang  des  Lebendigen  dar. 

Das  Gesetz  als  Herrschendes  wird  also  durch  Tugend,  die  Be- 
schränktheit der  Moralität  durch  Liebe  aufgehoben;  dies  ist  der 
Sinn  der  Moral  Christi.  Dennoch,  so  führt  nun  Hegel  weiter  aus, 
ist  die  Liebe  als  Empfindung  unvollständiger  Natur.  Unbefriedigte 
Liebe  ist  pathologisch  und  bleibt  als  Sehnsucht  nach  unerreichtem 
Ideal  im  Zustand  der  Trennung  und  Zerrissenheit.  Zwar  ist  in  der 
glücklichen  Liebe  kein  Raum  für  Objektivität,  aber  jede  Reflexion 
stellt  die  Objektivität  wieder  her,  und  damit  beginnt  wieder  das 
Gebiet  der  Beschränkungen.  Erst  Religion  hebt  die  Schranken 
der  Liebe  auf,  denn  Religion  ist  Reflexion  mit  Liebe  vereint,  Er- 
kenntnis und  Verehrung  der  durch  Einbildungskraft  objektiv  ge- 
machten Liebe.  Wie  überhaupt  der  realistische  Sinn  Hegels  ihn 
stets  dazu  trieb,  in  seinen  idealistischen  Monismus  (Panlogismus 
oder  Pantheismus)  einen  starken  Zug  ins  Konkrete  einzumischen, 
jedes  Vernünftige  als  in  sinnlicher  Verkörperung  verwirklicht 
anzusehen,  so  räumte  er  auch  hier  dem  Theismus  soviel  ein,  daß 
Gott  objektive  Realität  habe,  freilich  nicht  in  dem  Sinne,  als  wäre 
er  ein  Fremdes,  wohl  aber  als  die  gestaltete  Liebe.  Wahre  Religion 
war  ihm  eine  Synthese  des  subjektiven  Gefühls  und  eines  objek- 
tiven Göttlichen,  wogegen  rein  subjektive  Religion  leicht  in 
Schwärmerei,  rein  objektive  in  Knechtschaft  übergehe.  Die  Ge- 
meine erkennt  sich  als  in  Gott  vereinigt;  Gott  ist  das  Bild  ihrer 
Einigkeit,  die  sichtbar  gewordene  Liebe  der  Gemeine,  und  die 
christUche  Religion  ist  die  Verehrung  des  verklärten  Jesus  als 
des  lebendigen  Bildes  Gottes.  Damit  ist  Religionsgefühl  nicht 
mehr  unauslöschlicher,  unbefriedigter  Trieb  nach  Vereinigung, 
sondern  vollendete  Harmonie.  Daher  konnte  Hegel  im  Abend- 
mahl keine  eigentlich  religiöse  Handlung  erblicken,  sondern  ledig- 
lich eine  Handlung  der  Liebe.  Wein  und  Brot,  meint  er,  seien 
kein  Göttliches,  da  sie  kein  bleibendes  Objektives  seien.  Dadurch, 


EINLEITUNG  XV 


daß  Wein  und  Brot  genossen  werden,  verschwinde  das  Bild,  worin 
sich  Anschauung  und  Gefühl,  Objektives  und  Subjektives  ver- 
einigen könnten.  Nach  dem  Genüsse  des  Abendmahls  kehre  die 
an  ein  Objektives  geheftete  Empfindung  von  dieser  Objektivität 
zu  ihrer  Natur  zurück  und  werde  wieder  bloß  subjektiv ;  es  ent- 
stehe bei  den  Christen  ein  wehmütiges  Staunen ;  es  war  etwas 
Göttliches  versprochen  und  es  ist  im  Munde  zerronnen.  Dagegen 
sei  Gott  als  Darstellung  der  die  Gemeine  vereinigenden  Liebe  ein 
wahrhaft  Objektives;  der  Zustand  vollständiger  Vereinigung  der 
Gemeine  im  Glauben  an  jenes  Objektive  sei  das  von  Jesu  ange- 
kündigte Reich  Gottes,  nicht  etwa  die  von  den  Juden  erwartete 
Weltherrschaft,  sondern  ein  Lebendigwerden  aller  menschlichen 
Beziehungen  durch  die  Liebe,  in  welcher  die  Mitglieder  der  Ge- 
meine Gott  und  sich  als  Gottes  Kinder  erkennen. 

Fand  aber  Hegel  in  der  Religion  Jesu  die  Bestätigung  seiner 
eignen  mystischen  Anschauungen,  so  verhehlte  er  sich  doch  nicht, 
daß  die  Lehre  Jesu  außerhalb  der  engeren  christlichen  Gemeine 
keinen  Anklang  gefunden,  keinen  Zustand  schöner  Freiheit  her- 
beigeführt habe.  Es  erübrigt  nur  noch  diese  seine  Würdigung 
des  der  Lehre  Jesu  beschiedenen  Erfolgs,  also  den  historischen 
Teil  seiner  Aufzeichnungen  kurz  darzulegen.  Der  erhabene  Ver- 
such Jesu,  das  jüdische  Schicksal  zu  überwinden,  mußte  in  seinem 
Volke  fehlschlagen,  und  er  selbst  ein  Opfer  desselben  werden. 
Die  Feindschaften,  die  Jesus  aufzuheben  suchte,  mußten  durch 
Tapferkeit,  nicht  durch  Liebe  überwältigt  werden.  Bald  trat  Jesus 
selbst  aus  der  ganzen  Existenz  seines  Volkes  heraus  und  sprach 
schonungslos  seine  ganze  Verachtung  gegen  die  jüdische  Knecht- 
schaft unter  objektiven  Geboten  aus.  Um  nicht  in  einen  Bund 
mit  dem  Gewebe  jüdischer  Gesetzlichkeiten  einzutreten,  suchte 
er  die  Freiheit  nur  in  der  Leere;  er  isolierte  sich  von  seiner  Mutter, 
seinen  Brüdern  und  Verwandten;  er  durfte  nicht  Familienvater, 
nicht  Mitbürger  werden  und  verlangte  dasselbe  von  seinen  Jüngern ; 
er  kam  nicht,  der  Erde  Frieden  zu  bringen,  sondern  das  Schwert; 
er  lebte  ohne  Genuß  in  der  negativen  Tätigkeit  des  Kampfes  und 
fand  keine  Aussöhnung  des  Schicksals,  sondern  Schicksalslosig- 
keit  durch  Flucht  in  unerfülltes  Leben.  Christliche  Liebe  sollte 
und  konnte  nicht  eine  Vereinigung  der  Individualitäten  sein, 


XVI  EINLEITUNG 


sondern  bloße  Vereinigung  in  Gott,  wie  denn  auch  die  Liebe  der 
Jünger  Christi  bloß  gegenseitiges  Bewußtsein  gemeinschaftlichen 
Glaubens  war  und  in  ihrer  Religion  verwirklicht  wurde,  sonst 
aber  weltfeindlich  blieb  und  alle  schönen  natürlichen  Verhältnisse 
des  menschlichen  Lebens  verkümmern  ließ,  und  es  ist  das  Schicksal 
der  christlichen  Religion  geblieben,  daß  Kirche  und  Staat,  geistliches 
und  weltliches  Tun  nie  in  eins  zusammenschmelzen  können. 

Aber  auch  als  Religion  verlor  bald  nach  dem  Tode  Jesu  seine 
Lehre  selbst  im  engen  Kreise  der  Gemeine  die  Harmonie  inniger 
Vereinigung.  Die  Jünger  Jesu  waren  wie  Schafe  ohne  Hirten. 
Jesus  war  ihr  lebendiges  Band,  das  göttliche  Bild  ihrer  Liebe  ge- 
wesen; ihre  sehnende  Liebe  hielt  zwar  auch  ferner  an  diesem 
Göttlichen  fest,  in  dem  auferstandenen  Jesu  fanden  sie  die  Dar- 
stellung ihrer  Einigkeit  wieder;  es  kam  aber  zum  Bilde  des  Auf- 
erstandenen viel  Beiwesen,  vollkommen  Individuelles,  Ungött- 
liches hinzu,  das  dem  durch  Apotheose  Vergötterten  immer  wie 
Blei  an  den  Füßen  hängt  und  ihn  zur  Erde  herabzieht.  Wie  Her- 
kules durch  den  Holzstoß,  hat  sich  Jesus  durch  ein  Grab  zum  Gott 
emporgeschwungen;  aber  nicht  nur  der  Erstandene,  auch  der 
Lehrende,  Wunder  Verrichtende  und  am  Kreuz  Hängende  wird 
angebetet;  diese  ungeheure  Verbindung  ist  es,  über  welche  seit 
so  vielen  Jahrhunderten  Millionen  gottsuchender  Seelen  sich  ab- 
gekämpft und  gemartert  haben,  und  die  Beigesellung  des  wirk- 
lichen Jesu  zum  verklärten  gewährte  dem  Trieb  nach  Religion 
keine  Befriedigung,  denn  dem  unendlichen,  ungestillten  Lechzen 
nach  Göttlichem  steht  immer  jenes  Positive  entgegen,  welches 
nie  zu  einem  Göttlichen  werden  kann. 

So  wurde  nun  Hegel,  nachdem  er  die  christliche  Religion  in 
ihrer  ursprünglichen  Form  als  Vernunftreligion  ins  Auge  gefaßt 
hatte,  zur  näheren  Prüfung  der  Frage  hingedrängt,  warum  die 
Lehre  Christi  sich  zu  einer  positiven  Religion  entwickeln  mußte. 
Mit  diesem  Problem  befaßte  er  sich  in  einer  Reihe  weiterer,  noch 
ungedruckter  Aufzeichnungen,  in  welchen  die  vorliegenden  Frag- 
mente ihre  natürliche  Fortsetzuns:  haben. 


CHARTRES  IM  APRIL  1906 
PAUL  ROQ.UES 


1 


DAS  LEBEN  JESU 


on  Anbeginn  war  die  Weisheit;  sie  thronte  bei 
Gott  und  war  Gott  selbst.  Schon  von  Anbeginn 
war  die  Weisheit  bei  Gott;  sie  schuf  alles,  und 
nichts  von  allem,  was  ist,  wurde  ohne  sie.  Diese 
Weisheit  ist  eins  mit  der  belebenden  Gotteskraft, 
welche  schon  früher  die  Menschen  erleuchtete. 
Nur  faßten  im  Alten  Testament  die  Menschen  den  göttlichen 
Strahl  nicht,  bis  Johannes  die  Erscheinung  desselben  in  Jesu 
vorbereitete,  Joh.  I,  14.  Aö^a,  die  moralische  Geistesgröße 
und  Hoheit  Jesu,  von  der  sich  alle  seine  Schüler  und  Verehrer 
aus  dem  persönlichen  Umgang  mit  ihm  überzeugen  konnten. 

II,  19.  «Reißet  immer  diesen  Tempel,  an  dem  nun  beinahe 
ein  halbes  Jahrhundert  gebaut  wird,  ein!  Ich  baue  ihn  in  drei 
Tagen.»  Das  heißt:  «Dieser Tempel,  das  Palladium  eurer  Theo- 
kratie,  forderte  die  Kunst  eines  halben  Jahrhunderts;  meine  Auf- 
fassung ruht  auf  keinem  Tempel  und  ist  in  kürzerer  Zeit  ge- 
gründet.» 

Matth.  X,  23.  Luk.  IX,  20.  «Mehrere  unter  euch  werden 
Zeugen  sein,  daß  meine  moralische  Gotteslehre  über  die  Staats- 
religion des  Judentums  siegt.»  —  Matth.  XIX,  28.  Das  Sitzen 
Jesu  auf  seinem  majestätischen  Thron  drückt  auch  hier  seine  un- 
sichtbare Herrschaft  durch  die  Wahrheit  und  Göttlichkeit  seiner 
Religion  aus.  Cf.  Luk.  XXII,  30,  69.  Matth.  XXVI,  63.  «Freilich 
bin  ich  Christus,  nur  nicht  der  von  euch  erwartete  Volksmessias, 
sondern  nur  der  höhere  moralische  Christus,  der  eine  neue  Religion 
gestiftet  hat,  und  der  nun  bald,  zur  Himmelsherrlichkeit  erhoben, 
euch  als  Richter  eurer  Bosheit  und  Hartnäckigkeit  erscheinen  wird. » 
Luk.  IV,  4.  Der  Mensch  braucht  eben  nicht  irdische  Güter  zu 
einem  glückseligen  Leben;  besser  sind  die  geistigen  Güter  Weis- 
heit und  Tugend. 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  1 


G.  W.  F.  HEGEL 


Joh.  I.  Die  reine,  aller  Schranken  unfähige  Vernunft  ist  die 
Gottheit  selbst.  Nach  Vernunft  ist  also  der  Plan  der  Welt  über- 
haupt geordnet.  Oft  ist  sie  zwar  verfinstert,  aber  doch  nie  ganz 
ausgelöscht  worden;  selbst  in  der  Finsternis  hat  sich  immer  ein 
schwacher  Schimmer  derselben  erhalten. 

Unter  den  Juden  war  es  Johannes,  der  die  Menschen  wieder  auf 
diese  ihre  Würde  aufmerksam  machte,  die  ihnen  nichts  Fremdes 
sein  sollte,  sondern  die  sie  in  ihrem  wahren  Selbst,  nicht  in  der 
Abstammung,  nicht  in  dem  Triebe  nach  Glückseligkeit,  nicht  darin 
suchen  sollten,  Diener  eines  groß  geachteten  Mannes  zu  sein, 
sondern  in  der  Ausbildung  des  göttlichen  Funkens,  der  ihnen  zu- 
teil geworden  ist,  der  ihnen  das  Zeugnis  gibt,  daß  sie  in  einem 
erhabnem  Sinn  von  der  Gottheit  selbst  abstammen.  Ausbildung 
der  Vernunft  ist  die  einzige  Quelle  der  Wahrheit  und  der  Be- 
ruhigung, die  Johannes  nicht  etwa  ausschließend  oder  als  eine 
Seltenheit  zu  besitzen  vorgab,  sondern  die  alle  Menschen  in  sich 
selbst  aufschließen  können.  Mehr  Verdienst  aber  um  die  Besserung 
der  verdorbenen  Maximen  des  Menschen  und  um  die  Erkenntnis 
der  echten  Moralität  und  der  geläuterten  Verehrung  Gottes  hat 
sich  Christus  erworben. 

Der  Ort,  wo  er  geboren  wurde,  war  ein  Dorf  Bethlehem  in 
Judäa.  Seine  Eltern  waren  Joseph  und  Maria,  (die  sonst  in  Xazareth 
in  Galiläa  ansässig  waren,  aber  nach  Bethlehem,  dem  Stammort 
der  Familie  Josephs,  reisen  mußten,  um  sich  dort  in  die  Liste,  die 
von  der  jüdischen  Volksmenge  im  Befehl  Augusts  gemacht 
wurde,  einschreiben  zu  lassen),  wovon  jener  sein  Geschlecht  von 
David  ableitete,  nach  Art  der  Juden,  die  viel  auf  Ahnentafeln  hielten. 
Jesus  wurde  nach  den  jüdischen  Gesetzen  acht  Tage  nach  seiner 
Geburt  beschnitten  (Luk.  II,  21). 

Von  seiner  Erziehung  ist  nichts  bekannt,  als  daß  er  früh  (Luk. 
II,  41)  Spuren  von  einem  nicht  gemeinen  Verstand  und  Interesse 
an  religiösen  Gegenständen  genommen  habe,  wie  ein  Beispiel 
davon  angeführt  wird,  daß  er  sich  in  seinem  zwölften  Jahre  einst 
von  seinen  Eltern  verlief,  sie  dadurch  in  großen  Kummer  setzte, 
aber  von  ihnen  im  Tempel  zu  Jerusalem  unter  Priestern  gefunden 
wurde,  die  er  durch  die  für  sein  Alter  ungewöhnlichen  Kennt- 
nisse und  Beurteilungsvermöo;en  in  Verwunderung  setzte.    Von 


DAS  LEBEN  JESU  3 


seiner  fernem  Bildung  als  Jüngling  bis  zu  der  Zeit,  da  er  selbst 
als  gebildeter  Mann  und  Lehrer  auftrat,  von  der  ganzen  so  höchst 
merkwürdigen  Entwicklungsperiode  bis  zum  dreißigsten  Jahre 
sind  nur  folgende  Nachrichten  auf  uns  gekommen,  daß  er  (Luk. 
III,  Matth.  III)  in  Bekanntschaft  mit  dem  obengenannten  Johannes 
kam,  der  sich  der  Täufer  nannte,  weil  er  die  Gewohnheit  hatte, 
diejenigen,  die  seinen  Aufruf,  sich  zu  bessern,  annahmen,  zu  taufen 
pflegte.  Dieser  Johannes  fühlte  den  Beruf  in  sich,  seine  Lands- 
leute auf  höhere  Werke,  als  bloßen  Genuß,  aufbessere  Erwartungen, 
als  die  Wiederherstellung  des  ehemaligen  Glanzes  des  jüdischen 
Reiches  aufmerksam  zu  machen.  Der  Ort,  wo  er  lehrte  und  sich 
aufhielt,  war  gewöhnlich  eine  abgelegene  Gegend,  seine  sonstigen 
Bedürfnisse  sehr  einfach;  sein  Kleid  bestand  in  einem  kamel- 
härenen Mantel  mit  einem  ledernen  Gürtel,  seine  Speise  in  Heu- 
schrecken, die  in  jenen  Gegenden  eßbar  sind,  und  Honig  von 
wilden  Bienen.  Von  seiner  Lehre  ist  im  allgemeinen  nur  bekannt, 
daß  er  die  Menschen  zur  Sinnesänderung,  diese  durch  Taten  zu 
beweisen  aufrief,  daß  die  Juden,  die  wegen  ihrer  Abkunft  von 
Abraham  derselben  nicht  bedürften,  um  der  Gottheit  wohlgefällig 
zu  sein,  im  Irrtum  seien;  und  wenn  die,  welche  zu  ihm  kamen, 
Reue  über  ihre  bisherige  Ansicht  zeigten,  so  taufte  er  sie,  —  eine 
symbolische  Handlung,  die  nach  der  Ähnlichkeit  des  Abwaschens 
der  Unreinlichkeiten  auf  die  Ablegung  einer  verderbten  Sinnes- 
art hindeutete.  So  kam  auch  Jesus  zu  ihm,  und  ließ  sich  von  ihm 
taufen.  Doch  scheint  Johannes  nicht  eine  Ehre  darein  gesetzt  zu 
haben.  Jünger  zu  haben,  und  sie  an  sich  zu  knüpfen,  denn  als  er 
in  Jesu  die  großen  Anlagen  entdeckte,  die  er  in  der  Folge  bewies, 
so  bezeugte  er  ihm,  daß  er  nicht  nötig  habe,  getauft  zu  werden, 
und  wies  auch  andere  an,  sich  an  Jesum  zu  wenden  und  von  ihm 
sich  belehren  zu  lassen,  und  bezeugte  auch  nachher  (Joh.  III,  27) 
seine  Freude  darüber,  als  er  hörte,  daß  Jesus  so  viele  Zuhörer 
finde,  und  so  viele  taufe;  doch  taufte  er  selbst  nicht,  sondern  nur 
seine  Freunde. 

Johannes  wurde  zuletzt  das  Opfer  der  beleidigten  Eitelkeit  des 
Herodes,  des  Fürsten  jener  Gegenden,  und  eines  Weibes.  Er 
hatte  nämlich  dessen  Umgang  mit  Herodias,  der  Schwägerin  des 
Herodes,  getadelt  und  wurde  deswegen  von  ihm  ins  Gefängnis 


G.  W.  F.  HEGEL 


gesetzt;  doch  wagte  es  Herodes  nicht,  ihn  ganz  aus  dem  Wege 
zu  schaffen,  weil  das  Volk  ihn  für  einen  Propheten  hielt.  Als  er 
einst  an  seinem  Geburtstag  ein  glänzendes  Fest  gab,  und  eine 
Tochter  jener  Herodias  Talent  im  Tanzen  zeigte,  so  wurde  Hero- 
des dadurch  so  entzückt,  daß  er  ihr  erlaubte,  sich  eine  Gnade  von 
ihm  auszubitten,  und  wenn  es  die  Hälfte  seines  Reiches  wäre, 
er  würde  sie  ihr  gewähren.  Die  Mutter,  deren  beleidigte  Eitelkeit 
ihre  Rache  gegen  Johannes  bisher  hatte  zurückhalten  müssen,  gab 
ihrer  Tochter  an,  sich  den  Tod  des  Johannes  auszubitten.  Hero- 
des hatte  nicht  den  Mut,  zu  glauben  und  es  vor  den  Gästen  zu 
bezeugen,  daß  in  seinem  gegebenen  Worte  kein  Verbrechen  mit- 
begriffen sei,  und  der  Kopf  des  Johannes  wurde  von  dem  Kinde  in 
einer  Schüssel  überreicht,  die  sie  ihrer  Mutter  brachte.  Seinen 
Körper  begruben  seine  Jünger. 

Luk.  IV,  Matth.  IV.  Außer  diesem  sind  aus  dieser  Periode 
seines  Lebens  nur  noch  einige  schwache  Züge  von  dem  Gange 
der  Entwicklung  seines  Geistes  auf  die  Nachwelt  gekommen. 
In  den  Stunden  seines  Nachdenkens  in  der  Einsamkeit  kam  ihm 
einst  der  Gedanke,  ob  es  nicht  die  Mühe  verlohnte,  durch  Stu- 
dium der  Natur  und  vielleicht  durch  \'erbindung  mit  höhern 
Geistern  es  soweit  zu  bringen,  zu  suchen,  unedlere  Stoffe  in 
edlere,  für  die  Menschen  unmittelbar  brauchbare  zu  verwandeln, 
etwa  wie  Steine  in  Brot,  und  sich  von  der  Natur  überhaupt  un- 
abhängiger zu  machen.  Aber  er  wies  diesen  Gedanken  ab  durch 
die  Betrachtung  der  Schranken,  die  die  Natur  dem  Menschen  in 
seiner  Macht  über  sie  gesetzt  hat,  durch  die  Betrachtung,  daß  es 
selbst  unter  der  Würde  der  Menschheit  sei,  nach  einer  solchen 
Macht  zu  streben,  da  er  in  sich  eine  über  die  Natur  erhabene 
Kraft  besitzt,  deren  Ausbildung  und  Erhöhung  die  wahre  Be- 
stimmung seines  Lebens  ist.  Ein  anderes  Mal  ging  auch  vor  seiner 
Einbildungskraft  alles  das  vorüber,  was  unter  den  Menschen  für 
groß,  für  würdig  gehalten  wird,  der  Gegenstand  der  Tätigkeit 
eines  Menschen  zu  sein:  über  Millionen  zu  gebieten,  die  halbe 
Welt  von  sich  reden  zu  machen,  tausende  von  seinem  Willen, 
von  seinen  Launen  abhängig  zu  sehen,  oder  in  fröhUchem  Ge- 
nüsse der  Befriedigung  reiner  Wünsche  zu  leben,  alles,  was  die 
Eitelkeit  oder  die  Sinne  reizen  kann.    Als  er  aber  weiter  über  die 


DAS  LEBEN  JESU  5 


Bedingungen  nachdachte,  unter  welchen  dies  alles  nur  erworben 
werden  kann,  selbst  wenn  man  dessen  Besitz  nur  zum  Wohl  der 
Menschheit  gebrauchen  wollte,  nämlich  sich  unter  seine  und  fremde 
Eigenschaften  zu  erniedrigen,  seiner  höheren  Würde  zu  ver- 
gessen, der  Selbstachtung  zu  entsagen,  so  verwarf  er,  ohne  sich 
zu  bedenken,  den  Gedanken,  jene  Wünsche  zu  den  seinigen  zu 
machen,  entschlossen,  dem  treu  zu  bleiben,  was  unauslöschlich 
in  seinem  Herzen  geschrieben  stand,  allein  das  ewige  Gesetz  der 
Sittlichkeit  und  den  zu  verehren,  dessen  heiliger  Wille  unfähig 
ist,  von  etwas  anderem  affiziert  zu  werden,  als  von  jenem  Gesetz. 

In  seinem  dreißigsten  Jahre  erst  trat  er  selbst  öffentlich  als 
Lehrer  auf.  Sein  Vortrag  scheint  im  Anfang  nur  auf  Einzelne 
eingeschränkt  gewesen  zu  sein.  Joh.  I,  35 — 51.  Bald  gesellten 
sich  teils  durch  den  Geschmack,  den  sie  an  seinen  Lehren  fanden, 
teils  auf  seinen  Zuruf,  inehrere  Jünger,  von  denen  er  meist  über- 
all begleitet  wurde,  und  aus  denen  er  durch  sein  Beispiel  und 
seine  Belehrungen  den  eingeschränkten  Geist  jüdischer  Vorurteile 
und  Nationalstolzes  zu  vertreiben  suchte  und  er  beseelte  sie  mit 
seinem  Geiste,  der  nur  in  Tugend,  die  nicht  an  eine  positive  Na- 
tion oder  positive  Einrichtungen  gebunden  ist,  einen  Wert  setzte. 
Der  gewöhnliche  Ort,  wo  er  sich  aufhielt,  war  Galiläa,  und  darin 
Kapernaum ;  von  da  aus  machte  er  gewöhnlich  an  den  hohen  Festen 
derjuden,  besonders  am  jährlichen  Osterfest,  Reisen  nachJerusalem. 

Das  erstemal,  daß  er  nach  Jerusalem  kam  (Joh.  II,  12  ff.),  seit- 
dem er  öffentlich  als  Lehrer  auftrat,  machte  er  durch  eine  auf- 
fallende Begebenheit  viel  Aufsehen.  Als  er  in  den  Tempel  trat, 
wohin  alle  Bewohner  Judäas  zusammenströmten,  wo  sie  in  ge- 
meinschaftlicher Anbetung  der  Gottheit  sich  über  die  kleinen 
Interessen  des  Lebens  erhoben  und  sich  der  Gottheit  näherten, 
traf  er  eine  Menge  Krämer  an,  die  auf  die  Religiosität  der  Juden 
Spekulationen  machten,  und  mit  allen  Arten  von  Waren  Handel 
trieben,  die  die  Juden  zu  ihren  Opfern  gebrauchten,  und  bei  dem  Zu- 
sammenfluß der  Menge  aus  allen  Gegendenjudäas  zurZeit  der  Feste 
und  im  Tempel  ihre  Geschäfte  machten.  Jesus,  voll  Unwillen  über 
diesen  kaufmännischen  Geist,  jagte  die  Krämer  zumTempel  hinaus. 

Er  fand  viele,  bei  denen  seine  Lehre  Eingang  hatte.  Er  kannte 
die  Anhänglichkeit  der  Juden  an  ihre  eingewurzelten  National- 


G.  W.  F.  HEGEL 


Vorurteile  und  ihren  Mangel  an  Sinn  für  etwas  Höheres  zu  gut,  als 
daß  er  sich  mit  ihnen  näher  eingelassen,  Vertrauen  in  ihre  Über- 
zeugung gesetzt  hätte ;  er  hielt  diese  nicht  für  fähig,  nicht  für  von 
der  Art,  daß  etwas  Größeres  darauf  gebaut  werden  könnte;  und 
von  der  Eitelkeit,  durch  den  Beifall  einer  großen  Anzahl  von 
Menschen  sich  geehrt  zu  glauben,  oder  von  der  Schwäche,  da- 
durch als  durch  ein  Zeugnis  in  seiner  eignen  Überzeugung  mehr 
befestigt  zu  werden,  war  er  zu  weit  entfernt;  er  bedurfte  keines 
Beifalls,  keiner  Autorität,  um  an  die  Vernunft  zu  glauben. 

Das  Aufsehen,  das  Jesus  hier  machte,  schien  (Joh.  III)  auf  die 
Lehrer  des  Volkes  und  Priester  wenig  Eindruck  zu  machen,  oder 
sie  gaben  sich  wenigstens  die  Miene,  mit  Verachtung  auf  ihn 
herabzublicken.  Doch  fühlte  sich  einer  von  ihnen,  Nikodemus, 
dadurch  veranlaßt,  mit  Jesu  in  nähere  Bekanntschaft  zu  kommen, 
und  sich  aus  seinem  Munde  zu  überzeugen,  worin  das  Neue  und 
Unterscheidende  der  Lehre  Jesu  bestehe,  und  ob  es  einer  Aufmerk- 
samkeit würdig  sei.  Er  kam,  um  sich  nicht  dem  Hasse  oder  dem 
Gelächter  auszusetzen,  in  derDunkelheit  derNacht  zu  ihm.  «Auch 
ich,  sagte  Nikodemus,  komme,  um  von  dir  belehrt  zu  werden ; 
denn  alles,  was  ich  von  dir  höre,  beweist  mir,  daß  du  ein  Gesandter 
Gottes  bist,  daß  Gott  in  dir  wohnt,  daß  du  vom  Himmel  kommst.» 
—  «Jawohl,  antwortete  Jesus.  Wer  nicht  seinen  Ursprung  aus 
dem  Himmel  hat,  in  wem  nicht  göttliche  Kraft  wohnt,  ist  kein 
Bürger  des  Reiches  Gottes.»  —  «Aber,  erwiderte  Nikodemus,  wie 
sollte  der  Mensch  seinen  natürlichen  Anlagen  entsagen,  wie  sollte 
er  zu  höheren  gelangen  können?  Er  müßte  in  den  Leib  seiner 
Mutter  zurückkehren  und  ein  Anderer,  als  Wesen  eines  anderen 
Geschlechts  geboren  werden.»  —  «Der  Mensch  als  Mensch,  ver- 
setzte Jesus,  ist  nicht  bloß  ein  ganz  sinnliches  Wesen.  Seine  Natur 
ist  nicht  bloß  auf  Trieb  nach  Vergnügen  eingeschränkt;  es  ist 
auch  Geist  in  ihm,  auch  ein  Funken  des  göttUchen  Wesens,  das 
Erbteil  aller  vernünftigen  Wesen,  ist  ihm  zuteil  geworden.  So 
wie  du  den  Wind  zwar  sausen  hörst  und  sein  Wehen  empfindest, 
aber  nichts  über  ihn  vermagst,  noch  weißt,  woher  er  komme, 
oder  wohin  er  gehe,  so  kündigt  sich  dir  unwiderstehlich 
jenes  selbständige  unveränderliche  Vermögen  innerlich  an. 
Aber   wie   es  mit   dem   übrigen    dem  Wechsel    unterworfenen 


DAS  LEBEN  JESU 


Gemüt  der  Menschen  verknüpft,  wie  es  zu  einer  Übermacht 
über  das  sinnHche  Vermögen  kommen  könne,  das  ist  uns  un- 
bekannt.» 

Nikodemus  gestand,  dies  seien  Begriffe,  die  er  nicht  kenne. 
«Wie,  sagte  Jesus,  du  bist  ein  Lehrer  in  Jerusalem  und  das,  was 
ich  sagte,  begreifst  du  nicht?  In  mir  ist  die  Überzeugung  davon 
so  lebendig  als  die  Gewißheit  dessen,  was  ich  sehe  und  höre.  Wie 
kann  ich  euch  aber  zumuten,  es  auf  mein  Zeugnis  zu  glauben, 
wenn  ihr  auf  das  innere  Zeugnis  eures  Geistes,  auf  diese  himm- 
lische Stimme  nicht  achtet?  Nur  sie,  deren  Wurzel  im  Himmel 
ist,  vermag  euch  über  das  zu  belehren,  was  höheres  Bedürfnis  der 
Vernunft  sei,  und  doch  nur  im  Glauben  an  sie,  durch  Gehorsam 
gegen  sie  ist  Ruhe  und  wahre  Größe,  die  Würde  des  Menschen 
zu  finden.  Denn  so  sehr  hat  Gott  den  Menschen  vor  der  übrigen 
Natur  ausgezeichnet,  daß  er  ihn  mit  dem  Widerglanz  seines  Wesens 
beseelte,  ihn  mit  Vernunft  begabte;  durch  den  Glauben  an  sie  er- 
füllt der  Mensch  allein  seine  hohe  Bestimmung;  sie  verdammt 
nicht  die  Triebe  der  Natur,  aber  leitet  und  veredelt  sie.  Nur  wer 
ihr  nicht  gehorcht,  der  hat  sich  dadurch  selbst  gerichtet,  daß  er 
jenes  Licht  verkannte,  es  in  sich  nicht  nährte  und  so  durch  seine 
Handlungen  zeigte,  wes  Geistes  Kind  er  sei ;  er  zieht  sich  vor  dem 
Glänze  der  Vernunft,  die  Sittlichkeit  als  Pflicht  gebietet,  zurück, 
denn  seine  bösen  Werke  sträuben  sich  gegen  jene  Beleuchtung, 
die  ihn  mit  Scham,  Selbstverachtung  und  Reue  erfüllen  würde. 
Aber  wer  aufrichtig  mit  sich  zu  Werke  geht,  nähert  sich  gern  dem 
Richterstuhl  der  Vernunft,  scheut  sich  nicht  vor  ihren  Zurecht- 
weisungen, vor  der  Selbstkenntnis,  die  sie  ihm  gibt,  und  braucht 
seine  Handlungen  nicht  zu  verheimHchen,  denn  sie  zeugen  von 
dem  Geiste,  der  ihn  beseelte,  dem  Geiste  der  vernünftigen  Welt, 
dem  Geiste  der  Gottheit.» 

Joh.  IV.  Jesus  verließ  Jerusalem  wieder,  als  er  hörte,  daß  die 
Menge  derer,  die  seiner  Lehre  Beifall  gaben,  die  Aufmerksamkeit 
der  Pharisäer  auf  sich  zog.  Er  reiste  daher  wieder  nach  Galiläa, 
wohin  der  Weg  durch  Samaria  führte.  Er  hatte  seine  Jünger  vor- 
aus in  die  Stadt  geschickt,  um  Speise  zu  kaufen;  er  selbst  weilte 
indes  an  einer  Quelle,  welche  schon  Jakob,  einer  der  Stammväter 
des  jüdischen  Volks,  besessen  haben  soll.    Er  traf  hier  ein  sama- 


G.  W.  F.  HEGEL 


ritisches  Weib  an,  die  er  bat,  ihm  einen  Trunk  Wassers  herauf- 
zuziehen. Sie  wunderte  sich  darüber,  daß  er,  ein  Jude,  von  einer 
Samariterin  zu  trinken  begehre;  denn  beide  Völker  haben  einen 
solchen  Religions-  und  Nationalhaß  gegeneinander,  daß  sie 
schlechterdings  keinen  Umgang  miteinander  haben.  Jesus  ver- 
setzte: «Wenn  du  meine  Grundsätze  kenntest,  du  würdest  mich 
nicht  nach  dem  gemeinen  Schlag  von  Juden  beurteilt  haben.  Du 
hättest  selbst  auch  kein  Bedenken  getragen,  mich  darum  zu  bitten, 
und  ich  hätte  dir  eine  andere  Quelle  lebendigen  Wassers  eröffnet. 
Wer  aus  derselben  schöpft,  dessen  Durst  ist  gestillt ;  das  Wasser, 
das  aus  ihr  quillt,  ist  ein  Strom,  der  ins  ewige  Leben  leitet.»  — 
«Ich  höre,  erwiderte  die  Samariterin,  daß  du  ein  weiser  Mann 
bist;  ich  wage  es,  dich  um  Aufschluß  über  die  wichtigste  Frage, 
den  Streit  unserer  und  deiner  Religion  zu  bitten.  Unsere  Väter 
verrichten  hier  auf  dem  Berge  Garizim  ihren  Gottesdienst,  und 
ihr  behauptet,  Jerusalem  allein  sei  der  Ort,  wo  man  den  Aller- 
höchsten verehren  solle.»  —  «Glaube  mir,  Weib,  antwortete 
Jesus,  es  wird  eine  Zeit  kommen,  wo  ihr  keinen  Gottesdienst 
mehr  feiern  werdet,  weder  auf  Garizim,  noch  in  Jerusalem,  wo 
man  nicht  mehr  glauben  wird,  der  Gottesdienst  schränke  sich  auf 
vorgeschriebene  Handlungen  und  einen  bestimmten  Ort  ein.  Es 
wird  die  Zeit  kommen,  und  sie  ist  eigentlich  schon  da,  wo  die 
echten  Verehrer  Gottes  den  allgemeinen  Vater  im  wahren  Geist 
der  Religion  verehren  werden,  denn  nur  solche  sind  ihm  wohl- 
gefällig, in  deren  Geist  allein  Vernunft  und  ihre  Blüte,  das  Sitten- 
gesetz, herrscht.  Hierauf  allein  muß  die  echte  Verehrung  Gottes 
gegründet  sein.» 

Die  Erzählung  der  Frau,  die  sie  ihren  Mitbürgern  von  Jesu  und 
ihrem  Gespräche  machte,  brachte  ihnen  schon  eine  hohe  Meinung 
von  ihm  bei.  Sie  veranlaßte  viele  Samariter  hinauszugehen  und 
Belehrung  von  ihm  zu  erhalten.  Während  sich  Jesus  mit  ihnen 
unterhielt,  boten  ihm  seine  Jünger,  die  indes  zurückgekehrt  waren, 
zu  essen  an.  «Lasset  das,  antwortete  er  ihnen,  ich  denke  nicht 
an  leibliche  Nahrung;  den  Willen  Gottes  zu  tun  und  das  Werk 
der  Besserung  der  Menschen  auszuführen  ist  meine  Beschäftigung; 
eure  Gedanken  sind  auf  Speise  gerichtet,  auf  die  Ernte,  die  bevor- 
steht; erheitert  eure  Blicke,  schauet  auf  zur  Ernte,  der  das  Men- 


DAS  LEBEN  JESU 


schengeschlecht  entgegenreift;  auch  diese  Saat  zeitiget,  in  diesen 
Gefilden  habt  ihr  nicht  ausgesäet.  Der  Keim  des  Guten,  den  die 
Natur  in  die  Herzen  der  Menschen  einsetzte,  hat  sich  hie  und  da 
von  selbst  entwickelt;  eure  Sache  aber  ist  es,  diese  Blüten  zu 
pflegen  und  zu  warten,  in  die  Arbeit  einzutreten,  die  die  Natur 
•angefangen  hat,  und  die  Saat  zur  Zeitigung  zu  bringen.»  Auf 
das  Ersuchen  der  Samariter  blieb  Jesus  zwei  Tage  bei  ihnen,  und 
gab  ihnen  Gelegenheit,  durch  eigene  Erfahrung  die  hohe  Meinung, 
die  sie  von  ihm  auf  die  Erzählung  der  Frau  gefaßt  hatten,  be- 
stätigt zu  finden. 

Joh.  IV,  I — 3,  Matth.  IV,  12,  Luk.  IV,  14.  Nach  zwei  Tagen 
setzte  er  seinen  Weg  weiter  fort  nach  Galiläa.  Wo  er  hinkam, 
rief  er  die  Menschen  zur  Sinnesänderung  und  Besserung  auf 
(Matth.  IV,  17),  suchte  sie  aus  ihrem  Schlummer  und  der  un- 
fruchtbaren, untätigen  Hoff"nung  zu  erwecken,  ein  Messias  werde 
bald  erscheinen  und  den  Glanz  des  jüdischen  Gottesdienstes  und 
Staates  wiederherstellen.  «Wartet  nicht  auf  einen  andern,  rief 
ihnen  Jesus  zu,  leget  selbst  Hand  an  das  Werk  eurer  Besserung, 
setzet  euch  ein  höheres  Ziel,  als  das  wieder  zu  werden,  was  die 
alten  Juden  waren;  bessert  euch,  dann  bringet  ihr  das  Reich 
Gottes  herbei.»  So  lehrte  Jesus  überall  (Luk.  IV,  16 — 32),  in 
Kapernaum  am  See  Genezareth,  in  öffentlichen  Örtern  und  den 
Lehrsälen  der  Juden;  unter  anderm  auch  sprach  er  über  eine 
Stelle  aus  den  heiligen  Büchern  seiner  Landsleute,  in  Nazareth, 
seinem  Geburtsort.  Da  hieß  es  denn:  «Ist  dies  nicht  Josephs 
Sohn,  der  unter  uns  geboren  und  erzogen  wurde.''»  Das  Vor- 
urteil der  Juden,  daß  der,  den  sie  als  ihren  Retter  erwarteten,  von 
vornehmer  Abkunft  sein  und  mit  äußrem  Glänze  auftreten  müsse, 
war  unüberwindlich  und  zuletzt  wurde  er  von  seinen  Mitbürgern 
zur  Stadt  hinaus  weit  vertrieben,  wobei  ihm  selbst  das  Sprichwort 
einfiel:  Ein  Prophet  gilt  nirgends  weniger  als  in  seinem  Vaterlande. 

Hier  lud  er  auch  Petrus  und  Andreas  (Matth.  IV,  18 — 22),  wie 
auch  Jakobus  und  Johannes  ein,  ihm  nachzufolgen,  die  er  mit 
Fischfangen,  ihrem  Handwerk,  beschäftigt  antraf,  wobei  er  Petrus 
sagte:  «Laß  die  Fische,  ich  will  dich  zu  einem  Menschenfischer 
machen.»  Die  Zahl  seiner  Anhänger  (Matth.  IV,  25)  fing  jetzt  an, 
sehr  beträchtlich  zu  werden.  Aus  Städten  und  Dörfern  begleiteten 


10  G.W.  F.  HEGEL 


ihn  viele  Menschen.  Vor  einer  so  zahlreichen  Menge  wahrschein- 
lich hielt  er  einst  in  dieser  Periode  seines  Lebens  auf  einem  Berge 
folgende  Rede  (Matth.  V):  «Wohl  den  Demütigen  und  Armen; 
das  Himmelreich  ist  ihr  Teil.  —  Wohl  denen,  die  Leid  tragen ; 
sie  werden  einst  getröstet  werden.  —  Wohl  den  Sanftmütigen, 
sie  werden  zum  Genuß  der  Ruhe  gelangen.  —  Wohl  denen,  die 
Verlangen  tragen  nach  Gerechtigkeit;  ihr  Verlangen  wird  erfüllt 
werden.  —  Wohl  denen,  die  mitleidig  sind;  auch  ihrer  wird  man 
sich  erbarmen.  —  Wohl  denen,  die  reinen  Herzens  sind;  sie  nähern 
sich  dem  Heiligen.  —  Wohl  denen,  die  die  Kinder  lieben;  ihnen 
kommt  der  Name  Kinder  Gottes  zu.  —  Wohl  denen,  die  um  der 
gerechten  Sache  willen  verfolgt  werden,  die  Schmach  und  Ver- 
leumdung darob  erleiden.  Freuet  euch  und  jauchzet:  ihr  seid 
Bürger  des  Himmelreichs!» 

«Von  euch,  meine  Freunde,  wünschte  ich  sagen  zu  können: 
Ihr  seid  das  Salz  der  Erde.  Wenn  aber  dieses  unschmackhaft  wird, 
womit  soll  man  noch  salzen?  Es  verliert  sich  unfühlbar  unter 
den  andern  gemeinen  Stoffen.  Wenn  in  euch  die  Kraft  des  Guten 
erstürbe,  so  gingen  eure  Taten  unter  mit  dem  übrigen  zwecklosen 
Dringen  und  Treiben  der  Menschen.  Zeiget  euch,  Lichter  der 
Welt,  daß  eure  Taten  die  Menschen  erleuchten  und  das  Bessere, 
das  in  ihnen  liegt,  entzünden,  daß  sie  aufschauen  lernen  zu  höherem 
Glauben  und  zum  \'ater  im  Himmel.» 

«Glaubet  nicht,  daß  ich  etwa  gekommen  sei,  Ungültigkeit  der 
Gesetze  zu  predigen;  nicht  die  \'erbindlichkeit  zu  denselben  auf- 
zuheben bin  ich  gekommen,  sondern  sie  vollständig  zu  machen, 
diesem  toten  Gerippe  Geist  einzuhauchen.  Himmel  und  Erde 
mögen  wohl  verejehen,  aber  nicht  die  Forderunsjen  des  Sitten- 
gesetzes,  nicht  die  Pflicht,  ihm  zu  gehorchen.  Wer  sich  und  andere 
von  Befolgung  derselben  freispricht,  ist  unwürdig,  den  Namen 
eines  Bürgers  des  Reiches  Gottes  zu  tragen,  wer  sie  aber  selbst  er- 
füllt und  auch  andere  sie  ehren  lehrt,  der  wird  angesehen  sein  in 
dem  Himmelreich.  Aber  was  ich,  um  das  ganze  System  der  Ge- 
setze auszufüllen,  hinzusetze,  ist  die  Hauptbedingung,  daß  ihr  euch 
nicht  mit  der  Beobachtung  des  Buchstabens  der  Gesetze,  die  allein 
der  Gegenstand  menschlicher  Gerichte  sein  kann,  begnüget,  wie 
die  Pharisäer  und  die  Gelehrten  eures  Volkes,  sondern  im  Geiste 


DAS  LEBEN  JESU  ii 


des  Gesetzes  aus  Achtung  für  die  Pflicht  handelt.  Um  euch  dies 
mit  einigen  Beispielen  aus  eurem  Gesetzbuch  zu  erläutern,  so  ist 
es  euch  als  ein  altes  Gebot  bekannt:  Du  sollst  nicht  töten;  wer 
tötet,  der  soll  vor  das  Gericht  gezogen  werden.  Ich  aber  sage 
euch,  daß  nicht  gerade  der  Tod  des  andern  das  Strafwürdige  des 
Verbrechens  ausmacht;  wer  seinem  Bruder  ungerechterweise 
zürnt,  kann  zwar  von  keinem  weltlichen  Gericht  gestraft  werden, 
aber  dem  Geiste  des  Gesetzes  nach  ist  er  so  strafwürdig,  als  jener; 
wer  aber  aus  Menschenverachtung  (Lücke  der  Handschrift) 

.  .  .  «Soisteuchbefohlen,zugewissenZeitenOpferdarzubringen. 
Wenn  ihr  euch  dem  Altar  nähert  und  ihr  euch  dort  erinnert,  daß 
ihr  einen  Menschen  beleidigt  habt,  und  dieser  deswegen  unzu- 
frieden ist,  so  lasset  eure  Gabe  vor  dem  Altar  stehen,  bietet  eurem 
Bruder  die  Hand  zur  Versöhnung,  dann  nahet  euch  erst  gottwohl- 
gefällig dem  Altar.» 

«Auch  heißt  eines  eurer  Gebote:  Du  sollst  nicht  ehebrechen. 
Ich  aber  sage  euch,  daß  nicht  bloß  die  wirkliche  Tat  ein  Vergehen 
ist,  sondern  die  Lüsternheit  überhaupt  beweist,  daß  das  Herz  un- 
rein ist.  Welche  Neigung  es  sei,  die  natürlichste,  liebste,  tut  ihr 
Gewalt  an,  verletzet  sie  sogar,  ehe  ihr  euch  von  ihr  über  die  Linie 
des  Rechtes  hinüberreißen  und  dadurch  eure  Maximen  nach  und 
nach  untergraben  und  verderben  lasset,  wenn  ihr  bei  derBefriedigung 
eurer  Neigung  wohl  den  Buchstaben  des  Gesetzes  nicht  verletztet. » 

«Weiter  ist  es  ein  altes  Gesetz:  Du  sollst  nicht  falsch  schwören. 
Überhaupt  aber,  wenn  ihr  Achtung  vor  euch  selbst  habt,  muß  jede 
Versicherung,  jedes  Versprechen  mit  einem  bloßen  Ja,  oder  Nein, 
ebenso  aufrichtig,  ebenso  heilig  und  unverbrüchlich  sein,  als  ein 
Schwur  bei  der  Gottheit,  denn  euer  Ja  oder  Nein  müsset  ihr  nur 
mit  der  Überzeugung  geben,  daß  ihr  in  alle  Ewigkeit  so  handeln 
würdet.  —  So  ist  es  auch  ein  bürgerliches  Gesetz:  Auge  um  Auge, 
Zahn  um  Zahn.  Aber  lasset  diese  gerichtliche  Satzung  nicht  der 
Maßstab  eures  Privatlebens  in  Erwiderung  von  Beleidigungen 
oder  in  Erv\'eisung  von  Gefälligkeiten  sein.  Opfert,  gleichgültig 
gegen  den  Besitz  des  Eigentums,  den  edlen  Gefühlen  der  Sanft- 
mut und  der  Güte  die  Rachsucht  und  eure  eigenen,  wenn  schon 
oft  gerechten  Vorteile  auf.   Auch  ist  euch  zwar  Liebe  gegen  eure 


12  G.W.  F.  HEGEL 


Freunde  und  eure  Nation  geboten,  aber  dabei  Haß  gegen  eure 
Feinde  und  Fremde  erlaubt;  ich  sage  euch  dagegen:  Achtet  auch 
in  euren  Feinden  die  Menschheit,  wenn  ihr  sie  nicht  Heben  könnet, 
wünschet  denen  Gutes,  die  euch  fluchen,  und  tut  wohl  denen,  die 
euch  hassen;  bittet  bei  andern  für  die,  welche  euch  bei  andern 
verleumden  und  durch  andere  euch  unglücklich  zu  machen 
suchen;  so  werdet  ihr  echte  Kinder  des  Vaters  im  Himmel,  ähn- 
lich dem  Allgütigen,  der  über  Gute  und  Böse  seine  Sonne 
scheinen,  Redlichen  und  Ungerechten  seinen  Regen  angedeihen 
läßt;  denn  wenn  ihr  die  wieder  liebet,  die  euch  lieben,  euren 
Wohltätern  Gutes  tut  oder  ausleihet,  um  den  gleichen  Wert 
wieder  zu  empfangen  (Luk.  VI,  35),  welches  Verdienst  habt  ihr 
dabei?  Dies  ist  die  Empfindung  der  Natur,  die  auch  von  den 
Bösen  nicht  verleugnet  wird ;  für  die  Pflicht  habt  ihr  damit  noch 
nichts  getan;  Heiligkeit  sei  euer  Ziel,  wie  die  Gottheit  heilig  ist.» 
«Almosen  geben  und  Mildtätigkeit  (Matth.  VI)  sind  empfeh- 
lungswürdige Tugenden,  aber  sie  sind,  wenn  sie  nicht  wie  die 
obigen  Gebote  im  Geiste  der  Tugend,  nur  um  sich  sehen  zu 
lassen,  ausgeübt  werden,  ohne  Verdienst;  wenn  ihr  also  Almosen 
geben  wollt,  so  lasset  es  nicht  in  den  Straßen  und  auf  den  Kanzeln 
oder  in  Zeitungen  ausposaunen,  wie  die  Heuchler  tun,  um  von 
den  Leuten  hochgepriesen  zu  werden;  tut  es  im  Verborgenen, 
daß  gleichsam  die  linke  Hand  nicht  weiß,  was  die  rechte  gibt. 
Euer  Lohn,  wenn  ihr  die  Vorstellung  eines  Lohns  als  Aufmun- 
terung bedürft,  ist  der  stille  Gedanke,  gut  gehandelt  zu  haben, 
und  daß,  so  wenig  die  Welt  den  Urheber  kennt,  doch  die  Wirkung 
eurer  Handlung,  sei  es  auch  im  Kleinen,  die  Hülfe,  die  ihr  dem 
Unglück  gebracht,  der  Trost,  den  ihr  dem  Elend  gereicht,  in 
Ewigkeit  reich  ist  an  wohltätigen  Folgen.  Wenn  ihr  betet,  so 
geschehe  es  ebensowenig  nach  Art  der  Heuchler,  die  in  den 
Kirchen  auf  den  Knien  liegen,  auf  der  Straße  die  Hände  falten, 
oder  den  Nachbarn  mit  ihrem  Singen  beschwerUch  fallen,  um 
vor  den  Menschen  sich  damit  sehen  zu  lassen ;  wahrlich  ihr  Ge- 
bet ist  ohne  Frucht.  Euer  Gebet,  es  sei  in  der  freien  Natur  oder 
in  eurem  Zimmer,  sei  eine  Erhebung  eures  Gemüts  über  die 
kleinen  Zwecke,  die  sich  die  Menschen  setzen,  und  über  die  Be- 
gierden, die  sie  hin  und  her  treiben,  durch  den  Gedanken  an  den 


DAS  LEBEN  JESU  13 


Heiligen,  der  eucli  an  das  Gesetz  erinnere,  das  in  eurem  Busen 
gegraben  ist,  und  euch  mit  Achtung  für  dasselbe,  unverletzbar 
durch  alle  Reihe  der  Neigungen,  erfülle.» 

«Setzet  das  Wesen  des  Gebets  nicht  in  viele  Worte,  wodurch 
abergläubische  Menschen  sich  bei  Gott  in  Gunst  zu  setzen  oder 
etwas  über  ihn  und  den  Plan  seiner  ewigen  Weisheit  vermögen 
zu  können  vermeinen;  gleichet  ihnen  darin  nicht;  euer  Vater 
weiß,  wessen  ihr  bedürfet,  ehe  ihr  ihn  darum  bittet;  Bedürfnisse 
der  Natur,  Wünsche  der  Neigungen  können  also  nicht  Gegen- 
stand eures  Gebets  sein,  denn  wie  könnet  ihr  wissen,  ob  die  Be- 
friedigung derselben  Zweck  des  moralischen  Planes  des  Heiligen 
sei?  Der  Geist  eures  Gebetes  sei,  daß  ihr,  von  dem  Gedanken  an 
die  Gottheit  belebt,  vor  derselben  den  festen  Vorsatz  fasset,  euren 
ganzen  Wandel  der  Tugend  zu  weihen.  Dieser  Geist  des  Gebets 
würde  sich,  in  Worten  ausgedrückt,  etwa  so  darstellen  lassen: 
, Vater  der  Menschen,  dem  alle  Himmel  unterworfen  sind,  Du,  der 
Alleinheilige,  seiest  das  Bild,  das  uns  vorschwebe,  dem  wir  uns 
zu  nähern  trachten;  daß  Dein  Reich  einst  kommen  möge,  in 
welchem  alle  vernünftigen  Wesen  das  Gesetz  allein  zur  Regel 
ihrer  Handlungen  machen  1  Dieser  Idee  werden  alle  Neigungen, 
selbst  das  Schreien  der  Natur  nach  und  nach  unterworfen !  Im 
Gefühl  unserer  Unvollkommenheit  gegen  Deinen  heiligen  Willen, 
wie  sollten  wir  uns  zu  strengen  oder  gar  rachsüchtigen  Richtern 
unserer  Brüder  aufwerfen?  Wir  wollen  vielmehr  nur  an  uns 
arbeiten,  daß  wir  unser  Herz  bessern,  die  Triebfedern  unsrer 
Handlungen  veredeln  und  unsre  Gesinnungen  vom  Bösen  immer 
mehr  und  mehr  reinigen,  um  Dir  ähnlicher  zu  werden,  dessen 
Heiligkeit  und  Seligkeit  allein  unendlich  istl'» 

«Ein  Kennzeichen  eurer  Zunahme  an  moralischer  Vollkommen- 
heit habt  ihr;  dies  ist  eure  Zunahme  an  BruderUebe  und  an  Ge- 
neigtheit für  Verzeihung.  Nicht  Schätze  auf  der  Erde,  die  ihr 
nicht  einmal  ganz  euer  Eigen  nennen  könnt,  Gold  und  Silber, 
oder  Schönheit.  Geschicklichkeit,  die  der  VergängUchkeit,  dem 
Wechsel  der  Umstände,  sogar  dem  Rost  und  dem  Zerfressen  von 
Insekten  oder  der  Gefahr,  gestohlen  zu  werden,  ausgesetzt  sind, 
nicht  solche  seien  es,  die  eure  Seelen  ausfüllen.  Sammlet  einen 
unvergänglichen  Schatz  in  euch  selbst,  einen  Reichtum  von  Mo- 


14  G.  W.  F.  HEGEL 


ralität ;  nur  einen  solchen  könnet  ihr  im  vollen  Sinne  des  Wortes 
euer  Eigentum  nennen,  denn  er  hängt  eurem  eigensten  Selbst  an. 
Der  Zwang  der  Natur,  oder  der  böse  Wille  der  Menschen,  selbst 
der  Tod  vermag  nichts  über  ihn.  Wie  das  Auge  als  Leuchte  für 
den  Leib  dient  und  wenn  es  gesund  ist,  ihn  in  allen  seinen  Ver- 
richtungen leitet,  wenn  es  aber  fehlerhaft  ist,  der  Leib  in  allem 
ungeschickt  ist,  so  wenn  das  Licht  der  Seele,  die  Vernunft,  ver- 
dunkelt ist,  woher  sollte  irgend  ein  Trieb,  irgend  eine  Neigung 
ihre  wahre  Richtung  erhalten?  So  wie  jemand  nicht  zwei  Herren 
mit  gleichem  Eifer  dienen  kann,  so  ist  der  Dienst  Gottes  und  der 
Vernunft  mit  dem  Dienst  der  Sinne  unvereinbar;  der  eine  von 
beiden  schließt  den  andern  aus,  oder  es  entsteht  ein  unseliges, 
unmächtiges  Hin-  und  Herschwanken  zwischen  beiden.  Darum 
ermahne  ich  euch:  Entreißet  euch  doch  den  ewigen  Sorgen  um 
Essen  und  Trinken  und  Kleidung,  Bedürfnissen,  die  den  ganzen 
Kreis  des  Bestrebens  der  meisten  Menschen  ausmachen,  die  der 
Wichtigkeit. nach,  die  sie  darein  legen,  ihre  Bestimmung,  den 
letzten  Endzweck  ihres  Daseins  auszumachen  scheinen.  Liegt  im 
menschlichen  Gemüt  doch  nicht  noch  ein  erhabeneres  Bedürfnis, 
als  das  um  Nahrung  und  Kleidung?  Sehet  doch  die  sorgenfreien 
Vögel  unter  dem  Himmel;  sie  säen  nicht,  sie  ernten  nicht  und 
sammeln  nicht  in  die  Scheuern ;  der  Vater  der  Natur  hat  für  ihre 
Nahrung  gesorgt.  Ist  eure  Bestimmung  nicht  höher  als  die  ihrige? 
und  ihr  solltet  von  der  Natur  verdammt  sein,  alle  die  edlen  Kräfte 
eurer  Seele  nur  dazu  anzuschauen,  um  die  Bedürfnisse  des  Magens 
zu  befriedigen?  Ihr  wendet  so  viel  Mühe  auf  Putz  und  Verschöne- 
rung der  Gestalt,  die  euch  die  Natur  verlieh.  Kann  eure  Eitelkeit 
mit  allem  Aufwand  von  Sinnen  und  Sorgen  eurer  Länge  einen  Zoll 
zusetzen?  Oder  sehet  die  Blumen  der  Felder  an,  die  heute  so  präch- 
tig blühen  und  morgen  zu  Heu  gemacht  werden;  könnte  Salomo  in 
all  seiner  Pracht  der  freien  Schönheit  es  nachtun?  Entschlaget  euch 
also  doch  ein  wenig  der  ängstlichen  Sorgen  um  Nahrung  und  Klei- 
dung; das  höchste  Ziel  eures  Bestrebens  sei  das  Reich  Gottes  und 
die  Sittlichkeit,  wodurch  ihr  allein  würdig  werdet,  Bürger  des- 
selben zu  sein;  das  Übrige  wird  sich  dann  von  selber  geben.» 

«Seid  nicht  streng  in  euren  Urteilen  über  andere,  denn  eben 
den  Maßstab,  den  ihr  gebraucht,  wird  man  auch  auf  euch  an- 


DAS  LEBEN  JESU  15 


wenden  und  dies  möchte  nicht  immer  zu  eurem  Vorteil  ausfallen. 
Warum  sehet  ihr  so  gern  den  geringern  Splitter  in  dem  Auge  des 
andern  und  bemerket  nicht  den  viel  größeren  in  eurem  eigenen, 
und  sagt  gar  etwa  noch  zu  ihm:  Halt,  mein  Bester,  laß  dir  doch 
diesen  Splitter  aus  deinem  Auge  nehmen?  Und  siehe,  in  eurem 
eigenen  ist  der  viel  größere.  Heuchler,  zieh  zuvor  diesen  aus, 
und  dann  erst  denke  daran,  den  andern  zu  heilen;  arbeite  zuvor 
an  dir  selbst,  ehe  du  an  andern  arbeiten  willst.  Wie  kann  ein 
Blinder  einem  Blinden  den  Weg  weisen?  Werden  nicht  beide  in 
die  Grube  fallen?  Oder  kann  der  Lehrer  den  Schüler  geschickter 
machen,  als  er  selber  ist  (Luk.  VI,  40)?  Wenn  ihr  nun  andere 
bessern  wollt,  so  wendet  euch  damit  nicht  unvorsichtigerweise 
an  einen  jeden  ohne  Unterschied;  werfet  das  Heiligtum  nicht 
vor  die  Hunde,  noch  die  Perlen  vor  die  Schweine;  sie  würden 
es  nur  unter  die  Füße  treten  und  euch  umstürzen.  Nahet 
euch  den  Menschen  mit  Bitten,  und  sie  werden  euch  oft  nach- 
geben; suchet  eine  Seite  auf,  wo  ihr  ihnen  beikommen  könnet; 
ihr  werdet  eine  finden;  klopfet  leise  an  und  ihr  werdet  Eingang 
finden.» 

«Was  ihr  wollen  könnet,  daß  es  als  allgemeines  Gesetz  unter 
den  Menschen  auch  gegen  euch  gelte,  nach  einer  solchen  Maxime 
handelt;  dies  ist  der  Grundsatz  der  Sittlichkeit,  der  Inhalt  aller 
Gesetzgebungen  und  der  heiligen  Bücher  aller  Völker.  Gehet 
durch  [diesen  engen,  scharf  abgesteckten  Weg  des  Rechts],  diese 
Pforte  des  Rechts  ein  in  den  Tempel  der  Tugend;  diese  Pforte 
ist  zwar  eng,  der  Weg  dahin  gefahrvoll,  und  eurer  Gefährten 
werden  wenige  sein.  Desto  gesuchter  ist  der  Palast  des  Lasters 
und  Verderbens,  dessen  Tore  weit  und  dessen  Straße  eben  ist. 
Nehmet  euch  auf  dem  Wege  besonders  in  acht  vor  falschen 
Lehrern,  die  sich  mit  der  sanftmütigen  Miene  eines  Lammes 
sich  euch  nähern  und  darunter  die  Begierden  reißender  Wölfe 
verbergen.  Ihr  habt  ein  sicheres  Merkmal,  durch  ihre  Verstellung 
leicht  durchzudringen;  beurteilet  sie  nach  ihren  Werken;  man 
Hest  ja  doch  nicht  Trauben  von  Dornbüschen,  oder  Feigen  von 
Disteln.  Jeder  gute  Baum  trägt  gute  und  der  schlechte  Baum 
schlechte  Früchte.  Der  ist  doch  kein  guter  Baum,  der  schlechte 
Früchte  trägt,  und  der  kein  fauler,  der  gute  Früchte  trägt.    An 


i6  G.W.  F.  HEGEL 


ihren  Früchten  also  werdet  ihr  sie  erkennen  (Luk.  VI,  43).  Aus 
dem  Reichtum  eines  guten  Herzens  schwillt  Gutes,  aus  der  Fülle 
eines  schlechten  Herzens  quillt  Schlechtes  hervor  (Luk.  VI,  44). 
Nicht  durch  Worte  der  Frömmigkeit  lasset  euch  täuschen.  Nicht 
jeder,  der  zu  Gott  ruft,  der  ihm  Gebete  und  Opfer  darbringt,  ist 
ein  Glied  seines  Reiches,  sondern  nur  der,  der  den  Willen  Gottes 
tut,  welcher  dem  Menschen  in  dem  Gesetz  seiner  Vernunft  ange- 
kündigt ist.  Viele  werden  in  der  Ewigkeit  vor  dem  Weltrichter 
sagen:  Herr,  Herr,  wenn  wir  Wunder  taten,  wenn  wir  böse  Geister 
austrieben,  und  sonst  große  Dinge  verrichteten,  haben  wir  nicht 
deinen  Namen  dabei  gebraucht,  dich  dabei  gepriesen,  dir  dafür 
als  deine  Werke  gedankt?  Dann  wird  ihnen  geantwortet  werden: 
Was  sollen  nur  Wunder  und  Weissagungen,  oder  große  Taten? 
war  es  darum  zu  tun?  Gott  erkennt  euch  nicht  als  die  Seinigen, 
ihr  seid  nicht  Bürger  seines  Reiches,  ihr  Wundertäter,  ihr  Weis- 
sager, ihr  Verrichter  großer  Taten  I  Ihr  tatet  dabei  Böses,  und 
Sittlichkeit  ist  der  einzige  Maßstab  der  Wohlgefälligkeit  Gottes  I 
Jeder,  der  diese  Grundsätze  gehört  hat,  und  sie  zu  den  seinigen 
macht,  den  vergleiche  ich  mit  einem  klugen  Mann,  der  sein  Haus 
auf  einen  Felsen  baute;  da  nun  ein  Sturm  kam,  und  die  Ströme 
daherrauschten  und  die  Winde  wehten,  so  stießen  sie  auch  aut 
jenes  Haus,  aber  es  fiel  nicht,  denn  es  war  auf  einen  Felsen  ge- 
gründet. Der,  der  diese  Lehre  zwar  hörte,  aber  sie  nicht  befolgt, 
den  vergleiche  ich  mit  einem  Toren,  der  sein  Haus  auf  Sand 
baute;  da  nun  der  Sturm  kam,  so  stieß  er  auch  auf  dieses  Haus 
und  stürzte  es  mit  großem  Krachen  ein,  denn  es  hatte  einen 
leichten  Grund.» 

Diese  Rede  machte  großen  Eindruck  auf  seine  Zuhörer,  denn 
er  sprach  mit  Kraft  und  Nachdruck,  und  die  Gegenstände  waren 
solche,  die  das  höchste  Interesse  der  Menschheit  ausmachen.  Der 
Zulauf,  Jesum  zu  hören  (Matth,  IX,  Mark.  II,  13),  wurde  von 
dieser  Zeit  an  immer  größer,  aber  auch  die  Aufmerksamkeit  der 
Pharisäer  und  der  jüdischen  Priesterschaft  auf  ihn  wurde  ver- 
mehrt. Um  dem  Geräusch  jener  Menge  und  den  Nachstellungen 
dieser  zu  entgehen,  zog  er  sich  oft  in  die  Einsamkeit  zurück. 
Während  seines  Aufenthalts  in  Galiläa  kam  er  einst  bei  einem 
Zollhause  vorbei  und  sah  dort  einen  Beamten,  namens  Matthäus, 


DAS  LEBEN  JESU  17 


(höchstwahrscheinlich  die  gleiche  Geschichte  und  gleiche  Person 
wovon  bei  Luk.  V,  27,  Mark.  II,  14  die  Rede  ist,  nur  daß  hier  der 
Mann  unter  dem  Namen  Levi  vorkommt),  sitzen,  den  er  auch  zu 
seiner  Nachfolge  einladete,  und  ihn  auch  nachher  seines  ver- 
trauteren Umgangs  würdigte.  Er  speiste  mit  ihm  und  die  Ge- 
sellschaft bestand  aus  noch  mehreren  solchen  Beamten;  da  Zollbe- 
amter und  Sünder  bei  den  Juden  gleichbedeutende  Worte  waren, 
so  bezeugten  die  Pharisäer  den  Freunden  Jesu  ihre  Verwunderung 
darüber.  Da  dieser  es  hörte,  so  sagte  er  zu  ihnen:  «Die  Gesunden 
bedürfen  des  Arztes  nicht,  sondern  nur  die  Kranken.  Überleget 
aber  noch  bei  euch  auf  dem  Wege,  was  es  heißen  wolle,  was  in 
euren  heiligen  Büchern  irgendwo  steht:  Nicht  Opfer,  sondern 
Rechtschaffenheit,  sind  mir  wohlgefällig.» 

Einigen  Jüngern  des  Johannes  des  Täufers  fiel  es  dagegen  auf, 
daß  sie  und  die  Pharisäer  so  viele  Fasten  halten,  die  Freunde  Jesu 
dagegen  nicht;  auf  ihre  Frage  darüber  antwortete  ihnen  Jesus: 
«Welchen  Anlaß  hätten  sie  auch  wirklich  zur  Traurigkeit?  Die 
Tage  werden  schon  kommen,  wo  ihnen  auch  ihr  Lehrer,  wie 
euch  der  eurige,  wird  entrissen  werden.  Dann  mögen  sie  fasten. 
Warum  sollte  ich  überhaupt  eine  solche  Strenge  in  ihrer  Lebens- 
art von  ihnen  fordern.''  Es  würde  weder  zu  ihrer  bisherigen  Ge- 
wohnheit, noch  zu  meinen  Grundsätzen  passen,  die  keinen  Wert 
in  ein  strenges  Äußere  legen,  und  noch  weniger  mir  erlauben, 
andern  eine  Beobachtung  gewisser  Gebräuche  aufzuerlegen.» 

Da  jetzt  wieder  ein  Passahfest  einfiel  (Joh.  V,  i),  so  begab  sich 
auch  Jesus  nach  Jerusalem.  Während  seines  Aufenthalts  daselbst 
war  es  den  Juden  sehr  anstößig,  daß  er  einmal  einem  armen  Kranken 
an  einem  Sabbat  einen  Liebesdienst  erwies;  sie  sahen  darin  eine 
Entweihung  dieses  heiligen  Tages  und  eine  Anmaßung,  ein  Gebot, 
das  Gott  selbst  gegeben,  für  nicht  verbindlich  zu  halten,  sich  gleich- 
sam ein  Recht,  das  nur  Gott  zukomme,  herauszunehmen  und 
seine  Autorität  der  Autorität  der  Gottheit  gleichzusetzen.  Jesus 
gab  ihnen  zur  Antwort:  «Wenn  ihr  eure  kirchlichen  Statuten  und 
positiven  Gesetze  für  das  höchste  Gesetz  haltet,  das  den  Menschen 
gegeben  ist,  so  verkennet  ihr  die  Würde  des  Menschen  und  das 
Vermögen  in  ihm,  aus  sich  selbst  den  Begriff  der  Gottheit  und 
die  Erkenntnis  ihres  Willens  zu  schöpfen ;  wer  das  Vermögen  in 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  J 


i8  G.W.  F.  HEGEL 


sich  nicht  ehrt,  der  ehrt  die  Gottheit  nicht.  Was  der  Mensch  sein 
Ich  nennen  kann  und  wodurch  er  über  Grab  und  Verwesung  er- 
haben ist  und  sich  selbst  seinen  verdienten  Lohn  bestimmen  wird, 
fähig  ist,  sich  selbst  zu  richten,  es  kündigt  sich  als  Vernunft  an, 
deren  Gesetzgebung  von  nichts  mehr  abhängig  ist,  der  keine  andere 
Autorität  auf  Erden  oder  im  Himmel  einen  andern  Maßstab  des 
Richtens  an  die  Hand  geben  kann.  Das,  was  ich  lehre,  gebe  ich 
nicht  für  meine  Einfälle,  für  mein  Eigentum  aus;  ich  verlange 
nicht,  daß  irgend  jemand  auf  meine  Autorität  es  annehmen  solle, 
denn  ich  suche  nicht  meinen  Ruhm,  ich  unterwerfe  es  der  Be- 
urteilung der  allgemeinen  Vernunft,  die  jeden  bestimmen  mag,  es 
zu  glauben  oder  nicht.  Wie  könntet  aber  ihr  Vernunft  als  höchsten 
Maßstab  des  Wissens  und  des  Glaubens  gelten  lassen,  da  ihr  die 
Stimme  der  Gottheit  nie  vernähmet,  auf  den  Nachhall  dieser 
Stimme  in  eurem  Herzen  nie  hörtet,  auf  den  nicht  achtet,  der 
diesen  Ton  anschlägt,  da  ihr  euch  ausschUeßend  im  Besitze 
der  Wissenschaft  dessen,  was  Wille  Gottes  sei,  glaubet,  und  die 
Auszeichnung,  die  euch  vor  allen  andern  Menschenkindern  zu- 
kommen soll,  zum  Gegenstande  eures  Ehrgeizes  machet,  da  ihr 
euch  auf  Moses  und  immer  auf  Moses  berufet  und  euren  Glauben 
auf  fremde  Autorität  eines  einzelnen  Mannes  gründet?  Ja,  leset  nur 
eure  heiligen  Bücher  aufmerksam;  aber  ihr  müsset  dazu  den  Geist 
der  Wahrheit  und  der  Tugend  mitbringen  und  ihr  werdet  in  ihnen 
Zeugnis  von  diesem  Geiste  und  zugleich  eure  eigene  Anklage 
darin  finden,  daß  euer  Stolz,  der  sich  in  seinem  eingeschränkten 
Gesichtskreise  gefällt,  es  euch  nicht  erlaubt,  zu  etwas  Höherem 
aufzuschauen,  als  eure  geistlose  Wissenschaft  und  eure  mecha- 
nischen Gebräuche  sind.» 

Noch  einige  Anlässe  gaben  (Matth.  XII,  i — 8,  Luk.  VI,  i  —  5) 
den  Pharisäern  Veranlassung,  Christo  und  seinen  Jüngern  Ent- 
heiligung des  Sabbats  vorzuwerfen.  Er  spazierte  an  einem 
solchen  Tage  mit  seinen  Freunden  durch  ein  Ährenfeld;  diese 
hatten  Hunger  und  rauften  Ähren,  oder  was  es  sonst  für  Pflanzen 
waren,  etwa  orientalische  Bohnen,  aus,  und  aßen  die  Körner, 
welches  sonst  wohl  erlaubt  war.  Pharisäer,  die  dies  sahen,  mach- 
ten Christum  darauf  aufmerksam,  daß  seine  Jünger  etwas  tuen, 
was  am  Sabbat  nicht  erlaubt  ist.    Christus  gab  ihnen  aber  zur  Ant- 


DAS  LEBEN  JESU  19 


wort:  «Erinnert  ihr  euch  aus  der  Geschichte  eures  Volkes,  daß 
David,  als  er  Hunger  hatte,  die  geweihten  Brote  des  Tempels  aß 
und  auch  seinen  Gefährten  davon  austeilte?  oder  daß  die  Priester 
im  Tempel  auch  am  Sabbat  mannigfaltige  Verrichtungen  haben? 
Soll  der  Tempel  diese  Verrichtungen  heiligen?  Ich  sage  euch, 
der  Mensch  ist  mehr  als  ein  Tempel;  der  Mensch,  nicht  ein  ge- 
wisser Ort,  heiligt  die  Handlungen  oder  macht  sie  unheilig.  Wenn 
ihr  überhaupt  bedacht  hättet,  was  ich  bei  einer  andern  Gelegen- 
heit einigen  eures  Standes  sagte,  was  es  heißt:  Gott  verlangt  Liebe, 
nicht  Opfer,  so  hättet  ihr  Unschuldige  nicht  so  streng  getadelt.  Der 
Sabbat  ist  um  des  Menschen  willen  geordnet,  nicht  dieser  um  des 
Sabbats  willen  gemacht;  der  Mensch  ist  auch  Herr  des  Sabbats. t 

Ebenso  fragten  ihn  die  Pharisäer  (Matth.  XII,  9 — 12)  in  einer 
Synagoge  an  einem  andern  Sabbat,  um  einen  Grund,  ihn  anzu- 
klagen, zu  finden,  bei  der  Gelegenheit,  daß  ein  Mann,  der  eine 
beschädigte  Hand  hatte,  gegenwärtig  war,  ob  es  erlaubt  sei,  diese 
Leute  zu  heilen.  Jesus  versetzte:  «Wer  ist  unter  euch,  der  nicht 
sein  Schaf,  wenn  es  ihm  an  einem  Sabbat  in  eine  Grube  fällt, 
herausziehe?  Und  wie  viel  größeren  Wert  hat  nicht  ein  Mensch, 
als  ein  Schaf?  So  wird  es  doch  wohl  erlaubt  sein,  am  Sabbat 
eine  gute  Handlung  zu  verrichten!» 

Schon  aus  mehreren  Beispielen  haben  wir  dabei  den  bösen 
Willen  der  Pharisäer  gegen  Jesum  gesehen,  und  von  der  Zeit  an 
verbanden  sie  sich  wirklich  mit  dem  Herodes,  Jesum  womöglich 
aus  dem  Wege  zu  räumen.  Wir  treffen  diesen  jetzt  wieder  in 
Galiläa  an,  wo  er  seinen  Aufenthalt  wegen  jener  Nachstellungen 
verborgen  hielt,  auch  seinen  Zuhörern,  die  sich  bei  ihm  einfanden, 
es  einschärfte,  seinen  Aufenthalt  nicht  bekannt  zu  machen. 

Aus  der  Menge  seiner  Zuhörer  (Luk.  VI,  12 — 13)  sonderte 
Jesus  jetzt  zwölf  ab,  die  er  seines  besonderen  Unterrichts  würdigte, 
um  sie  tüchtig  zu  machen,  ihn  in  der  Ausbreitung  seiner  Lehre 
zu  unterstützen,  und  da  Jesus  nur  zu  gut  einsah,  daß  das  Leben 
und  die  Kraft  eines  Menschen  nicht  hinreiche,  eine  ganze  Nation 
zur  Moralität  zu  bilden,  um  doch  einige  zu  haben,  denen  er  seinen 
Geist  rein  einhauchen  könnte. 

Luk.  VII,  18.  Bei  der  Gelegenheit,  daß  Johannes  einige  seiner 
Freunde  an  Jesum  geschickt  hatte,  um  ihn  über  den  Zweck  seiner 

2» 


20  G.W.  F.  HEGEL 


Rede  zu  befragen,  machte  Jesus  den  Pharisäern  Vorwürfe  über 
den  Kaltsinn,  womit  sie  den  Aufruf  des  Johannes  zur  Besserung 
angenommen  hatten.  «Welche  Neugierde,  sagte  er,  trieb  euch? 
denn  Begierde,  euch  zu  bessern,  war  es  doch  nicht?  Warum 
seid  ihr  hinaus  in  die  Wüste  gegangen  ?  Et\va  euresgleichen  zu 
sehen,  einen  charakterlosen  Mann,  der  seine  Maximen  nach 
seinem  Vorteil  ändert?  ein  Schilfrohr,  das  vom  Winde  hin  und 
her  getrieben  wird?  oder  einen  Mann  in  prächtigen  Kleidern,  der 
viel  Aufwand  macht?  Solche  träfet  ihr  nicht  in  einer  Wüste, 
nur  in  den  Palästen  der  Könige  an!  Oder  etw-a  einen  Wahrsager, 
einen  Wundermann?  Johannes  war  mehr  als  dies!  Beim  ge- 
meinen \'olk  fand  Johannes  noch  eher  Eingang.  Aber  die  Herzen 
von  Pharisäern  und  rechtgläubigen  Gesetzgelehrten  konnte  Jo- 
hannes nicht  erschüttern  oder  sie  des  Guten  empfänglich  machen. 
Mit  was  soll  ich  denn  diese  Menschenart  vergleichen?  Etwa  mit 
Knaben,  die  auf  dem  Markte  spielen  und  den  andern  zurufen: 
«Wir  haben  euch  gepfiffen  und  ihr  habt  nicht  getanzt!  Nun 
haben  wir  euch  traurige  Lieder  gesungen,  aber  ihr  habt  auch 
nicht  geweint!»  Johannes  aß  kein  Brot  und  trank  keinen  Wein; 
ihr  saget,  eine  böse  Laune  plage  ihn;  ich  esse  und  trinke  wie 
andere  Leute,  da  saget  ihr:  «der  Mann  ist  ein  Fresser  und  Säufer 
und  geht  mit  schlechten  Leuten  um.  Doch  Weisheit  und  Tugend 
werden  \''erehrer  finden,  die  ihren  Wert  rechtfertigen  werden.» 
Ohngeachtet  dieser  Strafpredigt  lud  ihn  ein  Pharisäer,  namens 
Simon,  zum  Mittagessen  ein.  Eine  Frau,  die  den  Lehren  Jesu 
wahrscheinlich  viel  zu  verdanken  hatte,  hatte  dies  erfahren  und 
kam  mit  einem  Gefäß  köstlicher  Salben  in  das  Zimmer,  und 
näherte  sich  Jesu.  Der  Anblick  des  Tugendhaften  und  das  Ge- 
fühl ihres  schuldvollen  Lebens  machte  sie  Tränen  vergießen  und 
sich  zu  seinen  Füßen  werfen,  in  der  Empfindung  dessen,  was  er 
zu  ihrer  Reue  und  Rückkehr  auf  den  Weg  der  Tugend  beige- 
tragen hatte;  sie  küßte  seine  Füße,  benetzte  sie  mit  ihren  Tränen, 
trocknete  sie  mit  ihren  Locken  und  salbte  ihn  mit  köstlicher 
Salbe.  Die  Güte,  womit  Jesus  diese  Äußerungen,  worin  ein  reu- 
volles und  dankbares  Herz  Linderung  findet,  aufnahm,  die  Güte 
Jesu,  die  diese  Empfindung  nicht  zurückstieß,  beleidigte  die  Deli- 
katesse der  Pharisäer.    Sie  ^aben  in  ihren  Mienen  ihr  Befremden 


DAS  LEBEN  JESU  21 


zu  erkennen,  daß  Jesus  einer  Frau  von  einem  solchen  Übeln  Rufe 
so  gütig  begegne.  Jesus  merkte  es  und  sagte  zu  Simon:  «Ich 
hätte  dir  etwas  zu  erzählen.»  —  «Rede  nur»,  sagte  Simon.  — 
«Ein  Schuldherr,  erzählte  Jesus,  hatte  zwei  Schuldner,  deren 
einer  ihm  fünfhundert,  der  andere  fünfzig  Denare  schuldig  war. 
Da  sie  außerstande  waren,  ihm  die  Schuld  heimzubezahlen,  so 
erheß  er  sie  ihnen.  Welcher  wird  ihn  von  beiden  mehr  lieben?» 
—  «Wohl  der,  sagte  Simon,  dem  er  am  meisten  schenkte.»  — 
«Ohne  Zweifel,  erwiderte  Jesus,  indem  er  auf  die  Frau  zeigte: 
«Schau  hieher,  fuhr  er  fort.  Ich  kam  in  dein  Haus;  du  hast  mir 
kein  Wasser,  die  Füße  zu  waschen,  angeboten;  sie  hat  sie  mit 
ihren  Tränen  benetzt  und  mit  den  Locken  ihres  Hauptes  abge- 
trocknet. Du  hast  mir  keinen  Kuß  gegeben;  sie  hat  es  nicht 
unter  ihrer  Würde  gehalten,  mir  sogar  die  Füße  zu  küssen.  Du 
hast  mein  Haupt  nicht  mit  Salbe  gesalbt;  sie  hat  es  mit  köstlicher 
Salbe  meinen  Füßen  getan.  Einem  Weibe,  das  solcher  Liebe, 
solcher  Dankbarkeit  fähig  ist,  sind  ihre  Fehler,  und  wenn  es  schon 
viele  wären,  verziehen.  Kälte  solcher  edeln  Empfindungen  zeigt 
keine  Rückkehr  zur  Unbefangenheit  der  Tugenden  an.  Ein  gött- 
licher Genuß,  sagte  Jesus  noch  zu  der  Frau,  den  Sieg  des  Glau- 
bens an  dich  selbst,  noch  des  Guten  fähig  zu  sein,  und  deines 
Mutes  zu  sehen !    Lebewohl!» 

Jesus  zog  weiter  durch  Städte  und  Dörfer  (Luk.  VIII,  i)  und 
predigte  überall.  Seine  Begleiter  waren  seine  zwölf  Apostel,  auch 
einige  zum  Teil  reiche  Frauen,  die  die  Gesellschaft  aus  ihrem 
Vermögen  unterhielten. 

Einst,  in  Gegenwart  einer  großen  Versammlung,  legte  er  ihnen 
folgende  Parabel  vor  (d.  i.  erdichtete  Erzählung,  die  eine  gewisse 
Lehre  sinnlich  darstellt;  sie  unterscheidet  sich  von  den  Fabeln  da- 
durch, daß  in  diesen  Tiere,  von  den  Mythen,  daß  in  diesen  Dämonen 
oder  allegorische  Wesen,  in  den  Parabeln  Menschen  die  handeln- 
den Personen  sind):  «Ein  Sämann  ging  aus,  seinen  Samen  zu 
säen;  ein  Teil  desselben  fiel  auf  den  Weg  und  wurde  zertreten 
und  von  den  Vögeln  gefressen;  ein  anderer  Teil  fiel  auf  Felsen- 
grund, wo  er  nicht  viel  Erde  hatte ;  er  ging  bald  auf,  aber  von 
der  Hitze  welkte  er  bald  dahin,  weil  er  keine  tiefen  Wurzeln 
hatte;  anderer  Samen  fiel  in  Dornhecken,  die  aufschössen  und 


22  G.W.  F.  HEGEL         

ihn  erstickten ;  ein  Teil  fiel  aber  auf  gutes  Land  und  gab  dreißig-, 
sechzig-  bis  hundertfältige  Früchte.»  Als  seine  Jünger  ihn  darüber 
befragten,  warum  er  dem  Volke  die  Lehren  in  Parabeln  eingehüllt 
vortrage,  so  gab  er  ihnen  zur  Antwort:  «Ihr  habt  wohl  Sinn  für 
die  erhabenen  Ideen  von  dem  Reiche  Gottes,  und  von  der  Sitt- 
lichkeit, die  das  Bürgerrecht  in  demselben  gibt;  aber  die  Erfahrung 
hat  mich  belehn,  daß  dies  verlorene  Worte  bei  den  Juden  sind, 
und  doch  verlangen  sie  etwas  von  mir  zu  hören;  ihre  tiefen  Vor- 
urteile lassen  die  nackte  Wahrheit  nicht  bis  an  ihr  Herz  dringen. 
Wer  Anlage  hat,  ein  Besseres  in  sich  aufzunehmen,  der  kann 
Nutzen  aus  meinen  Lehren  ziehen;  wenn  aber  jener  bessere  Sinn 
fehlt,  dem  dient  auch  die  wenige  Erkenntnis  des  Guten  zu  nichts, 
die  er  etwa  haben  mag.  Sie  haben  Augen  und  sehen  nicht,  Ohren 
und  hören  nicht;  deswegen  habe  ich  nur  ein  Gleichnis  zu  ihnen 
gesprochen,  das  ich  euch  jetzt  erklären  will.  Der  ausgesäete  Samen 
ist  die  Erkenntnis  des  Sittengesetzes.  Wer  nun  Gelegenheit  hat, 
zu  dieser  Erkenntnis  zu  gelangen,  sie  aber  nicht  fest  auffaßte,  dem 
reißt  gar  leicht  ein  Verführer  das  wenige  Gute  aus  dem  Herzen, 
das  etwa  darein  gesäet  war.  Dies  bedeutet  den  Samen,  der  auf 
die  Straße  fiel.  Der  auf  einen  feisichten  Grund  gesäet  wurde  ist 
die  Erkenntnis,  die  zwar  mit  Freuden  aufgenommen  wird,  aber 
weil  sie  keine  tiefe  Wurzel  geschlagen  hat,  bald  den  Umständen 
nachgibt,  und  wenn  Not  und  Unglück  die  Rechtschaffenheit  be- 
drohen, dann  scheitert.  Der  Samen,  der  in  Hecken  fiel,  ist  der 
Zustand  solcher,  die  zwar  wohl  auch  von  der  Tugend  haben 
sprechen  hören,  in  denen  sie  aber  von  den  Sorgen  des  Lebens  und 
der  täuschenden  Verführung  des  Reichtums  erstickt  wird,  und 
ohne  Früchte  bleibt.  Der  Samen,  der  auf  einen  guten  Grund  ge- 
säet wurde,  ist  die  Stimme  der  Tugend,  die  verstanden  wurde, 
und  dreißig-,  sechzig-  bis  hundertfältige  Frucht  trägt.» 

Erlegte  ihnen  noch  andere  Parabeln  vor  (Matth.  XIII,  i8 — 23): 
Das  Reich  des  Guten  läßt  sich  mit  einem  Acker  vergleichen,  den 
der  Besitzer  desselben  mit  gutem  Samen  angesäet  hatte.  Während 
die  Leute  schliefen,  kam  sein  Freund  und  säete  Unkraut  unter 
den  Weizen  und  schlich  sich  davon.  Als  nun  der  Samen  in 
Ähren  zu  schießen  anfing,  so  zeigte  sich  auch  das  Unkraut.  Die 
Knechte  frugen  den  Herrn:  «Du  hast  doch  reinen  Samen  gesäet. 


DAS  LEBEN  JESU  23 


Wie  kommt  es,  daß  so  viel  Unkraut  auf  dem  Acker  ist?»  —  «Ein 
Feind  von  mir  wird  es  wohl  gesäet  haben,  antwortete  der  Herr.» 
Die  Knechte  sagten:  «Willst  du  nicht,  daß  wir  es  ausjäten?»  — 
«Nein,  antwortete  der  klügere  Herr,  denn  mit  dem  Unkraut  würdet 
ihr  auch  die  Weizenähren  ausreißen.  Lasset  beides  nur  bis  zu 
der  Ernte  miteinander  wachsen;  dann  werde  ich  den  Schnittern 
befehlen,  das  Unkraut  zu  sondern  und  wegzuschaffen  und  den 
reinen  Weizen  aufzuheben.» 

Als  Jesus  mit  seinen  Jüngern  allein  war,  und  sie  ihn  um  die 
Erklärung  desselben  befragten,  gab  er  ihnen  folgende  Antwort: 
«Der  Säemann  des  guten  Samens  sind  gute  Menschen,  die  durch 
ihre  Lehren  und  ihr  Beispiel  die  Menschen  auf  die  Tugend  auf- 
merksam machen;  der  Acker  ist  die  Welt;  der  gute  Samen  sind 
die  besten  Menschen,  das  Unkraut  die  lasterhaften;  der  Feind, 
der  Unkraut  aussäet,  sind  Verführungen  und  Verführer;  die  Zeit 
der  Ernte  ist  die  Ewigkeit,  die  Vergelterin  des  Guten  und  des 
Bösen;  indessen  stehen  Tugend  und  Laster  in  zu  genauer  Ver- 
bindung miteinander,  als  daß  dieses  ohne  Schaden  der  erstem 
schon  ausgerottet  werden  könnte;  so  werden  in  der  großen 
Erntezeit  gute  und  böse  Menschen  sich  voneinander  unter- 
scheiden, jene  durch  die  Belohnung,  die  sie  in  der  Ruhe  finden, 
die  die  Tugend  gibt,  diese  durch  Reue,  Selbstanklage  und  Scham.» 

Auch  verglich  er  das  Reich  des  Guten  mit  einem  verborgenen 
Schatz  in  einem  Acker,  den  einer  entdeckt,  aber  wieder  verbirgt 
und  dann  in  der  Freude  alles  verkauft,  was  er  hat,  und  jenen  Acker 
kauft,  —  oder  mit  einem  Kaufmann,  der  schöne  Perlen  sucht,  und 
eine  sehr  kostbare  findet,  für  die  er  alles  verkauft,  um  Besitzer 
derselben  zu  werden,  —  oder  mit  einem  Fischer,  der  in  seinem 
Netz  Fische  aller  Art  gefangen  hat,  sie  dann  am  Ufer  ausliest,  die 
guten  in  seine  Gefäße  legt,  die  schlechten  aber  hinauswirft.  In 
einer  andren  Rücksicht  verglich  er  das  Reich  des  Guten  mit  einem 
Senfkorn,  das  so  klein  ist,  aber  zu  einer  großen  Staude  aufwächst, 
daß  die  Vögel  darin  nisten  können,  —  oder  mit  ein  wenig  ge- 
säuertem Teig,  der  unter  drei  Scheffel  Mehl  geknetet  die  ganze 
Masse  durchsäuert.  Es  geht  mit  dem  Reich  des  Guten  wie  mit 
dem  Samen,  der  in  den  Boden  gesäet  keiner  weiteren  Mühe  be- 
darf; er  keimt  und  treibt  sich,  ohne  daß  man  es  bemerkt;  denn 


24  G.W.  F.  HEGEL 


die  Erde  hat  von  Natur  eine  eigene  Triebkraft,  wodurch  der 
Same  keimt,  zu  Halmen  aufschießt  und  volle  Ähren  trägt  (Mark. 
V,  26  ff.). 

Indessen  waren  Anverwandte  Jesu  (Luk.  VIII,  19)  gekommen, 
ihn  zu  besuchen.  Vor  der  Menge  Menschen,  die  ihn  umgaben, 
konnten  sie  sich  ihm  nicht  nähern.  Da  man  es  Jesu  sagte,  ant- 
wortete er:  «Meine  Brüder  und  Verwandten  sind  diese,  die  auf 
die  Stimme  der  Gottheit  hören  und  ihr  folgen.» 

Auf  die  Nachricht  von  der  Ermordung  des  Johannes  Heß  er 
sich  an  das  westliche  Ufer  des  Sees  Tiberias  überschiffen  (Luk. 
VIII,  22,  Matth.  XIV,  13),  hielt  sich  aber  nur  eine  kurze  Zeit 
unter  den  Gadarenern  auf,  und  kehrte  wieder  nach  Galiläa 
zurück. 

Seine  zwölf  Apostel  schickte  Jesus  um  diese  Zeit  aus  (Luk.  IX), 
um,  wie  er,  die  Vorurteile  der  Juden  zu  bestreiten,  die,  stolz  auf 
ihren  Namen  und  auf  ihre  Abstammung,  dies,  welches  in  ihren 
Augen  ein  großer  Vorzug  war,  über  den  einzigen  Wert  setzten, 
den  die  Sittlichkeit  dem  Menschen  gibt.  «Ihr  brauchet  keine 
große  Anstalten  zu  eurer  Reise  zu  machen,  sagte  Jesus,  euch  durch 
irgend  einen  Aufwand  anzukündigen.  Wo  man  euch  Gehör  gibt, 
da  haltet  euch  eine  Zeitlang  auf;  w^er  euch  ungütig  aufnimmt,  dem 
dringet  euch  nicht  auf,  sondern  verlasset  den  Ort  gleich  wieder 
und  setzet  euren  Weg  weiter  fort.»  Es  scheint,  sie  seien  nur 
wenige  Zeit  ausgeblieben  und  haben  sich  bei  Jesu  bald  wieder 
eingefunden. 

Einst  befand  er  sich  in  einer  Gesellschaft  (Mark.  VII)  von  Phari- 
säern und  Gesetzgelehrten,  die  von  Jerusalem  kamen.  Diesen  fiel 
es  auf,  daß  die  Jünger  sich  mit  unreinen  Händen  zu  Tische  setzten: 
denn  die  Juden,  nach  einer  Vorschrift,  die  sich  auf  das  Her- 
kommen gründet,  essen  nichts,  ehe  sie  sich  nicht  sehr  reinlich 
gewaschen  haben;  so  mußten  auch  außerdem,  daß  sie  schon  rein 
gemacht  waren,  vor  jedem  Essen  alle  Trinkgeschirre  und  sonstigen 
Gefäße,  Stühle  und  Bänke  mit  Wasser  bespritzt  werden.  Die 
Pharisäer  fragten  Jesum :  «Warum  leben  doch  nicht  deine  Schüler 
nach  den  Vorschriften  unsrer  Väter,  sondern  setzen  sich  mit 
ungeweihten  Händen  zu  Tische.''»  Jesus  antwortete:  «Eine  Stelle 
eurer  heiligen  Bücher  läßt  sich  gut  auf  euch  anwenden;  sie  heißt: 


DAS  LEBEN  JESU  25 


Dies  Volk  dient  mir  mit  den  Lippen ;  ihr  Herz  aber  ist  weit  von 
mir;  seelenlos  ist  ihre  Verehrung,  denn  sie  ist  eine  Befolgung 
willkürlicher  Satzungen.  Ihr  achtet  nicht  das  göttliche  Gebot, 
sondern  haltet  euch  ganz  an  menschliche  Gebräuche,  z.  B.  an 
das  Weihen  der  Becher  und  Stühle  durch  Wasser,  und  ähnliche 
dergleichen  Dinge;  darin  seid  ihr  genau.  Ein  göttliches  Gebot 
z.  B.,  das  ihr  so  aufhebet,  um  euren  kirchlichen  Statuten  getreu 
zu  bleiben,  ist  das  Gesetz:  Ehre  deinen  Vater  und  deine  Mutter, 
wer  gegen  Vater  und  Mutter  lieblose  Reden  ausstößt,  soll  sterben. 
Ihr  aber  habt  ein  anderes  Gesetz  aufgestellt.  Wenn  jemand  im 
Zorn  zu  seinem  Vater  oder  Mutter  gesprochen  hat:  «Was  ich 
euch  noch  für  Dienste  erweisen,  oder  euch  Gutes  tun  könnte, 
das  soll  dem  Tempel  geweiht  sein»  —  so  erkläret  ihr  ihn  dadurch 
als  durch  ein  Gelübde  gebunden,  ihnen  nichts  mehr  Gutes  zu  er- 
weisen und  rechnet  es  ihm  für  eine  Sünde  an,  wenn  er  seinem 
Vater  oder  Mutter  noch  irgend  einen  Dienst  erwiese.  So  hebet 
ihr  jenes  göttUche  Gebot  durch  eure  Gebote  wieder  auf.  Auf 
ähnliche  Art  habt  ihr  noch  mehrere  Satzungen.» 

Jesus  sagte  darauf  zu  der  Menge,  die  um  ihn  her  stand: 
«Höret  mir  zu  und  begreifet,  was  ich  euch  sage:  Kein  körper- 
liches Ding,  nichts,  das  der  Mensch  von  außen  her  in  sich  nimmt, 
kann  ihn  verunreinigen,  sondern  das,  dessen  Urheber  er  ist;  was 
aus  seinem  Munde  ausgeht,  zeigt  an,  ob  seine  Seele  rein  oder  un- 
rein ist.»  Seine  Schüler  wollten  ihn  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  die  Pharisäer  ein  Ärgernis  an  diesen  Reden  nehmen.  «Lasset 
sie  sich  ärgern,  sagte  Jesus;  solche  Pflanzungen,  die  von  Menschen 
herrühren,  müssen  ausgerottet  werden.  EssindBHnde,  die  Blinden 
den  Weg  weisen,  und  solchen  blinden  Wegweisern  möchte  ich 
das  Volk  entreißen;  sonst  fällt  dieses  mit  denen  in  die  Grube, 
denen  es  sich  anvertraut.»  Als  das  Volk  sich  zerstreut  hatte,  und 
Jesus  in  das  Haus  zurückgekehrt  war,  so  fragten  ihn  seine  Freunde 
um  Erläuterung  dessen,  was  er  dem  Volke  von  reinen  und  un- 
reinen Dingen  gesagt  hatte.  «Wie?  versetzte  Jesus.  Auch  ihr 
seid  noch  nicht  so  weit  gekommen,  es  zu  fassen?  Begreifet  ihr 
denn  nicht,  daß  das,  was  durch  den  Mund  des  Menschen  geht, 
im  Magen  und  in  den  Gedärmen  verarbeitet  und  durch  die  Ab- 
führungswege fortgeschafft  wird?  Was  aber  aus  dem  Munde  geht, 


26  G.W.  F.  HEGEL 


Worte  und  Handlungen  überhaupt,  kommen  aus  dem  Gemüt  des 
Menschen,  und  diese  können  rein  oder  unrein,  heilig  oder  unheilig 
sein.  Aus  der  Seele  entspringen  doch  die  bösen  Gedanken,  die 
Mordtaten,  die  Ehebrüche,  die  Diebstähle,  die  falschen  Zeugnisse, 
die  Schmähungen,  Neid,  Hochmut,  Schwelgerei,  Geiz.  Diese 
Laster  sind  es,  die  den  Menschen  entheiligen,  nicht  das,  wenn  er 
etwa  die  Hände  nicht  mit  Wasser  weiht,  ehe  er  sich  zu  Tische 
setzt.» 

Zur  Zeit  des  Laubhüttenfestes  der  Juden  (Joh.  VII)  redeten  Jesu 
seine  Verwandten  zu,  mit  ihnen  nach  Jerusalem  zu  reisen,  um 
dort  auf  einem  größern  Schauplatz,  als  in  den  galiläischen  Städten 
und  Dörfern,  sich  hören  zu  lassen  und  bekannt  zu  machen.  Er 
gab  ihnen  aber  zur  Antwort,  für  ihn  sei  es  jetzt  keine  schickliche 
Zeit;  sie  können  nur  immer  gehen,  sie  werden  von  den  Menschen 
nicht  gehaßt,  wie  er,  weil  er  den  Juden  das  Zeugnis  gegeben  habe, 
daß  ihre  Sitten  verderbt  und  ihre  Handlungen  böse  seien.  Erst 
einige  Tage  nachdem  seine  Verwandten  aus  Galiläa  abgereist 
waren,  ging  auch  Jesus,  aber  ganz  in  der  Stille,  nach  Jerusalem. 
Dort  waren  schon  Nachfragen  nach  ihm  geschehen,  denn  man 
hatte  ihn  als  einen  Juden  erwartet.  Das  Urteil  des  Volkes,  besonders 
der  Galiläer,  fiel  verschieden  über  ihn  aus.  Ein  Teil  hielt  ihn  für 
einen  rechtschaffenen  Mann,  ein  anderer  Teil  sah  ihn  als  einen 
Verführer  an,  doch  wagten  es  die  Galiläer  aus  Furcht  vor  den 
Juden  nicht,  öffentlich  von  ihm  zu  sprechen. 

Einst,  in  der  Mitte  der  Tage  des  Festes,  begab  sich  Jesus  in  den 
Tempel  und  lehrte  dort.  Die  Juden  wunderten  sich  hierüber,  da 
sie  wußten,  daß  er  nicht  studiert  habe.  Jesus  gab  ihnen  zur  Ant- 
wort: «Meine  Lehre  ist  nicht  eine  Erfindung  der  Menschen,  die 
mühsam  von  andern  erlernt  zu  werden  brauchte.  Wer  ohne 
Vorurteile  dem  unverfälschten  Gesetze  der  Sittlichkeit  zu  folgen 
sich  vorgesetzt  hat,  der  wird  meine  Lehre  gleich  prüfen  können, 
ob  sie  meine  Erfindung  ist.  Wer  seinen  eignen  Ruhm  sucht,  setzt  frei- 
lich einen  großen  Wert  aufSpekulationen  und  Gebote  der  Menschen. 
Wer  aber  die  Ehre  Gottes  wahrhaftig  sucht,  der  ist  aufrichtig 
genug,  jene  Erfindungen,  die  die  Menschen  dem  Sittengesetz 
beigesellt,  oder  gar  an  seiner  Statt  gesetzt  haben,  zu  verwerfen. 
So  weiß  ich,  daß  ihr  mich  hasset  und  gar  mich  zu  töten  trachtet, 


DAS  LEBEN  JESU  27 


weil  ich  es  für  erlaubt  erklärt  habe,  am  Sabbat  einen  Menschen 
zu  heilen.  Erlaubte  euch  doch  Moses,  den  Menschen  am  Sabbat 
zu  beschneiden  I  Wie  viel  mehr,  ihn  gesund  zu  machen  1»  Einige 
Jerusalemer,  die  ihn  sprechen  hörten,  zeigten  durch  ihre  Reden, 
daß  sie  von  einem  Vorhaben  des  hohen  Rats,  Jesum  aus  dem  Wege 
zu  räumen,  gehört  hatten.  Sie  verwunderten  sich,  ihn  so  öffent- 
lich und  frei  sprechen  zu  hören  und  daß  doch  noch  niemand  Hand 
an  ihn  lege,  da  man  dies  doch  im  Sinne  habe;  der  Messias,  den 
die  Juden  erwarteten,  um  den  Glanz  ihres  Gottesdienstes  und  die 
Unabhängigkeit  ihres  Reiches  wiederherzustellen,  könne  Jesus 
freilich  nicht  sein;  denn  von  ihm  wissen  sie  ja,  woher  er  sei;  der 
Messias  hingegen  werde  den  Prophezeiungen  zufolge  plötzlich 
erscheinen.  So  standen  Jesu  immer  die  Vorurteile  der  Juden  ent- 
gegen, die  wenig  nach  einem  Lehrer  fragten,  der  ihre  Sitten  zu 
verbessern  und  sie  von  ihren  der  Moralität  entgegengesetzten  Vor- 
urteilen zurückzubringen  suchte,  sondern  einen  Messias  wollten, 
der  sie  von  der  Abhängigkeit  der  Römer  befreite  und  einen  solchen 
an  Jesu  nicht  fanden. 

Den  Mitgliedern  des  hohen  Rats  gaben  ihre  Diener  bald  Nach- 
richt davon,  daß  Jesus  sich  im  Tempel  befinde;  sie  bekamen  Vor- 
würfe, daß  sie  Jesum  nicht  gleich  gefangen  mitgebracht  hatten. 
Sie  entschuldigten  sich  damit,  daß  sie  noch  niemand  so  haben 
sprechen  hören  und  es  nicht  gewagt  haben,  ihn  zu  packen.  Die 
Pharisäer  sagten  ihnen  darauf:  «Wie  es  scheint,  auch  euch  hat 
er  verführt;  sehet  ihr  denn,  daß  ein  Mitglied  des  Rats  oder  ein 
Pharisäer  etwas  auf  ihn  hält.-*  Nur  der  unserer  Gesetze  unkundige 
Pöbel  läßt  sich  von  ihm  täuschen.»  Als  Nikodemus,  der  Jesum 
einst  bei  Nacht  besucht  hatte,  ihnen  vorstellte,  daß  man  nach  den 
Gesetzen  niemand  verdammen  könne,  ohne  ihn  vorher  gehört 
und  von  seinen  Handlungen  genau  sich  unterrichtet  zu  haben, 
so  warfen  ihm  die  andern  vor,  er  sei  wohl  auch  ein  Anhänger 
des  Galiläers;  aus  Galiläa  könne  doch  kein  Prophet  herstammen. 
Ohne,  wie  es  scheint,  wegen  Jesu  einen  förmlichen  Beschluß  ge- 
faßt zu  haben,  ging  der  Rat  wieder  auseinander. 

Jesus  brachte  die  Nacht  auf  dem  Ölberg  (Joh.  VIII),  vielleicht 
in  Bethanien  zu,  das  an  dem  Fuß  dieses  Berges  lag,  wo  er  Be- 
kannte hatte;  doch  kam  er  wieder  in  die  Stadt  und  in  den  Tem- 


28  G.W.  F.  HEGEL 


pel  zurück.  Während  er  da  lehrte,  führten  einige  Gesetzgelehrten 
und  Pharisäer  eine  Frau,  die  im  Ehebruch  enappt  worden  war, 
zu  ihm,  stellten  sie  in  die  Mitte,  um  gleichsam  Gericht  über  sie 
zu  halten,  und  legten  Jesu  den  Fall  vor,  daß  das  Gesetz  Moses 
befehle,  eine  solche  mit  Steinen  totzuwerfen,  und  fragten  ihn, 
was  seine  Meinung  sei?  Jesus  sah  ihre  Absicht,  ihm  eine  Schlinge 
zu  legen,  wohl  ein,  stellte  sich,  nichts  gehört  zu  haben,  und  bückte 
sich  und  machte  mit  dem  Finger  Figuren  in  den  Sand.  Als  sie 
darauf  bestanden,  seine  Meinung  zu  hören,  erhob  er  sich  und 
sagte  zu  ihnen:  «Wer  sich  unter  euch  ohne  Vergehen  weiß,  der 
werfe  den  ersten  Stein  auf  sie. »  Dann  machte  er  wie  vorhin  Fi- 
guren in  den  Sand.  Auf  jene  Antv.-ort  Jesu  hatte  sich  von  den 
Schriftgelehrten  einer  um  den  andern  davongeschlichen  und  Jesus 
blieb  mit  der  Frau  allein.  Jesus  erhob  sich  jetzt  und  sah  nie- 
mand mehr  als  noch  die  Frau.  «Wo  sind  deine  Ankläger,  fragte 
er,  hat  keiner  dich  verurteilt?»  —  «Keiner»,  sagte  sie.  «Auch  ich, 
erwiderte  Jesus,  verdamme  dich  nicht;  lebe  wohl,  und  vergehe 
dich  in  Zukunft  nimmer.» 

Joh.  VIII,  12 — 20.  Als  Jesus  ein  andermal  im  Tempel  einen 
öffentlichen  Vortrag  hielt,  so  hielten  ihm  die  Pharisäer  entgegen, 
welches  Zeugnis  er  aufweisen  könne,  das  ihm  selbst  und  andern 
die  Wahrheit  seiner  Lehren  verbürgen  könne;  sie  genießen  das 
Glück,  eine  Verfassung  und  Gesetze  zu  haben,  die  durch  feier- 
Hche  Offenbarungen  der  Gottheit  legitimiert  seien.  Jesus  gab 
ihnen  zur  Antwon:  «Glaubet  ihr  etwa,  die  Gottheit  habe  das 
menschliche  Geschlecht  in  die  Welt  geworfen  und  der  Natur 
überlassen,  ohne  ein  Gesetz,  ohne  ein  Bewußtsein  des  Endzwecks 
ihres  Daseins,  ohne  die  Möglichkeit,  in  sich  selbst  es  zu  finden, 
wie  es  der  Gottheit  wohlgefällig  werden  könne?*  es  sei  eine  Sache 
des  Glückes,  daß  die  Kenntnis  der  moralischen  Gesetze  euch  allein, 
diesem  Winkel  der  Erde,  man  weiß  nicht  warum,  ausschließlich 
aller  Nationen  der  Erde  zuteil  geworden  sei?  Dies  macht  euch 
die  selbstsüchtige  Eingeschränktheit  eurer  Köpfe  zu  wähnen.  Ich 
halte  mich  allein  an  die  unverfälschte  Stimme  meines  Herzens 
und  Gewissens.     Wer  aufrichtig  dieser  horcht,  dem  leuchtet  aus 

*  Goethe:  Jeder  vernimmt  sie,  dem  des  Lebens  Quelle  rein  im  Busen  fließt. 
(Anmerkung  1) 


DAS  LEBEN  JESU  29 


ihr  Wahrheit  entgegen.  Auf  diese  Stimme  zu  hören  fordre  ich 
allein  von  meinen  Schülern.  Dieses  innerliche  Gesetz  ist  ein 
Gesetz  der  Freiheit,  dem  sich,  als  von  ihm  selbst  gegeben,  der 
Mensch  freiwillig  unterwirft.  Es  ist  ewig;  in  ihm  liegt  das  Ge- 
fühl der  Unsterblichkeit.  Für  die  Pflicht,  die  Menschen  damit 
bekannt  zu  machen,  bin  ich  bereit,  wie  ein  treuer  Hirt  für  seine 
Herde,  das  Leben  zu  lassen.  Ihr  möget  mir  es  nehmen,  so  raubet 
ihr  mir  es  nicht,  sondern  frei  opfere  ich  es  selbst  auf.  Ihr  seid 
Sklaven,  denn  ihr  stehet  unter  dem  Joche  eines  Gesetzes,  das 
euch  von  außen  aufgelegt  ist,  und  darum  nicht  die  Macht  hat, 
euch  durch  Achtung  für  euch  selbst  dem  Dienste  der  Neigungen 
zu  entreißen.» 

Die  Aufnahme,  die  Jesus  in  Jerusalem  gefunden  hatte,  die 
Stimmung  der  Juden  und  besonders  der  Priesterschaft  gegen  ihn, 
welche  den  Beschluß  gefaßt  hatten,  diejenigen  in  Bann  zu  tun, 
aus  der  Teilnehmung  am  Gottesdienst  und  am  öffentlichen  Unter- 
richt auszuschUeßen  (Joh.  IX),  die  Jesum  für  den  Messias,  den  die 
Juden  erwarteten,  wofür  er  sich  im  öffentlichen  ausgegeben  hatte, 
halten  würden,  —  diese  feindselige  Stimmung  gab  ihm  ein  Vorge- 
fühl von  Gewalttätigkeiten  (vielleicht  dem  Tod),  die  er  noch 
werde  zu  erdulden  haben,  und  er  teilte  diese  Gedanken  auch 
seinen  Jüngern  mit.  «Wir  wollen  doch  nicht  hoffen,  sagte  Petrus, 
da  sei  Gott  vorl»  «Wie.-'  antwortete  Jesus,  bist  du  schwach  ge- 
nug, nicht  darauf  bereitet  zu  sein,  oder  etwa  mich  nicht  darauf 
bereitet  zu  glauben  ?  Wie  sinnlich  denkst  du  noch  I  Du  kennst 
die  göttliche  Kraft  noch  nicht,  die  die  Achtung  für  Pflicht  gibt, 
ihr  zuliebe  die  Forderung  der  Neigungen  und  selbst  die  Liebe 
zum  Leben  zu  besiegen!»  Dann  wandte  er  sich  zu  den  übrigen 
Jüngern:  «Wer  der  Tugend  folgen  will,  muß  sich  Verleugnungen 
aufzulegen  wissen ;  wer  ihr  unverrückt  getreu  bleiben  will,  muß 
ihr  selbst  sein  Leben  aufzuopfern  bereit  sein.  Wer  sein  Leben 
lieb  hat,  wird  seine  Seele  entadeln;  wer  es  verachtet,  der  bleibt 
seinem  bessern  Ich  getreu  und  rettet  es  aus  dem  Zwange  der 
Natur.  Welcher  Wert  bliebe  dem  Menschen,  dem  die  ganze 
Welt  zur  Beute  würde  und  der  sein  Selbst  darüber  erniedrigte.!* 
Welchen  Preis  gäbe  es,  der  eine  Entschädigung  für  die  verlorene 
Tugend    wäre.!*     Einst   wird  der  Unterdrückte    in  Herrlichkeit 


30  G.W.  F.  HEGEL 


glänzen  und  die  in  ihre  Rechte  eingesetzte  Vernunft  wird  selbst 
jedem  den  Lohn  seiner  Taten  bestimmen.» 

Nach  längerem  Aufenthalt  in  Jerusalem,  als  Jesus  sonst  machte, 
(denn  er  blieb  vom  Laubhüttenfest  bis  zum  Fest  der  Tempelweihe 
im  Dezember,  Joh.  X,  22),  kehrte  Jesus,  und  zwar  zum  letzten 
Male,  nach  der  Gegend,  die  der  gewöhnliche  Schauplatz  seines 
Lebens  war,  nach  Galiläa,  zurück  (Matth.  XVII,  22).  In  dieser 
Zeit  seines  dortigen  Aufenthalts  scheint  er  nicht  mehr,  wie  vor- 
hin (Mark.  IX,  30),  vor  einer  großen  Volksmenge  gelehrt,  sondern 
sich  vorzüglich  mit  der  Bildung  seiner  Jünger  beschäftigt  zu 
haben. 

Matth.  XVII,  24 — 27.  In  Kapernaum  forderte  man  von  ihm 
die  jährliche  Steuer  zum  Besten  des  Tempels.  «Was  meinst  du, 
Petrus,  sagte  er  zu  diesem,  als  er  mit  ihm  ins  Haus  trat,  die  Könige 
der  Erde  fordern  Steuern  ein,  etwa  von  ihren  Söhnen  oder  von 
andern?»  —  «Von  andern»,  sagte  Petrus.  —  «So  wären  also  die 
Söhne  frei,  erwiderte  Jesus,  und  war,  die  Gott  im  wahren  Geiste 
des  Wortes  verehren,  brauchten  nichts  zur  Erhaltung  eines  Tem- 
pels beizutragen,  dessen  wir  nicht  bedürfen,  um  Gott  zu  dienen, 
denn  wir  suchen  dies  durch  einen  guten  Lebenswandel  zu  tun. 
Doch  damit  sie  kein  Ärgernis  nehmen  und  wir  keine  Verachtung 
desjenigen  zeigen,  was  ihnen  so  heilig  ist,  so  bezahle  für  uns.» 

Luk.  IX,  46 — 50.  Unter  den  Jüngern  Jesu  entstand  ein  Streit 
über  den  Rang,  der  einem  jeden  gebührte,  besonders  im  Reiche 
Gottes,  wenn  es  einst  erscheinen  sollte,  indem  sie  damit  noch 
sehr  sinnliche  Ideen  verbanden,  von  dem  jüdischen  Sinne  eines 
weltlichen  Reiches  noch  nicht  ganz  frei  waren,  noch  nicht  sich 
diese  Idee  des  Reiches  Gottes  als  eines  Reichs  des  Guten,  worin 
Vernunft  und  Gesetz  allein  gebieten,  rein  dachten.  Jesus  hörte 
mit  Wehmut  diesen  Streit,  rief  dann  ein  Kind  und  sagte  ihnen: 
«Wenn  ihr  euch  nicht  ändert,  und  zu  der  Unschuld,  zu  der  Ein- 
falt und  Anspruchslosigkeit,  die  dieses  Kind  hat,  zurückkehret, 
so  seid  ihr  wahrlich  nicht  Bürger  des  Reiches  Gottes;  wer 
gegen  andere,  selbst  gegen  ein  solches  Kind  fehlt,  und  sich  gegen 
sie  etwas  herausnehmen  oder  sie  gleichgültig  behandeln  zu  dürfen 
glaubt,  der  ist  ein  Unwürdiger;  wer  aber  die  Heiligkeit  der  Un- 
schuld beleidigt  und  ihrer  Reinheit  weh  tut,  dem  wäre  es  besser, 


DAS  LEBEN  JESU  31 


man  hinge  ihm  einen  Mühlstein  an  den  Hals  und  ersäufte  ihn  im 
Meere.  In  der  Welt  wird  es  freilich  immer  nie  an  Verletzungen 
einer  reinen  Gesinnung  fehlen,  aber  wehe  dem  Menschen,  der  zu 
einem  solchen  Ärgernis  Anlaß  gibt!  Sehet  euch  wohl  vor,  nie- 
mand, am  wenigsten  Einfalt  des  Herzens  zu  verachten;  es  ist  die 
zarteste,  die  edelste  Blüte  der  Menschheit,  das  reinste  Ebenbild 
der  Gottheit;  sie  allein  gibt  einen,  und  zwar  den  höchsten  Rang; 
diese  Einfalt  ist  wert,  daß  alles  aufgeopfert  werde,  was  eure  lieb- 
sten Neigungen  sind,  jede  Regung  von  Eitelkeit  und  Ehrgeiz 
oder  von  falscher  Scham,  alle  Rücksichten  von  Nutzen  oder  Vor- 
teil. Wenn  ihr  derselben  nachstrebet,  wenn  ihr  die  Würde,  zu 
der  jeder  Mensch  bestimmt  und  deren  jeder  fähig  ist,  zu  schätzen 
wisset,  und  endlich  bedenket,  daß  nicht  allen  Bäumen  eine  Rinde 
wachsen  könne,  sondern  daß  wer  in  dem,  was  der  Menschheit  not 
tut,  nur  nicht  wider  euch  ist,  im  übrigen  aber,  was  gleichgültig 
ist,  andere  Sitten,  andere  Manieren  hat,  daß  der  für  euch  ist,  — 
so  wird  euch  keine  Eitelkeit,  keine  Überhebung  über  andere  an- 
wandeln.» 

«Wo  ihr  aber  wirklich  etwas  verloren  glaubet,  da  gebet  euch 
Mühe,  statt  es  zu  verachten,  es  zu  bessern,  den  Menschen  auf 
den  Weg  der  Tugend  zu  leiten.  Was  meinet  ihr,  wird  nicht  der 
Hirt,  dem  von  hundert  Schafen  eins  sich  verloren  hat,  die  Ge- 
birge durchstreifen,  um  dies  verirrte  zu  suchen?  und  wenn  er  das 
Glück  hat,  es  zu  finden,  so  wird  seine  Freude  über  dasselbe  größer 
sein,  als  über  die  neunundneunzig,  die  sich  nicht  verirrten.» 

«Wenn  aber  ein  Mensch  sich  gegen  dich  verfehlt,  so  suche  es 
zwischen  ihm  und  dir  auszumachen;  bringe  ihn  zur  Erklärung 
und  verständige  dich  mit  ihm;  hört  er  dich  an,  so  ist  es  dein 
Fehler,  wenn  du  dich  mit  ihm  nicht  verständigen  kannst ;  hört 
er  dich  nicht  an,  so  nimm  noch  einen  oder  zwei  mit  dir,  um  das 
Mißverständnis  zu  heben;  gelingt  auch  das  nicht,  so  unterwerfet 
euren  Streit  dem  Urteil  mehrerer  Schiedsrichter;  beut  er  euch 
dann  die  Hand  nicht  zur  Versöhnung,  und  du  hast  von  deiner 
Seite  alles  getan,  so  fliehe  ihn  und  habe  nichts  mehr  mit  ihm  zu 
schaffen.  Beleidigungen  und  Unrecht,  die  Menschen  einander 
verziehen  und  wieder  gut  gemacht,  ersetzt  haben,  sind  auch 
im  Himmel  verziehen;  wenn  ihr  so  im  Geist  der  Liebe  und  Ver- 


32  G.W.  F.  HEGEL 


söhnlichkeit  beisammen  seid,  da  ist  der  Geist  unter  euch,  mit  dem 
ich  euch  zu  beleben  wünschte.» 

Petrus  fragte  hierauf  Jesum  (Matth.  XVIII,  21 — 35):  «Wie  oft 
muß  ich  einem  Menschen  vergeben,  der  mich  beleidigt,  oder  mir  Un- 
recht tut?  etwa  bis  auf  siebenmal?»  —  «Glaubst  du  etwa,  dies  sei 
oft?  versetzte  Jesus.  Ich  sage  dir,  bis  auf  siebenmal  siebenmal. 
Höret  eine  Geschichte:  Ein  Fürst  wollte  Rechnung  halten  mit 
seinen  Dienern.  Bei  einem  fand  er  eine  Schuld  von  zehntausend 
Talenten;  da  er  diese  Summe  nun  nicht  hatte,  so  hieß  er  ihm 
alles,  was  er  sein  Eigentum  nennen  könne,  selbst  Frau  und 
Kinder  als  Sklaven  zu  verkaufen  und  ihn  zu  bezahlen.  Der 
Diener  fiel  ihm  zu  Füßen,  flehte  um  Geduld  und  um  Frist,  er 
wolle  ihm  noch  alles  bezahlen;  der  Herr  fühlte  Mitleiden  mit 
seiner  Lage  und  erließ  ihm  die  ganze  Schuld.  Als  dieser  Diener 
von  seinem  Herrn  wegging,  traf  er  einen  seiner  Mitdiener  an,  der 
ihm  hundert  Denare  (eine  Summe  gegen  die  andere  wie  eins  zu 
mehr  als  einer  Million)  schuldig  war;  er  fuhr  ihn  an  und  ver- 
langte ungestüm  die  Bezahlung  der  Schuld,  hörte  nicht  auf  das 
fußfällige  Flehen  des  andern  um  Geduld,  sondern  ließ  ihn  ins 
Gefängnis  setzen,  bis  das  Ganze  abbezahlt  sei.  Die  andern  Die- 
ner, die  dies  mit  ansahen,  betrübte  diese  Behandlung  aufs  äußerste 
und  sie  meldeten  es  dem  Fürsten.  Dieser  ließ  den  harten  Mann 
zu  sich  kommen  und  sagte  ihm:  Hartherziger,  auf  deine  Bitten 
habe  ich  dir  deine  große  Schuld  erlassen;  hättest  du  nicht  dich 
des  andern  erbarmen  sollen,  wie  ich  mit  dir  Mitleid  hatte?  Hin- 
weg mit  ihm !  Und  der  Fürst  befahl,  ihn  im  Gefängnis  zu  be- 
halten, bis  er  alles  würde  abgetragen  haben.  —  In  diesem  Bilde 
sehet  ihr,  daß  Versöhnlichkeit  ein  Kennzeichen  einer  gereinigten 
Gesinnung  ist,  welche  allein  von  der  heiligen  Gottheit  für  die 
oft  mangelhafte  Tat  als  vollgültig  angenommen  wird,  welche  die 
einzige  Bedingung  ist,  unter  welcher  ihr  hoffen  könnet,  von  der 
ewigen  Gerechtigkeit  Freiheit  von  Strafe  zu  erhalten,  die  euer 
vorheriger  Lebenswandel  verdiente,  —  die  Bedingung,  durch 
Sinnesänderung  andere  Menschen  zu  werden.» 

Jesus  entschloß  sich  jetzt,  wieder  nach  Jerusalem  zurück  zu 
gehen  (Luk.  IX,  51),  und  zwar  den  Weg  durch  Samaria  zu  neh- 
men, und  schickte  einige  von  seiner  Gesellschaft  voraus,  um  in 


DAS  LEBEN  JESU  33 


einem  Flecken  das  Nötige  vorzubereiten.  Weil  aber  die  Sama- 
riter ihren  Entschluß  sahen,  auf  das  Passahfest  nach  Jerusalem  zu 
reisen,  so  wollten  sie  ihnen  nicht  reine  Gastfreundschaft  erweisen, 
oder  verweigerten  ihnen  gar  die  Durchreise.  Einige  Begleiter 
Jesu  hatten  den  Einfall,  den  Himmel  bitten  zu  wollen,  mit  seinen 
Blitzen  diesen  Flecken  zu  verzehren.  Jesus  wandte  sich  unwillig 
gegen  sie:  «Ist  dies  der  Geist,  der  euch  beseelt,  der  Geist  der 
Rache,  der,  wenn  ihm  die  Kräfte  der  Natur  zu  Gebote  ständen, 
sie  anwendete,  eine  unfreundliche  Begegnung  mit  Zerstörung  zu 
rächen?  Zum  Reiche  des  Guten  aufzubauen,  nicht  zu  zerstören, 
sei  euer  Ziel!»    Sie  begaben  sich  sodann  wieder  zurück. 

Auf  dem  Wege  bot  sich  (Luk.  IX,  57)  ein  Gesetzgelehrter  zu 
einem  beständigen  Begleiter  Jesu  an.  Jesus  sagte  ihm:  «Aber  be- 
denke, daß  die  Füchse  Höhlen  und  die  Vögel  Nester  haben,  ich 
aber  keine  Stelle  mein  Eigen  nenne,  wo  mein  Haupt  ruhen  könnte. » 

Luk.  X.  Jesus  nahm  nun  einen  anderen,  etwas  weitern  Weg 
nach  Jerusalem,  schickte  immer  zwei  seiner  Begleiter  voraus,  um 
die  Leute  auf  seine  Ankunft  gefaßt  zu  machen,  denn  sein  Gefolge 
war  sehr  zahlreich.  Er  gab  ihnen  Verhaltungsregeln  mit  auf  den 
Weg,  keine  Gefälligkeit  ertrotzen  zu  wollen,  wo  man  sie  nicht 
aufnehmen  wolle,  weiter  zu  gehen,  überall  zu  ihrem  Hauptaugen- 
merk zu  machen,  die  Menschen  zum  Guten  aufzumuntern ;  es 
sei  noch  viel  hierin  zu  tun  und  der  Arbeiter  so  wenige. 

Luk,  X,  17,  ff  Matth.  XI,  25 — 30.  Seine  jünger  brachten  ihm 
die  Nachricht,  sie  haben  hier  und  da  guten  Eingang  gefunden. 
Jesus  brach  hiebei  in  die  Worte  aus:  «Dank  und  Preis  sei  Dir, 
Vater  des  Himmels  und  der  Erde,  daß  es  nicht  ein  Eigentum  der 
Gelehrsamkeit  und  der  Kenntnisse  ist,  zu  erkennen,  was  Pflicht 
für  jeden  ist,  daß  jedes  unverdorbene  Herz  den  Unterschied 
zwischen  Gut  und  Böse  selber  fühlen  kann  1  Ach !  wären  die 
Menschen  hiebei  stehen  geblieben  und  hätten  nicht  außer  den 
Pflichten,  welche  die  Vernunft  auferlegt,  noch  eine  Menge  Laster 
erfunden,  die  arme  Menschheit  damit  zu  plagen,  die  eine  Quelle 
von  Stolz  werden,  und  in  denen  keine  Beruhigung,  außer  auf 
Kosten  der  Tugend,  zu  finden  ist!» 

Auf  dieser  Reise  traf  Jesus  einen  Gesetzgelehrten  an,  der,  um 
die  Grundsätze  Jesu  kennen  zu  lernen  und  zu  prüfen,  sich  mit 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  3 


34  G.W.  F.  HEGEL  

ihm  in  eine  Unterredung  einließ:  «Was  muß  ich  tun,  Lehrer,  um 
der  Glückseligkeit  würdig  zu  sein?»  —  «Was  ist  dir  im  Gesetze 
aufgegeben?»  fragte  ihn  Jesus  wieder.  «Du  sollst,  antwortete  jener, 
die  Gottheit  als  das  Urbild  der  Heiligkeit  von  ganzer  Seele  und 
deinen  Nächsten  lieben,  als  wenn  er  du  selbst  wäre.»  —  «Du  hast 
gut  geantwortet,  versetzte  Jesus.  Befolge  dies  und  du  bist  der 
höchsten  Glückseligkeit  würdig.»  Der  Gesetzgelehrte  wollte 
zeigen,  daß  diese  einfache  Antwort  seinem  tiefergehenden  Geist 
noch  nicht  befriedigend  sei.  «Es  bedarf  noch  einer  Erläuterung, 
wen  wir  unter  dem  Nächsten,  den  zu  lieben  uns  geboten  ist,  zu 
verstehen  haben.-»  —  «Ich  will  dir  diese  Erklärung  durch  eine 
Geschichte  geben.  Ein  Mann  reiste  von  Jerusalem  nach  Jericho, 
(ein  Weg,  der  durch  eine  Wüste  führte  und  unsicher  war),  und 
fiel  unter  Räuber,  die  ihn  auszogen,  ihm  verschiedene  Wunden 
beibrachten,  und  ihn  halbtot  liegen  ließen.  Von  ungefähr  kam 
gleich  nach  dieser  Tat  ein  Priester  dieselbe  Straße,  sah  den  Ver- 
wundeten, setzte  aber  seinen  Weg  weiter  fort;  ebenso  ein  Levit, 
der  diesen  Weg  kam,  ging  ohne  Mitleiden  vorüber.  Ein  Samariter 
aber,  der  vorbeireiste,  erbarmte  sich  seiner,  sobald  er  ihn  sah, 
ging  zu  ihm  hin,  verband  seine  Wunden  und  wusch  sie  mit  Ol 
und  Wein  darein,  nahm  ihn  auf  sein  Maultier  und  brachte  ihn 
in  eine  Herberge,  wo  er  ihn  besorgen  ließ,  und  da  er  des  andern 
Tages  weiter  reiste,  hinterließ  er  dem  Wirt  noch  Geld,  um  davon 
zu  bestreiten,  was  der  Kranke  sonst  noch  nötig  hätte;  und  wenn 
schon  die  Kosten  dies  Geld  übersteigen,  so  solle  er  nichts  sparen, 
er  wolle  das  Übrige  im  Rückwege  ersetzen.  Welcher  von  diesen 
dreien  nun  hat  sich  als  Nächsten  gegen  den  Unglücklichen  be- 
wiesen? Welcher  hat  ihn  für  seinen  Nächsten  angesehen?»  Der 
Gesetzgelehrte  antwortete:  «Der,  welcher  sich  mitleidig  seiner 
annahm.»  —  «So  sieh  auch  du,  sagte  Jesus,  jeden  für  deinen 
Nächsten  an,  der  deiner  Hülfe,  deines  Mitleidens  bedarf,  von 
welcher  Nation,  von  welchem  Glauben,  von  welcher  Farbe  er 
sei.» 

Luk.  XI,  1 6,  Matth.  XVI,  i.  Die  Pharisäer,  unzugänglich  für 
die  Lehren  Jesu,  der  ihnen  die  Unzulänglichkeit  ihres  gesetzlichen 
Betragens  zur  Sittlichkeit  vorstellte,  forderten  zu  verschiedenen 
Malen  von  ihm,  als  eine  Beglaubigung  seines  Vortrags,  der  ihrer 


DAS  LEBEN  JESU  35 


Gesetzgebung  den  Wert  abspreche,  irgend  eine  außerordentliche 
Lufterscheinung,  so  wie  bei  der  feierlichen  Bekanntmachung, 
daß  ihr  Jehova  es  sanktioniert  habe.  Jesus  gab  ihnen  zur  Ant- 
wort: «Des  Abends  saget  ihr:  Es  wird  morgen  schön  Wetter,  denn 
der  Himmel  hat  eine  schöne  Abendröte.  Ist  aber  der  Himmel 
des  Morgens  so  trüberot,  so  prophezeiet  ihr  Regen  daraus.  So 
verstehet  ihr  euch  auf  das  Aussehen  des  Himmels,  um  daraus  die 
Witterung  zu  sagen,  aber  die  Zeichen  der  gegenwärtigen  Zeit 
verstehet  ihr  nicht  zu  beurteilen.?  Bemerket  ihr  nicht,  daß  höhere 
Bedürfnisse  in  dem  Menschen,  daß  die  Vernunft  erwacht  ist,  die 
eure  willkürlichen  Lehren  und  Satzungen,  eure  Herabwürdigung 
des  Endzwecks  des  Menschen,  der  Tugend,  unter  dieselben,  den 
Zwang,  womit  ihr  das  Ansehen  eures  Glaubens  und  eurer  Gebote 
unter  eurem  Volke  aufrecht  erhalten  wollet,  in  Anspruch  nehmen 
wird.-*  Kein  anderes  Zeichen  wird  euch  gegeben  als  Lehren,  von 
denen  auch  ihr  lernen  könntet,  was  zu  eurem  und  der  Mensch- 
heit Besten  diente.» 

Luk.  XI,  37,  Matth.  XXIII,  25.  Ein  Pharisäer  lud  Jesum  bei 
dieser  Gelegenheit  zum  Mittagessen  ein.  Jener  wunderte  sich,  da 
er  bemerkte,  daß  Jesus  nicht,  ehe  er  sich  setzte,  die  Hände  wusch. 
Jesus  sagte  ihnen:  «Ihr  waschet  wohl  das  Äußere  des  Bechers 
und  der  Tafel,  aber  ist  deswegen  auch  das  Innere  rein }  Wer 
sein  Äußeres  gut  in  Ordnung  hat,  ist  der  mit  seinem  Innern  in 
Richtigkeit?  Wo  die  Seele  geweiht  ist,  da  ist  schon  auch  das 
Äußere  geweiht.  Ihr  gebet  richtig  den  Zehnten  vom  Majoran 
und  Raute  und  jedem  unbedeutenden  Kräutchen,  das  in  euren 
Gärten  wächst.  Vergesset  ihr  über  dieser  Ängstlichkeit  in  Klei- 
nigkeiten, die  ihr  für  Vollkommenheit  ausgebet,  nicht,  daß  es 
noch  höhere  Pflichten  gibt,  Gerechtigkeit,  Mitleiden  und  Treue, 
deren  Beobachtung  das  Wesen  der  Tugend  ausmacht,  wobei  man 
das  andere  dann  doch  auch  tun  muß?  Sind  nicht  eure  Begriffe 
von  dem,  was  einen  Wert  hat,  nur  aufs  Äußere  berechnet?  So 
haltet  ihr  äußerst  auf  einen  hohen  Rang  in  den  Lehrsälen,  auf 
den  Vorsitz  bei  Gastmahlen  oder  darauf,  von  jedermann  auf  den 
Straßen  gegrüßt  zu  werden.  Ihr  beschweret  das  Volk  mit  einer 
Menge  lästiger  Gebote  und  ihr  selbst  bleibet  bei  dem  Äußern  der- 
selben stehen  1    Ihr  maßet  euch  an,  Bewahrer  des  Schlüssels  zum 

3« 


36  G.W.  F.  HEGEL 


Heiligtum  zu  sein,  aber  ihr  versperrt  euch  und  andern  den  Ein- 
gang zu  diesem  Heiligtum  durch  eure  Gebote.»  Solche  Vervs'eise, 
die  Jesus  oft  noch  mit  stärkeren  Ausdrücken  an  die  Pharisäer  und 
Gesetzgelehrten,  in  deren  Händen  die  Regierung  des  Landes  war, 
und  gegen  ihre  geheiligten  Gebräuche  richtete,  trugen  immer 
mehr  dazu  bei,  sie  zu  erbittern  und  den  Entschluß  in  ihnen  zur 
Reife  zu  bringen,  eine  Anklage  gegen  ihn  anhängig  zu  machen. 

Vor  einer  großen  Menge  Volkes  (Luk.  XII)  sprach  er  noch 
dringender  von  der  Gefahr,  sich  von  dem  Geiste  der  Pharisäer 
anstecken  zu  lassen.  «Nehmet  euch  in  acht,  sagte  er,  vor  dem 
Sauerteige  der  Pharisäer,  der  unbemerkbar  für  sich  auch  das  Äußere 
des  Ganzen  nicht  verändert,  ihm  aber  doch  einen  völlig  andern 
Geschmack  gibt,  ich  meine,  vor  der  Heuchelei !  Diese  \'erstellung 
wird  das  Auge  des  Allsehenden  nicht  betrügen.  Yor  ihm  liegt  die 
Gesinnung  des  Herzens  offen,  man  mag  sie  noch  so  sehr  ver- 
bergen. Der  Allwissende  braucht  allein  die  Menschen  nicht  nach 
ihrenTaten,  den  äußeren  für  Menschen  ofttrüglichen  Erscheinungen 
ihres  Charakters  zu  richten,  sondern  richtet  nach  der  inneren  Güte 
des  Willens.  Ich  sage  euch,  meine  Freunde,  fürchtet  euch  nicht 
vor  Menschen,  die  doch  nur  den  Körper  töten  können,  deren 
Macht  sich  ja  weiter  nicht  erstreckt;  fürchtet  euch  aber  davor, 
die  Würde  eures  Geistes  zu  erniedrigen  und  damit  vor  der  Ver- 
nunft und  vor  der  Gottheit  als  des  Verlustes  der  Glückseligkeit 
würdig  erklärt  zu  werden.  Aus  Menschenfurcht  aber  es  nicht  zu 
wagen,  die  Grundsätze  der  Wahrheit  und  Tugend  in  Handlungen 
auszudrücken,  oder  sie  durch  Reden  zu  bekennen,  ist  eine  ver- 
ächtliche Heuchelei.  Von  mir  oder  einem  andern  Lehrer  der 
Tugend  übel  zu  sprechen  ist  noch  verzeihliche  Sache.  Wer  aber 
den  heiligen  Geist  derTugend  selbst  lästert,  deristeinVersvorfener. 
Habet  dabei  nicht  die  kindische  Angst,  ihr  möchtet  in  Verlegen- 
heit kommen,  wenn  man  euch  vor  Gerichten  oder  in  Lehrsälen 
über  euer  freies  Bekenntnis  des  Guten  zur  Rede  stellt ;  vom  Geiste 
der  Tugend  beseelt,  wird  es  euch  weder  an  Mut,  noch  an  Worten 
fehlen,  sie  zu  verteidigen.» 

Einer  aus  der  anwesenden  Menge  trat  zu  Jesu  und  ersuchte  ihn, 
in  der  Hoffnung,  das  Ansehen  Jesu  werde  mehr  ausrichten,  als  er, 
seinen  Bruder  zu  bewegen,  sein  Erbgut  mit  ihm  zu  teilen.    Jesus 


DAS  LEBEN  JESU  37 


gab  ihm  aber  den  Bescheid:  «Wer  hat  mich  zum  Richter  oder 
Teilerzwischen  euch  gesetzt?»  und  wandte  sich  zu  den  andern :  «Er- 
gebet euch  nicht  der  Habsucht;  durch  reicher  und  immer  reicher 
werden  erfüllt  der  Mensch  seine  Bestimmung  nicht.  Ich  will 
euch  dies  durch  ein  Beispiel  deutlicher  machen:  Einem  reichen 
Mann  trugen  seine  Güter  so  viele  Früchte,  daß  er  mit  der  Menge 
derselben  in  Verlegenheit  kam;  er  mußte  seine  Scheunen  größer 
machen  lassen,  um  sie  aufzuheben;  dann  dachte  er  bei  sich: 
Wenn  dies  in  Ordnung  ist,  so  hebst  du  alles  sehr  sorgfältig  auf 
und  hast  reichlich  zu  leben  auf  viele  Jahre;  dann  ruhe  aus,  iß, 
trinke  und  laß  dir  wohl  sein.  Aber  jetzt  vernahm  er  die  Stimme 
des  Todes:  «Tor!  heute  nacht  wird  man  deine  Seele  von  dir 
fordern;  für  wen  hast  du  jetzt  gesammelt?»  So  macht  sich  der  für 
niedrige  Zwecke  verlorene  Arbeit,  der  Schätze  häuft  und  nicht 
auf  einen  Reichtum,  auf  eine  Bestimmung  denkt,  deren  Zweck 
ewig  ist.  Die  Sorge  für  Reichtum  fülle  nicht  eure  Seele  aus; 
euer  Geist  sei  allein  der  Pflicht  geweiht,  eure  Arbeit  dem  Reiche 
des  Guten.  So  stehet  ihr  als  Männer  gerüstet,  zum  Leben  und 
zum  Tode;  sonst  wird  die  Liebe  zum  Leben  den  Tod  mit 
Schrecken  gegen  euch  waffnen,  und  die  Furcht  vor  dem  Tode 
euch  das  Leben  stehlen.  Schiebet  es  nicht  auf,  und  denket  nicht 
etwa,  es  habe  keine  Eile,  sich  höhern  Zwecken  zu  widmen,  als 
Schätze  zu  sammeln  und  dem  Vergnügen  zu  leben.  Jede  Zeit,  die 
ihr  dem  Dienste  des  Guten  entzogen  habt,  ist  für  eure  Bestimmung 
verloren.  Oder  der  Tod  übereilt  euch  und  ihr  gleichet  einem 
Haushalter,  dessen  Herr  abwesend  ist  und  ihm  indessen  sein  Haus- 
wesen anvertraut  hat.  Der  Aufseher  denkt  nun  bei  sich:  Mein 
Herr  wird  noch  lange  ausbleiben,  und  fängt  an,  das  Gesinde  zu 
mißhandeln,  zu  schwelgen  und  sich  zu  betrinken.  Aber  zu  einer 
Zeit,  wo  er  es  am  wenigsten  erwartet,  wird  der  Herr  ihn  über- 
raschen, und  ihm  seinen  verdienten  Lohn  erteilen.  Und  wie  der 
Knecht,  der  den  Willen  seines  Herrn  kennt,  aber  ihn  nicht  be- 
folgt, härter  gestraft  wird,  als  der  so  zwar  auch  strafwürdig  handelt, 
aber  den  Willen  seines  Herrn  nicht  wußte,  so  wird  auch  von  dem 
Menschen,  dem  viel  anvertraut  wurde,  der  Talent  und  Gelegen- 
heit hatte,  viel  Gutes  zu  tun,  viel  gefordert  werden.  Glaubet  ihr 
etwa,  ich  habe  euch  zu  einem  ruhigen  Lebensgenuß  eingeladen. 


38  G.W.  F.  HEGEL 


eine  kummerfreie,  glückliche  Zukunft  sei  auch  das  Schicksal,  das 
ich  für  mich  ervv-arte  und  verlange?  Nein,  Verfolgung  wird  mein 
Los  sein,  so  wie  das  eure,  Uneinigkeit  und  Streit  die  Folge,  die 
meine  Lehren  haben  werden.  Dieser  Streit  zwischen  Laster  und 
Tugend  und  zwischenAnhänglichkeit  an  hergebrachten  Meinungen 
und  Gebräuchen  des  Glaubens,  die  durch  irgend  eine  Autorität 
in  den  Köpfen  und  Herzen  der  Menschen  gegründet  worden  sind, 
und  zwischen  der  Rückkehr  zum  wiederauflebenden  Dienste  der 
in  ihre  Rechte  eingesetzten  Vernunft,  —  dieser  Streit  wird  Freunde 
und  Familien  entzweien.  Dieser  Streit  wird  dem  besseren  Teile 
der  Menschheit  Ehre  machen,  aber  unselig  wird  er  sein,  wenn 
die,  die  das  Alte  stürzten,  weil  es  der  Freiheit  der  Vernunft  Fesseln 
anlegte  und  die  Quelle  der  Sittlichkeit  verunreinigte,  an  seine 
Stelle  wieder  einen  befohlenen  Glauben,  an  Buchstaben  gebunden, 
setzten,  der  von  neuem  der  Vernunft  das  Recht  nähme,  aus  sich 
selbst  das  Gesetz  zu  schöpfen  und  mit  Freiheit  daran  zu  glauben 
und  sich  ihm  zu  unterwerfen,  ach!  und  wenn  sie  diesen  be- 
fohlenen Glauben  mit  dem  Schwert  und  äußerer  Gewalt  waffneten, 
und  Väter  wider  Söhne,  Brüder  wider  Brüder,  Mütter  wider 
Töchter  hetzten  und  die  Menschheit  zur  Verräterin  an  der  Mensch- 
heit machten!» 

Man  erzählte  Jesu  eine  Begebenheit,  die  sich  (Luk.  XIII)  um 
diese  Zeit  zugetragen  hatte.  Pilatus,  der  Prokonsul  von  Judäa, 
hatte  nämlich,  man  weiß  nicht  aus  welchen  Gründen,  einige 
Galiläer,  während  sie  im  Opfern  begriffen  waren,  hinrichten 
lassen.  Mit  der  Denkungsart  seiner  Jünger  bekannt  (Joh.IX),  die 
schon  ein  anderes  Mal,  als  ihnen  ein  Blindgeborener  begegnete, 
den  raschen  Schluß  gemacht  hatte,  entweder  dieser  Blinde  oder 
seine  Eltern  müssen  große  Verbrecher  sein,  nahm  hier  Jesus  Ver- 
anlassung, ihnen  folgende  Erinnerung  zu  geben:  «Habt  ihr  hiebei 
etwa  den  Gedanken,  diese  Galiläer  seien  die  schlimmsten  aus 
ihrem  Volke  gewesen,  daß  sie  dies  Schicksal  hatten,  oder  jene 
acht  oder  zehn,  die  neulich  von  einem  Turm  zu  Siloha  erschlagen 
wurden,  seien  die  verdorbensten  unter  den  Bewohnern  Jerusalems 
gewesen?  Nein,  über  Menschen,  denen  ein  solches  Unglück 
widerfährt,  ein  liebloses  Urteil  zu  fällen,  ist  nicht  die  Seite,  von 
der  ihr  eine  solche  Begebenheit  anzusehen  habt,   aufgeschreckt 


DAS  LEBEN  JESU  39 


dadurch  von  der  Ruhe,  mit  der  ihr  euch  eurer  Selbstzufriedenheit 
überlasset,  sondern  in  euren  eigenen  Busen  zu  greifen,  und  euch 
aufrichtig  zu  fragen,  ob  ihr  nicht  ein  solches  Schicksal  verdient 
habt.  Höret  folgende  Geschichte:  Der  Besitzer  eines  Weinberges 
hatte  auch  einen  Feigenbaum  darin  gepflanzt;  so  oft  er  kam,  um 
Früchte  davon  zu  pflücken,  fand  er  nie  eine;  er  sagte  deswegen 
zum  Gärtner:  «Schon  drei  Jahre  komme  ich  immer  vergebens 
zu  diesem  Baum,  hau'  ihn  aus,  daß  der  Platz,  den  er  einnimmt, 
besser  benutzt  werden  könne.»  Der  Gärtner  erwiderte:  «Laß  ihn 
noch,  daß  ich  um  ihn  herum  den  Boden  auflockere  und  ihm 
Dünger  zugebe,  so  hoffe  ich  vielleicht  ihm  noch  Früchte  abzu- 
nötigen; wo  nicht,  so  will  ich  ihn  dann  umhauen.»  Lange  zögert 
oft  so  das  verdiente  Schicksal  und  gibt  dem  Verbrecher  Zeit,  sich 
aufzurichten,  dem  Sorglosen,  mit  höheren  Zwecken  bekannt  zu 
werden.  Versäumt  er  unbekümmert  diese  Frist,  so  ereilt  ihn 
sein  Schicksal,  und  es  trifft  ihn  die  strafende  Vergeltung.» 

Indessen  setzte  Jesus  seinen  Weg  gegen  Jerusalem  hin  immer 
weiter  fort,  hielt  sich  hie  und  da  auf,  wo  er  Gelegenheit  fand, 
den  Menschen  gute  Lehren  zu  geben.  Auf  dieser  Reise  wurde 
auch  die  Frage  an  ihn  gemacht,  ob  deren  nur  wenige  seien,  die 
zur  Seligkeit  gelangen.  Jesus  antwortete  auf  diese  Frage:  «Ein 
jeder  ringe  für  sich,  den  schmalen  Weg  des  guten  Lebenswandels 
zu  treffen;  viele,  die  es  versuchen,  verfehlen  ihn.  Wenn  ein 
Hausherr  einmal  seine  Türe  verschlossen  hat,  und  ihr  jetzt  an- 
klopfet und  rufet,  euch  aufzutun,  so  wird  er  euch  antworten: 
«Ich  kenne  euch  nicht.»  Ihr  habt  doch  sonst  schon  mit  ihm  ge- 
speist und  getrunken,  und  seid  seine  Zuhörer  gewesen.  So  wird 
er  euch  wiederholen:  «Wohl  habt  ihr  mit  mir  gespeist  und  ge- 
trunken und  wäret  meine  Zuhörer,  wenn  ich  lehrte.  Aber  ihr 
seid  lasterhaft  geworden;  ich  erkenne  euch  nicht  für  meine 
Freunde;  weg  von  hier!»  So  werden  viele  von  Morgen  und 
von  Abend,  von  Mittag  und  Mitternacht,  die  den  Zeus,  oder 
Brahma,  oder  Wodan  verehrten,  vor  dem  Richter  der  Welt 
Gnade  finden,  und  von  denen,  welche  stolz  auf  ihre  Erkenntnis 
Gottes  durch  ihr  Leben  dieser  besseren  Erkenntnis  Schande 
machten  und  die  ersten  zu  sein  sich  einbildeten,  viele  verworfen 
werden.» 


40  G.W.  F.  HEGEL 


Einige  Pharisäer  warnten  Jesum  —  ob  aus  guter  oder  irgend 
einer  anderen  Absicht,  ist  nicht  bekannt  —  das  Gebiet  des  Herodes 
zu  verlassen,  weil  dieser  Anschläge  auf  sein  Leben  habe.  Jesu 
Antwort  war,  seine  Verrichtungen  seien  von  der  Art,  daß  sie  dem 
Herodes  schlechterdings  keine  Besorgnisse  erregen  können,  und 
außerdem  wäre  es  außer  der  Regel,  wenn  Jerusalem,  der  gewöhn- 
liche Schauplatz  des  Todes  so  vieler  Lehrer,  die  das  jüdische 
Volk  von  seiner  Hartnäckigkeit  in  seinen  \'orurteilen  und  von 
dem  Schwindel,  womit  es  für  dieselben  alle  Regeln  der  Sittlichkeit 
und  der  Klugheit  verletzte,  zu  heilen  versuchten,  wenn  Jerusalem 
nicht  auch  der  Ort  wäre,  wo  ihn  ein  solches  Los  treffen  sollte. 

Er  speiste  auch  wieder  (Luk.  XIV)  bei  einem  Pharisäer.  Hier 
bemerkte  er  an  einigen  eine  Sorgfalt,  die  obersten  Plätze  auszu- 
lesen, die  sie  nach  ihrem  Range  einnehmen  zu  müssen  glaubten, 
und  machte  die  Bemerkung,  sich  an  die  obern  Plätze  zu  drängen 
sei  oft  die  Schuld  an  Verlegenheiten  geworden,  denn  wenn  noch 
ein  Vornehmerer  komme,  so  müsse  man  mit  Beschämung  sich 
gefallen  lassen,  seinen  Platz  abzutreten  und  ihn  mit  einem  untern 
zu  vertauschen ;  da  hingegen  der,  welcher  sich  untenan  setzt  und 
von  dem  Gastgeber  weiter  heraufgerufen  wird,  mehr  Ehre  davon 
habe.  Überhaupt,  wer  sich  selbst  erhöht,  der  wird  erniedrigt, 
der  Bescheidene  dagegen  wird  gehoben  werden.  Gegen  den  Gast- 
geber bemerkte  er,  er  kenne  außer  der  Gastfreundschaftlichkeit, 
seine  Verwandten  und  Freunde  oder  seine  reichen  Nachbarn  zu 
einem  Essen  einzuladen,  von  denen  ein  solcher  Beweis  der 
Freundschaft  gewöhnlich  durch  gegenseitige  Einladung  erwidert 
werde,  außer  dieser  Freigebigkeit  kenne  er  noch  eine  andere  edlere, 
nämlich  arme  Kranke  oder  andere  Unglückliche  zu  speisen,  die 
eine  Wohltat  nicht  wieder  erstatten  können,  als  durch  die  unver- 
stellten Ausdrücke  ihres  Dankes  und  des  Gefühls  ihres  gelinderten 
Kummers,  als  durchs  Bewußtsein,  das  dir  solche  Handlungen 
geben,  Balsam  in  die  Wunden  der  Unglücklichen  gegossen  und 
dem  Elend  wohlgetan  zu  haben.  «Wohl  dem,  rief  einer  der  Mit- 
gäste aus,  der  zu  dieser  Zahl  gehört,  der  ein  Bürger  des  Reiches 
Gottes  ist!» 

Jesus  erläuterte  diesen  Begriff  vom  Reiche  Gottes  durch  das 
Bild  eines  Fürsten  (Matth.  XXII),  der  die  Hochzeit  seines  Sohnes 


DAS  LEBEN  JESU  41 


durch  ein  großes  Mahl  feiern  wollte  und  viele  Gäste  einlud.  Am 
Tage  des  Festes  schickte  er  seine  Diener  zu  den  Geladenen,  um  sie 
zu  bitten,  jetzt  zu  kommen,  das  Mahl  warte  auf  sie.  Der  eine  nun  ließ 
sich  entschuldigen,  daß  er  nicht  kommen  könne,  denn  er  habe 
Felder  gekauft,  die  er  in  Augenschein  nehmen  müsse;  ein  zweiter 
habe  die  fünf  Paar  Ochsen,  die  er  erst  gekauft  habe,  zu  besichtigen; 
ein  dritter  entschuldigte  sein  Ausbleiben  mit  seiner  Heirat,  die  er 
erst  vollzogen  habe;  andere  behandelten  die  Diener  sogar  mit 
Verachtung,  so  daß  von  den  geladenen  Gästen  keiner  erschien. 
Der  Fürst,  unwillig  darüber,  befahl  seinen  Dienern,  da  der  Aufwand 
schon  gemacht  sei,  auf  die  Gassen  und  Plätze  der  Stadt  zu  gehen  und 
die  Armen,  Blinden,  Lahmen  oder  sonst  Gebrechlichen  einzuladen. 
Die  Diener  taten  es.  Da  aber  noch  Platz  übrig  war,  schickte  der  Herr 
die  Diener  noch  einmal,  um  auf  den  Landstraßen  und  an  den  Zäunen 
zu  suchen,  und  was  sie  fänden  herzubringen,  damit  das  Haus  voll 
werde.  [Jedem  wurde  ein  Feierkleid  gegeben,  das  ihm  zugleich 
zum  Merkmal  diente,  daß  er  als  ein  Gast  angesehen  würde.  Der 
Fürst  kam,  seine  Gäste  zu  sehen,  und  bemerkte  einen,  der  kein 
solches  Kleid  anhatte.  So  ist  an  alle  der  Ruf  der  Gottheit  er- 
gangen.] So  verhält  es  sich  auch  mit  dem  Reiche  Gottes.  Vielen 
sind  kleinere  Zwecke  wichtiger  als  ihre  höhere  Bestimmung;  viele, 
in  einen  größeren  Wirkungskreis  von  der  Natur  oder  dem  Glück 
gesetzt,  vernachlässigen  unverantwortlich  die  Gelegenheit,  viel 
Gutes  wirken  zu  können,  und  oft  ist  Rechtschaffenheit  in  niedere 
Hütten  verbannt  oder  eingeschränkten  Talenten  überlassen.  Auf- 
opfern zu  können  ist  eine  Haupteigenschaft  eines  Bürgers  des 
Reiches  des  Guten.  Wem  die  Verhältnisse  als  Sohn,  oder  als 
Bruder,  als  Ehemann,  als  Vater,  wem  seine  Glückseligkeit  und 
sein  Leben  teurer  sind,  als  die  Tugend,  der  ist  nicht  geschickt 
dazu,  weder  der  Vollkommenheit  entgegen  sich  selbst  durchzu- 
arbeiten, noch  andere  dahin  zu  führen.  Besonders  wer  für  andre 
arbeiten  will,  prüfe  seine  Kräfte  vorher  wohl,  ob  er  es  hinaus- 
zuführen im  Stande  sei,  wie  ein  Mann,  der  ein  Haus  zu  bauen 
anfängt,  es  aber  unvollendet  lassen  muß,  weil  er  die  Kosten  des 
Ganzen  vorher  nicht  berechnete,  den  Leuten  zum  Gespötte  wird, 
oder  wie  ein  Fürst  seine  Stärke  vorher  prüft,  ehe  er  sich  an  einen 
andern  wagt,    ihm  Krieg  droht  und  wenn  er  seine  Kräfte  ihm 


42  G.W.  F.  HEGEL 


nicht  gewachsen  findet,  Frieden  mit  ihm  zu  machen  sucht,  so 
prüfe  sich  jeder,  der  sich  der  Verbesserung  der  Menschen  weihen 
will,  ob  er  fähig  sein  werde,  in  diesem  Kampfe  auf  alles  Verzicht 
zu  tun,  was  sonst  Reize  für  ihn  hatte.» 

Luk.  XV.  Auch  hier  nahmen  die  Pharisäer  wieder  einen  An- 
stoß daran,  daß  sie  Zollbediente  und  schlechte  Leute  unter  den 
Zuhörern  Jesu  sahen,  und  daß  er  solche  nicht  von  sich  wies. 
Jesus  sagte  darüber:  « Wenn  ein  Schafsich  von  der  Herde  des  Hirten 
verirrte,  macht  es  ihm  nicht  Freude,  es  wiederzufinden?  oder  wenn 
ein  Weib  ein  Stück  Geld  verloren  hat,  sucht  sie  es  nicht  sorgfältig,  und 
wenn  sie  es  wiederfindet,  ist  ihr  Vergnügen  an  dem  gefundenen 
Stücke  nicht  größer  als  an  den  andern,  die  sie  nicht  verlor?  Ist 
es  nicht  auch  so  eine  Freude  für  gute  Menschen,  einen  Verirrten 
zur  Tugend  zurückkehren  zu  sehen?  Ich  will  euch  eine  Geschichte 
erzählen:  Ein  Mann  hatte  zwei  Söhne.  Auf  die  Bitte  des  jungem, 
ihm  sein  Erbteil  herauszugeben,  teilte  der  Vater  mit  seinen  Söhnen. 
Der  jüngere  packte  seine  Sachen  nach  einigen  Tagen  zusammen, 
und  um  es  ungehindert  nach  seinem  Geschmack  genießen  zu 
können,  reiste  er  damit  in  ein  entlegeneres  Land  und  durchschwelgte 
dort  sein  ganzes  \'ermögen.  Er  befand  sich  schon  im  Mangel, 
als  dieser  durch  eine  große  Teurung  noch  vermehrt  wurde,  und  da- 
durch aufs  höchste  stieg.  Er  kam  endlich  noch  bei  einem  Manne 
unter,  der  ihn  aufs  Feld  schickte,  um  die  Schweine  zu  hüten,  mit 
denen  er  die  Eichelkost  teilen  mußte.  Sein  trauriges  Schicksal 
erinnerte  ihn  jetzt  wieder  an  das  Haus  seines  Vaters.  «Wie  viel 
besser,  dachte  er  bei  sich  selbst,  haben  es  die  Tagelöhner  meines 
A'aters,  denen  es  nie  an  Brot  fehlte,  als  ich,  den  hier  der  Hunger 
aufzehrt!  Ich  will  zu  meinem  Vater  zurückkehren,  ihm  bekennen: 
Ach,  Vater!  ich  habe  gegen  den  Himmel  und  dich  gesündigt;  ich 
bin  nicht  wert,  dein  Sohn  mehr  zu  heißen;  nimm  mich  nur  als 
einen  deiner  Tagelöhner  an ! »  Er  führte  diesen  Gedanken  aus ; 
sein  Vater  sah  ihn  schon  von  weitem  kommen,  lief  auf  ihn  zu, 
fiel  ihm  um  den  Hals  und  küßte  ihn.  «Ach!  meine  Fehler,  sagte 
der  reuige  Unglückliche,  machen  mich  unwert,  mich  deinen  Sohn 
zu  nennen!»  Der  Vater  aber  befahl  seinen  Knechten,  den  besten 
Rock  zu  holen,  und  ihm  Schuhe  zu  geben,  und  sagte:  «Schlachtet 
das  gemästete  Kalb,  wir  wollen  alle  uns  gütUch  tun !    Denn  mein 


DAS  LEBEN  JESU  43 


Sohn,  der  für  mich  tot  war,  ist  ins  Leben  zurückgekehrt;  er  war 
verloren  und  ist  wiedergefunden.»  Indessen  kehrte  der  ältere 
Sohn  vom  Felde  zurück.  Als  er  sich  dem  Hause  näherte,  hörte 
er  die  laute  Freude  und  fragte,  was  es  gäbe?  Da  ein  Knecht  es 
ihm  sagte,  wurde  er  unwillig  darüber,  und  wollte  nicht  ins  Haus 
gehen.  Der  Vater  kam  heraus  und  machte  ihm  Vorstellungen. 
Der  Sohn  wollte  nichts  davon  hören:  «So  lange  bin  ich  bei  dir, 
arbeite  dir,  befolge  überall  deinen  Willen  und  du  hast  mir  noch 
nie  es  angeboten,  mir  mit  meinen  Freunden  eine  Freude  zu 
machen;  und  dieser  Sohn,  der  sein  Vermögen  mit  liederlichen 
Weibern  verpraßte,  kommt,  und  du  stellst  ihm  Feste  an!»  — 
«Mein  Sohn,  sagte  der  Vater,  du  bist  immer  bei  mir;  es  gebricht 
dir  an  nichts;  all  das  Meinige  ist  dein;  du  solltest  dich  freuen  und 
guter  Dinge  sein,  daß  dein  Bruder,  der  verloren  war,  sich  wieder 
gefaßt  hat,  den  wir  aufgegeben  hatten,  wieder  genesen  ist. » 

Bei  einer  andern  Veranlassung  (Luk.  XVI),  die  uns  aber  un- 
bekannt ist,  erzählte  Jesus  seinen  Freunden  folgende  Geschichte: 
«Ein  reicher  Mann  hatte  einen  Verwalter.  Dieser  wurde  bei  ihm 
angegeben  als  ein  Verschwender  des  ihm  anvertrauten  Vermögens. 
Der  Herr  ließ  ihn  rufen  und  sagte  ihm:  «Was  höre  ich  von  dir.^ 
Lege  mir  Rechnung  von  deiner  Verwaltung  ab,  denn  du  kannst 
dein  Amt  nicht  länger  behalten.»  Dieser  überlegte  jetzt,  was  zu 
machen  sei;  sein  Amt  verliere  er,  zum  Tagelöhnern  habe  er  nicht 
Kraft,  und  zu  betteln  schäme  er  sich.  Endlich  fiel  ihm  ein  Mittel 
ein,  sich  aus  der  Verlegenheit  zu  helfen,  nämlich  die  Schuldner 
seines  Herrn  sich  zu  Freunden  zu  machen,  damit,  wenn  er  seinen 
Posten  verlassen  müsse,  sie  ihn  aufnehmen;  er  ließ  einen  nach 
dem  andern  kommen  und  dem  einen,  der  hundert  Tonnen  Öls 
schuldig  war,  ließ  er  eine  andere  Schuldverschreibung  machen, 
worin  die  Schuld  nur  auf  fünfzig  Tonnen  angegeben  war.  Einen 
andern  ließ  er  seine  Schuld  von  hundert  Malter  Weizen  auf 
achtzig  herabsetzen  und  so  machte  er  es  auch  mit  den  übrigen. 
Der  Herr  mußte,  als  er  es  nachher  erfuhr,  dem  ungetreuen  Ver- 
walter wenigstens  das  Zeugnis  der  Klugheit  geben,  an  welcher 
die  guten  Menschen  meistens  von  den  bösen  übertroffen  werden, 
da  der  letztern  Klugheit  sich  kein  Gewissen  daraus  macht,  die 
Ehrlichkeit  zu  verletzen.  —  Ich  nehme  aus  der  erzählten  Ge- 


44  G.W;  F.  HEGEL 


schichte  für  euch  den  Rat,  daß  eure  Klugheit  in  Anwendung  des 
Geldes,  daß  ihr  etwa  habt,  darin  bestehe,  euch  davon  Freunde 
unter  den  Menschen,  besonders  unter  unglücklichen,  zu  machen; 
aber  nicht,  wie  jener  Verwalter  auf  Kosten  der  Rechtschaffenheit; 
denn  wer  im  Kleinen  ungetreu  ist,  wird  es  noch  mehr  im  Großen 
sein.  Wenn  ihr  in  Geldsachen  nicht  ehrlich  sein  könnet,  wie 
werdet  ihr  für  das  höhere  Interesse  der  Menschheit  empfänglich 
sein?  Wenn  ihr  an  etwas,  das  ihr  als  euch  fremd  behandeln 
solltet,  so  hängt,  daß  ihr  ihm  zuliebe  die  Tugend  vergäßet,  was 
wäre  noch  Großes  von  euch  zu  erwarten?  Seinen  Vorteil  und 
den  Dienst  der  Tugend  zum  höchsten  Ziele  seines  Lebens  zu 
setzen,  sind  zwei  Dinge,  die  unvereinbar  sind.» 

Einige  Pharisäer,  die  dies  mit  anhörten  und  das  Geld  sehr 
liebten,  spotteten  darüber,  daß  Jesus  den  Wert  des  Reichtums  so 
sehr  herabsetzte.  Jesus  wandte  sich  an  sie  und  sagte  ihnen:  «Ihr 
legt  es  nur  darauf  an,  euch  in  den  Augen  der  Menschen  einen 
Schein  von  Heiligkeit  zu  geben,  aber  Gott  kennt  eure  Herzen.  Was 
nach  der  sinnlichen  Art  zu  urteilen  als  groß,  als  achtungswert 
vorkommt,  verschwindet  in  sein  Nichts  vor  der  Gottheit.  —  Es 
war  einst  ein  reicher  Mann,  der  sich  in  Purpur  und  Seide  kleidete 
und  täglich  im  Vollauf  schwelgte.  Vor  seiner  Türe  saß  oft  ein 
Armer,  namens  Lazarus,  dessen  krankem  Körper,  der  voll  Ge- 
schwüre war,  niemand  als  etwa  Hunde  durch  ihr  Lecken  einige 
Linderung  gab.  Er  hätte  gern  oft  seinen  Hunger  nur  mit  übrigen 
Brocken  von  der  Tafel  des  reichen  Mannes  gestillt.  Der  Arme 
starb  und  wohnte  jetzt  in  den  Gefilden  der  Seligen,  Bald  her- 
nach starb  auch  der  Reiche  und  ward  mit  Pomp  zur  Erde  bestattet. 
Aber  das  Los  des  armen  Mannes  war  jetzt  nicht  sein  Los.  Als 
er  seine  Augen  erhob  und  den  Lazarus  bei  Abraham  erblickte,  so 
rief  er  laut:  «Ach,  Vater  Abraham!  erbarme  dich  meiner  und 
schicke  Lazarus,  daß  er  mich  in  meiner  Qual  nur  mit  einem 
Tropfen  Linderung  erquicke,  wie  ein  Fieberkranker  mit  einem 
Tropfen  Wassers  gelabt  wird!»  Abraham  antwortete:  «Erinnere 
dich,  mein  Sohn,  daß  du  dein  Gutes  in  jenem  Leben  genossen 
hast,  Lazarus  hingegen  unglücklich  war.  Dieser  wird  jetzt  ge- 
tröstet und  du  leidest.»  —  «So  bitte  ich  dich  nur,  Vater,  daß  du 
ihn  in  mein  väterliches  Haus  schickest,  denn  ich  habe  noch  fünf 


DAS  LEBEN  JESU  45 


Brüder,  damit  er  sie  von  meinem  Schicksal  belehre,  und  sie  warne, 
nicht  auch  ein  solches  zu  verdienen.»  —  «Sie  haben  in  ihrer  Ver- 
nunft ein  Gesetz  und  die  Lehre  guter  Menschen ;  die  sollen  sie 
hören.»  —  «Dies  ist  nicht  hinreichend  für  sie,  sagte  der  Unglück- 
liche. Aber  wenn  ein  Toter  aus  seiner  Gruft  ihnen  erschiene, 
so  würden  sie  wohl  sich  bessern.»  —  «Dem  Menschen,  versetzte 
Abraham,  ist  das  Gesetz  seiner  Vernunft  gegeben ;  weder  vom 
Himmel,  noch  aus  dem  Grabe  kann  ihm  eine  andere  Belehrung 
zukommen,  denn  eine  solche  wäre  dem  Geiste  jenes  Gesetzes 
gänzlich  zuwider,  welches  eine  freie,  nicht  durch  Furcht  erzwun- 
gene, knechtische  Unterwerfung  verlangt.» 

Luk.  XVII,  5 .  Bei  einer  anderen  gleichfalls  unbekannten  Ver- 
anlassung machten  die  Freunde  Jesu  die  sonderbare  Bitte  an  ihn, 
ihren  Mut  und  Standhaftigkeit  zu  stärken.  Jesus  gab  ihnen  zur 
Antwort:  «Dies  kann  allein  der  Gedanke  an  eure  Pflicht  tun  und 
an  da^  große  Ziel  der  Bestimmung,  das  dem  Menschen  ge- 
setzt ist.  So  werdet  ihr  nie  am  Ende  eurer  Arbeit  zu  sein  und 
jetzt  zum  Genuß  euch  berechtigt  zu  sein  glauben.  Wenn  ein 
Knecht  vom  Felde  heimkommt,  so  wird  sein  Herr  ihm  nicht 
sagen:  Gehe  jetzt  und  tue  dir  gütlich,  sondern:  So  mache  jetzt 
mein  Essen  fertig  und  bediene  mich  dabei;  dann  kannst  auch  du 
essen.  Und  wenn  der  Knecht  dies  getan  hat,  so  wird  er  ihm  nicht 
Dank  dafür  schuldig  zu  sein  glauben.  So  auch  ihr,  wenn  ihr  ge- 
tan, was  ihr  solltet,  so  denket  nicht:  wir  haben  etwas  Übriges 
getan,  die  Zeit  der  Arbeit  ist  jetzt  vorbei  und  die  Zeit  des  Ge- 
nusses muß  jetzt  eintreffen;  sondern:  wir  haben  nichts  getan,  als 
was  unsre  Schuldigkeit  war.» 

Ein  andres  Mal  fragten  Pharisäer,  die  ihre  sinnliche  Vorstellung 
vom  Reich  Gottes  nicht  ablegen  konnten,  Jesum,  der  diese  Idee 
oft  im  Munde  führte,  wann  denn  das  Reich  Gottes  komme?  Jesus 
antwortete  ihnen:  «Das  Reich  Gottes  zeigt  sich  nicht  durch  Ge- 
pränge oder  äußerliche  Gebärden;  man  kann  auch  nie  sagen:  hier 
ist  es  und  dort  ist  es,  denn  siehe,  das  Reich  Gottes  muß  inwendig 
in  euch  errichtet  werden.»  Er  wandte  sich  hierauf  zu  seinen 
Jüngern:  «Ihr  werdet  oft  auch  wünschen,  das  Reich  Gottes  auf 
Erden  errichtet  zu  sehen.  Oft  wird  man  euch  sagen:  hier  oder 
dort  gibt  es  eine  solche  glückliche  Verbrüderung  von  Menschen 


46  G.W.  F.  HEGEL 


unter  Tugendgesetzen.  Laufet  solchen  Vorspiegelungen  nicht 
nach;  hoffet  das  Reich  Gones  nicht  in  einer  äußeren  glänzenden 
Vereinigung  von  Menschen  zu  sehen,  etwa  in  einer  äußeren  Form 
eines  Staates,  in  einer  Gesellschaft,  unter  den  öffentlichen  Ge- 
setzen einer  Kirche.  Eher  als  so  ein  ruhiger,  glänzender  Zustand 
wird  Verfolgung  das  Los  der  wahren  Bürger  des  Reiches  Gottes, 
der  Tugendhaften  sein,  oft  am  meisten  von  denen,  die  etwa  wie 
die  Juden  als  Glieder  einer  solchen  Gesellschaft  sich  viel  damit 
wissen.  Von  zwei,  die  einerlei  Glauben  bekennen,  zu  einerlei 
Kirche  sich  halten,  kann  der  eine  ein  Tugendhafter,  der  andere 
ein  Verworfener  sein.  Bleibet  also  nicht  an  der  äußeren  Form 
hängen;  lasset  euch  nicht  durch  das  Vertrauen,  in  pünktlicher 
Beobachtung  derselben  eure  Pflicht  erfüllt  zu  haben,  in  eine  träge 
Ruhe  versenken,  wobei  auch  wohl  die  Liebe  zum  Leben  und 
Lebensgenüsse  ihre  Rechnung  fände.  Denn  wer  dies  nicht  für 
die  Pflicht  aufzuopfern  vermag,  der  macht  sich  eben  dadurch  des- 
selben unwürdig.  Ebensowenig  (Luk.  XVIII)  darf  euch  Stand- 
haftigkeit  verlassen,  daß,  wenn  ihr  ^wr^ Hoffnungen,  durch  euren 
Kampf  Gutes  auszurichten,  so  lange  nicht  in  Erfüllung  gehen  sehet, 
ihr  müde  würdet  und  in  verdrießlicher  Laune  mit  dem  allge- 
meinen Strome  der  Verworfenheit  fortzuschwimmen  euch  ent- 
schlösset ;  wie  oft  ein  Klient  nicht  von  der  Rechtschaffenheit  des 
Richters  in  seiner  Angelegenheit  gefördert  wird,  sondern  weil  er 
sich  von  den  anhaltenden  Bitten  des  Klienten  losmachen  wollte, 
so  werdet  ihr  auch  viel  Gutes  durch  Standhaftigkeit  ausrichten 
und  dann,  wenn  ihr  die  Größe  des  Ziels,  das  die  Pflicht  setzt,  mit 
ganzer  Seele  aufgefaßt  habt,  so  wird  euer  Streben  wie  dieses  Ziel 
für  die  Unendlichkeit  sein  und  nie  ermatten,  ihr  möget  in  diesem 
Leben  Früchte  reifen  sehen  oder  nicht.» 

In  Beziehung  auf  die  Pharisäer,  die  sich  so  vollkommen  dünken 
und  die  w^gen  diesem  Eigendünkel  die  übrigen  Menschen  ver- 
achten, erzählte  Jesus  folgende  Geschichte:  «Es  gingen  zwei 
Menschen  in  den  Tempel  zu  beten,  deren  der  eine  ein  Pharisäer, 
der  andere  ein  Zollbedienter  war.  Das  Gebet  des  Pharisäers  lautete 
so:  «Ich  danke  Dir,  o  Gott,  daß  ich  nicht  bin  wie  die  übrigen 
Menschen,  ein  Räuber,  ein  Ungerechter,  ein  Ehebrecher  oder 
einer  wie  dieser  Zöllner;  ich  faste  zweimal  in  der  Woche,  besuche 


DAS  LEBEN  JESU  47 


regelmäßig  den  Gottesdienst  und  gebe  gewissenhaft  meinen  Zehnten 
für  deinen  Tempel.»  Der  Zöllner  stand  weit  von  diesem  Heiligen, 
wagte  seinen  Blick  nicht  gen  Himmel  zu  erheben,  sondern  schlug 
auf  seine  Brust  und  flehte:  «Ach  Gott!  sei  mir  Sünder  gnädig!» 
Ich  sage  euch,  dieser  ging  mit  wahrerer  Beruhigung  des  Gewissens 
nach  Hause  als  jener  Pharisäer.» 

Luk.  XVIII,  18.  Ein  vornehmer  Jüngling  trat  zu  Jesu:  «Guter 
Lehrer,  was  muß  ich  tun,  fragte  er  ihn,  um  tugendhaft,  um  vor 
Gott  der  GlückseHgkeit  nach  diesem  Leben  würdig  zu  sein.»  — 
«Warum  nennst  du  mich  gut.-*  erwiderte  Jesus.  Vollkommen  gut 
ist  niemand  als  Gott.  Übrigens  kennst  du  ja  die  Gebote  eurer 
Sittenlehrer:  Du  sollst  nicht  ehebrechen,  nicht  töten,  kein  falscher 
Zeuge  sein,  deinen  Vater  und  deine  Mutter  ehren.»  Der  Jüngling 
sagte  hierauf:  «Ich  habe  von  Jugend  auf  all  diese  Gebote  ge- 
halten.» —  «Nun,  sagte  Jesus,  wenn  du  fühlst,  daß  du  noch  mehr 
tun  könntest,  so  wende  deinen  Reichtum  zur  Unterstützung  der 
Armen  und  zur  Beförderung  der  Sittlichkeit  an  und  werde  darin 
mein  Gehülfe.»  Der  Jünghng  hörte  dies  mit  Betrübnis,  denn  er 
war  sehr  reich.  Jesus  bemerkte  dies  und  sagte  zu  seinen  Jüngern : 
«Wie  fest  kann  doch  die  Liebe  zum  Reichtum  den  Menschen 
umstricken,  welch  großes  Hindernis  zur  Tugend  für  ihn  werden! 
Die  Tugend  verlangt  Aufopferung,  die  Liebe  zum  Reichtum 
immer  neuen  Erwerb,  jene  sich  auf  sich  selbst  einzuschränken, 
diese  sich  auszubreiten,  das,  was  der  Mensch  sein  Eigen  nennt, 
immer  zu  vergrößern.»  Die  Freunde  Jesu  fragten  ihn:  «Aber 
wie  kann  man  hoffen,  daß  dieser  Trieb  der  menschlichen  Natur 
es  nicht  unmöglich  mache,  tugendhaft  zu  sein?»  —  «Den  Wider- 
spruch dieser  Triebe,  antwortete  Jesus,  hebt  der  Umstand  auf, 
daß  Gott  dem  einen  eine  eigentümliche  gesetzgebende  Gewalt 
verliehen  hat,  die  die  Pflicht  auferlegt,  die  Übermacht  über  den 
andern  zu  bekommen,  und  ihm  auch  die  Kraft  beigelegt  hat,  dies 
zu  können.»  Petrus,  einer  seiner  Freunde,  erwiderte  hierauf: 
«Du  weißt,  wir  haben  alles  verlassen,  um  uns  deiner  Bildung  zu 
übergeben  und  uns  allein  der  Sittlichkeit  zu  weihen.»  —  «Für 
das,  was  ihr  aufgegeben  habt,  sagte  Jesus,  ist  der  Erwerb  des  Be- 
wußtseins, der  Pflicht  allein  gelebt  zu  haben,  ein  reichlicher  Er- 
satz in  diesem  Leben  und  in  alle  Ewigkeit.» 


48  G.W.  F.  HEGEL 


Luk.  XVIII,  31,  Matth.  XX,  17.  Jesus  war  jetzt  mit  seiner  Be- 
gleitung, die  nur  aus  seinen  zwölf  auserlesenen  Freunden  bestand, 
in  die  Nähe  von  Jerusalem  gekommen  und  machte  sie  mit  den 
trüben  Ahnungen  bekannt,  die  er  vor  der  Art  seiner  dortigen 
Aufnahme  und  Behandlung  hatte,  Ahnungen,  die  mit  demjenigen 
sehr  in  Widerspruch  standen,  was  seine  Jünger  sich  von  seiner 
Ankunft  und  seinem  Aufenthalt  in  Jerusalem  versprachen.  Sogar 
sie,  die  den  täglichen  Umgang  und  die  Belehrung  Jesu  genossen, 
hatten  aus  ihren  jüdischen  Köpfen  die  sanguinische  Hoffnung,  Jesus 
werde  bald  öffentlich  als  König  auftreten,  den  Glanz  des  jüdischen 
Staats  und  seine  Unabhängigkeit  von  den  Römern  wiederherzu- 
stellen, und  sie  als  seine  Freunde  und  Gehülfen  durch  Macht  und 
Ehre  für  das,  was  sie  indes  entbehrt  hatten,  belohnen;  diese  Hoff- 
nung hatten  sie  noch  nicht  verbannt,  sie  hatten  sich  noch  nicht  den 
geistigen  Sinn  des  Reiches  Gottes,  als  einer  Herrschaft  der  Tugend- 
gesetze unter  den  Menschen  zu  eigen  gemacht.  So  trat  jetzt  die 
Mutter  des  Johannes  und  des  Jakobus  zu  Jesu,  fiel  ihm  zu  Füßen, 
und  auf  die  Frage  Jesu,  was  sie  verlange,  tat  sie  mit  ihnen  die 
Bitte  an  Jesum,  weil  sie  jetzt  die  Entwicklung  ihrer  Hoffnungen 
herannahen  zu  sehen  glaubten:  «Wenn  du  nur  dein  Reich  er- 
richtest, so  erhebe  meine  Söhne  zum  nächsten  Rang  nach  dir.» 
Jesus  gab  ihr  zur  Antwort:  «Ihr  wisset  nicht,  um  was  ihr  bittet 
Seid  ihr  bereit,  der  Pflicht,  die  ihr  über  euch  genommen  habt, 
der  \'erbesserung  der  Menschen  zu  leben  und  mein  Schicksal  zu 
teilen,  es  warte  auf  mich,  was  es  sei?»  —  Sie  antworteten,  wahr- 
scheinlich in  der  Hoffnung,  daß  dieses  kein  anderes  als  ein  glän- 
zendes sein  werde:  «Ja,  wir  sind  bereit.»  —  «Nun,  sagte  Jesus, 
so  tut  eure  Pflicht  und  unterwerfet  euch  ruhig  eurem  Schicksal; 
erwartet  aber  dabei  nicht,  die  Hoffnungen,  die  ihr  durch  eure 
Bitte  gezeigt  habt,  erfüllt  zu  sehen ;  die  Reinheit  eurer  Gesinnung 
allein,  die  vor  der  Gottheit,  nicht  vor  mir,  offen  liegt,  kann  den 
Wert  bestimmen,  den  ihr  vor  der  Gottheit  habt.»  Die  übrigen 
Freunde  Jesu  wurden  über  diese  Bitte  der  beiden  Brüder  sehr  er- 
bittert. Jesus  gab  ihnen  die  Weisung:  «Ihr  wisset,  daß  Herrsch- 
sucht eine  sehr  verführerische  und  sehr  allgemeine  Leidenschaft 
unter  den  Menschen  ist.  Sie  äußert  sich  in  den  großen  sowohl 
als  in  den  eingeschränkten  Kreisen  des  Lebens.     Aus  eurer  Ge- 


DAS  LEBEN  JESU  49 


Seilschaft  sei  sie  verbannt.  Setzet  eure  Ehre  untereinander  darein, 
gegenseitig  gefällig  zu  sein  und  einander  zu  dienen,  so  wie  der 
Zweck  meines  Lebens  nie  war,  über  andere  zu  gebieten,  sondern 
der  Menschheit  zu  dienen  und  für  sie  selbst  mein  Leben  aufzu- 
opfern. i> 

In  Beziehung  auf  diese  EpA'artungen  der  Begleiter  Jesu,  seine 
Freundschaft  werde  ihnen  aus  Gunst  für  sie  bei  der  jetzt  heran- 
nahenden Periode  seiner  Macht  einen  glänzenden  Anteil  daran 
einräumen,  belehrte  sie  Jesus  von  dem  Unterschiede  des  Wertes 
der  Menschen  durch  folgende  Parabel:  «Ein  Fürst  verreiste  einst 
in  ein  entferntes  Land,  um  die  Regierung  desselben  zu  überneh- 
men. Ehe  er  aus  dem  Lande  abreiste,  dessen  Regent  er  schon  war, 
vertraute  er  seinen  Dienern  zehn  Pfund  an,  um  mehr  damit  zu 
gewinnen.  Die  Bürger  schickten  ihm  eine  Gesandtschaft  nach, 
ihm  die  Erklärung  zu  machen,  daß  sie  ihn  nimmer  als  ihren 
Fürsten  anerkennen.  Ohngeachtet  dessen  behauptete  er  bei  seiner 
Zurückkunft  den  Thron,  und  verlangte  jetzt  von  seinen  Dienern 
Rechnung  über  die  Anwendung  des  ihnen  zurückgelassenen  Geldes. 
Der  erste  sagte:  «Mit  dem  Pfunde,  das  du  mir  anvertraut  hast,  habe 
ich  zehn  gewonnen.»  —  «Wohl,  versetzte  der  Fürst,  du  hast  mit 
wenigem  gut  Haus  gehalten;  ich  will  dich  über  mehr  setzen;  ich 
übertrage  dir  die  Regierung  über  zehn  Städte.»  Der  andere  hatte 
mit  seinem  Pfunde  fünf  gewonnen ;  der  Fürst  gab  ihm  die  Regierung 
über  fünf  Städte.  Ein  anderer  sagte:  «Ich  bringe  dir  das  Pfund 
unverloren  wieder;  ich  habe  es  sorgfältig  bewahrt;  ich  fürchtete, 
es  an  etwas  zu  wagen,  da  du  ein  strenger  Herr  bist,  willst  nehmen, 
was  du  nicht  hingesetzt,  ernten,  was  du  nicht  gesäet  hast.»  — 
«Deine  Rechtfertigung  verurteilt  dich,  antwortete  der  Fürst. 
Wenn  du  wußtest,  daß  ich  ein  strenger  Mann  bin,  ernten  will, 
was  ich  nicht  gesäet  habe,  warum  hast  du  nicht  dein  Geld  den 
Wechslern  gegeben,  und  hättest  mir  dann  dein  Pfund  mit  den  Zinsen 
zurückgeben  können?  Du  verlierst  dein  Geld  und  es  sei  dessen, 
der  zehn  gewonnen  hat.»  Den  andern  Dienern  fiel  es  auf,  daß 
der,  der  schon  zehn  Pfund  habe,  dies  auch  bekommen  solle.  Der 
Fürst  sagte  ihnen  aber:  «Dem,  der  das  gut  angewandt  hat,  was 
ihm  anvertraut  worden  ist,  wird  noch  mehr  zugelegt  werden ;  der 
aber  von  dem  ihm  Anvertrauten  einen  schlechten  oder  gar  keinen 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  4 


50  G.W.  F.  HEGEL 


Gebrauch  gemacht  hat,  macht  sich  auch  des  ihm  Anvertrauten 
unwürdig.  Und  jetzt  führet  diejenigen  vor  mich,  die  mir  den  Ge- 
horsam aufgesagt  haben,  daß  ich  sie  zur  Strafe  ziehe.» — Wie  dieser 
Fürst,  so  richtet  Gott  den  Wert  der  Menschen  nach  dem  treuen 
Gebrauch  der  ihnen  verHehenen  Kräfte  und  nach  dem  Gehorsam 
gegen  die  moralischen  Gesetze,  unter  denen  sie  stehen.» 

Auch  hier  (Jesus  war  in  Jericho,  etwa  sechs  Stunden  von 
Jerusalem),  zeigten  wieder  Pharisäer  ihre  Mißbilligung,  daß  Jesus 
in  dem  Hause  eines  Zöllners  einkehrte;  er  hieß  Zachäus.  Um 
Jesum,  dem  er  sich  wegen  der  Menge  Menschen  nicht  nähern 
konnte  und  weil  er  von  Person  sehr  klein  war,  zu  sehen,  war  er 
auf  einen  Baum  gestiegen  und  war  von  der  Ehre  überrascht,  daß 
Jesus  sein  Hauszum  Ausruhen  wählte.  Da  er  denken  konnte,  welche 
Begriffe  von  seinem  Charakter  Jesus  sielt  aus  seinem  bisherigen 
Amte  machen  würde  und  es  fühlte,  daß  er  ihm  in  einem  nach- 
teiligen Lichte  erscheinen  müßte,  so  machte  er  Jesum  mit  der  Ver- 
besserung seiner  vormaligen  Denkungsart  bekannt  und  sagte  ihm: 
«Von  meinem  erworbenen  Vermögen  gebe  ich  die  Hälfte  den 
Armen,  und  wen  ich  über\'orteilt  habe,  dem  erstatte  ich  den 
Schaden  vierfach.»  Jesus  bezeugte  ihm  sein  Gefallen  über  diese 
Rückkehr  zur  Rechtschaffenheit,  und  daß  seine  Absicht  auf  der 
Erde  sei,  die  Menschheit  auf  diesen  Weg  zu  führen. 

Joh.  XI,  55.  Das  Passahfest  war  jetzt  wieder  eingefallen,  und  die 
meisten  Juden  hatten  sich  deswegen  schon  in  Jerusalem  einge- 
funden. Jesus  hielt  sich  noch  einige  Tage  in  der  Nähe  von  Jeru- 
salem auf,  in  einer  Stadt  namens  Ephrem,  und  besonders  zu 
Bethanien  (Joh.  XII).  Bei  einem  Gastmahl,  das  ihm  hier  gegeben 
wurde,  war  auch  ein  Frauenzimmer,  Maria,  eine  Freundin  Jesu,  zu- 
gegen. Sie  salbte  seine  Füße  mit  einem  kostbaren  Balsam  und 
trocknete  sie  mit  ihren  Haaren.  Ein  Apostel  Jesu,  Judas,  der  das 
Geld  der  Gesellschaft  verwaltete,  bemerkte  darüber,  man  hätte 
diese  Salbe  besser  anwenden  können,  w^nn  man  sie  verkauft  und 
das  Geld  den  Armen  ausgeteilt  hätte.  Judas  hatte  gehofft,  dies 
Geld  alsdann  in  seinen  Beutel  zu  bekommen  und  bei  der  Ver- 
teilung desselben  unter  die  Armen  würde  er  sich  nicht  vergessen 
haben.  Jesus  gab  ihm  aber  die  Weisung,  er  würde  durch  seinen 
Tadel  dem  Herzen  der  Maria  nicht  weh  getan  haben,  wenn  er 


DAS  LEBEN  JESU  51 


den  Ausdruck  ihrer  Freundschaft  in  ihrer  Handlung  empfunden 
hätte,  die  dem  ähnHch  sei,  wenn  man  den  Toten  seine  Liebe 
durch  Einbalsamieren  zeige.  Seine  vorgegebene  Mildtätigkeit 
gegen  Arme  werde  er  sonst  jederzeit  Gelegenheit  haben  zu  zeigen. 

Indessen  hatte  der  hohe  Rat  von  Jerusalem  (Matth.  XXVI,  3), 
der  erwartete,  Jesus  werde,  wie  jeder  Jude,  auf  das  Fest  kommen, 
den  Beschluß  gefaßt,  Jesum  bei  dieser  Gelegenheit  gefangen  zu 
nehmen  und  dahin  zu  bringen,  daß  er  am  Leben  gestraft  würde; 
das  Letztere  aber  ward  ausgemacht  bis  nach  dem  Feste  zu  ver- 
schieben, weil  sie  fürchteten,  seine  während  dieser  Zeit  anwesen- 
den Landsleute,  die  Galiläer,  möchten  etwa  einen  Versuch  machen, 
Jesum  zu  befreien.  Es  wurde  daher  (Joh.  XI,  56 — 57)  die  Ver- 
anstaltung von  dem  hohen  Rat  gemacht,  daß  es  ihm  sogleich  an- 
gezeigt würde,  wenn  Jesus  im  Tempel  bemerkt  würde,  und  die- 
jenigen, die  diesen  Auftrag  hatten,  waren  in  den  ersten  Tagen  des 
Festes  verlegen,  als  sie  in  diesem  Jesum  nirgends  sahen. 

Sechs  Tage  nach  jenem  Mahle  ging  Jesus  nach  Jerusalem  selbst. 
Als  er  die  Stadt  zu  Gesichte  bekam,  traten  ihm  Tränen  in  die 
Augen:  «Ach!  sagte  er,  wenn  du  es  einsähest,  was  zu  deinem 
Wohle  diente!  So  aber  ist  es  dir  verborgen.  Denn  euer  Stolz, 
eure  Hartnäckigkeit  in  euern  Vorurteilen,  eure  Intoleranz  werden 
eure  Feinde  gegen  euch  reizen  und  sie  werden  euch  umlagern 
und  an  allen  Orten  ängstigen,  bis  euer  Staat,  eure  Verfassung, 
der  Gegenstand  eures  Stolzes  zernichtet  und  ihr  unter  seinen  Ruinen 
begraben  werdet,  ohne  das  Gefühl,  ohne  den  Ruhm  zu  haben,  in 
einer  edlen  Verteidigung  einer  guten,  einer  großen  Sache  ge- 
storben zu  sein!» 

Jesus  ritt  nach  Art  der  Morgenländer  auf  einem  Esel.  Eine 
Menge  Volkes,  die  ihn  kannte,  kam  ihm  entgegen  und  begleitete 
ihn  mit  Ölzweigen  in  der  Hand  und  unter  den  Jubelgesängen  der- 
selben zog  er  in  die  Stadt. 

Jesus  blieb  nicht  in  Jerusalem,  sondern  in  Bethanien  über  Nacht 
(Matth.  XXI,  17),  kehrte  aber  des  Morgens  dorthin  wieder  zurück, 
zeigte  sich  öffentlich  im  Tempel  und  lehrte.  Seine  Feinde  (Luk. 
XX)  suchten  ihn  durch  verfängliche  Fragen  zu  veranlassen,  stVÄ eine 
Blöße  zu  geben,  um  teils  einen  Vorwand,  ihn  anzuklagen,  zu 
finden,  teils  ihn  bei  dem  Volke  verhaßt  zu  machen,  wegen  dessen 


52  G.W.  F.  HEGEL 


sie  nicht  ruhig  waren ;  besonders  hatte  der  große  Zulauf  bei  seiner 
Ankunft  in  der  Stadt  ihre  Besorgnisse  noch  vermehrt. 

So  fragten  sie  ihn  einmal,  als  er  vor  einer  großen  Menge  Zu- 
hörern im  Tempel  saß,  aus  welcher  Vollmacht  er  dies  Amt,  öffent- 
lich zu  lehren,  verrichte.  Jesus  sagte:  «Lasset  mich  eine  Gegen- 
frage an  euch  tun:  Die  Beweggründe  des  Johannes,  öffentlich  zu 
lehren,  waren  sie  Eifer  für  Wahrheit  und  Tugend  oder  hatte  er 
selbsüchtige  Absichten  dabei?»  Diejenigen,  die  ihn  gefragt 
hatten,  dachten:  «Antworten  wir  das  erstere,  so  fragt  uns  Jesus 
wieder:  warum  habt  ihr  ihm  nicht  Gehör  gegeben?  Antworten 
wir  das  letztere,  so  bringen  wir  das  Volk  gegen  uns  auf.»  Sie 
antworteten  also,  sie  wissen  es  nicht.  «Nun,  sagte  Jesus,  so  kann 
ich  euch  auf  eure  Frage  nicht  antworten.  Urteilet  aber  einmal ! 
Ein  Mann  (Matth.  XXI,  28  ff.),  der  zwei  Söhne  hatte,  hieß  den 
einen  heute  in  den  Weinberg  gehen  und  arbeiten;  dieser  gab  zur 
Antwort,  er  gehe  nicht,  bereute  dies  aber  hernach  und  ging. 
Eben  diesen  Befehl  gab  der  Vater  dem  zweiten,  der  gleich  Bereit- 
willigkeit zeigte  und  zu  gehen  versprach,  aber  dann  doch  nicht 
ging.  Welcher  hat  nun  dem  Vater  Gehorsam  bewiesen?»  Sie 
antsvorteten :  «Der  erste.»  —  «Ebenso,  antwortete  Jesus,  geht  es 
unter  euch.  Menschen,  die  im  allgemeinen  Rufe  der  sittlichen 
Verdorbenheit  standen,  haben  auf  die  Aufforderung  des  Johannes 
der  Stimme  der  Tugend  Gehör  gegeben  und  übertreffen  euch 
jetzt  in  guter  Gesinnung,  euch,  die  ihr  den  Namen  Gottes  immer 
im  Munde  führet  und  seinem  Dienste  allein  zu  leben  vorgebet.» 

Jesus  legte  ihnen  noch  eine  andere  Geschichte  vor:  «Ein  Mann 
legte  einen  großen  Weinberg  an,  umgab  ihn  mit  Mauern,  be- 
festigte ihn  und  gab  ihn  Winzern  zum  Bauen  und  reiste  weg. 
Zur  Herbstzeit  schickte  er  Leute  hin,  um  das,  was  der  Weinberg 
getragen  hatte,  einzunehmen.  Sie  wurden  aber  von  den  Winzern 
auf  alle  mögliche  Art  mißhandelt.  Ebenso  ging  es  den  zweiten, 
die  der  Besitzer  des  Gutes  schickte.  In  der  Hoffnung,  sie  werden 
Ehrfurcht  vor  seinem  Sohne  haben,  schickte  er  jetzt  diesen; 
allein  die  Winzer  lachten,  dieser  sei  der  Erbe  und  durch  seinen 
Tod  setzen  sie  sich  in  den  völligen  Besitz  des  Gutes.  Sie  ermor- 
deten also  auch  diesen.  Was  wird  nun  der  Herr  des  Weinbergs 
tun?»  fragte  Jesus  die  Umstehenden.    Diese  sagten:  «Er  wird  die 


DAS  LEBEN  JESU  53 


Winzer  mit  der  Strenge,  die  sie  verdienen,  strafen  und  den  Wein- 
berg andern  Winzern  geben,  von  denen  er  die  Früchte  riciitig 
erhält.»  —  «So,  sagte  Jesus,  haben  die  Juden  das  Glück  gehabt, 
früher  als  manche  andern  Nationen  würdigere  Begriffe  von  der 
Gottheit  und  von  dem  zu  erlangen,  wasihrWille  an  dem  Menschen 
ist.  Aber  ihr  erzeuget  nicht  die  Früchte,  die  den  Menschen  in 
den  Augen  der  Gottheit  wohlgefällig  machen.  Darum  ist  es  ein 
eitler  Wahn,  euch  durch  jenen  Vorzug  allein  Lieblinge  der  Gott- 
heit zu  glauben,  und  ein  Verbrechen,  Menschen  zu  mißhandeln, 
die  es  fühlen  und  es  auch  sagen,  daß  es  etwas  Höheres  ist,  das 
dem  Menschen  einen  wahren  Wert  gibt.»  —  Die  Mitglieder  des 
hohen  Rats,  die  Veranlassung  zu  diesem  ihnen  gemachten  Vor- 
wurf gegeben  hatten,  würden  die  Hände  gleich  an  Jesum  gelegt 
haben,  wenn  sie  es  wegen  des  Volkes  gewagt  hätten. 

Joh.  XII,  20.  Einige  griechische  Juden,  die  auch  aufs  Fest  ge- 
kommen waren,  wünschten  Jesum  zu  sprechen  und  wandten  sich 
daher  an  einige  von  den  Freunden  Jesu,  um  sich  von  Jesu,  wie 
es  scheint,  eine  Privatunterredung  auszubitten.  Jesus  bezeugte, 
wie  es  scheint,  keine  Lust  dazu,  weil  er  dachte,  sie  bringen  die 
gewöhnlichen  jüdischen  Messiasideen  und  wollen  sich  ihm,  als 
dem  zukünftigen  König  und  Herrscher  der  Juden,  zum  voraus 
empfehlen.  In  Beziehung  hieran  sagte  er  bei  dieser  Gelegenheit 
zu  seinen  Jüngern:  «Diese  Menschen  irren  sich,  wenn  sie  mir 
den  Ehrgeiz  zutrauen,  mich  zu  einem  Messias  aufwerfen  zu  wollen, 
wie  sie  einen  erwarten,  wenn  sie  glauben,  ich  verlange,  daß  sie 
mir  dienen  sollen,  oder  ich  finde  mich  dadurch  geschmeichelt, 
wenn  sie  sich  anerbieten,  mein  Gefolge  vermehren  zu  wollen. 
Wenn  sie  dem  heiligen  Gesetze  ihrer  Vernunft  gehorchen,  so 
sind  wir  Brüder,  so  sind  wir  von  einer  Gesellschaft.  Wenn  sie 
Macht  und  Ruhm  für  meinen  Zweck  halten,  so  verkennen  sie 
die  erhabene  Bestimmung  des  Menschen  oder  glauben,  ich  ver- 
kenne sie.  —  Wie  ein  Saatkorn,  das  in  die  Erde  gelegt  wird,  erst 
abstirbt,  daß  sein  Keim  zu  einem  Halm  aufschieße,  so  verlange 
auch  ich  nicht  die  Früchte  von  dem  zu  erleben,  was  der  Zweck 
meiner  Arbeit  war,  so  hat  auch  mein  Geist  in  der  Hülle  dieses 
Körpers  seine  Bestimmung  nicht  vollendet.  Um  dieses  Leben  zu 
erhalten,  sollte  ich  dem  ungetreu  werden,  was  ich  als  Pflicht  er- 


54  G.W.  F.  HEGEL 


kenne;  ich  sehe  es  mit  Betrübnis,  wohin  die  Anschläge  des  Re- 
genten dieses  Volkes  gehen;  sie  wollen  mir  das  Leben  nehmen, 
aber  sollte  ich  darum  wünschen  oder  bitten :  Vater,  entreiße  mich 
dieser  Gefahr!  Nein,  mein  Bestreben,  die  Menschen  zum  wahren 
Dienste  der  Gottheit,  zur  Tugend  zu  rufen,  hat  mich  in  diese 
Lage  gebracht  und  ich  bin  bereit,  mich  jeder  Folge,  die  daraus 
entspringen  mag,  zu  unterwerfen.  Widerspricht  dies  wieder  euern 
Erwartungen,  daß  der  Messias,  auf  den  ihr  hoffet,  nicht  sterben 
werde,  so  ist  euch  das  Leben  für  sich  so  etwas  Großes  und  der 
Tod  so  etwzs  Fürchterliches,  daß  ihr  diesen  an  einem  Menschen 
nicht  reimen  könnet,  der  eure  Achtung  verdienen  sollte!  Ver- 
lange ich  denn  aber  Achtung  für  meine  Person?  oder  Glauben  an 
mich?  oder  will  ich  einen  Maßstab,  den  Wert  der  Menschen  zu 
schätzen,  und  sie  zu  richten,  als  eine  Erfindung  von  mir  euch 
aufdringen?  Nein,  Achtung  für  euch  selbst,  Glauben  an  das 
heilige  Gesetz  eurer  Vernunft  und  Aufmerksamkeit  auf  den  inne- 
ren Richter  in  euerm  Busen,  auf  das  Gewissen,  einen  Maßstab, 
der  auch  der  Maßstab  der  Gottheit  ist,  dies  wollte  ich  in  euch 
en\^ecken.» 

Es  wurden  jetzt  wieder  (Luk.  XX,  20)  von  den  Pharisäern  und 
Anhängern  des  Herodischen  Hauses  einige  an  Jesum  geschickt, 
um  sich  mit  ihm  in  ein  Gespräch  einzulassen,  in  dem  sie  einen 
Grund  finden  könnten,  ihn  bei  der  römischen  Obrigkeit  anzu- 
klagen. Um  einzusehen,  wie  verfänglich  die  Frage  war  und  wie 
leicht  Jesus  sich  in  der  Antwort  entweder  gegen  diese  Obrigkeit 
oder  gegen  die  Vorurteile  der  Juden  hätte  verstoßen  können,  so 
muß  man  sich  an  die  jüdische  Denkungsart  erinnern,  die  es  ganz 
unerträglich  fand,  einem  fremden  Fürsten  Abgaben  zu  bezahlen, 
weil  sie  solche  ihrem  Gott  und  seinem  Tempel  bezahlen  wollte. 
Die  an  ihn  Abgeschickten  redeten  ihn  also  an:  «Wir  wissen, 
Lehrer,  daß  du  in  dem,  was  du  sagst,  aufrichtig  bist,  dich  an  die 
unverfälschte  Wahrheit  hältst  und  niemand  zu  Gefallen  etwas  be- 
hauptest. Sage  uns,  ist  es  recht,  daß  wir  dem  römischen  Kaiser 
Auflagen  entrichten?»  Jesus  merkte  ihre  Absicht  und  sagte:  «Ihr 
Heuchler,  was  suchet  ihr  mir  eine  Falle  zu  legen?  Zeiget  mir 
einen  Denarius.  Wessen  ist  dies  Bild  und  die  Umschrift  (Legende)?> 
—  Sie  antwoneten:    «Des  Kaisers».  —  «Wenn  ihr  denn  dem 


DAS  LEBEN  JESU  55 


Kaiser,  sagte  Jesus,  das  Recht  einräumet,  Münzen  zu  eurem  Ge- 
brauch zu  prägen,  so  gebet  denn  dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist, 
und  eurem  Gotte,  was  zu  seinem  Dienste  erfordert  wird.»  Sie 
mußten  mit  dieser  Antwort  zufrieden  sein,  ohne  ihm  etwas  an- 
haben zu  können.  Auch  die  Sadduzäer,  eine  Sekte  unter  den 
Juden,  die  nicht  an  UnsterbUchkeit  der  Seele  glaubte,  wollten  ihre 
Einsichten  auch  gegen  Jesum  wagen,  und  sagten  ihm  daher: 
«Nach  unsern  Gesetzen  muß  ein  Mann,  dessen  Bruder  ohne 
Kinder  stirbt,  die  hinterlassene  Witwe  heiraten.  Nun  geschah  es, 
daß  eine  Frau  auf  diese  Art  sieben  Brüder  nacheinander  heiratete, 
da  einer  nach  dem  andern  starb,  ohne  Kinder  mit  ihr  zu  erzeugen. 
Wessen  sollte  nun,  wenn  die  Menschen  nach  dem  Tode  fort- 
dauerten, die  Frau  sein?»  Jesus  antwortete  auf  diesen  abge- 
schmackten Einwurf:  «In  diesem  Leben  verheiraten  sich  wohl 
die  Menschen.  Aber  die  Unsterblichen,  die  jetzt  in  die  Gesell- 
schaft der  reinen  Geister  getreten  sind,  werden  mit  dem  Körper 
solche  Bedürfnisse  ablegen.» 

Ein  Pharisäer,  der  die  guten  Antworten  Jesu  auf  die  Fragen  der 
andern  mit  angehört  hatte,  tat  (wie  es  scheint  mit  einer  bösen 
Absicht)  auch  eine  Frage  an  Jesum,  welches  der  höchste  Grund- 
satz der  Sittlichkeit  sei.  Jesus  antw^ortete  ihm:  «Es  ist  Ein  Gott, 
und  diesen  sollst  du  von  ganzem  Herzen  lieben  und  ihm  deinen 
Willen,  deine  ganze  Seele,  alle  deine  Kräfte  weihen;  dies  ist  das 
erste  Gebot.  Das  zweite  ist  diesem  an  Verbindlichkeit  ganz  gleich 
und  lautet  so:  Liebe  jeden  Menschen,  als  wenn  er  du  selbst  wäre; 
ein  höheres  Gebot  gibt  es  nicht.»  Der  Pharisäer  bewunderte  die 
Vortrefflichkeit  dieser  Antwort  und  erwiderte:  «Du  hast  der 
Wahrheit  gemäß  geantwortet.  Gott  seine  ganze  Seele  weihen 
und  den  Nächsten  als  sich  selbst  lieben  ist  mehr  als  alle  Opfer 
und  Räucherungen.»  Jesum  freute  die  gute  Gesinnung  des 
Mannes  und  er  sagte  ihm:  «In  dieser  Gesinnung  bist  du  nicht 
weit  entfernt,  ein  Bürger  des  Reiches  Gottes  zu  sein,  wo  nicht 
durch  Opfer  oder  Abbüßungen  oder  Lippendienst  oder  Entsagung 
der  Vernunft  um  seine  Gunst  geworben  werden  soll.» 

In  einem  Teile  des  Tempels  war  (Luk.  XXI,  i)  eine  Büchse 
aufgestellt,  wo  man  die  Geschenke  für  den  Tempel  einlegte. 
Jesus  beobachtete  unter  denen,   die  ihren  Beitrag  gaben,   neben 


56  G.W.  F.  HEGEL 


den  Reichen,  die  große  Summen  steuerten,  auch  eine  arme  Witwe, 
die  zwei  Heller  einlegte.  Er  sagte  darüber:  «Diese  hat  mehr  ein- 
gelegt als  alle  anderen.  Denn  alle  haben  aus  ihrem  Überflüsse  ge- 
geben, diese  aber  gab  in  diesem  Wenigen  ihr  ganzes  Vermögen.» 

Matth.  XXIII.  Auf  Veranlassung  von  diesen  Versuchen  der 
Pharisäer  gegen  Jesum  nahm  er  Gelegenheit,  das  Volk  und  seine 
Freunde  vor  den  Pharisäern  zu  warnen.  «Die  Pharisäer  und  Ge- 
setzgelehrten haben  sich,  sagte  er,  auf  den  Stuhl  Moses  gesetzt. 
Die  Gesetze  nun,  die  sie  euch  gebieten  zu  halten,  die  haltet.  Aber 
ihrem  Beispiele,  ihrer  Handlungsweise  folget  nicht.  Denn  sie 
handhaben  zwar  die  Gesetze  des  Moses,  aber  sie  selbst  halten  sie 
nicht.  Ihre  Handlungen  haben  allein  den  Zweck,  sich  vor  den 
Menschen  einen  äußeren  Schein  der  Rechtschaffenheit  zugeben.» 
—  «Ihr  verzehret  das  Gut  der  Witwe  und  tut  euch  gütlich  bei 
ihnen,  unter  dem  Vorwand,  mit  ihnen  zu  beten.  Ihr  gleichet 
übertünchten  Gräbern,  deren  Äußeres  bemalt  ist,  und  in  deren 
Innerem  die  Verwesung  haust.  Äußerlich  gebet  ihr  euch  den  Schein 
der  Heiligkeit;  euer  Inneres  ist  Heuchelei  und  Ungerechtigkeit.» 
Er  faßte  noch  manche  Züge  zusammen,  die  er  einzeln  bei  den 
Gelegenheiten,  die  sich  angeboten  hatten,  schon  an  ihnen  ge- 
rügt hatte. 

Matth.  XXIV.  Unter  dem  Herumspazieren  in  den  verschiedenen 
Teilen  des  Tempels  unterhielten  sich  die  Freunde  Jesu  über  die 
Pracht  desselben.  Jesus  sagte  dabei,  es  ahne  ihm,  dieser  pomp- 
volle Gottesdienst  und  diese  Gebäude  selbst  werden  ihr  Ende  er- 
reichen. Den  Freunden  Jesu  war  dies  sehr  aufgefallen  und  als 
nachher  sie  allein  mit  ihm  auf  dem  Ölberg  waren,  von  wo  aus 
sie  die  Aussicht  auf  die  schönen  Tempelgebäude  und  einen  großen 
Teil  der  Stadt  hatten,  so  fragten  sie  ihn:  «Wann  wird  dieses,  wo- 
von du  uns  vorhin  sprachst,  geschehen,''  und  an  welchem  Zeichen 
werden  wir  die  Annäherung  der  Vollendung  des  Reiches  des 
Messias  erkennen.?»  Jesus  antwortete  ihnen:  «Diese  Erwartung 
eines  Messias  wird  meine  Landsleute  noch  in  große  Gefahren 
stürzen  und  verbunden  mit  ihren  übrigen  Vorurteilen  und  dieser 
blinden  Hartnäckigkeit  ihren  völligen  Untergang  graben ;  diese 
chimärische  Hoffnung  wird  sie  zum  Spiel  listiger  Betrüger  oder 
kopfloser  Schwärmer  machen.    Nehmet  euch  in  acht,  daß  auch 


DAS  LEBEN  JESU  57 


ihr  dadurch  euch  nicht  in  Irrtum  führen  lasset.   Oft  wird  es  heißen : 
Hier  oder  dort  ist  der  erwartete  Messias.  Viele  werden  sich  für  den 
Messias  ausgeben,   unter  diesem  Titel  sich  zu  Anführern  von 
Empörungen  machen  und  Häuptern  religiöser  Sekten  aufwerfen, 
Weissagungen  verkünden  und  Wunder  verrichten,  um  womög- 
lich auch  die  Guten  irre  zu  machen.    Oft  wird  es  heißen:    Dort 
in  der  Wüste  zeigt  sich  der  erwartete  Messias,  hier  in  Grüften 
hält  er  sich  noch  verborgen.  Lasset  euch  dadurch  nicht  verführen, 
ihnen  nachzulaufen.    Solche  Anmaßungen  und  Gerüchte  werden 
zu  politischen  Aufruhren  und  Spaltungen  des  Glaubens  Anlaß 
geben.    Man  wird  Partei  nehmen  und  in  diesem  Parteigeist  ein- 
ander hassen  und  verraten  und  diesem  bUnden  Eifer  für  Namen 
und  Worte  die  heiligsten  Pflichten  der  Menschlichkeit  aufzuopfern 
sich  berechtigt  glauben.    Zerrüttung  des  Staates,  Auflösung  aller 
Bande  der  Gesellschaft  und  der  Menschlichkeit  und  in  ihrem  Gefolge 
Pest  und  Hungersnot  wird  dies  unglückliche  Land  leicht  zur 
Beute  auswärtiger  Feinde  machen.    Lasset  euch  in  diesen  Stürmen 
nicht  verführen,   Partei  zu  nehmen.    Viele  werden  von  diesem 
Schwindelgeiste  angetastet,  ohne  selbst  recht  zu  wissen,  wie  ihnen 
geschah,    im  Wirbel    fortgerissen  mit  jedem   Schritte  von   der 
Mäßigung  sich  entfernen  und  am  Ende  sich  in  die  Verbrechen 
und  den  Ruin  ihrer  Partei  sich  ohne  Möglichkeit  der  Rückkehr 
verwickelt  sehen.     Fliehet,   fliehet  vielmehr,   wenn  ihr  könnt, 
diesen   Schauplatz   der  Zerrüttung  und   Lieblosigkeit,   entreißet 
euch  allen  häuslichen  Verhältnissen,  zaudert  nicht,  um  noch  dies 
oder  das  zu  bewegen  oder  zu  retten.   In  jedem  Fall  bleibet  unver- 
rückt euren  Grundsätzen  getreu.    Ihr  Zelotengeist  mag  euch  an- 
fallen und  mißhandeln,  prediget  Mäßigung  und  ermahnet  zu  Liebe 
und  zum  Frieden  und  interessiert  euch  für  keine  dieser  religiösen 
und  politischen  Parteien.   Glaubet  nicht,  in  solchen  Zusammen- 
rottungen oder  in  Verbindungen,  die  auf  den  Namen  und  Glauben 
einer  Person  schwören,  den  Plan  der  Gottheit  vollendet  zusehen; 
er  schränkt  sich  nicht  auf  ein  Volk,  einen  Glauben  ein,  sondern 
umfaßt  mit  unparteiischer  Liebe  das  ganze  menschliche  Geschlecht. 
Dann  könnet  ihr  sagen,  er  ist  vollendet,  wenn  der  Dienst  nicht 
von  Namen  und  Worten,  sondern  der  Dienst  der  Vernunft  und 
der  Tugend  auf  der  ganzen  Erde  anerkannt  und  geübt  wird.  Diese 


58  G.W.  F.  HEGEL 


Hinsicht  auf  diese  Hoffnung  der  Menschheit,  nicht  die  eitle  Na- 
tionalhoffnung der  Juden  wird  euch  frei  von  Sektengeist,  sowohl 
als  immer  aufrecht  und  mutvoll  erhalten.  Unter  diesen  Spaltungen 
gründe  sich  eure  Ruhe;  euer  Mut  auf  unverfälschte  Tugend 
wird  wachsen,  daß  nicht  eine  falsche,  träge  Beruhigung  sich  in 
euer  Herz  einschleiche.  [Seid  immer  wachsam,  lasset  euch  nicht 
in  eine  träge  Ruhe  versinken,  durch  eine  falsche  Beruhigung], 
die  sich  auf  Anhänglichkeit  an  Glaubensformeln,  auf  Lippendienst 
und  pünktliche  Beobachtung  der  Zeremonien  einer  Kirche  gründet. 
Es  würde  (Matth.  XXV)  dem  ähnlich  sein,  wie  wenn  zehn  Jung- 
frauen den  Bräutigam  mit  Lampen  erwarten,  der  die  Braut  heim- 
führt; wovon  fünf  sich  klüglich  mit  Öl  versahen,  fünf  aber  töricht 
dies  vernachlässigten.  Nach  langem  Warten  kommt  endlich  spät 
in  der  Nacht  der  Bräutigam;  sie  wollen  ihm  entgegen;  die  fünf, 
die  kein  Öl  hatten,  wollten  in  der  Eile  fort,  um  sich  noch  welches 
zu  kaufen ;  die  andern  konnten  ihnen  nichts  leihen,  weil  sie  gerade 
für  sich  genug  hatten.  In  ihrer  Abwesenheit  kommt  indes  der 
Bräutigam  an  die  fünf  Klugen ;  sie  begleiten  ihn  ins  Haus  zum 
Hochzeitsmahl;  die  andern  aber,  die  auf  die  Einladung  sich  ver- 
ließen, aber  von  ihrer  Seite  an  dem  Wesentlichen  es  fehlen  ließen, 
wurden  ausgeschlossen.  So  glaubet  auch  ihr  es  nicht  hinreichend, 
einen  Glauben  ergriffen  zu  haben,  wenn  ihr  es  am  Notwendigsten, 
an  der  Übung  der  Tugend  fehlen  laßt,  und  dann  etwa  in  der  Not 
oder  beim  Herannahen  des  Todes  noch  geschwind  einige  Grund- 
sätze zusammenzuraffen  oder  mit  fremdem  Verdienst,  woran  jeder 
für  sich  genug  hat  und  andern  nichts  zukommen  lassen  kann, 
euch  auszuschmücken  gedächtet.  Ihr  würdet  mit  eurem  Kirchen- 
glauben allein  und  der  Vertröstung  auf  fremdes  Verdienst  vor 
dem  heiligen  Richter  der  Welt  nicht  bestehen.  Ich  vergleiche  sein 
Gericht  mit  dem  Gerichte  eines  Königs,  der  seine  Völker  ver- 
sammelt und  wie  ein  Hirt  die  Böcke  von  den  Lämmern,  die  Guten 
von  den  Bösen  sondert.  Zu  jenen  spricht  er:  Nähert  euch  mir, 
ihr  meine  Freunde,  genießet  des  Glücks,  dessen  ihr  euch  würdig 
gemacht  habt;  denn  ich  hungerte  und  ihr  gäbet  mir  zu  essen;  ich 
litt  Durst  und  ihr  tränktet  mich;  wenn  ich  als  Fremder  unter 
euch  war,  so  nähmet  ihr  mich  auf;  wenn  ich  nackt  war,  kleidetet 
ihr  mich;  wenn  ich  krank  war,  pflegtet  ihr  mich;  im  Gefängnis 


DAS  LEBEN  JESU  S9 


besuchtet  ihr  mich.  Sie  werden  voll  Verwunderung  fragen :  Herr, 
wann  sahen  wir  dich  hungrig  oder  durstig,  daß  wir  dich  gesättigt 
hätten,  oder  nackt,  oder  als  einen  Fremden,  oder  krank,  oder  im 
Gefängnisse,  daß  wir  dich  bekleidet,  aufgenommen  oder  besucht 
hätten  ?  Der  König  aber  antwortet  ihnen :  Was  ihr  einem  der  ge- 
ringsten meiner  oder  eurer  Brüder  tatet,  das  belohne  ich,  als  mir 
erwiesen.  Zu  den  andern  aber  wird  er  sprechen:  Entfernet  euch 
und  empfanget  den  Lohn  eurer  Taten ;  wenn  ich  hungerte  oder 
dürstete,  speistet,  tränktet  ihr  mich  nicht;  wenn  ich  nackt,  oder 
krank  oder  im  Gefängnis  war,  nähmet  ihr  euch  meiner  nicht  an. 
Diese  werden  ihn  auch  fragen:  Wo  sahen  wir  dich  hungrig,  oder 
durstig,  oder  nackt,  oder  krank,  oder  im  Gefängnis,  daß  wir  dir 
einen  Dienst  hätten  erweisen  können?  Der  König  wird  ihnen  die 
gleiche  Antwort  geben:  Was  ihr  dem  Geringsten  nicht  getan 
habt,  das  vergelte  ich,  als  hättet  ihr  es  mir  nicht  getan.  So  spricht 
auch  der  Richter  der  Welt  das  Urteil  der  Verwerfung  denen,  die 
die  Gottheit  nur  mit  den  Lippen  und  andächtigen  Mienen,  nicht 
in  ihrem  Bilde,  der  Menschheit,  ehren.» 

Des  Tages  über  pflegte  Jesus  sich  in  den  Gebäuden  und  Höfen 
des  Tempels,  und  des  Nachts  außerhalb  der  Stadt  bei  dem  Oliven- 
berge aufzuhalten.  Der  hohe  Rat  wagte  es  nicht,  seinen  Schluß, 
Jesum  gefangen  zu  nehmen,  öffentlich  auszuführen.  Nichts  kam 
ihnen  daher  erwünschter,  als  das  Anerbieten  des  Judas,  eines  der 
zwölf  vertrautern  Freunde  Jesu,  ihnen  für  eine  Summe  Gelds 
den  Nachtaufenthalt  Jesu  zu  verraten  und  ihnen  behilflich  zu  sein, 
ihn  da  heimlich  gefangen  zu  nehmen.  Habsucht  scheint  die 
Hauptleidenschaft  des  Judas  gewesen  zu  sein,  die  durch  seinen 
Umgang  mit  Jesu  nicht  einer  besseren  Gesinnung  Platz  gemacht 
hatte  und  die  wohl  sein  ursprünglicher  Grund,  Jesu  Anhänger  zu 
werden,  gewesen  sein  mochte,  indem  er  sie  befriedigen  zu  können 
hoffte,  wenn  Jesus  sein  Messiasreich  aufgerichtet  haben  würde. 
Da  Judas  einzusehen  anfing,  daß  ein  solches  Reich  der  Zweck 
Jesu  nicht  sei  und  daß  er  sich  in  seiner  Hoffnung  betrogen. habe, 
so  suchte  er  noch  aus  seiner  Freundschaft  mit  Jesu  durch  Verräterei 
an  demselben  den  größtmöglichsten  Nutzen  zu  ziehen. 

Jesus  ließ,  nach  Gewohnheit  der  Juden,  in  Jerusalem  ein  Passah- 
mahl, wobei  ein  Schaf  das  vorzüglichste  Gericht  war,  zubereiten. 


6o  G.W.  F.  HEGEL 


Es  war  der  letzte  Abend,  den  er  mit  seinen  Freunden  zubrachte, 
Er  widmete  ihn  denselben  ganz,  um  einen  tiefen  Eindruck  von 
demselben  in  ihnen  zu  hinterlassen. 

Joh.  XIII.  Bei  dem  Anfang  des  Essens  stand  Jesus  noch  ein- 
mal auf,  legte  seine  Oberkleider  ab,  schürzte  sich  auf,  nahm  ein 
Leintuch  und  wusch  seinen  Freunden  die  Füße,  eine  Verrichtung, 
die  gewöhnlich  von  Dienstboten  geschah.  Petrus  wollte  dies 
nicht  geschehen  lassen.  Jesus  sagte  ihm,  er  werde  den  Grund 
davon  gleich  erfahren.  Als  er  mit  allen  fertig  war,  so  sagte  er: 
«Ihr  sehet,  was  ich  tat.  Ich,  den  ihr  euren  Lehrer  nennet,  habe 
euch  die  Füße  gewaschen.  Ich  wollte  euch  damit  ein  Beispiel 
geben,  wie  ihr  euch  gegeneinander  betragen  sollet  (Luk.  XXII, 
25  ff.).  Fürsten  lieben  die  Herrschaft  und  lassen  sich  dafür  Wohl- 
täter des  menschlichen  Geschlechts  nennen.  Ihr  nicht  also; 
keiner  erhebe  sich  über  den  andern,  nehme  sich  etwas  heraus 
über  ihn,  sondern  als  Freunde  sei  jeder  gefällig  und  dienstfertig 
und  mache  seine  Dienste  nicht  als  eine  Wohltat  oder  als  eine 
Herablassung  gegen  andere  geltend.  Ihr  wisset  dies ;  wohl  euch, 
wenn  ihr  es  auch  tut.  Ich  spreche  dabei  nicht  von  euch  allen, 
denn  ich  kann  hier  das  anwenden,  ivie  er  irgend  heißt:  Einer  der 
mit  mir  Brot  ißt,  stößt  seinen  Fuß  gegen  mich ;  denn  einer  unter 
euch  wird  mich  verraten.»  Dieser  Gedanke  machte  Jesum  trau- 
rig und  ebenso  seine  Freunde  verlegen.  Johannes,  der  Jesu  zu- 
nächst lag,  fragte  ihn  leise,  welcher  es  doch  sei?  Jesus  sagte  ihm: 
«Dem  ich  dieses  Stück  Brot  gebe,  der  ist  es»,  und  reichte  es  dem 
Judas  dar  mit  den  Worten:  «Was  du  tun  willst,  das  tue  bald.» 
Von  den  andern  verstand  keiner,  was  dies  sagen  wollte.  Sie 
meinten,  es  betreffe  sonst  einen  Auftrag,  weil  Judas  die  Kasse  der 
Gesellschaft  verwaltete.  Judas,  vielleicht  in  der  Furcht,  von  Jesu 
öffentlich  beschämt  zu  werden,  (weil  er  sah,  daß  sein  Vorhaben 
Jesu  nicht  unbekannt  sei.)  oder  durch  längere  Gegenwart  in 
seinem  Vorsatz  wankend  gemacht  zu  werden,  verließ  eilig  die 
Gesellschaft. 

Jesus  sprach  jetzt  weiter:  «Euer  Freund,  meine  Lieben,  hat 
bald  seine  Bestimmung  vollendet.  Ihn  nimmt  der  Vater  der 
Menschen  in  die  Wohnungen  seiner  Seligkeit  auf;  nicht  lange 
mehr,  so  werde  ich  euch  entrissen  werden.    Als  Vermächtnis  an 


DAS  LEBEN  JESU  6i 


euch  hinterlasse  ich  euch  das  Gebot,  euch  untereinander  zu  heben, 
und  das  Beispiel  meiner  Liebe  an  euch.  Nur  durch  diese  gegen- 
seitige Liebe  sollet  ihr  euch  als  meine  Freunde  auszeichnen.» 
Petrus  fragte  Jesum:  «Wo  gedenkst  du  denn  hinzugehen,  daß  du 
uns  verlassen  willst?»  —  «Auf  den  Weg,  den  ich  gehe,  sagte 
Jesus,  kannst  du  mich  nicht  begleiten.»  —  «Warum,  antwortete 
Petrus,  sollte  ich  dir  nicht  folgen  können?  Ich  bin  bereit,  es  mit 
Gefahr  meines  Lebens  zu  tunl»  —  «Dein  Leben  willst  du  mir  auf- 
opfern ?  sagte  Jesus.  Ich  kenne  dich  zu  gut,  daß  du  dafür  noch  nicht 
Stärke  genug  hast.  Ehe  es  wieder  Morgen  wird,  kannst  du  dar- 
über auf  die  Probe  gesetzt  werden.  Werdet  nicht  bestürzt  darüber, 
daß  ich  von  euch  getrennt  werde.  Ehret  den  Geist,  der  in  euch 
wohnt,  höret  auf  seine  unverfälschte  Stimme;  durch  ihn  lernet 
ihr  den  Willen  der  Gottheit  kennen,  durch  ihn  seid  ihr  mit  ihr 
verwandt,  ihres  Geschlechts,  nur  in  ihm  ist  euch  der  Weg  zu  ihr 
und  zur  Wahrheit  aufgeschlossen.  So  sind  zwar  unsere  Personen 
verschieden  und  getrennt,  aber  unser  Wesen  ist  eins  und  wir 
sind  einander  nicht  fern.  Bisher  war  ich  euer  Lehrer,  und  meine 
Gegenwart  leitete  eure  Handlungen.  Da  ich  euch  verlasse,  so 
lasse  ich  euch  nicht  als  Waisen  zurück.  Ich  hinterlasse  euch 
einen  Führer  in  euch  selbst.  Den  Samen  des  Guten,  den  die 
Vernunft  in  euch  legte,  habe  ich  in  euch  aufgedeckt,  und  das 
Andenken  an  meine  Lehren  und  an  meine  Liebe  zu  euch  wird 
diesen  Geist  der  Wahrheit  und  der  Tugend  in  euch  aufrecht  er- 
halten, dem  die  Menschen  nur  deswegen  nicht  huldigen,  weil 
sie  ihn  nicht  kennen  und  nicht  in  sich  selbst  suchen.  Ihr  seid 
Männer  geworden,  die  ohne  fremdes  Gängelband  sich  endlich 
selbst  anzuvertrauen  sind.  Wenn  auch  ich  nicht  mehr  bei  euch 
bin,  so  sei  von  nun  an  eure  entwickelte  Sittlichkeit  euer  Weg- 
weiser. Ehret  mein  Andenken,  meine  Liebe  zu  euch  dadurch, 
daß  ihr  den  Weg  der  Rechtschaffenheit  verfolget,  auf  den  ich 
euch  geleitet  habe.  Der  heilige  Geist  der  Tugend  wird  euch  noch 
vollständiger  das  lehren,  für  was  ihr  jetzt  noch  nicht  empfänghch 
wäret  und  euch  vieles  ins  Gedächtnis  zurückrufen  und  ihm  Be- 
deutung geben,  was  ihr  noch  nicht  verstandet.  Ich  hinterlasse 
euch  meinen  Segen,  nicht  den  Gruß,  der  bedeutungslos  gegeben 
wird,  sondern  der  reich  an  Früchten  des  Guten  sei.    Daß  ich 


62  G.W.  F.  HEGEL 


euch  verlasse,  ist  selbst  für  euch  besser,  denn  nur  durch  eigene 
Erfahrung  und  Übung  werdet  ihr  Selbständigkeit  bekommen  und 
lernen,  euch  selbst  zu  führen.  Daß  ich  von  euch  gehe,  soll  euch 
nicht  mit  Betrübnis,  sondern  mit  Freude  erfüllen,  denn  ich  trete 
eine  höhere  Laufbahn  in  besseren  Welten  an,  wo  der  Geist 
schrankenloser  sich  zum  Urquell  alles  Guten  emporschwingt  und 
in  seine  Heimat,  in  das  Reich  der  Unendlichkeit  eintritt!» 

«Mit  Verlangen  habe  ich  dem  Genüsse  dieses  Mahles  in  eurer 
Gesellschaft  entgegengesehen.  Lasset  die  Speisen  und  den  Becher 
herumgehen.  Lasset  uns  hier  den  Bund  der  Freundschaft  er- 
neuern.» Und  dann  teilte  er  nach  der  Sitte  der  Morgenländer 
(wie  noch  heutigentags  bei  den  Arabern  durchs  Essen  vom 
gleichen  Brot  und  Trinken  aus  demselben  Kelche  unverbrüchliche 
Freundschaft  gestiftet  wird,)  einem  jeden  Brot  aus  und  nach  dem 
Essen  ließ  er  ebenso  den  Kelch  umhergehen  und  sagte  dabei: 
«Wenn  ihr  wieder  so  in  freundschaftlichem  Kreise  zusammen- 
speiset, so  erinnert  euch  auch  eures  alten  Freundes  und  Lehrers, 
und  wie  euch  das  Passah  ein  Bild  des  Passahs  war,  das  eure  Väter 
in  Ägypten  aßen  und  das  Blut  eine  Erinnerung  des  Opferblutes 
bei  dem  Opfer,  wodurch  Moses  einen  Bund  zwischen  Jehova  und 
seinem  Volke  stiftete  (IL  Mos.  XXIV,  8),  so  gedenket  in  Zu- 
kunft bei  dem  Brote  an  seinen  Leib,  den  er  aufopferte,  und  bei 
dem  Becher  Weines  an  sein  vergossenes  Blut.  Behaltet  mich  in 
eurem  Angedenken,  der  sein  Leben  für  euch  gab,  und  mein  An- 
denken, mein  Beispiel,  sei  euch  ein  kräftiges  Stärkungsmittel  zur 
Tugend.  Ich  sehe  euch  um  mich  wie  die  Schosse  eines  Wein- 
stocks, die  von  ihm  genährt  Früchte  tragen  und  jetzt  bald,  von 
ihm  abgenommen,  durch  eigne  Lebenskraft  das  Gute  zur  Reife 
bringen.  Liebet  einander,  liebet  alle  Menschen,  wie  ich  euch 
liebte;  daß  ich  mein  Leben  zum  Wohl  meiner  Freunde  hingebe, 
ist  der  Beweis  meiner  Liebe.  Ich  nenne  euch  nicht  mehr  Schüler 
oder  Zöglinge;  diese  folgen  dem  Willen  ihrer  Erzieher,  oft  ohne 
den  Grund  zu  wissen,  warum  sie  so  handeln  müssen.  Ihr  seid 
zur  Selbständigkeit  des  Mannes,  zur  Freiheit  eignen  Willens  er- 
wachsen, aus  eigner  Tugendkraft  werdet  ihr  Früchte  tragen,  wenn 
schon  der  Geist  der  Liebe,  die  Kraft,  die  euch  und  mich  begeistert, 
dieselbe  ist.» 


DAS  LEBEN  JESU  63 


«Wenn  man  euch  verfolgt  und  mißhandelt,  so  erinnert  euch 
an  mein  Beispiel,  daß  es  mir  und  Tausenden  nicht  besser  gegangen 
ist.  Würdet  ihr  euch  auf  die  Seite  der  herrschenden  Laster  und 
Vorurteile  schlagen,  so  würdet  ihr  Freunde  genug  finden,  so  aber 
wird  man  euch  hassen,  weil  ihr  Freunde  des  Guten  seid.  Das 
Leben  eines  Rechtschaifenen  ist  ein  beständiger  Vorwurf  für  den 
Bösen,  der  dies  fühlt  und  dadurch  erbittert  wird;  und  wenn  ihm 
kein  Vorwand  übrig  bleibt,  den  guten,  vorurteilsfreien  Mann  zu 
verfolgen,  so  wird  er  die  Sache  der  Vorurteile,  der  Unterdrückung 
und  des  Lasters  zur  Sache  Gottes  machen  und  sich  und  die  Men- 
schen überreden,  er  tue  mit  dem  Haß  des  Guten  der  Gottheit 
einen  Dienst.  Aber  der  Geist  der  Tugend  wird,  wie  ein  Strahl 
aus  bessern  Welten,  euch  beseelen  und  euch  über  die  kleinlichen 
und  lasterhaften  Zwecke  der  Menschen  erheben.  Ich  spreche 
euch  im  voraus  hiervon,  damit  es  euch  nicht  unerwartet  kommt. 
Wie  die  Angst  der  Gebärerin  in  Freude  verwandelt  wird,  wenn 
sie  einen  Menschen  in  die  Welt  geboren  hat,  so  wird  der  Kummer, 
der  eurer  wartet,  einst  in  Seligkeit  übergehen.» 

Dann  erhob  Jesus  seine  Augen  gegen  Himmel:  «Mein  Vater, 
sagte  er,  meine  Stunde  ist  gekommen,  die  Stunde,  den  Geist, 
dessen  Ursprung  Deine  Unendlichkeit  ist,  in  seiner  Würde  zu 
zeigen,  und  heimzukehren  zu  Dir!  Seine  Bestimmung  ist  die 
Ewigkeit  und  Erhebung  über  alles,  was  Anfang  und  Ende  hat, 
über  alles,  was  endlich  ist;  meine  Bestimmung  auf  Erden,  Dich, 
Vater,  und  die  Verwandtschaft  meines  Geistes  mit  Dir  zu  erkennen 
und  durch  Treue  gegen  dieselbe  mich  zu  ehren  und  die  Menschen 
durch  das  erwachte  Bewußtsein  dieser  Würde  zu  veredeln.  Diese 
Bestimmung  auf  Erden  habe  ich  vollendet.  Die  Liebe  zu  Dir  hat 
mir  Freunde  zugeführt,  welche  es  einsehen  gelernt  haben,  daß 
ich  nicht  etwas  Fremdes  oder  Willkürliches  den  Menschen  auf- 
dringen wollte,  sondern  daß  es  Dein  Gesetz  ist,  was  ich  sie  lehrte, 
das  still  und  verbannt  von  den  Menschen  in  aller  Busen  wohnt. 
Nicht  durch  etwas  Eigentümliches  oder  Auszeichnendes  mir  Ehre 
zu  erwerben,  sondern  die  verlorene  Achtung  gegen  die  wegge- 
worfene Menschheit  wiederherzustellen,  war  meine  Absicht,  und 
der  allgemeine  Charakter  vernünftiger  Wesen,  die  Anlage  zur 
Tugend,    die    allen    zuteil  geworden    ist,    mein    Stolz.      Voll- 


64  G.W.  F.  HEGEL 


kommenster,  bewahre  sie,  daß  nur  Liebe  zum  Guten  das  höchste 
Gesetz  in  ihnen  sei,  das  sie  beherrsche!  So  sind  sie  eins,  so  blei- 
ben sie  vereinigt  mit  Dir  und  mit  mir.  Ich  gehe  zu  Dir,  und  richte 
dies  Gebet  an  Dich,  daß  die  freudige  Stimmung,  die  mich  belebt, 
auch  sie  durchströme.  Ich  habe  sie  mit  Deiner  Offenbarung  be- 
kannt gemacht,  und  weil  sie  sie  ergriffen  haben,  so  haßt  sie  die 
Welt,  wie  mich,  der  ich  ihr  gehorche.  Ich  bitte  Dich  nicht,  daß 
du  sie  von  der  Welt  nehmest  —  eine  Bitte  dieser  Art  kann  nicht 
vor  Deinen  Thron  gebracht  werden  —  aber  heilige  sie  durch 
Deine  Wahrheit;  nur  aus  Deinem  Gesetze  strahlt  sie.  Deinen 
hohen  Ruf,  die  Menschen  zur  Tugend  zu  bilden,  dem  ich  folgte, 
habe  ich  in  ihre  Hände  niedergelegt.  Mögen  sie  auch  in  ihrem 
Teil  ihn  vollenden  und  Freunde  erziehen,  die  vor  keinem  Götzen 
mehr  die  Knie  beugen,  keine  Worte,  keinen  Glauben  zum  Bande 
ihrer  Vereinigung  machen,  als  die  Tugend  und  Annäherung  zu 
Dir,  dem  Heiligsten.» 

Luk.  XXII.  39 ;  cit.  loc.  Parallelstellen.  Nach  diesen  Gesprächen 
stand  die  Gesellschaft  auf,  verließ  Jerusalem  —  die  Nacht  war  an- 
gebrochen —  wie  gewöhnlich,  ging  über  den  Bach  Kedron,  nach 
einem  Meierhofe,  namens  Gethsemane,  in  der  Gegend  des  Ol- 
bergs.  Dieser  Ort  des  nächtlichen  Aufenthalts  Jesu  war  auch  dem 
Judas  bekannt,  weil  er  oft  mit  Jesu  dort  gewesen  war.  Er  hieß 
seine  Jünger  beisammen  bleiben  und  er  selbst  ging  mit  dreien  an 
einen  abgelegenen  Ort,  um  sich  seinen  Gedanken  zu  überlassen. 
Hier  trat  die  Natur  auf  einige  Zeit  in  ihre  Rechte  ein.  Der  Ge- 
danke der  Verräterei  seines  Freundes,  der  Ungerechtigkeit  seiner 
Feinde  und  der  Härte  seines  bevorstehenden  Schicksals  bemäch- 
tigte sich  des  Jesus  hier  in  der  Einsamkeit  der  Nacht,  erschütterte 
ihn  und  erfüllte  ihn  mit  Angst.  Er  bat  seine  Jünger,  bei  ihm  zu 
bleiben  und  mit  ihm  zu  wachen,  ging  unruhig  hin  und  her,  sprach 
bald  einiges  mit  ihnen,  ermunterte  sie  wieder,  wenn  sie  in  Schlaf 
gefallen  waren,  ging  von  Zeit  zu  Zeit  auf  die  Seite  und  betete 
einigemal:  «Mein  Vater,  laß,  wenn  es  möglich  ist,  den  bitteren 
Kelch  des  Leidens,  der  mir  bevorsteht,  bei  mir  vorübergehen! 
Doch  nicht  mein  Wille,  sondern  Dein  Wille  geschehe!  Wenn 
es  nicht  sein  soll,  daß  ich  dieser  Stunde  überhoben  sei,  so  ergebe 
ich  mich  in  Deinen  Willen.»    Der  Schweiß  lief  ihm  in  großen 


DAS  LEBEN  JESU  65 


Tropfen  herunter.  Als  er  wieder  einmal  bei  seinen  Jüngern  stand, 
und  ihnen  zuredete,  zu  wachen,  so  vernahmen  sie  das  Kommen 
von  Menschen:  «Wachet  auf,  lasset  uns  gehen,  rief  er  zu  seinen 
Jüngern,  mein  Verräter  naht!» 

Judas  näherte  sich  jetzt  mit  Bewaffneten  und  Fackeln.  Jesus 
hatte  seine  Standhaftigkeit  gesammelt,  ging  ihnen  entgegen:  «Wen 
suchet  ihr.f*»  fragteer.  Sie  sagten:  «Jesum  den  Nazarener.»  — 
«Ich  bin's»,  antwortete  Jesus.  Sie  waren  verlegen,  ob  sie  am 
Rechten  seien.  Er  fragte  sie  noch  einmal  und  erwiderte  das 
Gleiche  mit  dem  Zusatz:  «Wenn  ihr  mich  suchet,  so  lasset  diese 
meine  Freunde  verschont.»  Jetzt  nahte  sich  Judas  und  gab  seinen 
Begleitern  das  Zeichen,  das  er  mit  ihnen  verabredet  hatte,  um 
ihnen  Jesum  kenntlich  zu  machen.  Er  sagte  nämlich:  «Sei  ge- 
grüßt, Lehrer»,  und  umarmte  ihn  dabei.  Jesus  erwiderte:  «Wie, 
Freund,  mit  einem  Kusse  verrätst  du  mich?»,  ward  dann  von  den 
Soldaten  ergriffen.  Als  Petrus  dies  sah,  zog  er  sein  Schwert, 
schlug  darein  und  hieb  einem  Knechte  des  Hohenpriesters  das 
Ohr  ab.  Jesus  verwies  ihn  zur  Ruhe:  «Laß  das,  und  ehre  das 
Schicksal,  das  die  Gottheit  mir  bestimmt.»  Die  übrigen  Freunde 
Jesu  flohen  und  zerstreuten  sich,  als  sie  sahen,  daß  die  Schar  sich 
Jesu  bemächtigt,  ihn  gebunden  hatte  und  jetzt  wegführte,  außer 
ein  Jüngling,  vom  Schlafe  aufgeschreckt,  der  in  der  Eile  nichts 
als  einen  Mantel  um  sich  geworfen  hatte ;  er  wollte  Jesu  folgen, 
wurde  aber  von  den  Soldaten  ergriffen  und  rettete  sich  dadurch, 
daß  er  ihnen  entschlüpfte  und  den  Mantel  in  den  Händen  ließ. 
Im  Gehen  sagte  Jesus  zu  seinen  Führern:  «Ihr  kommet  zu  mir 
gewaffnet,  mich  wie  einen  Räuber  zu  packen  und  doch  saß  ich 
alle  Tage  unter  euch  öffentlich  im  Tempel,  und  ihr  ergriffet  mich 
nicht.  Aber  die  Mitternacht  ist  eure  Stunde  und  die  Finsternis 
euer  Element.»  Jesus  wurde  zuerst  zu  Hannas,  dem  alten  Hohen- 
priester und  Schwiegervater  des  Kaiphas,  und  dann  zu  dem 
letzteren,  der  dieses  Jahr  Hohepriester  war,  geführt,  wo  der  ganze 
hohe  Rat  von  Jerusalem  versammelt  den  Gefangenen  erwartete 
und  wo  Kaiphas  diese  Maxime  eingeschärft  hatte,  einen  zum 
Besten  des  ganzen  Volkes  aufzuopfern  sei  Pflicht.  Petrus  war  nur 
von  fern  den  Häschern  gefolgt  und  hätte  es  nicht  gewagt,  in  den 
Palast  selbst  einzutreten,  wenn  nicht  Johannes,  der  mit  dem  Hohen- 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  S 


66  G.W.  F.  HEGEL 


priester  wohl  bekannt  war  und  freien  Zutritt  in  seinem  Hause 
hatte,  der  Türhüterin  gesagt  hätte,  den  Petrus  auch  einzulassen. 
Diese  machte  die  Bemerkung  gegen  den  letzteren:  «Bist  du  nicht 
einer  von  den  Anhängern  dieses  Mannes?»  Petrus  leugnete  dies 
geradezu  und  stellte  sich  an  das  Kohlenfeuer  unter  die  Gerichts- 
diener  und  Knechte,  um  sich  da,  wie  sie,  zu  wärmen. 

Der  Hohepriester,  vor  dem  jetzt  Jesus  stand,  tat  verschiedene 
Fragen  an  ihn,  die  seine  Lehre  und  seine  Schüler  betrafen.  Jesus 
antwortete  hierauf:  «Ich  habe  frei  und  öffentlich  vor  jedermann 
geredet,  ich  habe  im  Tempel  und  in  den  Synagogen  gelehrt,  wo 
die  Juden  alle  hinzugehen  pflegen;  ich  habe  keine  geheimen 
Lehren;  warum  fragst  du  also  mich?  Frage  die,  die  mich  gehört 
haben,  um  was  ich  lehrte;  es  werden  alle  es  dir  sagen  können.» 
Einem  der  Häscher  schien  diese  Antwort  Jesu  gegen  den  Hohen- 
priester unbescheiden:  «So  antwortest  du  dem  Hohenpriester?» 
sagte  er,  und  gab  ihm  einen  Schlag.  Jesus  sagte  mit  ruhiger 
Fassung  zu  ihm:  «Habe  ich  nicht  recht  geantwortet,  so  sage  mir 
den  Fehler;  habe  ich  aber  gut  geantwortet,  warum  schlägst  du 
mich?»*  Viele  Zeugen  waren  aufgeboten  worden,  um  Aussagen 
gegen  Jesum  vorzubringen,  aber  die  Priester  konnten  keinen  Ge- 
brauch davon  machen,  teils  weil  sie  nicht  entscheidend  genug 
waren,  teils  nicht  übereinstimmten.  Endlich  traten  einige  auf,  die 
aussagten,  sie  haben  ihn  unehrerbietig  vom  Tempel  sprechen  ge- 
hört; aber  auch  diese  stimmten  in  den  näheren  Ausdrücken  nicht 
miteinander. 

Jesus  schwieg  zu  allen  still.  Endlich  trat  der  Oberpriester  un- 
geduldig hervor.  «Antwortest  du  zu  allen  diesen  Anklagen  nichts, 
so  beschwöre  ich  dich  bei  dem  lebendigen  Gotte,  uns  zu  sagen, 
ob  du  ein  Geweihter,  ein  Sohn  der  Gottheit  bist.»  —  «Ja,  ich  bin 
es»,  antwortete  Jesus,  und  diesen  verachteten  Menschen,  der  der 
Gottheit  und  der  Tugend  geheiligt  war,  werdet  ihr  einst  mit 
Herrlichkeit  bekleidet  und  über  die  Sterne  erhaben  erblicken.* 
Der  Hohepriester  zerriß  sein  Kleid  und  rief:    «Er  hat  Gott  ge- 

*  Nach  Joh.  XVIII,  24  schiene  dies  in  dem  Palast  des  Hannas  vorgefallen 
zu  sein;  war  aber  bei  Kaiphas  der  Rat  versammelt  und  geschah  dort  das  eigent- 
liche Verhör,  so  stimmte  derOrt,  wo  Petrus  Jesum  verleugnete,  nicht  zusammen; 
bei  Kaiphas,  allein  es  heißt  überall  c/f-y.if  il:,  im  Plural. 


DAS  LEBEN  JESU  67 


lästert  I  Was  brauchen  wir  andere  Zeugnisse?  Ihr  habt  sein  eigenes 
gehört.  Was  ist  eure  Meinung?»  —  «Er  hat  des  Todes  sich 
schuldig  gemacht»,  war  ihr  Urteil.  Dieser  Ausspruch  war  für  die 
Häscher  ein  Signal  zu  Mißhandlungen  und  Verhöhnungen  Jesu,  der 
jetzt  in  ihren  Händen  blieb,  da  der  hohe  Rat  jetzt  auf  einige 
Stunden  auseinander  ging,  um  früh  morgens  sich  wieder  zu  ver- 
sammeln. 

Petrus  hatte  indessen  immer  bei  dem  Feuer  gestanden  (Mark. 
XIV,  66)  und  noch  eine  andere  Weibsperson,  die  auch  im  Dienst 
des  Hohenpriesters  stand,  erkannte  den  Petrus  und  sagte  zu  den 
Umstehenden:  «Gewiß,  dieser  ist  auch  einer  der  Begleiter  des 
Gefangenen.»  Petrus  antwortete  wieder  mit  einem  unbedingten: 
Nein!  Aber  ein  Knecht  des  Hohenpriesters,  ein  Anverwandter 
dessen,  den  Petrus  einige  Stunden  später  verwundet  hatte,  sagte: 
«Habe  ich  dich  nicht  bei  Jesu  im  Meierhofe  gesehen?»  Auch  die 
Übrigen  stimmten  ein,  auch  seine  Mundart  verrate  ihn,  daß  er 
aus  Galiläa  sei.  Bei  so  vielen  Umständen,  die  gegen  ihn  zeugten, 
vergaß  sich  Petrus  in  der  Verlegenheit  und  Angst  so  weit,  daß  er 
hoch  beteuerte  und  beschwor,  daß  er  nicht  begreife,  was  sie  wollen, 
daß  er  den  Menschen,  für  dessen  Freund  sie  ihn  ansehen,  ganz 
und  gar  nicht  kenne.  Indessen  fingen  die  Hähne  an,  den  werden- 
den Morgen  anzukündigen,  und  gerade  unter  diesen  Beteuerungen 
wurde  Jesus  an  ihm  vorbeigeführt,  der  sich  gegen  ihn  zuwandte 
und  einen  Blick  auf  ihn  warf.  Petrus  fühlte  diesen  tief,  fühlte 
jetzt  das  Verächtliche  seines  Betragens,  fühlte  es,  wie  sehr  Jesus 
in  der  Abendunterredung  berechtigt  gewesen  war,  zu  zweifeln, 
ob  die  Standhaftigkeit,  deren  sich  Petrus  so  sehr  gerühmt  hatte, 
die  Probe  aushalten  würde,  entfernte  sich  eilig  und  vergoß  bittere 
Tränen  der  Selbstbeschämung  und  Reue. 

Als  jetzt  Judas  der  Verräter  sah,  daß  es  mit  Jesu  so  weit  ging, 
daß  er  zum  Tode  verurteilt  worden  war,  so  reute  ihn  seine  Tat, 
Er  brachte  sein  Geld  (dreißig  Silberlinge)  den  Priestern  wieder 
zurück  und  sagte:  «Ich  habe  unrecht  getan,  euch  einen  Un- 
schuldigen in  die  Hände  zu  liefern.»  Man  antwortete  ihm  aber, 
dies  sei  seine  Sache,  sie  gehe  seine  Tat  nichts  an.  Judas  warf  das 
Geld  in  die  Tempelbüchse  und  erhängte  sich.  Die  Priester  hatten 
nun  Gewissensskrupel  darüber,  dies  Geld,  weil  es  Blutgeld  sei,  zu 

5» 


68  G.W.  F.  HEGEL 


dem  Gelde  des  Tempels  zu  fügen  und  kauften  einen  Acker  dafür, 
den  sie  zum  Begräbnisplatz  für  Fremde  bestimmten. 

Die  wenigen  übrigen  Stunden  der  Nacht  verflossen  und  der 
hohe  Rat  hatte  sich  wieder  versammelt,  und  da  dieser  ihn  für  des 
Todes  schuldig  erkannte,  aber  das  Recht  nicht  mehr  hatte,  ein 
solches  Urteil  zu  fällen  und  zu  vollziehen,  so  verfügte  sich  die 
Versammlung  gleich  des  Morgens  mit  Jesu  zu  Pilatus,  dem  römi- 
schen Statthalter  dieser  Provinz,  um  demselben  Jesum  zu  über- 
geben und  dadurch  es  unmöglich  zu  machen,  daß  ein  Aufruhr 
zu  Gunsten  Jesu  unter  dem  Volke  entstünde,  wenn  er  noch  in 
ihren  Händen  wäre.  Sie  gingen  nicht  in  den  Palast  selbst  hinein, 
weil  dies  noch  ein  Tag  des  Festes  war,  um  sich  nicht  zu  verun- 
reinigen. Pilatus  kam  heraus  in  den  Vorhof  und  fragte  sie: 
«Welcher  Verbrechen  klaget  ihr  diesen  Menschen  an,  daß  ihr  seine 
Verurteilung  verlangt?»  —  «Wäre  er  nicht  ein  Verbrecher,  so 
hätten  wir  dir  ihn  nicht  überliefert»,  antworteten  die  Priester. 
Pilatus  en^'iderte:  «Nun,  so  machet  ihm  den  Prozeß  und  richtet 
ihn  nach  euren  Gesetzen.»  —  «Wir  dürfen  ja  kein  Todesurteil 
fällen»,  versetzten  sie.  Als  Pilatus  also  hörte,  daß  das  Verbrechen 
des  Todes  würdig  sein  sollte,  so  konnte  er  es  nicht  mehr  ablehnen, 
der  Richter  über  Jesum  zu  sein  und  ließ  sich  jetzt  die  Anklagen 
des  Rats  gegen  ihn  vortragen.  —  Mit  dem,  was  nach  jüdischen 
Begriffen  eine  Lästerung  der  Gottheit  war,  daß  Jesus  für  einen 
Sohn  derselben  sich  bekannt  hatte  und  was  der  Rat  für  das  todes- 
würdige Verbrechen  hielt,  mit  dieser  Anklage  wußte  der  jüdische 
Rat  wohl,  konnte  er  von  Pilatus  kein  Verdammungsurteil  zum 
Tode  erhalten.  Sie  klagten  Jesum  also  an,  daß  er  das  Volk  ver- 
führe, es  zur  Gleichgültigkeit  gegen  die  Staatsverfassung  verleite, 
woraus  zuletzt  die  Weigerung  entstehen  werde,  dem  Kaiser  den 
Tribut  zu  bezahlen,  und  daß  er  sich  für  einen  König  ausgebe. 
Als  Pilatus  diese  Anklagepunkte  angehört  hatte,  verfügte  er  sich 
in  seinen  Palast  zurück,  ließ  Jesum  vor  sich  rufen  und  fragte  ihn: 
«Gibst  du  dich  wirklich  für  den  König  der  Juden  aus?»  Jesus 
fragte  ihn  dagegen:  «Bist  du  für  dich  selbst  veranlaßt  geworden, 
den  Verdacht  zu  haben,  daß  ich  mich  dafür  ausgebe,  oder  fragst 
du  mich  nur,  weil  andere  dessen  mich  beschuldigten?»  Pilatus 
antwortete:  «Bin  ich  denn  ein  Jude,  daß  ich  für  mich  selbst  einen 


DAS  LEBEN  JESU  69 


König  eurer  Nation  erwartete?  Dein  Volk  und  die  Hohenpriester 
haben  dich  bei  mir  dessen  angeklagt.  Was  hast  du  getan,  das  sie 
dazu  veranlaßte?»  Jesus  antwortete:  «Sie  beschuldigen  mich,  ich 
maße  mir  ein  Reich  an.  Aber  dieses  Reich  ist  nicht  das,  was  man 
sonst  für  einen  Begriff  mit  einem  Reiche  verbindet.  Wäre  es  dies, 
so  würde  ich  Untergebene  und  Anhänger  haben,  die  für  mich 
gekämpft  hätten,  daß  ich  nicht  in  die  Hände  der  Juden  gefallen 
wäre.»  —  «So  gibst  du  dich  doch,  erwiderte  Pilatus,  für  einen 
König  aus,  da  du  von  einem  Reiche  sprichst?»  —  «Wenn  du  es 
so  nennen  willst,  ja,  antwortete  Jesus ;  ich  glaube  mich  dafür  ge- 
boren, dies  für  meine  Bestimmung  in  der  Welt,  Wahrheit  zu 
lehren  und  ihr  Anhänger  zu  werben.  Und  wer  sie  liebte,  der 
hörte  auf  meine  Stimme.»  —  «Was  ist  Wahrheit?»  erwiderte 
Pilatus  mit  der  Miene  des  Hofmanns,  die  kurzsichtig,  doch 
lächelnd,  des  Ernstes  Sache  verdammt,  und  hielt  wohl  Jesum  für 
einen  Schwärmer,  der  sich  für  ein  Wort,  für  eine  Abstraktion 
aufopferte,  die  in  der  Seele  des  Pilatus  bedeutungslos  war,  und 
betrachtete  das  Ganze  als  eine  Sache,  die  bloß  auf  die  Religion  der 
Juden  Bezug  habe  und  die  weder  ein  Verbrechen  gegen  bürgerliche 
Gesetze  betreffe,  noch  dabei  für  die  Sicherheit  des  Staates  Gefahr 
sei.  Er  verließ  Jesum  und  ging  hinaus  zu  den  Juden  und  sagte 
ihnen,  er  finde  keine  Schuld  an  dem  Menschen.  Diese  wieder- 
holten ihre  Anklagen,  daß  er  durch  seine  Lehre  im  ganzen  Lande, 
von  Galiläa  an  bis  nach  Jerusalem,  Unruhe  stifte.  Pilatus,  auf- 
merksam dadurch  gemacht,  daß  sie  Galiläa  als  die  Gegend  nannten, 
von  wo  er  zu  lehren  angefangen  habe,  erkundigte  sich,  ob  der 
Mann  ein  Galiläer  sei.  Da  er  dies  hörte,  so  schien  er  froh  zu  sein, 
diesen  verdrießlichen  Handel  sich  von  dem  Halse  zu  schaffen, 
weil  Jesus,  als  Galiläer,  unter  Herodes,  dem  Fürsten  dieser  Gegend 
stand,  und  schickte  ihn  daher  diesem  zu,  der  sich  des  Festes  wegen 
gerade  in  Jerusalem  befand. 

Dem  Herodes  machte  es  Freude,  Jesum  zu  sehen.  Er  wünschte 
dies  schon  längst,  weil  er  so  viel  von  Jesu  reden  gehört  hatte  und 
etwas  Außerordentliches  von  ihm  zu  sehen  hoffte.  Er  tat  viele 
Fragen  an  ihn ;  auch  die  Hohenpriester  und  ihre  Begleiter  wieder- 
holten hier  ihre  Anklagen.  Jesus  antwortete  nichts  zu  allem; 
ebenso  gelassen  blieb  er,  als  Herodes  und  seine  Höflinge  in  Spott 


70  G.W.  F.  HEGEL 


sich  gegen  ihn  ergossen  und  ihm  zuletzt  ein  Kleid,  das  ein  Zeichen 
der  fürstlichen  Würde  war,  anlegten.  Da  Herodes  nichts  mit 
ihm  zu  machen  wußte  und  ihm  Jesus  nur  ein  Gegenstand  des 
Spottes,  nicht  einer  Strafe  zu  sein  schien,  so  schickte  er  ihn  zu 
Pilatus  wieder  zurück.  Übrigens  hatte  diese  Aufmerksamkeit  des 
Pilatus,  die  Gerichtsbarkeit  des  Herodes  über  Jesumals  einen  Gali- 
läer  zu  respektieren,  die  Wirkung,  die  Freundschaft  zwischen  beiden, 
die  vorher  unterbrochen  worden  war,  wieder  herzustellen.  Pilatus 
war  in  der  vorigen  Verlegenheit,  berief  die  Hohenpriester  und 
Ratsglieder  zusammen  und  erklärte  ihnen,  sie  haben  diesen 
Menschen  als  einen  Unruhstifter  bei  ihm  angeklagt,  er  finde  aber 
nichts,  aus  dem  sich  eine  Schuld  ergebe,  die  den  Tod  verdiene, 
ebensowenig  als  auch  Herodes;  weiter  als  ihn  geißeln  zu  lassen 
könne  er  nichts  tun  und  dann  werde  er  ihm  die  Freiheit  wieder- 
geben. Die  Juden  waren  mit  dieser  Strafe  nicht  befriedigt,  sondern 
drangen  auf  die  Todesstrafe.  Pilatus,  der  die  Ruhe  Jesu  bei  allen 
diesen  Verhandlungen  bewunderte  und  äußerst  ungern  daran  kam, 
ein  Werkzeug  zu  sein,  dem  jüdischen  Religionshaß  Jesum  aufzu- 
opfern, schlug  einen  neuen  Ausweg  vor.  Da  auch  seine  Frau  zu 
ihm  schickte  und  sich  für  Jesum  interessierte,  so  brachte  Pilatus 
einen  andern  Ausweg  auf  die  Bahn.  Es  war  nämlich  eine  Gewohn- 
heit, daß  der  römische  Statthalter  am  Osterfeste  einem  jüdischen 
Gefangenen  Freiheit  und  Leben  schenkte.  Außer  Jesu  war  noch 
ein  anderer  Jude  damals  im  Gefängnis,  namens  Barrabas,  den  die 
Juden  wegen  verübter  Räubereien  und  Totschläge  angeklagt  hatten. 
Pilatus,  in  der  Hoffnung,  die  Juden  werden  dies  Herkommen  aus- 
zuüben nicht  unterlassen  wollen  und  eher  die  Freiheit  Jesu  als 
des  Mörders  verlangen,  überließ  ihnen  die  Wahl  zwischen  beiden, 
zwischen  Barrabas  und  dem  König  der  Juden,  wie  er  Jesum 
spottend  nannte.  Die  Priesterschaft  überredete  leicht  das  um- 
stehende Volk,  die  Loslassung  des  Barrabas  und  den  Tod  des  Jesus 
zu  begehren.  Als  sie  Pilatus  noch  einmal  fragte,  zu  was  sie  sich 
entschlossen  hätten,  welchen  er  ihnen  frei  geben  sollte,  so  riefen 
sie:  «Den  Barrabas I»  Unwillig  rief  Pilatus:  «Und  was  soll  ich 
denn  mit  Jesu  anfangen?»  —  «Laß  ihn  kreuzigen!»  war  ihr  Ge- 
schrei. —  «Aber  was  hat  er  denn  Böses  getan?»  frug  Pilatus  wieder. 
Sie  riefen  stärker:   «Ans  Kreuz,  ans  Kreuz  mit  ihm!»   Pilatus  ließ 


DAS  LEBEN  JESU  71 


hierauf  Jesum  geißeln.  Die  Soldaten  flochten  eine  Krone  von 
Dornen  (Bärenklau,  Heracleum),  setzten  sie  ihm  aufs  Haupt  und 
riefen:  «Sei  gegrüßt,  König  der  Juden!»  und  gaben  ihm  Stöße 
dabei. 

Pilatus  hoffte  ihre  Wut  dadurch  gesättigt  zu  sehen,  sagte  ihnen : 
«Ich  wiederhole  es  euch,  daß  ich  nichts  Schuldiges  an  ihm  finde», 
ließ  ihn  in  die  Vorhalle  herausführen  und  sagte:  «Da  sehet  ihn, 
weidet  eure  Augen  an  diesem  Schauspiel!»  Dieser  Anblick  be- 
sänftigte sie  nicht.  Sie  verlangten  lärmend  seinen  Tod.  «So  nehmet 
ihn,  rief  Pilatus  noch  ungeduldiger,  kreuziget  ihn!  Ich  finde  ihn 
nicht  schuldig.»  Die  Juden  versetzten:  «Er  ist  nach  unsern  Ge- 
setzen des  Todes  schuldig,  denn  er  hat  sich  für  einen  Sohn  der 
Gottheit  ausgegeben.»  Den  Pilatus,  der  sich  hierbei  nach  römischen 
Begriffen  einen  Göttersohn  dachte,  wandelte  noch  mehr  Bedenk- 
lichkeit an,  und  er  fragte  Jesum:  «Woher  bist  du  eigentlich?» 
Jesus  gab  aber  keine  Antwort  darauf  «Wie,  sagte  Pilatus,  auch  mir 
antwortest  du  nicht?  Weißt  du,  daß  dein  Leben  und  dein  Tod 
ganz  von  mir  abhängt?»  Jesus  erwiderte:  «Nur  soweit,  als  mein 
Leben  und  mein  Tod  in  den  Plan  der  Gottheit  paßt.  Doch  ver- 
mindert dies  die  Schuld  derer  nicht,  die  mich  überlieferten.» 
Pilatus  war  immer  mehr  für  Jesum  eingenommen  und  geneigt, 
ihn  frei  zu  lassen.  Die  Juden,  die  dies  sahen,  warfen  sich  jetzt  in 
die  Rolle  getreuer  und  für  Cäsars  Interesse  allein  besorgter  Unter- 
tanen, eine  Rolle,  die  ihnen  sauer  genug  ankommen  mußte,  die 
aber  ihren  Zweck  nicht  leicht  verfehlen  konnte.  «Läßt  du  diesen 
los,  riefen  sie,  so  bist  du  nicht  ein  Freund  Cäsars,  denn  wer  sich 
für  einen  König  ausgibt,  ist  ein  Rebell  gegen  unsern  Fürsten. 
Pilatus  setzte  sich  jetzt  feierlich  zu  Gericht,  ließ  Jesum  vorführen: 
« Sehet  hier  euern  König.  Soll  ich  euern  König  ans  Kreuz  schlagen 
lassen.»  —  «Kreuzige  ihn!  wir  erkennen  keinen  König  als  Cäsar!» 
Als  Pilatus  den  Lärm  und  das  Getümmel  immer  größer  werden 
sah  und  Unruhen,  vielleicht  einen  Aufstand  zu  befürchten  hatte, 
dem  die  Juden  einen  für  Pilatus  höchst  gefährlichen  Anstrich  des 
Eifers  für  die  Ehre  Cäsars  geben  konnten,  und  sah,  daß  die  Hart- 
näckigkeit der  Juden  unbezwinglich  war,  ließ  er  sich  ein  Gefäß 
mit  frischem  Wasser  bringen,  wusch  seine  Hände  vor  dem  Volke 
und  sagte:    «Ich  bin  unschuldig  an  dem  Blute  dieses  Gerechten! 


72  G.W.  F.  HEGEL 


Ihr  habt  es  zu  verantworten ! »  Die  Juden  riefen :  «Ja,  sein  Tod 
werde  an  uns  und  unsern  Kindern  gestraft!»  Der  Sieg  der  Juden 
war  entschieden,  Barrabas  freigegeben  und  Jesus  zum  Tode  am 
Kreuze  verurteilt,  (eine  römische,  aber  so  entehrende  Todesart, 
als  heutzutage  der  Tod  am  Galgen). 

Jesus  blieb  dem  rohen  Spott  und  den  Mißhandlungen  der 
Soldaten  ausgesetzt,  bis  er  hinaus  zum  Richtplatz  geführt  wurde. 
Der  Verurteilte  mußte  den  Pfahl  sonst  selbst  hinausschleppen. 
Doch  wurde  er  Jesu  abgenommen  und  einem  Manne  mit  Namen 
Simon,  der  eben  in  der  Nähe  stand,  zu  tragen  gegeben.  Der  Zu- 
lauf der  Menge  war  sehr  groß.  Seine  Freunde  wagten  es  nicht, 
sich  ihm  zu  nähern,  sondern  folgten  und  sahen  der  Hinrichtung 
nur  zerstreut  und  aus  der  Ferne  zu.  Ihm  näher  waren  mehrere 
Frauen,  die  ihn  gekannt  hatten  und  jetzt  weinten  und  sein  Schick- 
sal bejammerten.  Jesus  wandte  sich  im  Gehen  zu  ihnen  und 
redete  sie  an:  «Beweinet  mich  nicht,  ihr  Frauen  von  Jerusalem, 
vielmehr  euch  selbst  und  eure  Kinder.  Es  werden  Zeiten  kommen, 
wo  man  die  Kinderlosen,  die  Brüste,  die  nie  säugten,  die  Leiber, 
die  nie  gebaren,  glücklich  preisen  wird.  Ihr  sehet,  wie  es  mir  geht; 
ziehet  den  Schluß,  wohin  ein  solcher  Geist  unter  einem  Volke  es 
noch  bringen  w4rd.» 

Jesus  wurde  in  Gesellschaft  zweier  Verbrecher  gekreuzigt.  Sein 
Kreuz  kam  in  die  Mitte  zu  stehen.  Während  man  ihn  daran  be- 
festigte (durch  Annagelung  der  Hände  und  Anbindung  der  Füße*), 
rief  Jesus  aus:  «Vater,  vergib  ihnen,  sie  wissen  nicht,  was  sie  tun.» 
Seine  Kleider  verteilten  wie  gewöhnlich  die  Soldaten  unter  sich. 
Pilatus  ließ  in  hebräischer,  griechischer  und  lateinischer  Sprache 
die  Aufschrift  über  sein  Kreuz  heften:  Dies  ist  der  König  der 
Juden.  Die  Priester  verdroß  dies  und  sie  meinten,  Pilatus  hätte 
schreiben  sollen,  dass  Jesus  sich  nur  dafür  ausgegeben  habe.  Pilatus, 
der  unwillig  wegen  der  ganzen  Anklage  über  sie  war,  sah  gern, 
daß  sie  das  Demütigende,  das  für  sie  in  seiner  Überschrift  lag, 
empfanden,  und  gab  ihnen,  auf  ihr  Ansuchen,  es  zu  ändern,  zur 
Ant\vort:  «Es  bleibt  bei  dem,  was  ich  geschrieben  habe.»  Indessen 
war  Jesus  außer  dem  körperlichen  Schmerz,  dem  triumphierenden 
Spotte  des  jüdischen  vornehmen  und  gemeinen  Pöbels  wie  auch 


Nur  wahrscheinlich;  s.  Paulus'  Memorabilien  2. 


DAS  LEBEN  JESU  73 


dem  rohen  Witze  der  römischen  Soldaten  ausgesetzt.  Auch  den 
einen  Verbrecher,  der  mit  Jesu  gekreuzigt  worden  war,  machte 
die  Gleichheit  ihres  Schicksals  nicht  freundschaftlicher  gegen 
Jesum;  es  hinderte  ihn  nicht,  auch  seinen  Spott  in  den  Hohn  der 
Menge  zu  mischen.  Dem  andern  aber  war  menschHchere  Empfin- 
dung und  Gewissen  bei  seinen  Verbrechen  nicht  ganz  fremd  gewor- 
den ;  er  verwies  es  jenem,  daß  er  noch  in  solchen  Umständen  gegen 
einen,  der  in  gleichem  Leiden  mit  ihm  sich  befinde,  bitter  sein  könne 
und  setzte  hinzu:  «Unser  Los  ist  gerecht,  denn  wir  empfangen, 
was  unsere  Taten  verdienten ;  und  diesem  ist  schuldlos  ein  gleiches 
Schicksal  zuteil  geworden!  Gedenke  meiner,  sagte  er  zu  Jesu, 
wenn  du  in  deinem  Reiche  bist.»  —  «Bald  werden  uns  zu- 
sammen, erwiderte  Jesus,  die  Gefilde  der  Seligkeit  aufnehmen.» 

Unter  dem  Kreuz  stand  in  tiefer  Betrübnis  die  Mutter  Jesu,  mit 
einigen  ihrer  Freundinnen.  Johannes  allein  von  allen  Vertrauten 
Jesu  war  bei  ihnen  und  teilte  ihre  Schmerzen.  Jesus  erblickte  sie 
beisammen  und  sagte  zu  seiner  Mutter:  «Siehe,  da  ist  ein  Sohn 
statt  meiner»,  und  zu  Johannes:  «Sieh  diese  als  Mutter  an!» 
Johannes  nahm  sie  auch  dem  Wunsche  seines  sterbenden  Freundes 
gemäß  in  sein  Haus  und  in  seine  Pflege  auf. 

Nach  einigen  Stunden,  die  er  schon  am  Kreuze  hing,  rief  er 
überwältigt  vom  Schmerz  aus:  «Mein  Gott,  mein  Gott!  warum 
hast  du  mich  verlassen?»  Nachdem  er  noch  gerufen,  es  durste 
ihn  und  von  ein  wenig  Essig,  den  man  ihm  in  einem  Schwamm 
reichte,*  zu  sich  genommen  hatte,  sprach  er  noch:  «Es  ist  voll- 
endet», und  zuletzt  mit  lauter  Stimme:  «Vater,  in  deine  Hände 
befehle  ich  meinen  Geist»,  neigte  das  Haupt  und  verschied. 

Selbst  der  römische  Hauptmann,  der  bei  der  Hinrichtung 
kommandierte,  bewunderte  die  ruhige  Fassung  und  die  sich  gleich 
bleibende  Würde,  mit  welcher  Jesus  starb.  Seine  Freunde  hatten 
dem  Ende  ihres  teuern  Lehrers  von  ferne  zugesehen. 

Weil  die  Gekreuzigten  sonst  nur  langsam  abstarben  und  oft 
noch  mehrere  Tage  am  Pfahle  lebten  und  der  folgende  Tag  bei 
den  Juden  ein  Festtag  war,  so  baten  sie  Pilatus,  damit  morgen  die 

*  Ae'(cuv  •  ct^sTs  loojjicv  et  ip/ETczi  'HXci'czc  xa&sXstv  «ütöv.  Lasset  ihn  nun, 
quälet  ihn  nicht  weiter,  daß  er  etwa  zu  zeitig  stirbt;  wir  brächten  uns  ja  nur 
um  den  Spaß,  wenn  Elias  kommt  und  ihm  hilft.     Mark.  XV,  36. 


74  G.W.  F.  HEGEL 


Körper  nicht  am  Kreuze  seien,  den  Gerichteten  die  Beine  zer- 
schlagen zu  lassen  und  sie  abzunehmen.  Bei  den  Missetätern,  die 
mit  Jesu  gerichtet  worden  waren,  geschah  dies,  weil  sie  noch  lebten. 
Bei  Jesu  selbst  sahen  sie,  daß  dies  nicht  nötig  war.  Sie  stießen  ihm 
also  nur  einen  Speer  in  die  Seite,  woraus  ein  Wasser  (eine  Lymphe) 
mit  Blut  vermischt  herausfloß.  Joseph  von  Arimathia,  ein  Mitglied 
des  hohen  Rats  zu  Jerusalem,  ein  sonst  unbekannter  Freund  Jesu, 
bat  es  sich  von  Pilatus  aus,  ihm  den  Leichnam  Jesu  anzuver- 
trauen. Pilatus  erlaubte  dies.  Joseph  in  Gesellschaft  des  Niko- 
demus,  eines  andern  Freundes,  nahm  den  Toten  also  ab,  balsamierte 
ihn  mit  Myrrhe  und  Aloe,  umwickelte  ihn  mit  Leinwand  (Linnen) 
und  setzte  ihn  in  seiner  Familiengruft  bei,  die  in  seinem  Garten 
in  Felsen  gehauen  war  und  die  nahe  bei  der  Gerichtsstätte  war, 
wo  sie  also  um  so  eher  mit  diesen  Zurüstungen  fertig  werden 
konnten,  noch  vor  dem  Anfang  des  Festes  selbst,  an  dem  es  nicht 
erlaubt  gewesen  wäre,  mit  Toten  zu  tun  zu  haben. 

24.JuU  95 


LI  der  Zeit,  da  Jesus  unter  der  jüdischen  Nation 
auftrat,  befand  sie  sich  in  dem  Zustande,  der  die 
Bedingung  einer  früher  oder  später  nachfolgen- 
den Revolution  ist,  und  immer  die  gleichen  all- 
gemeinen Charaktere  trägt.  Wenn  der  Geist  aus 
einer  Verfassung,  aus  den  Gesetzen  gewichen 
ist,  und  jener  durch  seine  Veränderung  zu  diesen  nicht  mehr 
stimmt,  so  entsteht  ein  Suchen,  ein  Streben  nach  etwas  Anderem, 
das  bald  von  jedem  in  etwas  anderem  gefunden  wird,  wodurch 
denn  eine  Mannigfaltigkeit  der  Bildungen,  der  Lebensweise,  der  An- 
sprüche, der  Bedürfnisse  hervorgeht,  die,  wenn  sie  nach  und  nach  so 
weit  divergieren,  daß  sie  nimmer  nebeneinander  bestehen  können, 
endlich  einen  Ausbruch  bewirken  und  einer  neuen  allgemeinen 
Form,  einem  neuen  Bande  der  Menschen  ihr  Dasein  geben.  Je 
loser  dieses  Band  ist,  je  mehr  es  unvereinigt  läßt,  desto  mehr 
Samen  zu  neuen  Ungleichheiten  und  künftigen  Explosionen  liegt 
darin. 

So  gibt  das  jüdische  Volk  zur  Zeit  Jesu  uns  nicht  mehr  das  Bild 
eines  Ganzen.  Ein  Allgemeines  hält  sie  notdürftig  noch  zu- 
sammen, aber  es  ist  so  viel  fremdartiger  und  mannigfaltiger  Stoff, 
so  vielerlei  Leben  und  Ideale  vorhanden,  so  viel  unbefriedigtes 
und  nach  Neuem  neugierig  umherschauendes  Streben,  daß  jeder 
mit  Zuversicht  und  Hoffnungen  auftretende  Reformator  sich  eines 
Anhangs  für  ebenso  versichert  halten  kann,  als  einer  feindlichen 
Partei. 

Die  äußere  Unabhängigkeit  des  jüdischen  Staates  war  verloren. 
Die  Römer  und  von  Römern  geduldete  oder  gegebene  Könige 
vereinigten  darum  ziemlich  den  allgemeinen,  heimlichen  Haß  der 
Juden  gegen  sich.  Die  Forderung  der  Unabhängigkeit  lag  zu  tief 
in  ihrer  Religion,  die  andern  Völkern  kaum  das  Neben-ihr-Bestehen 
gönnte;  wie  sollte  sie  die  Herrschaft  eines  derselben  über  ihre 
Kinder  erträglich  finden?  Das  Volk,  dessen  sonstige  Wirklichkeit 
noch  ungekränkt  blieb,  war  noch  nicht  auf  dem  Punkt,  diese  auf- 
opfern zu  müssen,  und  wartete  daher  auf  einen  fremden,  mit 
Macht  ausgerüsteten  Messias,  der  für  dasselbe  täte,  was  es  selbst 
nicht  wagte,  oder  es  zum  Wagen  begeisterte  und  durch  diese  Ge- 
walt fortrisse. 


76  G.W.  F.  HEGEL 


Es  zeichneten  sich  viele  durch  strengere  und  genauere  Beob- 
achtung aller  religiösen  Pünktlichkeiten  aus,  und  schon  daß  sie 
sich  dadurch  auszeichneten,  zeigt  uns  den  Verlust  der  Unbefangen- 
heit, die  Mühe  und  einen  Kampf,  etwas  zu  erreichen,  was  nicht 
aus  sich  selbst  hervorging.  Der  Dienst  in  dem  sie  standen,  war 
der  Dienst  gegen  ein  blindes,  nicht  wie  das  griechische  innerhalb 
der  Natur  liegendes  Fatum,  und  ihre  größere  Religiosität  ein  be- 
ständigeres Anhängen  und  Abhängen  von  Mannigfaltigerem,  das 
sich  auf  das  Eine  bezöge,  aber  jedes  andere  Bewußtsein  ausschlösse. 
Die  Pharisäer  suchten  mit  Anstrengung  vollkommene  Juden  zu 
sein  und  dies  beweist,  daß  sie  die  Möglichkeit  kannten,  es  nicht 
zu  sein.  Die  Sadduzäer  ließen  sich  ihr  jüdisches  Dasein  als  ein 
Wirkliches  in  sich  bestehen,  weil  es  einmal  da  war,  und  waren 
mit  wenigem  zufrieden,  aber  es  schien  für  sie  unmittelbar  kein 
Interesse  zu  haben,  als  nur  insofern,  als  es  einmal  Bedingung  ihres 
übrigen  Genusses  w-ar.  Sonst  waren  sie  und  ihr  Dasein  sich  selbst 
höchstes  Gesetz.  Auch  die  Essener  ließen  sich  nicht  in  Kampf 
mit  ihm  ein,  sondern  ließen  es  beiseite  liegen,  denn  dem  Streite 
zu  entfliehen  warfen  sie  sich  in  ihre  einförmige  Lebensart. 

Es  mußte  endlich  einer  auftreten,  der  das  Judentum  selbst  ge- 
radezu angriff";  aber  weil  er  in  den  Juden  nichts  fand,  das  ihm  ge- 
holfen hätte,  es  zu  bestreiten,  das  er  hätte  festhalten  und  mit 
welchem  er  es  hätte  stürzen  können,  so  mußte  er  untergehen  und 
unmittelbar  nur  eine  Sekte  gestiftet  haben. 

Die  Wurzel  des  Judentums  ist  das  Objektive,  d.  h.  der  Dienst, 
die  Knechtschaft  des  Fremden.  Dies  greift  Jesus  an.  Nur  dann 
kann  zwischen  Zeremonien  und  moralischen  Gesetzen  unter- 
schieden werden,  wenn  Moralität  vindiziert  ist;  in  der  jüdischen 
Religion  war  Moralität  unmöglich,  weil  keine  Freiheit  darin  war, 
sondern  durchgängige  Herrschaft. 

a)  Knechtschaft  gegen  ihr  Gesetz,  den  Willen  des  Herrn;  — 
ihm  entgegengesetzt  Selbstbestimmung,  Selbsttätigkeit.  Was  ist 
Knechtschaft  gegen  das  Gesetz?  «.  Willenslosigkeit.  "p.  In  Be- 
ziehung auf  andere  Menschen  Gefühllosigkeit,  Mangel  schöner 
Beziehungen,  Trennung.    7.  Gottlosigkeit. 

b)  Der  Herr,  ein  unsichtbarer  Herr;  —  ihm  entgegengesetzt 
Schicksallosigkeit,  entweder  der  Unschuld,  oder  der  Selbstmacht; 


DAS  LEBEN  JESU  77 


jene  nicht  möglich;  er  konnte  in  sie  nicht  die  beiden  Entgegen- 
gesetzten vereinigen,  weil  eigentUch  nur  eins  der  Entgegenge- 
setzten ohne  Widerstreit  herrschte;  diese  nichts  als  Gottlosigkeit; 
also  die  Herrschaft  gemildert  in  Vaterschaft,  Abhängigkeit  von 
einem  Liebenden  in  Ansehung  der  Not. 

c)  Andere  bestimmt,  «.  entweder  von  mir;  diesem  entgegenge- 
setzt Moralität;  —  oder  ß.  von  einem  andern;  Verachtung  der 
Menschen,  Egoismus  und  Hoffen  auf  objektive  Hülfe;  diesem 
entgegengesetzt  Achtung  anderer,  Berichtigung  oder  Vernichtung 
dieser  Hoffnung. 

Autorität  gegen  Autorität;  allein  die  Autorität  des  Glaubens  an 
Menschennatur.    Er  wußte,  welche  Kraft  im  Menschen  war. 

Wunder.    Er  hoffte  auch  auf  ihre  Wirkung. 

Reelles,  nicht  Polemisches.  Die  Anregung  des  Subjekts  in 
mancherlei  Rücksichten,  eine  schöne  Religion  zu  stiften.  Das  Ideal 
davon,  findet  man  es? 

Im  allgemeinen  das  Subjekt  gegen  das  Gesetz.  Dem  Gesetz 
setzte  er  Moralität  entgegen.  Moralität  ist  nach  Kant  die  Unter- 
jochung des  Einzelnen  unter  das  Allgemeine,  der  Sieg  des  Allge- 
meinen über  sein  entgegengesetztes  Einzelnes.  Eher  Erhebung 
des  Einzelnen  zum  Allgemeinen,  Vereinigung,  Aufhebung  der 
Entgegengesetzten  durch  Vereinigung.  «.  Einigkeit  im  Bestimmten 
setzt  Freiheit  voraus;  denn  ein  Beschränktes  hat  ein  Entgegenge- 
setztes, und  die  Einigkeit  selbst  ist  auf  diese  Art  beschränkt.  .Nicht 
des  Verstandes  Einheit,  die  auch  eine  unvollständige  Einheit  ist; 
durch  die  Verstandseinheit  werden  die  Getrennten  als  getrennt 
gelassen,  die  Substanzen  bleiben  getrennt.  Die  Vereinigung  ist  ob- 
jektiv in  der  Willenseinigkeit.  Da  sind  die  Getrennten  keine  Sub- 
stanzen. Von  den  Entgegensetzen  wird  eins  völlig  ausgeschlossen ; 
das  andere  wird  gewählt,  d.  h.  es  geht  eine  Vereinigung  des  Vor- 
gestellten und  des  Vorstellenden  vor;  das  Vorstellende  und  das 
Vorgestellte  sind  eins;  dies  ist  die  Handlung.  Das  Moralische  der 
Handlung  ist  in  der  Wahl ;  die  Vereinigung  in  der  Wahl  ist,  daß 
das  Ausgeschlossene  ein  Trennendes  ist,  daß  das  Vorgestellte,  das 
in  der  Handlung  vereinigt  wird  mit  dem  Vorstellenden,  der  Tätig- 
keit, selbst  schon  ein  Vereinigtes  sei ;  unmoralisch  wenn  es  ein 
Trennendes  ist.   Die  Möglichkeit  des  Entgegensetzens  ist  Freiheit; 


G.W.  F.  HEGEL 


das  Entgegensetzen  selbst  ein  Akt  der  Freiheit.  Die  moralische 
Handlung  ist  dann  unvollständig  und  unvollkommen,  weil  sie  die 
Wahl,  weil  sie  Freiheit,  Entgegengesetzte,  Ausschließung  eines 
Entgegengesetzten  voraussetzt.  Je  verbundener  dies  Ausge- 
schlossene ist,  desto  größer  die  Aufopferung,  die  Trennung,  desto 
unglücklicher  das  Schicksal;  desto  größer  dieses  Einzelne,  desto 
zerrissener  die  Idee  des  Menschen;  desto  intensiver  sein  Leben, 
desto  mehr  verliert  es  an  Extension  und  es  trennt  sich  wieder 
desto  mehr.  Moralität  ist  Angemessenheit,  Vereinigung  mit  dem 
Gesetz  des  Lebens;  ist  dieses  Gesetz  aber  nicht  Gesetz  des  Lebens, 
sondern  selbst  ein  Fremdes,  so  ist  es  die  höchste  Trennung,  Objek- 
tivität.   H-  Einigkeit  des  ganzen  Menschen.    T.  Ideal  der  Einigkeit. 

Die  Idee  des  Willens  ist  das  Gegenteil  des  Willens,  ihr  Zweck, 
nicht  zu  wollen;  aber  das  Objekt  der  Handlung,  der  Gedanke,  der 
Zweck,  immer  ein  Trieb,  eine  Tätigkeit,  eine  reflektierte  freilich, 
aber  nicht  des  passiven  Menschen,  also  eines  fremden  Willens. 
Zur  bestimmten  Handlung  ein  bestimmter  Wille,  Trieb  not- 
wendig. Aber  dieser  bestimmte  Wille  nicht  im  passiven  Menschen 
wirklich,  also  nicht  in  der  Idee,  in  der  Vorstellung.  Dieser  fremde 
Wille  ein  objektives  Gesetz. 

Von  moralischen  Geboten  sind  nur  die  Verbote  fähig,  objektiv 
zu  werden.  Die  moralischen  Gebote  sind  Vereinigungen  als 
Regeln  ausgedrückt.  Regeln  sind  die  Beziehungen  der  Objekte 
aufeiiiander.  Die  äußere  Beziehung  Getrennter  kann  nur  negativ, 
d.  h.  als  Verbot  angesehen  werden,  und  lebendige  Vereinigung, 
Einigkeit  in  der  moralischen  Handlung  ist  keine  äußere,  d.  h.  die 
Bezogenen  sind  keine  Getrennten  mehr. 

Moralität  ist  Aufhebung  von  Trennung  im  Leben,  Theoretische 
Einheit  ist  Einheit  Entgegengesetzter.  Das  Prinzip  der  Moral  ist 
Liebe.  Beziehung  in  Trennung,  Bestimmen  oder  Bestimmtwerden, 
jenes  unmoralisch  gegen  andere,  dies  gegen  sich  selbst;  denn  beides 
ist  nur  Bewirkung  einer  theoretischen  Einheit.  Wollen  ist  das 
AusschHeßen  des  Entgegengesetzten;  die  Tat  ist  das  Aufheben 
der  Trennung  zwischen  dem  Gewollten,  jetzt  noch  Vorgestellten 
und  dem  Streben,  der  Tätigkeit,  dem  Trieb,  dem  Wollenden.  Bei 
einem  positiven  Gesetz  ist  die  Handlung  keine  Vereinigung, 
sondern  ein  Bestimmtwerden,  das  Prinzip  nicht  Liebe;  das  Motiv 


DAS  LEBEN  JESU  79 


ist  ein  Beweggrund  im  eigentlichen  Sinne;  es  verhält  sich  als  Ur- 
sache, Wirkendes,  es  ist  ein  Fremdes,  nicht  eine  Modifikation  des 
Wollenden. 

Dadurch,  daß  er  ihnen  zeigte,  sie  haben  einen  schlechten  Willen, 
zeigte  er  ihnen,  daß  sie  einen  Willen  haben.  In  der  Bergpredigt 
immer  ein  Gegenüberstellen  des  objektiven  Gebotes  und  der 
Pflicht.  Ein  Opfer  nicht  deswegen,  damit  etwas  geschenkt  und 
verziehen  wird,  sondern  ihr  sollt  verzeihen;  Eid  nicht  wegen  des 
Tempels  heilig,  sondern  ihr  sollt  wahrhaftig  sein;  die  Handlung 
und  eure  Absicht  sollen  eins  sein;  ihr  sollt  die  Handlung  in  ihrem 
ganzen  Umfang  tun;  jede  Handlung  stammt  aus  einem  Gesetz, 
dies  Gesetz  soll  euer  eignes  sein. 

Mit  der  Veränderung  des  objektiven  Gesetzes  mußten  sich  auch 
die  andern  Seiten  der  Verhältnisse  der  Juden  ändern.  Hat  der 
Mensch  selbst  Willen,  so  steht  er  in  ganz  anderm  Verhältnis  zu 
Gott  als  der  bloß  passive.  Zwei  unabhängige  Willen,  zwei  Sub- 
stanzen gibt  es  nicht;  Gott  und  der  Mensch  müssen  also  eins 
sein.  Aber  der  Mensch  ist  der  Sohn  und  Gott  der  Vater;  der 
Mensch  nicht  unabhängig  und  auf  sich  selbst  bestehend;  er  ist  nur, 
insofern  er  entgegengesetzt,  eine  Modifikation  ist,  und  darum  auch 
der  Vater  in  ihm.  In  diesem  Sohne  sind  auch  seine  Jünger,  auch 
sie  sind  eins  mit  ihm,  eine  wirkHche  Transsubstantiation,  ein 
wirkliches  Einwohnen  des  Vaters  im  Sohne  und  des  Sohnes  in 
seinen  Schülern.  Diese  alle  nicht  Substanzen,  schlechthin  getrennt 
und  nur  im  allgemeinen  Begriffe  vereinigt,  sondern  wie  ein  Wein- 
stock und  seine  Reben;  ein  lebendiges  Leben  der  Gottheit  in  ihnen. 
Diesen  Glauben  an  ihn  forderte  Jesus,  Glauben  an  den  Menschen- 
sohn, daß  der  Vater  in  ihm  wohne;  und  wer  an  ihn  glaube,  in 
dem  wohne  auch  er  und  der  Vater.  Dieser  Glaube  ist  der  Objek- 
tivität der  Passivität  unmittelbar  entgegen,  und  unterscheidet  sich 
von  der  Passivität  der  Schwärmer,  die  ein  Einwohnen  Gottes  und 
Christi  in  sich  hervorbringen  oder  empfinden  wollen,  indem  sie 
hier  sich  und  dieses  in  ihnen  regierende  Wesen  unterscheiden, 
also  wieder  die  von  einem  Objekt  Beherrschten  sind.  Uns  von 
einem  objektiven  historischen  Christus  und  der  Abhängigkeit  von 
demselben  dadurch  befreien  wollen,  daß  er  so  subjektiv  gemacht 
wird,  daß  er  ein  Ideal  sei,  heißt  eben,  ihm  das  Leben  zu  einem 


8o  G.W.  F.  HEGEL 


Gedanken  machen,  dem  Menschen  gegenüber  zur  Substanz,  und 
ein  Gedanke  ist  nicht  der  lebendige  Gott. 

Ihn  zu  einem  bloßen  Lehrer  der  Menschen  machen,  heißt  die 
Gottheit  aus  der  Welt  der  Natur  und  dem  Menschen  nehmen. 
Jesus  nannte  sich  der  Messias,  ein  Menschen-Sohn,  und  kein 
anderer  konnte  er  sein;  nur  Unglaube  an  die  Natur  konnte  einen 
andern,  einen  übernatürlichen  en-varten;  das  Übernatürliche  ist 
nur  beim  Unternatürlichen  vorhanden,  denn  das  Ganze,  obzwar 
getrennt,  muß  immer  da  sein. 

Gott  ist  die  Liebe,  die  Liebe  ist  Gott;  es  gibt  keine  andere  Gott- 
heit als  die  Liebe.  Nur  was  nicht  göttlich,  was  nicht  liebt,  muß 
die  Gottheit  in  der  Idee  haben,  außer  sich.  Wer  nicht  glauben 
kann,  daß  Gott  in  Jesu  war,  daß  er  im  Menschen  wohne,  der  ver- 
achtet die  Menschen.  Wohnt  die  Liebe,  wohnt  Gott  unter  den 
Menschen,  so  kann  es  Götter  geben;  wo  nicht,  so  sind  keine 
Götter  möglich.  * 

Die  Objektivität  der  Gebote,  der  Gesetze  zerstören,  zeigen,  daß 
etwas  auf  einem  Bedürfnisse  des  Menschen,  auf  der  Natur  ge- 
gründet ist,  Sünden  vergeben  [a-^zho.'.),  erlassen,  die  Strafen  der 
Sünden  aufheben,  dies  ist  ein  Wunder;  denn  die  Wirkung  kann 
nicht  von  der  Ursache  getrennt  werden;  vorzüglich  aber  kann 
das  Schicksal  nicht  zernichtet  werden.  Denkt  man  sich  eine  Auf- 
hebung der  Strafe,  so  ist  die  Strafe  etwas  ganz  Objektives,  von 
einem  Objekt  Kommendes,  nicht  ganz  notwendig  mit  der 
Schuld  Zusammenhängendes.  Überhaupt,  wenn  man  auch  die 
Strafe  als  etwas  von  der  Schuld  ganz  Untrennbares  nimmt,  so 
ist  sie  doch  soweit  objektiv,  dass  sie  Folge  eines  Gesetzes  ist,  von 
dem  man  sich  in  der  Übertretung  losgemacht  hat,  aber  doch 
noch  von  ihm  abhängt.  Bei  einem  objektiven  Gesetz  und  Richter 
ist  das  Gesetz  befriedigt,  wenn  ich  mißhandelt  worden  bin,  wie 
ich  mißhandelt  habe,  wenn  die  Trennung,  die  ich  gemacht, 
ebenso  auf  mich  zurückgewirkt  hat.  In  der  moralischen  Strafe 
ist  das  Getrennte  nicht  ein  Äußeres,  dem  ich  entfliehen,  das  ich 
überwältigen  kann;  die  Tat  ist  die  Strafe  in  sich  selbst;  soviel  ich 
mit  der  Tat  anscheinend  fremdes  Leben  verletzt  habe,  so  viel  habe 

*  Götter  sind  die  einzelnen  Ideale  der  Trennungen;  ist  alles  getrennt,  so  ist 
nur  ein  Ideal. 


DAS  LEBEN  JESU 


ich  eignes  verletzt.  Leben  ist  als  Leben  nicht  von  Leben  ver- 
schieden; das  verletzte  Leben  steht  mir  als  Schicksal  gegenüber; 
befriedigt  ist  es,  wenn  ich  seine  Macht,  die  Macht  des  Toten  ge- 
fühlt habe,  so  wie  ich  im  Verbrechen  bloß  als  Macht  handelte. 

Versöhnt  kann  das  Gesetz  nicht  werden,  denn  es  beharrt  immer 
in  seiner  furchtbaren  Majestät  und  läßt  sich  nicht  durch  Liebe  bei- 
kommen. Denn  es  ist  hypothetisch  und  die  Möglichkeit  kann  nie 
aufgehoben,  die  Bedingung,  unter  der  es  eintritt,  kann  nie  un- 
möglich werden.  Es  ruht,  so  lange  diese  Bedingung  nicht  eintritt, 
aber  ist  nicht  aufgehoben.  Aber  diese  Ruhe  ist  keine  Versöhnung, 
weil  das  Gesetz  zwar  kein  so  Bestehendes  ist,  daß  es  immer  wirk- 
sam sein  und  trennen  müßte,  aber  weil  es  bedingt,  weil  es  nur 
unter  einer  Trennung  möglich  ist.  Das  Schicksal  hingegen  kann 
versöhnt  werden,  weil  es  selbst  eins  der  Glieder,  ein  Getrenntes 
ist,  das  nicht  als  Getrenntes  durch  sein  Gegenteil  vernichtet,  aber 
durch  Vereinigung  aufgehoben  werden  kann.  Schicksal  ist  das 
Gesetz  selbst,  das  ich  in  der  Handlung  (diese  sei  Übertretung  eines 
andern  Gesetzes)  aufgestellt  habe,  in  seiner  Rückwirkung  auf  mich. 
Die  Strafe  ist  nur  die  Folge  eines  andern  Gesetzes ;  die  notwendige 
Folge  kann  nicht  aufgehoben  werden;  die  Handlung  müßte  un- 
geschehen gemacht  werden ;  wo  nichts  als  Ursachen  undWirkungen, 
als  Getrennte  sind,  da  ist  keine  Unterbrechung  der  Reihe  möglich. 
Das  Schicksal  hingegen,  d.  h.  das  rückwirkende  Gesetz  selbst 
kann  aufgehoben  werden;  denn  ein  Gesetz,  das  ich  selbst  aufge- 
stellt habe,  eine  Trennung,  die  ich  selbst  gemacht  habe,  kann  ich 
auch  vernichten.  Da  Handlung  und  Rückwirkung  eins  ist,  so 
versteht  es  sich  von  selbst,  daß  die  Rückwirkung  nicht  einseitig 
aufgehoben  werden  kann.  Die  Strafe  ist  das  Bewußtsein  einer 
fremden  Macht,  eines  Feindseligen ;  wenn  sie  ausgewirkt  hat  unter 
der  Herrschaft  des  Gesetzes,  so  ist  dieses  Gesetz  befriedigt  und  ich 
bin  befreit  von  einem  Fremden,  das  von  mir  abläßt  und  sich  wieder 
in  die  drohende  Gestalt  zurückzieht,  das  ich  aber  nicht  zum 
Freunde  gemacht  habe.  Das  böse  Gewissen  ist  das  Bewußtsein 
einer  bösen  Handlung,  eines  Geschehenen,  einesTeils  eines  Ganzen, 
über  das  ich  keine  Macht  habe,  eines  Geschehenen,  das  nie  un- 
geschehen gemacht  werden  kann,  denn  es  war  ein  Bestimmtes, 
Beschränktes.     Das   Schicksal  ist   das  Bewußtsein   seiner  selbst 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  6 


82  G.W.  F.  HEGEL 


(nicht  der  Handlung),  seiner  selbst  als  eines  Ganzen,  dies  Bewußt- 
sein des  Ganzen  reflektiert,  objektiviert.  Da  dieses  Ganze  ein 
Lebendiges  ist,  das  sich  verletzt  hat,  so  kann  es  wieder  zu  seinem 
Leben,  zu  der  Liebe  zurückkehren;  sein  Bewußtsein  wird  wieder 
Glaube  an  sich  selbst ;  und  diese  Anschauung  seiner  selbst  ist  eine 
andere  geworden,  und  das  Schicksal  ist  versöhnt. 

Liebe  ist  aber  alsdann  Bedürfnis;  in  sich  selbst  ist  die  Ruhe  ver- 
loren; dies  ist  die  Wunde,  die  zurückbleibt,  die  Anschauung  seiner 
selbst  als  eines  Wirklichen,  dem  die  Anschauung  seiner  als  eines 
Strebenden,  das  von  dieser  Wirklichkeit  sich  entfernt,  entgegen 
ist.  Weil  aber  eben  hier  nur  ein  Streben  ist,  so  ist  es  Bedürfnis 
und  mit  einer  Wehmut  verknüpft,  die  in  der  Liebe,  dem  be- 
friedigten Streben  allein  wegfällt. 

Vergebung  der  Sünden  ist  daher  nicht  Aufhebung  der  Strafe 
(denn  jede  Strafe  ist  etwas  Positives,  Objektives,  das  nicht  ver- 
nichtet werden  kann),  nicht  Aufhebung  des  bösen  Gewissens, 
denn  keine  Tat  kann  zur  Nichttat  werden,  sondern  durch  Liebe 
versöhntes  Schicksal.  Daher  die  Regel  Jesu:  «Wenn  ihr  die  Fehler 
vergebet,  so  sind  euch  die  eurigen  vom  Vater  auch  vergeben». 
Andern  verzeihen  kann  nur  die  Aufhebung  der  Feindschaft,  die 
zurückgekehrte  Liebe,  und  diese  ist  ganz.  Die  Verzeihung  der 
Fehler  kommt  aus  ihr;  diese  Verzeihung  ist  nicht  ein  Fragment, 
eine  einzelne  Handlung.  «Richtet  nicht,  daß  ihr  nicht  gerichtet 
werdet;  stellt  ihr  keine  Gesetze  auf,  denn  diese  gelten  auch  für 
euch».  Jesu  zuversichtlicher  Ausspruch:  «Dir  sind  deine  Sünden 
vergeben»,  wo  er  Glauben  und  Liebe  fand,  wie  bei  Maria  Magdalena. 

Die  Vollmacht,  die  er  seinen  Freunden  gab,  zu  binden  und  zu 
lösen,  wenn  er  in  ihnen  den  hohen  Glauben  an  ihn  als  einen 
Menschen  gefunden  hatte,  —  einen  Glauben,  der  die  ganze  Tiefe 
der  Menschennatur  gefühlt  hatte,  —  dieser  Glaube  schließt  die 
Fähigkeit  in  sich,  andere  durchzufühlen  und  die  Harmonie  oder 
Disharmonie  ihres  Wesens  zu  empfinden,  ihre  Schranken  und 
ihr  Schicksal,  ihre  Bande  zu  erkennen. 

Rückkehr  zur  Moralität  hebt  die  Sünden  und  ihre  Strafen,  das 
Schicksal  nicht  auf  Die  Handlung  bleibt;  im  Gegenteil  wird  sie 
nur  um  so  zwingender.  Je  größer  die  Moralität,  um  so  tiefer  wird 
das  Unmoralische  derselben  gefühlt.  Die  Strafe,  das  Schicksal  w^ird 


DAS  LEBEN  JESU  83 


nicht  aufgehoben,  weil  die  Moralität  noch  immer  eine  objektive 
Macht  sich  gegenüberstehen  hat.  Die  Aufhebung  der  Handlung, 
Schadenersatz  ist  eine  ganz  objektive  Handlung.  (Lücke  der 
Handschrift)^) 


.  .  .  Joh.  V,  26.  "Öoirap  ■[dp  o  TraTr^p  aysi  C<'jv;v  iv  iauiu)  ,ou':(tJC  zat  tw  uiu) 
£0(oxcv  C"J^(V  i/ätv  iv  iß'jTio.xcä  i^ouatfzv  ioioxsv  cüiio  xpt'aiv  zoiciv  ,ö-i  utöc  c(v9pojxou 

ioTtv.  Jener  das  Einige,  Ungeteilte,  Schöne;  dieser  das  Modifizierte, 
utoc  av()^p(ijTOu,  das  Herausgegangene  aus  der  Einigkeit.  Darum  hat 
er  Macht  gegen  ein  FeindHches,  Gegenüberstehendes,  das  Gericht, 
ein  Gesetz  gegen  solche,  die  von  ihm  abtrünnig  sind.  Reich  der 
Freiheit  und  Wirklichkeit.  Joh.  XII,  ^6.  'Sc  to  ^w;  'i'/y^^,  ziaTcüsis  v.:, 

TÖ  (fwc  ,  Iva  uJot  'fwTOQ  'f3VT;a9-c. 

In  Matthäus,  Markus  und  Lukas  Christus  mehr  im  Gegensatz 
gegen  die  Juden,  mehr  Moral.  In  Johannes  mehr  er  selbst,  seine 
Beziehung  auf  Gott  und  seine  Gemeine;  mehr  religiösen  Inhalts. 
Seine  Einheit  mit  dem  Vater  und  wie  seine  Anhänger  mit  ihm 
und  unter  sich  eins  sein  sollen.  Er  ist  der  Mittelpunkt  und  das 
Oberhaupt;  wie  bei  der  lebendigsten  Vereinigung  mehrerer 
Menschen  immer  noch  Trennung  stattfindet,  so  auch  in  dieser 
Vereinigung.  Dies  das  Gesetz  der  Menschheit;  im  Ideal  das  völlig 
vereinigt,  was  noch  getrennt  ist,  die  Griechen  in  Nationalgöttern, 
die  Christen  in  Christo. 

a)  Moral,  b)  Liebe,  c)  Religion.  Ich  Christus,  Reich  Gottes, 
Gestalt  desselben  unter  diesen  Umständen.    Wunder. 

Gesinnung  hebt  die  Positivität  der  Gebote  auf,  Liebe  die 
Schranken  der  Gesinnung,  Religion  die  Schranken  der  Liebe. 

In  der  objektiven  Welt  ist  der  Mensch  der  Macht  entgegenge- 
gesetzt,  die  ihn  beherrscht,  und  ist  insofern  leidend,  sofern  er 
tätig  ist.  Er  verhält  sich  ebenso ;  es  ist  ihm  ein  Leidendes  gegen- 
über. Er  ist  immer  Sklave  gegen  einen  Tyrannen  und  zugleich 
Tyrann  gegen  einen  Sklaven.  Durch  die  Gesinnung  ist  nur  das 
objektive  Gesetz  aufgehoben,  aber  nicht  die  objektive  Welt.  Der 
Mensch  steht  einzeln  und  die  Welt  ihm  gegenüber.  Die  Liebe 
knüpft  Punkte  in  Momenten  zusammen,  aber  die  Welt,  in  ihr  der 
Mensch  und  ihre  Beherrschung  besteht  noch. 

6* 


84  G.W.  F.  HEGEL 


In  einer  positiven  Religion  der  Mensch  einerseits  bestimmt, 
Gott  der  Herrscher;  auch  sein  Entgegengesetztes,  Objektives  nicht 
allein,  einsam,  auch  ein  Beherrschtes  von  Gott.  Die  tyrannische 
Idee  zugleich  schützend,  denn  jeder  ist  der  LiebUng  seiner  Idee: 
die  Idee  beherrscht  mich,  ist  gegen  mich,  aber  zugleich  in  meiner 
Entgegensetzung  gegen  die  Welt  ist  sie  auf  meiner  Seite.*  Die 
Beherrschung  der  Juden  vom  Tyrannen  verschieden,  weil  der 
Tyrann  ein  wirklicher  ist;  ihr  Jehova  ein  Unsichtbares;  der  wirk- 
liche Tyrann  ist  feindselig. 

Mit  dem  objektiven  Gesetze  fällt  ein  Teil  des  Beherrschens  und 
des  Beherrschtwerdens  weg.  Ein  Gesetz  ist  eine  Tätigkeit  als 
Wirkung,  also  bestimmte,  beschränkte  Tätigkeit,  die  die  Wirkung 
bei  einer  eintretenden  Bedingung  ist,  oder  vielmehr  der  Zusammen- 
hang selbst  zwischen  den  Bedingungen  und  der  Tätigkeit  als 
Wirkung.  Ist  der  Zusammenhang  notwendig,  so  ist  er  ein  Muß ; 
ist  die  Möglichkeit  der  Nichtäußerung  der  Tätigkeit  möglich,  ein 
Sollen.  Ist  der  Zusammenhang  so  notwendig,  keine  Freiheit.  Dies 
auf  zweierlei  Art:  der  vollständige  Grund,  d.  i.  der  vollständige 
Zusammenhang  in  der  Bedingung  selbst,  lebendige  Wirkung,  oder 
nicht  in  der  Bedingung,  tot  zwischen  beiden.  Freiheit  und  Ge- 
setz, a)  Tauglichkeit  zur  Bekämpfung  des  Gesetzes,  b)  Mangel- 
haftigkeit. 

Das  Objekt  der  Handlung  ist  im  Positiven  nicht  der  reflektierte 
Trieb  selbst,  oder  der  Trieb  als  Objekt,  sondern  ein  Fremdes,  von 
dem  Triebe  Verschiedenes. 

Kants  praktische  Vernunft  ist  das\'ermögen  der  Allgemeinheit, 

d.  h.  das  Vermögen  auszuschließen ;  die  Triebfeder  Achtung ;  dies 

Ausgeschlossene  in  Furcht  unterjocht;  eine  Desorganisation,  das 

Ausschließen   eines   noch  \''ereinigten ;   das  Ausgeschlossene  ist 

nicht  ein  Aufgehobenes,  sondern  ein  Getrenntes,  noch  Bestehendes. 

Das  Gebot  ist  zwar  subjektiv,  ein  Gesetz  des  Menschen,  aber  ein 

Gesetz,  das  anderm  in  ihm  Vorhandenen  widerspricht,  ein  Gesetz, 

das  herrscht.    Es  gebietet  nur  die  Achtung,  ist  das  Gegenteil  des 

*  In  der  Beherrschung  das  wirkliche  A  tätig,  das  wirkliche  B  leidend ;  die 
Synthese  C  der  Zweck;  C  eine  Idee  in  A  und  insofern  B  ein  Mittel;  aber  auch 
A  das  dem  C  Gehorchende,  von  C  Bestimmte;  A  ist  in  Rücksicht  auf  C  be- 
herrscht, in  Rücksicht  auf  B  beherrschend;  da  C  zugleich  ein  Zweck  A's,  so 
dient  C  dem  A  und  beherrscht  das  B. 


DAS  LEBEN  JESU  85 


Prinzips,  dem  die  Handlung  gemäß  ist;  das  Prinzip  ist  allgemein; 
Achtung  ist  dies  nicht;  die  Gebote  sind  für  die  Achtung  immer 
ein  Gegebenes.  Moralität  ist  Abhängigkeit  von  mir  selbst,  Ent- 
zweiung in  sich  selbst. 

Die  Moralität  hebt  nur  das  Beherrschtwerden  des  Ich  auf, 
und  damit  das  Herrschen  desselben  über  Lebendige.  Aber 
dadurch  ist  das  Lebendige  noch  eine  Menge  schlechthin  Getrennter, 
Unverbundener  und  es  bleibt  noch  ein  unendlich  toter  Stoff 
übrig,  und  diese  Vereinzelten  bedürfen  noch  eines  Herrschers, 
eines  Gottes,  und  das  moralische  Wesen  selbst  insofern  eines 
Herrschers,  insofern  es  nicht  moralisch  (nicht:  unmoralisch)  ist; 
es  ist  ein  Ruhendes,  das  keine  Gewalt  tut  und  keine  leidet,  auch 
wo  einem  Wesen  von  einem  dritten  Gewalt  geschieht,  nicht  abhilft. 
Die  Allgemeinheit  ist  tot,  denn  sie  ist  dem  Einzelnen  entgegenge- 
setzt, und  Leben  ist  Vereinigung  beider. 

Die  Moralität  hebt  zugleich  die  rein  positiven  Gebote  auf,  in- 
dem sie  kein  Gesetz  anerkennt,  als  ihr  eigenes;  aber  inkonsequent 
darin,  indem  sie  doch  nicht  bloß  ein  Bestimmendes,  sondern  ein 
Bestimmbares  ist,  also  noch  unter  einer  fremden  Macht  steht. 

Jesus  setzt  dem  Gebote  die  Gesinnung  gegenüber,  d.  h.  die  Ge- 
neigtheit, so  zu  handeln.  Eine  Neigung  ist  in  sich  gegründet, 
hat  ihr  idealisches  Objekt  in  sich  selbst,  nicht  in  einem  Fremden 
(dem  Sittengesetz  der  Vernunft).  Er  sagt  nicht:  «Haltet  solche 
Gebote,  weil  sie  Gebote  eures  Geistes  sind,  nicht  weil  sie  euern 
Voreltern  gegeben  worden  sind,  sondern  weil  ihr  sie  selbst  euch 
gebt.»  So  sagt  er  nicht;  ersetzt  der  pßichtmäßigen  Gesinnung 
gegenüber  die  Geneigtheit,  so  zu  handeln.  Da  eine  moralische 
Handlung  beschränkt  ist,  so  ist  auch  das  Ganze,  aus  dem  sie 
kommt,  immer  beschränkt  und  zeigt  sich  nur  in  dieser  Beschrän- 
kung; sie  ist  aber  nur  durch  ihr  Objekt,  durch  die  besondere  Art 
der  Trennung,  die  sie  aufhebt,  bestimmt;  sonst  ist  innerhalb  dieser 
Grenze  ihr  Prinzip  vollständige  Vereinigung.  Da  aber  diese  Ge- 
sinnung bedingt,  beschränkt  ist,  so  ruht  sie,  und  handelt  nur, 
wenn  die  Bedingung  eintritt;  dann  vereinigt  sie.  Sie  ist  also  einer- 
seits nur  im  Handeln  sichtbar,  in  dem,  was  sie  tut;  man  kann  von 
ihr  nicht  im  vollen  Sinne  sagen:  sie  ist,  weil  sie  nicht  unbedingt 
ist.    Andererseits  ist  sie  in  der  Handlung  nicht  vollständig  dar- 


86  G.W.  F.  HEGEL 


gestellt;  denn  die  Handlung  zeigt  nur  die  bewirkte  objektive  Be- 
ziehung des  bei  der  Handlung  Vorhandenen,  nicht  die  Ver- 
einigung, die  das  Lebendige  ist.  Aber  weil  diese  Vereinigung  nur 
in  dieser  Handlung  ist,  so  steht  sie  einzeln  und  isoliert;  es  ist 
nichts  mehr  vereinigt  worden,  als  in  dieser  Handlung  geschehen  ist. 
Ist  zugleich  ein  Streben  vorhanden,  diese  Akte  zu  verviel- 
fältigen, so  ist  das  Prinzip  nicht  mehr  eine  ruhende  Gesinnung; 
ein  Bedürfnis  des  Ganzen,  der  Vereinigung  ist  vorhanden,  das 
Bedürfnis  der  Liebe,  allgemeiner  Menschlichkeit.  Sie  sucht  das 
Ganze  in  einer  unendlichen  Mannigfaltigkeit  von  Handlungen  zu 
fassen,  dem  Beschränkten  der  einzelnen  Handlung  durch  die 
Menge  und  Vervielfältigung  den  Schein  des  ganzen  Unendlichen 
zu  geben.  Darum  sind  schöne  Seelen,  die  unglücklich  sind,  ent- 
weder daß  sie  sich  ihres  Schicksals  bewußt  oder  daß  sie  nur  nicht 
in  der  ganzen  Fülle  ihrer  Liebe  befriedigt  sind,  so  wohltätig.  Sie 
haben  schöne  Momente  des  Genusses,  aber  auch  nur  Momente, 
und  die  Tränen  des  Mitleidens,  die  Rührung  über  eine  solche 
Handlung  sind  Wehmut  über  ihre  Beschränktheit,  oder  das  hart- 
näckige Ausschlagen  der  Annehmung  des  Dankes,  der  verborgene 
Hochmut  sind  eine  Scham  über  die  Mangelhaftigkeit  des  Zu- 
standes;  der  Wohltäter  ist  immer  größer  als  der  Empfangende. 


Jesus  trat  nicht  lange  vor  der  letzten  Krise  auf,  welche  die 
Gärung  der  mannigfachen  Elemente  des  jüdischen  Schicksals 
herbeizog.  In  dieser  Zeit  der  Innern  Gärung,  der  Entwickelung 
dieses  verschiedenen  Stoffes,  bis  er  zu  einem  Ganzen  gesammelt 
wird,  und  offener  Krieg  entsteht,  gingen  dem  letzten  Akte  mehrere 
partielle  Ausbrüche  vorher.  Menschen  von  gemeinerer  Seele, 
aber  von  starken  Leidenschaften,  faßten  das  Schicksal  des  jüdi- 
schen Volkes  nur  unvollständig  auf,  und  waren  also  nicht  ruhig 
genug,  weder  um  leidend  sich  von  seinem  Willen  forttragen  zu 
lassen,  und  nur  in  der  Zeit  mit  fortzuschwimmen,  noch  um  die 
weitere  Entwickelung  abzuwarten,  die  nötig  gewesen  wäre,  um 
sich  eine  größere  Macht  beizugesellen;  so  liefen  sie  der  Gärung 
des  Ganzen  zuvor  und  fielen  ohne  Ehre  und  ohne  Wirkung.  Jesus 
bekämpfte  nicht  nur  einen  Teil  des  jüdischen  Schicksals,  weil  er 


DAS  LEBEN  JESU  87 


nicht  von  einem  andern  Teil  desselben  befangen  war,  sondern 
stellte  sich  dem  Ganzen  entgegen,  war  also  selbst  darüber  erhaben 
und  suchte  sein  Volk  darüber  zu  erheben.  Aber  solche  Feind- 
schaften, als  er  aufzuheben  suchte,  können  nur  durch  Tapferkeit 
überwältigt,  nicht  durch  Liebe  versöhnt  werden.  Auch  sein  er- 
habener Versuch,  das  Ganze  des  Schicksals  zu  überwinden,  mußte 
darum  in  seinem  Volke  fehlschlagen,  und  er  selbst  ein  Opfer  des- 
selben werden.  Weil  Jesus  sich  auf  keine  Seite  des  Schicksals 
geschlagen  hatte,  so  mußte  zwar  nicht  unter  seinem  Volke,  denn 
dies  besaß  noch  zu  viel,  aber  in  der  übrigen  Welt  seine  Religion 
einen  so  großen  Eingang  bei  Menschen  finden,  die  keinen  Anteil 
mehr  an  dem  Schicksal,  gar  nichts  zu  verteidigen  oder  zu  be- 
haupten hatten.   Vor  dem  Geiste  Christi  (Lücke  der  Handschrift) 

....  digen  Modifikation  der  Menschennatur  gegründet  er- 
kennen mögen,  waren  ihnen  geboten,  waren  für  sie  durchaus 
positiv.  —  Die  Ordnung,  in  welcher  hier  den  verschiedenen 
Arten  von  Gesetzgebung  der  Juden  gefolgt  wird,  ist  also  eine  ihr 
fremde,  eine  gemachte  Ordnung,  und  die  Unterschiede  kommen 
erst  in  sie  durch  die  Art,  wie  verschieden  auf  sie  reagiert  wird. 

Geboten,  die  einen  bloßen  Dienst  des  Herrn,  eine  unmittelbare 
Knechtschaft,  einen  Gehorsam  ohne  Freude,  ohne  Lust  und  Liebe 
verlangten,  d.  h.  den  gottesdienstlichen  Geboten  stellte  Jesus  das 
ihnen  gerade  Entgegengesetzte,  einen  Trieb,  sogar  ein  Bedürfnis 
des  Menschen  gegenüber.  Da  religiöse  Handlungen  das  Geistig- 
ste, das  Schönste,  dasjenige  sind,  was  auch  die  durch  die  Ent- 
wickelung  notwendigen  Trennungen  noch  zu  vereinigen  strebt, 
und  die  Vereinigung  im  Ideal  als  völlig  seiend,  der  WirkUchkeit 
nicht  entgegengesetzt  darzustellen,  also  in  einem  Tun  sie  auszu- 
drücken, zu  bekräftigen  sucht,  so  sind  religiöse  Handlungen,  wenn 
ihnen  jener  Geist  der  Schönheit  mangelt,  die  leerste,  die  sinn- 
loseste Knechtschaft*,  und  über  diese  ist  die  Befriedigung  des  ge- 
meinsten menschlichen  Bedürfnisses  erhaben,  weil  in  ihm  doch 
das  Gefühl  oder  die  Erhaltung  eines  wenn  auch  leeren  Seins  liegt. 
Daß  die  höchste  Not  Heiliges  verletzt,  ist  ein  identischer  Satz, 

*  Ein  Bewußtsein  seiner  Vernichtung  fordert  ein  Tun,  in  dem  der  Mensch 
sein  Nichtsein,  seine  Passivität  ausdrückt. 


88  G.W.  F.  HEGEL 


denn  die  Not  ist  ein  Zustand  des  Zerrissenseins  und  eine  ein 
heiliges  Objekt  verletzende  Handlung  ist  die  Not  in  Handlung. 
Aber  durch  eine  unbedeutende  Handlung  ein  heiliges  Objekt  zu 
entweihen,  kann  nur  aus  der  \'erachtung  desselben  entspringen, 
und  eine  geringe  Ehrfurcht  wird  sich  die  Äußerung  eines  Einfalls 
oder  einer  Willkür  nicht  versagen.  Der  Kontrast  zwischen  der 
Heiligkeit  eines  Objekts  oder  Gebotes  und  die  Entweihung  des- 
selben wird  desto  größer,  je  geringer  die  Not,  je  größer  die  Will- 
kür in  der  Entweihung  war. 

In  der  Not  wird  entweder  der  Mensch  zum  Objekt  gemacht 
und  unterdrückt  oder  er  muß  die  Natur  zu  einem  Objekt  machen 
und  unterdrücken.  Nicht  nur  die  Natur  ist  heilig;  es  kann  auch 
Heiliges  geben,  das  an  sich  Objekt  ist,  nicht  nur  wenn  Objekte 
selbst  Darstellungen  eines  viele  vereinigenden  Ideals  sind,  sondern 
auf  irgend  eine  Art  mit  diesem  in  Beziehung  stehen,  zu  ihm  ge- 
hören. Die  Not  kann  die  Entweihung  eines  solchen  heiligen 
Dinges  gebieten;  aber  es  ohne  Not  zu  verletzen,  ist  Mutwille, 
wenn  das,  worin  ein  Volk  vereinigt  ist,  zugleich  ein  Gemeinsames, 
ein  Eigentum  aller  ist.  Denn  alsdann  ist  die  Verletzung  des 
Heiligtums  zugleich  eine  ungerechte  Verletzung  des  Rechtes  aller. 
Der  fromme  Eifer,  der  Tempel  und  Altäre  eines  fremden  Gottes- 
dienstes zerbricht,  seine  Priester  verjagt,  entweiht  gemeinsame 
und  allen  gehörige  Heiligtümer.  Aber  ist  ein  Heiliges  nur  inso- 
fern alle  vereinigend,  als  alle  entsagen,  als  alle  dienen,  so  nimmt 
hieran  jeder,  der  sich  von  anderen  trennt,  sein  Recht  wieder  auf, 
und  die  Verletzung  eines  solchen  heiligen  Dinges  oder  Gebotes 
ist  in  Rücksicht  der  andern  nur  insofern  eine  Störung,  als  der 
Gemeinschaft  mit  ihnen  entsagt  und  der  willkürliche  Gebrauch 
seiner  Sache,  sei  dies  seine  Zeit  oder  was  es  ist,  wieder  vindiziert 
wird.  Um  so  geringer  aber  ein  solches  Recht  und  die  Auf- 
opferung desselben  ist,  um  so  weniger  wird  der  Mensch  darüber 
seinen  Mitbürgern  in  dem,  was  ihnen  das  Höchste  ist,  sich  ent- 
gegensetzen, die  Gemeinschaft  mit  ihnen  im  innigsten  Punkte 
der  Verknüpfung  zerreißen  wollen,  nur  wenn  das  Ganze  der  Ge- 
meinschaft ein  Gegenstand  der  Verachtung  ist;  und  da  Jesus  aus 
der  ganzen  Existenz  seines  Volkes  heraustrat,  so  fiel  diese  Art  von 
Schonung  weg,   mit  der  ein  Freund  sich  in  Gleichgültigkeiten 


DAS  LEBEN  JESU 89 

gegen  den  beschränkt,  mit  dem  er  sonst  ein  Herz  und  eine  Seele 
ist,  und  um  einer  jüdischen  HeiHgkeit  willen  versagte  er  sich  nicht, 
schob  nicht  einmal  die  Befriedigung  eines  sehr  gemeinen  Bedürf- 
nisses, einer  Willkür  auf,  sondern  ließ  darin  seine  Trennung  von 
seinem  Volk,  seine  ganze  Verachtung  gegen  die  Knechtschaft 
unter  objektiven  Geboten  lesen. 

Seine  Begleiter  gaben  den  Juden  durch  das  Ausraufen  der 
Ähren  am  Sabbat  ein  Ärgernis.  Der  Hunger,  der  sie  dazu  trieb, 
konnte  in  jenen  Ähren  keine  große  Befriedigung  finden.  Die 
Ehrfurcht  für  den  Sabbat  hätte  diese  geringe  Befriedigung  wohl 
um  die  Zeit  aufschieben  können,  die  sie  bis  zu  einem  Orte  zu 
kommen  brauchten,  wo  sie  zubereitete  Speise  finden  konnten. 
Jesus  hält  den  Pharisäern,  die  jene  unerlaubte  Handlung  rügten, 
die  Handlung  Davids  entgegen  (Matth.  XII);  David  hatte  in  der 
äußersten  Not  nach  den  Schaubroten  gegriffen.  Er  führte  auch 
die  Entweihung  des  Sabbats  durch  priesterliche  Geschäfte  an; 
allein  sie  sind  gesetzlich  und  keine  Entweihung  desselben.  Am 
gleichen  Tage  heilt  Jesus  eine  verdorrte  Hand.  Die  eigne  Hand- 
lungsart der  Juden  in  Ansehung  eines  in  Gefahr  sich  befindenden 
Viehs  bewies  ihnen  zwar,  wie  Davids  Verbrauch  der  heiligen 
Brote  oder  die  Geschäfte  der  Priester  am  Sabbat,  daß  ihnen  selbst 
die  Heiligkeit  dieses  Tages  nicht  absolut  gelte,  daß  sie  selbst  etwas 
Höheres  als  die  Beobachtung  dieses  Gebotes  kennen ;  aber  auch 
in  dem  Falle,  den  er  hier  den  Juden  entgegenhält,  ist  ein  Notfall, 
und  die  Not  tilgt  die  Schuld;  das  Tier,  das  in  den  Brunnen  fällt, 
erfordert  augenblickliche  Hilfe;  ob  aber  jener  Mann  auch  noch 
bis  zum  Untergang  der  Sonne  den  Gebrauch  seiner  Hand  ent- 
behrte, war  ganz  gleichgültig.  Die  Handlung  Jesu  drückte  die 
Willkür  aus,  einige  Stunden  früher  diese  Handlung  zu  verrichten 
und  das  Primat  einer  solchen  Willkür  über  ein  Gebot,  das  von 
der  höchsten  Autorität  ausgeht;  und  indem  er  auf  einer  Seite  das 
Vergehen  selbst  durch  die  Bemerkung  vergrößert,  daß  die  Priester 
nur  im  Tempel  den  Sabbat  entweihen,  hier  aber  noch  mehr  sei, 
die  Natur  heiliger  sei  als  der  Tempel,  so  erhebt  er  auf  der  anderen 
Seite  im  allgemeinen  die  für  die  Juden  götterlose  unheilige  Natur 
über  ihren  Ort,  über  die  Beschränkung  der  Welt,  die  mit  Gott 
in  Beziehung  stehe,  auf  einen  einzigen,  von  den  Juden  gemachten 


90  G.W.  F.  HEGEL 


Ort.  Unmittelbar  aber  setzt  er  der  Heiligung  einer  Zeit  den  Men- 
schen entgegen,  und  erklärt  jene  für  niedriger  als  eine  gleich- 
gültige Befriedigung  eines  menschlichen  Bedürfnisses.  Dem  Ge- 
brauch des  Händewaschens  vor  dem  Brotessen  setzt  Jesus  (Matth. 
XV,  2)  die  ganze  Subjektivität  des  Menschen  entgegen  und  über 
die  Knechtschaft  gegen  ein  Gebotenes,  die  Reinheit  oder  Unrein- 
heit eines  Objekts,  die  Reinheit  oder  Unreinheit  des  Herzens. 
Er  macht  die  unbestimmte  Subjektivität,  den  Charakter  zu  einer 
ganz  andern  Sphäre,  die  mit  der  pünktlichen  Befolgung  objektiver 
Gebote  gar  nichts  gemein  habe. 

Anders  als  gegen  die  rein  objektiven  Gebote,  denen  Jesus  etwas 
ganz  Fremdes,  das  Subjektive  im  allgemeinen  entgegenhielt,  ver- 
hielt sich  Jesus  gegen  diejenigen  Gesetze,  die  wir  nach  verschie- 
dener Rücksicht  entweder  moralische  oder  bürgerliche  Gebote 
nennen,  [welche  insofern  subjektiv  sind,  als  sie  in  einer  Tätigkeit 
des  menschlichen  Wesens,  in  einer  seiner  Kräfte  gegründet  sind. 
Alle  bürgerlichen  Gesetze  sind  zugleich  moralische,  und  sie  unter- 
scheiden sich  von  den  rein  moralischen,  die  nicht  föhig  sind, 
bürgerliche  Gesetze  zugleich  zu  werden,  dadurch,  daß  sie  ihre 
Bed].  Da  sie  natürUche  Beziehungen  der  Menschen  in  der  Form 
von  Geboten  ausdrücken,  so  besteht  die  Verirrung  in  Ansehung 
derselben  darin,  wenn  sie  entweder  ganz  oder  zum  Teil  objektiv 
werden.  Da  Gesetze  Vereinigungen  Entgegengesetzter  in  einem 
Begriffe,  der  sie  also  als  entgegengesetzt  läßt,  sind,  der  Begriff 
aber  selbst  in  der  Entgegensetzung  gegen  Wirkliches  besteht,  so 
drückt  er  ein  Sollen  aus.  Insofern  der  Begriff  nicht  seinem  In- 
halte nach,  sondern  seiner  Form  nach,  daß  er  Begriff  ist,  vom 
Menschen  gemacht  und  gefaßt  ist,  ist  das  Gebot  moralisch ;  inso- 
fern bloß  auf  den  Inhalt  gesehen  wird,  als  die  bestimmte  \''ereini- 
gung  bestimmter  Entgegengesetzter  und  das  Sollen  also  nicht  von 
der  Eigenschaft  des  Begriffs  stammt,  sondern  durch  fremde  Macht 
"behauptet  wird,  insofern  ist  das  Gebot  bürgerlich.  Weil  bei  der 
letzteren  Rücksicht  die  Vereinigung  der  Entgegengesetzten  nicht 
begriffen,  nicht  subjektiv  ist,  so  enthalten  bürgerliche  Gesetze  die 
Grenze  der  Entgegensetzung  mehrerer  Lebendiger;  die  rein  mo- 
ralischen aber  bestimmen  die  Grenze  der  Entgegensetzung  in 
einem  Lebendigen;   also  jene  die  Entgegensetzung  Lebendiger 


DAS  LEBEN  JESU  91 


gegen  Lebendige,  diese  die  Entgegensetzung  einer  Seite,  einer 
Kraft  eines  Lebendigen  gegen  andre  Seiten,  andre  Kräfte  eben- 
desselben Lebendigen,  und  eine  Kraft  dieses  Wesens  ist  insofern 
herrschend  gegen  eine  andre  Kraft  desselben. 

Rein  moralische  Gesetze,  die  nicht  fähig  sind,  bürgerliche  zu 
werden,  d.  h.  in  denen  die  Entgegengesetzten  und  die  Vereini- 
gung nicht  die  Form  Fremder  haben  können,  wären  solche,  welche 
die  Einschränkung  solcher  Kräfte  betreffen,  deren  Tätigkeit  nicht 
eine  Tätigkeit,  eine  Beziehung  gegen  andre  Menschen  ist.  Die 
Gesetze,  wenn  sie  als  bloße  bürgerliche  Gebote  wirksam  sind, 
sind  positiv,  aber  weil  sie  ihrer  Materie  nach  moralischen  gleich 
sind,  oder  weil  die  Vereinigung  Objektiver  im  Begriff  auch  eine 
nicht  objektive  voraussetzt,  oder  eine  solche  werden  kann,  so 
wäre  es  die  Aufhebung  der  Form  der  bürgerlichen  Gesetze,  wenn 
sie  zu  moralischen  gemacht  würden,  wenn  ihr  Soll  nicht  der 
Befehl  einer  fremden  Macht,  sondern  die  Folge  des  eignen  Be- 
griffes, Achtung  für  die  Pflicht  ist.  Aber  auch  diejenigen  morali- 
schen Gebote,  die  nicht  fähig  sind,  bürgerliche  zu  werden,  können 
dadurch  objektiv  werden,  daß  die  Vereinigung  (oder  Einschrän- 
kung) nicht  selbst  als  Begriff,  als  Gebot  wirkt,  sondern  als  ein  der 
eingeschränkten  Kraft  Fremdes,  obzwar  auch  Subjektives.  [Solche 
Gesetze  sind  ihrer  Natur  nach  zum  Teil  positiv,  da  sie  nur  die 
Reflexion  über  eine  einseitige,  den  übrigen  fremde  Kraft  sind  und 
also  diese  übrigen  durch  jene  entweder  ausgeschlossen  oder  be- 
herrscht sind.  Sie  können  aber  auch  durchaus  positiv  werden, 
wenn  sie  nicht  einmal  als  eine  Kraft  des  Menschen,  sondern  durch- 
aus als  eine  fremde  Macht  wirken,  wenn  der  Mensch  diesen  Herrn 
nicht  einmal  in  sich,  sondern  durchaus  außer  sich  hat.]  Diese  Art 
von  Objektivität  könnte  nur  aufgehoben  werden  durch  Wieder- 
herstellung des  Begriffs  selbst  und  der  Beschränkung  der  Tätig- 
keit durch  ihn. 

Auf  diese  Art  könnte  man  erwarten,  daß  Jesus  gegen  die  Posi- 
tivität  moralischer  Gebote,  gegen  bloße  Legalität  gearbeitet  hätte, 
daß  er  gezeigt  hätte,  das  Gesetzliche  sei  ein  Allgemeines  und  seine 
ganze  Verbindlichkeit  liege  in  seiner  Allgemeinheit,  weil  zwar 
einesteils  jedes  Sollen,  jedes  Gebotene  als  ein  Fremdes  sich  an- 
kündigt, andernteils  aber  der  Begriff  (die  Allgemeinheit)  ein  Sub- 


92  G.W.  F.  HEGEL 


jcktives  ist,  wodurch  es  als  Produkt  einer  menschlichen  Kraft,  des 
Vermögens  des  Allgemeinen,  der  Vernunft,  Objektivität,  Positivi- 
tät,  Heteronomie  verliert  und  das  Gebotene  als  in  einer  Auto- 
nomie des  menschlichen  Willens  gegründet  sich  darstellt.  Durch 
diesen  Gang  ist  aber  die  Positivität  nur  zum  Teil  weggenommen, 
[denn  das  Pflichtgebot  ist  eine  Allgemeinheit,  die  dem  Besonderen 
entgegengesetzt  bleibt],  und  zwischen  dem  tungusischen  Scha- 
manen mit  dem  Kirche  und  Staat  regierenden  europäischen  Prä- 
laten oder  dem  Mogulitzen  und  zwischen  dem  seinem  Pflicht- 
gebot gehorchenden  Puritaner  ist  nicht  der  Unterschied,  daß  jene 
sich  zu  Knechten  machten,  dieser  frei  wäre,  sondern  daß  jene 
den  Herrn  außer  sich,  dieser  aber  den  Herrn  in  sich  trägt. ^) 

Ein  Mann,  der  den  Menschen  in  seiner  Ganzheit  wieder  her- 
stellen wollte,  konnte  einen  solchen  Weg  unmöglich  einschlagen, 
der  der  Zerrissenheit  der  Menschen  nur  einen  hartsinnigen  Dünkel 
zugesellt.  Im  Geiste  der  Gesetze  handeln  konnte  ihm  nicht  heißen, 
aus  Achtung  für  die  Pflicht  mit  Widerspruch  der  Neigungen 
handeln;  denn  beide  Teile  des  Geistes  (man  kann  bei  diesem  Zer- 
rissensein des  Gemüts  nicht  anders  sprechen)  befänden  sich  ja  eben 
dadurch  gar  nicht  im  Geiste,  sondern  gegen  den  Geist  der  Gesetze, 
der  eine,  weil  er  ein  Ausschließendes,  also  von  sich  selbst  Be- 
schränktes, der  andere,  weil  er  ein  Unterdrücktes  ist,  zugleich 
aber  sein  eigner  Knecht  ist.  Für  das  Besondere,  Triebe,  Neigungen, 
pathologische  Liebe,  Sinnlichkeit,  oder  wie  man  es  nennt,  ist  das 
Allgemeine  notwendig  und  ewig  ein  Fremdes,  ein  Objektives; 
es  bleibt  eine  unzerstörbare  Positivität  übrig,  die  vollends  dadurch 
empörend  wird,  daß  der  Lihalt,  den  das  allgemeine  Pflichtgebot 
erhält,  eine  bestimmte  Pflicht,  den  Widerspruch,  eingeschränkt  und 
allgemein  zugleich  zu  sein,  enthält  und  um  der  Form  der  Allge- 
meinheit willen  für  ihre  Einseitigkeit  die  härtesten  Prätensionen 
macht.  Wehe  den  menschlichen  Beziehungen,  die  nicht  gerade 
im  Begriffe  der  Pflicht  sich  befinden,  der,  so  wie  er  nicht  bloß 
der  leere  Gedanke  der  Allgemeinheit  ist,  sondern  in  Handlung 
sich  darstellen  soll,  alle  andere  Beziehungen  ausschließt  oder  be- 
herrscht. 

Unmittelbar  gegen  Gesetze  gekehrt  zeigt  sich  dieser  über  Mo- 
ralität  erhabene  Geist  in  der  Bergpredigt,  die  ein  durch  mehrere 


DAS  LEBEN  JESU  93 


Beispiele  von  Gesetzen  durchgeführter  Versuch  ist,  den  Gesetzen 
das  Gesetzliche,  die  Form  von  Gesetzen  zu  benehmen,  der  nicht 
Achtung  für  dieselben  predigt,  sondern  dasjenige  aufzeigt,  was 
sie  erfüllt,  aber  als  Gesetze  aufhebt,  und  also  etwas  Höheres  ist 
als  der  Gehorsam  gegen  dieselben  und  sie  entbehrlich  macht. 
[Er  erklärt  gleich  anfangs,  daß  in  dem  Reiche,  das  er  zu  stiften  ge- 
kommen sei,  und  dessen  Ideal  er  den  Juden  hier  vorhalte,  alles 
das  geschehen  müsse,  was  die  Gesetze  fordern,  aber  seine  Absicht 
sei,  das  Mangelhafte  auszufüllen,  das  allem  anklebe,  was  die  Form 
von  Gesetzen  hat ;  er  fordre  eine  Gerechtigkeit  von  seinen  Freunden, 
die  vollständiger,  in  welcher  mehr  sei,  als  in  der  Gerechtigkeit  der 
Pharisäer.] 

Da  die  Pflichtgebote  eine  Trennung  voraussetzen  und  die 
Herrschaft  des  Begriffs  in  einem  Sollen  sich  ankündigt,  so  ist  da- 
gegen dasjenige,  was  über  diese  Trennung  erhaben  ist,  ein  Sein, 
eine  Modifikation  des  Lebens,  welche  nur  in  Ansehung  des  Ob- 
jekts betrachtet  ausschließend,  also  beschränkt  ist,  indem  die  Aus- 
schließung nur  durch  die  Beschränktheit  des  Objekts  gegeben  ist 
und  nur  dasselbe  betrifft.  Wenn  Jesus  auch  das,  was  er  den  Ge- 
setzen entgegen  —  und  über  sie  setzt,  als  Gebote  ausdrückt,  (Meinet 
nicht,  ich  wolle  das  Gesetz  aufheben ;  euer  Wort  sei  ja,  ja,  itein, 
nein;  ich  sage  euch  nicht  zu  widerstehen,  usw. ;  liebe  Gott  und 
deinen  Nächsten)  so  ist  diese  Wendung  in  einem  ganz  andern 
Sinne  Gebot,  als  das  Sollen  des  Pflichtgebots.  Es  ist  nur  die  Folge 
davon,  daß  das  Lebendige  gedacht,  ausgesprochen,  in  der  ihm 
fremden  Form  des  Begriffs  gegeben  wird,  da  hingegen  das  Pflicht- 
gebot seinem  Wesen  nach  als  ein  Allgemeines  ein  Begriff"  ist.  Und 
wenn  so  das  Lebendige  in  der  Form  eines  Reflektierten,  Gesagten 
gegen  Menschen  erscheint,  so  hatte  Kant  sehr  unrecht,  diese  zum 
Lebendigen  nicht  gehörige  Art  des  Ausdrucks:  «Liebe  Gott  über 
alles  und  deinen  Nächsten  als  dich  selbst»  als  ein  Gebot  anzusehen, 
welches  Achtung  für  ein  Gesetz  fordert,  das  Liebe  befiehlt.  Auf 
dieser  Verwechselung  des  Pflichtgebots,  welches  in  der  Entgegen- 
setzung des  Begriffs  und  des  Wirklichen  besteht,  und  der  ganz 
außerwesentlichen  Art,  das  Lebendige  auszusprechen,  beruht  seine 
tiefsinnige  Zurückführung  dessen,  was  er  ein  Gebot  nennt  (Liebe 
Gott  über  alles  und  deinen  Nächsten  als  dich  selbst)  auf  sein 


94  G.W.  F.  HEGEL 


Pflichtgebot.  Und  seine  Bemerkung,  daß  Liebe,  oder  in  der  Be- 
deutung, die  er  dieser  Liebe  geben  zu  müssen  meint,  (alle  Pflichten 
gerne  ausüben)  nicht  geboten  werden  könne,  fällt  von  selbst  hin- 
weg, weil  in  der  Liebe  aller  Gedanke  von  Pflichten  wegfällt.  Und 
auch  die  Ehre,  die  er  jenem  Ausspruch  Jesu  dagegen  wieder 
angedeihen  läßt,  ihn  als  das  von  keinem  Geschöpfe  erreichbare 
Ideal  der  Heiligkeit  anzusehen,  ist  ebenso  überflüssig  verschwendet ; 
denn  ein  solches  Ideal,  in  dem  die  Pflichten  als  gerne  getan  vor- 
gestellt würden,  ist  in  sich  selbst  widersprechend,  weil  Pflichten 
eine  Entgegensetzung  und  das  Gerntun  keine  Entgegensetzung 
forderten  und  er  kann  diesen  Widerspruch  ohne  Vereinigung  in 
seinem  Ideal  ertragen,  indem  er  die  vernünftigen  Geschöpfe  (eine 
sonderbare  Zusammenstellung)  jenes  Ideal  zu  erreichen  für  un- 
fähig erklärt.^) 

Jesus  fängt  die  Bergpredigt  mit  einer  Art  von  Paradoxen  an,  in 
denen  seine  volle  Seele  gegen  die  Menge  erwartender  Zuhörer 
sogleich  unzweideutig  erklärt,  daß  sie  von  ihm  etwas  ganz  Frem- 
des, einen  andern  Genius,  eine  andre  Welt  zu  erwarten  haben. 
Es  sind  Schreie,  in  denen  er  sich  begeistert  von  der  gemeinen 
Schätzung  von  Tugend  entfernt,  begeistert  ein  andres  Recht  und 
Licht,  eine  andre  Region  des  Lebens  ankündigt,  deren  Beziehung 
auf  die  Welt  nur  die  sein  könne,  von  dieser  gehaßt  und  verfolgt 
zu  werden.  In  diesem  Himmelreiche  zeigt  er  ihnen  aber  nicht 
die  Auflösung  der  Gesetze,  sondern  sie  müssen  durch  eine  Gerech- 
tigkeit erfüllt  werden,  die  eine  andere,  vollständigere  sei  als  die 
Gerechtigkeit  der  Pflicht,  eine  Ausfüllung  des  Mangelhaften  der 
Gesetze.  Er  zeigt  hierauf  dies  Ausfüllende  an  mehreren  Gesetzen. 
(Lücke  der  Handschrift) 

.  .  .  werden:  Du  sollst  lieben;  die  Liebe  selbst  spricht  dein 
Sollen  aus;  sie  ist  kein  einer  Besonderheit  entgegengesetztes  All- 
gemeines, nicht  eine  Einheit  des  Begriffs,  sondern  Einigkeit  des 
Geistes,  Göttlichkeit;  Gott  lieben  ist  sich  im  All  des  Lebens, 
schrankenlos  im  UnendHchen  fühlen.  In  diesem  Gefühle  der 
Harmonie  ist  freilich  keine  Allgemeinheit;  denn  in  der  Harmonie 
ist  das  Besondere  nicht  widerstreitend,  sondern  einkhngend,  sonst 
wäre  keine  Harmonie;  und  liebe  deinen  Nächsten  als  dich  selbst 
heißt  nicht,  ihn  so  sehr  lieben  als  sich  selbst,   denn  sich  selbst 


DAS  LEBEN  JESU  95 


lieben  ist  ein  Wort  ohne  Sinn,  sondern  liebe  ihn  als  einen,  der 
du  selbst  ist,  im  Gefühl  des  gleichen,  nicht  mächtigern,  nicht 
schwächern  Lebens. 

Erst  durch  die  Liebe  wird  die  Macht  des  Objektiven  gebrochen, 
denn  durch  sie  wird  dessen  ganzes  Gebiet  gestürzt;  die  Tugenden 
setzten  durch  ihre  Grenzen  außerhalb  derselben  immer  noch  ein 
Objektives,  und  die  Vielheit  der  Tugenden  eine  um  so  größere 
Mannigfaltigkeit  des  Objektiven.  Nur  die  Liebe  hat  keine  Grenze; 
was  sie  nicht  vereinigt  hat,  ist  ihr  nicht  objektiv;  sie  hat  es  über- 
sehen oder  noch  nicht  entwickelt;  es  steht  ihr  nicht  gegenüber. 
[Der  Lieblosigkeit  der  Juden  konnte  Jesus  nicht  geradezu  die  Liebe 
entgegenstellen,  denn  die  Lieblosigkeit  als  etwas  Negatives  muß 
sich  notwendig  in  einer  Form  zeigen,  und  diese  Form  ist  ein 
Positives,  ist  Gesetz  und  Recht;  in  dieser  rechtmäßigen  Gestalt 
tritt  sie  auch  immer  auf,  so  in  der  Geschichte  der  Maria  Magda- 
lena, im  Munde  Simons:  Wäre  dieser  ein  Prophet,  so  würde 
er  wissen,  daß  diese  eine  Sünderin  ist;  so  finden  die  Phari- 
säer es  unschicklich,  daß  er  mit  Zöllnern  und  Sündern  um- 
geht.] 

Der  Abschied,  den  Jesus  von  seinen  Freunden  nahm,  war  die 
Feier  eines  Mahls  der  Liebe.  Liebe  ist  noch  nicht  Religion,  dieses 
Mahl  also  auch  keine  eigentlich  religiöse  Handlung:  denn  nur 
eine  durch  Einbildungskraft  objektivierte  Vereinigung  in  Liebe 
kann  Gegenstand  einer  religiösen  Verehrung  sein;  bei  einem 
Mahl  der  Liebe  aber  lebt  und  äußert  sich  die  Liebe  selbst;  und 
alle  Handlungen  dabei  sind  nur  Ausdrücke  der  Liebe.  Die  Liebe 
selbst  ist  nur  als  Empfindung  vorhanden,  nicht  zugleich  als  Bild ; 
das  Gefühl  und  die  Vorstellung  desselben  sind  nicht  durch  Phan- 
tasie vereinigt.  Aber  bei  dem  Mahle  der  Liebe  kommt  doch  auch 
Objektives  vor,  an  welches  die  Empfindung  geknüpft,  aber  nicht 
in  ein  Bild  vereinigt  ist,  und  darum  schwebt  dieses  Essen  zwischen 
einem  Zusammenessen  der  Freundschaft  und  einem  religiösen 
Akt,  und  dieses  Schweben  macht  es  schwer,  seinen  Geist  deutlich 
zu  bezeichnen. 

Jesus  brach  das  Brot:  «Nehmet  hin,  dies  ist  mein  Leib,  für 
euch  gegeben,  tut's  zu  meinem  Gedächtnis.»  Desgleichen  nahm 
er  den  Kelch:   «Trinket  alle  daraus,  es  ist  mein  Blut  des  neuen 


96  G.W.  F.  HEGEL 


Testaments,  für  euch  und  für  viele  zur  Vergebung  der  Sünden 
vergossen;  tut  dies  zu  meinem  Gedächtnis!» 

Wenn  ein  Araber  eine  Tasse  Kaffee  mit  einem  Fremden  ge- 
trunken hat,  so  hat  er  damit  seinen  Freundschaftsbund  mit  ihm 
gemacht;  diese  gemeinschaftliche  Handlung  hat  sie  verknüpft, 
und  durch  diese  Verknüpfung  ist  der  Araber  zu  aller  Treue  und 
Hülfe  mit  ihm  verbunden.  Das  gemeinschaftUche  Essen  und 
Trinken  ist  hier  nicht  das,  was  man  ein  Zeichen  nennt.  Die 
Verbindung  zwischen  Zeichen  und  Bezeichnetem  ist  nicht  selbst 
geistig,  Leben;  es  ist  ein  objektives  Band;  Zeichen  und  Bezeich- 
netes sind  einander  fremd  und  ihre  Verbindung  ist  außer  ihnen 
nur  in  einem  Dritten  und  eine  gedachte.  Mit  jemand  essen  und 
trinken  ist  ein  Akt  der  Vereinigung,  eine  gefühlte  Vereinigung 
selbst,  nicht  ein  konventionelles  Zeichen.  Es  wird  gegen  die 
Empfindung  natürlicher  Menschen  sein,  die  Feinde  sind,  ein  Glas 
Wein  miteinander  zu  trinken;  dem  Gefühl  der  Gemeinschaft  in 
dieser  Handlung  würde  ihre  sonstige  Stimmung  gegeneinander 
widersprechen. 

Das  gemeinschaftliche  Nachtessen  Jesu  und  seiner  Jünger  ist 
an  sich  schon  ein  Akt  der  Freundschaft.  Noch  verknüpfender  ist 
das  feierliche  Essen  vom  gleichen  Brote,  das  Trinken  aus  dem 
gleichen  Kelche;  auch  dies  ist  nicht  ein  bloßes  Zeichen  der 
Freundschaft,  sondern  ein  Akt,  eine  Empfindung  der  Freund- 
schaft selbst,  des  Geistes  der  Liebe.  Aber  das  Weitere,  die  Er- 
klärung Jesu:  «Dies  ist  mein  Leib,  dies  ist  mein  Blut»,  nähert  die 
Handlung  einer  religiösen,  aber  macht  sie  nicht  dazu.  Diese  Er- 
klärung und  die  damit  verbundene  Handlung  der  Austeilung  der 
Speise  und  des  Trankes  macht  die  Empfindung  zum  Teil  objektiv; 
die  Gemeinschaft  mit  Jesu,  ihre  Freundschaft  gegeneinander  und 
die  Vereinigung  derselben  in  ihrem  Mittelpunkte,  ihrem  Lehrer, 
wird  nicht  bloß  gefühlt,  sondern,  indem  Jesus  das  an  alle  auszu- 
teilende Brot  und  Wein  seinen  für  sie  gegebenen  Leib  und  Blut 
nennt,  so  ist  die  Vereinis^ung  nicht  mehr  bloß  empfunden,  son- 
dern  sie  ist  sichtbar  geworden ;  sie  wird  nicht  nur  in  einem  Bilde, 
einer  allegorischen  Figur  vorgestellt,  sondern  an  ein  Wirkliches 
geknüpft,  in  einem  Wirklichen,  dem  Brote,  gegeben  und  genossen. 
Einerseits  wird  also  die  Empfindung  objektiv,  andererseits  aber  ist 


DAS  LEBEN  JESU  97 


dies  Brot  und  Wein  und  die  Handlung  des  Austeilens  zugleich 
nicht  bloß  objektiv;  es  ist  mehr  in  ihr,  als  gesehen  wird;  sie  ist 
eine  mystische  Handlung.  Der  Zuschauer,  der  ihre  Freundschaft 
nicht  gekannt  und  die  Worte  jesu  nicht  verstanden  hätte,  hätte  nichts 
gesehen  als  das  Austeilen  von  etwas  Brot  und  Wein  und  das  Ge- 
nießen derselben;  sowie,  wenn  scheidende  Freunde  einen  Ring  bra- 
chen, und  jeder  ein  Stück  behielt,  der  Zuschauer  nichts  sieht,  als  das 
Zerbrechen  eines  brauchbaren  Ringes  und  das  Teilen  in  unbrauch- 
bare, wertlose  Stücke;  das  Mystische  der  Stücke  hat  er  nicht  gefaßt. 
So  ist,  objektiv  betrachtet,  das  Brot  bloßes  Brot,  der  Wein  bloßer 
Wein ;  aber  beide  sind  auch  noch  mehr.  Dieses  Mehr  hängt  nicht 
mit  den  Objekten  als  eine  Erklärung,  durch  ein  bloßes  Gleichwie, 
zusammen:  «Gleichwie  die  vereinzelten  Stücke,  die  ihr  esset,  von 
einem  Brot,  der  Wein,  den  ihr  trinket,  aus  dem  gleichen  Kelche 
ist,  so  seid  ihr  zwar  Besondere,  aber  in  der  Liebe,  im  Geiste,  eins; 
—  gleichwie  ihr  alle  teilnehmet  an  diesem  Brot  und  Wein,  so 
nehmet  ihr  auch  alle  an  meiner  Aufopferung  teil»,  oder  welche 
Gleichwies  man  darin  finden  mag.  Der  Zusammenhang  des 
Objektiven  und  des  Subjektiven,  des  Brotes  und  der  Personen  ist 
nicht  der  Zusammenhang  des  Verglichenen  mit  dem  Gleichnis, 
der  Parabel,  in  welcher  das  Verschiedene,  Verglichene  als  ge- 
schieden, als  getrennt  aufgestellt  wird,  und  nur  Vergleichung,  das 
Denken  der  Gleichheit  Verschiedener  gefordert  wird.  Denn  in 
dieser  Verbindung  fällt  die  Verschiedenheit  weg,  also  auch  die 
Möglichkeit  der  Vergleichung.  In  der  Parabel  ist  die  Forderung 
nicht,  daß  die  verschiedenen  Zusammengestellten  in  Eins  gefaßt 
würden ;  hier  aber  soll  das  Ding  und  die  Empfindung  sich  ver- 
binden. Die  Heterogenen  sind  aufs  innigste  verknüpft.  In  dem 
Ausdruck  (Joh.  VI,  56):  «Wer  mein  Fleisch  ißt  und  mein  Blut 
trinkt,  bleibt  in  mir  und  ich  in  ihm»,  oder  (Joh.  X,  7):  «Ich  bin 
die  Türe»  und  ähnlichen  harten  Zusammenstellungen  muß  in  der 
Vorstellung  das  Verbundene  notwendig  in  verschiedene  Ver- 
glichene getrennt  und  die  Verbindung  als  eine  Vergleichung  an- 
gesehen werden.  Hier  aber  werden  (wie  die  mystischen  Stücke 
des  Rings)  Wein  und  Brot  mystische  Objekte,  indem  Jesus  sie 
seinen  Leib  und  Blut  nennt  und  ein  Genuß,  eine  Empfindung 
unmittelbar  sie  begleitet.     Er  zerbrach  das  Brot,  gab  es  seinen 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  7 


98  G.W.  F.  HEGEL 


Freunden:  «Nehmet,  esset;  dies  ist  mein  Leib,  für  euch  hinge- 
geben»; so  auch  den  Kelch:  ^< Trinket  alle  daraus;  dies  ist  mein 
Blut,  das  Blut  des  neuen  Bundes,  über  viele  ausgegossen  zur  Er- 
lassung der  Sünden.  Nicht  nur  der  Wein  ist  Blut,  auch  das  Blut 
ist  Geist,  der  gemeinschaftliche  Becher,  das  gemeinschaftliche 
Trinken  der  Geist  eines  neuen  Bundes,  der  viele  durchdringt,  in 
welchem  viele  Leben  zur  Erhebung  über  ihre  Sünden  trinken 
und  von  diesem  Gewächs  des  Weinstocks  werde  ich  nicht  mehr 
trinken  bis  auf  jenen  Tag  der  Vollendung,  wenn  ich  ein  neues 
Leben  in  dem  Reiche  meines  Vaters  mit  euch  trinken  werde.» 
Der  Zusammenhang  des  ausgegossenen  Blutes  und  der  Freunde 
Jesu  ist  nicht,  daß  es  als  ein  ihnen  Objektives  zu  ihrem  Besten, 
zu  einem  Nutzen  für  sie  vergossen  wäre,  sondern  (wie  im  Aus- 
druck: wer  mein  Fleisch  ißt  und  mein  Blut  trinkt)  ist  das  \'er- 
hältnis  des  Weins  zu  ihnen,  den  alle  aus  demselben  Kelche 
trinken,  der  für  alle,  und  derselbe  ist.  Sie  sind  alle  Trinkende, 
ein  gleiches  Gefühl  ist  in  allen,  vom  gleichen  Geiste  der  Liebe 
sind  alle  durchdrungen.  Wäre  ein  aus  einer  Hingebung  des  Leibes 
und  Vergießung  des  Blutes  entstandener  Vorteil,  Wohltat  das- 
jenige, worin  sie  gleichgesetzt  wären,  so  wären  sie  in  dieser  Rück- 
sicht nur  im  gleichen  Begriffe  vereinigt.  Indem  sie  aber  das  Brot 
essen  und  den  Wein  trinken,  sein  Leib  und  sein  Blut  in  sie  über- 
geht, so  ist  Jesus  in  allen  und  sein  Wesen  hat  sie  göttlich,  als 
Liebe,  durchdrungen.  So  ist  das  Brot  und  der  Wein  nicht  bloß 
für  den  Verstand  ein  Objekt,  die  Handlung  des  Essens  und  Trin- 
kens nicht  bloß  eine  durch  Vernichtung  derselben  mit  sich  ge- 
schehene Vereinigung,  noch  die  Empfindung  ein  bloßer  Ge- 
schmack der  Speise  und  des  Trankes;  der  Geist  Jesu,  in  dem  seine 
Jünger  eins  sind,  ist  für  das  äußere  Gefühl,  als  Objekt  gegen- 
wärtig, ein  Wirkliches  geworden. 

Aber  die  objektiv  gemachte  Liebe,  dies  zur  Sache  gewordene 
Subjektive  kehrt  zu  seiner  Natur  wieder  zurück,  wird  im  Essen 
wieder  subjektiv.  Diese  Rückkehr  kann  etwa  in  dieser  Rücksicht 
mit  dem  im  geschriebenen  Worte  zum  Dinge  gewordenen  Ge- 
danken verglichen  werden,  der  aus  einem  Toten,  einem  Objekte, 
im  Lesen  seine  Subjektivität  wieder  erhält.  Die  \'ergleichung 
wäre  treffender,  wenn  das  geschriebene  Wort  aufgelesen  würde. 


DAS  LEBEN  JESU  99 


durch  das  Verstehen  als  Ding  verschwände,  so  wie  im  Genüsse 
des  Brotes  und  Weines  von  diesen  mystischen  Objekten  nicht 
bloß  die  Empfindung  erweckt,  der  Geist  lebendig  wird,  sondern 
sie  selbst  als  Objekte  verschwinden.  Und  so  scheint  die  Handlung 
reiner,  ihrem  Objekte  gemäßer,  indem  sie  nur  Geist,  nur  Emp- 
findung gibt,  und  dem  Verstände  das  Seinige  raubt,  die  Materie, 
das  Seelenlose  zernichtet.  Wenn  Liebende  vor  dem  Altar  der 
Göttin  der  Liebe  opfern  und  das  betende  Ausströmen  ihres  Ge- 
fühls ihr  Gefühl  zur  höchsten  Flamme  begeistert,  so  ist  die  Göttin 
selbst  in  ihre  Herzen  eingekehrt,  aber  das  Bild  von  Stein  bleibt 
immer  vor  ihnen  stehen,  da  hingegen  im  Mahl  der  Liebe  das 
Körperliche  vergeht  und  nur  lebendige  Empfindung  vorhanden  ist. 
Aber  gerade  diese  Art  von  Objektivität,  die  ganz  aufgehoben 
wird,  indem  die  Empfindung  bleibt,  diese  Art  mehr  einer  objek- 
tiven Vermischung  als  einer  Vereinigung,  daß  die  Liebe  in  etwas 
sichtbar,  an  etwas  geheftet  wird,  das  zernichtet  werden  soll,  — 
ist  es,  was  die  Handlung  nicht  zu  einer  religiösen  werden  ließ. 
Das  Brot  soll  gegessen,  der  Wein  getrunken  werden;  sie  können 
darum  nichts  Göttliches  sein.  Was  sie  auf  der  einen  Seite  voraus 
haben,  daß  die  Empfindung,  die  an  sie  geheftet  ist,  wieder  von 
ihrer  Objektivität  zu  ihrer  Natur  gleichsam  zurückkehrt,  das 
mystische  Objekt  wieder  zu  einem  bloß  Subjektiven  wird,  das 
verlieren  sie  eben  dadurch,  daß  die  Liebe  durch  sie  nicht  objektiv 
genug  wird.  Etwas  Göttliches  kann  nicht,  indem  es  göttlich  ist, 
in  der  Gestalt  eines  zu  Essenden  und  zu  Trinkenden  vorhanden 
sein.  [Der  Moment  der  Göttlichkeit  könnte  nur  augenblicklich 
sein,  so  lange  die  Phantasie  die  schwere  Aufgabe  erfüllen  kann, 
in  dem  Dinge  die  Liebe  festzuhalten,  und  in  ihrem  Anschauen  ist 
man  zugleich  von  dem  Gefühl  ewiger  Jugendkraft  und  der  Liebe 
durchdrungen.]  Es  ist  immer  zweierlei  vorhanden,  der  Glaube 
und  das  Ding,  die  Andacht  und  das  Sehen  oder  Schmecken. 
Im  Glauben  ist  der  Geist  gegenwärtig,  in  dem  Sehen  oder 
Schmecken  das  Brot  und  Wein;  es  gibt  keine  Vereinigung  für 
sie.  In  der  symbolischen  Handlung  soll  das  Essen  und  Trinken 
und  das  Gefühl  des  Einsseins  in  Jesu  Geist  zusammenfließen. 
Aber  das  Ding  und  die  Empfindung,  der  Geist  und  die  Wirklich- 
keit vermischen  sich  nicht.   Die  Phantasie  kann  sie  nie  in  einem 


100  G.W.  F.  HEGEL 


Schönen  zusammenfassen;  das  angeschaute  und  genossene  Brot 
und  Wein  können  nie  die  Empfindung  der  Liebe  erwecken,  und 
diese  Empfindung  kann  sich  nie  weder  in  ihnen  als  angeschauten 
Objekten  finden,  so  wie  sie  auch  dem  Gefühl  des  wirklichen  Auf- 
nehmcns  in  sich,  ihres  Subjektivwerdens,  des  Essens  und  Trinkens 
widerspricht.  In  einem  Apoll,  einer  Venus  muß  man  wohl  den 
Marmor,  den  zerbrechlichen  Stein  vergessen,  und  sieht  in  ihrer 
Gestalt  nur  die  Unsterblichen.  Aber  reibt  die  Venus,  den  Apoll 
zu  Staub  und  sprecht:  Dies  ist  Apoll,  dies  Venus;  so  ist  wohl  vor 
mir  der  Staub  und  das  Bild  der  Götter  in  mir;  aber  der  Staub  und 
das  Göttliche  treten  nimmer  in  Eins  zusammen.  Das  Verdienst 
des  Staubes  bestand  in  seiner  Form,  dieses  ist  verschwunden,  er 
ist  jetzt  die  Hauptsache;  das  Verdienst  des  Brotes  bestand  in  seinem 
mystischen  Sinne,  aber  zugleich  in  seiner  Eigenschaft,  daß  es 
Brot,  eßbar  ist;  auch  in  der  Verehrung  soll  es  als  Brot  vorhanden 
sein.  Vor  dem  zu  Staube  geriebenen  Apoll  bleibt  die  Andacht, 
aber  sie  kann  sich  nicht  an  den  Staub  wenden.  Der  Staub  kann 
an  die  Andacht  erinnern,  aber  nicht  sie  auf  sich  ziehen.  Es  ent- 
steht ein  Bedauern;  dies  ist  die  Empfindung  dieser  Scheidung, 
dieses  Widerspruchs,  wie  die  Traurigkeit  bei  der  Unvereinbarkeit 
des  Leichnams  und  die  Vorstellung  der  lebendigen  Kräfte.  Der 
Verstand  widerspricht  der  Empfindung,  die  Empfindung  dem 
Verstände;  für  die  Einbildungskraft,  in  welcher  beide  aufgehoben 
sind,  ist  nichts  zu  tun;  sie  hat  hier  kein  Bild,  worin  sich  An- 
schauung und  Gefühl  vereinigten. 

Nach  dem  Nachtmahl  der  Jünger  entstand  ein  Kummer  wegen 
des  bevorstehenden  Verlustes  ihres  Meisters;  aber  nach  echt 
religiöser  Handlung  ist  die  ganze  Seele  befriedigt,  und  nach  dem 
Genüsse  des  Abendmahls  unter  den  jetzigen  Christen  entsteht  ein 
andächtiges  Staunen  ohne  Heiterkeit  oder  mit  einer  wehmütigen 
Heiterkeit,  denn  die  geteilte  Spannung  der  Empfindung  und  der 
Verstand  waren  einseitig,  die  Andacht  unvollständig.  Es  war 
etwas  Göttliches  versprochen  und  es  ist  im  Munde  zerronnen. 


(Lücke  der  Handschrift)  welchem  Zwecke  denn  alles  Übrige 
dient,  nichts  im  Kampfe  mit  diesem,  in  gleichem  Rechte  steht; 


DAS  LEBEN  JESU  loi 


wie  z.  B.  Abraham  sich  und  seine  FamiUe  und  nachher  sein  Volk, 
oder  die  ganze  Christenheit  sich  zum  Endzweck  setzt.  Aber  je 
weiter  dieses  Ganze  ausgedehnt,  je  mehreres  in  die  Gleichheit  der 
Abhängigkeit  versetzt  wird,  wenn  der  Kosmopolit  das  ganze 
Menschengeschlecht  in  seinem  Ganzen  begreift,  so  kommt  von 
der  Herrschaft  über  die  Objekte  und  von  der  Gunst  des  regierenden 
Wesens  desto  weniger  auf  einen.  Jeder  Einzelne  verliert  um  so 
mehr  an  seinem  Wert,  an  seinen  Ansprüchen,  seiner  Selb- 
ständigkeit, denn  sein  Wert  war  der  Anteil  an  der  Herrschaft. 
Ohne  den  Stolz,  der  Mittelpunkt  der  Dinge  zu  sein,  ist  ihm  der 
Zweck  des  kollektiven  Ganzen  das  Höchste  und  er  verachtet  sich 
als  einen  so  kleinen  Teil,  wie  alle  Einzelne. 

Weil  diese  Liebe  um  des  Toten  willen  nur  mit  Stoff  umgeben, 
der  Stoff  an  sich  ihr  gleichgültig  ist,  und  ihr  Wesen  darin  besteht, 
daß  der  Mensch  in  seiner  innersten  Natur  ein  Entgegengesetztes, 
Selbständiges  ist,  daß  ihm  alles  Außenwelt  ist,  welche  also  so 
ewig  ist  als  er  selbst,  so  wechseln  zwar  seine  Gegenstände,  aber 
sie  fehlen  ihm  nie;  so  gewiß  er  ist,  sind  sie  und  seine  Gottheit. 
Daher  seine  Beruhigung  bei  Verlust  und  sein  gewisser  Trost, 
daß  der  Verlust  ihm  ersetzt  werde,  weil  er  ihm  ersetzt  werden 
kann. 

Die  Materie  ist  auf  diese  Art  für  den  Menschen  absolut;  aber 
freilich,  wenn  er  selbst  nimmer  wäre,  so  wäre  auch  nichts  mehr 
für  ihn,  und  warum  müßte  er  auch  sein?  Daß  er  sein  möchte,  ist 
sehr  begreiflich;  denn  außer  seiner  Sammlung  von  Beschränkt- 
heiten, seinem  Bewußtsein  liegt  nicht  die  in  sich  vollendete,  ewige 
Vereinigung,  [sondern]  nur  das  dürre  Nichts;  aber  in  diesem  sich 
zu  denken  kann  freilich  der  Mensch  nicht  ertragen.  Er  ist  nur 
als  Entgegengesetztes;  das  Entgegengesetzte  ist  sich  gegenseitig 
Bedingung  und  Bedingtes;  er  muß  sich  außer  seinem  Bewußtsein 
denken.  Weder  ein  Bedingtes  ohne  ein  Bestimmendes  und  um- 
gekehrt; keins  ist  unbedingt,  keins  trägt  die  Wurzel  seines  Wesens 
in  sich;  jedes  ist  nur  relativ  notwendig;  das  eine  ist  für  das  andere, 
und  also  auch  für  sich,  nur  durch  eine  fremde  Macht;  das  andere 
ist  ihm  durch  ihre  Gunst  und  Gnade  zugeteilt;  es  ist  überall  in 
einem  Fremden  ein  unabhängiges  Sein,  von  welchem  Fremden 
dem  Menschen  alles  geschenkt  ist,  und  dem  er  sich  und  [seine] 


102  G.W.  F.  HEGEL 


Unsterblichkeit  zu  danken  haben  muß,  um  welche  er  mit  Zittern 
und  Zagen  bettelt. 

Wahre  Vereinigung,  eigentliche  Liebe  findet  nur  unter  Leben- 
digen statt,  die  an  Macht  sich  gleich  und  also  durchaus  fürein- 
ander Lebendige,  von  keiner  Seite  gegen  einander  Tote  sind. 
Sie  schließt  alle  Entgegensetzungen  aus;  sie  ist  nicht  Verstand, 
dessen  Beziehungen  das  Mannigfaltige  immer  als  ein  Mannig- 
faltiges lassen,  und  dessen  Einheit  selbst  Entgegensetzung  ist;  sie 
ist  nicht  Vernunft,  die  ihr  Bestimmen  dem  Bestimmten  schlecht- 
hin entgegensetzt;  sie  ist  nichts  Begrenzendes,  nichts  Begrenztes, 
nichts  Endliches;  sie  ist  ein  Gefühl,  aber  nicht  ein  einzelnes  Ge- 
fühl ;  aus  dem  einzelnen  Gefühl  drängt  sich  das  Leben  durch  Auf- 
lösung zur  Zerstreuung  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Gefühle,  um 
sich  in  diesem  Ganzen  der  Mannigfaltigkeit  zu  finden;  in  der 
Liebe  ist  dieses  Ganze  nicht  als  in  der  Summe  vieler  Besonderen 
enthalten ;  in  ihr  findet  sich  das  Leben  selbst  als  eine  Verdoppelung 
seiner  selbst  und  Einigkeit  desselben.  Das  Leben  hat  von  der  un- 
enrsvickelten  Einigkeit  aus  durch  die  Bildung  den  Kreis  zu  einer 
vollendeten  Einigkeit  durchlaufen.  Der  unentwickelten  Einigkeit 
stand  die  Möglichkeit  der  Trennung  und  die  Welt  gegenüber. 
In  der  Entwicklung  produzierte  die  Reflexion  immer  mehr  Ent- 
gegengesetztes, das  im  befriedigten  Triebe  vereinigt  wurde,  bis  sie 
das  Ganze  des  Menschen  selbst  ihm  entgegensetzte,  bis  die  Liebe 
die  Reflexion  in  völliger  Objektlosigkeit  aufhebt,  dem  Entgegen- 
gesetzten allen  Charakter  eines  Fremden  raubt  und  das  Leben  sich 
selbst  ohne  weiteren  Mangel  findet.  In  der  Liebe  ist  das  Getrennte 
noch,  aber  nicht  mehr  als  Getrenntes,  sondern  als  Einiges  und 
das  Lebendige  fühlt  das  Lebendige. 

Weil  die  Liebe  ein  Gefühl  des  Lebendigen  ist,  so  können 
Liebende  sich  nur  insofern  unterscheiden,  als  sie  sterblich  sind, 
als  sie  die  Möghchkeit  der  Trennung  denken,  nicht  insofern  als 
wirklich  ervs^as  getrennt  wäre,  als  das  Mögliche  mit  einem  Sein 
verbunden,  ein  Wirkliches  wäre.  An  Liebenden  ist  keine  Materie, 
sie  sind  ein  lebendiges  Ganze.  Liebende  haben  keine  Selbständig- 
keit, ihr  eignes  Lebensprinzip  heißt  nur:  sie  können  sterben.  Die 
Pflanze  hat  Salz  und  Erdteile,  die  eigne  Gesetze  ihrer  Wirkungsart  in 
sich  tragen,  ihr  Lebensprinzip  ist  die  Reflexion  eines  Fremden  und 


DAS  LEBEN  JESU  103 


heißt  nur:  die  Pflanze  kann  verwesen.  Die  Liebe  strebt  aber  auch 
diese  Unterscheidung,  diese  MögUchkeit  als  bloße  Möglichkeit  auf- 
zuheben und  selbst  das  Sterbliche  zu  vereinigen,  es  unsterblich  zu 
machen,  indem  sie  unendliche  Vereinigungen  sich  ausfindet,  an 
die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Natur  sich  wendet.  Diesen  Reich- 
tum des  Lebens  erwirbt  die  Liebe  in  der  Auswechselung  aller 
Gedanken,  aller  Mannigfaltigkeiten  der  Seele,  indem  sie  unend- 
liche Unterschiede  sucht.  Das  Eigenste,  das  noch  Getrennte  ver- 
einigt sich  in  der  Berührung,  in  der  Befühlung  bis  zur  Bewußt- 
losigkeit, der  Aufhebung  aller  Unterscheidung.  Das  Sterbliche 
hat  den  Charakter  der  Trennbarkeit  abgelegt  und  ist  ein  Keim  der 
Unsterblichkeit,  ein  Keim  des  ewig  aus  sich  Entwickelnden  und 
Zeugenden,  ein  Lebendiges  geworden.  Das  Vereinigte  trennt  sich 
nicht  wieder,  denn  in  der  Vereinigung  ist  nicht  ein  Entgegen- 
gesetztes behandelt  worden;  sie  ist  rein  von  aller  Trennung;  die 
Gottheit  hat  gewirkt,  erschaffen. 

Dieses  Vereinigte  aber  ist  nur  ein  Punkt,  der  Keim ;  die  Lieben- 
den können  ihm  nicht  zuteilen,  daß  in  ihm  ein  Mannigfaltiges 
sich  befände.  Alles,  wodurch  es  ein  Mannigfaltiges  sein,  ein  Da- 
sein haben  kann,  muß  das  Neugezeugte  in  sich  gezogen,  entge- 
gengesetzt und  vereinigt  haben.  Es  windet  sich  immer  mehr  zur 
Entgegensetzung  los;  jede  Stufe  seiner  Entwickelung  ist  eine 
Trennung,  um  wieder  den  ganzen  Reichtum  des  Lebens  zu  ge- 
winnen. Und  so  ist  nun  das  Einige  die  Getrennten  und  das 
Wiedervereinigte;  die  Vereinigten  trennen  sich  wieder,  aber  im 
Kinde  ist  die  Vereinigung  selbst  ungetrennt.  [Aus  dem  Vereinigten 
geht  es  durch  ein  feindliches,  durchs  Animalische  zum  Menschen- 
leben. Das  Trennbare  aber  kehrt  in  den  Zustand  der  Trennbar- 
keit zurück;  aber  was  vom  bestimmten  Bewußtsein  noch  getrennt 
war,  wird  alles  auf  die  Seite  geschafft,  wird  ausgeglichen,  wird 
ausgewechselt.] 

Das  Trennbare,  so  lange  es  vor  der  vollständigen  Vereinigung 
noch  ein  Eignes  ist,  macht  den  Liebenden  Verlegenheit.  Es  ist 
eine  Art  von  Widerstreit  zwischen  der  völligen  Hingebung,  der 
einzig  möglichen  Vernichtung,  der  Vernichtung  des  Entgegen- 
gesetzten in  der  Vereinigung,  und  der  noch  vorhandenen  Selb- 
ständigkeit; jene  fühlt  sich  durch  diese  gehindert.    Die  Liebe  ist 


104  G.W.  F.  HEGEL 


unwillig  über  das  noch  Getrennte,  über  ein  Eigentum.  Dieses 
Zürnen  der  Liebe  über  Individualität  ist  die  Scham.  Sie  ist  nicht 
ein  Zucken  des  Sterblichen,  nicht  eine  Äußerung  der  Freiheit, 
sich  zu  erhalten,  zu  bestehen.  Bei  einem  Angriff  ohne  Liebe  wird 
ein  liebevolles  Gemüt  durch  diese  Feindseligkeit  selbst  beleidigt; 
seine  Scham  wird  zum  Zorn,  der  jetzt  nur  das  Eigentum,  das 
Recht  verteidigt.  Wäre  die  Scham  nicht  eine  Wirkung  der  Liebe, 
die  nur  darüber,  daß  etwas  Feindseliges  ist,  die  Gestalt  des  Un- 
willens hat,  sondern  ihrer  Natur  nach  selbst  etwas  Feindseliges, 
das  ein  angreifbares  Eigentum  behaupten  wollte,  so  müßte  man 
von  den  Tyrannen  sagen,  sie  haben  am  meisten  Scham,  so  wie 
von  Mädchen,  die  ohne  Geld  ihre  Reize  nicht  preisgeben,  oder 
von  den  eiteln,  die  durch  sie  fesseln  wollen.  Beide  lieben  nicht; 
ihre  Verteidigung  des  Sterblichen  ist  das  Gegenteil  des  Unwillens 
über  dasselbe;  sie  legen  ihm  in  sich  einen  Wert  bei,  sie  sind 
schamlos.  Ein  reines  Gemüt  schämt  sich  der  Liebe  nicht;  es 
schämt  sich  aber,  daß  diese  nicht  vollkommen  ist.  Sie  wirft  es 
sich  vor,  daß  noch  eine  Macht,  ein  Feindliches  ist,  das  der  Voll- 
endung Hindernisse  macht.  Die  Scham  tritt  nur  ein  durch  die 
Erinnerung  an  den  Körper,  durch  persönliche  Gegenwart,  beim 
Gefühle  der  Individualität;  sie  ist  nicht  eine  Furcht  für  das 
Sterbliche,  Eigne,  sondern  vor  demselben,  die,  so  wie  die  Liebe 
das  Trennbare  vermindert,  mit  ihm  verschwindet.  Denn  die 
Liebe  ist  stärker  als  die  Furcht;  sie  fürchtet  ihre  Furcht  nicht; 
aber  von  ihr  begleitet  hebt  sie  Trennungen  auf,  mit  der  Besorgnis, 
eine  widerstehende,  gar  eine  feste  Entgegensetzung  zu  finden; 
sie  ist  ein  gegenseitiges  Nehmen  und  Geben.  Schüchtern,  ihre 
Gaben  möchten  verschmäht,  schüchtern,  ihrem  Nehmen  möchte 
ein  Entgegengesetztes  nicht  weichen,  versucht  sie,  ob  die  Hoffnung 
sie  nicht  getäuscht,  ob  sie  sich  selbst  durchaus  findet.  Dasjenige, 
das  nimmt,  wird  dadurch  nicht  reicher,  als  das  andere;  es  be- 
reichert sich  zwar,  aber  um  eben  so  viel  das  andere;  ebenso  das- 
jenige, das  gibt,  macht  sich  nicht  ärmer;  indem  es  dem  andern 
gibt,  hat  es  um  eben  so  viel  seine  eigenen  Schätze  vermehrt. 
Julie  in  Romeo:  «Je  mehr  ich  gebe,  desto  mehr  habe  ich  usw.»*') 
Diese  Vereinigung  der  Liebe  ist  zwar  vollständig,  aber  sie  kann 
es  nur  so  weit  sein,  als  das  Getrennte  nur  so  entgegengesetzt  ist. 


DAS  LEBEN  JESU  105 


daß  das  eine  das  Liebende,  das  andere  das  Geliebte  ist,  daß  also 
jedes  Getrennte  ein  Organ  eines  Lebendigen  ist.  Außerdem 
stehen  die  Liebenden  aber  noch  mit  vielem  Toten  in  Verbindung; 
jedem  gehören  viele  Dinge  zu,  d.  h.  jedes  steht  in  Beziehung  mit 
Entgegengesetzten,  die  auch  für  das  Beziehende  selbst  noch  Ent- 
gegengesetzte, Objekte  sind,  und  so  sind  sie  noch  einer  mannig- 
faltigen Entgegensetzung  in  dem  mannigfaltigen  Erwerb  und  Be- 
sitz von  Eigentum  und  Recht  fähig.  Das  unter  der  Gewalt  des 
einen  befindliche  Tote  ist  beiden  entgegengesetzt,  und  es  könnte 
nur  die  Vereinigung  darüber  stattfinden,  daß  es  unter  die  Herr- 
schaft beider  käme.  Das  Liebende,  daß  das  andere  im  Besitze 
eines  Eigentums  erblickt,  diese  Besonderheit  des  andern,  die  es 
gewollt  hat,  selbst  fühlt,  kann  diese  ausschließliche  Herrschaft 
des  andern  nicht  aufheben,  denn  dies  wäre  wieder  eine  Entgegen- 
setzung gegen  [die  Macht  des  andern.  In  diesem  Falle  scheut 
sich  das  Ärmere,  dem  Reichern  zu  nehmen,  sich  in  gleichen  Be- 
sitz mit  ihm  zu  setzen,  weil  dieses  selbst  eine  Handlung  des  Ent- 
gegensetzens getan,  sich  außer  den  Kreis  der  Liebe  gesetzt,  seine 
Selbständigkeit  bewiesen  hat] ;  aber  dieser  Furcht,  die  sein  Eigen- 
tum erweckt,  kommt  das  Besitzende  dadurch  zuvor,  daß  es  sein 
Recht  des  Eigentums,  das  ihm  gegen  jedermann  zukommt,  selbst 
gegen  das  Liebende  aufhebt,  [ihm  schenkt]. 

[Geschenke  sind  Entäußerungen  einer  Sache,  die  schlechter- 
dings den  Charakter  eines  Objekts  nicht  verlieren  kann.  Nur  das 
Gefühl  der  Liebe,  der  Genuß  ist  gemeinschaftlich ;  was  Mittel  des 
Genusses,  tot  ist,  ist  nur  Eigentum,  und  da  die  Liebe  nichts  Ein- 
seitiges tut,  so  kann  sie  nichts  nehmen,  was  auch  in  der  Bemäch- 
tigung, in  der  Vereinigung  der  Herrschaft  noch  ein  Mittel,  ein 
Eigentum  bleibt.  Ein  Ding,  etwas,  das  außer  dem  Gefühl  der 
Liebe  ist,  kann  nicht  gemeinschaftlich  sein,  eben  weil  es  ein  Ding 
ist,  und  sollte  das  Haben  eines  Dinges  gemeinschaftlich  sein,  hätte 
das  Besitzende  sein  Recht  und  ausschließendes  Eigentum  zwar 
aufgegeben,  so  gehört  es  entweder  keinem  der  Liebenden,  oder 
jedem  gehört  ein  besonderer  Teil.  Gütergemeinschaft  heißt  das 
Recht  eines  jeden  an  das  Ding,  der  entweder  gleiche  oder  unbe- 
stimmte Anteil.  Sie  setzt  immer  eine  Teilung,  und  zwar  Not- 
wendigkeit dieser  Teilung,  Besonderes,  Rechte,  Eigentum  zwar 


io6  G.W.  F.  HEGEL 


nicht  der  ruhenden  Mittel,  des  Ungenutzten,  Toten,  aber  eine 
notwendige  Teilung  desselben  in  dem  Gebrauch  voraus.  Durch 
jene  Nichtabsonderung  des  Eigentums  täuscht  die  Gütergemein- 
schaft mit  einem  Schein  der  völligen  Aufhebung  der  Rechte. 
In  der  Gütergemeinschaft  sind  die  Sachen  kein  Eigentum,  aber 
es  ist  in  ihr  das  Recht  an  einen  Teil  derselben  versteckt,  so  lange 
er  nicht  gebraucht  ist,  und  im  Grunde  ist  auch  ein  Recht  an  den 
Teil  des  Eigentums,  der  nicht  unmittelbar  gebraucht  wird,  beibe- 
halten, nur  wird  davon  stillgeschwiegen.  Danach  ist  die  gewöhn- 
liche Art,  unter  Liebenden  die  Rechte  der  Liebenden  auf  Sachen 
(Personenrecht  schließt  sich  schon  durch  seinen  Namen  von  der 
Liebe  als  ein  ihr  abscheulicher  Dienst  aus)  gegenseitig  aufzuheben, 
und  dies  als  einen  Beweis  der  Liebe  anzusehen,  zu  beurteilen.] 
Wenn  der  Besitz  und  Eigentum  einen  so  wichtigen  Teil  des 
Menschen,  seine  Sorgen  und  Gedanken  ausmacht,  so  können 
auch  Liebende  sich  nicht  enthalten,  auf  diese  Seite  ihrer  Verhält- 
nisse zu  reflektieren;  und  wenn  schon  der  Gebrauch  gemein- 
schaftlich ist,  so  würde  damit  das  Recht  am  Besitz  unentschieden 
bleiben.  Der  Gedanke  des  Rechts  würde  nichts  vergessen, 
weil  alles,  in  dessen  Besitz  jetzt  die  Menschen  sind,  die  Rechts- 
form des  Eigentums  hat;  setzt  aber  das  Besitzende  das  andere 
auch  ins  gleiche  Recht  des  Besitzes,  so  ist  doch  die  Gütergemein- 
schaft nur  das  Recht  von  beiden  an  das  Ding.  (Lücke  der  Hand- 
schrift) 

.  .  .  Der  Druck  erweckte  wieder  den  Haß,  und  damit  wachte 
ihr  Gott  wieder  auf.  Ihr  Trieb  nach  Unabhängigkeit  war  eigent- 
lich Trieb  nach  Abhängigkeit  von  etwas  Eigenem. 

b)  Diese  Veränderung,  die  andere  Nationen  oft  nur  in  Jahr- 
tausenden durchlaufen,  mußte  beim  jüdischen  Volke  so  schnell 
sein.  Jeder  seiner  Zustände  war  zu  gewaltsam,  als  daß  er  hätte 
lange  anhalten  können.  Der  Zustand  der  Unabhängigkeit,  an  all- 
gemeine Feindschaft  geknüpft,  konnte  nicht  lange  dauern;  er  ist 
zu  sehr  der  entgegengesetzte  der  Natur.  Der  Zustand  der  Unab- 
hängigkeit anderer  Völker  ist  ein  Zustand  des  Glücks,  ein  Zustand 
schöner  Menschlichkeit;  der  Zustand  der  Unabhängigkeit  der 
Juden   sollte  ein  Zustand   einer  völligen  Häßlichkeit  sein.    Weil 


DAS  LEBEN  JESU  107 


ihre  Unabhängigkeit  ihnen  nur  Essen  und  Trinken,  eine  dürftige 
Existenz  sicherte,  so  war  mit  der  Unabhängigkeit,  mit  diesem 
Wenigen  auch  alles  verloren  oder  in  Gefahr;  es  blieb  nichts 
Lebendiges  mehr  übrig,  das  sie  sich  erhalten  und  dessen  sie  sich 
erfreut  hätten,  dessen  Genuß  sie  manche  Not  ertragen,  vieles 
hätte  aufopfern  gelehrt.  In  dem  Drucke  kam  das  kümmeriiche 
Dasein  unmittelbar  in  Gefahr,  zu  dessen  Rettung  sie  losschlugen. 
[Sie  konnten  nicht,  wie  spätere  Schwärmer,  sich  dem  Beile  oder 
Hungertode  hingeben,  weil  sie  an  keiner  Idee,  sondern  an  einem 
tierischen  Dasein  hingen.]  Dies  tierische  Dasein  war  nicht  mit 
der  schönen  Form  der  Menschheit  verträglich,  die  ihnen  Freiheit 
gegeben  hätte,  [und  sie  glaubten  an  ihren  Gott,  weil  sie  mit  der 
Natur  völlig  entzweit,  in  ihm  die  Vereinigung  derselben  durch 
Herrschaft  fanden]. 

Als  die  Juden  die  königliche  Gewalt  (die  Moses  für  verträglich 
mit  der  Theokratie,  Samuel  aber  für  unverträglich  hielt),  bei  sich 
einführten,  erhielten  viele  Einzelne  eine  politische  Wichtigkeit, 
die  sie  zwar  mit  den  Priestern  teilen,  oder  gegen  sie  verteidigen 
mußten.  Wie  in  freien  Staaten  die  Einführung  der  Monarchie 
alle  Bürger  zu  Privatpersonen  hinabwirft,  so  erhob  sie  dagegen 
in  diesem  Staate,  in  welchem  jeder  ein  politisches  Nichts  war, 
wenigstens  Einzelne  zu  einem  mehr  oder  weniger  eingeschränkten 
Etwas. 

Nach  dem  Verschwinden  des  ephemerischen,  aber  sehr 
drückenden  Glanzes  der  Salomonischen  Regierung  zerrissen  die 
neuen  Mächte,  die  die  Einführung  des  Königtums  noch  in  die 
Geißel  ihres  Schicksals  eingeflochten  hatte  —  unbändige  Herrsch- 
sucht und  ohnmächtige  Herrschaft  —  das  jüdische  Volk  vollends, 
und  kehrten  gegen  seine  eigenen  Eingeweide  eben  die  rasende 
Liebe  und  Gottlosigkeit,  die  es  vorher  gegen  andere  Nationen 
gewendet  hatte;  sie  leiteten  sein  Schicksal  auf  es  selbst.  [Seine 
Feindschaft  wurde  zwar  nicht  gemildert,  aber  doch  insoweit 
unterdrückt,  daß  es  aus  einem  in  der  Idee  herrschenden  ein  in 
der  Wirklichkeit  beherrschtes  Volk  wurde,  und  das  Gefühl  seiner 
äußeren  Abhängigkeit  erhielt,  die  es  durch  Demütigungen]. 
Fremde  Nationen  lernte  es  wenigstens  fürchten;  es  wurde  aus 
einem  in   der  Idee  herrschenden   ein  in   der  Wirklichkeit  be- 


io8  G.W.  F.  HEGEL 


herrschtes  Volk  und  erhielt  das  Gefühl  seiner  äußern  Abhängig- 
keit. Eine  Zeitlang  erhielt  es  sich  durch  Demütigungen  eine  Art 
von  Staat,  bis  es  am  Ende  —  wie  in  der  Politik  der  listigen 
Schwäche  nie  der  Unglückstag  ausbleibt  —  vollends  zu  Boden 
getreten  wurde,  ohne  die  Kraft  des  Wiederaufstehens  zu  behalten. 
Den  alten  Genius  hatten  von  Zeit  zu  Zeit  Begeisterte  festzuhalten, 
den  ersterbenden  wieder  zu  beleben  gesucht.  Doch  den  ent- 
flohnen  Genius  einer  Nation  kann  die  Begeisterung  nicht  zurück- 
beschwören, das  Schicksal  eines  Volkes  nicht  unter  ihren  Zauber 
bannen,  wohl  einen  neuen  Geist  aus  der  Tiefe  des  Lebens  hervor- 
rufen, wenn  sie  rein  und  lebendig  ist,  aber  die  jüdischen  Pro- 
pheten zündeten  ihre  Flamme  an  der  Fackel  eines  erschlafften 
Dämons  an;  sie  suchten  ihm  seine  alte  Kraft  und  mit  der  Zer- 
störung der  mannigfaltigen  Interessen  der  Zeit  ihm  seine  alte 
schaudernd  erhabene  Einheit  wiederherzustellen.  Sie  konnten  also 
nur  kalte  und  bei  ihrer  Einmischung  in  Politik  und  sonstige  Zwecke 
nur  eingeschränkte  und  wirkungslose  Fanatiker  werden,  nur  eine 
Erinnerung  vergangener  Zeiten  geben,  die  gegenwärtigen  noch 
mehr  verwirren,  aber  nicht  andere  Zeiten  herbeiführen.  Die  Bei- 
mischung der  Leidenschaften  vermochte  nie  wieder  in  einförmige 
Passivität  überzugehen,  aber  aus  passiven  Gemütern  mußten  sie 
um  so  gräßlicher  wüten. 

Dieser  schauderhaften  Wirklichkeit  zu  entfliehen,  suchten  die 
Menschen  in  Ideen  Trost;  der  gemeine  Jude,  der  sich  wohl,  aber 
nicht  seine  Objekte  aufgeben  wollte,  in  der  Hoffnung  eines 
kommenden  Messias;  die  Pharisäer  in  dem  Treiben  des  Dienstes 
und  Tun  des  gegenwärtigen  Objektiven,  einer  völligen  Vereini- 
gung des  Bewußtseins  mit  demselben;*  die  Sadduzäer  in  der 
ganzen  Mannigfaltigkeit  ihrer  Existenz  und  der  Zerstreuung  eines 
unwandelbaren  Daseins,  das  nur  durch  Bestimmtheiten  erfüllt 
und  dessen  Unbestimmtheit  nur  als  Möglichkeit  eines  Übergangs 
zu  andern  Bestimmtheiten  wäre;  die  Essener  in  einem  Ewigen, 
in  einer  Verbrüderung,  die  alles  scheidende  Eigentum,  und  was 

*Weil  sie  außer  dem  Kreise  ihres  Wirkens,  in  welchem  sie  Herren  waren, 
bei  seiner  Unvollständigkeit  noch  ihnen  fremde  Mächte  fühlten,  so  glaubten 
sie  an  die  Vermengung  eines  fremden  Schicksals  mit  der  Macht  ihres 
Willens  und  ihrer  Tätigkeit 


DAS  LEBEN  JESU  109 


damit  zusammenhängt,  ausschlösse,  und  sie  zu  einem  lebendigen 
Einen  ohne  Mannigfaltigkeit  machte,  in  einem  gemeinsamen 
Leben,  das  von  allen  Verhältnissen  der  Wirklichkeit  unabhängig 
wäre,  dessen  Genuß  sich  auf  die  Gewohnheit  des  Zusammenseins 
gründete,  eines  Zusammenseins,  das  durch  die  völlige  Gleichheit 
der  Mitglieder  von  keiner  Mannigfaltigkeit  gestört  würde.  Um 
so  durchgängiger  die  Abhängigkeit  der  Juden  von  ihrem  Gesetz 
war,  um  so  größer  mußte  ihr  Eigensinn  sein  in  dem,  worin  sie 
noch  einen  Willen  haben  konnten,  und  dies  einzige  war  ihr  Dienst 
selbst,  wenn  er  eine  Entgegensetzung  fand.  Mit  so  leichtem  Sinn 
sie  sich  verführen  ließen,  ihrem  Glauben  untreu  zu  werden,  wenn 
das  ihm  Fremde  sich  ihnen  —  wenn  sie  nicht  in  Not  und  ihr 
dürftiger  Genuß  befriedigt  war  —  nicht  als  Feindliches  nahte,  so 
hartnäckig  kämpften  sie  für  ihren  Dienst,  wenn  er  angegriffen 
wurde.  Sie  stritten  für  ihn  als  Verzweifelte.  Sie  waren  selbst 
fähig,  im  Kampf  für  ihn  seine  Gebote,  z.  B.  die  Feier  des  Sabbats 
zu  übertreten,  die  sie  auf  Befehl  eines  andern  mit  Bewußtsein  zu 
verletzen  durch  keine  Gewalt  vermocht  werden  konnten,  und  so 
wie  das  Leben  in  ihnen  mißhandelt,  wie  in  ihnen  nichts 
Unbeherrschtes,  nichts  Heiliges  gelassen  war,  so  wurde  ihr 
Handeln  zur  unheiligsten  Raserei,  zum  wütendsten  Fanatismus. 

Das  große  Trauerspiel  des  jüdischen  Volkes  ist  kein  griechisches 
Trauerspiel.  Es  kann  nicht  Furcht,  noch  Mitleiden  erwecken, 
denn  beide  entspringen  nur  aus  dem  Schicksal  des  notwendigen 
Fehltritts  eines  schönen  Wesens;  jenes  kann  nur  Abscheu  erwek- 
ken.  Das  Schicksal  des  jüdischen  Volkes  ist  das  Schicksal  Mac- 
beths, der  aus  der  Natur  selbst  trat,  sich  an  fremde  Menschen 
hing  und  so  in  ihrem  Dienste  alles  Heilige  der  menschlichen  Natur 
zertreten  und  ermorden,  von  seinen  Göttern  endlich  verlassen  — 
denn  es  waren  Objekte,  er  war  Knecht  —  und  an  seinem  Glauben 
selbst  zerschmettert  werden  mußte.   (Lücke  der  Handschrift) 

.  .  .  und  seine  Freunde  ihm  entreißt.  So  weit  Jesus  die  Welt 
nicht  verändert  sieht,  so  weit  flieht  er  sie  und  alle  Beziehungen 
mit  ihr.  So  viel  er  mit  dem  ganzen  Schicksal  seines  Volkes  zu- 
sammenstößt, verhält  er  sich,  wenn  sein  Verhalten  ihm  auch  wider- 
sprechend scheint,  passiv  gegen  dasselbe.  «Gebt  dem  Kaiser,  was 
des  Kaisers  ist»,  sagte  er,  als  die  Juden  die  Seite  ihres  Schicksals, 


HO  G.W.  F.  HEGEL 


den  Römern  zinsbar  zu  sein,  gegen  ihn  zur  Sprache  brachten. 
Als  es  ihm  widersprechend  schien,  daß  er  und  seine  Freunde  auch 
den  Tribut,  der  auf  die  Juden  gelegt  war,  bezahlen  sollten,  hieß  er 
ihn,  um  keinen  Anstoß  zu  geben,  den  Petrus  bezahlen.  Er  stand 
mit  dem  Staate  in  dem  einzigen  Verhältnis,  innerhalb  seiner  Ge- 
richtsbarkeit sich  aufzuhalten,  und  der  Folge  dieser  Macht  über 
ihn  unterwarf  er  sich  mit  Widerspruch  seines  Geistes,  mit  Be- 
wußtsein leidend.  Das  Reich  Gottes  ist  nicht  von  dieser  Welt; 
allein  es  ist  für  dasselbe  eine  große  Verschiedenheit,  ob  ihm  diese 
Welt  als  entgegengesetzt  vorhanden  oder  nicht  existiert,  nur 
möglich  ist.  Da  jenes  der  Fall  war  und  Jesus  mit  Bewußtsein 
vom  Staate  litt,  so  ist  mit  diesem  Verhältnis  zum  Staate  schon 
eine  große  Seite  lebendiger  Vereinigung,  für  die  Mitglieder  des 
Reiches  Gottes  ein  wichtiges  Band  abgeschnitten,  ein  Teil  der 
Freiheit,  des  negativen  Charakters  eines  Bandes  der  Schönheit, 
eine  Menge  tätiger  Verhältnisse,  lebendiger  Beziehungen  verloren. 
Die  Bürger  des  Reiches  Gottes  werden  einem  feindseligen  Staate 
entgegengesetzte,  von  ihm  sich  ausschließende  Privatpersonen. 
Diese  Beschränkung  des  Lebens  erscheint  übrigens  mehr  als  die 
Gewalt  einer  fremden  herrschenden  Macht  über  äußere  Dinge, 
die  selbst  mit  Freiheit  aufgegeben  werden  können,  als  ein  Raub 
am  Leben  für  diejenigen,  die  nie  in  einer  solchen  Vereinigung 
tätig  waren,  nie  dieses  Bundes  und  dieser  Freiheit  genossen  haben, 
besonders  wenn  das  staatsbürgerliche  Verhältnis  vorzüglich  nur 
Eigentum  betrifft ;  was  an  Menge  der  Beziehungen,  an  Mannig- 
faltigkeit froher  und  schöner  Bande  verloren  geht,  ersetzt  sich 
durch  Gewinn  an  isolierter  Individualität  und  dem  engherzigen 
Bewußtsein  von  Eigentümlichkeiten;  aus  der  Idee  des  Reiches 
Gottes  sind  zwar  alle  durch  einen  Staat  gegründeten  Verhältnisse 
ausgeschlossen,  welche  unendlich  tiefer  stehen  als  die  lebendigen 
Beziehungen  des  göttlichen  Bundes  und  von  einem  solchen  nur 
verachtet  werden  können;  aber  wenn  er  vorhanden  war  und  Jesus 
oder  die  Gemeine  ihn  nicht  aufheben  konnte,  so  bleibt  das 
Schicksal  Jesu  und  seiner  ihm  hierin  treu  bleibenden  Gemeine 
ein  Verlust  an  Freiheit,  eine  Beschränkung  des  Lebens,  eine 
Passivität  in  der  Beherrschung  durch  eine  fremde  Macht,  die 
man  verachtet,  die  aber  doch  das  Wenige,  das  Jesus  von   ihr 


DAS  LEBEN  JESU  iii 


brauchte,  Existenz  unter  seinem  Volk,  ihm  unvermindert  über- 
ließ. 

Außer  dieser  Seite  des  Lebens,  die  vielmehr  nicht  Leben,  nur 
Möglichkeit  des  Lebens  genannt  werden  kann,  hatte  sich  der 
jüdische  Geist  nicht  nur  aller  Modifikationen  des  Lebens  be- 
mächtigt, sondern  sich  in  ihnen  auch  zum  Gesetz  als  Staat  ge- 
macht, und  die  reinsten,  unmittelbarsten  Formen  der  Natur  zu 
bestimmten  Gesetzlichkeiten  verkrüppelt.  Im  Reiche  Gottes  kann 
es  keine  Beziehung  geben,  als  die  aus  der  rücksichtlosesten  Liebe 
und  damit  der  höchsten  Freiheit  hervorgeht,  die  von  der  Schön- 
heit allein  die  Gestalt  ihrer  Erscheinung  und  ihr  Verhältnis  zu 
der  Welt  erhält.  Wegen  der  Verunreinigung  des  Lebens  konnte 
Jesus  das  Reich  Gottes  nur  im  Herzen  tragen,  mit  Menschen  nur 
in  Beziehung  treten,  um  sie  zu  bilden,  um  den  guten  Geist,  an 
den  er  in  ihnen  glaubte,  zu  entwickeln,  um  erst  Menschen  zu 
schaffen,  deren  Welt  die  seinige  wäre.  Aber  in  seiner  wirklichen 
Welt  mußte  er  alle  lebendigen  Beziehungen  fliehen,  weil  alle  unter 
dem  Gesetze  des  Todes  lagen,  die  Menschen  unter  der  Gewalt 
des  Jüdischen  gefangen  waren.  Durch  ein  von  beiden  Seiten 
freies  Verhältnis  wäre  er  in  einen  Bund  mit  dem  Gewebe  jüdischer 
Gesetzlichkeiten  eingetreten,  und  um  seine  eingegangene  Be- 
ziehung nicht  zu  entheiligen  oder  zu  zerreißen,  hätte  er  sich  von 
seinen  Fäden  müssen  umschhngen  lassen  und  so  konnte  er  die 
Freiheit  nur  in  der  Leere  finden,  weil  jede  Modifikation  des 
Lebens  gebunden  war. 

Darum  isoliert  sich  Jesus  von  seiner  Mutter,  seinen  Brüdern 
und  Verwandten.  Er  durfte  kein  Weib  lieben,  keine  Kinder  zeugen, 
nicht  Familienvater,  nicht  Mitbürger  werden,  der  mit  den  andern 
des  Zusammenlebens  genösse.  Das  Schicksal  Jesu  war,  vom  Schick- 
sal seiner  Nation  zu  leiden,  entweder  es  zu  dem  seinigen  zu 
machen  und  seine  Notwendigkeit  und  seine  Genüsse  zu  teilen,  und 
seinen  Geist  mit  dem  ihrigen  zu  vereinigen,  aber  das  Göttliche 
aufcMopfern,  oder  das  Schicksal  seines  Volkes  von  sich  zu  stoßen, 
sein  Leben  aber  unentwickelt  und  ungenossen  in  sich  zu  erhalten, 
in  keinem  Falle  die  Natur  zu  erfüllen,  in  jenem  nur  Fragmente 
von  ihr,  und  auch  diese  verunreinigt  zu  fühlen,  in  diesem  sie  voll- 
ständig zum  Bewußtsein  zu  bringen,  aber  ihre  Gestalt  nur  als  einen 


112  G.W.  F.  HEGEL 


glänzenden  Schatten,  dessen  Wesen  höchste  Wahrheit  ist.  zu  er- 
kennen, aber  dem  Gefühle  derselben,  ihrer  Belebung  in  Tat  und 
Wirklichkeit  zu  entsagen.  Jesus  wählte  das  letztere  Schicksal,  die 
Trennung  seiner  Natur  und  der  Welt,  und  verlangte  dasselbe  von 
seinen  Freunden :  « Wer  Vater  oder  Mutter,  Sohn  oder  Tochter  mehr 
liebt,  als  mich,  ist  meiner  nicht  würdig.»  Je  tiefer  er  aber  diese 
Trennung  fühlte,  desto  weniger  konnte  er  sie  ruhig  tragen,  und 
seine  Tätigkeit  war  die  mühevolle  Reaktion  seiner  Natur  gegen 
die  Welt;  und  sein  Kampf  war  rein  und  erhaben,  weil  er  das 
Schicksal  in  seinem  ganzen  Umfang  erkannt  und  sich  gegenüber- 
gesetzt hatte.  Sein  und  seiner  von  ihm  gestifteten  Gemeine  Wider- 
stand gegen  die  \'erdorbenheit  mußte  diese  Verdorbenheit  sich 
selbst  und  dem  von  ihr  noch  freien  Geist  zum  Bewußtsein  bringen, 
und  ihr  Schicksal  mit  sich  entzweien.  Der  Kampf  des  Reinen 
mit  dem  Unreinen  ist  ein  erhabener  Anblick,  der  sich  aber  bald 
in  einen  gräßlichen  verwandelt,  wenn  das  Heilige  selbst  vom  Un- 
heiligen gelitten  und  eine  Amalgamation  beider  mit  der  Anmaßung, 
rein  zu  sein,  gegen  das  Schicksal  wütet,  indem  es  selbst  noch 
unter  ihm  gefangen  liegt.  Jesus  sah  die  ganze  Gräßlichkeit  dieser 
Zerüttung  voraus.  «Ich  kam  nicht,  sagte  er,  der  Erde  Frieden  zu 
bringen,  sondern  das  Schwert;  ich  kam,  den  Sohn  gegen  seinen 
Vater  zu  entzweien,  die  Tochter  gQgen  ihre  Mutter,  die  Braut 
gegen  ihren  Schwieger.»  Was  zum  Teil  sich  vom  Schicksal  los- 
gesagt hat,  zum  Teil  aber  im  Bunde  damit  steht,  mit  oder  ohne 
Bewußtsein  dieser  Vermischung,  muß  sich  und  die  Natur  um  so 
fürchterlicher  zerreißen  und  bei  der  Vermischung  der  Natur  und 
Unnatur  muß  der  Angriff  auf  die  letztere  auch  die  erstere  treffen, 
der  Weizen  mit  dem  Unkraut  zertreten  und  das  Heiligste  der 
Natur  selbst  verletzt  werden,  weil  es  in  das  Unheilige  verflochten 
ist.  Die  Folgen  vor  Augen,  dachte  Jesus  nicht  daran,  seine  Wirk- 
samkeit zurückzuhalten,  um  der  Welt  ihr  Schicksal  zu  ersparen, 
ihre  Zuckungen  zu  mildern  und  ihr  im  Untergange  den  trösten- 
den Glauben  an  Schuldlosigkeit  zu  lassen. 

Die  Existenz  des  Jesus  war  also  Trennung  von  der  Welt  und 
Flucht  von  ihr  in  den  Himmel,  Wiederherstellung  des  leer  aus- 
gehenden Lebens  in  der  Idealität,  bei  jedem  Widerstreitenden  Er- 
innerung und  Emporschauen  zu  Gott,  aber  zum  Teil  Betätigung 


DAS  LEBEN  JESU  113 


des  Göttlichen  und  insofern  Kampf  mit  dem  Schicksal,  teils  in 
Verbreitung  des  Reiches  Gottes,  mit  dessen  Darstellung  das  ganze 
Reich  der  Welt  in  sich  zusammenfiel  und  verschwand,  teils  in 
unmittelbarer  Reaktion  gegen  einzelne  Teile  des  Schicksals,  so 
wie  sie  an  ihm  gerade  anstießen,  außer  gegen  den  Teil  des  Schick- 
sals, der  unmittelbar  als  Staat  erschien,  und  auch  in  Jesu  zum  Be- 
wußtsein kam,  gegen  welchen  er  sich  passiv  verhielt. 

Das  Schicksal  Jesu  war  nicht  ganz  das  Schicksal  seiner  Ge- 
meine. Da  sie  ein  aus  mehreren  Zusammengesetztes  war,  die 
zwar  in  gleicher  Trennung  von  der  Welt  lebten,  so  fand  jedes 
Mitglied  mehrere  ihm  gleich  Gestimmte;  sie  hielten  sich  zusammen 
und  konnten  sich  in  der  Wirklichkeit  von  der  Welt  entfernter 
halten  und  da  damit  des  Zusammentreffens  und  Widerstoßens  an 
ihr  weniger  war,  so  wurden  sie  weniger  von  ihr  gereizt,  lebten 
in  der  negativen  Tätigkeit  des  Kampfes  und  das  Bedürfnis  nach 
positivem  Leben  mußte  in  ihnen  größer  werden,  denn  Gemein- 
schaftlichkeit des  Negativen  gibt  keinen  Genuß,  ist  keine  Schönheit. 
Aufhebung  des  Eigentums,  eingeführte  Gütergemeinschaft,  ge- 
meinschaftUches  Mahl  gehört  mehr  zum  Negativen  der  Ver- 
einigung, als  daß  es  eine  positive  Vereinigung  wäre.  Das  Wesen 
ihres  Bundes  war  Aussonderung  von  den  Menschen  und  Liebe 
untereinander;  beides  ist  notwendig  verbunden.  Diese  Liebe  sollte 
und  konnte  nicht  eine  Vereinigung  der  Individualitäten  sein, 
sondern  die  Vereinigung  in  Gott;  und  in  Gott  allein,  im  Glauben 
kann  nur  das  sich  vereinigen,  was  einer  Wirklichkeit  sich  entgegen- 
setzt, von  ihr  sich  aussondert.  Damit  war  diese  Entgegensetzung 
fixiert  und  ein  wesentlicher  Teil  des  Prinzips  des  Bundes,  und  die 
Liebe  mußte  immer  die  Form  der  Liebe,  des  Glaubens  an  Gott 
behalten,  ohne  lebendig  zu  werden  und  in  Gestalten  des  Lebens 
sich  darzustellen,  w^eil  jede  Gestalt  des  Lebens  entgegensetzbar  ist, 
vom  Verstand  als  sein  Objekt,  als  eine  Wirklichkeit  gefaßt  w^erden 
kann ;  und  das  Verhältnis  gegen  die  Welt  mußte  zu  einer  Ängst- 
lichkeit vor  ihren  Berührungen  werden,  einer  Furcht  vor  jeder 
Lebensform,  weil  in  jeder  sich,  da  sie  Gestalt  hat  und  nur  eine 
Seite  ist,  ihr  Mangel  aufzeigen  läßt  und  dies  Mangelnde  ein  Anteil 
an  der  Welt  ist.  So  fand  also  der  Bund  der  Gemeine  keine  Aus- 
söhnung des  Schicksals,  aber  das  entgegengesetzte  Extrem  des 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  8 


114  G.W.  F.  HEGEL 


jüdischen  Geistes,  nicht  die  Mitte  der  Extreme  in  der  Schön- 
heit. 

Der  jüdische  Geist  hatte  die  Modifikationen  der  Natur,  die  Ver- 
hältnisse des  Lebens  zu  WirkHchkeiten  fixiert,  aber  als  Gaben  des 
Herrschers  schämte  er  sich  der  Dürftigkeit  derselben  nicht  nur 
nicht,  sondern  sein  Stolz  und  sein  Leben  war  der  Besitz  von 
Wirklichkeiten.  Der  Geist  der  christlichen  Gemeine  sah  gleich- 
falls in  jedem  Verhältnis  die  sich  entwickelnden  und  darstellenden 
Lebenswirklichkeiten ;  aber  da  ihm  als  Empfindung  der  Liebe  die 
Objektivität  der  größte  Feind  war,  so  blieb  er  ebenso  arm,  als  der 
jüdische,  aber  er  verschmähte  den  Reichtum,  um  dessentwillen 
der  jüdische  diente. 

Der  negativen  Seite  des  Schicksals  der  christlichen  Gemeine, 
der  die  Modifikationen  des  Lebens  zu  Bestimmtheiten  und  die 
Beziehungen  mit  ihnen  also  zu  Verbrechen  machenden  Entgegen- 
setzung gegen  die  Welt,  steht  die  positive  Seite,  das  Band  der 
Liebe  gegenüber.  Durch  die  Ausdehnung  der  Liebe  auf  eine  ganze 
Gemeine  kommt  in  den  Charakter  derselben,  daß  sie  nicht  eine 
lebendige  Vereinigung  der  Individualitäten  ist,  sondern  daß  ihr 
Genuß  sich  aufs  gegenseitige  Bewußtsein,  daß  sie  sich  lieben,  be- 
schränkt. Die  Schicksallosigkeit  durch  die  Flucht  in  unerfülltes 
Leben  war  den  Mitgliedern  der  Gemeine  darin  erleichtert,  daß  sie 
eine  Gemeine  ausmachten,  die  sich  aller  Formen  des  Lebens  gegen- 
einander enthielt,  oder  sie  nur  durch  den  allgemeinen  Geist  der 
Liebe  bestimmte,  d.  h.  nicht  in  diesen  Formen  lebte. 

Diese  Liebe  ist  ein  göttlicher  Geist,  aber  noch  nicht  Religion. 
Daß  sie  dazu  würde,  mußte  sie  zugleich  in  einer  objektiven  Form 
sich  darstellen;  sie,  eine  Empfindung,  ein  Subjektives,  mußte  mit 
dem  Vorgestellten,  dem  Allgemeinen  zusammenschmelzen,  und 
damit  die  Form  eines  anbetungsfähigen  und  würdigen  Wesens 
gewinnen.  Dies  Bedürfnis,  das  Subjektive  und  Objektive,  die 
Empfindung  und  die  Forderung  derselben  nach  Gegenständen, 
den  Verstand  durch  die  Phantasie  in  einem  Schönen,  in  einem 
Gotte  zu  vereinigen,  dies  Bedürfnis,  das  höchste  des  menschlichen 
Geistes  ist  der  Trieb  nach  Religion.  Diesem  Trieb  der  christHchen 
Gemeine  konnte  Glaube  an  Gott  nicht  Befriedigung  sein.  Denn 
in  ihrem  Gotte  mußte  nur  ihre  gemeinschaftliche  Empfindung 


DAS  LEBEN  JESU  115 


sich  finden.  In  dem  Gotte  der  Welt  sind  alle  Wesen  vereinigt; 
die  Mitglieder  der  Gemeine  sind  als  solche  nicht  in  ihm;  ihre 
Harmonie  ist  nicht  die  Harmonie  des  Ganzen,  sonst  machten  sie 
keine  besondere  Gemeine  aus,  sonst  wären  sie  nicht  untereinander 
durch  Liebe  verbunden;  die  Gottheit  der  Welt  ist  nicht  die  Dar- 
stellung ihrer  Liebe,  ihres  Göttlichen.  Das  Bedürfnis  des  Jesus 
nach  Religion  war  in  dem  Gotte  des  Ganzen  befriedigt;  denn  sein 
Aufblick  zu  ihm  war  jeder  seiner  beständigen  Anstöße  an  der 
Welt,  seine  Flucht  vor  ihr.  Er  bedurfte  nur  des  der  Welt  Ent- 
gegengesetzten, in  dem  seine  Entgegensetzung  selbst  gegründet 
war;  er  war  sein  Vater,  er  war  einig  mit  ihm.  Aber  bei  seiner 
Gemeine  fiel  der  beständige  Anstoß  an  der  Welt  mehr  weg;  sie 
lebte  ohne  tätigen  Kampf  gegen  sie  und  war  insoweit  glücklich, 
nicht  beständig  von  ihr  gereizt  zu  werden  und  daher  nicht  allein 
nur  zum  Entgegengesetzten,  zu  Gott  fliehen  zu  müssen,  sondern 
sie  fand  in  ihrer  Gemeinschaft,  in  ihrer  Liebe  einen  Genuß,  ein 
Reelles,  eine  Art  lebendigen  Verhältnisses.  Nur  da  jede  Beziehung 
dem  Bezogenen  entgegengesetzt,  die  Empfindung  noch  die  Wirk- 
lichkeit, oder,  subjektiv  ausgedrückt,  das  Vermögen  derselben,  den 
Verstand,  als  sich  entgegengesetzt  hat,  so  muß  ihr  Mangel  in 
einem  beides  Vereinigenden  ergänzt  werden.  Die  Gemeine  hat 
das  Bedürfnis  eines  Gottes,  der  der  Gott  der  Gemeine  ist,  in  dem 
gerade  die  ausschließende  Liebe,  ihr  Charakter,  ihre  Beziehung  zu- 
einander dargestellt  ist,  nicht  als  ein  Symbol,  oder  Allegorie,  nicht 
als  eine  Personifikation  eines  Subjektiven,  bei  welcher  man  sich 
der  Trennung  desselben  von  seiner  Darstellung  bewußt  wäre, 
sondern  das  zugleich  im  Herzen,  zugleich  die  Empfindung  und 
Gegenstand  ist,  Empfindung  als  Geist,  der  alle  durchweht  und  ein 
Wesen  bleibt,  wenn  auch  jeder  Einzelne  seiner  Empfindung  als 
seiner  einzelnen  bewußt  wird. 

Es  ist  nicht  die  Knechtsgestalt,  die  Erniedrigung  selbst,  an 
welcher  als  der  Hülle  des  Göttlichen  sich  der  Trieb  nach  Religion 
stieße,  wenn  die  Wirklichkeit  sich  damit  begnügte,  Hülle  zu  sein 
und  vorüberzugehen ;  aber  so  soll  sie  fest  und  bleibend  noch  an 
und  in  dem  Gotte  zu  seinem  Wesen  gehören  und  die  Individualität 
Gegenstand  der  Anbetung  sein ;  und  die  im  Grabe  abgestreifte  Hülle 
der  Wirklichkeit  ist  aus  dem  Grabe  wieder  emporgestiegen  und 


ii6  G.W.  F.  HEGEL 


hat  sich  dem  Gotterstandenen  angehängt.  Dies  der  Gemeine 
trauriges  Bedürfnis  eines  WirkUchen  hängt  tief  mit  ihrem  Geiste 
und  seinem  Schicksale  zusammen.  Ihre  jede  Lebensgestalt  zum 
Bewußtsein  eines  Objektes  bringende  und  sie  somit  verachtende 
Liebe  hatte  in  dem  Erstandenen  zwar  sich  selbst  als  gestaltet  er- 
kannt, er  war  aber  für  sie  nicht  bloß  die  Liebe;  denn  da  ihre  Liebe 
von  der  Welt  abgeschieden  sich  nicht  in  der  Entwickelung  des 
Lebens,  noch  in  seinen  schönen  Beziehungen  und  in  der  Aus- 
bildung der  natürlichen  Verhältnisse  darstellte,  da  die  Liebe  Liebe 
sein  und  nicht  leben  sollte,  so  mußte  irgend  ein  Kriterium  der 
Erkenntnis  derselben  zur  Möglichkeit  des  gegenseitigen  Glaubens 
an  sie  vorhanden  sein.  Weil  die  Liebe  nicht  selbst  die  durch- 
gängige Vereinigung  stiftete,  so  bedurfte  es  eines  andern  Bandes, 
das  die  Gemeine  verknüpfte  und  worin  sie  zugleich  die  Gewißheit 
der  Liebe  aller  fände.  Sie  mußte  sich  an  einer  Wirklichkeit  er- 
kennen. Diese  war  nun  die  Gleichheit  des  Glaubens,  die  Gleichheit, 
eine  Lehre  empfangen,  einen  gemeinschaftUchen  Meister  und  Leh- 
rer zu  haben.  Dies  ist  eine  auszeichnende  Seite  des  Geistes  der  Ge- 
meine, daß  das  Göttliche,  das  sie  Vereinigende  die  Form  eines 
Gegebenen  für  sie  hat.  Dem  Geiste,  dem  Leben  wird  nichts  ge- 
geben; was  er  empfangen  hat,  das  ist  er  selbst  geworden,  das  ist 
so  in  ihn  übergegangen,  daß  es  jetzt  eine  Modifikation  desselben, 
daß  es  sein  Leben  ist.  Aber  in  der  Lebenslosigkeit  der  Liebe  der 
Gemeine  blieb  der  Geist  ihrer  Liebe  so  dürftig,  fühlte  sich  so  leer, 
daß  er  den  Geist,  der  an  ihn  ansprach,  nicht  voll  in  sich  lebendig 
erkennen  konnte  und  ihm  fremd  blieb.  Eine  \'erknüpfung  mit 
einem  fremden  und  als  fremd  gefühlten  Geist  ist  Bewußtsein  der 
Abhängigkeit  von  ihm.  Da  die  Liebe  der  Gemeine  einesteils  sich 
selbst  übersprungen  hatte,  indem  sie  sich  auf  eine  ganze  Ver- 
sammlung von  Menschen  ausdehnte,  und  darum  andernteils  an 
idealischem  Lihalt  zwar  voll,  an  Leben  aber  verlor,  so  war  das 
nicht  erfüllte  Ideal  der  Liebe  ein  Positives  für  sie,  sie  erkannte  es 
als  entgegengesetzt  und  sich  als  abhängig  von  ihm;  in  ihrem 
Geiste  lag  das  Bewußtsein  der  Jüngerschaft  und  eines  Herrn  und 
Meisters;  ihr  Geist  war  nicht  in  der  gestalteten  Liebe  vollständig 
dargestellt ;  die  Seite  desselben,  eine  Lehre  empfangen  zu  haben  und 
zu  lernen  und  tiefer  als  der  Meister  zu  stehen,  fand  ihre  Darstellung 


DAS  LEBEN  JESU  117 


in  der  Gestalt  der  Liebe,  wenn  mit  dieser  zugleich  eine  Wirklich- 
keit verknüpft  war,  die  der  Gemeine  gegenüberstand. 

Dieses  höhere  Entgegengesetzte  ist  nicht  die  Erhabenheit  des 
Gottes,  die  dieser  notwendig  hat,  weil  in  ihm  der  Einzelne  nicht 
sich  selbst  als  ihm  gleich  erkennt,  sondern  in  ihm  der  ganze  Geist 
all  der  Vereinigten  enthalten  ist,  —  sondern  sie  ist  ein  Positives, 
Objektives,  das  so  viel  fremde  Herrschaft  in  sich  hat,  als  im  Geist 
der  Gemeine  Abhängigkeit  ist.  In  dieser  Gemeinschaft  der  Ab- 
hängigkeit, der  Gemeinschaft,  durch  einen  Stifter  zu  sein,  in  dieser 
Einmischung  eines  GeschichtHchen,  WirkUchen  in  ihr  Leben,  er- 
kannte die  Gemeine  ihr  reelles  Band,  die  Sicherheit  der  Vereini- 
gung, die  in  der  unlebendigen  Liebe  nicht  zum  Gefühl  kommen 
konnte.  Dies  ist  der  Punkt,  an  welchem  die  Gemeine,  die  in  der 
außer  allem  Bündnis  mit  der  Welt  unvermischt  sich  erhaltenden 
Liebe  allem  Schicksal  entgangen  zu  sein  schien,  von  ihm  ergriffen 
wurde,  von  einem  Schicksale,  dessen  Mittelpunkt  die  Ausdehnung 
der  alle  Beziehungen  fliehenden  Liebe  auf  eine  Gemeine  war,  das 
sich  teils  in  der  Ausdehnung  der  Gemeine  selbst  um  so  mehr  ent- 
wickelte, teils  durch  diese  Ausdehnung  immer  mehr  mit  dem 
Schicksal  der  Welt  zusammentraf,  sowohl  indem  es  bewußtlos  in 
sich  viele  Seiten  von  ihm  aufnahm,  als  indem  es  gegen  dasselbe 
kämpfte,  sich  immer  mehr  verunreinigte. 

Das  ungöttliche  Objektive,  für  welches  auch  Anbetung  gefordert 
wird,  wird  durch  den  Glanz,  der  es  umstrahlt,  nie  zu  einem  Gött- 
lichen. Zwar  umgeben  auch  den  Menschen  Jesum  [göttliche]  sinn- 
liche Erscheinungen;  um  seine  Geburt  sind  höhere  Wesen  be- 
schäftigt, [um  seine  Person  zeigt  sich  einigemal  ein  höherer  Glanz], 
er  selbst  wird  einmal  in  eine  strahlende  Lichtgestalt  verklärt. 
Aber  auch  diese  Formen  von  Himmlischem  sind  nur  außer  dem 
Wirklichen ;  [der  Liebling  Gottes  bleibt  nur  ein  Mensch,  er  wandelt 
in  niedriger  Gestalt  umher]  und  dies  Göttliche  um  das  Individuum 
dient  nur,  den  Kontrast  desto  mehr  in  die  Augen  fallen  zu  machen. 
Noch  weniger  als  solche  vorübergehende  Nimbusse  können  die 
Tätigkeiten,  die  für  Götthches  angesehen  werden  und  aus  ihm 
selbst  kommen,  in  die  höhere  Gestalt  ihn  erheben.  Die  Wunder, 
die  ihn  nicht  bloß  umschweben,  sondern  aus  seiner  innern  Kraft 
hervorgehen,  scheinen  eines  Gottes  würdige  Attribute,  einen  Gott 


ii8  G.W.  F.  HEGEL 


zu  charakterisieren;  in  ihnen  scheint  das  Göttliche  aufs  innigste 
mit  dem  Objektiven  vereinigt  und  somit  die  harte  Entgegensetzung 
und  lose  Verknüpfung  Entgegengesetzter  hier  wegzufallen;  jene 
wundersamen  Wirksamkeiten  vollbringt  der  Mensch,  er  und  das 
Göttliche  scheinen  unzertrennbar.  Allein  je  näher  die  Verknüp- 
fung ist,  die  doch  keine  Vereinigung  wird,  um  so  härter  fällt  das 
Unnatürliche  der  verknüpften  Entgegengesetzten  auf. 

Wenn  ein  Gott  wirkt,  so  ist  es  nur  von  Geist  zu  Geist.  Die 
Wirksamkeit  setzt  einen  Gegenstand  voraus,  auf  welchen  gewirkt 
wird,  aber  die  Wirkung  des  Geistes  ist  die  Aufhebung  desselben ; 
das  Herausgehen  des  Göttlichen  ist  nur  eine  Enr^vickelung,  indem 
es  das  Entgegengesetzte  aufhebt,  in  der  Vereinigung  darstellt. 
Aber  in  den  Wundern  erscheint  der  Geist  auf  Körper  wirkend. 
Die  Ursache  wäre  nicht  gestalteter  Geist,  dessen  Gestalt  bloß  in 
seiner  Entgegensetzung  betrachtet,  als  Körper,  einem  andern  gleich 
und  entgegensetzbar  in  den  Zusammenhang  von  Ursache  und 
Wirkung  treten  könnte ;  dieser  Zusammenhang  wäre  eine  Gemein- 
schaft des  Geistes,  der  nur  insofern  Geist  ist,  als  er  nichts  mit  dem 
Körper  gemein  hat  und  des  Körpers,  der  Körper  ist.  [Diese  Wir- 
kungsart setzt  gerade  eine  Trennung  des  Göttlichen  selbst  voraus, 
die  sogar  auch  in  der  Verbindung  noch  bleibt.  Wunder  ist  die 
Darstellung  des  Ungöttlichsten,  eine  Beherrschung  des  Toten, 
nicht  eine  Vermählung  verwandter  Wesen  und  Erzeugung  neuer, 
sondern  die  Herrschaft  des  Geistes,  weil  dem  Körper  mit  dem 
Geiste  nichts  gemein  ist.  Die  Ungleichartigen,  die  als  Ursache 
und  Wirkung  verbunden  sind,  sind  in  einem  Begriffe  eins;  aber 
Geist  und  Körper,  Lebendiges  und  Totes  haben  nichts  gemein; 
ihre  Verbindung  ist  nicht  einmal  in  einem  Begriffe  möglich  und 
sie  können  sich  gar  nicht  als  Ursache  und  Wirkung  zusammen- 
verhalten ;  denn  sie  sind  absolut  entgegengesetzt.]  Ihre  Vereini- 
gung, in  welcher  ihre  Entgegensetzung  aufhört,  ist  ein  Leben, 
das  ist  gestalteter  Geist.  Und  wenn  dieser  als  Göttliches,  Unge- 
trenntes wirkt,  so  ist  sein  Tun  eine  Vermählung  mit  verwandtem 
Wesen,  mit  Göttlichem,  und  Erzeugung,  Entwickelung  von  Neuem, 
die  Darstellung  ihrer  Vereinigung.  Sofern  aber  der  Geist  in  einer 
andern,  entgegengesetzten  Gestalt,  als  Feindliches,  Beherrschendes 
wirkt,  so  hat  er  seine  Göttlichkeit  vergessen.  Wunder  sind  darum 


DAS  LEBEN  JESU  119 


die  Darstellung  des  Ungöttlichsten,  weil  sie  das  Unnatürlichste 
sind  und  die  härteste  Entgegensetzung  des  Geistes  und  Körpers 
in  ihrer  ganzen  ungeheuren  Roheit  verknüpft  enthalten.  Gött- 
liches Tun  ist  Wiederherstellung  und  Darstellung  der  Einigkeit, 
Wunder  die  höchste  Zerreißung. 

In  dem  Wunder  als  einer  Handlung  wird  dem  Verstand  ein 
Zusammenhang  von  Ursache  und  Wirkung  gegeben  und  das  Ge- 
biet seiner  Begriffe  anerkannt.  Zugleich  aber  wird  sein  Gebiet 
damit  zerstört,  daß  die  Ursache  nicht  ein  so  Bestimmtes,  als  die 
Wirkung  ist,  sondern  ein  Unendliches  sein  soll,  da  der  Zusammen- 
hang der  Ursache  und  Wirkung  im  Verstände  die  Gleichheit  der 
Bestimmtheit  ist,  ihre  Entgegensetzung  nur  die,  daß  im  einen  diese 
Bestimmtheit  Tätigkeit,  im  andern  Leiden  ist.  Hier  soll  zugleich 
in  der  Handlung  selbst  ein  Unendliches  mit  unendHcher  Tätigkeit 
eine  höchst  beschränkte  Wirkung  haben.  Nicht  die  Aufhebung 
des  Gebiets  des  Verstands,  sondern  daß  es  zugleich  gesetzt  und 
aufgehoben  wird,  ist  das  Unnatürliche.  So  wie  nun  einerseits  das 
Setzen  einer  unendlichen  Ursache  dem  Setzen  einer  endlichen 
Wirkung  widerspricht,  ebenso  hebt  das  Unendliche  die  bestimmte 
Wirkung  auf  Dort  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Verstandes  an- 
gesehen ist  das  Unendliche  nur  ein  Negatives,  das  Unbestimmte, 
an  das  ein  Bestimmtes  angeknüpft  wird;  hier  von  der  Seite  des 
Unendlichen  als  eines  Seienden  ist  es  ein  Geist,  der  wirkt,  und 
die  Bestimmtheit  der  Wirkung  eines  Geistes  ist  ihre  negative  Seite; 
nur  aus  einem  andern  Gesichtspunkte  in  der  Vergleichung  kann 
seine  Handlung  bestimmt  erscheinen;  an  sich,  ihrem  Sein  nach, 
ist  sie  die  Aufhebung  einer  Bestimmtheit  und  in  sich  unendlich. 

[Durch  die  Erniedrigung  des  Göttlichen  zu  einer  Ursache  ist 
der  Mensch  nicht  zu  ihm  emporgehoben.  Ein  Wunder  ist  eine 
wahre  creatio  ex  nihilo,  und  kein  Gedanke  paßt  so  wenig  zum 
Göttlichen  als  dieser;  denn  es  ist  die  Vernichtung  oder  die  Er- 
schaffung einer  ganz  fremden  Kraft,  die  wahre  actio  in  distans ; 
und  statt  daß  im  wahren  Göttlichen  Einigkeit  ist,  und  Ruhe  ge- 
funden wird,  so  ist  das  Göttliche  des  Wunders  die  völligste 
Zerreißung.] 

Die  rege  gemachte  Erv^'^artung  also,  die  mit  dem  verklärten,  zum 
Gotte  erhobenenjesu  vergesellschaftete  Wirklichkeit  durch  wunder- 


120  G.W.  F.  HEGEL 


bare  Tätigkeit  dieses  Wirklichen  zur  Göttlichkeit  zu  erheben,  wird 
also  so  gar  nicht  erfüllt,  daß  sie  vielmehr  die  Härte  dieser  Bei- 
fügung eines  Wirklichen  um  so  mehr  erhöht.  Doch  ist  sie  für 
uns  um  so  viel  größer,  als  für  die  Mitglieder  der  ersten  christ- 
lichen Gemeine,  um  so  viel  mehr  wir  Verstand  haben,  als  diese, 
die  vom  orientalischen  Geiste  angehaucht,  die  Trennung  des 
Geistes  und  des  Körpers  weniger  vollendet,  dem  Verstand  weniger 
als  Objekt  überliefert  hatten.  Wo  wir  bestimmte  Wirklichkeit, 
geschichtliche  Objektivität  mit  dem  Verstände  erkennen,  da  ist  oft 
für  sie  Geist;  und  wo  wir  nur  den  reinen  Geist  setzen,  da  ist  er 
ihnen  noch  bekörpert.  \'on  der  letztern  Art  der  Ansicht  ist  die 
Form,  in  der  sie  das,  was  wir  Unsterblichkeit  und  zwar  Unsterb- 
lichkeit der  Seele  nennen,  ein  Beispiel;  sie  erscheint  ihnen  als  eine 
Auferstehung  des  Leibes.  Beide  Ansichten  sind  die  Extreme  gegen 
den  griechischen  Geist;  jenes  das  Extrem  der  Vernunft,  die  eine 
Seele,  ein  Negatives  gegen  allen  Verstand  und  sein  Objekt,  den 
toten  Körper  entgegensetzt,  dieses  das  Extrem  sozusagen  eines 
positiven  Vermögens  der  Vernunft,  die  den  Körper  als  lebendig 
setzt,  während  sie  zu  gleicher  Zeit  ihn  für  tot  annahm ;  indes  dem 
Griechen  Leib  und  Seele  in  einer  lebendigen  Gestalt  bleibt,  in 
den  beiden  Extremen  hingegen  der  Tod  eine  Trennung  des  Leibes 
und  der  Seele  ist,  und  in  dem  einen  der  Seele  der  Leib  nicht  mehr, 
in  dem  anderen  der  Leib  bleibt,  der  auch  ohne  Leben  ist. 

In  anderem,  wo  wir  nur  mit  dem  Verstände  Wirkliches  oder, 
welches  ebensoviel  ist,  etwa  fremden  Geist  erkennen,  mischen 
die  ersten  Christen  ihren  Geist  bei.  In  den  Schriften  der  Juden 
sehen  wir  vergangene  Geschichten,  individuelle  Lagen  und  ge- 
wesenen Geist  der  Menschen,  in  den  jüdischen  gottesdienstlichen 
Handlungen  befohlenes  Tun,  dessen  Geist,  Zweck  und  Gedanke 
für  uns  nicht  mehr  ist,  keine  Wahrheit  mehr  hat.  Für  sie  hatte 
dies  alles  noch  Wahrheit  und  Geist,  aber  ihre  Wahrheit,  ihren 
Geist,  sie  ließen  es  nicht  objektiv  werden.  Der  Geist,  den  sie 
Stellen  der  Propheten  und  anderer  jüdischen  Bücher  geben,  ist  in 
ihrem  Sinne  weder  in  Rücksicht  auf  die  Propheten  die  Meinung, 
Voraussagungen  von  Wirklichkeiten  in  ihnen  zu  finden,  noch  von 
ihrer  Seite  die  Anwendung  auf  Wirklichkeit.  Es  ist  ein  ungewisses, 
gestaltloses  Schweben  zwischen  Wirklichkeit  und  Geist;  es  ist 


DAS  LEBEN  JESU  121 


einerseits  in  der  Wirklichkeit  nur  der  Geist  betrachtet,  andererseits 
die  Wirklichkeit  selbst  als  solche  betrachtet,  aber  nicht  fixiert. 
Um  ein  Beispiel  anzuführen,  bezieht  Johannes  (XII,  14  ff.)  auf  den 
Umstand,  daß  Jesus  auf  einem  Esel  nach  Jerusalem  hineinzog, 
einen  Ausdruck  der  Propheten,  dessen  Begeisterung  einen  solchen 
Aufzug  sah,  den  Johannes  in  dem  Aufzuge  des  Jesus  seine  Wahr- 
heit finden  läßt.  Die  Erweise,  daß  ähnhche  Stellen  der  jüdischen 
Bücher  teils  an  sich  unrichtig,  gegen  den  Wortsinn  des  Original- 
textes angeführt,  teils  gegen  ihren  Sinn,  den  sie  durch  ihren  Zu- 
sammenhang erhalten,  erklärt  seien,  teils  sich  auf  ganz  andere 
Wirklichkeiten,  den  Propheten  gleichzeitige  Umstände  und 
Menschen  beziehen,  teils  nur  isolierte  Begeisterung  der  Propheten 
seien,  —  alle  diese  Erweise  treffen  nur  die  Wirklichkeit  der  Be- 
ziehung, die  die  Apostel  zwischen  ihnen  und  Lebensumständen 
des  Jesus  aufstellen,  nicht  ihre  Wahrheit  und  Geist,  so  wenig  als 
ihre  Wahrheit  in  der  strengen  objektiven  Annahme  sichtbar  ist, 
daß  die  wirklichen  Worte  und  Gesichte  der  Propheten  der  frühere 
Ausdruck  späterer  Wirklichkeiten  seien.  Der  Geist  der  Beziehung, 
die  die  Freunde  Christi  zwischen  den  Gesichten  der  Propheten 
und  den  Begebenheiten  des  Jesus  finden,  wäre  zu  schwach  aufge- 
faßt, wenn  sie  nur  in  die  Vergleichung  von  Ähnlichkeit  der  Situ- 
ationen gesetzt  würde,  in  eine  Vergleichung,  wie  wir  der  Dar- 
stellung einer  Lage  oft  den  bestimmten  Ausdruck  alter  Schrift- 
steller hinzufügen.  Johannes  sagt  bei  dem  oben  angeführten  Bei- 
spiel ausdrücklich,  daß  die  Freunde  des  Jesus  erst  nachdem  Jesus 
verklärt,  nachdem  der  Geist  über  sie  gekommen  war,  diese  Be- 
ziehung erkannten.  Hätte  Johannes  einen  bloßen  Einfall,  eine 
bloße  Ähnlichkeit  Verschiedener  in  dieser  Beziehung  gesehen,  so 
hätte  es  dieser  Bemerkung  nicht  bedurft ;  so  war  aber  im  Geiste 
jenes  Gesicht  des  Propheten  und  dieser  Umstand  bei  einer  Hand- 
lung Jesu  eins;  und  da  die  Beziehung  nur  im  Geiste  ist,  so  fällt 
die  objektive  Ansicht  derselben,  als  eines  Zusammentreffens  von 
Wirklichem,  von  Individuellem  weg.  Dieser  Geist,  der  das  Wirk- 
liche so  wenig  fixiert  oder  es  zu  einem  Unbestimmten  macht,  und 
nichts  Individuelles,  sondern  ein  Geistiges  darin  erkennt,  ist  be- 
sonders auch  Joh.  XI,  5 1  sichtbar,  wo  Johannes  über  die  Maxime 
des  Kaiphas  und  deren  Anwendung,  daß  es  besser  sei,  ein  Mensch 


122  G.W.  F.  HEGEL 


sterbe  fürs  Volk,  als  dies  im  ganzen  in  Gefahr  komme,  erinnert, 
daß  Kaiphas  dies  nicht  für  sich  selbst  als  Individuum  gesprochen 
habe,  sondern  als  Hoherpriester  in  prophetischer  Begeisterung 
(jxpo'fr;-:£j3sv).  Was  wir  etwa  unter  dem  Gesichtspunkte  eines  In- 
strumentes der  göttlichen  \'orsehung  ansehen  würden,  darin  sah 
Johannes  ein  vom  Geiste  Erfülltes,  da  der  Charakter  der  Ansicht 
Jesu  und  seiner  Freunde  nichts  so  sehr  entgegengesetzt  sein  konnte, 
als  dem  Gesichtspunkte,  alles  für  Maschine,  Werkzeug,  Instrument 
zu  nehmen,  sondern  vielmehr  der  höchste  Glaube  an  Geist  war; 
und  da,  wo  man  Einheit  des  Zusammentreffens  von  Handlungen 
erblickt,  denen  für  sich  einzeln  diese  Einheit,  die  Absicht  des 
Ganzen  oder  Wirkung  mangelt,  und  diese  Handlungen  (wie  die 
des  Kaiphas)  als  ihr  unterworfen,  von  ihr  ohne  Bewußtsein  in  ihrer 
Beziehung  auf  die  Einheit  beherrscht,  geleitet,  als  Wirklichkeiten 
und  Instrumente  betrachtet,  sieht  Johannes  Einheit  des  Geistes 
und  in  dieser  Handlung  selbst  den  Geist  der  ganzen  Wirkung 
handelnd.  Er  spricht  von  Kaiphas  als  selbst  von  dem  Geiste  er- 
füllt, in  dem  die  Notwendigkeit  des  Schicksals  des  Jesus  lag. 

So  verlieren  denn  auch,  mit  der  Seele  der  Apostel  gesehen,  die 
Wunder  von  der  Härte,  welche  die  Entgegensetzung  des  Geistes 
und  des  Körpers  in  ihnen  für  uns  hat,  da  es  sichtbar  ist,  daß  jenen 
der  europäische  Verstand  mangelte,  der  dem  ins  Bewußtsein 
Kommenden  so  allen  Geist  entzieht  und  es  zu  absoluten  Objek- 
tivitäten, dem  Geiste  schlechthin  entgegengesetzten  Wirklichkeiten 
fixiert,  daß  jene  Erkenntnis  vielmehr  ein  unbestimmtes  Schweben 
zwischen  Wirklichkeit  und  Geist  ist,  das  beide  zwar  noch  trennte, 
aber  nicht  so  unwiderruflich  trennte,  sondern  die  unklare  Ent- 
gegensetzung schon  gab,  die  bei  größerer  Entwickelung  eine 
Paarung  des  Lebendigen  und  Toten,  des  Göttlichen  und  Wirk- 
lichen werden  mußte,  das  durch  die  Beigesellung  des  wirklichen 
Jesus  zum  verklärten,  zum  Gotte  gewordenen,  dem  tiefsten  Triebe 
nach  Religion  Befriedigung  zeigte,  —  aber  nicht  gewährte  und 
ihn  zu  einem  unendlichen,  unauslöschlichen  und  ungestillten 
Sehnen  machte;  denn  dem  Sehnen  steht  in  seiner  höchsten 
Schwärmerei,  in  den  Verzückungen  der  feinst  organisierten,  die 
höchste  Liebe  atmenden  Seelen  immer  das  Individuum,  ein  Ob- 
jektives,   Persönliches    gegenüber,    nach    der  Vereinigung    mit 


DAS  LEBEN  JESU  123 


welchem  alle  Tiefen  ihrer  schönen  Gefühle  schmachteten,  welche 
Vereinigung  aber,  weil  es  ein  Individuum  ist,  ewig  unmöglich 
ist,  da  es  ihnen  immer  gegenüber,  ewig  in  ihrem  Bewußtsein 
bleibt  und  die  Religion  nie  zum  vollständigen  Leben  werden  läßt. 
In  allen  Formen  der  christlichen  Religion,  die  sich  im  fort- 
gehenden Schicksal  der  Zeit  entwickelt  haben,  ruht  dieser  Grund- 
charakter der  Entgegensetzung  in  dem  Göttlichen,  das  allein  im 
Bewußtsein,  nie  im  Leben  vorhanden  sein  soll.  Von  den  ver- 
zückenden Vereinigungen  des  Schwärmers,  der  aller  Mannig- 
faltigkeit des  Lebens,  auch  der  reinsten,  in  welcher  der  Geist  seiner 
selbst  genießt,  entsagt  und  nur  Gottes  sich  bewußt  ist,  also  nur 
im  Tode  die  Entgegensetzung  der  Persönlichkeit  wegschaffen 
könnte,  bis  zur  Wirklichkeit  des  mannigfaltigsten  Bewußtseins, 
der  Vereinigung  mit  dem  Schicksal  der  Welt  und  der  Entgegen- 
setzung Gottes  gegen  dasselbe,  entweder  der  gefühlten  Entgegen- 
setzung bei  allen  Handlungen  und  Lebensäußerungen,  die  ihre 
Rechtmäßigkeit  durch  die  Empfindung  der  Dienstbarkeit  und 
Nichtigkeit  ihrer  Entgegensetzung  erkaufen  (wie  in  der  katho- 
lischen Kirche),  oder  der  Entgegensetzung  Gottes  in  bloßen  mehr 
oder  weniger  andächtigen  Gedanken  (wie  bei  der  protestantischen 
Kirche),  entweder  der  Entgegensetzung  eines  hassenden  Gottes 
gegen  das  Leben,  als  eine  Schande  und  ein  Verbrechen  (bei 
einigen  Sekten  derselben),  oder  eines  gütigen  gegen  das  Leben  und 
seine  Freuden  als  lauter  empfangene  Wohltaten  und  Geschenke 
von  ihm,  als  lauter  Wirklichkeit,  in  welche  dann  auch  die  über 
ihr  schwebende  Geistesform  in  der  Idee  eines  göttlichen  Menschen, 
der  Propheten  usw.  zu  geschichtlicher,  objektiver  Ansicht  herab- 
gezogen wird,  —  zwischen  diesen  Extremen  von  dem  mannigfal- 
tigen oder  verminderten  Bewußtsein,  der  Freundschaft,  des  Hasses 
oder  der  Gleichgültigkeit  gegen  die  Welt,  zwischen  diesen  Extre- 
men, die  sich  innerhalb  der  Entgegensetzung  Gottes  und  der  Welt, 
des  Göttlichen  und  des  Lebens  befinden,  hat  die  christliche  Kirche 
vor-  und  rückwärts  den  Kreis  durchlaufen,  aber  es  ist  gegen  ihren 
wesentlichen  Charakter,  in  einer  unpersönlichen  lebendigen  Schön- 
heit Ruhe  zu  finden  und  es  ist  ihr  Schicksal,  daß  Kirche  und  Staat, 
Gottesdienst  und  Leben,  Frömmigkeit  und  Tugend,  geistliches 
und  weltliches  Tun  nie  in  eins  zusammenschmelzen  können. 


124  G.W.  F.  HEGEL 


Man  kann  den  Zustand  der  jüdischen  Bildung  nicht  einen  Zu- 
stand der  Kindheit  und  ihre  Sprache  eine  unentwickelte,  kindliche 
Sprache  nennen.  Es  sind  noch  einige  tiefen,  kindlichen  Laute 
in  ihr  aufbehalten  oder  vielmehr  wiederhergestellt  worden,  aber 
die  übrige  schwere,  gezwungene  Art,  sich  auszudrücken,  ist 
vielmehr  eine  Folge  der  höchsten  Mißbildung  des  Volkes,  mit 
welcher  ein  reineres  Wesen  zu  kämpfen  hat  und  von  welcher  es 
leidet,  wenn  es  sich  in  ihren  Formen  darstellen  soll,  welche  es 
nicht  entbehren  kann,  da  es  selbst  zu  diesem  Volke  gehört. 

Der  Anfang  des  Evangeliums  des  Johannes  enthält  eine  Reihe 
thetischer  Sätze,  die  in  eigentlicherer  Sprache  über  Gott  und 
Göttliches  sich  ausdrücken.  Es  ist  die  einfachste  Reflexionssprache, 
zu  sagen:  Im  Anfang  war  der  Logos,  der  Logos  war  bei  Gott, 
und  Gott  w^ar  der  Logos,  in  ihm  w^ar  Leben.  Aber  diese  Sätze 
haben  nur  den  täuschenden  Schein  von  Urteilen,  denn  die  Prädikate 
sind  nicht  Begrifi"e,  Allgemeines,  wie  der  Ausdruck  einer  Reflexion 
in  Urteilen  notwendig  enthält,  sondern  die  Prädikate  sind  selbst 
wieder  Seiendes,  Lebendiges.  Auch  diese  einfache  Reflexion  ist 
nicht  geschickt,  das  Geistige  mit  Geist  auszudrücken.  Nirgends 
mehr  als  in  Mitteilung  des  Göttlichen  ist  es  für  den  Empfangenden 
notwendig,  mit  eigenem  tiefem  Geiste  zu  fassen,  nirgend  ist  es 
weniger  möglich,  zu  lernen,  passiv  in  sich  aufzunehmen,  weil 
unmittelbar  jedes  über  Göttliches  in  Form  der  Reflexion  Aus- 
gedrückte widersinnig  ist  und  die  passive  geistlose  Aufnahme 
desselben  nicht  nur  den  tieferen  Geist  leer  läßt,  sondern  auch  den 
\'erstand,  der  es  aufnimmt  und  dem  es  Widerspruch  ist,  darum 
zerrüttet.  Diese  immer  objektive  Sprache  findet  daher  allein  im 
Geiste  des  Lesers  Sinn  und  Gewicht,  und  einen  so  verschiedenen, 
als  verschieden  die  Beziehungen  des  Lebens  und  die  Entgegen- 
setzung des  Lebendigen  und  des  Toten  zum  Bewußtsein  gekommen 
ist.  Von  den  zwei  Extremen,  den  Eingang  des  Johannes  aufzu- 
fassen, ist  die  subjektivste  Art,  den  Logos  als  ein  Wirkliches,  ein 
Individuum,  die  objektivste  Art,  ihn  als  Vernunft  zu  nehmen,  dort 
als  ein  Besonderes,  hier  als  die  Allgemeinheit,  dort  die  eigenste, 
ausschließendste  Wirklichkeit,  hier  das  bloße  Gedachtsein.  Gott 
und  Logos  werden  unterschieden,  weil  das  Seiende  in  zweierlei 
Rücksicht  betrachtet  werden  muß,  denn  die  Reflexion  supponiert 


DAS  LEBEN  JESU  125 


das,  dem  sie  die  Form  des  Reflektierten  gibt,  zugleich  als  nicht 
reflektiert,  einmal  als  das  Einige,  in  dem  keine  Teilung,  Entgegen- 
setzung ist  und  zugleich  mit  der  Möglichkeit  der  Trennung,  der 
unendlichen  Teilung  des  Einigen.  Gott  und  Logos  sind  nur  in- 
sofern verschieden,  als  jener  der  Stoff"  in  der  Form  des  Logos  ist; 
der  Logos  selbst  ist  bei  Gott;  sie  sind  eins.  Die  Mannigfaltigkeit, 
die  Unendlichkeit  des  Wirklichen  ist  die  unendliche  Teilung  als 
wirklich;  alles  ist  durch  den  Logos;  die  Welt  ist  nicht  eine 
Emanation  der  Gottheit,  denn  sonst  wäre  das  Wirkliche  durchaus 
ein  Göttliches;  aber  als  Wirkliches  ist  es  Emanation,  Teil  der  un- 
endhchen  Teilung,  zugleich  aber  im  Teile  (iv  aZzw  fast  besser  auf 
das  nächste  oGoä  'h  0  ^qovsv)  oder  in  dem  unendlich  Teilenden 
(iv  aü-w  auf  Xö^o;  bezogen)  Leben.  Jeder  Teil,  außer  dem  das  Ganze 
ist,  ist  zugleich  ein  Ganzes,  ein  Leben,  und  dies  Leben  wiederum 
auch  als  ein  reflektiertes,  auch  in  Rücksicht  der  Teilung,  des 
Verhältnisses  als  Subjekt  und  Prädikat,  ist  Leben  (Cojy;)  und  auf- 
gefaßtes Leben  («?&;),  Wahrheit.  Diese  Endlichen  haben  Entgegen- 
setzungen ;  für  das  Licht  gibt  es  Finsternis.  Der  Täufer  Johannes 
war  nicht  das  Licht;  er  zeugte  nur  von  ihm;  er  fühlte  das  Einige, 
aber  es  kam  nicht  rein,  nur  in  bestimmte  Verhältnisse  beschränkt, 
zu  seinem  Bewußtsein.  Er  glaubte  daran,  aber  sein  Bewußtsein 
war  nicht  gleich  dem  Leben;  nur  ein  Bewußtsein,  das  dem  Leben 
gleich  und  nur  darin  verschieden  ist,  daß  dieses  das  Seiende,  jenes 
dies  Seiende  als  Reflektiertes  ist,  ist  (?w;.  Ungeachtet  Johannes  nicht 
selbst  das  <f<üz  war,  so  war  es  doch  in  jedem  Menschen,  der  in  die 
Menschenwelt  tritt  (xo^iioc;,  das  Ganze  der  menschlichen  Verhält- 
nisse und  menschlichen  Lebens,  beschränkter  als  rdvTc«  I,  3  und 
0  7qov£v).  Nicht  nur  wie  der  Mensch  in  der  Welt  ist  er  cpomCöiisvo; ; 
das  cpöj;  ist  auch  in  der  Welt  selbst ;  sie  ist  ganz ;  alle  ihre  Beziehungen, 
Bestimmungen  sind  das  Werk  des  äv&pcüxou  cfwxo;,  des  sich  ent- 
wickelnden Menschen,  ohne  daß  die  Welt,  in  der  diese  Verhält- 
nisse leben,  ihn,  die  zum  Bewußtsein  kommende  ganze  Natur, 
erkennte,  ohne  daß  sie  ins  Bewußtsein  der  Welt  käme.  Die 
Menschenwelt  ist  sein  Eigenstes  [-zi  l'oicc),  das  ihm  Verwandteste, 
und  sie  nehmen  ihn  nicht  auf,  sie  behandeln  ihn  als  fremd.  Die 
aber  in  ihm  sich  erkennen,  erhalten  dadurch  Macht,  die  nicht  eine 
neue  Kraft,  ein  Lebendiges  ausdrückt,  sondern  nur  den  Grad,  die 


126  G.W.  F.  HEGEL 


Gleichheit  oder  Ungleichheit  des  Lebens.  Sie  werden  nicht  ein 
Anderes,  aber  sie  erkennen  Gott  und  sich  als  Kinder  Gottes,  als 
schwächer  als  er,  aber  von  gleicher  Natur,  insofern  sie  sich  jener 
Beziehung  (övoiia)  des  av&ptürou  cpwTiCoiiivou  (pwTi  äXr|9-iv(u  bewußt  werden, 
ihr  Wesen  in  nichts  Fremdem,  sondern  in  Gott  findend. 

Bisher  war  nur  von  der  Wahrheit  selbst  und  dem  Menschen 
im  allgemeinen  gesprochen;  I,  14  erscheint  der  Logos  auch  in 
der  Modifikation  als  Individuum,  in  welcher  Gestalt  er  sich  auch 
uns  gezeigt  hat,  (iv8^puji:o;  ipydiicvo;  EtQ  X03J10V,  anders  ist  nichts  da, 
worauf  das  oütöv  des  Verses  I,  10  und  ff.  gehen  könnte).  Nicht  bloß 
vom  cpüj;  (I,  7),  auch  vom  Individuum  zeugte  Johannes  (I,  15). 

Die  Idee  von  Gott  mag  noch  so  sublimiert  werden,  so  bleibt 
immer  das  jüdische  Prinzip  der  Entgegensetzung  des  Gedankens 
gegen  die  Wirklichkeit,  des  Vernünftigen  gegen  das  Sinnliche,  die 
Zerreißung  des  Lebens,  ein  toter  Zusammenhang  Gottes  und  der 
Welt,  eine  Verbindung,  die  wahrhaft  nur  als  lebendiger  Zusammen- 
hang genommen  und  bei  welcher  von  den  Verhältnissen  der  Be- 
zogenen nur  mystisch  gesprochen  werden  kann. 

Der  am  häufigsten  vorkommende  und  bezeichnendste  Ausdruck 
des  Verhältnisses  Jesu  zu  Gott  ist,  daß  er  sich  Sohn  Gottes  nennt, 
und  sich  als  Sohn  Gottes  sich  als  dem  Sohn  des  Menschen  ent- 
gegensetzt. Die  Bezeichnung  dieses  Verhältnisses  ist  einer  der 
wenigen  Naturlaute,  die  in  der  damaligen  Judensprache  zufällig 
übriggeblieben  war  und  daher  unter  ihre  glücklichen  Ausdrücke 
gehört.  Das  Verhältnis  eines  Sohnes  zum  Vater  ist  nicht  eine  Ein- 
heit, ein  Begriff,  wie  etwa  Einheit,  Übereinstimmung  der  Gesin- 
nung, Gleichheit  der  Grundsätze  und  dergleichen,  eine  Einheit, 
die  nur  ein  Gedachtes  ist  und  vom  Lebendigen  abstrahiert,  sondern 
lebendige  Beziehung  Lebendiger,  gleiches  Leben,  nur  Modifika- 
tionen desselben  Lebens,  nicht  Entgegensetzung  des  Wesens,  nicht 
eine  Mehrheit  absoluter  Substantialitäten;  also  Gottes  Sohn,  das- 
selbe Wesen,  das  der  Vater  ist,  aber  für  jeden  Akt  der  Reflexion, 
jedoch  auch  nur  für  ein  solches,  ein  besonderes.  Auch  im  Aus- 
druck: ein  Sohn  des  Stammes  Koresch  z.  B.,  wie  die  Araber  den 
Einzelnen,  ein  Individuum  desselben  bezeichnen,  liegt  es,  daß 
dieser  Einzelne  nicht  bloß  ein  Teil  des  Ganzen,  das  Ganze  also 
nicht  etwas  außer  ihm,  sondern  er  selbst  eben  das  Ganze  ist,  das 


DAS  LEBEN  JESU  127 


der  ganze  Stamm  ist.  Es  ist  dies  auch  aus  der  Folge  klar,  die  es 
bei  einem  solchen  natürlichen  ungeteilten  Volke  auf  seine  Art 
Krieg  zu  führen  hat,  indem  jeder  Einzelne  aufs  grausamste  nieder- 
gemacht wird;  im  jetzigen  Europa  hingegen,  wo  jeder  Einzelne 
nicht  das  Ganze  des  Staates  in  sich  trägt,  sondern  das  Band  nur 
ein  Gedachtes,  das  gleiche  Recht  für  alle  ist,  wird  darum  nicht 
gegen  den  Einzelnen,  sondern  gegen  das  außer  jedem  liegende 
Ganze  Krieg  geführt;  wie  bei  jedem  echt  freien  Volk,  so  ist  bei 
den  Arabern  jeder  ein  Teil,  aber  zugleich  das  Ganze.  Nur  von 
Objekten,  von  Toten  gilt  es,  daß  das  Ganze  ein  Anderes  ist,  als 
die  Teile,  im  Lebendigen  hingegen  der  Teil  desselben  eben  so 
wohl  und  dasselbe  Eins,  als  das  Ganze.  Wenn  die  besonderen 
Objekte  als  Substanzen,  doch  zugleich  jedes  mit  seiner  Eigenschaft 
als  Individuum  (in  Zahlen)  zusammengefaßt  werden,  so  ist  ihr 
Gemeinsames,  die  Einheit,  nur  ein  Begriff,  nicht  ein  Wesen,  ein 
Seiendes;  aber  die  Lebendigen  sind  Wesen  als  abgesonderte  und 
ihre  Einheit  ist  ebensowohl  ein  Wesen.  Was  im  Reich  des  Toten 
Widerspruch  ist,  ist  es  nicht  im  Reiche  des  Lebens.  Ein  Baum, 
der  drei  Äste  hat,  macht  mit  ihnen  zusammen  einen  Baum,  aber 
jeder  Sohn  des  Baumes,  jeder  Ast,  auch  seine  andern  Kinder, 
Blätter  und  Blüten,  ist  selbst  ein  Baum;  die  Fasern,  die  dem  Aste 
Saft  aus  dem  Stamm  zuführen,  sind  von  der  gleichen  Natur  der 
Wurzeln;  ein  Baum,  umgekehrt  in  die  Erde  gesteckt,  wird  aus 
den  in  die  Luft  gestreckten  Wurzeln  Blätter  treiben  und  die  Zweige 
werden  sich  in  die  Erde  einwurzeln;  und  es  ist  eben  so  wahr,  daß 
hier  nur  ein  Baum  ist,  als  daß  es  drei  Bäume  sind. 

Diese  Weseneinheit  des  Vaters  und  des  Sohnes  in  der  Göttlich- 
keit fanden  auch  die  Juden  in  dem  Verhältnisse,  das  sich  Jesus  zu 
Gott  gab.  Sie  fanden  (Job.  V,  18),  er  mache  sich  selbst  Gott  gleich, 
indem  er  Gott  seinen  Vater  nenne.  Dem  jüdischen  Prinzip  der 
Herrschaft  Gottes  konnte  Jesus  zwar  die  Bedürfnisse  des  Menschen 
entgegenstellen  (wie  das  Bedürfnis,  den  Hunger  zu  befriedigen,  der 
Feier  des  Sabbats),  aber  auch  dies  nur  im  allgemeinen.  Die  tie- 
fere Entwickelung  dieses  Gegensatzes,  etwa  ein  Primat  der  prak- 
tischen Vernunft,  war  nicht  in  der  Bildung  jener  Zeiten.  In  seiner 
Entgegensetzung  stand  er  vor  den  Augen  nur  als  Individuum. 
Den  Gedanken  dieser  Individualität  zu  entfernen,  beruft  sich  Je- 


128  G.W.  F.  HEGEL 


sus,  besonders  bei  Johannes,  immer  auf  seine  Einigkeit  mit  Gott, 
der  dem  Sohne  Leben  in  sich  selbst  zu  haben  gegeben,  wie  der 
\'ater  selbst  Leben  in  sich  selbst  habe;  daß  er  und  der  Vater  eins 
sei;  er  sei  Brot,  vom  Himmel  herabgestiegen,  usw.:  harte  Aus- 
drücke (3x"/,y;poL  )Ayj:) ,  welche  dadurch  nicht  milder  werden,  daß  man 
sie  für  bildliche  erklärt  und  ihnen,  statt  sie  mit  Geist  als  Leben  zu 
nehmen,  Einheiten  der  Begriffe  unterschiebt.  Freilich,  sobald  man 
Bildlichem  die  Verstandesbegriffe  entgegensetzt  und  die  letzteren 
zum  Herrschenden  annimmt,  so  muß  alles  Bild  nur  als  Spiel,  als 
Beiwesen  der  Einbildungskraft  ohne  Wahrheit,  beseitigt  werden 
und  statt  des  Lebens  des  Bildes  bleibt  nur  Objektives. 

Jesus  nennt  sich  aber  nicht  nur  der  Sohn  Gottes,  er  nennt  sich 
auch  Sohn  des  Menschen.  Wenn  Sohn  Gottes  eine  Modifikation 
des  Göttlichen  ausdrückt,  so  wäre  ebenso  Sohn  des  Menschen  eine 
Modifikation  des  Menschen.  Aber  der  Mensch  ist  nicht  eine  Na- 
tur, ein  Wesen,  wie  die  Gottheit,  sondern  ein  Begriff,  ein  Ge- 
dachtes; und  der  Menschensohn  heißt  ein  dem  Begriffe  Mensch 
Subsumiertes.  Jesus  ist  Mensch,  ist  ein  eigentliches  Urteil;  das 
Prädikat  ist  nicht  ein  Wesen,  sondern  ein  Allgemeines  (<zv»p(.)-o; 
der  Mensch,  u-o;  rh^6i-<i'j  ein  Mensch).  Der  Gottessohn  ist  auch 
Menschensohn;  das  Göttliche  in  einer  besonderen  Gestalt  erscheint 
als  ein  Mensch.  Der  Zusammenhang  des  Unendlichen  und  des 
EndUchen  ist  freihch  ein  heiliges  Geheimnis,  weil  dieser  Zu- 
sammenhang das  Leben  selbst  ist.  Die  Reflexion,  die  das  Leben 
trennt,  kann  es  in  Endliches  und  Unendliches  unterscheiden,  und 
nur  die  Beschränkung,  das  Endliche  für  sich  betrachtet,  gibt  den 
Begriff  des  Menschen  als  der  Gottheit  entgegengesetzt;  außerhalb 
der  Reflexion,  in  der  Wahrheit,  findet  sie  nicht  statt.  Diese  Be- 
deutung des  Menschensohnes  tritt  da  am  hellsten  hervor,  wo  der 
Menschensohn  dem  Gottessohn  entgegengesetzt  ist,  wie  Joh.  V, 
26,  27.  Wie  der  Vater  Leben  in  sich  selbst  hat,  so  gab  er  auch 
dem  Sohne,  Leben  in  sich  selbst  zu  haben;  und  er  gab  ihm  auch 
Macht,  Gericht  zuhalten,  weil  er  Menschensohn  ist,»  denn  (V,  22) 
«der  Vater  richtet  niemand,  sondern  hat  das  Richten  dem  Sohne 
gegeben.»  Dagegen  heißt  es  Joh.  III,  17  (Matth.  XVIII,  11):  «Gott 
hat  seinen  Sohn  nicht  in  die  Welt  geschickt,  daß  er  die  Welt 
richte,  sondern  daß  die  \\'elt  durch  ihn  gerettet  werde.»  Richten 


DAS  LEBEN  JESU  129 


ist  nicht  ein  Akt  des  Göttlichen;  denn  das  Gesetz,  das  im  Richten 
ist,  ist  das  den  zu  Richtenden  entgegengesetzte  Allgemeine,  und 
das  Richten  ist  ein  Urteilen,  ein  Gleich-  oder  Ungleichsetzen,  das 
Anerkennen  einer  gedachten  Einheit  oder  einer  unvereinbaren 
Entgegensetzung;  der  Gottessohn  richtet,  sondert,  trennt  nicht, 
hält  nicht  Entgegengesetztes  in  seiner  Entgegensetzung;  eine 
Äußerung,  das  Regen  des  Göttlichen  ist  kein  Gesetzgeben,  Gesetz- 
aufstellen, kein  Behaupten  der  Herrschaft  des  Gesetzes,  sondern 
die  Welt  soll  durch  das  Göttliche  gerettet  werden.  Auch  Retten 
ist  ein  Ausdruck,  der  nicht  gut  vom  Geiste  gebraucht  wird;  denn 
er  bezeichnet  die  absolute  Unmacht  gegen  die  Gefahr  desjenigen, 
der  in  Gefahr  schwebt;  und  die  Rettung  ist  insofern  die  Handlung 
eines  Fremden  zu  einem  Fremden,  und  die  Wirkung  des  Gött- 
lichen kann  nur  insofern  als  Rettung  genommen  werden,  als  der 
Gerettete  nur  seinem  vorhergehenden  Zustande,  nicht  seinem 
Wesen  fremd  wird.  Der  Vater  richtet  nicht,  auch  nicht  der  Sohn, 
der  Leben  in  ihm  selbst  hat,  insofern  er  eins  ist  mit  dem  Vater. 
Aber  zugleich  hat  er  auch  Macht  erhalten,  und  die  Gewalt,  Ge- 
richt zu  machen,  weil  er  Menschensohn  ist;  denn  die  Modifikation 
ist  als  solche,  als  ein  Beschränktes,  der  Entgegensetzung  und  der 
Trennung  in  Allgemeines  und  Besonderes  fähig;  in  ihm  findet 
Vergleichung  in  Rücksicht  auf  die  Materie,  Vergleichung  der  Kraft, 
also  Macht  statt,  und  in  Rücksicht  auf  die  Form,  die  Tätigkeit  des 
Vergleichens,  der  Begriff',  das  Gesetz  und  das  Trennen  oder  Ver- 
binden desselben  mit  einem  Individuum,  Urteilen  und  Gericht- 
halten. Zugleich  aber  könnte  wieder  der  Mensch  nicht  richten, 
wenn  er  nicht  ein  Göttliches  wäre ;  denn  dadurch  allein  ist  in  ihm 
der  Maßstab  des  Richtens,  die  Trennung  möglich;  in  dem  Gött- 
lichen ist  seine  Macht,  zu  binden  und  zu  lösen,  gegründet.  Das 
Richten  selbst  kann  wieder  von  zweierlei  Art  sein,  das  Ungött- 
liche entweder  nur  in  der  Vorstellung  oder  in  der  Wirklichkeit 
zu  beherrschen.  Jesus  sagt  (Joh.  III,  18,  19):  «Wer  an  den  Gottes- 
sohn glaubt,  wird  nicht  gerichtet,  wer  aber  nicht  an  ihn  glaubt, 
ist  schon  gerichtet,»  weil  er  diese  Beziehung  des  Menschen  zu 
Gott,  seine  Göttlichkeit  nicht  erkannt  hat,  und:  «Ihr  Gericht  ist 
ihre  größere  Liebe  selbst  zur  Finsternis  als  zur  Wahrheit.»  In 
ihrem  Unglauben  besteht  also  das  Gericht  selbst;  der  göttliche 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  9 


130  G.W.  F.  HEGEL 


Mensch  naht  sich  dem  Bösen  nicht  als  eine  es  beherrschende, 
unterdrückende  Gewalt,  denn  der  göttliche  Menschensohn  hat 
zwar  Macht  erhalten,  aber  nicht  Gewalt  (Unterschied  von  o'jyaw.- 
und  i^ouatct);  er  behandelt,  bekämpft  die  Welt  nicht  in  der  Wirk- 
lichkeit; erbringt  ihr  ihr  Gericht  nicht  als  Bewußtsein  einer  Strafe 
bei;  was  mit  ihm  nicht  leben,  nicht  genießen  kann,  was  sich  ab- 
gesondert hat  und  getrennt  steht,  dessen  selbstgesteckte  Grenzen 
erkennt  er  als  solche  Beschränkungen,  wenn  sie  schon  vielleicht 
der  höchste  Stolz  der  Welt  sind  und  von  ihr  nicht  als  Beschrän- 
kungen gefühlt  werden  und  ihr  Leiden  für  sie  vielleicht  nicht  die 
Form  des  Leidens,  wenigstens  nicht  die  Form  der  rückwirkenden  Be- 
leidigung eines  Gesetzes  hat.  Ihr  Unglaube  aber  ist  es,  was  sie 
in  eine  tiefere  Sphäre  setzt,  ihr  eigenes  Gericht,  wenn  sie  sich  in 
ihrem  Unbewußtsein  des  Göttlichen,  in  ihrer  Erniedrigung  auch 
gefällt. 

Das  Verhältnis  Jesu  zu  Gott,  als  eines  Sohnes  zum  Vater,  konnte, 
je  nachdem  der  Mensch  das  Göttliche  ganz  außer  sich  setzt,  oder 
nicht,  entweder  als  Erkenntnis  oder  mit  dem  Glauben  gefaßt  wer- 
den. Die  Erkenntnis  setzt  für  ihre  Art,  jenes  Verhältnis  aufzu- 
nehmen, zweierlei  Naturen,  eine  menschliche  und  eine  göttliche 
Natur,  ein  menschUches  Wesen  und  ein  göttliches  Wesen,  deren 
jedes  Persönlichkeit,  Substantialität  hat,  und  die  in  jeder  Art  von 
Beziehung  zwei  bleiben,  weil  sie  als  absolut  verschieden  gesetzt 
sind.  Diejenigen,  die  diese  absolute  Verschiedenheit  setzen,  und 
zugleich  doch  fordern,  die  Absoluten  in  der  innigsten  Beziehung 
als  Eins  zu  denken,  heben  nicht  in  der  Rücksicht  den  Verstand 
auf,  daß  sie  etwas  ankündigten,  das  außerhalb  seines  Gebietes  wäre, 
sondern  er  ist  es,  dem  sie  zumuten,  absolut  verschiedene  Substan- 
zen aufzufassen  und  zugleich  absolute  Einheit  derselben;  sie  zer- 
stören ihn  also,  indem  sie  ihn  setzen.  Diejenigen,  die  die  gege- 
bene Verschiedenheit  der  Substanzialitäten  annehmen,  aber  ihre 
Einheit  leugnen,  sind  konsequenter.  Zu  jenem  sind  sie  berechtigt, 
denn  es  wird  gefordert,  Gott  und  Mensch  zu  denken,  und  auch 
zu  diesem,  denn  die  Trennung  zwischen  Gott  und  Mensch  auf- 
zuheben, wäre  gegen  das  erste  ihnen  Zugemutete.  Sie  retten  auf 
diese  Art  wohl  den  Verstand,  aber  wenn  sie  bei  dieser  absoluten 
Verschiedenheit  der  Wesen  stehen  bleiben,  so  erheben  sie  den 


DAS  LEBEN  JESU  131 


Verstand,  die  absolute  Trennung,  das  Töten  zum  Höchsten  des 
Geistes.    Auf  diese  Art  nahmen  die  Juden  Jesum  auf. 

Das  Wesen  des  Jesus  als  ein  Verhältnis  des  Sohnes  zum  Vater 
kann  in  der  Wahrheit  nur  mit  dem  Glauben  aufgefaßt  werden, 
und  Glauben  an  sich  forderte  Jesus  von  seinem  Volke.  Dieser 
Glaube  charakterisiert  sich  durch  seinen  Gegenstand,  das  Gött- 
liche. Der  Glaube  an  Wirkliches  ist  eine  Erkenntnis  irgend  eines 
Objekts,  eines  Beschränkten,  und  so  wie  ein  Objekt  ein  Anderes 
ist  als  Gott,  so  sehr  ist  diese  Erkenntnis  verschieden  von  dem 
Glauben  an  das  Göttliche.  Gott  ist  ein  Geist,  und  die  ihn  anbe- 
ten, müssen  ihn  «in  Geist  und  Wahrheit  anbeten».  Wie  könnte 
dasjenige  einen  Geist  erkennen,  das  nicht  selbst  ein  Geist  wäre? 
Die  Beziehung  eines  Geistes  zu  einem  Geiste  ist  Gefühl  der  Har- 
monie, ihre  Vereinigung;  wie  könnte  Heterogenes  sich  vereinigen .f* 
Glaube  an  Göttliches  ist  nur  dadurch  möglich,  daß  im  Glauben- 
den selbst  Göttliches  ist,  welches  in  dem,  woran  es  glaubt,  sich 
selbst,  seine  eigene  Natur  wiederfindet,  wenn  es  auch  nicht  das 
Bewußtsein  hat,  daß  dies  Gefundene  seine  eigne  Natur  wäre. 
Denn  in  jedem  Menschen  selbst  ist  das  Licht  und  Leben,  er  ist 
das  Eigentum  des  Lichts;  und  er  wird  vom  Lichte  nicht  erleuch- 
tet, wie  ein  dunkler  Körper,  der  nur  fremden  Glanz  trägt,  sondern 
sein  eigner  Feuerstoff  gerät  in  Brand  und  ist  eine  eigne  Flamme. 
Der  Mittelzustand  zwischen  der  Finsternis,  dem  Fernsein  von  dem 
Göttlichen,  dem  Gefangenliegen  unter  der  Wirklichkeit  und 
zwischen  einem  eignen  ganz  götthchen  Leben,  einer  Zuversicht 
auf  sich  selbst,  ist  der  Glaube  an  das  Göttliche.  Er  ist  das  Ah- 
nen, das  Erkennen  des  Göttlichen  und  das  Verlangen  der  Verei- 
nigung mit  ihm,  die  Begierde  gleichen  Lebens;  aber  er  ist  noch 
nicht  die  Stärke  des  Göttlichen,  das  alle  Fäden  seines  Bewußtseins 
durchdrungen,  all  seine  Beziehungen  zu  der  Welt  berichtigt  hat, 
in  seinem  ganzen  Wesen  weht.  Der  Glaube  an  das  Göttliche 
stammt  also  aus  der  Göttlichkeit  der  eignen  Natur;  nur  die  Modi- 
fikation der  Gottheit  kann  sie  erkennen.  Als  Jesus  seine  Jünger 
fragte:  «Wer  sagen  die  Menschen,  daß  ich,  der  Menschensohn, 
sei?»,  erzählten  seine  Freunde  die  Meinungen  der  Juden,  welche 
auch  indem  sie  ihn  verklärten,  ihn  über  die  Wirklichkeit  der 
Menschenwelt   hinaufsetzten,    doch  nicht  aus   der  Wirklichkeit 


132  G.W.  F.  HEGEL 


herausgehen  konnten,  sondern  in  ihm  nur  ein  Individuum  sahen, 
das  sie  auf  eine  unnatürUche  Art  mit  ihr  verbanden.  Als  aber  Pe- 
trus seinen  Glauben  an  den  Menschensohn,  daß  er  in  ihm  den 
Sohn  Gottes  erkenne,  ausgesprochen  hatte,  so  preist  ihn  Jesus  selig, 
ihn,  den  Simon,  den  Sohn  des  Jona,  was  er  für  die  andern  Men- 
schen war,  den  Menschensohn ;  denn  der  \'ater  im  Himmel  habe 
ihm  dies  geoffenbart.  Einer  Offenbarung  bedurfte  es  nicht  zu  einer 
bloßen  Erkenntnis  von  göttlicher  Natur.  Ein  großer  Teil  der  Chri- 
stenheit lernt  diese  Erkenntnis;  den  Kindern  werden  Schlüsse  aus 
den  Wundern  usw.  gegeben,  daß  Jesus  Gott  sei;  man  kann  dieses 
Lernen,  dies  Empfangen  keine  göttliche  Offenbarung  nennen; 
dieses  Glaubens  Befehl  und  Prügel  tun  es  hier.  «Mein  Vater  im 
Himmel  hat  es  dir  geoffenbart;  das  Göttliche,  das  in  dir  ist,  hat 
mich  als  Göttliches  erkannt;  du  hast  mein  Wesen  verstanden;  es 
hat  in  dem  deinigen  wieder  getönt. »  Den  unter  den  Menschen 
als  Simon,  Sohn  des  Jona,  Gangbaren  macht  er  zu  Petrus,  zum 
Felsen,  der  seine  Gemeine  gründen  werde.  Er  setzt  ihn  nun  in 
seine  eigne  Macht  ein,  zu  binden  und  zu  lösen  —  eine  Macht, 
die  nur  einer  das  Göttliche  rein  in  sich  tragenden  Natur  zukom- 
men kann,  um  jede  Entfernung  von  ihm  zu  erkennen.  «Es  ist 
nunmehr  kein  anderes  Urteil  im  Himmel  als  das  deinige;  was  du 
auf  Erden  als  frei  oder  gebunden  erkennst,  ist  es  auch  vor  den 
Augen  des  Himmels».  Nun  erst  wagt  es  Jesus,  seinen  Jüngern 
von  seinem  bevorstehenden  Schicksal  zu  sprechen,  aber  das  Be- 
wußtsein des  Petrus  von  der  Göttlichkeit  seines  Lehrers  charak- 
terisiert sich  sogleich  nur  als  Glauben,  der  zwar  das  Göttliche 
gefühlt,  aber  noch  nicht  eine  Erfüllung  des  ganzen  Wesens  durch 
dasselbe,  noch  kein  Empfangen  des  heiligen  Geistes  ist.  Es  ist 
eine  oft  wiederkehrende  \^orstellung,  daß  der  Glaube  der  Freunde 
Jesu  an  ihn  Gott  zugeschrieben  wird.  Besonders  Joh.  XMI,  6, 
nennt  er  sie  Menschen,  die  ihm  von  Gott  gegeben;  so  wie  Joh. 
VI,  29,  ein  Werk  Gottes,  eine  göttliche  Wirkung,  an  ihn  zu  glau- 
ben: ein  göttliches  Wirken  ist  ganz  etwas  anderes  als  ein  Lernen 
und  Unterrichtetwerden.  Joh.  VI,  65:  «Niemand  kann  zu  mir 
kommen,  wenn  es  ihm  nicht  von  meinem  XziQv  gegeben  ist. » 

Dieser  Glaube  ist  aber  nur  die  erste  Stufe  der  Beziehung  mit 
Jesu,  die  in  ihrer  \'ollendung  so  innig  vorgestellt  wird,  daß  seine 


DAS  LEBEN  JESU  133 


Freunde  eins  seien  mit  ihm.  Bis  sie  selbst  das  Licht  haben,  sollen 
sie  an  das  Licht  glauben,  daß  sie  Söhne  des  Lichts  werden  (Joh. 
XII,  36).  Zwischen  denen,  die  nur  erst  den  Glauben  an  das  Licht 
haben,  und  denen,  die  selbst  Kinder  des  Lichts  sind,  ist  der  Unter- 
schied wie  zwischen  dem  Täufer  Johannes,  der  nur  vom  Lichte 
zeugte,  und  Jesu,  dem  individualisierten  Lichte.  Wie  Jesus  ewiges 
Leben  in  sich  hat,  so  sollen  auch  die  Gläubigen  an  ihn  (Joh.  VI, 
40)  zum  unendlichen  Leben  kommen.  Am  klarsten  ist  die  leben- 
dige Vereinigung  Jesu  in  seinen  letzten  Reden  bei  Johannes  dar- 
gestellt: sie  in  ihnen  und  er  in  ihnen,  sie  zusammen  eins,  er  der 
Weinstock,  sie  die  Ranken ;  in  den  Teilen  dieselbe  Natur,  das  glei- 
che Leben,  das  im  Ganzen  ist.  Diese  Vollendung  seiner  Freunde 
ist  es,  worum  Jesus  seinen  Vater  bittet,  und  die  er  ihnen  verheißt, 
wenn  er  von  ihnen  entfernt  sein  werde.  So  lange  er  unter  ihnen 
lebte,  blieben  sie  nur  Gläubige,  denn  sie  beruhten  nicht  auf  sich 
selbst.  Jesus  war  ihr  Lehrer  und  Meister,  ein  individueller  Mittel- 
punkt, von  dem  sie  abhingen.  Sie  hatten  noch  nicht  eignes,  un- 
abhängiges Leben.  Der  Geist  Jesu  regierte  sie.  Aber  nach  seiner 
Entfernung  fiel  auch  diese  Objektivität,  diese  Scheidewand  zwi- 
schen ihnen  und  Gott  und  der  Geist  Gottes  konnte  dann  ihr  gan- 
zes Wesen  beleben.  Wenn  Jesus  (Joh.  VII,  38,  39)  sagt:  «Wer  an 
mich  glaubt,  aus  dessen  Leibe  werden  Ströme  des  Lebens  quel- 
len», so  macht  Johannes  die  Anmerkung,  daß  dies  erst  von  der 
noch  künftigen  durchgängigen  Belebung  durch  den  heiligen  Geist 
gemeint  gewesen  sei,  den  sie  noch  nicht  empfangen  hatten,  weil 
Jesus  noch  nicht  verklärt  war.  Es  muß  aller  Gedanke  einer  Ver- 
schiedenheit des  Wesens  Jesu  und  derer,  in  denen  der  Glaube  an 
ihn  zum  Leben  geworden,  in  denen  selbst  das  Göttliche  ist,  ent- 
fernt werden.  Wenn  Jesus  so  häufig  von  sich  als  einer  eminenten 
Natur  spricht,  so  geschieht  dies  im  Gegensatz  gegen  die  Juden. 
Von  diesen  trennt  er  sich  und  erhält  dadurch  die  Gestalt  eines 
Individuums  auch  in  Ansehung  des  Göttlichen.  «Ich  bin  die 
Wahrheit  und  das  Leben;  wer  an  mich  glaubt»  —  dies  bestän- 
dige, einförmige  Vorschieben  des  Ich  bei  Johannes  ist  wohl  eine 
Absonderung  seiner  Persönlichkeit  gegen  den  jüdischen  Charakter. 
Aber  so  sehr  er  gegen  diesen  Geist  sich  zum  Individuum  macht, 
ebensosehr  hebt  er  alle  göttliche  Persönlichkeit,  göttliche  Indivi- 


134  G.W.  F.  HEGEL 


dualität  gegen  seine  Freunde  auf,  mit  denen  er  nur  eins  sein  will, 
die  in  ihm  eins  sein  sollen.  Johannes  sagt  (II,  25)  von  Jesu:  «Er 
wußte,  was  im  Menschen  war»,  und  der  treuste  Spiegel  seines 
schönen  Glaubens  an  die  Natur  sind  seine  Reden  beim  Anblick 
unverdorbener  Natur  (Matth.  XVIII,  i  ff.,  XIX,  3  ff.).  «Wenn  ihr 
nicht  werdet  wie  die  Kinder,  so  werdet  ihr  nicht  in  das  göttliche 
Reich  kommen;  der  Kindlichste  ist  der  Größte  in  der  himmlischen 
Welt,  und  wer  ein  solches  Kind  in  meinem  Namen  aufnimmt, 
nimmt  mich  in  sich  auf.  Wer  in  ihm  sein  reines  Leben  zu  fühlen, 
das  Heilige  seiner  Natur  zu  erkennen  fähig  ist,  der  hat  mein  Wesen 
gefühlt.  Wer  diese  heilige  Reinheit  besudelt,  dem  wäre  es  gut, 
daß  ihm  ein  Mühlstein  an  den  Hals  gehängt  und  daß  er  im  tiefsten 
Meer  ersäuft  würde. »  O  der  schmerzlichen  Notwendigkeit  solcher 
Verletzungen  des  Heiligen!  Der  tiefste,  heiligste  Kummer  einer 
schönen  Seele,  ihr  unbegreiflichstes  Rätsel,  daß  die  Natur  zerstört, 
das  Heilige  verunreinigt  werden  muß!  Wie  dem  \"erstande  das 
Göttliche  und  das  Einssein  mit  Gott  das  Unbegreifliche  ist,  so  ist 
es  dem  edlen  Gemüt  die  Entfernung  von  Gott.  «Sehet  zu,  ver- 
achtet nicht  eins  dieser  Kleinen;  denn  ich  sage  euch,  ihre  Engel 
in  den  Himmeln,  beständig  schauen  sie  das  Angesicht  meines  Va- 
ters im  Himmel.»  Unter  den  Engeln  der  Kinder  können  keine 
objektiven  Wesen  verstanden  werden.  Denn  (um  einen  Grund  ad 
hominem  anzugeben)  auch  die  Engel  der  andern  Menschen  müßte 
man  als  in  der  Anschauung  Gottes  lebend  denken.  In  der  Engel 
Anschauen  Gottes  ist  sehr  glücklich  viel  vereinigt:  das  Bewußt- 
lose, die  unentwickelte  Einigkeit,  das  Sein  und  Leben  in  Gott  ist, 
weil  es  als  eine  Modifikation  der  Gottheit  in  den  existierenden 
Kindern  vorgestellt  werden  soll,  von  Gott  getrennt;  aber  ihr  Sein, 
ihr  Tun  ist  eine  ewige  Anschauung  desselben. 

Um  den  Geist,  das  Göttliche  außer  seiner  Beschränkung  und 
die  Gemeinschaft  des  Beschränkten  mit  dem  Lebendigen  darzu- 
stellen, trennt  Plato  das  reine  Lebendige  und  das  Beschränkte 
durch  die  Verschiedenheit  der  Zeit.  Er  läßt  die  reinen  Geister 
ganz  in  der  Anschauung  des  Göttlichen  gelebt  haben  und  sie  im 
spätem  Erdenleben,  nur  mit  verdunkeltem  Bewußtsein  dieses 
Himmlischen,  dieselben  sein.  Auf  eine  andere  Art  trennt  und 
vereinigt  hier  Jesus  die  Natur,  das  Göttliche  des  Geistes  und  die 


DAS  LEBEN  JESU  135 


Beschränkung.  Als  Engel  ist  der  kindliche  Geist  nicht  als  ohne 
alle  Wirklichkeit,  ohne  Existenz,  in  Gott,  sondern  zugleich  als 
Söhne  Gottes,  als  Besondere  dargestellt.  Die  Entgegensetzung 
des  Anschauenden  und  des  Angeschauten,  daß  sie  Subjekt  und 
Objekt  sind,  fällt  in  der  Anschauung  selbst  weg.  Ihre  Verschieden- 
heit ist  nur  eine  Möglichkeit  der  Trennung;  ein  Mensch,  der 
ganz  in  der  Anschauung  der  Sonne  versunken  wäre,  wäre  nur  ein 
Gefühl  des  Lichtes,  ein  Lichtgefühl  als  Wesen;  der  ganz  in  der 
Anschauung  eines  andern  Menschen  lebte,  wäre  ganz  dieser 
andere  selbst,  nur  mit  der  Möglichkeit,  ein  andrer  zu  sein. 

Was  aber  verloren  ist,  was  sich  entzweit  hat,  wird  durch  die 
Rückkehr  zur  Einigkeit,  zum  Werden  wie  Kinder  wiederge- 
wonnen. Was  aber  diese  Wiedervereinigung  von  sich  stößt,  fest 
gegen  sie  hält,  das  hat  sich  abgesondert.  «Das  sei  euch  fremd, 
mit  dem  ihr  nichts  gemein  habet;  was  ihr  unter  seiner  Absonderung 
gebunden  erkläret,  ist  es  auch  im  Himmel ;  was  ihr  aber  löset,  für 
frei  und  damit  für  vereinigt  erkläret,  ist  auch  im  Himmel  frei,  in 
ihm  Eins,  schaut  die  Gottheit  an.»  In  einer  andern  Gestalt  stellt 
Jesus  (Matth.  XVIII,  19)  diese  Einigkeit  dar:  «Wo  zwei  euer 
auf  etwas  einig  sind,  darum  zu  bitten,  wird  es  euch  der  Vater  ge- 
schehen lassen.»  Die  Ausdrücke:  bitten,  gewähren,  beziehen  sich 
eigentlich  auf  Vereinigung  über  Objekte  [r.rjd-f \xaza);  für  eine  solche 
nur  hat  die  jüdische  Wirklichkeitssprache  Ausdrücke.  Das  Objekt 
kann  aber  hier  nichts  anders  sein  als  nur  die  reflektierte  Einigkeit 
(die  a-Jiicpojvict  -ojv  oDO'v  oua'ojv) ;  als  Objekt  ist  es  ein  Schönes,  subjektiv 
die  Vereinigung,  denn  in  eigentlichen  Objekten  können  Geister 
nicht  einig  sein.  Das  Schöne,  eine  Einigkeit  euer  zwei  oder  drei, 
ist  es  auch  in  der  Harmonie  des  Ganzen,  ist  ein  Laut,  Einklang 
in  dieselbe  und  ist  von  ihr  gewährt;  es  ist,  weil  es  in  ihr  ist,  weil 
es  ein  Göttliches  ist.  Und  mit  dieser  Gemeinschaft  mit  dem 
Göttlichen  sind  die  Einigen  zugleich  in  der  Gemeinschaft  des 
Jesus:  «Wo  zwei  oder  drei  vereinigt  sind  in  meinem  Geist  (si;  tö 
iu-öv  ö'vo|i.c<,  wie  Matth.  X,  41)  in  der  Rücksicht,  in  der  mir  Sein  und 
ewiges  Leben  zukommt,  in  der  ich  bin,  bin  ich  in  ihrer  Mitte;  so 
ist  mein  Geist.»  So  bestimmt  erklärt  sich  Jesus  gegen  Persönlich- 
keit, gegen  eine  seinen  vollendeten  Freunden  entgegengesetzte 
Individualität  seines  Wesens  (gegen  den  Gedanken  eines  persön- 


136  G.W.  F.  HEGEL 


liehen  Gottes),  von  welcher  der  Grund  eine  absolute  Besonderheit 
seines  Seins  gegen  sie  wäre.  Ein  Ausdruck  über  die  Vereinigung 
Liebender  (Matth.  XIX,  5)  gehört  auch  hierher:  «Die  zwei.  Mann 
und  Weib,  werden  eins  sein,  so  daß  sie  nun  nicht  mehr  zwei  sind.» 
Was  also  Gott  vereinigt  hat,  soll  der  Mensch  nicht  trennen.  Sollte 
sich  diese  Vereinigung  nur  auf  die  ursprüngliche  Bestimmung 
des  Mannes  und  des  Weibes  für  einander  beziehen,  so  paßte  dieser 
Grund  nicht  gegen  Scheidung  der  Ehe,  denn  durch  die  Scheidung 
wird  jene  Bestimmung,  die  Vereinigung  des  Begriffs  nicht  auf- 
gehoben, welche  bliebe,  wenn  auch  eine  lebendige  Vereinigung 
zertrennt  wird.  Von  einer  solchen  ist  gesagt,  daß  sie  eine  Wirkung 
Gottes,  ein  Göttliches  ist. 

Da  Jesus  mit  dem  ganzen  Genius  seines  Volkes  in  den  Kampf 
trat  und  mit  seiner  Welt  durchaus  gebrochen  hatte,  so  konnte  die 
Vollendung  seines  Schicksals  keine  andere  sein,  als  durch  den 
feindlichen  Genius  des  Volkes  erdrückt  zu  werden.  Die  Verherr- 
lichung des  Menschensohns  in  diesem  Untergange  ist  nicht  das 
Negative,  alle  Beziehungen  an  sich  mit  der  Welt  aufgegeben  zu 
haben,  sondern  das  Positive,  der  unnatürlichen  Welt  seine  Natur 
versagt  und  sie  lieber- im  Kampfund  Untergang  gerettet,  als  sich 
entweder  mit  Bewußtsein  unter  die  A'erdorbenheit  a;ebeua;t.  oder 
ohne  Bewußtsein  von  ihr  beschlichen  in  ihr  sich  fortgewälzt  zu 
haben.  Jesus  hatte  das  Bewußtsein  der  Notwendigkeit  des  Unter- 
gangs seines  Individuums  und  suchte  auch  seine  Jünger  von  ihr 
zu  überzeugen.  Aber  sie  konnten  ihr  Wesen  nicht  von  seiner 
Person  trennen ;  sie  waren  nur  noch  Glaubende.  Als  Petrus  eben 
im  Menschensohn  das  Göttliche  anerkannt  hatte,  glaubte  Jesus 
seine  Freunde  föhig  zu  sein,  ihre  Absonderung  von  ihm  ins  Be- 
wußtsein zu  bringen  und  ihren  Gedanken  zu  tragen.  Er  sprach 
ihnen  also,  unmittelbar  nachdem  er  von  Petrus  seinen  Glauben 
gehört  hatte,  davon.  Aber  in  dem  Erschrecken  des  Petrus  darüber 
zeigte  sich  der  Abstand  des  Glaubens  von  der  \"ollendung.  Erst 
nach  der  Entfernuns;  seines  Individuums  konnte  ihre  Abhängig- 
keit  davon  aufhören  und  eigner  Geist,  oder  der  göttliche  Geist  in 
ihnen  selbst  bestehen.  «Es  ist  auch  nützlich,  daß  ich  weggehe, 
sagt  Jesus  (Joh.  XVI,  7);  denn  wenn  ich  nicht  abginge,  so  käme 
der  Tröster  nicht  zu  euch,  der  Geist  der  Wahrheit  (Joh.  XIV,  16), 


DAS  LEBEN  JESU  137 


den  die  Welt  nicht  aufnehmen  kann,  weil  sie  ihn  nicht  erkennt. 
So  lasse  ich  euch  nicht  als  Waisen  zurück;  ich  komme  zu  euch 
und  ihr  werdet  mich  schauen,  daß  ich  lebe  und  daß  auch  ihr  le- 
bet. —  Wenn  ihr  das  Göttliche  nicht  mehr  nur  außer  euch,  nur 
in  mir  schauet,  sondern  selbst  Leben  in  euch  habt,  dann  wird  es 
auch  in  euch  zum  Bewußtsein  kommen  (Joh.  XV,  27),  daß  ihr 
von  Anbeginn  mit  mir  seid,  daß  unsere  Naturen  eins  sind  in  der 
Liebe  und  in  Gott.  —  Der  Geist  wird  euch  in  alle  Wahrheit  lei- 
ten (Joh.  XVI,  13)  und  euch  alles  in  Erinnerung  bringen,  was  ich 
euch  sagte.  Er  ist  ein  Tröster,  wenn  Trost  geben  die  Aussicht 
auf  ein  gleiches  oder  größeres  Gut,  als  das  verlorene  ist,  geben 
heißt.  So  seid  ihr  nicht  als  Waisen  zurückgelassen,  denn  so  viel 
werdet  ihr  in  euch  selbst  empfangen.» 

Das  Individuum  setzt  Jesus  auch  (Matth.  XII,  31,  ff.)  gegen  den 
Geist  des  Ganzen.  «Wer  einen  Menschen  (mich  als  Menschen- 
sohn) lästert,  dem  kann  diese  Sünde  verziehen  werden.  Wer  aber 
den  Geist  selbst,  das  Göttliche  lästert,  dessen  Sünde  wird  nicht 
in  dieser,  noch  in  der  kommenden  Zeit  vergeben.  Aus  dem  Über- 
fluß des  Herzens  spricht  der  Mund,  aus  dem  Reichtum  eines  gu- 
ten Geistes  gibt  der  Gute  Gutes,  aus  dem  bösen  Geist  gibt  der 
Böse  Böses.  —  Wer  das  Einzelne  lästert,  mich  als  Individuum, 
der  schließt  sich  nur  von  mir  aus,  nicht  von  der  Liebe;  wer  sich 
aber  vom  Göttlichen  absondert,  die  Natur  selbst,  den  Geist  in  ihr 
lästert,  dessen  Geist  hat  das  Heilige  in  sich  zerstört,  und  er  ist 
darum  unfähig,  seine  Trennung  aufzuheben  und  sich  zur  Liebe, 
zum  Heiligen  zu  vereinigen.  Durch  ein  Zeichen  könntet  ihr  er- 
schüttert werden,  aber  die  verlorene  Natur  stellte  sich  darum 
nicht  in  euch  her.  Die  Eumeniden  eures  Wesens  könnten  er- 
schreckt werden,  aber  die  Leere,  die  die  vertriebenen  Dämonen 
euch  zurücklassen,  würde  nicht  von  der  Liebe  erfüllt,  sondern  sie 
zöge  eure  Furien  wieder  zurück,  die  nun  verstärkt  durch  euer 
Bewußtsein  selbst,  daß  sie  Furien  der  Hölle  sind,  eure  Zerstörung 
vollendeten.» 

Die  Vollendung  des  Glaubens,  die  Rückkehr  zur  Gottheit,  aus 
der  der  Mensch  geboren  ist,  schließt  den  Zirkel  seiner  Entwicke- 
lung.  Alles  lebt  in  der  Gottheit,  alle  Lebendigen  sind  seine  Kin- 
der.   Aber  das  Kind  trägt  die  Einigkeit,  den  Zusammenhang,  den 


138  G.W.  F.  HEGEL 


Einklang  in  die  Harmonie  unzerstört,  aber  unentwickelt  in  sich; 
es  beginnt  mit  dem  Glauben  an  Götter  außer  sich,  mit  der  Furcht, 
bis  es  selbst  immer  mehr  gehandelt,  getrennt  hat,  aber  in  den  Ver- 
einigungen zur  ursprünglichen,  aber  nun  entwickelten,  selbstpro- 
duzierten gefühlten  Einigkeit  zurückkehrt  und  die  Gottheit  er- 
kennt, d.  h.  der  Geist  Gottes  in  ihm  ist,  aus  seinen  Beschrän- 
kungen tritt,  die  Modifikation  aufhebt  und  das  Ganze  wiederher- 
stellt. «Gott,  der  Sohn,  der  heilige  Geist!  Lehret  alle  Völker  (es 
sind  die  letzten  Worte  des  verklärten  Jesus,  Matth.  XXVIII,  19), 
indem  ihr  sie  in  diese  Beziehungen  der  Gottheit,  in  das  Verhält- 
nis des  Vaters,  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  eintaucht.» 
Schon  aus  der  Stellung  der  Worte  erhellt,  daß  unter  dem  Ein- 
tauchen nicht  ein  Tauchen  in  Wasser,  eine  sogenannte  Taufe  ge- 
meint ist,  bei  welcher  ein  Aussprechen  von  einigen  Worten,  wie 
von  einer  Zauberformel  stattfinden  sollte.  Dem  u.r^r-.i-h'x-z  ist 
durch  seinen  Zusatz  auch  der  Begriff"  des  eigentlichen  Lehrens 
genommen ;  Gott  kann  nicht  gelehrt,  nicht  gelernt  werden,  denn 
er  ist  Leben,  und  kann  nur  mit  Leben  gefaßt  werden.  «Erfüllet 
sie  mit  der  Beziehung  (ovo^ry.^  v,-ie  Matth.  X,  41:  Wer  einen  Pro- 
pheten aufnimmt  zh  c-'vou-ct  rpo'fy;T';'j,  insofern  ist  er  ein  Prophet)  des 
Einigen,  der  Modifikation  (Trennung)  und  der  entwickelten  Wie- 
dervereinigung in  Leben  und  Geist  (nicht  im  Begriff").»  Matth. 
XXI,  25,  fragt  Jesus:  «Woher  war  das  ^d--<.o>xa  des  Johannes?  aus 
dem  Himmel  oder  aus  dem  Menschen?»  Bcz— i^aa,  die  ganze  Wei- 
he des  Geistes  und  Charakters,  wobei  an  das  Eintauchen  ins  Was- 
ser, aber  als  Nebensache,  auch  gedacht  werden  kann.  Aber  Mark. 
I,  4,  fällt  der  Gedanke  an  diese  Form  der  Aufnahme  des  Johannes 
in  seinen  Geistesbund  ganz  weg ;  Johannes,  heißt  es,  verkündigte 
das  ßdzT'3jj.cz  der  Sinnesänderung  zur  Sündenerlassung.  III,  1 1  sagt 
Matthäus:  «Ich  taufte  euch  mit  Wasser;  er  aber  wird  euch  in 
den  heiligen  Geist  und  Feuer  (Luk.  III,  16)  eintauchen,  (iv  Tr.-s'ju.a-:'. 

ä.-(iw  ysx'.  -'jpi,  wie  Matth.  XII,  28:  v>  r^n-j\}.n.-<.  &3oiJ  ixßa/JvOj  -a  o<z'.u.övia,  im 

Geiste  Gottes,  als  eins  mit  Gott).  Er  wird  euch  mit  Feuer  und 
göttlichem  Geist  umdrängen  und  erfüllen;  denn  derjenige,  der 
iv  zvj'jact-:'.  (Mark.  I,  8),  selbst  erfüllt  vom  Geiste,  andere  weiht,  weiht 
sie  auch  si;  -^r^j^yj.,  v.-^  Iwm  -r/j  -r-^aJu-aTo;  (Matth.  XXVIII,  19);  was  sie 
empfangen,  was  in  ihnen  wird,  ist  nicht  ein  Anderes,  als  in  ihm  ist. » 


DAS  LEBEN  JESU  139 


Die  Gewohnheit  des  Johannes  (von  Jesu  ist  keine  solche  Hand- 
lung bekannt),  die  zu  seinem  Geiste  Erzogenen  in  Wasser  unter- 
zutauchen, ist  eine  bedeutende  symbolische.  Es  gibt  kein  Gefühl, 
das  dem  Verlangen  nach  dem  Unendlichen,  dem  Sehnen,  in  das 
Unendliche  überzufließen  so  homogen  wäre,  als  das  Verlangen, 
sich  in  einer  Wasserfülle  zu  begraben;  der  Hineinstürzende  hat 
ein  Fremdes  vor  sich,  das  ihn  sogleich  ganz  umfließt,  an  jedem 
Punkte  seines  Körpers  sich  zu  fühlen  gibt;  er  ist  der  Welt  ge- 
nommen, sie  ihm;  er  ist  nur  gefühltes  Wasser,  das  ihn  berührt, 
wo  er  ist,  und  er  ist  nur,  wo  er  es  fühlt.  Es  ist  in  der  Wasserfülle 
keine  Beschränkung,  keine  Mannigfaltigkeit  oder  Bestimmung. 
Das  Gefühl  derselben  ist  das  Unzertrennteste,  Einfachste.  Der 
Untergetauchte  steigt  wieder  in  die  Luft  empor,  trennt  sich  vom 
Wasserkörper,  ist  von  ihm  schon  geschieden,  aber  er  trieft  noch 
allenthalben  von  ihm.  So  wie  er  ihn  verläßt,  nimmt  die  Welt 
wieder  um  ihn  Bestimmtheit  an  und  er  tritt  gestärkt  in  die  Mannig- 
faltigkeit des  Bewußtseins  zurück.  Im  Hinaussehen  in  die  un- 
schattierte  Bläue  und  die  einfache  gestaltenlose  Fläche  eines 
morgenländischen  Horizonts  wird  die  umgebende  Luft  nicht  ge- 
fühlt, und  das  Spiel  der  Gedanken  ist  etwas  anderes  als  das  Hin- 
aussehen. Im  Untergetauchten  ist  nur  ein  Gefühl  und  die  Ver- 
gessenheit der  Welt,  eine  Einsamkeit,  die  alles  von  sich  geworfen, 
allem  sich  entwunden  hat.  Als  ein  solches  Entnehmen  alles  Bis- 
herigen, als  eine  begeisternde  Weihe  in  eine  neue  Welt,  in  welcher 
vor  dem  neuen  Geist  das,  was  wirklich  ist,  unentschieden  zwischen 
Wirklichkeit  und  Traum  schwebt,  erscheint  die  Taufe  des  Jesus 
bei  Mark.  I,  9  ff".  Er  wurde  von  Johannes  in  den  Jordan  getaucht 
und  indem  er  sogleich  aus  dem  Wasser  heraufstieg,  sah  er  die 
Himmel  zerreißen  und  den  Geist  wie  eine  Taube  auf  sich  herab- 
steigen, und  eine  Stimme  geschah  aus  dem  Himmel:  «Du  bist 
mein  geliebter  Sohn,  in  welchem  ich  mich  getrennt  habe.»  Und 
sogleich  warf  ihn  der  Geist  in  die  Wüste ;  und  er  war  dort  vierzig 
Tage,  versucht  vom  Satan,  und  er  war  mit  den  Tieren  und  die 
Engel  dienten  ihm.  Im  Emporsteigen  aus  dem  Wasser  ist  er  der 
höchsten  Begeisterung  voll,  die  ihn  in  der  Welt  nicht  bleiben  läßt, 
sondern  in  die  Wüste  treibt,  wo  das  Arbeiten  seines  Geistes  das 
Bewußtsein  der  Wirklichkeit  noch  nicht  von  sich  geschieden  hat, 


140  G.W.  F.  HEGEL 


zu  welcher  Scheidung  er  erst  nach  vierzig  Tagen  vöUig  erwacht 
und  sicher  in  die  Welt,  aber  fest  gegen  sie  eintritt. 

Der  Ausdruck  yia^r-.fjoa-t  yj.--JZ,u'i-t^  ist  darum  von  tiefer  Bedeu- 
tung. «Mir  ist  gegeben  alle  Gewalt  im  Himmel  und  auf  Erden», 
so  spricht  Jesus  bei  Joh.  XIII,  3 1  von  seiner  Verherrlichung,  als 
Judas  die  Gesellschaft  verlassen  hatte,  um  den  Jesus  den  Juden  zu 
verraten,  in  dem  Zeitpunkte,  wo  er  der  Heimkehr  zu  seinem  Va- 
ter, der  größer  ist,  als  er,  entgegensah,  hier,  wo  er  als  schon  allem 
entnommen,  was  die  Welt  an  ihn  fordern,  wo  sie  teil  an  ihm  haben 
könnte,  vorgestellt  wird.  «Es  ist  mir  alle  Gewalt  gegeben,  im 
Himmel  und  auf  Erden;  darum  gehet  hin  in  alle  Völker  und  euer 
Jüngermachen  sei,  daß  ihr  sie  in  das  Verhältnis  des  Vaters, 
Sohnes  und  heiligen  Geistes  einweihet,  daß  es  sie,  wie  das  Wasser 
den  in  Wasser  Getauchten,  in  allen  Punkten  ihres  Wesens  um- 
fließe und  umfühle.  Und  siehe,  ich  bin  mit  euch  das  Ganze  der 
Tage  bis  zur  Vollendung  der  Welt.»  In  diesem  Zeitpunkte,  wo 
Jesus  als  aller  Wirklichkeit  und  Persönlichkeit  enthoben  dargestellt 
wird,  kann  am  wenigsten  an  eine  Individualität,  Persönlichkeit 
seines  Wesens  gedacht  werden.  Er  ist  mit  ihnen,  deren  Wesen 
vom  göttlichen  Geiste  durchdrungen,  die  in  das  Göttliche  einge- 
weiht, deren  Wesen  in  dem  Göttlichen,  das  in  ihm  nun  vollendet, 
lebendig  ist. 

Das  Eintauchen  in  das  Verhältnis  des\'aters,  Sohnes  und  Geistes 
drückt  Lukas  viel  schwächer  aus  (XXIV,  47),  als  eine  Verkündi- 
gung im  Namen  Christi  der  Sinnesänderung  und  der  Entlassung 
der  Sünden,  eine  Verkündigung,  die  in  Jerusalem  beginnensolle; 
sie  seien  Zeugen  des  Geschehenen,  er  werde  ihnen  das  Versprechen 
seines  Vaters  zuschicken,  und  sie  sollen  ihr  Werk  außer  Jerusalem 
nicht  eher  beginnen,  bis  sie  mit  der  Kraft  aus  der  Höhe  angekleidet 
seien.  Eine  bloße  Lehre  kann  verkündigt  und  durch  das  Zeug- 
nis geschehener  Dinge  unterstützt  werden,  ohne  eignen  heiligen 
Geist.  Ein  solches  Lehren  wäre  aber  keine  Weihe,  kein  Eintauchen 
des  Geistes.  In  Markus  — •  wenn  das  letzte  Kapitel  auch  nicht 
ganz  echt  wäre,  so  ist  doch  sein  Ton  charakteristisch  —  ist  dieser 
Abschied  des  Jesus  viel  objektiver  ausgedrückt;  das  Geistige  er- 
scheint in  ihm  mehr  als  gewöhnliche  Formel;  die  Ausdrücke, 
durch  die  Gewohnheit  einer  Kirche  verkältete,  übliche  Worte: 


DAS  LEBEN  JESU  141 


«Verkündet  das  Evangelium  (ohne  weiteren  Zusatz  eine  Art  von 
terminus  technicus),  —  der  Glaubende  und  Getaufte  wird  gerettet, 
der  Nichtglaubende  verurteilt  werden,  —  der  Glaubende  und  der 
Getaufte»,  —  haben  schon  das  Ansehen  bestimmter,  einer  Sekte 
oder  Gemeine  zum  Abzeichen  dienender  Worte  ohne  Seele,  deren 
volle  Begriffe  vorausgesetzt  werden.  Statt  des  Geistvollen:  «Ich 
bin  mit  euch  alle  Tage»,  des  Erfülltseins  der  Gläubigen  vom  Geiste 
Gottes  und  des  verherrlichten  Jesus  spricht  Markus  trocken,  ohne 
daß  es  durch  Begeisterung  gehoben  mit  Geist  anwehte,  von  wun- 
derbaren Beherrschungen  der  Wirklichkeit,  von  Teufelaustreiben 
und  dergleichen  Handlungen,  die  Gläubige  vermögen  werden,  so 
objektiv  als  man  nur  von  Handlungen  sprechen  kann,  ohne  ihrer 
Seele  zu  erwähnen. 

Die  Entwickelung  des  Göttlichen  in  den  Menschen,  das  Ver- 
hältnis, in  das  sie,  durch  die  Erfüllung  mit  dem  heiligen  Geiste, 
mit  Gott  treten,  seine  Söhne  zu  werden  und  in  der  Harmonie 
ihres  ganzen  Wesens  und  Charakters,  ihrer  entwickelten  Mannig- 
faltigkeit zu  leben,  einer  Harmonie,  in  welcher  nicht  ihr  vielseitiges 
Bewußtsein  in  einen  Geist,  die  vielen  Lebensgestalten  in  ein 
Leben  einklingen,  sondern  durch  welche  auch  die  Scheidewände 
gegen  andere  gottähnlichen  Wesen  aufgehoben  werden  und  der- 
selbe lebendige  Geist  die  verschiedenen  Wesen  beseelt,  welche 
also  nicht  mehr  nur  gleich,  sondern  einig  sind,  nicht  eine  Ver- 
sammlung ausmachen,  sondern  eine  Gemeine,  weil  sie  nicht  in 
einem  Allgemeinen,  einem  Begriffe,  etwa  als  Glaubende,  sondern 
durch  Leben,  durch  die  Liebe  vereinigt  sind,  —  diese  lebendige 
Harmonie  von  Menschen,  ihre  Gemeinschaft  in  Gott  nennt  Jesus 
das  Königreich  Gottes.  Die  jüdische  Sprache  gab  ihm  das  Wort 
Königreich,  das  etwas  Heterogenes  in  dem  Ausdruck  göttlicher 
Vereinigung  gibt,  da  es  nur  eine  Einheit  durch  Herrschen,  durch 
Gewalt  eines  Fremden  über  ein  Fremdes  bezeichnet,  die  aus  der 
Schönheit  und  dem  göttlichen  Leben  eines  reinen  Menschen- 
bundes —  dem  Freisten,  was  möglich  ist  —  ganz  entfernt  werden 
muß.  Diese  Idee  eines  Reiches  Gottes  vollendet  und  umfaßt  das 
Ganze  der  Religion,  wie  sie  Jesus  stiftete,  und  es  ist  noch  zu  be- 
trachten, ob  sie  die  Natur  vollkommen  befriedigt,  oder  welches 
Bedürfnis  seine  Jünger  zu  etwas  Weiterem  getrieben  hat.     Im 


142  G.W.  F.  HEGEL 


Reiche  Gottes  ist  das  Gemeinschaftliche,  daß  alle  in  Gott  lebendig 
sind,  nicht  das  Gemeinschaftliche  in  einem  Begriff,  sondern  Liebe, 
lebendiges  Band,  das  die  Glaubenden  vereinigt,  diese  Empfindung 
der  Einigkeit  des  Lebens,  in  der  alle  Entgegensetzungen  als  solche, 
Feindschaften,  und  auch  die  Vereinigungen  der  bestehenden  Ent- 
gegensetzungen, Rechte,  aufgehoben  sind:  «Ein  neues  Gebot  gebe 
ich  euch,  sagt  Jesus,  daß  ihr  euch  untereinander  liebet;  daran  soll 
man  erkennen,  daß  ihr  meine  Jünger  seid.»  Diese  Seelen- 
freundschaft, als  Seele,  als  Geist  für  die  Reflexion  ausgesprochen, 
ist  der  göttliche  Geist,  Gott,  der  die  Gemeine  regiert.  Gibt  es 
eine  schönere  Idee,  als  ein  Volk  von  Menschen,  die  durch  Liebe 
aufeinander  bezogen  sind?  eine  erhebendere,  als  einem  Ganzen 
anzugehören,  das  als  Ganzes,  Eines  der  Geist  Gottes  ist,  dessen 
Söhne  die  Einzelnen  sind?  Sollte  in  dieser  Idee  noch  eine  Un- 
vollständigkeit  sein,  daß  ein  Schicksal  Macht  in  ihr  hätte?  oder 
wäre  das  Schicksal  die  Nemesis,  die  gegen  ein  zu  schönes  Streben, 
gegen  ein  Überspringen  der  Natur  wütete? 

In  der  Liebe  hat  der  Mensch  sich  selbst  in  einem  andern  wieder- 
gefunden. Weil  sie  eine  Vereinigung  des  Lebens  ist,  setzt  sie 
Trennung,  eine  Entwickelung,  gebildete  Vielseitigkeit  desselben 
voraus;  und  in  je  mehr  Gestalten  das  Leben  lebendig  ist,  in  desto 
mehr  Punkten  kann  es  sich  vereinigen  und  fühlen,  je  ausgedehnter 
an  Manni2;falti?keit  die  Beziehungen  und  Gefühle  der  Liebenden 
sind,  desto  inniger  kann  die  Liebe  sein.  Je  inniger  die  Liebe  sich 
konzentriert,  desto  ausschließender  ist  sie,  desto  gleichgültiger  für 
andere  Lebensformen.  Ihre  Freude  vermischt  sich  mit  jedem 
andern  Leben,  erkennt  es  an,  aber  zieht  sich  beim  Gefühl  einer 
Individualität  zurück,  und  je  vereinzelter  die  Menschen  in  An- 
sehung ihrer  Bildung  und  Interesses,  ihres  Verhältnisses  zur  Welt 
stehen,  je  mehr  Eigentümliches  jeder  hat,  desto  beschränkter  wird 
die  Liebe  auf  sich  selbst,  und  um  das  Bewußtsein  ihres  Glücks  zu 
haben,  um  sich  selbst,  wie  sie  gern  tut,  es  zu  geben,  ist  es  not- 
wendig, daß  sie  sich  absondert,  daß  sie  sich  sogar  Feindschaften 
erschafft.  Eine  Liebe  unter  vielen  läßt  daher  nur  einen  gewissen 
Grad  der  Stärke,  der  Innio;keit  zu,  und  fordert  Gleichheit  des 
Geistes,  des  Interesses,  vieler  Lebensverhältnisse,  Verminderung 
der  Individualitäten.     Diese   Gemeinsamkeit  des  Lebens,   diese 


DAS  LEBEN  JESU  143 


Gleichheit  des  Geistes  kann  aber,  da  sie  nicht  Liebe  ist,  nur  durch 
ihre  bestimmten,  stark  gezeichneten  Äußerungen  zum  Bewußtsein 
kommen.  Von  einer  Übereinstimmung  in  Erkenntnis,  in  gleichen 
Meinungen,  kann  nicht  die  Rede  sein.  Die  Verbindung  vieler 
beruht  auf  gleicher  Not.  Sie  stellt  sich  an  Gegenständen  dar,  die 
gemeinschaftlich  sein  können,  in  Verhältnissen,  die  darüber  ent- 
stehen und  dann  in  dem  gemeinsamen  Bestreben  um  dieselben 
und  gemeinsamer  Tätigkeit  und  Handlung.  Sie  kann  sich  an 
tausend  Gegenstände  gemeinschaftlichen  Besitzes  und  Genusses 
und  gleicher  Bildung  anschließen  und  sich  darin  erkennen.  Eine 
Menge  gleicher  Zwecke,  der  ganze  Umfang  der  physischen  Not 
kann  Gegenstand  vereinigter  Tätigkeit  sein.  In  dieser  steht  der 
gleiche  Geist  dem  gleichen  Geist  gegenüber,  und  dieser  gemein- 
same Geist  gefällt  sich  dann  auch,  sich  in  der  Ruhe  zu  erkennen 
zu  geben,  seiner  Vereinigung  froh  zu  sein,  indem  er  sich  in  Freude 
und  Spiel  sich  selbst  genießt. 

Die  Freunde  Jesu  hielten  sich  nach  seinem  Tode  zusammen, 
aßen  und  tranken  gemeinschaftlich ;  einige  ihrer  Verbrüderungen 
hoben  alles  Eigentumsrecht  gegeneinander  auf,  andere  zum  Teil 
in  reichlichen  Almosen  und  Beiträgen  zur  Gemeine;  sie  sprachen 
zusammen  von  ihrem  geschiedenen  Freunde  und  Meister,  beteten 
gemeinschaftlich  und  stärkten  einander  in  Glauben  und  Mut. 
Ihre  Feinde  beschuldigten  einige  ihrer  Gesellschaften  auch  der 
Gemeinschaft  der  Weiber,  eine  Beschuldigung,  die  sie  entweder 
den  Mut  und  die  Reinheit  nicht  hatten,  zu  verdienen  oder  sich 
ihrer  nicht  zu  schämen.  Gemeinschaftlich  zogen  viele  aus,  ihres 
Glaubens  und  ihrer  Hoffnungen  andere  Völker  teilhaftig  zu 
machen ;  und  weil  dies  das  einzige  Tun  der  christlichen  Gemeinde 
ist,  so  ist  ihr  der  Proselytismus  wesentlich  eigen.  Außer  diesem 
gemeinschaftlichen  Genießen,  Beten,  Essen,  Freuen,  Glauben  und 
Hoffen,  außer  der  einzigen  Tätigkeit  für  die  Verbreitung  des 
Glaubens,  die  Vergrößerung  der  Gemeinschaftlichkeit  der  Andacht, 
liegt  noch  ein  ungeheures  Feld  von  Objektivität,  die  ein  Schicksal 
von  dem  vielseitigsten  Umfange  und  gewaltiger  Macht  aufstellt 
und  mannigfaltige  Tätigkeit  anspricht.  In  der  Aufgabe  der  Liebe 
verschmäht  die  Gemeine  jede  Vereinigung,  die  nicht  die  innigste, 
jeden  Geist,   der  nicht  der  höchste  wäre.     Der  Unnatur  und 


144  G.W.  F.  HEGEL 


Schalheit  der  prächtigen  Idee  einer  allgemeinen  Menschenliebe 
nicht  zu  gedenken,  da  sie  nicht  das  Streben  der  Gemeine  ist,  muß 
diese  bei  der  Liebe  selbst  stehen  bleiben ;  außer  der  Beziehung  des 
gemeinschaftlichen  Glaubens  und  den  Darstellungen  dieser  Ge- 
meinschaft in  darauf  sich  beziehenden  religiösen  Handlungen  ist 
jede  andere  Verbindung  in  einem  Objektiven,  zu  einem  Zwecke, 
einer  Entwickelung  einer  anderen  Seite  des  Lebens,  zu  einer  ge- 
meinsamen Tätigkeit,  jeder  zu  etwas  anderm  als  der  Ausbreitung 
des  Glaubens  zusammenwirkende  und  sich  in  andern  Modi- 
fikationen und  partiellen  Gestalten  des  Lebens,  in  Spielen,  sich 
darstellende  und  seiner  sich  freuende  Geist  der  Gemeine  fremd; 
sie  würde  sich  in  ihm  nicht  erkennen;  sie  hätte  von  der  Liebe, 
ihrem  einzigen  Geiste,  gelassen,  wäre  ihrem  Gotte  untreu  ge- 
worden. Auch  würde  sie  nicht  nur  die  Liebe  verlassen  haben, 
sondern  sie  auch  zerstören;  denn  die  Mitglieder  setzen  sich  in 
Gefahr,  mit  ihren  Lidividualitäten  gegeneinander  zu  stoßen  und 
müßten  dies  um  so  mehr,  da  ihre  Bildung  verschieden  war  und 
sie  sich  damit  in  das  Gebiet  ihrer  verschiedenen  Charaktere,  in 
die  Macht  ihrer  verschiedenen  Schicksale  begäben  und  über  einem 
Interesse  für  etwas  Geringes,  über  einer  verschiedenen  Bestimmt- 
heit in  etwas  Kleinem  die  Liebe  sich  in  Haß  verkehren  und  eine 
Abtrünnigkeit  von  Gott  erfolgen  würde.  Diese  Gefahr  wird  nur 
durch  eine  untätige,  unentwickelte  Liebe  abgewendet,  daß  sie, 
das  höchste  Leben,  unlebendig  bleibt.  So  verwickelt  die  wider- 
natürliche Ausdehnung  des  Umfangs  der  Liebe  in  einen  Wider- 
spruch, in  ein  falsches  Bestreben,  das  der  Vater  des  fürchterlichsten 
leidenden  oder  tätigen  Fanatismus  werden  mußte.  Diese  Be- 
schränkung der  Liebe  auf  sich  selbst,  ihre  Flucht  von  allen  Formen, 
wenn  auch  schon  ihr  Geist  in  ihnen  wehte  oder  sie  aus  ihm  ent- 
sprängen, diese  Entfernung  von  allem  Schicksal  ist  gerade  ihr 
größtes  Schicksal,  und  hier  ist  der  Punkt,  wo  Jesus  mit  dem 
Schicksal  zusammenhängt,  und  zwar  auf  die  erhabenste  Art,  aber 
von  ihm  litt. 


Der  Passivität  der  Juden   hat  Jesus  den  Menschen  entgegen- 
gesetzt, den  Gesetzen  und  ihren  Pflichten  die  Tugenden,  und  in 


DAS  LEBEN  JESU  145 


diesen  die  Immoralität  des  positiven  Menschen  aufgehoben.  Der 
positive  Mensch  ist  zwar  in  Rücksicht  auf  eine  bestimmte  Tugend, 
die  für  ihn  und  in  ihm  Dienst  ist,  weder  moralisch  noch  immo- 
rahsch,  und  der  Dienst,  in  welchem  er  gewisse  Pflichten  ausübt, 
ist  nicht  unmittelbar  eine  Untugend  gegen  dieselben  Pflichten; 
aber  mit  dieser  bestimmten  Gleichgültigkeit  ist  zugleich  eine  Im- 
moraUtät  von  einer  andern  Seite  verknüpft;  weil  sein  bestimmter, 
positiver  Dienst  eine  Grenze  hat,  und  er  über  diese  nicht  hinaus 
kann,  so  ist  er  jenseits  ihrer  unmoralisch.  Diese  Immoralität  der 
Passivität  geht  also  auf  eine  andere  Seite  der  menschHchen  Be- 
ziehungen als  der  positive  Gehorsam  innerhalb  eines  Kreises; 
dieser  ist  nicht  moralisch,  nicht  unmoralisch. 

[Das  Entgegengesetzte  der  Tugend  aber  ist  Laster.  Der  speku- 
lative Moralist,  der  moraHsche  Lehrer  macht  eine  philosophische 
Beschreibung  der  Tugend.  Seine  Beschreibung  muß  deduziert, 
es  muß  in  ihr  kein  Widerspruch  sein ;  eine  Beschreibung  einer 
Sache  ist  immer  die  vorgestellte  Sache ;  hält  er  diese  Vorstellung, 
den  Begriff"  an  das  Lebendige,  so  sagt  er :  das  Lebendige  soll  so 
sein;  zwischen  dem  Begriff"  und  der  Modifikation  eines  Leben- 
digen soll  kein  Widerspruch  sein,  als  der  allein,  daß  jener  ein  Ge- 
dachtes, dieses  ein  Seiendes  ist.  Eine  Tugend,  in  der  Spekulation 
allein,  ist,  und  ist  notwendig,  d.  h.  ihr  Begriff",  und  das  Gegenteil 
kann  nicht  sein ;  es  ist  keine  Veränderung,  kein  Erwerb,  kein  Ent- 
stehen, kein  Vergehen  in  ihr  als  Begriff".  Aber  dieser  Begriff"  mit 
dem  Lebendigen  zusammengehalten,  die  Tugend  als  Modifikation 
des  Lebendigen  ist,  oder  ist  auch  nicht,  kann  entstehen  und  ver- 
gehen. Der  spekulative  Moralist  kann  sich  also  wohl  hinreißen 
lassen,  in  eine  warme  Betrachtung  des  Tugendhaften  und  des 
Lasterhaften  zu  verfallen;  aber  seine  Sache  ist  eigentlich  nur,  mit 
dem  Lebendigen  den  Krieg  zu  führen,  gegen  dasselbe  zu  polemi- 
sieren oder  nur  ganz  kalt  seine  Begriff"e  zu  kalkulieren.  Aber  der 
Volkslehrer,  der  Verbesserer  der  Menschen,  der  sich  an  die  Men- 
schen selbst  wendet,  kann  zwar  nicht  von  der  Entstehung  der  Tu- 
gend, von  der  Bildung  der  Tugend,  aber  von  dem  Zerstörenden 
des  Lasters  und  der  Rückkehr  zur  Tugend  sprechen.  Die  Zer- 
störung des  Lasters  besteht  darin,  daß  sie  dem  Menschen  Strafe 
zuzieht.    Strafe  ist  die  notwendige  üble  Folge  eines  Verbrechens; 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  10 


146  G.W.  F.  HEGEL 


aber  nicht  jede  Folge  kann  eine  Strafe  genannt  werden,  z.B. nicht 
das,  daß  der  Charakter  sich  in  dem  Verbrecher  noch  mehr  ver- 
schHmmert;  man  kann  nicht  sagen:  er  hat  verdient,  noch  schlech- 
ter zu  werden.]  Die  Strafe  liegt  unmittelbar  in  dem  beleidigten 
Gesetze;  des  gleichen  Rechtes,  das  durch  ein  Verbrechen  in  einem 
andern  verletzt  worden  ist,  wird  der  Verbrecher  verlustig,  [d.  h. 
er  verdient  die  Strafe;  die  Notwendigkeit,  daß  sie  erfolgt,  liegt  in 
etwas  Äußerem,  und  ist  dem  Verbrechen  korrespondierend]. 

In  der  Setzung  der  Subjektivität  gegen  das  Positive  schwindet 
die  Gleichgültigkeit  des  Dienstes  und  seine  Grenze.  Der  Mensch 
steht  für  sich;  sein  Charakter  und  seine  Tat  wird  er  selbst;  er  hat 
nur  Schranken  da,  wo  er  sie  selbst  setzt,  und  seine  Tugenden  Be- 
stimmtheiten, die  er  selbst  begrenzt.  Diese  Möglichkeit  der  Be- 
grenzung, der  Entgegensetzung  ist  die  Freiheit,  das  Oder,  in  Tu- 
gend und  Laster.  In  der  Entgegensetzung  des  Gesetzes  gegen  die 
Natur,  des  Allgemeinen  gegen  das  Besondere  sind  die  beiden  Ent- 
gegengesetzten gesetzt,  wirklich ;  das  eine  ist  nicht  ohne  das  andere. 
In  der  Freiheit  der  Entgegensetzung  der  Tugend  und  des  Lasters 
ist  durch  das  eine  das  andere  ausgeschlossen,  also,  wenn  das  eine 
gesetzt  ist,  das  andere  nur  möglich. 

Die  Entgegensetzung  der  Pflicht  und  der  Neigung  hat  in  den 
Modifikationen  der  Liebe,  in  den  Tugenden  ihre  Vereinigung  ge- 
funden. Da  das  Gesetz  nicht  seinem  Inhalt,  sondern  seiner  Form 
nach  der  Liebe  entgegengesetzt  war,  so  konnte  es  in  sie  aufge- 
nommen werden.  In  dieser  Aufnahme  aber  verlor  es  seine  Ge- 
stalt. Dem  Verbrechen  hingegen  ist  es  seinem  Inhalt  nach  ent- 
gegengesetzt; es  ist  von  ihm  ausgeschlossen  und  ist  doch;  denn 
das  Verbrechen  ist  eine  Zerstörung  der  Natur,  und  da  dieNatur  einig 
ist,  so  ist  im  Zerstörenden  so  viel  zerstört  als  im  Zerstörten.  Wenn 
das  Einige  entgegengesetzt  ist,  so  ist  die  Vereinigung  der  Entge- 
gengesetzten nur  im  Begriffe  vorhanden ;  es  ist  ein  Gesetz  gemacht 
worden.  Ist  das  Entgegengesetzte  zerstört  worden,  so  bleibt  der 
Begriff,  das  Gesetz.  Aber  es  drückt  alsdann  nur  das  Fehlende, 
eine  Lücke  aus,  weil  sein  Inhalt  in  der  Wirkhchkeit  aufgehoben 
ist,  und  heißt  strafendes  Gesetz.  Diese  Form  des  Gesetzes  ist  un- 
mittelbar; es  ist  seinem  Inhalt  nach  dem  Leben  entgegengesetzt, 
weil  es  die  Zerstörung  desselben  anzeigt.    Aber  um  so  schwerer 


DAS  LEBEN  JESU  147 


scheint  es  zu  denken  zu  sein,  wie  das  Gesetz  in  dieser  Form,  als 
strafende  Gerechtigkeit,  könne  aufgehoben  werden.  In  der  vori- 
gen Aufhebung  des  Gesetzes  durch  Tugenden  verschwand  nur 
die  Form  des  Gesetzes,  sein  Inhalt  bheb ;  aber  hier  würde  mit  der 
Form  auch  der  Inhalt  aufgehoben,  denn  sein  Inhalt  ist  die  Strafe. 
Die  Strafe  hegt  unmittelbar  in  dem  beleidigten  Gesetze.  Des  glei- 
chen Rechtes,  das  durch  ein  Verbrechen  in  einem  andern  verletzt 
worden  ist,  wird  der  Verbrecher  verlustig;  der  Verbrecher  hat  sich 
außer  den  Begriff  gesetzt,  der  der  Inhalt  des  Gesetzes  ist.  Zwar 
spricht  das  Gesetz  nur:  er  soll  das  im  Gesetz  begriffene  Recht  ver- 
lieren ;  weil  er  unmittelbar  nur  ein  Gedachtes  ist,  so  verliert  nur 
der  Begriff  des  Verbrechers  das  Recht;  aber  daß  er  es  in  der  Wirk- 
lichkeit verliere,  d.  h.,  daß  das,  was  der  Begriff  des  Verbrechers 
verloren  hat,  auch  die  Wirklichkeit  des  Verbrechers  verliere,  muß 
dies  Gesetz  mit  Lebendigem  verbunden,  mit  Macht  bekleidet  wer- 
den. Das  Gesetz  beharrt  in  furchtbarer  Majestät,  und  daß  die 
Strafe  des  Verbrechens  verdient  ist,  dies  zwar  kann  nie  aufgehoben 
werden.  Das  Gesetz  kann  die  Strafe  nicht  schenken,  nicht  gnädig 
sein,  denn  es  höbe  sich  selbst  auf.  Das  Gesetz  ist  vom  Verbrecher 
gebrochen  worden,  sein  Inhalt  ist  nicht  mehr  für  ihn,  er  hat  ihn 
aufgehoben;  aber  die  Form  des  Gesetzes,  die  Allgemeinheit  ver- 
folgt ihn  und  schmiegt  sich  sogar  an  sein  Verbrechen  an.  Seine 
Tat  wird  allgemein  und  das  Recht,  das  er  aufgehoben  hat,  ist  auch 
für  ihn  aufgehoben. 

Also  das  Gesetz  bleibt  und  das  Verdienen  einer  Strafe  bleibt. 
Aber  das  Lebendige,  dessen  Macht  sich  mit  dem  Gesetz  vereinigt 
hat,  der  Exekutor,  der  das  im  Begriff  verlorene  Recht  dem  Ver- 
brecher in  der  Wirklichkeit  nimmt,  der  Richter,  ist  nicht  die  ab- 
strakte Gerechtigkeit,  sondern  ein  Wesen,  und  Gerechtigkeit  nur 
seine  Modifikation.  Die  Notwendigkeit  des  Verdienens  der  Strafe 
steht  fest,  aber  die  Übung  der  Gerechtigkeit  ist  nichts  Notwendiges, 
weil  sie  als  Modifikation  eines  Lebendigen  auch  vergehen,  eine 
andere  Modifikation  eintreten  kann,  und  so  wird  Gerechtigkeit 
etwas  Zufälliges.  Es  kann  zwischen  ihr  als  allgemein  gedacht, 
und  zwischen  ihr  als  wirklich,  d.  h.  in  einem  Lebendigen  seiend, 
ein  Widerspruch  sein ;  ein  Rächer  kann  es  aufheben,  sich  zu  rächen, 
ein  Richter,  als  Richter  zu  handeln;  ein  Richter  kann  begnadigen. 


148  G.W.  F.  HEGEL 


Aber  damit  ist  der  Gerechtigkeit  nicht  Genüge  geleistet;  diese  ist 
unbeugsam,  und  so  lange  Gesetze  das  Höchste  sind,  so  lange  kann 
ihr  nicht  entflohen  werden,  so  lange  muß  das  Individuelle  dem 
Allgemeinen  aufgeopfert,  d.  h.,  es  muß  getötet  werden.  Darum 
ist  es  auch  widersprechend  zu  denken,  als  ob  das  Gesetz  an  einem 
Repräsentanten  vieler  gleicher  Verbrecher  sich  befriedigen  könn- 
te; denn  insofern  auch  sie  in  ihm  die  Strafe  ausstehen  sollten,  ist 
er  das  Allgemeine,  der  Begriff  derselben,  und  das  Gesetz,  als  ge- 
bietend oder  als  strafend,  ist  nur  dadurch  Gesetz,  daß  es  Beson- 
deren entgegengesetzt  ist.  Das  Gesetz  hat  die  Bedingung  seiner 
Allgemeinheit  darin,  daß  die  handelnden  Menschen  oder  Hand- 
lungen besondere  sind,  und  die  Handlungen  sind  besondere,  in- 
sofern sie  in  Beziehung  auf  die  Allgemeinheit,  auf  die  Gesetze 
betrachtet  werden,  als  ihnen  gemäß  oder  zuwider,  und  insofern 
kann  ihr  Verhältnis,  ihre  Bestimmtheit  keine  Veränderung  leiden ; 
sie  sind  wirklich,  sie  sind,  was  sie  sind;  was  geschehen  ist,  kann 
nicht  ungeschehen  gemacht  werden.  Die  Strafe  folgt  der  Tat; 
ihr  Zusammenhang  ist  unzerreißbar.  Gibt  es  keinen  Weg,  eine 
Handlung  ungeschehen  zu  machen,  ist  ihre  Wirklichkeit  ewig, 
so  ist  keine  Versöhnung  möglich,  auch  nicht  durch  Ausstehen 
der  Strafe.  Das  Gesetz  ist  wohl  dadurch  befriedigt,  denn  der 
Widerspruch  zwischen  seinem  ausgesprochenen  Soll  und  zwischen 
der  WirkUchkeit  des  Verbrechens,  die  Ausnahme,  die  der  Ver- 
brecher von  der  Allgemeinheit  machen  wollte,  ist  aufgehoben. 
Allein  der  Verbrecher  ist  nicht  mit  dem  Gesetz  —  dies  sei  für  den 
Verbrecher  ein  fremdes  Wesen,  oder  subjektiv  in  ihm,  als  böses 
Gewissen  —  versöhnt.  In  jenem  Fall  hört  die  fremde  Macht, 
welche  der  Verbrecher  gegen  sich  selbst  geschaffen  und  bewaffnet 
hat,  dieses  feindselige  Wesen,  auf,  wenn  es  gestraft  hat,  auf  ihn 
zu  wirken ;  wenn  es  auf  eben  die  Art,  auf  welche  der  Verbrecher 
wirkte,  auf  ihn  zurückgewirkt  hat,  läßt  es  zwar  ab,  zieht  sich  aber 
in  die  drohende  Stellung  zurück  und  seine  Gestalt  ist  nicht  ver- 
schwunden oder  freundlich  gemacht.  An  dem  bösen  Gewissen, 
dem  Bewußtsein  einer  bösen  Handlung,  seiner  selbst  als  eines  Bö- 
sen, ändert  die  erlittene  Strafe  nichts,  denn  der  Verbrecher  schaut 
sich  immer  als  Verbrecher;  er  hat  über  seine  Handlung  als  eine 
Wirklichkeit  keine  Macht,   und  diese  seine  Wirklichkeit  ist  im 


DAS  LEBEN  JESU  149 


Widerspruch  mit  seinem  Bewußtsein  des  Gesetzes.  Und  doch 
kann  der  Mensch  diese  Angst  nicht  aushaken;  der  schreckHchen 
WirkUchkeit  des  Bösen  und  der  Unveränderiichkeit  des  Gesetzes 
kann  er  nur  zu  der  Gnade  entfliehen;  der  Druck  und  Schmerz 
des  bösen  Gewissens  kann  ihn  wieder  zu  einer  Unredlichkeit  trei- 
ben, sich  selbst  und  damit  dem  Gesetz  und  der  Gerechtigkeit  zu 
entlaufen  zu  suchen ;  er  wirft  sich  dem  Handhaber  der  abstrakten 
Gerechtigkeit,  seine  Güte  zu  erfahren,  in  den  Schoß,  von  welcher 
er  hofft,  daß  sie  ein  Auge  bei  ihm  zudrücken,  ihn  anders  ansehen 
möchte,  als  er  ist;  er  selbst  leugnet  zwar  sein  Vergehen  nicht, 
aber  er  tut  den  unredlichen  Wunsch,  daß  die  Güte  sich  selbst 
seine  Vergehen  leugne  und  findet  Trost  in  dem  Gedanken,  in  der 
unwahren  Vorstellung,  die  ein  anderes  Wesen  sich  von  ihm  macht. 
Und  so  gäbe  es  keine  Rückkehr  zur  Einigkeit  des  Bewußtseins 
auf  einem  reinen  Wege,  keine  Aufhebung  der  Strafe  des  drohen- 
den Gesetzes  und  des  bösen  Gewissens,  als  ein  unendliches  Betteln, 
wenn  die  Strafe  nur  als  etwas  Absolutes  angesehen  werden  muß, 
wenn  sie  unter  keiner  Bedingung  stünde,  und  keine  Seite  hätte, 
von  welcher  sie  mit  einer  Bedingung  eine  höhere  Sphäre  vor  sich 
hätte.  Gesetz  und  Strafe  kann  nicht  versöhnt,  aber  in  der  Ver- 
söhnung des  Schicksals  aufgehoben  werden.  Die  Strafe  ist  Wir- 
kung eines  übertretenen  Gesetzes,  von  dem  der  Mensch  sich 
losgesagt  hat,  aber  von  welchem  er  noch  abhängt  und  welchem  — 
weder  der  Strafe,  noch  seiner  Tat  —  er  nicht  entfliehen  kann. 
Denn  da  der  Charakter  des  Gesetzes  Allgemeinheit  ist,  so  hat  der 
Verbrecher  zwar  die  Materie  des  Gesetzes  zerbrochen,  aber  die 
Form,  die  Allgemeinheit  bleibt  und  das  Gesetz,  über  das  er  Meister 
geworden  zu  sein  glaubt,  bleibt,  erscheint  aber  seinem  Inhalt  nach 
entgegengesetzt;  es  hat  die  Gestalt  der  dem  vorigen  Gesetze  wider- 
sprechenden Tat;  der  Inhalt  der  Tat  hat  jetzt  die  Gestalt  der  All- 
gemeinheit und  ist  Gesetz.  Diese  Verkehrtheit  desselben,  daß  er 
das  Gegenteil  dessen  wird,  was  er  vorher  war,  ist  die  Strafe.  In- 
dem sich  der  Mensch  vom  Gesetz  losgemacht  hat,  bleibt  er  ihm 
noch  Untertan ;  und  da  das  Gesetz  als  Allgemeines  bleibt,  so  bleibt 
auch  die  Tat,  denn  sie  ist  das  Besondere.  Die  Strafe  als  Schicksal 
vorgestellt  ist  ganz  anderer  Art.  Das  Schicksal  ist  eine  feindliche 
Macht,  ein  Individuelles,  in  dem  Allgemeines  und  Besonderes  auch 


150  G.W.  F.  HEGEL 


in  der  Rücksicht  vereinigt  ist,  daß  in  ihm  das  Sollen  und  die  Aus- 
führung dieses  SoUens  nicht  getrennt  ist,  wie  beim  Gesetz,  das 
nur  eine  Regel,  ein  Gedachtes  ist  und  eines  ihm  Entgegengesetzten, 
eines  Wirklichen  bedarf,  von  dem  es  Gewalt  erhält.  In  dieser 
feindlichen  Macht  ist  auch  das  Allgemeine  vom  Besonderen  nicht 
in  der  Rücksicht  getrennt,  wie  das  Gesetz  als  Allgemeines  dem 
Menschen  oder  seinen  Neigungen  als  dem  Besonderen  entgegen- 
gesetzt ist.  Das  Schicksal  ist  nur  der  Feind,  und  der  Mensch  steht 
ihm  ebensogut  als  kämpfende  Macht  gegenüber,  da  hingegen  das 
Gesetz  als  Allgemeines  das  Besondere  beherrscht  und  diesen  Men- 
schen unter  seinem  Gehorsam  hat.  Das  Verbrechen  des  Menschen, 
der  unter  dem  Schicksal  befangen  betrachtet  wird,  ist  dann  nicht 
eine  Empörung  des  Untertanen  gegen  seinen  Regenten,  das  Ent- 
laufen des  Knechts  von  seinem  Herrn,  das  Freimachen  von  einer 
Abhängigkeit,  nicht  ein  Lebendigwerden  aus  einem  toten  Zu- 
stande, denn  der  Mensch  ist,  und  vor  der  Tat  ist  keine  Trennung, 
kein  Entgegengesetztes,  viel  weniger  ein  Beherrschendes,  [sondern 
ein  Töten  des  Lebens].  Erst  die  Tat  hat  ein  Gesetz  erschaffen, 
dessen  Herrschaft  nun  eintritt;  dies  Gesetz  ist  die  Vereinigung  im 
Begriffe,  die  Gleichheit  des  anscheinend  fremden,  verletzten  Le- 
bens und  des  eignen.  Jetzt  erst  tritt  das  verletzte  Leben  als  eine 
feindselige  Macht  gegen  den  Verbrecher  auf  und  mißhandelt  ihn, 
wie  er  mißhandelt  hat. 

So  ist  die  Strafe  als  Schicksal  die  gleiche  Rückwirkung  der  Tat 
des  Verbrechers  selbst,  einer  Macht,  die  er  selbst  bewaffnet,  eines 
Feindes,  den  er  selbst  sich  zum  Feinde  machte.  Keine  Möglich- 
keit denkbar,  wie  die  Strafe  aufgehoben  werde  und  das  Bewußt- 
sein der  bösen  Wirklichkeit  verschwinden  könnte,  weil  das  Ge- 
setz eine  Macht  ist,  über  welche  nichts,  welcher  das  Leben  Unter- 
tan, über  welche  selbst  nicht  die  Gottheit  ist.  Denn  sie  ist  nur  die 
Gewalt  des  höchsten  Gedankens,  nur  das  Handhaben  des  Gesetzes. 
Aber  bei  der  Strafe  als  Schicksal  ist  das  Gesetz  später  als  das  Leben 
und  das  Leben  kann  seine  Wunden  wieder  heilen,  das  getrennte 
feindliche  Leben  in  sich  selbst  zurückkehren  und  das  Machwerk 
eines  Verbrechers,  das  Gesetz  und  die  Strafe  auf  heben.  Nur  durch 
ein  Herausgehen  aus  dem  einigen,  weder  durch  Gesetz  regu- 
lierten, noch  gesetzwidrigen  Leben,  durch  Töten  des  Lebens,  wird 


DAS  LEBEN  JESU  151 


ein  Fremdes  geschaffen.  Vernichtung  des  Lebens  ist  nicht  ein 
Nichtsein  desselben,  sondern  seine  Trennung,  und  die  Vernich- 
tung besteht  darin,  daß  es  umgeschaffen  worden  ist.  Es  ist  un- 
sterblich, und  getötet  erscheint  es  als  sein  schreckendes  Gespenst, 
das  alle  seine  Zweige  geltend  macht,  seine  Eumeniden  losläßt.  Die 
Täuschung  des  Verbrechens,  das  fremdes  Leben  zu  zerstören  und 
sich  damit  erweitert  glaubt,  löst  sich  dahin  auf,  daß  der  abge- 
schiedene Geist  des  verletzten  Lebens  gegen  es  auftritt,  wie  Ban- 
quo,  der  als  Freund  zu  Macbeth  kam,  in  seinem  Morde  nicht  ver- 
tilgt war,  sondern  im  Augenblick  darauf  doch  seinen  Stuhl  ein- 
nahm, nicht  als  Genosse  des  Mahls,  sondern  als  böser  Geist.  Der 
Verbrecher  meinte,  es  mit  fremdem  Leben  zu  tun  zu  haben;  aber 
er  hat  nur  sein  eignes  Leben  zerstört;  denn  Leben  ist  vom  Leben 
nicht  verschieden,  weil  das  Leben  in  der  einigen  Gottheit  ist,  und 
in  seinem  Übermut  hat  er  zwar  zerstört,  aber  nur  die  Freundlich- 
keit des  Lebens;  er  hat  es  in  einen  Feind  verkehrt;  es  ist  nur  die 
Lücke  desselben,  das  mangelnde  Leben  als  Macht.  Die  Tat  eines 
Verbrechers  ist,  auf  diese  Art  betrachtet,  kein  Fragment;  die  Hand- 
lung, die  aus  dem  Leben,  aus  dem  Ganzen  kommt,  stellt  auch 
das  Ganze  dar.  Das  Verbrechen,  das  die  Übertretung  eines  Ge- 
setzes ist,  ist  nur  ein  Fragment,  denn  außer  ihr  ist  schon  das  Ge- 
setz, das  nicht  zu  ihr  gehört.  Das  Verbrechen,  das  aus  Leben 
kommt,  stellt  dieses  Ganze,  aber  geteilt,  dar,  und  die  feindseligen 
Teile  können  wieder  zum  Ganzen  zusammengehen. 

[Verbrechen  und  Strafe  stehen  nicht  mehr  im  Verhältnis  der 
Ursache  und  Wirkung,  deren  bestimmendes  Band  ein  Objektives, 
ein  Gesetz  wäre;  in  diesem  Falle  könnte  Ursache  und  Wirkung 
als  schlechthin  getrennt  nicht  mehr  vereinigt  werden ;  das  Schick- 
sal hingegen,  das  auf  den  Verbrecher  rückwirkende  Gesetz,  kann 
aufgehoben  werden,  weil  er  das  Gesetz  selbst  aufgestellt  hat;  die 
Trennung,  die  er  gemacht  hat,  kann  vereinigt  werden ;  diese  Ver- 
einigung ist  in  der  Liebe.]  Mit  dem  Schicksal  scheint  eine  Ver- 
söhnung noch  schwerer  denkbar  zu  sein,  als  mit  dem  strafenden 
Gesetze,  da,  um  das  Schicksal  zu  versöhnen,  die  Vernichtung  auf- 
gehoben werden  zu  müssen  scheint.  Aber  das  Schicksal  hat  vor 
dem  strafenden  Gesetz  in  Ansehung  der  Versöhnbarkeit  das  vor- 
aus, daß  es  innerhalb  des  Gebiets  des  Lebens  sich  befindet,  ein 


152  G.W.  F.  HEGEL 


Verbrechen  aber  unter  Gesetz  und  Strafe  im  Gebiete  unüberwind- 
licher Entgegensetzung,  absoluter  Wirklichkeiten.  Eine  Wirklich- 
keit kann  nur  vergessen  werden,  d.  h.  in  einer  andern  Schwäche 
sich  als  Vorgestelltes  verlieren,  wodurch  ihr  Sein  doch  als  bleibend 
gesetzt  würde. 

Von  da  an,  wo  der  \^erbrecher  die  Zerstörung  seines  eignen 
Lebens  fühlt  (Strafe  leidet),  oder  sich  (im  bösen  Gewissen)  als 
zerstört  erkennt,  hebt  die  Wirkung  seines  Schicksals  an,  und  dies 
Gefühl  des  zerstörten  Lebens  muß  eine  Sehnsucht  nach  dem 
Verlorenen  werden.  Das  Mangelnde  wird  erkannt  als  sein  Teil, 
als  das,  was  in  ihm  sein  sollte  und  nicht  in  ihm  ist,  Diese  Lücke 
ist  nicht  ein  Nichtsein,  sondern  das  Leben  als  nichtseiend  erkannt 
und  gefühlt.  Dies  Schicksal  als  möglich  empfunden  ist  die  Furcht 
vor  ihm  und  ist  ein  ganz  andres  Gefühl,  als  die  Furcht  vor  der 
Strafe.  Jenes  ist  die  Furcht  vor  der  Trennung,  eine  Scheu  vor 
sich  selbst;  die  Furcht  vor  der  Strafe  ist  die  Furcht  vor  einem 
Fremden;  denn  wenn  auch  das  Gesetz  als  eignes  Gesetz  erkannt 
wird,  so  ist  in  der  Furcht  vor  der  Strafe  die  Strafe  ein  Fremdes, 
wenn  sie  nicht  als  Furcht  vor  Unwürdigkeit  vorgestellt  wird;  aber 
in  der  Strafe  kommt  zur  Unwürdigkeit  auch  die  Wirklichkeit 
eines  Glücks  hinzu,  das  der  Begriff  des  Menschen  verloren,  d.  h. 
dessen  der  Mensch  unwürdig  geworden  ist;  die  Strafe  setzt  also 
einen  fremden  Herrn  dieser  Wirklichkeit  voraus  und  die  Furcht 
vor  der  Strafe  ist  Furcht  vor  ihm.  Im  Schicksal  hingegen  ist  die 
feindliche  Macht  die  Macht  des  verfeindeten  Lebens,  also  Furcht 
vor  dem  Schicksal  nicht  die  Furcht  vor  einem  Fremden. 

Auch  bessert  die  Strafe  nicht,  weil  sie  nur  ein  Leiden  ist,  ein 
Gefühl  der  Ohnmacht  gegen  einen  Herrn,  mit  dem  der  Verbrecher 
nichts  gemein  hat  und  nichts  gemein  haben  will.  Sie  kann  nur 
Eigensinn  bewirken,  Hartnäckigkeit  im  Widerstand  gegen  einen 
Feind,  von  welchem  unterdrückt  zu  werden  Schande  wäre,  weil 
der  Mensch  sich  darin  selbst  aufgäbe.  Im  Schicksal  aber  erkennt 
der  Mensch  sein  eignes  Leben  und  sein  Flehen  zu  demselben  ist 
nicht  das  Flehen  zu  einem  Herrn,  sondern  ein  Wiederkehren  und 
Nahen  zu  sich  selbst.  Das  Schicksal,  in  welchem  der  Mensch 
das  Verlorene  fühlt,  bewirkt  eine  Sehnsucht  nach  dem  verlorenen 
Leben.    Diese  Sehnsucht  kann,  wenn  von  Bessern  und  Gebessert- 


DAS  LEBEN  JESU  153 


werden  gesprochen  werden  soll,  schon  eine  Besserung  heißen, 
weil  sie,  indem  sie  ein  Gefühl  des  Verlusts  des  Lebens  ist,  das 
Verlorene  als  Leben,  als  ihr  einst  Freundliches  erkennt;  und  dies 
ist  schon  selbst  Erkenntnis,  ist  schon  selbst  ein  Genuß  des  Lebens 
und  die  Sehnsucht  kann  so  gewissenhaft  sein,  d.  h.  im  Wider- 
spruch des  Bewußtseins  ihrer  Schuld  und  des  wiederangeschauten 
Lebens  sich  von  der  Rückkehr  zu  diesem  zurückhalten,  so  sehr 
das  böse  Bewußtsein  und  das  Gefühl  des  Schmerzes  verlängern 
und  jeden  Augenblick  es  aufreizen,  um  sich  nicht  leichtsinnig 
mit  dem  Leben,  sondern  aus  tiefer  Seele  sich  wieder  zu  vereinigen, 
es  wieder  als  Freund  zu  begrüßen.  In  Opfern  und  Büßungen 
haben  Verbrecher  sich  selbst  Schmerzen  gemacht,  als  Wallfahrer 
im  härenen  Hemde  und  barfuß  bei  jedem  Tritt  auf  den  heißen 
Sand,  das  Bewußtsein  des  Bösen,  den  Schmerz  verlängert  und 
vervielßiltigt  und  einesteils  ihren  Verlust,  ihre  Lücke  ganz  durch- 
gefühlt, andernteils  zugleich  dies  Leben,  obwohl  als  FeindUches, 
ganz  darin  angeschaut  und  sich  so  die  Wiederaufnahme  ganz 
möglich  gemacht.  Denn  die  Entgegensetzung  ist  die  Möglichkeit 
der  Wiedervereinigung  und  soweit  es  im  Schmerz  entgegengesetzt 
war,  ist  es  fähig,  wieder  aufgenommen  zu  werden.  Weil  auch 
das  Feindliche  als  Leben  gefühlt  wird,  darin  liegt  die  Möglichkeit 
der  Versöhnung  des  Schicksals.  Diese  Versöhnung  ist  weder  die 
Zerstörung  der  Unterdrückung  eines  Fremden,  noch  ein  Wider- 
spruch zwischen  Bewußtsein  seiner  selbst  und  der  gehofften  Ver- 
schiedenheit der  Vorstellung  von  sich  in  einem  andern,  oder  ein 
Widerspruch  zwischen  dem  Verdienen  dem  Gesetze  nach  und 
der  Erfüllung  desselben,  dem  Menschen  als  Begriff  und  dem 
Menschen  als  Wirklichem.  Dies  Gefühl  des  Lebens,  das  sich  selbst 
wiederfindet,  ist  die  Liebe,  und  in  ihr  versöhnt  sich  das  Schicksal. 
Die  Gerechtigkeit  ist  befriedigt,  denn  der  Verbrecher  hat  das 
gleiche  Leben,  das  er  verletzt  hat,  in  sich  als  verletzt  gefühlt. 
Die  Stacheln  des  Zerreißens  sind  stumpf  geworden,  denn  aus  der 
Tat  ist  ihr  böser  Geist  gewichen;  es  ist  nichts  Feindseliges  mehr 
im  Menschen  und  sie  bleibt  höchstens  als  ein  seelenloses  Gerippe 
im  Beinhause  der  Wirklichkeit,  im  Gedächtnis  liegen. 

[So  ist  das  Schicksal  nichts  Fremdes,  wie  die  Strafe,  nicht  ein 
Festbestimmtes,  Wirkliches,  wie  die  böse  Handlung  im  Gewissen. 


154  G.W.  F.  HEGEL 


Das  Schicksal  ist  das  Bewußtsein  seiner  selbst,  aber  als  eines  Feind- 
lichen. Das  Ganze  kann  in  sich  die  Freundschaft  wiederherstellen, 
es  kann  zu  seinem  reinen  Leben  durch  Liebe  zurückkehren.  So 
wird  sein  Bewußtsein  wieder  Glaube  an  sich  selbst;  die  Anschauung 
seiner  selbst  ist  eine  andere  geworden  und  das  Schicksal  ist  ver- 
söhnt. Vergebung  der  Sünden  ist  daher  unmittelbar  nicht  Auf- 
hebung der  Strafen,  denn  jede  Strafe  ist  etwas  Positives,  Wirkliches, 
das  nicht  vernichtet  werden  kann ;  nicht  Aufhebung  des  bösen 
Gewissens,  denn  keine  Tat  kann  ungeschehen  gemacht  werden, 
sondern  durch  Liebe  versöhntes  Schicksal. 

Das  Schicksal  ist  entweder  aus  eigner,  oder  andrer  Tat  entstan- 
den.] Wer  einen  ungerechten  Angriff  leidet,  kann  sich  wehren 
und  sich  und  sein  Recht  behaupten,  oder  auch  sich  nicht  wehren. 
Mit  seiner  Reaktion,  sie  sei  duldender  Schmerz  oder  Kampf,  fängt 
seine  Schuld,  sein  Schicksal  an.  In  beiden  Fällen  leidet  er  keine 
Strafe,  aber  auch  nicht  Unrecht.  Im  Kampf  hält  er  an  seinem 
Rechte  fest  und  behauptet  es;  auch  im  Dulden  gibt  er  sein  Recht 
nicht  auf;  sein  Schmerz  ist  der  Widerspruch,  daß  er  sein  Recht 
erkennt,  aber  die  Kraft  nicht  hat,  es  festzuhalten,  und  sein  Schick- 
sal ist  seine  Willenlosigkeit;  er  streitet  nicht  dafür.  Wer  für  das 
kämpft,  was  in  Gefahr  ist,  hat  das  nicht  verloren,  für  was  er  streitet 
[und  läßt  es  in  der  Idee  auch  nicht  fahren  und  sein  Leiden  ist  ge- 
rechtes Schicksal.  Aber  er  kann  dies  Leiden,  dies  Schicksal  über- 
treffen, wenn  er  das  angegriffene  Recht  aufgibt,  wenn  er  dem 
Beleidiger  seinen  Fehler  verzeiht.  Daß  beides,  der  Kampf  für 
Rechte  und  das  Aufgeben  der  Rechte  ein  unnatürlicher  Zu- 
stand ist,  erhellt  daraus,  daß  in  beiden  ein  Widerspruch  ist].  Durch 
die  Selbstverteidigung  des  Beleidigten  wird  der  Angreifende  gleich- 
falls angegriffen,  und  dadurch  in  das  Recht  der  Selbstverteidigung 
gesetzt,  so  daß  beide  Recht  haben,  beide  im  Kriege  sich  befinden, 
der  beiden  das  Recht,  sich  zu  verteidigen,  gibt,  und  entweder 
lassen  sie  auf  Gewalt  und  Stärke  die  Entscheidung  des  Rechts  an- 
kommen, oder,  da  doch  das  Recht  und  die  Wirklichkeit  nichts 
miteinander  gemein  haben,  sie  vermischen  beide  und  machen  jenes 
von  dieser  abhängig,  sie  unterwerfen  sich  einem  Richter,  d.  h.,  in- 
sofern sie  feindselig  sind,  geben  sie  sich  wehrlos,  tot  an;  sie  tun 
auf  ihre  eigne  Beherrschung  der  Wirklichkeit,  auf  Macht  Verzicht, 


DAS  LEBEN  JESU  155 


und  lassen  ein  Fremdes,  ein  Gesetz  im  Munde  des  Richters  über 
sich  sprechen ;  sie  unterwerfen  sich  also  einer  Behandlung,  gegen 
welche  doch  jeder  Teil  protestierte,  indem  sie  der  Kränkung  ihres 
Rechtes  widersprachen,  d.  h.  sich  gegen  die  Behandlung  durch 
einen  andern  setzten.  Derjenige,  der  das  fahren  läßt,  dem  ein  an- 
derer feindselig  sich  naht,  das  sein  zu  nennen  aufhört,  was  der 
andere  antastet,  entgeht  dem  Schmerz  über  Verlust,  er  entgeht  dem 
Behandeltwerden  durch  den  andern  oder  durch  den  Richter,  er 
entgeht  der  Notwendigkeit,  den  andern  so  zu  behandeln.  Welche 
Seite  an  ihm  berührt  wird,  aus  der  zieht  er  sich  zurück  und  über- 
läßt nur  eine  Sache,  die  er  im  AugenbUck  des  Angriffs  zu  einer 
fremden  gemacht  hat,  dem  andern.  Diese  Aufhebung  einer  Be- 
ziehung, die  eine  Abstraktion  von  sich  selbst  ist,  hat  aber  seine 
Grenzen.  Um  sich  zu  retten,  tötet  der  Mensch  sich;  um  das  Sei- 
nige nicht  in  fremder  Gewalt  zu  sehen,  nennt  er  es  nicht  mehr 
das  Seinige,  und  so  vernichtet  er  sich,  indem  er  sich  erhalten 
wollte,  denn  was  unter  fremder  Gewalt  wäre,  wäre  nicht  mehr  er. 
Je  lebendiger  die  Beziehungen  sind,  aus  denen  eine  edle  Natur 
sich  zurückziehen  muß,  weil  sie  befleckt  sind,  da  sie,  ohne  sich 
selbst  zu  verunreinigen,  nicht  darin  bleiben  könnte,  desto  größer 
ist  ihr  Unglück.  Dies  Unglück  aber  ist  weder  ungerecht  noch  ge- 
recht. Es  wird  nur  dadurch  ihr  Schicksal,  daß  sie  mit  eignem 
Willen,  mit  Freiheit  jene  Beziehungen  verschmäht.  Alle  Schmerzen, 
die  ihr  daraus  entstehen,  sind  alsdann  gerecht  und  sind  jetzt  ihr 
unglückliches  Schicksal,  das  sie  selbst  mit  Bewußtsein  gemacht 
hat,  und  ihre  Ehre  ist  es,  gerecht  zu  leiden ;  denn  sie  ist  über  diese 
Rechte  so  sehr  erhaben,  daß  sie  sie  zu  Feinden  haben  wollte.  Und 
weil  dies  Schicksal  in  ihr  selbst  liegt,  so  kann  sie  es  ertragen,  ihm 
gegenüber  stehen,  denn  ihre  Schmerzen  sind  nicht  eine  reine 
Passivität,  die  Übermacht  eines  Fremden,  sondern  ihr  eigenes  Pro- 
dukt. Das  Unglück  kann  so  groß  werden,  daß  sein  Schicksal, 
diese  Selbsttötung  im  Verzichttun  auf  Leben  den  Menschen  so  weit 
treibt,  daß  er  sich  ganz  ins  Leere  zurückziehen  muß. 

[Beides,  der  Kampf  und  das  Vergeben,  sollte  seine  Grenze  haben, 
und  es  ist  nichts,  das  nicht  angegriffen  und  das  nicht  aufgegeben 
werden  könnte.  Und  so  schwankt  auch  Jesus,  mehr  in  seinem 
Betragen  als  in  seiner  Lehre,  zwischen  beidem. 


is6  G.W.  F.  HEGEL 


Wird  der  Mensch  durch  andere  Tat  in  ein  Schiclcsal  verflochten, 
so  kann  er  dieses  versöhnen,  wenn  er  von  seiner  Seite  die  Feind- 
schaft gar  nicht  stattfinden  läßt  oder  sie  aufhebt,  dem  Beleidiger 
verzeiht  und  sich  mit  ihm  versöhnt.]  Diese  Verzeihung  der  Fehler, 
die  Bereitwilligkeit,  sich  mit  dem  andern  zu  versöhnen,  macht 
Jesus  so  bestimmt  zur  Bedingung  der  Verzeihung  für  seine  eignen 
Fehler,  der  Aufhebung  eines  eignen  feindseligen  Schicksals.  Beide 
sind  nur  verschiedene  Anordnungen  desselben  Charakters  der 
Seele.  In  der  Versöhnung  gegen  ^^«  Beleidiger  besteht  das  Gemüt 
nicht  mehr  auf  der  rechtlichen  Entgegensetzung,  die  es  gegen  jenen 
erwarb,  und  indem  es  sich  als  sein  feindliches  Schicksal,  den  bösen 
Genius  des  andern  aufgibt,  versöhnt  es  sich  mit  ihm  und  hat  für 
sich  selbst  ebenso  viel  Leben,  das  ihm  feindlich  war,  sich  zum 
Freunde  gemacht,  das  Göttliche  mit  sich  versöhnt  und  das  durch 
eigene  Tat  gegen  sich  bewaffnete  Schicksal  ist  in  die  Lüfte  der 
Nacht  zerflossen. 

Indem  sich  aber  so  der  Mensch  das  vollständigste  Schicksal  selbst 
gegenübersetzt,  so  hat  er  sich  zugleich  über  alles  Schicksal  er- 
hoben. Das  Leben  ist  ihm  untreu  geworden,  aber  er  nicht  dem 
Leben.  Er  hat  es  geflohen,  aber  nicht  verletzt,  und  er  mag  sich 
nach  ihm  als  einem  abwesenden  Freunde  sehnen,  aber  es  kann 
ihn  nicht  als  ein  Feind  verfolgen  und  er  ist  auf  keiner  Seite  ver- 
wundbar; wie  die  schamhafte  Pflanze  zieht  er  sich  bei  jeder  Be- 
rührung in  sich,  und  ehe  er  das  Leben  sich  zum  Feind  machte, 
ehe  er  ein  Schicksal  gegen  sich  aufreizte,  entflieht  er  dem  Leben. 
So  verlangte  Jesus  von  seinen  Freunden  Vater,  Mutter  und  alles 
zu  verlassen,  um  nicht  in  einen  Bund  mit  der  entw^ürdigten  Welt 
und  so  in  die  Möglichkeit  eines  Schicksals  zu  kommen.  Ferner: 
«Wer  dir  deinen  Rock  nimmt,  dem  gib  auch  den  Mantel.  Wenn 
ein  Glied  dich  ärgert,  so  haue  es  ab. »  Die  höchste  Freiheit  ist  das 
negative  Attribut  der  Schönheit  der  Seele,  d.  h.  die  Möglichkeit, 
auf  alles  Verzicht  zu  tun,  um  sich  zu  erhalten.  Wer  aber  sein 
Leben  retten  will,  der  wird  es  verlieren.  So  ist  mit  der  höchsten 
Schuldlosigkeit  die  höchste  Schuld,  mit  der  Erhabenheit  über  alles 
Schicksal  das  höchste,  unglücklichste  Schicksal  vereinbar. 

Ein  Gemüt,  das  so  über  die  Rechtsverhältnisse  erhaben,  von 
keinem  Objektiven  befangen  ist,  hat  dem  Beleidiger  nichts  zu  ver- 


DAS  LEBEN  JESU  1 57 


zeihen,  denn  dieser  hat  ihm  kein  Recht  verletzt,  denn  es  hat  es  auf- 
gegeben, wie  sein  Objekt  angetastet  wurde.  Es  ist  für  die  Ver- 
söhnung offen,  denn  es  ist  ihm  möglich,  sogleich  jede  lebendige 
Beziehung  wieder  aufzunehmen,  in  die  Verhältnisse  der  Freund- 
schaft, der  Liebe  wieder  einzutreten,  da  es  in  sich  kein  Leben  ver- 
letzt hat.  Von  seiner  eigenen  Seite  steht  ihm  keine  feindseHge 
Empfindung  im  Wege,  kein  Bewußtsein,  keine  Forderung  an  den 
andern,  das  verletzte  Recht  wiederherzustellen,  kein  Stolz,  der 
vom  andern  das  Bekenntnis  verlangte,  in  einer  niedrigem  Sphäre, 
dem  rechtlichen  Gebiete,  unter  ihm  gewesen  zu  sein. 

Außer  dem  persönlichen  Haß,  der  aus  der  Beleidigung  ent- 
springt, die  dem  Individuum  widerfahren  ist,  und  welcher  das 
daraus  gegen  den  andern  erwachsene  Recht  in  Erfüllung  zu 
bringen  strebt,  außer  diesem  Haß  gibt  es  noch  einen  Zorn  der 
Rechtschaffenheit,  eine  hassende  Strenge  der  Pflichtgemäßheit, 
welche  nicht  über  eine  Verletzung  ihres  Individuums,  sondern 
über  eine  Verletzung  ihrer  Begriffe,  der  Pflichtgebote  zu  zürnen 
hat.  Dieser  rechtschaffene  Haß,  indem  er  Pflichten  und  Rechte  für 
andere  erkennt  und  setzt  und  im  Urteile  über  sie  sie  als  denselben 
unterworfen  darstellt,  setzt  eben  da  seine  Rechte  und  Pflichten 
für  sich,  und  indem  er  in  seinem  gerechten  Zorn  über  die  Verletzer 
derselben  ihnen  ein  Schicksal  macht  und  ihnen  nicht  verzeiht, 
hat  er  damit  auch  sich  selbst  die  Möglichkeit,  Verzeihung  für 
Fehler  zu  erhalten,  mit  einem  Schicksal,  das  ihn  darüber  träfe, 
ausgesöhnt  zu  werden,  benommen,  denn  er  hat  Bestimmtheiten 
befestigt,  die  ihm  über  seine  Wirklichkeiten,  über  seine  Fehler  sich 
emporzuschwingen  nicht  erlauben.  Hieher  gehören  die  Gebote: 
«Richtet  nicht,  so  werdet  ihr  nicht  gerichtet,  denn  mit  welchem 
Maß  ihr  messet  wird  euch  wieder  gemessen.»  Das  Maß  sind 
Gesetze  und  Rechte.  Jenes  Gebot  kann  doch  nicht  heißen:  Was 
ihr  andern  wider  die  Gesetze  nachseht  und  erlaubt,  wird  euch 
auch  nachgesehen  werden,  wie  ein  Bund  schlechter  Menschen 
jedem  Einzelnen  die  Erlaubnis  erteilt,  schlecht  zu  sein.  [Es  kann 
nicht  heißen  :  Dispensiert  andre  von  dem  Rechttun  und  der  Liebe, 
so  seid  ihr  davon  dispensiert],  sondern:  Hütet  euch,  das  Rechttun 
und  die  Liebe  als  eine  Abhängigkeit  von  Gesetzen  und  Gehorsam 
gegen  Gebote  zu  nehmen  und  sie  nicht  als  aus  dem  Lebendigen 


158  G.W.  F.  HEGEL 


kommend  zu  betrachten;  ihr  erkennt  eine  Herrschaft  über  euch, 
über  die  ihr  nichts  vermögt,  die  stärker  ist  als  ihr;  ihr  setzt  für 
euch  sowie  für  andre  ein  vor  der  Tat  Fremdes;  ihr  erhebt  zu 
einem  Ganzen  ein  Fragment  des  menschlichen  Gemüts  und  stellt 
darin  eine  Herrschaft  der  Gesetze  und  Knechtschaft  der  Sinnlich- 
keit oder  des  Individuums  auf  und  setzt  auf  diese  Art  die  Mög- 
lichkeit von  Strafen,  nicht  eines  Schicksals,  jene  von  außen  her, 
von  einem  Unabhängigen  kommend,  dieses  durch  seine  Natur, 
obzwar  als  ein  jetzt  Feindseliges  bestimmt,  aber  doch  nicht  über 
dem  Menschen,  sondern  nur  gegen  ihn. 

Ein  Schicksal,  in  das  der  Mensch  durch  die  Tat  andrer  ver- 
wickelt würde,  wenn  er  den  Fehdehandschuh  aufnähme  und  sich 
in  sein  Recht  gegen  den  Beleidiger  setzte,  wird  abgewendet  durch 
Aufgebung  des  Rechts  und  Festhalten  an  der  Liebe.  Aber  das 
Schicksal  hat  ein  ausgedehnteres  Gebiet  als  die  Strafe;  auch  von 
der  Schuld  ohne  Verbrechen  wird  es  aufgereizt  und  ist  darum  un- 
endlich strenger  als  die  Strafe.  Seine  Strenge  scheint  oft  in  die 
schreiendste  Ungerechtigkeit  überzugehen,  wenn  es  der  erhabensten 
Schuld,  der  Schuld  der  Unschuld  gegenüber  um  so  fürchter- 
licher auftritt.  Weil  nämlich  die  Gesetze  nur  gedachte  Ver- 
einigungen von  Entgegensetzungen  sind,  so  erschöpfen  diese  Be- 
griffe bei  weitem  die  Vielseitigkeit  des  Lebens  nicht  und  die 
Strafe  übt  nur  soweit  ihre  Herrschaft  aus,  als  das  Leben  zum 
Bewußtsein  gekommen,  wo  eine  Trennung  im  Begriffe  vereinigt 
worden  ist.  Aber  über  die  Beziehungen  des  Lebens,  die  nicht 
aufgelöst,  über  die  Seiten  des  Lebens,  die  lebendig  vereinigt  ge- 
geben sind,  über  die  Grenzen  der  Tugenden  hinaus  übt  sie  keine 
Gewalt.  Das  Schicksal  hingegen  ist  unbestechlich  und  unbegrenzt 
wie  das  Leben ;  es  kennt  keine  gegebenen  Verhältnisse,  keine  Ver- 
schiedenheit der  Standpunkte,  der  Lage,  keinen  Bezirk  der  Tugend. 
Wo  Leben  verletzt  ist,  sei  es  auch  noch  so  rechtlich,  so  mit  Selbst- 
zufriedenheit geschehen,  da  tritt  das  Schicksal  auf,  und  man  kann 
darum  sagen :  nie  hat  die  Unschuld  gelitten,  jedes  Leiden  ist  Schuld. 
Aber  die  Ehre  einer  reinen  Seele  ist  um  so  größer,  mit  je  mehr 
Bewußtsein  sie  Leben  verletzt  hat,  um  das  Höchste  zu  erhalten, 
um  so  viel  schwärzer  das  Verbrechen,  mit  je  mehr  Bewußtsein 
eine  unreine  Seele  Leben  verletzt.   Ein  Schicksal  scheint  nur  durch 


DAS  LEBEN  JESU  159 


fremde  Tat  entstanden;  diese  ist  nur  die  Veranlassung;  wodurch 
es  aber  entsteht,  ist  die  Art  der  Realction  gegen  die  fremde  Tat. 

Dadurch,  daß  der  Mensch  sich  in  Gefahr  begibt,  hat  er  sich 
dem  Schicksal  unterworfen,  denn  er  tritt  auf  den  Kampfplatz 
Macht  gegen  Macht  und  wagt  sich  gegen  ein  Anderes.  Die  Tapfer- 
keit aber  ist  größer  als  schmerzendes  Dulden,  weil  jene,  wenn  sie 
auch  unterUegt,  diese  Möglichkeit  vorher  erkannte,  also  mit  Be- 
wußtsein die  Schuld  übernahm,  die  schmerzende  Passivität  hin- 
gegen nur  an  ihrem  Mangel  hängt  und  ihm  nicht  eine  Fülle  von 
Kraft  entgegensetzt.  Das  Leiden  der  Tapferkeit  aber  ist  auch  ge- 
rechtes Schicksal,  weil  der  Tapfere  sich  ins  Gebiet  des  Rechts 
und  der  Macht  einließ  und  darum  ist  schon  der  Kampf  der  Rechte 
ein  unnatürlicher  Zustand,  so  gut  als  das  passive  Leiden,  in  wel- 
chem der  Widerspruch  zwischen  dem  Begriffe  vom  Rechte  und 
seiner  Wirklichkeit  ist;  denn  auch  im  Kampfe  für  Rechte  liegt 
ein  Widerspruch.  Das  Recht,  das  ein  Gedachtes,  also  ein  Allge- 
meines ist,  ist  in  dem  Angreifenden  ein  anderes  Gedachtes.  Also 
gäbe  es  hier  zwei  Allgemeine,  die  sich  aufhöben  und  doch  sind. 
Ebenso  sind  die  Kämpfenden  als  Wirkliche  entgegengesetzt,  zwei- 
erlei Lebende,  Leben  im  Kampfe  mit  Leben,  welches  sich  wie- 
derum widerspricht. 

Das  Wahre  beider  Entgegengesetzten,  der  Tapferkeit  und  der 
Passivität,  vereinigt  sich  so  in  der  Schönheit  der  Seele,  daß  von  jener 
das  Leben  bleibt,  die  Entgegensetzung  aber  wegfällt,  von  dieser  der 
Verlust  des  Rechts  bleibt,  der  Schmerz  aber  verschwindet.  Und  so 
geht  eine  Aufhebung  des  Rechts  ohne  Leiden  hervor,  eine  lebendige, 
freie  Erhebung  über  den  Verlust  des  Rechts  und  über  den  Kampf. 


(Lücke  der  Handschrift)  [die  Tochter  gegen  die  Mutter,  die 
Braut  gegen  die  Schwiegermutter.  Wer  Vater  oder  Mutter,  Sohn 
oder  Tochter  mehr  liebt,  als  mich,  ist  meiner  nicht  würdig.  Er 
konnte  dem  gräßlichen  Zerreißen  aller  Bande  der  Natur  ins  Auge 
sehen;  denn  diese  schönen,  freien  Beziehungen  waren  zugleich 
Fesseln,  die  sich  an  das  Unheiligste  knüpften  und  in  die  Tyrannei 
selbst  verflochten  waren.  Nur  ganz  reine  Gemüter  können  ohne 
Schmerz  und  Bedauern  das  Reine  und  das  Unreine  sc-heiden.   Un- 


i6o  G.W.  F.  HEGEL 


reine  Gemüter  halten  an  beiden  fest.    In  der  Zerstörung  dieser 
Amalgamation  des  Reinen  mit  dem  Unreinen  wird  denn  auch  das 
Reine  beschädigt  und  mit  dem  Unreinen  zu  Boden  getreten.  Aber 
wegen  dieser  Vermischung  konnte  Jesus  für  sich  nicht  im  Reiche 
Gottes  leben;  er  konnte  es  nur  in  seinem  Herzen  tragen;  mit 
Menschen  konnte  er  nicht  in  Beziehung  treten,  um  sie  zu  bilden; 
durch  ein  einziges,  von  beiden  Seiten  gleiches,  freies  Verhältnis 
wäre  er  in  einen  Bund  mit  dem  ganzen  Gewebe  jüdischer  Ge- 
setzlichkeiten getreten,  und  um  seine  Beziehung  nicht  zu  zerrei- 
ßen oder  zu  beleidigen,  hätte  er  sich  von  seinen  Fäden  umschlingen 
lassen  müssen.    Darum  isolierte  sich  Jesus  von  seiner  Mutter,  sei- 
nen Brüdern  und  Verwandten.    Er  durfte  kein  Weib  lieben,  keine 
Kinder  zeugen,  nicht  Familienvater,  nicht  Bürger  des  Staats  wer- 
den.   Nur  dadurch,  daß  er  auf  alle  diese  Formen  des  Lebens  Ver- 
zicht tat,  konnte  er  sich  rein  erhalten,  denn  alle  diese  Formen 
waren  entweiht],  und  weil  sein  Reich  Gottes  nicht  auf  Erden  noch 
Platz  finden  konnte,  so  mußte  er  es  in  den  Himmel  verlegen.   Die 
lebenverachtende  Schwärmerei  kann  sehr  leicht  in  Fanatismus 
übergehen ;  denn  um  sich  in  ihrer  Beziehungslosigkeit  zu  erhalten, 
muß  sie  dasjenige,  von  dem  sie  gestört  wird  und  das,  sei  es  auch 
das  Reinste,  für  sie  unrein  ist,  zerstören,  und  einen  Inhalt,  oft  die 
schönsten   Beziehungen   verletzen.     Schwärmer   späterer  Zeiten 
haben  das  Verschmähen  aller  Formen  des  Lebens,  weil  sie  verun- 
reinigt sind,  zu  einer  unbedingt  leeren  Gestaltlosigkeit  gemacht, 
und  jedem  Trieb  der  Natur,  bloß  weil  er  eine  äußere  Form  sucht, 
den  Krieg  angekündigt,  und  um  so  schrecklicher  war  die  Wirkung 
dieser  versuchten  Selbstmorde,  dieses  Festhalten  an  der  leeren 
Einheit,  je  fester  in  den  Gemütern  die  Fessel  der  Mannigfaltigkeit 
war;  so  blieb  ihnen  nichts  übrig,  als  eine  durch  Greueltaten  und 
Verwüstungen  bewerkstelligte  Flucht  ins  Leere.    Als  aber  das 
Schicksal  der  Welt  zu  groß  wurde  und  sich  neben  und  in  der  Kir- 
che, die  mit  ihm  unverträglich  ist,  erhielt,  so  war  an  keine  Flucht 
mehr  zu  denken.    Große  Heuchler  gegen  die  Natur  haben  es  da- 
her versucht,  eine  widernatürliche  Verbindung  der  Mannigfaltig- 
keit der  Welt  und  der  lebenlosen  Einheit,  aller  beschränkten,  ge- 
setzUchen  Verhältnisse  und  menschlichen  Tugenden  mit  dem  ein- 
fachen Geist  zu  finden  und  zu  erhalten.    Sie  erdachten  für  jede 


DAS  LEBEN  JESU  i6i 


bürgerliche  Handlung  oder  für  jede  Äußerung  der  Lust  und  der 
Begierde  einen  Schlupfwinkel  in  der  Einheit,  um  so  durch  Betrug 
jede  Beschränkung  zugleich  sich  zu  erhalten  und  sie  zu  genießen 
und  ihr  zugleich  zu  entgehen. 

Indem  Jesus  es  verschmähte,  mit  den  Juden  zu  leben,  aber  mit 
seinem  Ideal  zugleich  immer  ihre  Wirklichkeiten  bekämpfte,  so 
konnte  es  nicht  fehlen,  er  mußte  unter  diesen  erliegen.  Er  wich 
dieser  Entwickelung  seines  Schicksals  nicht  aus,  aber  er  suchte 
sie  freilich  auch  nicht  auf  Jedem  Schwärmer,  der  nur  für  sich 
schwärmt,  ist  der  Tod  willkommen ;  aber  wer  für  einen  großen 
Plan  schwärmt,  der  kann  nur  mit  Schmerz  den  Schauplatz  ver- 
lassen, auf  welchem  er  sich  entwickeln  sollte.  Jesus  starb  mit  der 
Zuversicht,  daß  sein  Plan  nicht  verloren  gehen  würde. 

Nach  dem  Tode  Jesu  waren  seine  Jünger  wie  Schafe,  die  keinen 
Hirten  haben.  Es  w^ar  ihnen  ein  Freund  gestorben,  aber  sie  hatten 
auch  gehofft,  er  sei  der,  der  Israel  befreien  vv^erde  (Luk.  XXIV,  21), 
und  diese  Hoffnung  war  mit  seinem  Tode  dahin.  Er  hatte  alles 
mit  sich  ins  Grab  genommen ;  sein  Geist  war  nicht  in  ihnen  zu- 
rückgeblieben. [Zwei  Tage  nach  seinem  Tode  stand  Jesus  von 
dem  Tode  auf  und  der  Glaube  kehrte  in  ihre  Gemüter  zurück; 
und  bald  kam  der  heilige  Geist  über  sie  selbst  und  die  Aufer- 
stehung wurde  der  Grund  ihres  Glaubens  und  ihres  Heils.  Da  die 
Wirkung  dieser  Auferstehung  so  groß,  da  diese  Begebenheit  der 
Mittelpunkt  ihres  Glaubens  wurde,  so  mußte  das  Bedürfnis  der- 
selben sehr  tief  ihnen  sein.]  Ihre  Religion,  ihr  Glaube  an  reines 
Leben  hatte  an  dem  Individuum  Jesus  gehangen.  Er  war  ihr  le- 
bendiges Band  und  das  geoffenbarte,  gestaltete  Göttliche ;  in  ihm 
war  ihnen  Gott  auch  erschienen ;  sein  Individuum  vereinigte  ihnen 
das  Unbestimmte  der  Harmonie  und  das  Bestimmte  in  einem  Le- 
bendigen. 

Mit  seinem  Tode  waren  sie  in  die  Trennung  des  Sichtbaren  und 
Unsichtbaren,  des  Geistes  und  des  Wirklichen  zurückgeworfen. 
Zwar  das  Andenken  an  dies  göttliche  Wesen  wäre  ihnen  geblieben, 
aber  die  Gewalt,  die  sein  Sterben  über  sie  ausübte,  hätte  sich  mit 
der  Zeit  in  ihnen  gebrochen;  der  Tote  würde  ihnen  nicht  ein 
bloßer  Toter  geblieben,  der  Schmerz  über  den  modernden  Körper 
nach  und  nach  dem  Anschauen  seiner  Göttlichkeit  gewichen  sein, 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  il 


i62  G.W.  F.  HEGEL 


und  der  unverwesliche  Geist  und  das  Bild  reinerer  Menschheit  wäre 
aus  einem  Grabe  ihnen  hervorgegangen ;  aber  der  Verehrung  dieses 
Geistes,  dem  Genuß  des  Anschauens  dieses  Bildes  wäre  das  An- 
denken an  das  Leben  dieses  Bildes  zur  Seite  gestanden,  dieser  er- 
habene Geist  hätte  an  seiner  verschwundenen  Existenz  immer  sei- 
nen Gegensatz  gehabt.  Und  die  Gegenwart  desselben  vor  der 
Phantasie  wäre  mit  einem  Sehnen  verbunden  gewesen,  das  nur 
das  Bedürfnis  der  Religion  bezeichnet  hätte,  aber  die  Gemeine 
hätte  noch  keinen  eignen  Gott  gehabt.  Ein  Kreis  der  Liebe,  ein 
Kreis  von  Gemütern,  die  ihre  Rechte  an  alles  Besondere  gegenein- 
ander aufgeben  und  nur  durch  gemeinschaftlichen  Glauben  und 
Hoffnung  vereinigt  sind,  deren  Genuß  und  Freude  allein  diese 
reine  Einmütigkeit  der  Liebe  ist,  ist  ein  kleines  Reich  Gottes.  Aber 
ihre  Liebe  ist  nicht  Religion,  denn  die  Einigkeit,  die  Liebe  der 
Menschen  enthält  nicht  zugleich  die  Darstellung  dieser  Einigkeit. 
Liebe  vereinigt  sie,  aber  die  Geliebten  erkennen  diese  Vereinigung 
nicht;  wo  sie  erkennen,  erkennen  sie  Abgesondertes.  Daß  der 
göttliche  Geist  erscheine,  muß  der  unsichtbare  Geist  mit  Sicht- 
barem vereinigt  sein,  daß  alles  in  einem  Erkennen  und  Empfinden, 
daß  eine  vollständige  Synthese,  eine  vollendete  Harmonie,  daß 
Harmonie  und  das  Harmonische  eins  sei.  Sonst  bleibt  [Liebe,  was 
sie  ist,]  in  Beziehung  auf  das  Ganze  der  trennbaren  Natur  ein  Trieb, 
der  für  die  Unendlichkeit  der  Welt  zu  klein  und  für  ihre  Objek- 
tivität zu  groß  ist  und  nicht  gesättigt  werden  kann ;  es  bleibt  der 
unauslöschliche,  unbefriedigte  Trieb  nach  Gott. 

Zur  Schönheit,  zur  Göttlichkeit  fehlt  dem  Bilde  das  Leben,  dem 
Göttlichen  in  der  Gemeinschaft  der  Liebe,  diesem  Leben  Bild  und 
Gestalt.  Aber  in  dem  Auferstandenen  und  dann  gen  Himmel  Er- 
hobenen fand  das  Bild  wieder  Leben  und  die  Liebe  die  Darstellung 
ihrer  Einigkeit.  In  dieser  Wiedervermählung  des  Geistes  und  des 
Körpers  ist  der  Gegensatz  des  Lebendigen  und  des  Toten  ver- 
schwunden und  hat  sich  in  einem  Gotte  vereinigt.  Die  sehnende 
Liebe  hat  sich  als  lebendiges  Wesen,  dessen  Verehrung  nun  die 
Religion  der  Gemeine  ist,  gefunden  und  kann  nun  sich  selbst  ge- 
nießen. Das  Bedürfnis  der  Religion  findet  seine  Befriedigung  in 
diesem  auferstandenen  Jesus,  in  dieser  gestalteten  Liebe.  Die  Be- 
trachtung der  Auferstehung  des  Jesus  als  einer  Begebenheit  ist  der 


DAS  LEBEN  JESU  163 


Gesichtspunkt  des  Geschichtsforschers,  der  mit  der  Rehgion  nichts 
zu  tun  hat.  Der  Glaube  oder  Unglaube  an  dieselbe,  als  bloße 
Wirklichkeit,  ohne  das  Interesse  der  Religion,  ist  eine  Sache  des 
Verstandes,  dessen  Wirksamkeit,  Fixierung  der  Objektivität  ge- 
rade der  Tod  der  Religion  ist  und  aufweichen  sich  zu  berufen  von 
der  Religion  abstrahieren  heißt.  Aber  freilich  scheint  der  Verstand 
ein  Recht  zu  haben,  mitzusprechen,  da  die  objektive  Seite  des 
Gottes  nicht  bloß  eine  Gestalt  der  Liebe  ist,  sondern  für  sich  selbst 
besteht  und  als  eine  Wirklichkeit  in  der  Welt  der  Wirklichkeit 
einen  Platz  behauptet.  Und  darum  ist  es  schwer,  die  religiöse 
Seite  des  auferstandenen  Jesus,  die  gestaltete  Liebe  in  ihrer  Schön- 
heit festzuhalten ;  denn  erst  durch  eine  Apotheose  ist  er  Gott  ge- 
worden, seine  Göttlichkeit  ist  eine  Deifikation  eines  auch  aus  Wirk- 
lichem Vorhandenen,  Er  hatte  als  menschliches  Individuum  ge- 
lebt, war  am  Kreuz  gestorben  und  begraben  worden.  Dieser  Makel 
der  Menschlichkeit  ist  etwas  ganz  anderes  als  die  Gestalt,  die  dem 
Gotte  eigentümlich  ist.  Das  Objektive  des  Gottes,  seine  Gestalt 
ist  nur  insoweit  objektiv,  als  er  nur  die  Darstellung  der  die  Ge- 
meinde vereinigenden  Liebe,  nur  die  reine  Entgegensetzung  der- 
selben ist  und  nichts  enthält,  was  nicht  selbst  in  der  Liebe,  aber 
hier  nur  als  Entgegengesetztes,  was  nicht  zugleich  Empfindung 
wäre.  So  aber  kommt  zum  Bild  des  Auferstandenen,  der  zum 
Wesen  gewordenen  Vereinigung  noch  anderes  Beiwesen,  voll- 
kommen Objektives,  Individuelles  hinzu,  das  mit  der  Liebe  ge- 
paart werden,  aber  als  Individuelles,  als  Entgegengesetztes  fest 
für  den  Verstand  fixiert  bleiben  soll,  das  dadurch  eine  Wirklich- 
keit ist,  die  dem  Vergötterten  immer  wie  Blei  an  den  Füßen  hängt, 
das  ihn  zu  der  Erde  zieht,  da  der  Gott  zwischen  dem  unendlichen 
Himmel  und  zwischen  der  Erde,  dieser  Versammlung  von  lauter 
Beschränkungen,  in  der  Mitte  schweben  sollte.  Sie  ist  nicht  aus 
der  Seele  zu  bringen,  die  Zweierleiheit  der  Naturen.  Wie  Her- 
kules durch  den  Holzstoß,  hat  der  Vergötterte  auch  nur  durch  ein 
Grab  zum  Heros  sich  emporgeschwungen.  Aber  dort  sind  der 
gestalteten  Tapferkeit  allein,  dem  zum  Gott  gewordenen,  nicht 
mehr  kämpfenden,  noch  dienenden  Helden,  hier  nicht  dem  Heros 
allein  die  Altäre  geweiht,  werden  die  Gebete  gebracht;  nicht  der 
Erstandene  allein  ist  das  Heil  der  Sünder  und  ihres  Glaubens  Ent- 

11* 


i64  G.W.  F.  HEGEL 


Zuckung;  auch  der  Lehrende  und  Wandehide  und  am  Kreuz 
Hängende  wird  angebetet.  Diese  ungeheure  Verbindung  ist  es, 
über  welche  seit  so  vielenJahrhundertenMilHonen  Gottsuchender 
Seelen  sich  abgekämpft  und  gemartert  haben. 


B  MORAL 

[Bergpredigt,  Matth.  V  —  Jesus  ßingt  mit  Schreien  an,  in  denen 
er  vor  der  versammelten  Menge  seinem  Herzen  und  seiner  andren 
Beurteilungsart  menschlicherWerte  Luft  macht.  Begeistert  schreit 
er  aus,  daß  es  nun  um  eine  andre  Gerechtigkeit,  um  andern  Wert 
des  Menschen  zu  tun  sei.  Begeistert  entfernt  er  sich  sogleich  von 
der  gemeinen  Schätzung  der  Tugenden  und  kündigt  eine  andre 
Region  des  Lebens  an,  in  der  eine  ihrer  Freuden  sein  müsse,  von 
der  Welt  verfolgt  zu  werden,  der  sie  ihre  Entgegensetzung  gegen 
sie  zeigen  müssen.  Dies  neue  Leben  zerbreche  aber  nicht  die 
Materie  der  Gesetze,  sondern  es  sei  vielmehr  ihre  Erfüllung,  die 
Ergänzung  dessen,  was  unter  der  Form  eines  Entgegengesetzten, 
als  Gesetz  bisher  vorhanden  war.  Diese  Form  des  Gebotenseins 
soll  durch  ihr  neues  Leben  vertilgt  werden,  und  vor  der  Fülle 
ihres  Geistes,  ihres  Wesens  verschwinden  (Matth.  V,  21 — 26). 
Das  Gesetz  gegen  Totschlag  wird  durch  den  höheren  Genius  der 
Versöhnlichkeit  erfüllt  und  zugleich  für  ihn  aufgehoben ;  für  ihn 
gibt  es  kein  solches  Gebot. 

id.  27 — 30.  Erfüllt  wird  das  Gesetz  gegen  den  Ehebruch  durch 
die  Heiligkeit  der  Liebe  und  durch  die  Fähigkeit,  wenn  man  auf 
die  vielen  Seiten  des  Menschen  sich  einläßt,  sich  zu  seiner  Ganz- 
heit zu  erheben. 

id.  31  —  32.  Ehescheidung.  Aufhebung  der  Liebe,  der  Freund- 
schaft gegen  ein  Weib,  in  der  sie  noch  ist,  macht  sie  sich  selbst 
ungetreu  werden  und  sündigen,  und  die  Beobachtung  der  recht- 
lichen Pflicht  und  Dezenz  ist  eine  elende  Beschönigung,  eine  neue 
Härte  dieser  Verletzung  ihrer  Liebe. 

id.  3  3 — 37.  Bist  du  wahrhaftig,  so  brauchst  du  den  Zusammen- 
hang zwischen  deiner  Rede  und  der  Tat  oder  Gedanken  nicht  an 
ein  Fremdes  zu  knüpfen,  in  die  Hand  eines  Fremden  zu  legen, 
ihn  als  Herrn  dieses  Zusammenhangs  zu  erklären.    Du  selbst  bist 


DAS  LEBEN  JESU  165 


über  alle  fremde  Macht  erhaben.  Das  Gesetz,  nicht  falsch  zu 
schwören,  Gott  aber  zur  Macht  über  sein  Wort  zu  machen,  ist 
durch  die  Wahrhaftigkeit  erfüllt  und  sie  ist  darüber  erhaben. 

id.  38 — 42.  Gerechtigkeit,  gänzliche  Erhebung  über  die  Sphäre 
des  Rechts  oder  Unrechts  durch  Aufhebung  alles  Eigentums. 

id.  43  ff.    Zusammenfassung  des  Ganzen. 

Kap.  VI,  I — 4.  Almosen,  nicht  vor  den  Leuten,  nicht  vor  dir 
selbst.] 

id.  5 — 15.  Gebet.  Auch  hier  sei  nur  das  Beten  rein.  Mischet 
nicht  Fremdes  ein,  gesehen  zu  werden,  sondern  betet  in  euerm 
Kämmerlein  und  ein  solches  einsames  und  einzelnes  Gebet  ist  das 
Vaterunser.  Es  ist  nicht  das  Gebet  eines  Volkes  zu  seinem  Gotte, 
sondern  das  Gebet  eines  Isolierten,  Unsichern,  Ungewissen.  Dein 
Reich  komme,  dein  Name  werde  geheiligt;  — •  der  Wunsch  des 
Einzelnen,  denn  ein  Volk  kann  nicht  wünschen.  Dein  Wille  ge- 
schehe; —  ein  Volk  von  Ehre  und  Stolz  tut  seinen  eignen  Willen 
und  weiß  von  keinem  andern,  als  einem  Feindlichen;  der  Einzelne 
kann  den  Willen  Gottes  und  den  allgemeinen  entgegengesetzt 
sehen.  Gib  uns  heute  unser  täglich  Brot ;  —  eine  Bitte  der  stillen  Ein- 
falt, die  im  Munde  eines  Volkes  nicht  paßte,  das  sich  seiner  Herr- 
schaft über  die  Nahrungsmittel  bewußt  ist  oder  unmöglich  nur 
den  Gedanken  an  die  Speise  eines  Tages  haben  kann,  sondern 
wohl  um  Gedeihen  des  Ganzen,  um  freundliche  Natur  beten  kann ; 
beten  ist  nicht  bitten.  Vergib  uns;  —  auch  ein  Gebet  des  Ein- 
zelnen ;  Nationen  sind  Getrennte,  Abgesonderte ;  es  ist  nicht  denk- 
bar, wie  sie  einer  andern  Nation  verzeihen  sollen;  es  könnte 
nicht  durch  eine  Vereinigung,  sondern  durch  das  Gefühl  der 
Gleichheit  oder  des  Übergewichts  der  Macht,  Furcht,  geschehen. 
Das  Bewußtsein  eigner  Sünden,  diese  Reflexion  kann  eine  Nation 
nur  durch  Schwert  erhalten,  denn  sie  kann  ihren  Willen  nicht 
unter  einem  Gesetz  anerkennen.  Aber  der  Einzelne  kann  beten: 
So  viel  Liebe  ich  habe,  so  viel  möge  ich  erfahren. 

[id.  16 — 18.  Fasten.  Wie  beim  Beten  und  Almosengeben  nichts 
Fremdes  einmischen. 

id.  20 — 34.  Sich  nicht  zerstreuen  und  das  Ganze  nicht  in  Sorge 
und  Abhängigkeit  verlieren.  Solche  partiellen  Dinge,  Bedürf- 
nisse, Reichtum,  Nahrung,  Kleidung  bringen  Bestimmtheiten  in 


i66  G.W.  F.  HEGEL 


den  Menschen,  die  ihn  objektiv  des  reinen  Lebens  unfähig 
machen. 

Kap.  VII,  I  —  5.  Richten  über  andere,  sie  seiner  Rede  unter- 
\verfen  im  Urteil,  die  Tyrannei  in  Gedanken. 

id.  7 — I ).  Die  Vereinigung  der  Menschen  in  Bitten  und  Geben. 

id.  1 3  ff.  Allgemeines  Bild  des  vollendeten  Menschen. 

Matth.  XII,  3  I  ff :  0;  iäv  ctinj  Xo^ov  xa-ä  toü  utoü -cou  ov&pjizo'j,  dtpsB-T^siTai 
a'jtui'S;  8'av  e'rr]  xaia  -oü  rveü|jLaTOs  toü  0^100,  oux  accc&r^Oc'ai  ct'jiwoüxs  ivxo'jxcftiö 
a:"(i>vi  oy'£  Iv  xtp  jjlsXXovt'.. 

id.  34.  Aus  dem  Überfluß  des  Herzens  spricht  der  Mund;  der 
gute  Mensch  gibt  aus  dem  guten  Schatz  seines  Herzens  das  Gute, 
der  böse  das  Böse  aus  dem  bösen  Herzen.  Wer  den  Menschen 
lästert,  der  lästert  den  Einzelnen,  den  Besonderen;  wer  aber  den 
heiligen  Geist  lästert,  lästert  die  Natur  und  ist  unfähig,  Sünden- 
vergebung zu  erlangen,  denn  er  ist  unfähig,  mit  dem  Ganzen  sich 
zu  vereinigen;  er  bleibt  isoliert  und  ausgeschlossen.  Eine  solche 
Lästerung  kommt  aus  der  Fülle  des  Herzens  und  zeigt  seine  Zer- 
störung, seine  Zerrüttung;  seine  Unheiligkeit  ist  des  Heiligen  un- 
fähig, das  er  gelästert  hat,  und  das  Heilige  nach  Trennung  und 
Vereinigung  ist  die  Liebe.  Ein  Zeichen  könnte  euch  etwa  er- 
schüttern. Aber  der  ausgetriebene  Geist  kommt  mit  sieben  andern 
zurück,  und  der  Mensch  wird  zerrütteter  als  vorher. 


C  RELIGION 

Matth.  XVIII,  I  — 10.  Der  Größte  iv -i^;  ßay.Xsi'q;  xwv  oüpavwv  der 
dem  Kinde  am  nächsten  kommt.  Ihre  Engel  (id.  10)  im  Himmel 
sehen  beständig  das  Angesicht  des  Vaters,  der  im  Himmel  ist. 
Unter  den  Engeln  der  Kinder  kann  kein  objektives  Wesen  ver- 
standen werden,  denn  auch  von  den  Engeln  der  andern  Menschen 
(um  in  diesem  Ton  zu  sprechen)  müßte  gedacht  werden,  daß  sie 
Gott  anschauen.  Ihre  unentwickelte  Einigkeit,  das  Bewußtlose, 
ihr  Sein  und  Leben  in  Gott  ist  in  einer  Gestalt  vorgestellt;  dann 
ist  auch  diese  wieder  substantialisiert,  isoliert,  ihre  Beziehung  auf 
Gott  eine  ewige  Anschauung  desselben.  Um  den  Geist,  das  Gött- 
liche außer  der  Form  dieser  Beschränkung  und  die  Gemeinschaft 
dieses  Beschränkten  mit  dem  Lebendigen  zu  bezeichnen,  setzt 


DAS  LEBEN  JESU  167 


Plato  das  reine  Leben  und  das  beschränkte  in  eine  Verschiedenheit 
der  Zeit;  er  läßt  die  reinen  Geister  vorhin  ganz  in  der  Anschau- 
ung des  Göttlichen  gelebt  haben  und  sie  im  Erdenleben  dieselben 
sein,  nur  mit  verdunkeltem  Bewußtsein  jenes  Himmlischen.  Auf 
eine  andre  Art  bezeichnet  Jesus  die  Natur,  das  Göttliche,  als  Kin- 
der des  Geistes,  als  Engel,  die  immer  im  Anschauen  Gottes  leben. 
Auch  in  dieser  Form  sind  sie  nicht  als  Gott,  sondern  als  Söhne 
Gottes,  als  Besondere  dargestellt.  Die  Entgegensetzung  des  An- 
schauenden gegen  das  Angeschaute,  daß  sie  als  ein  Subjekt  und 
ein  Objekt  entgegengesetzt  sind,  fäUt  in  der  Anschauung  weg. 
Ihre  Verschiedenheit  ist  nur  die  Möglichkeit  der  Trennung;  ein 
Mensch,  der  die  Sonne  immer  anschaute,  wäre  nur  ein  Gefühl 
des  Lichts,  das  Gefühl  als  Wesen ;  wer  ganz  in  der  Anschauung 
eines  andern  Menschen  lebte,  wäre  dieser  andere  selbst,  nur  mit 
der  Möglichkeit  eines  Andersseins.  Unmittelbar  damit  in  Ver- 
bindung gesetzt:  ^X6sv  6  U!Ö;  x'/j  dvfl-piÜTto'j  awgai  xo  ccxoXwXö;,  und  das  Ge- 
bot, sich  zu  versöhnen,  Entzweiung  aufzuheben  und  einig  zu 
werden;  diese  Einigkeit  ist  das  Anschauen  Gottes,  das  Werden 
wie  Kinder.  Wenn  der  Beleidiger  nicht  auf  die  Gemeine  hört,  so 
sei  er  als  Heide  und  Zöllner.  Wer  sich  absondert,  die  versuchte 
Vereinigung  verschmäht,  fest  dagegen  hält  (Der  Satz  ist  unvoll- 
endet geblieben.)  Ferner  stellt  Jesus  diese  Einigkeit  in  andrer 
Form  dar  (XVIII,  19):  Wenn  zwei  von  euch  über  etwas  einig  sind 
und  ihr  bittet  darum,  so  wird  es  euch  der  Vater  gew^ähren,  und 
fügt  bei:  Was  ihr  binden  oder  lösen  werdet,  ist  im  Himmel  gelöst 
oder  gebunden;  was  euch  entgegengesetzt  ist,  ist  der  Gottheit 
fremd,  schaut  sie  nicht  an.  Die  Ausdrücke:  bitten,  gewähren,  sind 
so  gemein  geworden  und  werden  (Lücke  der  Handschrift )\ 

D  GESCHICHTE 

Die  Form,  wie  er  als  Einzelner  gegen  Einzelne,  und  Einzelne 
gegen  ihn  stehen.    Ausbreitung  seiner  Lehre. 

Der  Anfang  seines  Predigens.  Matth.  IV,  17 :  ptavoshe  •  t^^y^xsv  y«? 

71  ßaaiXeta  -cdiv  oüpavuiv. 

Ibid.   19.  Anwerbung  Simons  und  Andreas':  xoiyjaoi  ujiäc;  äXesi; 

dv&pojTCojv. 

Matth.  VIII,  20:  ö  uw;  xoü  dv&pwTCOu  oux  lyst  iroü  xrjv  xscpaXrjv  xXtvi[]. 


168  G.W.  F.  HEGEL 


V  III,  22 :  axoXoü^ai  jio'.,  zal  «(ch;  -coü;  vczpoü;  &oiat  "oü;  ia'jtojv  vE/pcit;;. 

In  beiden  Fällen  das  Verzichttun  auf  das  Gewebe  menschlicher 
Verhältnisse  und  Bedürfnisse.  Trennung  von  ihrem  Leben.  Aber 
nicht  Absonderung  von  Zöllnern  und  Sündern  (Matth.  IX,   ii). 

Zustand  des  jüdischen  Volkes;  wie  Schafe  ohne  Hirten  (IX,  36). 
—  Zu  den  Pharisäern:  «Könnet  ihr  nicht  die  Zeichen  der  Zeit 
beurteilen?»  —  Ausschickung  der  Zwölf  (Matth.  X,  5).  Ihre  In- 
struktionspredigt: r/fY^cv  r]  ^az'Xzia  twv  oöpavojv.  Das  Übrige  negativ: 
Sorget  für  Reisebedürfnisse;  sehet,  wo  ihr  Würdige  findet;  wenn 
das  Haus  würdig  ist.  komme  euer  Gruß,  £!>r,vr,  (er  befahl  vorher 
ein  Haus  zu  grüßen)  über  es;  wo  nicht,  so  kehre  er  zu  euch  selbst 
zurück.  Der  Gruß  ist  in  beiden  Fällen  dasselbe;  es  kommt  auf  die 
Würdigkeit  des  Hauses  an,  ob  er  als  Wort  in  ihm  erschallt  oder 
dieselbe  Fülle  ihm  in  den  Gemütern  anschlägt,  mit  der  er  gegeben 
ist;  sonst  kehrt  er  zu  euch  zurück;  ihr  habt  den  Frieden  nicht 
verschwendet,  er  hört  sich  in  euch. 

Also  kein  Belehren  und  Behandeln.  Haß  der  Welt,  Verfolgung. 
Der  Geist  wird  aus  euch  sprechen;  seid  nicht  bekümmert,  was 
ihr  sagen  wollt.  Furchtlosigkeit,  teils  wegen  eignen  Leidens,  teils 
wegen  der  Zerrüttungen,  die  ihre  Sendung  der  Welt  bringen  wird. 
Matth.  X,  41 :  Wer  einen  Propheten  als  Propheten  (si^ovoua  -potpr;-cou, 
wem  ein  Prophet  ein  Prophet  ist),  einen  Gerechten  als  Gerechten, 
einen  Jünger  als  solchen  aufnimmt,  der  hat  den  Lohn,  den  Wert 
eines  Propheten;  wie  der  Mensch  den  Menschen  auffaßt,  so  ist 
er  selbst. 

Unwille  über  die  Art  der  Aufnahme  seiner  Lehre  von  seinem 
Zeitalter  (Matth.  XI,  25),  Beschränkung  ihrer  Wirksamkeit  auf 
vr,-[oi., /ozuüvti;  zcfl  rctpopTiaiiEvoi.  Matth.  XII,  49:  iz'iHiva;  ttjv  yBioa  izi 
-o'j!;  ^adr^zoL^  auToü  sTrsv  •  lool»  7;  u-rjxrjp  ^ou  xal  ot  aoaXttot  yio'j.  Trennung  Jesu 
von  den  Beziehungen  des  Lebens.  Von  hier  beginnen  seine  hef- 
tigen Ausdrücke  gegen  die  Pharisäer.  Seine  Antworten  über 
Fragen,  Anlässe,  gehen  nur  darauf,  sie  zum  Schweigen  zu  bringen, 
nur  polemisch;  das  Wahre  richtet  er  an  andre  Zuhörer. 

Parabeln.    Matth.  XIII. 

Über  die  Art  der  Ausbreitung  seiner  Lehre,  das  Schicksal  der- 
selben, alle  (vom  Sämann,  Weizen  und  Unkraut,  Senfkorn,  Heten- 
teig,  gefundenen  Schatz  usw.)  ganz  analog  mit  den  Mythen,  aber 


DAS  LEBEN  JESU  169 


freilich  in  jüdisclie  Wirklichkeiten  [eingehüllt].  Es  ist  in  ihnen 
kein  fabula  docet;  keine  Moral  kommt  aus  ihnen,  sondern  das 
Geschichtliche,  das  Werden,  der  Fortgang  des  Seienden,  des 
Ewigen,  des  Lebendigen.  Das  Werden  des  Seins  ist  das  Geheimnis 
der  Natur;  und  alles  fade  Geschwätz  von  innigerer  Überzeugung 
vom  Guten  usw.  ist  unendlich  sinnloser,  als  die  übernatürliche 
Erleuchtung,  Wiedergeburt  usw.  Die  Menge  der  Parabeln  zeigt 
das  Unvermögen,  das  darzustellen,  auf  was  sie  deuten  sollen;  nur 
daß  dies  kostbar,  ein  Großes,  Wünschenswertes,  aber  ein  Anderes 
ist,  als  sie  kennen.   Matth.  XIII,  55:  oüy  oy-oQ  iaxiv  6  -oü  texxovoc  utö;; 

ouy_  yj  lAyjTTjp  abiou  Xs^sißi  Mapiaji;  —  Oüz  saxiv  -potfrjxT);  «xhi-oq  u  \i-r^  ev  x^^  äczxptoi 
xat  iv  xi^  oixtcf  auxoü.  Sie  sehen  nichts  als  die  Wirklichkeit,  nicht  den 
Geist,  nichts,  als  was  sie  selbst  sind.  So  auch  Matth.  XXV.  Diese 
Parabeln  sind  weder  morgenländische  Allegorien,  noch  griechische 
Mythen.  Diese  beiden  sprechen  von  der  Sache  selbst,  von  dem 
Sein,  von  dem  Schönen,  dessen  Entwickelung,  aus  sich  Heraus- 
gehen, Veränderungen  bei  den  Orientalen  meist  ungeheure  und 
unnatürliche  Geburten  werden,  weil  sie  für  sich,  von  der  Phantasie 
allein,  also  als  Ungeheuer  gehalten  werden,  bei  den  Griechen  zwar 
auch  als  Substanzen,  als  Modifikationen  in  einem  lebendigen 
Wirklichen  auftreten,  aber  von  der  Phantasie  doch  an  eine  natür- 
liche Handlung,  an  eine  Menschenform  geheftet  werden;  sie  ver- 
lieren das  Idealische  dadurch  nicht,  das  ihnen  die  orientalischen 
Ungeheuer  behalten  wollen,  es  wird  doch  kein  individuelles  Leben 
(Ceres,  Venus  usw.);  das  Unmenschliche  dieser  Göttergestalten 
ist  nur  Befreiung  von  dem  ihnen  Heterogenen,  z.  B.  Schwere, 
Arbeit,  Not  usw.  Die  Parabeln  Christi  sind  eigentliche  Gleichnisse, 
moderne  Fabeln,  in  denen  es  ein  tertium  comparationis  gibt,  d.  h. 
wo  das  Gleiche  gedacht  ist.  In  den  alten  äsopischen  Fabeln  waren 
es  selbst  Triebe,  Instinkte,  das  gleich  modifizierte  Leben.  In  den 
Parabeln  ganz  wirkliche  Geschichten;  daher  immer  ein:  Gleich 
wie  — 


(Lücke  der  Handschrift)  Der  Pharisäer  dankt  Gott  dafür. 
Er  ist  so  bescheiden,  nicht  die  Kraft  seines  Willens  darin  zu  er- 
kennen, daß  er  nicht  wie  viele  andere  Menschen  ist,  die  Räuber, 


lyo  G.W.  F.  HEGEL 


Ungerechte,  Ehebrecher  sind,  oder  wie  der  ZöUner  hier  neben 
ihm;  er  faste  nach  der  Regel,  er  bezahle  als  ein  rechtschaffener 
Mann  gewissenhaft  seinen  Zehnten.  Diesem  Bewußtsein  der 
Rechtschaffenheit,  von  welchem  gar  nicht  gesagt  ist,  daß  es  nicht 
wahr  gewesen  sei,  setzt  Jesus  den  niedergesunkenen  Blick,  der 
sich  nicht  zum  Himmel  zu  erheben  wagt,  des  Zöllners  entgegen, 
welcher  an  seine  Brust  schlägt:  Gott  sei  mir  gnädig.  Das  Be- 
wußtsein des  Pharisäers,  seine  Pflicht  erfüllt  zu  haben,  wie  auch 
das  Bewußtsein  des  Jünglings,  ein  treuer  Beobachter  aller  Ge- 
setze gewesen  zu  sein  (Matth.  XIX,  20),  dies  gute  Gewissen  ist 
darum  eine  Heuchelei,  weil  es  teils,  wenn  es  schon  mit  der  Ab- 
sicht der  Handlung  verbunden  ist,  eine  Reflexion  über  sich  selbst, 
über  die  Handlung,  ein  Unreines,  nicht  zur  Handlung  Gehöriges 
ist,  teils,  wenn  es  eine  Vorstellung  seiner  selbst  als  eines  morali- 
schen Menschen  ist,  wie  beim  Pharisäer  und  bei  jenem  Jüngling,  eine 
Vorstellung  ist,  deren  Inhalt  die  Tugenden  sind,  d.  h.  beschränkte, 
denen  ihr  Kreis  gegeben,  die  in  ihrem  Stoffe  begrenzt  sind, 
also  alle  zusammen  ein  Unvollständiges  sind,  da  das  gute  Gewis- 
sen, das  Bewußtsein,  seine  Pflichten  erfüllt  zu  haben,  sich  zum 
Ganzen  heuchelt. 

In  eben  diesem  Geist  spricht  Jesus  vom  Beten  und  Fasten.  Bei- 
des entweder  ganz  objektive,  durchaus  gebotene  Pflichten,  oder 
nur  in  einem  Bedürfnis  gegründet.  Sie  sind  nicht  fähig,  als  mo- 
ralische Pflichten  vorgestellt  zu  werden,  weil  sie  keine  Entgegen- 
setzung voraussetzen,  die  in  einem  Begriff  vereinigt  zu  werden 
fähig  wäre.  Jesus  rügt  bei  beiden  den  Schein,  den  man  sich  vor 
den  Menschen  damit  gibt  und  beim  Gebet  besonders  auch  das 
viele  Schwätzen,  wodurch  es  das  Ansehen  einer  Pflicht  und  der 
Ausübung  derselben  erhält.  Das  Fasten  beurteilt  Jesus  (Matth.  VI, 
18)  nach  der  Empfindung,  die  dabei  zugrunde  liegt,  nach  dem 
Bedürfnis,  das  dazu  treibt.  Außer  der  Entfernung  der  Unreinheit 
beim  Gebet  gibt  Jesus  auch  eine  Art  zu  beten  an.  Die  Rücksicht 
auf  das  Wahre  des  Gebets  gehört  nicht  an  diese  Stelle. 

Über  die  folgende  Forderung  von  Abwerfung  der  Lebenssorgen 
und  Verachtung  der  Reichtümer,  sowie  über:  «Wie  ist  es  mög- 
Uch,  daß  ein  Reicher  ins  Reich  Gottes  komme  (Matth.  XIX,  23)?» 
ist  wohl  nichts  zu  sagen.   Es  ist  eine  Litanei,  die  nur  in  Predigten 


DAS  LEBEN  JESU  171 


oder  in  Reimen  verziehen  wird.  Denn  eine  solche  Forderung  hat 
keine  Wahrheit  für  uns.  Das  Schicksal  des  Eigentums  ist  uns  zu 
mächtig  geworden,  als  daß  Reflexionen  darüber  erträglich,  seine 
Trennung  von  uns  denkbar  wäre.  Aber  so  viel  ist  doch  einzu- 
sehen, daß  der  Besitz  von  Reichtum,  mit  allen  den  Rechten,  so 
wie  mit  allen  Sorgen,  die  damit  zusammenhängen,  Bestimmtheiten 
in  den  Menschen  bringt,  deren  Schranken  den  Tugenden  ihre 
Grenzen  setzen,  ihnen  Bedingungen  und  Abhängigkeiten  geben, 
innerhalb  deren  wohl  für  Pflichten  und  Tugenden  Raum  ist,  die 
aber  kein  Ganzes,  kein  vollständiges  Leben  zulassen,  weil  es  an 
Objekte  gebunden  ist,  Bedingung  seiner  außer  sich  selbst  hat,  weil 
dem  Leben  noch  etwas  als  eigen  zugegeben  ist,  was  doch  nie  sein 
Eigentum  sein  kann.  Der  Reichtum  verrät  sogleich  seine  Entge- 
gensetzung gegen  die  Liebe,  gegen  die  Ganzheit  dadurch,  daß  er 
ein  Recht  und  in  einer  Reihe  von  Rechten  begriffen  ist,  wodurch 
teils  seine  unmittelbar  auf  ihn  sich  beziehende  Tugend,  die  Recht- 
schaffenheit, teils  die  anderen  innerhalb  seines  Kreises  möglichen 
Tugenden  notwendig  mit  Ausschließung  verbunden  und  jeder 
Tugendakt  an  sich  selbst  ein  Entgegengesetztes  ist.  An  einen 
Synkretismus,  einen  Zweiherrendienst  ist  nicht  zu  denken,  weil 
das  Unbestimmte  und  das  Bestimmte  mit  Beibehaltung  ihrer  For- 
men nicht  verbunden  werden  können.  Jesus  mußte  nicht  bloß  das 
Komplement  der  Pflichten,  sondern  auch  das  Objekt  dieser  Prinzi- 
pien, das  Wesen  der  Sphäre  der  Pflichten  aufzeigen,  um  das  der 
Liebe  entgegengesetzte  Gebiet  zu  zerstören.  Lukas  (XII,  13  ff".)  bringt 
die  Ansicht,  nach  welcher  Jesus  sich  gegen  die  Reichtümer  erklärt, 
in  einer  Verbindung  vor,  wodurch  sie  noch  deutlicher  wird.  Ein 
Mann  hatte  ihn  darum  angesprochen,  sich  bei  seinem  Bruder  über 
die  Teilung  ihrer  Erbschaft  zu  verwenden.  Eine  Bitte  um  eine 
solche  Verwendung  abzuschlagen,  wird  nur  als  die  Verfahrungs- 
art  eines  Egoisten  beurteilt.  Jesus  scheint  in  seiner  Antwort  gegen 
den,  der  die  Bitte  an  ihn  getan  hatte,  unmittelbar  nur  seine  In- 
kompetenz dazu  entgegenzuhalten.  Aber  in  seinem  Geiste  liegt 
mehr,  als  daß  er  nur  kein  Recht  zu  jener  Teilung  habe,  denn  er 
wendet  sich  sogleich  zu  seinen  Jüngern  mit  einer  Ermahnung  ge- 
gen die  Begierde  zu  haben,  und  fügt  eine  Parabel  bei  von  einem 
reichen  Mann,  den  Gott  mit  der  Stimme  aufschreckt:  «Tor!  diese 


172  G.W.  F.  HEGEL 


Nacht  wird  man  deine  Seele  von  dir  fordern ;  was  du  erworben 
hast,  wem  wird  es  gehören?»  So  ist  es  mit  dem,  der  sich  Schätze 
sammelt  und  nicht  in  Gott  reich  ist.  So  wendet  Jesus  nur  jenem 
Profanen  die  Rechtsseite  zu:  gegen  seine  Jünger  fordert  er  Erhe- 
bung über  das  Gebiet  des  Rechts,  der  Gerechtigkeit,  der  Billigkeit, 
der  Freundschaftsdienste,  die  Menschen  in  diesem  Gebiete  sich 
leisten  können,  über  die  ganze  Sphäre  des  Eigentums. 

Dem  Gewissen,  dem  Bewußtsein  der  eignen  Pflichtgemäßheit 
oder  Nichtgemäßheit  steht  die  Anwendung  der  Gesetze  auf  andere 
im  Urteile  gegenüber:  «Richtet  nicht,  sagt  Jesus,  auf  daß  ihr  nicht 
gerichtet  werdet.  Mit  welchem  Maße  ihr  messet,  mit  dem  wird 
euch  dagegen  gemessen  werden  (Matth.  VII,  i — 2).»  Dieses  Sub- 
sumieren andrer  unter  einen  Begriff,  der  im  Gesetze  dargestellt 
ist,  kann  darum  eine  Schwäche  genannt  werden,  weil  der  Ur- 
teilende nicht  stark  genug  ist,  sie  ganz  zu  ertragen,  sondern  sie 
teilt  und  gegen  ihre  Unabhängigkeit  nicht  auszuhalten  vermag, 
nicht  wie  sie  sind,  aber  wie  sie  sein  sollen,  durch  welches  Urteil 
er  sie  sich  (denn  der  Begriff  der  Allgemeinheit  ist  sein)  im  Gedan- 
ken unterjocht  hat.  Mit  diesem  Richten  aber  hat  er  ein  Gesetz 
anerkannt  und  sich  selbst  der  Herrschaft  desselben  unterzogen, 
ein  Maß  des  Richtens  auch  für  sich  aufgestellt  und  mit  der  Heb- 
reichen Gesinnung  für  seinen  Bruder,  ihm  den  Splitter  aus  dem 
Auge  zu  ziehen,  ist  er  selbst  unter  das  Reich  der  Liebe  gesunken. 

Das  noch  Folgende  ist  nicht  mehr  eine  Entgegenstellung  des- 
sen, was  höher  ist  als  die  Gesetze,  gegen  sie,  sondern  die  Aufzei- 
gung einiger  Äußerungen  des  Lebens  in  seiner  schönen,  freien 
Region,  als  die  Vereinigung  der  Menschen  im  Bitten,  Geben  und 
Nehmen.  Das  Ganze  schließt  mit  dem  Bestreben,  das  Bild  des 
Menschen,  wie  es  im  Vorherigen  in  der  Entgegensetzung  gegen 
die  Bestimmtheiten  gezeichnet  ist,  weswegen  auch  das  Reine 
mehr  in  seinen  Modifikationen,  in  besonderen  Tugenden,  als  Ver- 
söhnlichkeit, eheUche  Treue,  Wahrhaftigkeit  usw.  erschien,  rein 
außer  dieser  Sphäre  darzustellen,  welches  denn  freilich  nur  in  un- 
vollständigen Parabeln  geschehen  kann. 

Einen  Kontrast  mit  dieser  Gesetz-  und  Pflichtlosigkeit  in  der 
Liebe,  die  Jesus  als  das  Höchste  bezeichnet,  macht  die  Art  des 
lohannes  des  Täufers,  von  welcher  Lukas  (III,  7  ff.)  einige  Pro- 


DAS  LEBEN  JESU  173 


ben  aufbehalten  hat.  Wie  sie  [hoffen  könnten],  sagt  er  zu  den 
Juden,  ungeachtet  sie  Abraham  zum  Vater  haben,  ihrem  erzürnten 
Schiclvsal  zu  entgehen?  «Die  Axt  liegt  schon  an  der  Wurzel  der 
Bäume.»  Und  da  die  Juden  ihn  nun  fragten,  was  sie  zu  tun  haben, 
so  sagte  er:  «Wer  zwei  Röcke  oder  überflüssige  Speise  hat,  gebe 
es  dem,  der  nichts  hat.»  Die  Zöllner  gemahnte  er,  nicht  mehr 
Abgaben  zu  fordern,  als  ihnen  vorgeschrieben  ist,  die  Soldaten, 
niemand  zu  schlagen,  nichts  zu  erpressen,  sondern  von  ihrem 
Solde  zu  leben.  Noch  ist  von  ihm  bekannt  (Matth.  XIV,  4),  daß 
er  sich  in  Schmälen  über  das  Verhältnis  des  Herodes  mit  seines 
Bruders  Frau  einließ,  ein  Schelten,  das  ihn  den  Kopf  kostete.  Sein 
Schicksal  vollendete  sich  über  einer  Bestimmtheit,  wie  sein  Lehren 
nach  den  obigen  Proben  eine  Ermahnung  zu  bestimmten  Tugen- 
den war  und  den  großen  Geist,  die  alles  umfangende  Seele  der- 
selben nicht  in  seinem  Bewußtsein  zeigt.  Er  fühlte  dies  auch  selbst 
und  verkündigte  einen  andern,  der  die  Wurfschaufel  in  der  Hand 
die  Tenne  fegen  werde.  Johannes  hoffte  im  Glauben,  statt  seiner 
Wassertaufe,  von  seinem  Nachfolger  eine  Taufe  mit  Feuer  undGeist. 


Auch  ein  Schicksal)  das  der  Mensch  durch  widerrechtliche 
Lebensverletzung  gegen  sich  erw^eckt  hat,  kann  er  durch  die  stär- 
ker werdende  Liebe  wieder  zum  Schlafe  bringen.  Die  Strafe  des 
Gesetzes  ist  nur  gerecht.  Der  gemeinsame  Charakter,  der  Zu- 
sammenhang des  Verbrechens  und  der  Strafe  ist  nur  Gleichheit, 
nicht  Leben.  Gegen  den  Tyrannen  stehen  wieder  Peiniger,  gegen 
den  Mörder  Henker ;  und  die  Peiniger  und  die  Henker,  die  das- 
selbe tun,  was  die  Tyrannen  und  die  Mörder  taten,  heißen  darum 
gerecht,  weil  sie  das  Gleiche  tun,  sie  mögen  es  mit  Bewußtsein 
als  Rächer,  oder  als  blinde  Werkzeuge  tun;  ihre  Seele  kommt 
nicht  in  Anschlag,  nur  ihre  Tat.  Von  Versöhnung,  von  Wieder- 
kehr zum  Leben  kann  also  bei  der  Gerechtigkeit  nicht  die  Rede 
sein.  Auch  in  der  Feindschaft  des  Schicksals  wird  gerechte  Strafe 
empfunden.  Aber  da  sie  nicht  von  einem  fremden  Gesetz  über 
den  Menschen  kommt,  sondern  aus  dem  Menschen  erst  das  Gesetz 
und  das  Schicksalsrecht  entsteht,  so  ist  die  Rückkehr  zum  ur- 
sprünglichen Zustand,  zur  Ganzheit  möglich,  denn  der  Sünderist 


174  G.W.  F.  HEGEL 


mehr  als  eine  existierende  Sünde,  Persönlichkeit  habendes  Ver- 
brechen; er  ist  Mensch;  Verbrechen  und  Schicksal  ist  in  ihm,  er 
kann  wieder  zu  sich  selbst  zurückkehren,  und  wenn  er  zurück- 
kehrt, unter  ihm.  Die  Elemente  der  Wirklichkeit  haben  sich 
aufgelöst,  Geist  und  Körper  haben  sich  getrennt.  Die  Tat  besteht 
zwar  noch,  aber  als  ein  Vergangenes,  als  ein  Fragment,  als  eine 
tote  Trümmer;  derjenige,  der  als  böses  Gewissen  war,  ist  ver- 
schwunden und  die  Erinnerung  der  Tat  ist  nicht  mehr  eine  An- 
schauung seiner  selbst.  Das  Leben  hat  in  der  Liebe  das  Leben 
wiedergefunden.  Zwischen  Sünde  und  ihre  Vergebung  tritt  so 
wenig  als  zwischen  Sünde  und  Strafe  ein  Fremdes  ein ;  das  Leben 
entzweite  sich  mit  sich  selbst  und  vereinigt  sich  wieder. 

Daß  auch  Jesus  den  Zusammenhang  zwischen  Sünde  und  Ver- 
gebung der  Sünde,  zwischen  Entfremdung  von  Gott  und  Ver- 
söhnung mit  ihm  nicht  außer  der  Natur  fand,  kann  vollständig 
späterhin  gezeigt  werden.  Hier  kann  immer  soviel  angeführt 
werden,  daß  er  die  Versöhnung  in  Liebe  und  Lebensfülle  setzte 
und  diese  Vorstellung  des  Verbrechens,  des  Schicksals  und  der 
Versöhnung  bei  jeder  Veranlassung  in  wenig  abwechselnder  Form 
äußerte.  Wo  er  Glauben  fand,  tat  erkühn  den  Ausspruch:  «Dir 
sind  deine  Sünden  vergeben.»  Dieser  Ausspruch  ist  kein  Ver- 
nichten der  Strafe,  kein  Zerstören  des  noch  bestehenden  Schick- 
sals, sondern  die  Zuversicht,  die  im  Glauben  der  ihn  Fassenden 
sich  selbst,  ein  ihm  gleiches  Gemüt  erkannte.  Gegenseitigen  Glau- 
ben kann  nur  die  Gleichheit  des  Gemüts  finden ;  in  wem  Jesus 
Glauben  an  ihn  fand,  den  erkannte  er  als  über  Gesetz  und  Schick- 
sal erhaben  und  kündigte  ihm  Vergebung  der  Sünden  an.  Mit 
vollem  Zutrauen  an  einen  Menschen,  mit  solcher  Hingebung  an 
ihn,  mit  der  sich  nichts  zurückbehaltenden  Liebe  kann  nur  eine 
reine  oder  gereinigte  Seele  sich  dem  Reinen  in  die  Arme  werfen, 
und  Glaube  an  Jesum  heißt  mehr  als  ein  Diener  sein.  Glaube 
ist  eine  Erkenntnis  des  Geistes  durch  Geist  und  nur  gleiche  Geister 
können  sich  erkennen  und  verstehen;  ungleiche  erkennen  nur, 
daß  sie  nicht  sind,  was  der  andere  ist.  Verschiedenheit  der  Geistes- 
macht ist  aber  nicht  Ungleichheit.  Der  Schwächere  hängt  sich 
an  den  Höheren  als  ein  Kind  oder  kann  an  ihm  hinaufgezogen 
werden.   So  lange  er  in  einem  andern  die  Schönheit  liebt  und  sie 


DAS  LEBEN  JESU  175 


zwar  in  ihm,  aber  nicht  entwickelt  ist,  d.  h.,  daß  er  sich  in  Hand- 
lung und  Tätigkeit  noch  nicht  mit  der  Welt  ins  Gleichgewicht 
und  Ruhe  gesetzt  hat,  daß  er  noch  nicht  zum  Bewußtsein  seines 
Verhältnisses  zu  den  Dingen  gekommen  ist,  so  glaubt  er  nur  noch. 
So  drückt  sich  Jesus  (Joh.  XII,  36)  aus:  «Bis  ihr  selbst  das  Licht 
habt,  glaubet  an  das  Licht,  damit  ihr  selbst  Söhne  des  Lichtes 
werdet.»  Von  Jesu  dagegen  ist  (Joh.  II,  25)  gesagt,  daß  er  sich 
den  Juden,  die  an  ihn  glaubten,  nicht  anvertraut  habe,  weil  er  sie 
kannte  und  weil  er  ihres  Zeugnisses  nicht  bedurfte,  sich  nicht  erst 
in  ihnen  erkannte. 

Im  Geiste  der  Juden  freilich  stand  zwischen  Trieb  und  Hand- 
lung, Lust  und  Tat,  zwischen  Leben  und  Verbrechen,  Verbrechen 
und  Verzeihung  eine  unübersteigliche  Kluft,  ein  fremdes  Gericht, 
und  wenn  sie  auf  ein  Band  zwischen  Sünde  und  Versöhnung  im 
Menschen  in  der  Liebe  verwiesen  wurden,  mußte  ihr  liebloses 
Wesen  empört  und  ein  solcher  Gedanke,  wenn  ihr  Haß  die  Form 
eines  Urteils  trug,  für  sie  der  Gedanke  eines  Wahnsinnigen  sein. 
Denn  sie  hatten  alle  Harmonie  des  Wesens,  alle  Liebe,  Geist  und 
Leben  einem  fremden  Objekt  anvertraut,  aller  Genien,  in  denen 
die  Menschen  vereinigt  sind,  sich  entäußert  und  die  Natur  in 
fremde  Hände  gelegt.  Was  sie  zusammenhielt,  waren  Ketten,  Ge- 
setze, vom  Mächtigen  gegeben.  Das  Bewußtsein  des  Ungehor- 
sams gegen  den  Herrn  fand  in  der  ausgestandenen  Strafe  oder 
Schuldbezahlung  unmittelbar  seine  Befriedigung.  Böses  Gewissen 
kannten  sie  nur  als  Furcht  vor  Strafe;  denn  als  Bewußtsein  seiner 
gegen  sich  selbst  setzt  es  immer  ein  Ideal  gegen  die  ihm  nicht  an- 
gemessene WirkHchkeit  voraus  und  das  Ideal  ist  im  Menschen  ein 
Bewußtsein  seiner  eigenen  ganzen  Natur.  Aber  ihrer  Dürftigkeit 
blieb  in  der  Anschauung  ihrer  nichts  übrig ;  allen  Adel,  alle  Schön- 
heit hatten  sie  verschenkt;  ihre  Armut  mußte  dem  unendlich  Rei- 
chen dienen  und  durch  das,  was  sie  ihm  für  sich  entwendeten,  im 
Gefühl  der  Selbstheit  sich  erstahlen,  hatten  sie  ihre  Wirklichkeit 
nicht,  wie  der  Mensch  von  bösem  Gewissen,  ärmer,  sondern  rei- 
cher gemacht,  aber  hatten  dann  den  bestohlenen  Herrn  zu  fürch- 
ten, der  sie  ihren  Raub  wieder  bezahlen,  opfern  lassen  und  sie  ins 
Gefühl  ihrer  Armut  zurückschleudern  würde.  Nur  durch  Bezah- 
lung an  ihren  allmächtigen  Gläubiger  wurden  sie  ihre  Schulden 


176  G.  W.  F.  HEGEL 


los  und  wenn  sie  bezahlt  hatten,  besaßen  sie  doch  wieder  nichts. 
Eine  schuldbewußte,  bessere  Seele  will  mit  dem  Opfer  nichts  er- 
kaufen, nicht  den  Raub  zurückgeben,  sondern  in  der  freiwilligen 
Entbehrung  mit  einer  herzlichen  Gabe,  nicht  im  Gefühl  der  Pflicht 
und  des  Dienstes,  sondern  in  brünstigem  Gebete  sich  einem  Rei- 
nen mit  der  Seele  nahen,  um,  was  sie  in  sich  selbst  nicht  zum  Be- 
wußtsein bringen  kann,  in  der  Anschauung  der  ersehnten  Schön- - 
heit  ihr  Leben  zu  stärken  und  freie  Lust  und  Freude  zu  gewinnen. 
Aber  der  Jude  hatte  in  der  Bezahlung  seiner  Schuld  nur  den 
Dienst,  dem  er  entlaufen  wollte,  wieder  aufgenommen,  und  ging 
vom  Altar  mit  dem  Gefühl  des  mißlungenen  Versuchs  und  der 
Wiederanerkennung  seines  knechtischen  Joches.  Versöhnung  in 
der  Liebe  ist  statt  der  jüdischen  Rückkehr  unter  Gehorsam  eine 
Befreiung,  statt  der  Wiederanerkennung  der  Herrschaft  die  Auf- 
hebung derselben  in  der  Wiederherstellung  des  lebendigen  Bandes, 
eines  Geistes  der  Liebe,  des  £[eo;enseitis;en  Glaubens,  eines  Geistes, 
der  in  Rücksicht  auf  Herrschaft  betrachtet  die  höchste  Freiheit  ist, 
ein  Zustand,  der  das  unbegreiflichste  Gegenteil  des  jüdischen 
Geistes  ist. 

Nachdem  Petrus  Jesum  als  eine  göttliche  Natur  anerkannt  und 
dadurch  sein  Gefühl  der  ganzen  Tiefe  der  Menschennatur,  daß  er 
einen  Menschen  als  einen  Gottessohn  fassen  konnte,  bewiesen 
hatte,  übergab  ihm  Jesus  die  Gewalt  der  Schlüssel  des  Himmel- 
reichs; was  er  binden  würde,  sollte  im  Himmel  gebunden,  was 
er  lösen  würde,  sollte  im  Himmel  auch  los  sein.  Da  Petrus  ein- 
mal das  Bewußtsein  eines  Gottes  gehabt  hatte,  so  mußte  er  in 
jedem  die  Göttlichkeit  oder  Ungöttlichkeit  seines  Wesens,  oder 
sie  als  Gefühl  derselben  in  einem  dritten,  die  Stärke  des  Glaubens 
oder  Unglaubens  anerkennen  können,  der  ihn  von  allem  bleiben- 
den Schicksal  befreite,  über  die  ewige,  unbewegliche  Herrschaft 
erhebe  oder  nicht ;  er  mußte  die  Gemüter  verstehen,  ob  ihre  Taten 
vergangen  sind,  ob  sie  noch,  die  Geister  derselben,  Schuld  und 
Schicksal  bestehen;  er  mußte  binden,  noch  unter  der  Wirklichkeit 
des  Verbrechens  stehend,  und  lösen,  über  die  Wirklichkeit  des- 
selben erhaben  erklären  können. 

Auch  ein  schönes  Beispiel^)  einer  wiederkehrenden  Sünderin 
kommt  in  der  Geschichte  Jesu  vor:  die  berühmte  schöne  Sünderin 


DAS  LEBEN  JESU  177 


Maria  Magdalena.  Es  möge  nicht  übel  gedeutet  werden,  wenn 
die  in  Zeit,  Ort  und  andern  Umständen  abweichenden  Erzählungen 
(Luk.  VII,  Matth.  XXVI),  die  auf  verschiedene  Begebenheiten 
deuten,  hier  nur  als  verschiedene  Formen  derselben  Geschichte 
behandelt  werden,  da  über  die  Wirklichkeit  damit  nichts  ge- 
sprochen sein  soll  und  an  unserer  Ansicht  nichts  verändert  wird. 
Die  schuldbewußte  Maria  hört,  daß  Jesus  in  dem  Hause  eines 
Pharisäers  speiste,  in  einer  großen  Versammlung  rechtlicher, 
rechtschaffener  Leute  (honnetes  gens).  Ihr  Gemüt  treibt  sie  zu 
Jesu,  sie  tritt  durch  diese  Gesellschaft  hinten  zu  seinen  Füßen, 
weint  und  netzt  seine  Füße  mit  ihren  Tränen  und  trocknet  sie 
mit  den  Haaren  ihres  Hauptes,  küßt  sie  und  salbt  sie  mit  Salben, 
mit  unverfälschtem  und  köstlicheniNardenwasser.  Die  schüchterne, 
sich  selbst  genügende,  stolze  Jungfräulichkeit  kann  das  Bedürfnis 
der  Liebe  nicht  laut  werden  lassen,  kann  noch  viel  weniger  bei 
der  Ergießung  der  Seele  den  gesetzlichen  Blicken  rechtlicher 
Leute,  der  Pharisäer  und  der  Jünger  trotzen ;  ihre  Sünden  sind, 
sich  über  das  Rechtliche  weggesetzt  zu  haben;  aber  eine  tief  ver- 
wundete, der  Verzweiflung  nahe  Seele  muß  sich  überschreien 
und  ihrer  Blödigkeit  und  ihrem  eignen  Gefühl  der  Rechtlichkeit 
zum  Trotz  die  ganze  Fülle  von  Liebe  geben  und  genießen,  um  in 
diesen  innigen  Genuß  ihr  Bewußtsein  zu  versenken.  Der  recht- 
schaffene Simon  fühlt  im  Angesicht  dieser  fließenden  Tränen, 
dieser  lebendigen,  alle  Schuld  tilgenden  Küsse,  dieser  Seligkeit 
der  aus  ihrem  Erguß  Versöhnung  trinkenden  Liebe  nur  die  Un- 
schicklichkeit, daß  Jesus  mit  einer  solchen  Kreatur  sich  einlasse. 
Er  setzt  dies  Gefühl  so  sehr  voraus,  daß  er  es  nicht  ausdrückt, 
daß  es  ihn  nicht  beschäftigt,  sondern  sogleich  kann  er  die  Kon- 
sequenz ziehen:  Wenn  Jesus  ein  Seher  wäre,  so  würde  er  wissen, 
daß  dies  Weib  eine  Sünderin  ist.  «Ihr  sind  die  vielen  Sünden 
vergeben,  sagte  Jesus,  denn  sie  hat  viel  geliebt;  welchem  aber 
wenige  vergeben  werden,  der  hat  wenig  geliebt.»  Bei  Simon 
hatte  nur  seine  Urteilskraft  sich  geäußert;  bei  den  Freunden  Jesu 
regt  sich  ein  viel  edleres,  ein  moralisches  Interesse,  das  Wasser 
hätte  wohl  um  dreihundert  Groschen  verkauft  und  das  Geld  den 
Armen  gegeben  werden  können.  Ihre  moralische  Tendenz,  den 
Armen  wohl  zu  tun,  ihre  wohlberechnende  Klugheit,  ihre  auf- 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  12 


178  G.  W.  F.  HEGEL 


merksame  Tugend  mit  Versrand  verbunden  ist  nur  eine  Roheit; 
denn  sie  faßten  die  schöne  Situation  nicht  nur  nicht,  sie  beleidigten 
sogar  den  heiligen  Erguß  eines  liebenden  Gemüts.    «Warum  be- 
kümmen  ihr  sie?  sagt  Jesus;  sie  hat  ein  schönes  Werk  an  mir 
getan;»  und  es  ist  das  Einzige,  was  in  der  Geschichte  Jesu  den 
Namen  eines  Schönen  führt.    So  unbefangen,  so  ohne  Zweck 
irgend  einer  Nutzanwendung  in  Tat  oder  Lehre  äußerte  sich  nur 
ein  Weib  voll  Liebe.    Wohl  nicht  um  einer  Eitelkeit  willen,  auch 
nicht  um  die  Jünger  auf  den  eigentlichen  Standpunkt  zu  stellen, 
aber  um  Ruhe  für  die  Situation  zu  gew^innen,  muß  Jesus  eine 
Seite  ihnen  zuwenden,  für  die  sie  empfänglich  sind,  mit  der  er 
ihnen  nicht  das  Schöne  derselben  erklären  will.    Er  leitet  eine 
Art  von  Verehrung  seiner  Person  aus  der  Handlung  ab.    Gegen 
rohe  Seelen  muß  man  sich  begnügen,  nur  eine  Entweihung  eines 
schönen  Gemüts   durch   sie  abzuwenden.    Es  wäre  vergebens, 
einer  groben  Organisation  den  feinen  Duft  des  Geistes  erklären 
zu  wollen,  dessen  Anhauch  für  sie  unempfindbar  war.    «Sie  hat 
mich,  sagte  Jesus,  im  voraus  auf  mein  Begräbnis  gesalbt.    Ihr  sind 
viele  Sünden  vergeben,  denn  sie  hat  viel  geliebt.    Gehe  hin  im 
Frieden,  dein  Glaube  hat  dich  gerettet.»    Wollte  man  sagen,  es 
wäre  besser  gewesen,  daß  Maria  in  das  Schicksal  des  Judenlebens 
sich  gefügt  hätte,  und  nicht  so  durch  Liebe  zum  schönsten  Bewußt- 
sein zurückgekehrt  wäre,  als  ein  Automat  ihrer  Zeit,  rechtlich 
und  gemein,  ohne  Sünde  und  ohne  Liebe  abgelaufen  wäre.''  ohne 
Liebe,  denn  die  Zeit  ihres  Volks  war   wohl  eine  von  denen,  in 
welchen  das   schöne  Gemüt   ohne  Sünde  nicht  leben  konnte; 
aber  zu  dieser  wie  zu  jeder  andern  konnte  sie  durch  Liebe  zum 
schönsten  Bewußtsein  zurückkehren. 

Die  Zuversicht  und  Kühnheit  der  Entscheidung  über  die  Fülle 
des  Lebens,  den  Reichtum  der  Liebe,  liegt  in  dem  Gefühle  des- 
jenigen, der  die  ganze  Menschennatur  in  sich  trägt.  Ein  solches 
Gemüt  bedarf  der  hochgerühmten  profonden  Menschenkennerei 
nicht,  die  für  zerrissene  Wesen,  deren  Natur  eine  große  Mannig- 
faltigkeit, viele  und  verschiedenfarbige  Einseitigkeiten  ohne  Ein- 
heit in  sich  schließt,  freilich  eine  Wissenschaft  von  großem  Um- 
fang und  großer  Zweckmäßigkeit  ist,  denen  aber  das,  was  sie 
suchen,  der  Geist  immer  entschlüpft  und  nur  Bestimmtheiten  sich 
u 


DAS  LEBEN  JESU  179 


anbieten.  Eine  ganze  Natur  hat  im  Moment  eine  andre  durch- 
gefühlt und  ihre  Harmonie  oder  Disharmonie  empfunden.  Daher 
der  unbedenkliche,  zuversichtliche  Ausspruch  Jesu:  deine  Sünden 
sind  dir  vergeben. 

Die  Liebe  versöhnt  aber  nicht  nur  den  Verbrecher  mit  dem 
Schicksal;  sie  versöhnt  auch  mit  der  Tugend,  d.h.  wenn  sie  nicht 
das  einzige  Prinzip  der  Tugend  wäre,  so  wäre  jede  Tugend  zu- 
gleich eine  Untugend.  Der  völligen  Knechtschaft  unter  dem  Ge- 
setze eines  fremden  Herrn  setzte  Jesus  nicht  eine  teilweise  Knecht 
Schaft  unter  einem  eignen  Gesetze,  den  Selbstzwang  der  Kan- 
tischen Tugend  entgegen,  sondern  Tugenden  ohne  Herrschaft 
und  ohne  Unterwerfung,  Modifikationen  der  Liebe;  und  müßten 
sie  nicht  als  Modifikationen  eines  lebendigen  Geistes  angesehen 
werden,  sondern  wäre  eine  absolute  Tugend,  so  würden  unauf- 
lösbare Kollisionen  durch  die  Mehrheit  der  Absoluten  entstehen ; 
und  ohne  jene  Vereinigung  in  einem  Geiste  hat  jede  Tugend  etwas 
Mangelhaftes,  denn  jede  Tugend  ist  schon  ihrem  Namen  nach 
eine  einzelne,  also  eine  beschränkte;  die  Umstände,  unter  denen 
sie  möglich  ist,  die  Bedingungen  einer  Handlung  sind  etwas  Zu- 
fälliges, Äußerliches;  außer  wenn  die  Beziehung  der  Tugend  auf  ihr 
Objekt  eine  ist  und  nicht  nur  Beziehungen  derselben  Tugend  aut 
andere  Objekte  ausschließt,  so  hat  jede  Tugend  in  ihrem  Begriffe 
sowohl  als  auch  in  ihrer  Tätigkeit  ihre  Grenze,  die  sie  nicht  über- 
schreiten kann.  Ist  der  Mensch  von  dieser  bestimmten  Tugend 
nur  ein  so  tugendhafter  Mann  und  handelt  er  auch  jenseits  der 
Grenze  seiner  Tugend,  so  kann  er,  indem  er  seiner  Tugend  ge- 
treu bleibt,  nur  lasterhaft  handeln.  Wohnt  in  ihm  aber  die  andere 
Tugend,  die  jenseits  der  Grenze  der  ersten  ihr  Gebiet  hat,  so  kann 
man  zwar  sagen,  die  tugendhafte  Gesinnung  für  sich  allein  im 
allgemeinen  betrachtet,  d.  h.  abstrahiert  von  den  hier  gesetzten 
Tugenden,  komme  nicht  in  Kollision,  weil  die  tugendhafte  Ge- 
sinnung nur  eine  ist;  allein  damit  wird  die  Voraussetzung  aufge- 
hoben. Sind  beide  Tugenden  gesetzt,  so  hebt  die  Übung  der  einen 
den  Stoff"  und  dann  die  Möglichkeit  der  Ausübung  der  andern, 
die  ebenso  absolut  ist,  auf,  und  die  begründete  Forderung  der  an- 
dern ist  abgewiesen.  Ein  Recht,  das  für  die  eine  Beziehung  auf- 
gegeben würde,  kann  es  nicht  mehr  für  die  andre  werden,  oder. 


i8o  G.W.  F.  HEGEL 


wird  es  für  die  andre  aufgespart,  so  muß  die  erste  darben.  Sowie 
sich  die  Mannigfaltigkeit  der  menschlichen  Verhältnisse  mehrt, 
wächst  auch  die  Menge  der  notwendigen  Kollisionen  und  die  Un- 
möglichkeit, sie  zu  erfüllen.  Will  der  Vieltugendliche  unter  der 
Menge  seiner  Gläubiger,  die  er  nicht  alle  befriedigen  kann,  eine 
Rangordnung  machen,  so  erklärt  er  sich  gegen  die,  die  er  hinten- 
ansetzt, für  nicht  so  schuldig  als  gegen  andere,  die  er  höhere  nennt. 
Tugenden  könnten  also  aufhören,  absolute  Pflichten  zu  sein;  sie 
können  sogar  Laster  werden.  In  dieser  Vielseitigkeit  der  Be- 
ziehungen und  Menge  der  Tugenden  bleibt  nichts  übrig,  als  Ver- 
zweiflung der  Tugend  und  Verbrechen  der  Tugend  selbst.  Nur 
wenn  keine  Tugend  darauf  Anspruch  macht,  in  ihrer  beschränk- 
ten Form  fest  und  absolut  zu  bestehen,  wenn  sie  darauf  Verzicht 
tut,  auch  in  das  Verhältnis,  in  welches  sie  eintreten  kann,  ein- 
treten zu  müssen,  wenn  der  eine  lebendige  Geist  allein  nach  dem 
Ganzen  der  gegebenen  Verhältnisse,  aber  in  völliger  Unbe- 
schränktheit,  ohne  durch  ihre  Mannigfaltigkeit  zugleich  geteilt  zu 
werden,  handelt,  sich  selbst  beschränkt,  dann  bleibt  nur  die  Viel- 
seitigkeit der  Verhältnisse,  aber  die  Menge  absoluter  und  unver- 
träglicher Tugenden  schwindet.  Es  kann  hier  nicht  davon  die 
Rede  sein,  daß  bei  allen  Tugenden  ein  und  derselbe  Grundsatz 
zugrunde  liegt,  welcher  immer  dasselbe  unter  verschiedenen 
Verhältnissen  in  verschiedener  Modifikation,  als  eine  besondere 
Tugend  erscheint;  denn  eben  darum,  weil  ein  solches  Prinzip  ein 
Allgemeines  und  also  ein  Begriff  ist,  so  muß  unter  bestimmten 
Verhältnissen  notwendig:  die  bestimmte  Anwenduns;,  eine  be- 
stimmte  Tugend,  eine  gewisse  Pflicht  eintreten.  In  einer  solchen 
Absolutheit  des  Bestehens  zerstören  sich  die  Tugenden  gegenseitig; 
die  mannigfachen  \'erhältnisse  als  gegebene  Wirklichkeiten,  eben- 
so das  Prinzip,  die  Regel  für  alle  und  also  die  Anwendungen  des 
Prinzips  auf  die  Wirklichkeiten,  mannigfaltigen  Tugenden  sind 
unwandelbar.  Die  Einheit  derselben  durch  die  Regel  ist  nur  eine 
scheinbare,  weil  sie  nur  ein  Gedachtes  ist  und  eine  solche  Einheit 
die  Mannigfaltigkeit  weder  aufhebt,  noch  vereinigt,  sondern  in 
ihrer  ganzen  Stärke  bestehen  läßt. 

Ein  lebendiges  Band  der  Tugenden,  eine  lebendige  Einheit  ist 
eine  ganz  andere,  als  die  Einheit  des  Begriffs.    Sie  stellt  nicht  für 


DAS  LEBEN  JESU  i8i 


bestimmte  Verhältnisse  eine  bestimmte  Tugend  auf,  sondern  er- 
scheint auch  im  buntesten  Gemisch  von  Beziehungen  unzerrissen 
und  einfach,  Ihre  äußere  Gestalt  kann  sich  auf  die  unendlichste 
Art  modifizieren;  sie  wird  nie  zweimal  dieselbe  haben  und  ihre 
Äußerung  wird  nie  eine  Regel  geben  können;  denn  sie  hat  nie 
die  Form  eines  Allgemeinen  gegen  Besonderes,  Wie  die  Tugend 
das  Komplement  des  Gehorsams  gegen  die  Gesetze  ist,  so  ist  die 
Liebe  das  Komplement  der  Tugenden,  Alle  Einseitigkeiten,  alle 
Ausschließungen,  alle  Schranken  der  Tugenden  sind  durch  sie 
aufgehoben;  es  gibt  keine  tugendhaften  Sünden  oder  sündigen 
Tugenden  mehr,  denn  sie  ist  die  lebendige  Beziehung  der  Wesen 
selbst;  in  ihr  sind  alle  Trennungen,  alle  beschränkten  Verhältnisse 
verschwunden.  So  hören  auch  die  Beschränkungen  der  Tugen- 
den auf.  Wo  bliebe  für  Tugenden  Raum,  wenn  kein  Recht  mehr 
aufzugeben  ist?  Liebe  fordert  Jesus;  sie  soll  die  Seeleseiner  Freunde 
sein:  «Ein  neues  Gebot  gebe  ich  euch,  daß  ihr  euch  untereinander 
liebet.  Daran  wird  man  erkennen,  daß  ihr  meine  Freunde  seid.» 
[Dem  Gebote  der  Liebe  Gottes  setzt  er  an  die  Seite  Liebe  zu 
dem  Nächsten,  d.  h.  nicht  zu  allen  Menschen.  Die  Menschenliebe, 
die  sich  auf  alle  erstrecken  soll,  von  denen  man  auch  nichts  weiß, 
die  man  nicht  kennt,  mit  denen  man  in  keiner  Beziehung  steht], 
diese  allgemeine  Menschenliebe  ist  eine  schale,  aber  charakte- 
ristische Erfindung  der  Zeiten,  welche  nicht  umhin  können,  idea- 
lische Forderungen,  ein  Gedankending  aufzustellen,  um  in  solchem 
gedachten  Objekte  recht  prächtig  zu  erscheinen,  da  ihre  Wirklich- 
keit so  arm  ist.  Die  Liebe  zu  dem  Nächsten  ist  Liebe  zu  den 
Menschen,  mit  denen  man  in  Beziehung  kommt.  Ein  Gedachtes 
kann  kein  Geliebtes  sein.  Freilich  kann  Liebe  nicht  geboten  wer- 
den, freilich  ist  sie  pathologisch,  eine  Neigung,  aber  damit  ist  ihr 
von  ihrer  Größe  nichts  benommen ;  sie  ist  damit  gar  nicht  herab- 
gesetzt. Liebe  kann  gewiß  nicht  geboten  werden,  weil  ihr  Wesen 
keine  Herrschaft  über  ein  Fremdes  ist;  sie  ist  aber  dadurch  so 
wenig  unter  Pflicht  und  Recht,  daß  es  vielmehr  ihr  Triumph  ist, 
über  nichts  zu  herrschen  und  ohne  feindliche  Macht  gegen  ein 
Anderes  zu  sein.  «Die  Liebe  hat  gesiegt»,  heißt  nicht,  wie  «die 
Pflicht  hat  gesiegt»,  sie  hat  die  Feinde  unterjocht,  sondern:  sie 
hat  die  Feindschaft  überwunden.    Es  ist  der  Liebe  eine  Art  von 


i82  G.W.  F.  HEGEL 


Unehre,  wenn  sie  geboten  wird,  daß  sie,  ein  Lebendiges,  mit  Na- 
men genannt  wird.  Ihr  Name,  daß  über  sie  reflektiert  wird,  ein 
Aussprechen  desselben,  ist  nicht  Geist,  nicht  ihr  Wesen,  sondern 
ihm  entgegengesetzt,  und  nur  als  Name,  als  Wort  kann  sie  ge- 
boten, es  kann  nur  gesagt  (Lücke  der  Handschrift) 

.  . .  Man  kann  dies  mehr  in  sich  Enthaltende  eine  Geneigtheit,  so 
zu  handeln,  nennen,  wie  die  Gesetze  gebieten  würden,  Einigkeit 
der  Neigung  mit  dem  Gesetze,  wodurch  dieses  seine  Form  als 
Gesetz  verliert.  Diese  Übereinstimmung  der  Neigung  ist  das  -Xyj- 
piujio  des  Gesetzes,  ein  Sein,  das,  wie  man  sich  sonst  ausdrückt, 
das  Komplement  der  Möglichkeit  ist.  Denn  Möglichkeit  ist  das 
Objekt,  als  ein  Gedachtes,  das  Allgemeine,  Sein  die  Synthese  des 
Subjekts  und  Objekts,  in  welcher  Subjekt  und  Objekt  ihre  Ent- 
gegensetzung verloren  haben.  Ebenso  jene  Geneigtheit  einer  Tu- 
gend ist  eine  Synthese,  in  der  das  Gesetz  (das  Kant  darum  immer 
ein  Objektives  nennt)  seine  Allgemeinheit  und  ebenso  das  Sub- 
jekt seine  Besonderheit,  beide  ihre  Entgegensetzung  verlieren,  da 
in  der  Kantischen  Tugend  diese  Entgegensetzung  bleibt  und  das  eine 
zum  Herrschenden,  das  andere  zum  Beherrschten  wird.  Die  Über- 
einstimmung der  Neigung  mit  dem  Gesetze  ist  von  der  Art,  daß 
Gesetz  und  Neigung  nicht  verschieden  sind,  und  der  Ausdruck 
Übereinstimmung  der  Neigung  mit  dem  Gesetze  wird  darum  ganz 
unpassend,  weil  in  ihm  noch  Gesetz  und  Neigung  als  Besondre, 
Entgegengesetzte  vorkommen  und  leicht  eine  Unterstützung  der 
moralischen  Gesinnung  (der  Achtung  für  Gesetze  und  des  Be- 
stimmtseins des  Willens  durch  Gesetz)  durch  die  davon  verschie- 
dene Neigung  verstanden  werden  könnte  und  da  die  Überein- 
stimmenden verschieden  sind,  auch  die  Übereinstimmung  nur  zu- 
fällig, nur  die  Einheit  Fremder,  ein  Gedachtes  wäre.  Da  aber  hier 
in  dem  Komplement  der  Gesetze  und  was  damit  zusammenhängt, 
Pflicht,  moralische  Gesinnung  und  dergleichen  aufhört,  AUge: 
meines,  der  Neigung  entgegengesetzt,  und  die  Neigung  aufhört. 
Besonderes,  dem  Gesetze  entgegengesetzt  zu  sein,  so  ist  jene 
Übereinstimmung  Leben  und  als  Beziehung  Verschiedener  Liebe, 
ein  Sein,  das  als  Begriff"  ausgedrückt,  notwendig  dem  Gesetz,  d.  h. 
sich  selbst  gleich,  oder  als  Wirklichkeit,  als  Neigung,  dem  Begriffe 
entgegengesetzt,  gleichfalls  sich  selbst,  der  Neigung  gleich  ist. 


DAS  LEBEN  JESU  183 


Das  Gebot:  Du  sollst  nicht  töten,  —  ein  Grundsatz,  der  für  den 
Willen  jedes  vernünftigen  Wesens  gültig  erkannt  wird,  der  als 
Prinzip  einer  gemeinen  Gesetzgebung  gelten  kann  —  einem  sol- 
chen Gebot  setzte  Jesus  den  höhern  Genius  der  Versöhnhchkeit 
(einer  Modifikation  der  Liebe)  entgegen,  der  nicht  nur  gegen  jenes 
Gesetz  handelt,  sondern  es  ganz  überflüssig  macht,  eine  so  reiche, 
lebendige  Fülle  in  sich  schUeßt,  daß  für  ihn  so  etwas  Dürftiges, 
als  so  ein  Gesetz  gar  nicht  ist.  Was  der  Versöhnlichkeit,  da  in 
ihr  das  Gesetz  seine  Form  verliert,  der  Begriff"  vom  Leben  ver- 
drängt wird,  an  der  Allgemeinheit,  die  im  Begrifft  alles  Besondere 
in  sich  faßt,  abgeht,  ist  nur  ein  scheinbarer  Verlust  und  ein  wah- 
rer, unendlicher  Gewinn  durch  den  Reichtum  lebendiger  Be- 
ziehungen mit  den  vielleicht  wenigen  Individuen,  mit  denen  sie 
in  Verhältnis  kommt.  Sie  schheßt  nicht  Wirkliches,  sondern  Ge- 
dachtes, Möglichkeiten  aus,  und  dieser  Reichtum  der  Möglichkeit 
in  der  Allgemeinheit  des  Begriffs,  das  Gebot  seiner  Form  nach 
ist  selbst  eine  Zerreißung  des  Lebens  und  seinem  Inhalte  nach  so 
dürftig,  daß  es  außer  der  einzigen  in  ihm  verbotenen  Mißhandlung 
alle  übrigen  zuläßt;  vor  der  Versöhnlichkeit  hingegen  ist  auch  der 
Zorn  ein  Verbrechen,  als  die  schnelle  Reaktion  des  Gefühls  einer 
Unterdrückung,  die  Aufwallung,  wieder  zu  unterdrücken,  welche 
eine  Art  blinder  Gerechtigkeit  ist  und  also  doch  Gleichheit,  aber 
feindliche,  voraussetzt,  der  Geist  der  Versöhnlichkeit  hingegen, 
in  sich  ohne  feindselige  Gesinnung,  die  Feindschaft  des  andern 
aufzuheben  strebt.  Wenn  nach  der  Liebe  geurteilt  wird,  so  ist  es 
ihr  auch,  und  zwar  ein  größeres  Verbrechen  als  der  Zorn,  seinen 
Bruder  einen  Schurken  zu  schelten.  Aber  ein  Schurke  in  seinem 
Isolieren,  indem  er  sich,  ein  Mensch,  den  Menschen  feindHch  ge- 
genüberstellt und  in  dieser  Zerrüttung  zu  bestehen  strebt,  wird 
noch  für  etwas  gehalten ;  er  gilt  noch,  denn  er  wird  gehaßt  und 
ein  großer  Schurke  kann  bewundert  werden.  Der  Liebe  ist  es 
daher  noch  fremder,  den  andern  für  einen  Narren  zu  erklären, 
welches  nicht  nur  alle  Beziehung  mit  ihm,  sondern  auch  alle 
Gleichheit,  alle  Gemeinschaft  des  Wesens  aufhebt,  ihn  in  der  Vor- 
stellung völlig  unterjocht,  als  Nichts  bezeichnet.*  '    '  ;' 

*  Die  Worterklärung  spricht  am  meisten  für  die  hier  angenommene  Bedeu'- 
tung  des  (jay.d  (Matth.  V,  22),  die  Hauptschwierigkeit  dagegen  machte  der  mo'- 


i84  G.W.  F.  HEGEL 


Dagegen  (Matth.  V,  2  3)  läßt  die  Liebe,  die  sich  vor  dem  Altar  einer 
Entzweiung  bewußt  wird,  ihr  Opfer  dort,  versöhnt  sich  mit  dem 
Bruder  und  tritt  dann  erst  rein  und  einig  vor  die  einige  Gottheit. 
Sie  läßt  sich  nicht  vom  Richter  ihr  Recht  zumessen,  sondern  ver- 
söhnt sich  ohne  alle  Rücksicht  auf  Rechte. 

Ebenso  stellt  Jesus  der  pflichtmäßigen  Treue  in  der  Ehe  und 
dem  Rechte,  sich  von  dem  Weibe  zu  scheiden,  die  Liebe  ent- 
gegen, welche,  was  jene  Pflicht  nicht  verbot,  auch  die  Begierde  aus- 
schließt, und  diese  Erlaubnis,  die  jener  Pflicht  widersprechend 
war,  bis  auf  einen  Fall  aufhebt.  So  ist  einesteils  die  Heiligkeit  der 
Liebe  die  Ergänzung  (das  ->.-/; fxoaa)  des  Gesetzes  wider  den  Ehebruch 
und  diese  Heiligkeit  gibt  allein  Fähigkeit,  wenn  eine  der  vielen 
Seiten  des  Menschen  sich  zum  Ganzen  oder  gegen  das  Ganze  er- 
heben wollte,  sie  niederzuhalten  und  nur  die  Empfindung  des 
Ganzen,  die  Liebe,  vermag  die  Zerstreuung  des  Wesens  zu  ver- 
hindern. Andernteils  hebt  die  Liebe  die  Erlaubnis,  sich  zu  schei- 
den, auf,  und  gegen  die  Liebe  kann,  weder  so  lange  sie  lebt,  noch 
wie  sie  aufhört,  von  Erlaubnis  und  Recht  die  Rede  sein.  Das 
Aufhören  der  Liebe  gegen  ein  Weib,  in  welchem  noch  die  Liebe 
ist,  macht  sie  sich  selbst  untreu  werden  und  sündigen ;  und  eine 
Übertragung  ihrer  Leidenschaft  ist  nur  eine  Verirrung  derselben, 
die  sie  mit  bösem  Gewissen  büßen  muß.  Ihr  Schicksal  kann  ihr 
in  diesem  Falle  freilich  nicht  erspart  werden  und  die  Ehe  ist  an 
sich  getrennt,  aber  der  Beistand,  den  der  Mann  von  einem  Rechte 
und  Gesetze  holt  und  durch  den  er  Rechtlichkeit  und  Schicklich- 
keit auf  seine  Seite  zieht,  heißt  ^^r  Verletzung  der  Liebe  des  Wei- 
bes noch  eine  niederträchtige  Härte  hinzufügen.  Im  Falle  nur, 
den  Jesus  ausnimmt,  wenn  das  Weib  ihre  Liebe  einem  andern  zu- 
gewandt hat,  kann  der  Mann  ihr  Knecht  nicht  bleiben.  Den  Juden, 
oxXrjp&Tt;  zapotav,  mußte  Moses  wohl  über  die  Ehe  Gesetze  und  Rechte 
geben,  von  Anfang  aber  war  es  nicht  so.^) 

In  einer  Versicherung  über  ein  Wirkliches  wird  das  Subjekt 

und  das  Objekt  als  getrennt  gedacht,  oder  in  einer  Versicherung 

ralische  Sinn  der  Ausleger,  die  den  Narren  gelinder  finden  als  den  Schurken 
und  beide  Worte  nicht  nach  dem  Gemüt,  aus  dem  sie  kommen,  sondern  nach 
dem  Eindruck,  den  sie  machen,  beurteilen;  der  für  einen  Narren  Erklärte  fühlt 
sich  sui  juris  gemacht,  und  wenn  er  so  gescheit  ist,  als  der  andere,  dreht  er 
es  um  und  heißt  den  anderen  einen  Narren. 


DAS  LEBEN  JESU  185 


über  ein  Künftiges,  in  einem  Versprechen,  sind  die  Erklärung  eines 
Willens  und  die  Tat  selbst  noch  ganz  getrennt,  und  es  ist  um  die 
Wahrheit,  d.  i.  den  festen  Zusammenhang  beider  zu  tun.  In  einer 
eidlichen  Versicherung  wird  die  Vorstellung  der  entweder  schon  ge- 
schehenen oder  erst  zukünftigen  Tat  an  etwas  Göttliches  geknüpft, 
der  Zusammenhang  des  Worts  und  der  Tat,  die  Verknüpfung,  das 
Sein  dargestellt  an  einem  Seienden,  in  ihm  vergegenwärtigt  und 
weil  die  Wahrheit  des  Falles,  der  beschworen  wird,  nicht  selbst 
sichtbar  gemacht  werden  kann,  wird  an  ihre  Stelle  die  Wahrheit 
selbst,  Gott  gesetzt  und  teils  auf  diese  Art  dem  andern  gegeben, 
in  ihm  Überzeugung  bewirkt,  teils  durch  die  Rückwirkung  dieses 
Seienden  auf  das  sich  entschließende  Gemüt  der  Schwörenden 
das  Gegenteil  der  Wahrheit  ausgeschlossen,  und  es  ist  gar  nicht 
abzusehen,  inwiefern  hierin  ein  Aberglaube  liegen  soll.  Wenn  die 
Juden  bei  dem  Himmel,  bei  der  Erde,  bei  Jerusalem  oder  bei  ihrem 
Haupthaar  schwuren  und  ihren  Eid  Gott  anheimstellten,  ihn  in 
die  Hand  des  Herrn  legten,  so  knüpften  sie  die  Wirklichkeit  des 
Versicherten  an  ein  Objekt,  setzten  beide  Wirklichkeiten  gleich 
und  den  Zusammenhang  dieses  Objektes  und  des  Versicherten, 
die  Gleichheit  beider  legten  sie  in  die  Gewalt  einer  fremden  Macht, 
und  Gott  ist  zur  Macht  über  das  Wort  gesetzt  und  dieser  Zu- 
sammenhang soll  im  Menschen  selbst  begründet  sein.  Die  ver- 
sicherte Tat  und  das  Objekt,  bei  dem  versichert  wird,  werden  so 
aneinander  gekettet,  daß,  wenn  eins  aufgehoben  wird,  auch  das 
andere  geleugnet,  in  der  Vorstellung  aufgehoben  wird.  Wenn 
also  die  versprochene  Tat  oder  die  versicherte  Wirklichkeit  nicht 
wirklich  ist,  so  ist  damit  auch  das  Objekt,  bei  dem  geschworen 
wurde,  der  Himmel,  die  Erde  usw.  geleugnet  und  in  diesem  Falle 
muß  der  Herr  desselben  es  vindizieren,  Gott  Rächer  des  Seinigen 
werden.  Dieser  Anknüpfung  der  versicherten  Tat  an  etwas  Ob- 
jektives widerspricht  Jesus ;  er  bekräftigt  nicht  die  Pflicht,  den  Eid 
zu  halten,  sondern  erklärt  ihn  überhaupt  für  überflüssig,  denn  we- 
der der  Himmel,  noch  die  Erde,  noch  Jerusalem,  noch  das  Haupt- 
haar ist  des  Menschen  Geist,  der  allein  der  Verknüpfer  dieses 
Wortes  und  einer  Handlung  ist,  sondern  es  sei  ein  fremdes  Eigen- 
tum und  die  Gewißheit  der  Tat  dürfe  nicht  an  etwas  Fremdes  ge- 
knüpft sein,  in  ein  Fremdes  gelegt  werden,  sondern  der  Zusam- 


i86  G.W.  F.  HEGEL 


menhang  des  Wortes  und  der  Handlung  müsse  lebendig  sein,  in 
dem  Menschen  selbst  beruhen. 

Jesus  fordert  hierauf  im  allgemeinen  Aufhebung  des  Rechts, 
Erhebung  der  ganzen  Sphäre  der  Gerechtigkeit  oder  Ungerech- 
tigkeit durch  Liebe,  in  welcher  mit  dem  Rechte  auch  dies  Gefühl 
der  Ungleichheit  und  das  Soll  dieses  Gefühls,  das  Gleichheit  for- 
dert, d.  i.  der  Haß  gegen  Feinde  verschwindet.  Auge  um  Auge, 
Zahn  um  Zahn,  sagen  die  Gesetze;  die  Wiedervergeltung  und  die 
Gleichheit  derselben  ist  das  heilige  Prinzip  aller  Gerechtigkeit,  das 
Prinzip,  auf  dem  jede  Staatsverfassung  ruhen  muß;  Aufhebung 
der  Gei'ecktigkeit  fordert  aber  Jesus. 

Die  Gesetze  und  Pflichten,  von  denen  Jesus  bisher  sprach,  waren 
im  ganzen  bürgerliche  und  die  Ergänzung,  die  er  ihnen  gab,  war 
nicht  die,  daß  er  sie  als  Gesetze  und  Pflichten  bestätigte,  aber  als 
Triebfeder  reine  Achtung  für  sie  forderte,  sondern  zeigt  vielmehr 
A'erachtung  gegen  sie  und  seine  Ergänzung  ist  ein  Geist,  dessen 
Handlungen,  w^enn  sie  etwa  nach  Gesetzen  und  Pflichtgeboten 
beurteilt  werden,  denselben  gemäß  befunden  werden,  der  aber 
kein  Bewußtsein  für  Pflichten  und  Rechte  hat.  Weiterhin  spricht 
Jesus  von  einer  bloß  moralischen  Pflicht  der  Tugend,  der  Wohl- 
tätigkeit. Jesus  verurteilt  bei  ihr,  wie  beim  Gebet  und  Fasten,  das 
Einmischen  eines  Fremden,  die  Unreinheit  der  Handlung.  «Tut 
es  nicht,  um  gesehen  zu  werden.»  Der  Zweck  der  Handlung, 
d.  h.  die  Handlung  als  gedacht,  ehe  sie  noch  getan  ist,  sei  gleich 
der  vollbrachten  Handlung.  Außer  dieser  Heuchelei,  die  in  den 
Gedanken  der  Handlung  das  andere  [von  den  Menschen  gesehen 
zu  werden]  einmischt,  das  nicht  in  der  Handlung  ist,  scheint  Jesus 
auch  hier  selbst  das  Bewußtsein  der  Handlung  als  einer  erfüllten 
Pflicht  zu  entfernen,  denn  der  erkannte  Beifall  anderer  über  einen 
Sieg,  den  die  Pflicht,  das  Allgemeine  über  das  Besondere  davon- 
getragen hat,  ist  gleichsam  nicht  mehr  die  bloß  gedachte,  sondern 
die  angeschaute  Allgemeinheit  und  Besonderheit,  jene  in  der  Vor- 
stellung der  andern,  diese  in  den  andern  selbst  als  WirkHchen, 
und  das  einsame  Bewußtsein  der  erfüllten  Pflicht  ist  von  der  Ehre 
nicht  der  Art  nach,  sondern  nur  insofern  verschieden,  als  in  der 
Ehre  die  Allgemeinheit  nicht  bloß  allgemein  gültig,  sondern  auch 
als  allgemein  geltend  erkannt  wird.   «Lasset  die  linke  Hand  nicht 


DAS  LEBEN  JESU  187 


wissen,  was  die  rechte  tut»,  kann  nicht  von  Bekanntwerden  der 
Handlung  genommen  werden,  sondern  ist  das  Gegenteil  des  «von 
den  Leuten  gesehen  werden»,  und  wenn  es  also  einen  Sinn  haben 
soll,  so  wird  es  die  eigne  Reflexion  über  seine  Pflichtgemäßheit 
bezeichnen.  Ob  bei  der  Handlung  nur  ich,  oder  ob  ich  denke, 
daß  auch  andre  mir  zuschauen,  ob  ich  nur  mein  Bewußtsein  oder 
auch  den  Beifall  andrer  genieße,  ist  wohl  kein  großer  Unterschied. 
In  dem  eignen  Bewußtsein,  die  Pflicht  erfüllt  zu  haben,  gibt  sich 
das  Individuum  selbst  den  Charakter  der  Allgemeinheit ;  er  schaut 
sich  als  ein  Allgemeines  an,  als  erhaben  über  sich  selbst  als  Be- 
sonderes und  über  das,  was  in  der  Besonderheit  liegt,  über  die 
Menge  der  Individuen;  denn  so  wie  der  Begriff"  der  Allgemein- 
heit auf  das  Individuum  angewendet  wird,  so  erhält  der  Begriff" 
der  Besonderheit  auch  diese  Beziehung  auf  Individuen  und  die 
Entgegensetzung  derselben  gegen  jenes  sich  selbst  der  Allgemein- 
heit gemäß  in  Erfüllung  der  Pflicht  Erkennende,  und  dieses  Selbst- 
bewußtsein ist  der  Handlung  ebenso  fremd  als  der  Beifall  der 
Menschen.  Von  dieser  Überzeugung  in  sich,  gerecht  zu  sein,  und 
der  Herabsetzung  anderer  dadurch  (welch  beides  in  notwendiger 
Verbindung  steht,  wegen  der  notwendigen  Entgegensetzung  des 
Besonderen  gegen  das  Allgemeine)  spricht  auch  Jesus  in  der  Pa- 
rabel Luk.  XVIII,  9  ff. 

Reines  Leben  zu  denken  ist  die  Aufgabe,  alle  Taten,  alles  zu 
entfernen,  was  der  Mensch  war,  oder  sein  wird ;  Charakter  abstra- 
hiert nur  von  der  Tätigkeit,  er  drückt  das  Allgemeine  der  be- 
stimmten Handlungen  aus;  Bewußtsein  reinen  Lebens  wäre  Be^ 
wußtsein  dessen,  was  der  Mensch  ist ;  in  ihm  gibt  es  keine  Ver- 
schiedenheit, keine  entwickelte  wirkliche  Mannigfaltigkeit.  Dies 
Einfache  ist  nicht  ein  negatives  Einfaches,  eine  Einheit  der  Ab^ 
straktion,  denn  in  der  Einheit  der  Abstraktion  ist  nur  ein  Be- 
stimmtes gesetzt  und  von  allen  übrigen  Bestimmtheiten  abstrahiert; 
ihre  reine  Einheit  ist  nur  die  gesetzte  Forderung  der  Abstraktion 
von  allem  Bestimmten,  das  negative  Unbestimmte.  Reines  Leben 
ist  Sein ;  die  Vielheit  ist  nichts  Absolutes ;  dies  Reine  ist  die  Quelle 
alles  vereinzelten  Lebens,  der  Triebe  und  aller  Tat;  aber  so  wie 
es  ins  Bewußtsein  kommt,  wenn  der  Mensch  daran  glaubt,  so  ist 
es  zwar  noch  lebendig  in  ihm,  aber  außer  den  Menschen  zum  Teil 


i88  G.W.  F.  HEGEL 


gesetzt.  Weil  das  Bewußtseiende  insofern  sich  beschränkt,  so  kann 
es  und  das  Unendliche  nicht  völlig  in  einem  sein.  Nur  dadurch 
kann  der  Mensch  an  einen  Gott  glauben,  daß  er  von  aller  Tat, 
von  allem  Bestimmten  zu  abstrahieren  vermag,  aber  die  Seele  jeder 
Tat,  alles  Bestimmten  rein  festhalten  kann.  Worin  keine  Seele, 
kein  Geist  ist,  darin  ist  nichts  Göttliches.  Wer  sich  immer  be- 
stimmt fühlt,  immer  als  dies  oder  jenes  tuend,  oder  leidend,  so 
oder  so  handelnd,  in  dessen  Abstraktion  wird  nicht  das  Begrenzte 
vom  Geist  abgeschieden,  sondern  das  Bleibende  ist  nur  das  Ent- 
gegengesetzte des  Lebendigen ;  das  Ganze  der  Bestimmtheiten  fällt 
weg  und  das  herrschende  Allgemeine  über  dem  Bewußtsein  der 
Bestimmtheiten  ist  nur  die  leere  Einheit  des  Alls  der  Objekte  als 
herrschendes  Wesen  über  dieselben;  [wer  sich  immer  bestimmt 
fühlt,  dessen  Gottheit  kann  nur  das  sein,  was  er  über  diesem  Be- 
wußtsein fühlt,  das  All  der  Objekte  und  der  Herrscher  derselben; 
die  Gottheit  selbst  ist  um  so  leerer,  je  mehr  sie  über  alles,  über 
jede  lebendige  Kraft  erhaben  ist]. 

Diesem  Unendlichen  des  Herrschens  und  Beherrschtwerdens 
kann  nur  das  reine  Gefühl  des  Lebens  entgegengesetzt  werden ; 
es  hat  in  sich  selbst  seine  Rechtfertigung  und  seine  Autorität; 
aber  indem  es  als  Gegensatz  auftritt,  tritt  es  als  ein  Bestimmtes  in 
einem  bestimmten  Menschen  auf,  der  den  an  Wirklichkeiten  ge- 
bundenen und  entweihten  Augen  nicht  die  Anschauung  der  Rein- 
heit geben  kann.  In  der  Bestimmtheit,  in  der  er  erscheint,  kann 
er  sich  nur  auf  seinen  Ursprung,  auf  die  Quelle,  aus  welcher  jede 
Gestalt  des  beschränkten  Lebens  ihm  fließt,  berufen.  Er  muß  an 
das  Höhere,  an  den  Vater  appellieren,  der  unven-vandelt  in  allen 
Verwandlungen  lebt.  Weil  das  Göttliche  reines  Leben  ist,  so  muß 
notwendig,  wenn  von  ihm  und  was  von  ihm  gesprochen  wird, 
nichts  Entgegengesetztes  in  sich  enthalten,  und  alle  Ausdrücke  der 
Reflexion  über  Verhältnisse  des  Objektiven  oder  über  Tätigkeit 
gegen  objektive  Behandlung  derselben  vermieden  werden.  Denn 
die  Wirkung  des  Göttlichen  ist  nur  eine  Vereinigung  der  Geister; 
nur  der  Geist  faßt  und  schließt  den  Geist  in  sich  ein.  Ausdrücke 
wie  befehlen,  lernen,  sehen,  erkennen,  machen,  wollen,  (ins  Him- 
melreich) kommen,  gehen,  drücken  nur  Beziehungen  von  Ob- 
jektivem aus,  wenn  es  Aufnahme  eines  Objektiven  in  einen  Geist 


DAS  LEBEN  JESU  189 


ist.  Über  Göttliches  kann  darum  nur  in  Begeisterung  gesprochen 
werden.  Die  jüdische  Bildung  zeigt  uns  nur  einen  Kreis  leben- 
diger Beziehungen  zum  Bewußtsein  gekommen  und  auch  diese 
in  Form  von  Begriffen  als  Tugenden  und  Eigenschaften,  welches 
um  so  natürlicher  ist,  da  sie  hauptsächlich  nur  Beziehungen  zwi- 
schen fremden,  verschiedenen  Wesen  auszudrücken  hatten,  als 
Barmherzigkeit,  Güte  usw.  Unter  den  Evangelisten  spricht  Jo- 
hannes am  meisten  von  dem  Göttlichen  und  der  Verbindung  Jesu 
mit  ihm.  Aber  die  an  geistigen  Beziehungen  so  arme  jüdische 
Bildung  nötigte  ihn,  für  das  Geistigste  sich  objektiver  Verbin- 
dungen, einer  Wirklichkeitssprache  zu  bedienen,  die  darum  oft 
härter  lautet  als  wenn  in  dem  Wechselstil  Empfindungen  sollten  aus- 
gedrückt werden.  Das  Himmelreich,  in  das  Himmelreich  hinein- 
gehen, ich  bin  die  Türe,  ich  bin  die  rechte  Speise,  wer  mein 
Fleisch  ißt  usw.,  in  solchen  Verbindungen  der  dürren  Wirklich- 
keit ist  das  Geistige  hineingezwängt  [und  nirgends  mehr  als  hier 
ist  es  notwendig,  mit  eignem,  tiefem  Geist  zu  fassen,  nirgends  ist 
es  weniger  möglich  als  hier,  zu  lernen,  passiv  etwas  in  sich  auf- 
zunehmen, da  diese  objektive  Sprache  vom  Geistigen,  aber  in  ihrer 
Form  von  Wirklichkeitsbegriffen  verstanden  den  Geist  zerrüttet]. 
Jesus  erklärt  und  wiederholt  es  oft,  daß  das,  was  er  tue,  nicht 
seine  Tat,  was  er  rede,  nicht  seine  Gedanken  seien,  alle  seine 
Kraft  und  seine  Lehre  sei  ihm  vom  Vater  gegeben.  Er  kann  keine 
andre  Legitimation  seiner  Bestreitung  des  Judentums  und  seiner 
Lehre  aufweisen,  als  dies  feste  Bewußtsein,  was  aus  ihm  spreche, 
sei  in  ihm,  aber  zugleich  etwas  Höheres  als  er,  der  hier  stehe,  lehre 
und  spreche.  Er  nennt  sich  deswegen  nie  Gott,  aber  den  Sohn 
Gottes ;  jenes  ist  er  nicht,  weil  er  Mensch  ist,  aber  als  Mensch  ist 
auch  er  zugleich  Sohn  Gottes,  von  einem  höheren  Rang;  eine 
höhere  Natur  ist  zugleich  in  ihm,  als  die  Befangenheit  in  Be- 
schränkungen ;  er  erwartet  Glauben  von  den  Juden  nur  aus  dem 
Grunde,  auf  die  Art,  daß  es  ihnen  von  seinem  Vater  geoffenbart 
werde,  daß  sie  selbst  aus  Gott  geboren  seien.  Als  Petrus  in  ihm 
den  Gottgezeugten,  den  Sohn  des  Lebens  erkannte,  sagte  er: 
«Dies  hat  dir  nicht  deine  Endlichkeit,  sondern  mein  Vater  hat  es 
dir  geoffenbart. »  [Der  Zusammenhang  des  Unendlichen  mit  dem 
Endlichen  ist  freilich  ein  heiliges  Geheimnis,  weil  er  Leben  und 


190  G.W.  F.  HEGEL 


also  das  Geheimnis  des  Lebens  ist.  Spricht  man  freiHch  von 
zweieriei,  von  einer  göttlichen  und  menschlichen  Natur,  so  ist 
keine  Verbindung  zu  treffen,  denn  auch  in  jeder  Verbindung  sollen 
sie  noch  zwei  bleiben,  wenn  beide  als  absolute  Verschiedene  ge- 
setzt sind.  Dies  Verhältnis  eines  Menschen  zu  Gott,  Sohn  Gottes 
zu  sein,  wie  ein  Stamm  der  Vater  der  Zweige,  des  Laubes  und 
der  Früchte  ist,  mußte  die  Juden  am  tiefsten  empören,  die  eine  un- 
übersteigbare  Kluft  zwischen  menschliches  und  göttliches  Wesen 
gesetzt  und  unserer  Natur  keinen  Teil  am  Göttlichen  eingeräumt 
hatten. 

Jesus  nennt  sich  auch  Sohn  des  Menschen.  Von  dem  einigen, 
ungeteilten  oder  unendlich  gegliederten  Lebendigen  kann  ein 
Glied  sich  als  einen  Teil  setzen  und  von  dem  andern  unterschei- 
den. Dieses  modifizierte  Leben  ist  als  reines  Leben  in  dem  reinen 
All  des  Lebens ;  als  Modifikation  setzt  es  sich  andern  entgegen ; 
der  Vater  hat  Leben  in  sich  selbst  und  so  hat  er  auch  dem  Sohn 
Leben  in  sich  zu  haben  gegeben,  und  weil  er  des  Menschen  Sohn 
ist,  hat  er  ihm  Macht  erteilt,  Gericht  zu  machen.  Das  Einige  ist 
ohne  Macht,  denn  es  ist  ihm  kein  Feindseliges,  mit  ihm  Kämpfen- 
des entgegen.  Aber  das  Wirkliche,  wie  der  Mensch,  kann  von 
feindseligen  Kräften  angegriffen  werden  und  in  einen  Streit  kom- 
men; nur  er  kann  auch  ein  Fremdes,  das  ihn  zwar  in  Ruhe  läßt, 
aber  nicht  mit  ihm  leben  und  genießen  will,  das  sich  abgesondert 
hat  und  getrennt  steht,  gegen  sich  über  haben  und  im  Rechte 
gegen  andere  stehen,  die  ruhigen  Grenzen  ihrer  Trennung  stecken 
und  bewahren;  nur  er  kann  Gericht  halten.] 

Das  Bewußtsein,  dem  Joche  der  Wirklichkeiten  sich  entzogen 
zu  haben  und  von  Gott  getrieben  zu  werden,  nennt  Jesus  den 
Geist  Gottes.  Die  Gestalt,  in  der  alles  Göttliche  erscheinen  muß, 
die  das  Wirkliche  bekämpfende  Erscheinung  Gottes  muß  eine 
Form  haben.  Diese  Tätigkeit  geht  gegen  das  Beschränkte,  aber 
sie  selbst  erscheint,  obzwar  in  der  freisten,  doch  in  einer  Form ; 
und  darum  läßt  sich  in  ihrer  Erscheinung  noch  zwischen  Gestalt 
und  Wesen  unterscheiden.  Das  Wesen  ist  das  Treibende,  Tätige 
und  darum  kann  Jesus  noch  von  einem  Geiste  Gottes  sprechen ; 
und  wenn  im  Menschen  der  Sohn  des  Menschen,  die  Individuali- 
tät, und  der  Sohn  Gottes,  als  in  dem  der  Geist  Gottes  wohnt, 


DAS  LEBEN  JESU  191 


unterschieden  wird,  so  ist  die  Modifikation,  das  von  Gott  nur  Be- 
lebte verwundbar  und  an  sich  nicht  heilig  und  wenn  die  Indivi- 
dualität beleidigt  wird,  damit  das  Göttliche  selbst  nicht  verletzt. 
Eine  Sünde  am  Menschensohn  kann  vergeben  werden,  aber  nicht 
eine  wider  den  heiligen  Geist ;  über  den  im  Streite  begriffenen 
Individualitäten  gibt  es  ein  Höheres ;  jene  Sünde  kann  in  der  Liebe 
Verzeihung  erlangen,  diese  hat  sich  an  der  Liebe  selbst  versün- 
digt und  allem  Rechte,  allem  Anteil  am  GöttUchen  entsagt.  So 
lange  Jesus  mit  seinen  Jüngern  war,  regierte  sie  der  Glaube  an  ihn, 
der  Glaube,  daß  in  ihm,  einem  Menschen,  Göttliches  ist.  Dieser 
Glaube  war  noch  nicht  der  heilige  Geist,  denn  obschon  sie  jenen 
Glauben  nicht  haben  konnten  ohne  Selbstgefühl  der  Göttlichkeit, 
so  waren  doch  noch  dieses  Selbstgefühl  und  ihre  Individualität 
Getrennte.  Letztere  hing  von  der  Individualität  eines  andern 
Menschen  ab.  Das  Göttliche  in  ihnen  und  sie  selbst  waren  noch 
nicht  eins.  Darum  versprach  Jesus  ihnen  nach  seiner  Entfernung, 
die  ihnen  eine  fremde  Stütze  entzog,  den  heiligen  Geist,  der  über 
sie  werde  ausgegossen  werden,  ihre  Abhängigkeit  von  ihm  werde 
mit  seinem  Tode  aufhören,  sie  werden  in  sich  selbst  den  Führer 
in  alle  Wahrheit  finden  und  Söhne  Gottes  sein :  inwieweit  diese 
Hoffnung  ihres  Lehrers  in  Erfüllung  gehen  konnte,  wird  sich 
weiterhin  zeigen. 

[Das  Bewußtsein  der  Freiheit  und  die  göttliche  Harmonie,  die 
Beseelung  aller  Lebensgestalten  durch  die  Gottheit  allein  nennt 
Jesus  das  Licht  und  das  göttliche  Leben  der  Menschen,  ihre  Har- 
monie bei  ihrer  Mannigfaltigkeit  nennt  er  ein  Königreich,  eine 
Herrschaft,  denn  welche  andre  Einigkeit  konnten  Juden  fassen  als 
die  Einheit  durch  Herrscher.?  Diese  Benennung  bringt  etwas  He- 
terogenes in  die  göttliche  Vereinigung  der  Menschheit,  denn  sie 
zeigt  immer  noch  Getrenntes  und  Widerstreitiges,  das  aus  der 
Schönheit  und  dem  göttUchen  Leben  eines  reinen  Menschenbundes 
ganz  entfernt  sein  muß.] 


Liebe  a)  Eingeschränkt  auf  wenige,  b)  Tätig.  Die  Christen  mit- 
einander; Aufhebung  des  Eigentums;  Gemeinschaft  der  Weiber; 
Essen  und  Trinken;  Beten,  nicht  Tätigkeit;  also  nur  im  Begriffe 


192  G.W.  F.  HEGEL 


vereinigte  Glaubende,  Liebende;  andre  in  ihrem  Gott  nicht  le- 
bendig vereinigt. 

Schicksal  Jesu.  Entsagung  den  Beziehungen  des  Lebens:  a)  bür- 
gerlichen, zivilen;  b)  politischen;  c)  Zusammenleben  mit  andern 
Menschen;  Familie,  Verwandte,  Ernährung. 

Das  Verhältnis  Jesu  zu  der  Welt  teils  Flucht,  teils  Reaktion,  Be- 
kämpfung derselben.  So  lange  Jesus  die  Welt  nicht  verändert 
hatte,  so  weit  mußte  er  sie  fliehen. 

Mit  dem  Mute  und  dem  Glauben  eines  gottbegeisterten  Mannes, 
der  von  den  klugen  Leuten  ein  Schwärmer  genannt  wird,  trat 
Jesus  unter  dem  jüdischen  Volke  auf.  Er  trat  nur  in  eignem  Geiste 
auf;  die  Welt  lag  vor  ihm,  wie  sie  werden  sollte,  und  das  erste 
Verhältnis,  in  das  er  sich  selbst  zu  ihr  setzte,  war,  sie  zum  Anders- 
werden aufzurufen.  Er  fing  damit  an,  allen  zuzurufen:  Ändert 
euch,  denn  das  Reich  Gottes  ist  nahe.  Hätte  in  den  Juden  der 
Funke  des  Lebens  geschlafen,  da  hätte  er  eines  Hauchs  bedurft, 
um  zur  Flamme  aufzulodern,  die  alle  ihre  armseligen  Titel  und 
Ansprüche  verbrannt  hätte.  Hätte  das  Bedürfnis  nach  etwas  Rei- 
nerem bei  ihrer  Unruhe  und  Unzufriedenheit  mit  der  Wirklichkeit 
in  ihnen  gelegen,  so  hätte  der  Zuruf  des  Jesus  Glauben  gefunden, 
und  dieser  Glaube  hätte  das  Geglaubte  in  demselben  Augenblick 
ins  Dasein  gebracht.  Mit  ihrem  Glauben  wäre  das  Reich  Gottes  vor- 
handen gewesen.  Jesus  hätte  ihnen  eigentlich  nur  ausgesprochen, 
was  unentwickelt  und  unbewußt  in  ihrem  Herzen  lag;  und  mit 
dem  Finden  des  Worts,  mit  dem  Insbewußtseinkommen  des  Be- 
dürfnisses wären  die  Bande  abgefallen,  vom  alten  Schicksal  hätten 
sich  nur  noch  Zuckungen  des  erstorbenen  Lebens  geregt  und  das 
Neue  wäre  da  gestanden.  So  aber  wollten  die  Juden  zwar  etwas 
anderes  als  das  Bisherige,  aber  sie  gefielen  sich  zu  sehr  in  dem 
Stolze  ihrer  Knechtschaft,  um  das,  was  sie  suchten,  in  dem  zu 
finden,  was  Jesus  ihnen  anbot.  Ihre  Gegenwirkung,  die  Antwort, 
die  ihr  Genius  auf  den  Anruf  des  Jesus  gab,  war  eine  sehr  unreine 
Aufmerksamkeit.  Einige  wenige  reine  Seelen  schlössen  sich  mit 
dem  Triebe,  gebildet  zu  werden,  an  ihn  an.  Mit  großer  Gutmütig- 
keit, mit  dem  Glauben  eines  reinen  Schwärmers  nahm  er  ihr  Ver- 
langen für  befriedigtes  Gemüt,  ihren  Trieb  für  Vollendung,  ihre 
Entsagung  einiger  bisherigen  Verhältnisse,  die  meist  nicht  glän- 


DAS  LEBEN  JESU  193 


zend  waren,  für  Freiheit  und  geheiltes  oder  besiegtes  Schicksal; 
denn  bald  nach  seiner  Bekanntschaft  mit  ihnen  hielt  er  sie  für 
fähig  und  sein  Volk  für  reif,  einer  ausgebreiteteren  Ankündigung 
des  Reichs  Gottes  zu  folgen.  Er  schickte  seine  Schüler  paarweise 
im  Land  umher,  um  seinen  Ruf  vervielfältigt  erschallen  zu  lassen. 
Aber  der  göttliche  Geist  sprach  nicht  in  ihrer  Predigt;  nach  viel 
längerem  Umgang  lassen  sie  noch  sehr  häufig  eine  kleine,  wenig- 
stens ungereinigte  Seele  blicken,  von  der  wenige  Äste  nur  das 
Göttliche  durchdrungen  hatten.  Ihre  ganze  Instruktion,  außer 
dem  Negativen,  das  sie  enthält,  war,  die  Nähe  des  Reiches  Gottes 
zu  verkündigen.  Sie  sammeln  sich  bald  wieder  zu  Jesu  und  man 
erblickt  keineWirkung  der  Hoffnung  Jesu  und  ihres  Apostolisierens. 

Die  Gleichgültigkeit  der  Aufnahme  seines  Aufrufs  verwandelte 
sich  bald  in  Haß  gegen  ihn,  dessen  Wirkung  auf  ihn  eine  immer 
steigende  Erbitterung  gegen  sein  Zeitalter  und  sein  Volk  war,  vor- 
züglich gegen  die,  in  welchen  der  Geist  seiner  Nation  am  stärksten 
und  leidenschaftlichsten  wohnte,  gegen  die  Pharisäer  und  die 
Führer  des  Volks.  Sein  Ton  ist  kein  Versuch,  sich  mit  ihnen  zu 
versöhnen,  ihrem  Geiste  etwas  anzuhaben,  sondern  der  heftigste 
Ausbruch  seiner  Erbitterung  gegen  sie,  die  Enthüllung  ihres  ihm 
feindseligen  Geistes.  Er  handelt  gegen  diesen  nicht  einmal  mit 
dem  Glauben  der  Möglichkeit  einer  Linderung.  Wenn  ihr  ganzer 
Charakter  ihm  widerstand,  so  konnte  er  bei  Veranlassungen,  über 
religiöse  Gegenstände  mit  ihnen  zu  sprechen,  nicht  auf  eine  Wi- 
derlegung und  Belehrung  ausgehen.  Er  bringt  sie  nur  durch  ar- 
gumenta ad  hominem  zum  Schweigen ;  das  ihnen  entgegengesetzte 
Wahre  richtet  er  an  die  andern  gegenwärtigen  Menschen.  Mir 
scheint,  nach  der  Rückkehr  seiner  Jünger  zu  ihm  (Matth.  XII) 
entsaojte  er  seinem  Volke  und  hat  gefühlt,  daß  Gott  sich  nur  dem 
einfachen  Menschen  offenbare,  und  er  beschränkt  sich  jetzt  auf 
Wirksamkeit  auf  einzelne  und  läßt  das  Schicksal  seiner  Nation 
unangetastet  stehen,  indem  er  sich  selbst  von  ihm  absondert. 

Weil  alles,  auch  die  schönsten  Formen  des  Lebens  befleckt 
waren,  so  konnte  sich  Jesus  mit  keiner  einlassen.  In  seinem  Reiche 
Gottes  konnte  es  keine  Beziehung  geben,  als  die  aus  der  Schönheit 
und  Freiheit  selbst  hervorginge.  Die  Verhältnisse  des  Lebens 
waren  unter  seinem  Volke  unter  der  Sklaverei  der  Gesetze  und 

Hegel,  Das  Leben  Jesu  13 


194  G.W.  F.  HEGEL 


des  selbstsüchtigen  Geistes.  Er  scheint  von  seinem  Judengeschlecht 
keine  allgemeine  Wegwerfung  seines  Joches  erwartet  zu  haben, 
und  darum  sah  er  einen  Kampf  des  Heiligen  mit  dem  Unheiligen 
voraus,  vor  dessen  ganzer  Gräßlichkeit  er  sich  fürchtete.  «Ich 
kam  nicht,  sagt  er,  um  der  Erde  Frieden  zu  bringen,  sondern  das 
Schwert.    Ich  kam,  den  Sohn  gegen  seinen  Vater  zu  entzweien.» 


Zustand  der  jüdischen  Religion.  Das  jüdische  Volk,  das 
schlechterdings  alle  es  umgebenden  Völker  verabscheute  und 
verachtete,  wollte  für  sich  hocherhaben,  allein  in  seiner  Art, 
seinen  Sitten,  seinem  Dünkel  beharren.  Jede  Gleichstellung 
mit  andern  war  ihm  eine  greuelhafte  Abscheulichkeit  und  doch 
stand  es  durch  die  Lage  seines  kleinen  Landes,  durch  Han- 
delsverbindungen, durch  die  Vereinigung  der  Völker,  welche  die 
Römer  stifteten,  in  mannigfaltigen  Beziehungen  mit  andern.  Dem 
Drange  der  Völker,  sich  zu  vereinigen,  mußte  die  jüdische  Sucht, 
sich  zu  isolieren,  unterliegen  und  nach  Kämpfen,  die  um  so  ent- 
setzlicher waren,  je  eigner  dies  Volk  war,  waren  sie  auch  unter- 
legen, und  durch  die  Unterwerfung  des  Staats  unter  eine  fremde 
Gewalt  tief  gekränkt  und  erbittert  worden.  Um  so  hartnäckiger 
hielt  dies  Volk  fernerhin  auf  seine  statutarischen  Gebote  der  Re- 
ligion. Es  leitete  seine  Gesetze  unmittelbar  von  einem  ausschließ- 
lichen Gott  ab.  In  seiner  Religion  war  die  Ausübung  einer  un- 
zähligen Menge  sinn-  und  bedeutungsloser  Handlungen  w^esent- 
lich  und  sein  pedantischer,  sklavischer  Geist  hatte  noch  den 
gleichgültigsten  Handlungen  des  täglichen  Lebens  eine  Regel  vor- 
geschrieben und  der  ganzen  Nation  das  Ansehen  eines  Mönchs- 
ordens gegeben.  Der  Dienst  Gottes  und  der  Tugend  war  ein 
zwangvolles  Leben  in  toten  Formularen.  Dem  Geist  blieb  nichts 
als  der  hartnäckige  Stolz  auf  diesen  Gehorsam  der  Sklaven  gegen 
jene  nicht  selbstgegebenen  Gesetze  übrig. 

Dieser  Zustand  der  jüdischen  Religion  mußte  in  Menschen  von 
besserem  Kopf  und  Herzen,  die  ihr  Selbstgefühl  nicht  zu  toten 
Maschinen  und  zugleich  zur  Wut  des  Knechtsinns  herunterbeugen 
konnten,  das  Bedürfnis  einer  freiem  Tätigkeit  und  reinern  Selb- 
ständigkeit, als  mit  mönchischer  Geschäftigkeit  eines  geist-  und 


DAS  LEBEN  JESU  195 


wesenlosen  Mechanismus  kleinlicher  Gebräuche  ein  Dasein  ohne 
Selbstbewußtsein  zu  leben,  das  Bedürfnis  eines  edlern  Genusses, 
als  in  diesem  Sklavenhandwerk  sich  groß  zu  dünken  und  für  das- 
selbe zu  rasen,  erwecken.  Die  Natur  empörte  sich  gegen  diesen 
Zustand  und  trieb  die  mannigfaltigsten  Reaktionen  hervor:  die  Ent- 
stehung vieler  Räuberbanden,  vieler  Messiasse,  das  strenger  und 
mönchischer  gemachte  Judentum  der  Pharisäer,  die  Verbindung 
von  Freiheit  und  Politik  mit  demselben  in  dem  Sadduzäismus,  das 
brüderliche,  von  den  Leidenschaften  und  Sorgen  ihres  Volks  fer- 
ne Eremitenleben  der  Essener,  die  Aufhellung  des  Judentums 
durch  schönere  Blüte  der  tiefern  menschlichen  Natur  im  Plato- 
nismus,  endhch  das  Erheben  und  offene  Predigen  des  Johannes  an 
alles  Volk,  und  zuletzt  die  Erscheinung  des  Jesus,  der  das  Übel 
seines  Volks  an  der  Wurzel  angriif,  nämlich  an  seiner  hochmü- 
tigen und  feindseligen  Aussonderung  von  allen  Nationen,  es  also 
zum  Gotte  aller  Menschen,  zu  allgemeiner  Menschenliebe,  zur 
Entsagung  lieb-  und  geistlosen  Mechanismus,  ihres  Gottesdienstes 
führen  wollte,  dessen  neue  Lehre  eben  deswegen  mehr  noch  zur 
Religion  der  Welt  als  seines  Volkes  wurde,  —  ein  Beweis,  wie 
tief  er  die  Bedürfnisse  seines  Zeitalters  aufgegriffen  hatte  und  wie 
die  Juden  in  rettungsloser  Abwesenheit  des  Guten  und  Wut  der 
Geistesknechtschaft  versunken  waren. 

Wie  die  Bildung  des  Jesus  gereift  ist,  über  diese  interessante 
Frage  sind  keine  Nachrichten  auf  uns  gekommen.  In  seinem 
männlichen  Alter  erst  tritt  er  auf,  frei  von  der  eingeschränkten 
Trägheit,  die  an  die  gemeinen  Bedürfnisse  und  Bequemlichkeiten 
des  Lebens  ihre  einzige  Tätigkeit  verwendet,  wie  von  Ehrgeiz  und 
andern  Leidenschaften,  deren  Befriedigung  ihn  genötigt  haben 
würde,  in  den  Vertrag  der  Vorurteile  und  der  Laster  einzutreten. 
Seine  ganze  Manier  hat  das  Ansehen,  daß  er  zwar  unter  seinem 
Volk  erzogen,  aber  fern  von  ihm,  und  wohl  länger  als  vierzig 
Tage,  von  dem  Enthusiasmus  des  Reformators  beseelt  wurde. 
Zugleich  aber  trägt  seine  Art  zu  handeln  und  zu  sprechen  keine 
Spuren  irgend  einer  damals  vorhandenen  Bildung,  eines  andern 
Volkes  oder  Religion  an  sich.  Er  tritt  auf  einmal  jugendlich,  mit 
aller  freudigen  Hoffnung  und  zweifellosen  Zuversicht  des  Erfolges 
auf.    Der  Widerstand,  der  ihm  von  den  eingewurzelten  Vorur- 

13* 


196  G.W.  F.  HEGEL 


teilen  seines  Volkes  kommt,  scheint  ihm  unerwartet.  Den  er- 
töteten Geist  freier  Religiosität,  die  hartnäckige  Raserei  des  Knecht- 
sinns seiner  Nation  schien  er  vergessen  zu  haben. 

[Er  unternahm  es,  Religion  und  Tugend  zur  Moralität  zu  er- 
heben und  die  Freiheit  derselben,  worin  ihr  Wesen  besteht,  wieder- 
herzustellen;  denn  so  wie  jede  Nation  eine  hergebrachte  National- 
tracht, eine  eigne  Manier  zu  essen  und  zu  trinken  und  in  ihrer 
übrigen  Lebensart  eigne  Gewohnheiten  hat,  so  war  Moralität 
von  der  ihr  eigentümlichen  Freiheit  zu  einem  System  solcher  Ge- 
bräuche herabgesunken.  Er  rief  die  moralischen  Prinzipien,  die 
in  den  heiligen  Büchern  seines  Volkes  lagen,  demselben  ins  Ge- 
dächtnis zurück.  Die  höchsten  Grundsätze  der  MoraHtät  fand 
Jesus  vor  und  stellte  keinen  neuen  auf;  (Matth.  XXII,  37  cf.  Deut. 
VI,  5 ;  Matth.  V,  43  cf  Lev.  XIX,  18 ;  Matth.  V,  48  cf.  Lev.  XI,  44: 
Seid  heilig  wie  ich,  und  XVIII,  5 ;  Matth.  VII,  1 2  hat  einen  zu  weiten 
Umfang  und  ist  auch  für  den  Lasterhaften  als  Maxime  der  Klugheit 
zu  gebrauchen,  als  daß  es  einen  moralischen  Grundsatz  abgeben 
könnte);  und  wirklich  wäre  es  sonderbar  gewesen,  wenn  eine  Reli- 
gion wie  die  jüdische,  die  die  Gottheit  zu  ihrem  politischen  Gesetz- 
geber machte,  nicht  auch  rein  moralische  Prinzipien  enthalten  hätte.] 

Fasten,  Matth.  IX,  14;  menschliches  Leben  und  Liebe  darüber 
erhaben ;  Fasten  muß  von  der  Stimmung  des  Gemüts  zu  Freude 
oder  Leid  abhängen  ;  16 — 17,  Unverträglichkeit  des  Alten  mit  dem 
Neuen ;  Gefahr,  die  der  Selbstbestimmung  der  Moralität  durch  das 
Positive  droht. 

Matth.  XII,  I — 8,  Entheiligung  des  Sabbats;  entgegengesetzt 
das  Beispiel  ihrer  Priester  (die  Nichtnotwendigkeit)  und  die  Ge- 
setzgebung des  Menschen;  11 — 12,  Vorzug  des  Bedürfnisses  des 
Menschen;  XV,  2,  Händewaschen  vor  dem  Brotessen;  den  Phari- 
säern entgegengesetzt  das  Übertreten  des  Gebots  durch  die  Phari- 
säer selbst,  durch  ihre  objektiven  Gebote;  11 — 20,  dem  übrigen 
Volke  die  Gesinnung,  die  Subjektivität  des  Menschen,  nichts  Ob- 
jektives rein,  keine  gegebene  Reinheit. 

XVII,  25,  Steuer;  der  König  nimmt  sie  nur  von  Fremden;  so 
sind  die  Söhne  frei;  daß  sie  sich  aber  nicht  ärgern  (axovoa/.iCH'.v). 

XIX,  I,  die  Liebe,  die  Gesinnung  über  das  Gesetz,  in  Ansehung 
der  Ehe. 


DAS  LEBEN  JESU  197 


Moralität  erhält,  sichert  nur  die  Möglichkeit  der  Liebe  und  ist 
daher  ihrer  Handlungsart  nach  nur  negativ.  Ihr  Prinzip  ist  die 
Allgemeinheit,  d.  h.  alle  als  seinesgleichen,  als  gleiche  zu  behan- 
deln; die  Bedingung  der  Liebe,  das  Vermögen  des  Allgemeinen 
ist  die  Vernunft.  Ein  durchaus  nur  moralischer  Mensch  ist  ein 
Geiziger,  der  sich  immer  Mittel  zusammenscharrt  und  bewahrt, 
ohne  je  zu  genießen.  Die  moralische  Handlung  ist  immer  eine 
beschränkte,  weil  sie  eine  Handlung  ist  und  die  Gesinnung  ist 
einseitig  und  unvollständig,  weil  sie  der  Handlung  entgegengesetzt 
ist.  Bei  Moralität  ohne  Liebe  ist  zwar  in  der  Allgemeinheit  die 
Entgegensetzung  gegen  einzelne  Objekte  aufgehoben,  —  eine 
Synthese  Objektiver;  aber  das  Einzelne  ist  als  ein  ausgeschlossenes 
Entgegengesetztes  vorhanden. 

Immoralität  hebt  die  Möglichkeit  der  Liebe  auf  durch  Mißhand- 
lung Lebendiger.  Rückkehr  zur  Moralität  durch  die  Rückwirkung 
des  Gesetzes,  durch  Schicksal  und  Strafe,  ist  Furcht  vor  dem  Ob- 
jekt, vor  dem,  was  man  mißhandelt  hat.  Rückkehr  zur  Legalität, 
d.  h.  zur  objektiven  Regel,  zur  Moralität  nur  durch  die  Liebe, 
deren  Bedürfnis  für  sich  gefühlt,  ihre  Befriedigung  durch  Immo- 
ralität sich  unmögHch  gemacht  hat  und  das  Lebendige  achtet. 

Das  Gesetz  als  Herrschendes  durch  Tugend  aufgehoben;  die 
Beschränkung  der  Tugend  durch  Liebe;  aber  Liebe  ist  Empfin- 
dung, mit  ihr  die  Reflexion  nicht  vereinigt. 

Die  Gottheit;  so  unendlich  das  Objekt,  so  unendlich  die  Passi- 
vität; durch  Moralität  und  Liebe  diese  vermindert,  aber  nicht  zur 
vollendeten  Selbständigkeit  gebracht;  diese  Passivität  besteht 
durch  Streit  gegen  das  Objektive,  und  auf  diese  Art  keine  Religion 
möglich;  das  Objekt  nicht  verneinen,  sondern  versöhnen. 

Liebe  die  Blüte  des  Lebens;  Reich  Gottes  der  ganze  Baum  mit 
allen  Modifikationen,  Stufen  der  Entwickelung.  Die  Modifikatio- 
nen sind  AusschUeßungen,  aber  nicht  Entgegensetzungen;  d.  h.  es 
gibt  keine  Gesetze,  das  Gedachte  ist  dem  Wirklichen  gleich ;  es 
gibt  kein  Allgemeines,  keine  Beziehung  ist  objektiv,  zur  Regel  ge- 
worden. Alle  Beziehungen  sind  lebendig  aus  der  Entwicklung 
des  Lebens  hervorgegangen;  kein  Objekt  an  ein  Objekt  gebunden, 
nichts  ist  fest  geworden.  Keine  Freiheit  der  Entgegensetzungen, 
kein  freies  Ich,  kein  freies  Du.    Aus  der  Entgegensetzung  durch 


198  G.W.  F.  HEGEL 


Freiheit  entspringen  Rechte.  Freiheit  ohne  Entgegensetzung  ist 
nur  eine  MögUchkeit.  Die  Menschen  sind  so,  wie  sie  sein  sollen; 
das  Seinsollen  muß  freilich  dann  ein  unendliches  Streben  sein, 
wenn  das  Objekt  schlechthin  nicht  zu  überwinden  ist,  wenn  Sinn- 
Uchkeit  und  Vernunft,  oder  Freiheit  und  Natur,  oder  Subjekt  und 
Objekt,  so  schlechterdings  entgegengesetzt  sind,  daß  sie  absolut 
sind;  durch  die  Synthese:  kein  Objekt,  kein  Subjekt,  oder  kein 
Ich,  kein  Nicht-Ich,  wird  ihre  Eigenschaft  als  Absolute  nicht  auf- 
gehoben. Gesetz  ist  eine  Beziehung  der  Objekte  aufeinander;  im 
Reich  Gottes  kann  es  keine  Beziehung  geben,  weil  es  keine  Ob- 
jekte füreinander  gibt.  Eine  gedachte  Beziehung  ist  fest  und  blei- 
bend, ohne  Geist,  ein  Joch,  eine  Zusammenkettung,  eine  Herr- 
schaft und  Knechtschaft.  Tätigkeit  und  Leiden;  Bestimmen  und 
Bestimmtwerden. 

Matth.  IV,   17  Msxavoshc  •  rjf'./.sv  -jap  r^  pco'.Xii'a  tiöv  oöpavüjv.     Dies   ist 

der  erste  Aufruf  und  Versicherung,  das  Himmelreich  sei  da. 

Matth.  V,  i7.z>.r,pu)3a!.  ergänzen,  vollständig  machen  durch  die 
Gesinnung,  durch  Hinzufügung  des  Innern  zum  Äußern  —  V,  20; 
Rechtschaffenheit  seiner  Anhänger  müsse  mehr  sein,  als  die  der 
Pharisäer  und  Gesetzverständigen;  es  müsse  außer  dieser  auch 
noch  das  hinzukommen,  daß  das  Gesetz,  dem  sie  folgen,  ihr  eig- 
nes sei  —  V,  21,  23 ;  zu  dem  objektiven  Verbot  des  Mordes  wird 
die  Mißbilligung  des  Zorns  über  seinen  Bruder  gefügt,  zum  Ver- 
söhnopfer wirkliche  Versöhnung  usw.  —  V,  33;  dem  Gebot,  daß 
nicht  falsch  geschworen  werden  soll,  dem  Herrn  der  Eid  gehalten 
werden  soll  —  gar  nicht  schwören,  nicht  bei  etwas  Fremdem, 
nicht  beim  Himmel,  denn  er  ist  nur  der  Thron  Gottes  usw.,  nicht 
bei  unserm  Haar,  das  nicht  ganz  in  unserer  Gewalt  ist,  bei  nichts 
Fremdem  also  überhaupt,  an  diesem  nicht  hängen,  sondern  wir 
selbst  sein.  Ein  anderer  Maßstab  entgegengesetzt,  die  Gesinnung, 
und  nach  diesem  leidenschaftliche  Handlungen,  die  in  dem  Be- 
stehen des  andern  nichts  ändern,  ebenso  verurteilt  als  die  Stö- 
rung eines  für  sich  bestehenden  Lebens,  und  zum  Prinzip  Ver- 
söhnlichkeit, d.  h.  die  Geneigtheit,  die  Trennung  aufzuheben,  an- 
gegeben. 

Aber  wenn  der  Mensch  nun  eins  mit  sich  selbst  ist,  jede  Ab- 
hängigkeit, jeden  Bund  mit  den  Objekten  verschmäht,  so  muß  er 


DAS  LEBEN  JESU  199 


doch  mit  der  Not  einen  Bund  machen;  VI,  25  ff. :  «Seid  unbeküm- 
mert über  die  Not.» 

Mit  der  eignen  Knechtschaft  hört  auch  die  Herrschaft,  die  man 
durch  die  Idee  der  morahschen  Gebote  über  andre  ausübt,  auf; 
VII,  I  ff.,  eigne  Freiheit  gesteht  andern  gleichfalls  Freiheit  zu. 
Sittenrichterei  erkennt  nichts  für  sich  Bestehendes,  nur  alles  unter 
einem  Gesetz,  unter  einer  Herrschaft  stehend,  nicht  das  Wesen 
und  das  Gesetz  eins,  in  einer  Natur.  «Das  Prinzip  eures  Ver- 
hältnisses gegen  andre  ist,  ihre  Freiheit  zu  ehren,  und  was  ihr  also 
von  ihnen  wollet,  nur  darum  zu  bitten.» 

Jesum  charakterisiert  als  den  Stifter  einer  neuen  Religion  unter 
einem  verdorbenen  Volke  die  Entsagung  den  Bequemlichkeiten 
des  Lebens  und  die  gleiche  Forderung  desselben  an  seine  Gehülfen, 
auch  das  Entreißen  sonstigen  Verhältnissen  und  heiligen  Bezie- 
hungen des  Lebens. 

Antwort,  die  er  seinem  Anhängergab,  der  seinen  Vater  begraben 
wollte,  (Matth.  VIII,  22). 

Matth.  VIII,  10;  die  erste  Äußerung  über  Kälte  bei  den  Juden 
und  ihre  Verwerfung. 

IX,  15;  Fasten  nicht  zu  einem  Zwecke,  sondern  nach  den 
Umständen. 

IX,  36 — 38,  X,  I  ff. ;  Schicken  der  Apostel  ins  Land.  Mark. 
VI,  7;  Jesus  schickt  sie  fort;  VI,  30  sammeln  sie  sich  wieder  zu 
ihm.  Luk.  IX,  6  und  IX,  10  zurück.  Nicht  die  Menschen  zu 
versöhnen  und  das  Menschengeschlecht  zu  Freunden  zu  machen; 
die  Allgemeinheit  seiner  Reformation  aufgegeben.  Matth.  X,  21: 
«Ein  Bruder  wird  den  Bruder,  der  Vater  das  Kind  zum  Tode  geben, 
Kinder  die  Eltern.»  id.  34:  «Ich  kam  nicht,  um  Frieden  auf  die 
Erde  zu  werfen,  sondern  das  Schwert.  Ich  kam,  den  Mann  gegen 
seinen  Vater,  die  Tochter  gegen  die  Mutter,  die  Braut  gegen  die 
Schwieger  zu  entzweien.  Die  Hausgenossen  werden  die  Feinde 
des  Mannes  sein.  Wer  Vater  oder  Mutter,  Sohn  oder  Tochter 
mehr  liebt,  als  mich,  ist  meiner  nicht  würdig.»  Gräßliches  Zer- 
reißen aller  Bande  der  Natur,  Zerstörung  aller  Natur. 

Steigende  Erbitterung  gegen  seine  Zeit,  Matth.  XI,  12  ff.  — 
id.  25:  «Du  hast  dies  den  Verständigen  und  Klugen  verborgen 
und  den  Einfältigen  geoffenbart ;  so  war  dein  Belieben. » —  XII,  8  ff. ; 


200  G.W.  F.  HEGEL 


der  Mensch  höher  als  der  Sabbat  —  id.  i6;  er  verbot  den  Ge- 
heilten, dies  auszusagen  —  id.  3 1 ;  Sünde  gegen  den  Menschen- 
sohn wohl  vergeben,  aber  nicht  die  Sünde  gegen  den  heiligen 
Geist  —  id.  48:  «Wer  ist  meine  Mutter  und  mein  Bruder.''  Diese», 
indem  er  sich  zu  seinen  Anhängern  wendete  —  XIII,  54 — 5  5  :  «Ist 
dieser  nicht  der  Sohn  des  Zimmermanns?»  Unglaube  an  Menschen- 
natur, Verachtung  aller  menschlichen  Verhältnisse.  Daher  seine 
Entfernung  von  denselben,  weil  sie  nicht  geheiligt  waren.  — 
V,  57;  ein  Prophet  gilt  in  seinem  Vaterlande  nichts;  dazu  oben 
X,  36  ;  Reinheit  durch  alles  verunreinigt,  nicht  wiederherzustellen. 
Es  kann  dem  Schicksal  nicht  entgangen  werden.  Wenn  die  Schön- 
heit aus  allem  entflohen  ist,  so  gab  er  alles  auf,  um  sie  allein  zu- 
erst wiederherzustellen. 

Mark.  XVI,  17.  Zeichen,  die  die  Gläubigen  begleiten  werden; 
übernatürliche  Kräfte.  Was  die  Natur  vermochte,  war  vorhanden, 
war  da  als  Erscheinung,  als  Tat;  es  war  geschehen;  alle  Seiten 
der  menschlichen  Natur  waren  Sitte,  Gewohnheit,  Lebensweise 
der  Völker,  objektiv  geworden ;  Taten,  die  als  Taten  göttlich  sein 
sollten,  mußten  übernatürlich  sein.  Göttlich  ist  aber  nichts,  was 
geschieht,  sondern  was  ist;  etwas  Göttliches,  was  geschieht,  ist 
größer,  als  was  andere  tun,  und  wäre  also  nur  relativ.  Die  Tat 
an  sich  ist  der  Zusammenhang  der  aufeinander  folgenden  Objek- 
tiven ;  so  viel  in  dem  einen  Objekt  Leiden,  so  viel  in  dem  andern 
Tätigkeit,  und  jedes  Objekt  ist  ein  Allgemeines  eben  darum,  weil 
es  unter  einem  Gesetz  steht. 

Jesus  fing  seine  Predigt  damit  an,  zu  verkündigen,  das  Reich 
Gottes  sei  da.  Die  Juden  erwarteten  die  Wiederkehr  der  Theo- 
kratie.  Sie  sollten  es  glauben,  und  das  Reich  Gottes  kann  im 
Glauben  da  sein.  Was  aber  im  Glauben  vorhanden  ist,  ist  der 
Wirklichkeit  und  dem  Begriff  von  ihr  entgegengesetzt ;  das  All- 
gemeine drückt  ein  Soll  aus,  weil  es  ein  Gedachtes  ist,  weil  es 
nicht  ist,  aus  dem  gleichen  Grunde,  warum  Dasein  nicht  bewiesen 
werden  kann. 

Das  Reich  Gottes  ist  der  Zustand,  wenn  die  Gottheit  herrscht, 
also  alle  Bestimmungen,  alle  Rechte  aufgehoben  sind.  Diese  Ver- 
hältnisse zu  Vater,  Familie,  Eigentum  konnten  nicht  zu  schönen 
Verhältnissen   werden ;  also  sollten  sie  gar  nicht  da  sein,  damit 


DAS  LEBEN  JESU  201 


wenigstens  nicht  das  Gegenteil  da  wäre.  Daher  zumjünghng: 
«Verkaufe  das  Deinige;  es  ist  schwer,  daß  ein  Reicher  ins  Reich 
Gottes  eingehe.»  Daher  Entsagung  allen  Besitzungen  und  aller 
Ehre,  entweder  durch  einen  Sprung  oder  durch  sukzessive  Auf- 
hebung der  einzelnen  Bestimmungen,  durch  Auflösung.  Jenes, 
die  Begeisterung,  versuchte  Jesus;  er  versicherte,  das  Reich  Gottes 
sei  da ;  er  sprach  das  Dasein  einer  Sache  aus.  Nach  dem  Tode 
Christi  sagten  zwei  seiner  Anhänger  (Luk.  XXIV,  21):  «Wir  hoff- 
ten, er  sei  der,  der  Jerusalem  befreien  werde.»  Die  Juden  erwar- 
teten mit  dem  Reich  Gottes,  daß  vieles  geschähe,  daß  sie  von  der 
Herrschaft  der  Römer  befreit  würden,  ihr  Priestertum  in  seinem 
alten  Glanz  wiederhergestellt  würde  usw.,  das  heißt,  daß  außer 
ihnen  viele  Veränderungen  vorgingen.  Solche  Juden  konnten 
nicht  glauben,  das  Reich  Gottes  sei  da,  wenn  Jesus  es  ihnen  ver- 
kündigte. Die  aber  in  sich  selbst  beruhten,  vollendet  waren,  konn- 
ten es  glauben,  nicht  als  Isolierte,  denn  Gott  ist  in  nichts  Isolier- 
tem, sondern  in  lebendiger  Gemeinschaft.  Glaube  an  die  Mensch- 
heit ist  Glaube  ans  Reich  Gottes ;  Glaube  ist  das  Individuelle  gegen 
das  Lebendige;  nicht  die  Gesetze  Gottes  herrschen,  denn  Gott 
und  seine  Gesetze  sind  nicht  zweierlei;  Leben  und  Rückkehr  zum 
Leben,  aber  keine  Regel  darüber  (Luk.  XV,  32). 

Am  interessantesten  wird  es  sein,  zu  sehen,  wie  sich  Jesus  und 
was  er  unmittelbar  dem  Prinzip  des  Beherrschtwerdens  und  dem 
unendlichen  Herrscher  der  Juden  entgegenstellt.  Hier,  im  Mittel- 
punkt ihres  Geistes,  mußte  der  Kampf  am  hartnäckigsten  sein; 
denn  hier  wurde  alles  in  einem  angegriffen.  Der  Angriff  auf  die 
einzelnen  Zweige  des  Judengeistes  trifft  zwar  auch  das  Prinzip, 
aber  es  ist  noch  nicht  im  Bewußtsein,  daß  dieses  angegriffen  ist. 
Erst  wenn  immer  mehr  gefühlt  wird,  daß  dem  Streit  um  Einzel- 
nes ein  Widerstreit  der  Prinzipien  selbst  zugrunde  liegt,  dann 
tritt  Erbitterung  ein.  Zwischen  den  Juden  und  Jesu  kam  bald  seine 
Entgegensetzung  gegen  ihr  Höchstes  zur  Sprache.  Der  Idee  der 
Juden  von  Gott  als  ihrem  Herrn  und  Gebieter  über  sie  setzt  Jesus 
das  Verhältnis  Gottes  zu  den  Menschen  als  eines  Vaters  gegen 
seine  Kinder  entgegen. 

Moralität  hebt  die  Beherrschung  in  den  Kreisen  des  zum  Be- 
wußtsein Gekommenen,  Liebe  die  Schranken  der  Kreise  der  Mo- 


202  G.W.  F.  HEGEL 


ralität  auf.  Aber  die  Liebe  selbst  ist  noch  unvollständiger  Natur. 
In  der  glücklichen  Liebe  ist  kein  Raum  für  Objektivität;  aber  jede 
Reflexion  hebt  die  Liebe  auf,  stellt  die  Objektivität  wieder  her 
und  mit  ihr  beginnt  wieder  das  Gebiet  der  Beschränkungen.  Re- 
flexion und  Liebe  vereint,  beide  verbunden  gedacht,  Religiöses  ist 
also  das  xXrjpwjia  der  Liebe.  Die  Anschauung  der  Liebe  scheint 
die  Forderung  der  Vollständigkeit  zu  erfüllen,  aber  es  ist  ein 
Widerspruch:  das  Anschauende,  Vorstellende  ist  ein  Beschränken- 
des und  nur  Beschränktes  Aufnehmendes,  das  Objekt  aber  wäre 
ein  Endliches ;  das  Unendliche  kann  nicht  in  diesem  Gefäße  ge- 
tragen werden. 

Wenn  Jesus  so  sprach:  «Der  Vater  ist  in  mir,  ich  im  Vater; 
wer  mich  gesehen  hat,  hat  den  Vater  gesehen;  wer  den  Vater 
kennt,  der  weiß,  daß  meine  Rede  Wahrheit  ist;  ich  und  der  Vater 
sind  eins,»  so  klagten  ihn  die  Juden  der  Gotteslästerung  an,  daß 
er,  der  ein  Mensch  geboren  sei,  sich  zum  Gotte  mache;  wie  hätten 
sie  an  einem  Menschen  etwas  Göttliches  erkennen  sollen,  sie,  die 
Armen,  die  in  sich  nur  das  Bewußtsein  ihrer  Erbärmlichkeit  und 
ihrer  tiefen  Knechtschaft,  ihrer  Entgegensetzung  gegen  das  Gött- 
liche, das  Bewußtsein  einer  unübersteigbaren  Kluft  zwischen 
menschlichem  und  göttHchem  Sein  trugen?  Nur  der  Geist  erkennt 
den  Geist.  Sie  sahen  in  Jesu  nur  den  Menschen,  den  Nazarener, 
den  Zimmermannssohn,  dessen  Brüder  und  Verwandte  unter 
ihnen  lebten.  So  viel  war  er;  mehr  konnte  er  ja  auch  nicht  sein; 
er  war  nur  einer,  wie  sie,  und  sie  selbst  fühlten,  daß  sie  nichts 
waren.  Am  Haufen  der  Juden  mußte  sein  Versuch  scheitern,  ihnen 
das  Bewußtsein  von  etwas  Göttlichem  zu  geben.  Denn  der  Glaube 
an  etwas  Göttliches,  an  etwas  Großes  kann  nicht  im  Kote  wohnen. 
Der  Löwe  hat  nicht  Raum  in  einer  Nuß,  der  unendliche  Geist 
nicht  Raum  in  dem  Kerker  einer  Judenseele,  das  All  des  Lebens 
nicht  in  einem  dürrenden  Blatt.  Der  Berg  und  das  Auge,  das  ihn 
sieht,  sind  Subjekt  und  Objekt,  aber  zwischen  Mensch  und  Gott, 
zwischen  Geist  und  Geist  ist  diese  Kluft  der  Objektivität  nicht; 
einer  ist  dem  andern  ein  andrer  nur  darin,  daß  er  ihn  erkennt. 
Ein  Zweig  der  objektiven  Annahme  des  Verhältnisses  des  Sohnes 
zum  Vater,  oder  vielmehr  die  Form  derselben  in  Rücksicht  des 
Willens  ist  in  dem  Zusammenhang,  der  bei  Jesu  zwischen  der  ge- 


DAS  LEBEN  JESU  203 


trennten  menschlichen  und  göttUchen  Natur  gedacht  und  verehrt 
wird,  auch  für  sich  selbst  einen  Zusammenhang  mit  Gott  zu  finden, 
eine  Liebe  zwischen  ganz  Ungleichem,  eine  Liebe  Gottes  zu  dem 
Menschen  zu  hoffen,  die  höchstens  ein  Mitleid  sein  könnte.  Das 
Verhältnis  Jesu  als  Sohnes  zum  Vater  ist  ein  kindliches  Verhältnis, 
denn  der  Sohn  fühlt  sich  im  Wesen,  im  Geiste  eins  mit  dem  Vater, 
der  in  ihm  lebt,  und  hat  keine  Ähnlichkeit  mit  dem  kindischen 
Verhältnis,  in  welches  sich  der  Mensch  mit  dem  reichen  Ober- 
herrscher der  Welt  setzen  möchte,  mit  dem  er  nur  durch  die 
geschenkten  Dinge,  durch  die  Brocken,  die  von  des  Reichen  Tisch 
fallen,  zusammenhängt. 


Christus  hatte  zwölf  Apostel.  Die  Zahl  zwölf  war  eine  fest  blei- 
bende Zahl.  Der  Jünger  mehr,  aber  die  Apostel  waren  die,  die 
seines  vertrauten  Umgangs  genossen,  die  sich  aller  andern  Ver- 
hältnisse entschlagen  hatten  und  nur  seinen  Umgang,  seinen  Un- 
terricht genossen,  ihm  so  viel  als  möglich  in  allem  ähnlich  zu 
werden  sich  bestrebten,  sich  durch  die  Länge  der  Zeit,  des  Unter- 
richts und  seines  lebendigen  Beispiels,  seines  Geistes  sich  zu  be- 
mächtigen suchten.  Und  wie  eingeschränkt  jüdisch,  wie  ganz 
irdisch  anfangs  ihre  Erwartungen,  Hoffnungen,  Ideen  waren,  und 
wie  lange  sie  ihren  Blick  und  ihr  Herz  von  einem  jüdischen  Mes- 
sias und  Stifter  eines  Reiches,  wo  General-  und  Marschallstellen 
zu  vergeben  sein  würden,  und  von  dem  Eigennutz,  der  zuerst  an 
sich  denkt,  nicht  erheben,  nicht  erweitern  konnten  zu  dem  bloßen 
Ehrgeiz,  ein  Mitbürger  des  Reiches  Gottes  zu  werden !  Es  genügte 
dem  Christus  nicht.  Jünger  zu  haben,  wie  Nathanael,  Joseph  von 
Arimathia,  Nikodemus  und  dergleichen,  d.  h.  mit  Männern  von 
Geist  und  vortrefflichem  Herzen  Gedankenkorrespondenzen  ge- 
habt zu  haben,  etwa  einige  neuen  Ideen,  einige  Funken  in  ihre 
Seele  geworfen  zu  haben,  die,  wenn  das  Zeug,  wo  sie  hinfallen, 
nicht  gut  ist,  selbst  Brennstoff  enthält,  ohnedem  verloren  sind. 
Solche  Männer,  teils  glückUch  und  zufrieden  lebend  im  Schöße 
ihrer  Familie  und  nützlich  tätig  in  ihrem  Wirkungskreise,  teils 
bekannt  mit  der  Welt  und  ihren  Vorurteilen,  daher  tolerant  gegen 
sie,  obzwar  streng  gegen  sich,  wären  für  die  Anforderung,  eine 


204  G.W.  F.  HEGEL 


Art  von  Abenteurern  zu  werden,  nicht  empfänglich  gewesen  — 
Christus  sagt:  «Das  Reich  Gottes  zeigt  sich  nicht  mit  äußerlichen 
Geberden.»  Es  scheint  also,  seine  Schüler  haben  ihn  bei  dem  Be- 
fehl: «Gehet  hin  in  alle  Welt  usw.  und  taufet  sie»  insoweit  miß- 
verstanden, daß  sie  diese  Taufe,  ein  äußeres  Zeichen,  für  allgemein 
notwendig  hielten,  welches  um  so  schädlicher  ist,  da  Unterschei- 
dung durch  äußere  Zeichen  Sektiererei,  Entfernung  von  andern 
nach  sich  zieht,  überhaupt  der  Unterschied  durch  das  Moralische 
dadurch,  daß  ihm  noch  ein  anderer  Unterschied  zugegeben  wird, 
geschwächt,  gleichsam  schon  von  seiner  Bedeutung  verliert.  Chri- 
stus sagt:  «Wer  da  glaubt» ;  es  heißt  aber  nicht  gerade:  «Wer  an 
mich  glaubt».  Es  sei  nun  darunter  zu  verstehen  oder  nicht,  so 
nahmen  es  die  Apostel  einmal  so  und  das  Schiboleth  ihrer  Freunde, 
der  Bürger  ihres  Reiches  Gottes  war  nicht:  Tugend,  Rechtschaffen- 
heit, sondern:  Christus,  Taufe  usw.  Wäre  ihnen  Christus  nicht 
ein  so  guter  Mann  gewesen  —  (s.  Nathan).  ^^) 

Sokrates  hatte  Schüler  von  allerlei  An,  oder  vielmehr  er  hatte 
keine;  er  war  nur  Lehrer  und  Meister,  wie  es  jeder  durch  sein 
Beispiel  der  Rechtschaffenheit  und  durch  vorzügliche  Vernunft 
sich  auszeichnende  Mann  für  jeden  ist,  wenn  man  ihn  schon  nicht 
vom  Katheder  oder  von  einem  Berg  herunter  predigen  hört.  Wie 
hätte  es  überhaupt  einem  Sokrates  in  Griechenland  einfallen  sol- 
len, zu  predigen?  Er  ging  darauf  aus,  die  Menschen  zu  belehren, 
über  das,  was  ihr  höchstes  Interesse  erwecken  soll,  aufzuklären  und 
dafür  zu  beleben.  Er  ließ  sich  für  seine  Weisheit  nicht  bezahlen; 
er  jagte  ihr  zuliebe  sein  unfreundliches  Weib  nicht  aus  dem  Hause, 
daß  er  nichts  mit  ihr  hätte  zu  schaffen  haben  wollen,  sondern  blieb 
ohne  Widerwillen,  seiner  Weisheit  unbeschadet,  in  den  Verhält- 
nissen als  Mann,  als  Vater. 


ANMERKUNGEN 

des  Herausgebers 

^    S.  28.    Vgl.  Iphig.  auf  Tauris  V,  3: 

Es  hört  sie  jeder, 
Geboren  unter  jedem  Himmel,  dem 
Des  Lebens  Quelle  durch  den  Busen  rein 
Und  ungehindert  fließt. 
^    S.  72.    «Memorabilien,  eine  philosophisch -theologische  Zeit- 
schrift der  Geschichte  und  Philosophie  der  Religionen,  dem 
Bibelstudium  und  der  morgenländischen  Literatur  gewidmet», 
herausgegeben  von  H.  E.  G.  Paulus,  Bd.  I,  erstes,  zweites  und 
drittes  Stück,  Leipzig,  1791 ;  Bd.  II,  viertes,  fünftes  und  sechstes 
Stück,  1793  ;  Bd.  III,  siebentes  und  achtes  Stück,  1795.    Vgl.: 
H.  E.  G.  Paulus  und  seine  Zeit,  von  K.  A.  Freiherrn  von  Reich- 
lin-Meldegg,  Stuttgart  1853,  2.  Bd.,  erster  Band  S.  184 — 189. 
Der  betreffende  Aufsatz  (von  Paulus  selbst)  führt  den  Titel: 
Antiquarisches  Problem  über  das  Annageln  der  Füße  bei  Ge- 
kreuzigten (4.  Stück,  S.  36 — 65). 
^    S.  83.    Hier  ist  im  Manuskript  ein  Blättchen  eingefügt,  welches 
folgende  Auszüge  aus  der  Ilias  enthält: 

Fatum. 
IL  B.  830—834. 

Töv  ■^px'  'AdpTjoTÖs  TS  xal  'Aiicpios  XtvoO-cöpYj^, 
ufs  80(1)  Msponog  Ilepxcoaioü,  og  nspl  uävxwv 
■qb&e  liavToauvag,  ou8h  oug  TiaiSos  laaxsv 
azslyzi^  ic,  uöXsiiov  cp^-toT^vopa  •  X(b  Ss  ol  oöxi 
netO-daö-irjv  •  Kfipsq  yäp  S.yo'v  (xsXavos  d'aväxoto. 

B.  858—860. 

Muawv  öe  Xpöiitg  -^pxs  xal  'Ewonog  olcüvioxi^s' 
dXX'  oüx  olcovolatv  ipüaaaxo  K^pa  [isXaivav, 
dXX'  sSajirj  ut:ö  x^P^^  t^oScüxsoi;  AlaxtSao. 

C.  loi— 102. 

'Huscüv  S'ÖTiTtoxdptp  O-avaxog  xac  [lolpa  xexuxxat, 
xsö-vaiT). 

C.  165 — 166. 

Ouxi  |Jioi  alxtT)  iaai,  9-sod  vü  |jLOt  ai'xio!  siaiv, 
ol  p.01  icpojpiATjaav  toXeiiov  noXüSaxpuv  'AxaiMv. 


2o6  ANMERKUNGEN 


C.  308 — 309. 

Zsü;  [iiv  Tzou  t6  yz  ol5&  xai  äO-ävotTO'.  d'Eoi  äXXot, 
ÖTCrtoxiptp  S-avctToto  teXo;  TzenpwiJiivov  eaxiv. 

D.  406 — 409. 

Utielg  xal  9T,ßrj?  I5o?;  EÜXojiev  kTiza.Tii}Xoio, 
:iaupdT£pov  Xaöv  äyaY'^''^'  ^^^  "^sly^^S  "Apsiov, 
Ttsid-d^ievo'.  -cepäeoai  ^smv  xai  Zyjvö?  dpcüy^- 
xelvGi  Se  acpeTdpTjoiv  dTaaS-aXiijotv  SXovto. 

E.  62 — 64. 

°0j  xai  'AXe^ivSpü)  Texnr^vaTO  vf^a;  itoog 
dpxexäxoug,  a?  :iao'.  xaxöv  Tpusooi  y^^o^'^°) 
ot  x'auTcp,  ijiei  oüv.  O-eöv  Ix  0-sacpaxa  ^5yj. 

S.  92.  Vgl.  Kant,  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der 
bloßen  Vernunft,  1793,  viertes  Stück,  zweiter  Teil,  §  3  «Von 
einem  tungusischen  Schaman,  bis  zu  dem  Kirche  und  Staat 
zugleich  regierenden  europäischen  Prälaten,  oder  (wollen  wir 
statt  der  Häupter  und  Anführer  nur  auf  die  Glaubensanhänger 
nach  ihrer  eignen  Vorstellungsart  sehen),  zwischen  dem  ganz 
sinnlichen  Mogulitzen  [Ausgabe  1794:  Wogulitzen],  der  die 
Tatze  von  einem  Bärenfell  sich  des  Morgens  auf  sein  Haupt 
legt,  mit  dem  kurzen  Gebet:  «Schlag  mich  nicht  tot!»  bis  zum 
sublimierten  Puritaner  und  Independenten  in  Konnecticut  ist 
zwar  ein  mächtiger  Abstand  in  der  Manier,  aber  nicht  im 
Prinzip  zu  glauben ;  denn,  was  dieses  betrifft,  so  gehören  sie 
insgesamt  zu  einer  und  derselben  Klasse,  derer  nämlich,  die  in 
dem,  was  an  sich  keinen  bessern  Menschen  ausmacht  (im 
Glauben  statutarischer  Sätze,  oder  Begehen  gewisser  willkür- 
licher Observanzen)  ihren  Gottesdienst  setzen.» 
S.  94.  Vgl.  Kant,  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  i.  Teil, 
I.  Buch,  drittes  Hauptstück:  «Es  ist  sehr  schön,  aus  Liebe  zu 
Menschen  und  teilnehmendem  Wohlwollen  ihnen  Gutes  zu 
tun,  aber  das  ist  noch  nicht  die  echte  moralische  Maxime 
unseres  Verhaltens,  die  unserm  Standpunkte,  unter  vernünf- 
tigen Wesen,  als  Menschen  angemessen  ist,  wenn  wir  uns  an- 
maßen, gleichsam  als  Volontäre,  uns  mit  stolzer  Einbildung 
über  den  Gedanken  von  Pflicht  wegzusetzen,  und,  als  vom 
Gebote  unabhängig,  bloß  aus  eigener  Lust  das  tun  zu  wollen, 
wozu  für  uns  kein  Gebot  nötig  wäre.    Wir  sind  zwar  gesetz- 


ANMERKUNGEN  207 


gebende  Glieder  eines  durch  Freiheit  möglichen,  durch  prak- 
tische Vernunft  uns  zur  Achtung  vorgestellten  Reichs  der 
Sitten,  aber  doch  zugleich  Untertanen,  nicht  das  Oberhaupt 
desselben.  Hiermit  stimmt  aber  die  Möglichkeit  eines  solchen 
Gebots,  als:  Liebe  Gott  über  alles  und  deinen  Nächsten  als 
dich  selbst,  ganz  wohl  zusammen.  Denn  es  fordert  doch,  als 
Gebot,  Achtung  für  ein  Gesetz,  das  Liebe  befiehlt,  und  über- 
läßt es  nicht  der  beliebigen  Wahl,  sich  diese  zum  Prinzip  zu 
machen.  Aber  Liebe  zu  Gott  als  Neigung  (pathologische  Liebe) 
ist  unmöglich;  denn  er  ist  kein  Gegenstand  der  Sinne.  Eben 
dieselbe  gegen  Menschen  ist  zwar  möglich,  kann  aber  nicht 
geboten  werden ;  denn  es  steht  in  keines  Menschen  Vermögen, 
jemanden  bloß  auf  Befehl  zu  lieben.  Also  ist  es  bloß  die  prak- 
tische Liebe,  die  in  jenem  Kern  aller  Gesetze  verstanden  wird. 
Gott  lieben,  heißt  in  dieser  Bedeutung,  seine  Gebote  gerne  tun ; 
den  Nächsten  lieben,  heißt,  alle  Pflicht  gegen  ihn  gerne  aus- 
üben. Das  Gebot  aber,  das  dieses  zur  Regel  macht,  kann  auch 
nicht  diese  Gesinnung  in  pflichtmäßigen  Handlungen  zu  haben, 
sondern  bloß  danach  zu  streben  gebieten.  Denn  ein  Gebot, 
daß  man  etwas  gerne  tun  soll,  ist  in  sich  widersprechend,  weil, 
wenn  wir,  was  uns  zu  tun  obliege,  schon  von  selbst  wissen, 
wenn  wir  uns  überdem  auch  bewußt  wären,  es  gerne  zu  tun, 
ein  Gebot  darüber  ganz  unnötig,  und,  tun  wir  es  zwar,  aber 
eben  nicht  gerne,  sondern  nur  aus  Achtung  fürs  Gesetz,  ein 
Gebot,  welches  diese  Achtung  eben  zur  Triebfeder  der  Maxime 
macht,  gerade  der  gebotenen  Gesinnung  zuwider  wirken  würde. 
Jenes  Gesetz  aller  Gesetze  stellt  also,  wie  alle  moralische  Vor- 
schrift des  Evangelii,  die  sittliche  Gesinnung  in  ihrer  ganzen 
Vollkommenheit  dar,  so  wie  sie  als  ein  Ideal  der  Heiligkeit 
von  keinem  Geschöpfe  erreichbar,  dennoch  das  Urbild  ist, 
welchem  wir  uns  zu  nähern,  und  in  einem  ununterbrochenen, 
aber  unendlichen  Progressus  gleich  zu  werden  streben  sollen. 
Könnte  nämlich  ein  vernünftig  Geschöpf  jemals  dahin  kommen, 
alle  moralische  Gesetze  vöUig  gerne  zu  tun,  so  würde  das  so- 
viel bedeuten,  als,  es  fände  sich  in  ihm  auch  nicht  einmal  die 
Möglichkeit  einer  Begierde,  die  es  zur  Abweichung  von  ihnen 
reizte;  denn  die  Überwindung  einer  solchen  kostet  dem  Sub- 


2o8  ANMERKUNGEN 


jekt  immer  Aufopferung,  bedarf  also  Selbstzwang,  d.  h.  innere 

Nötigung  zu  dem,  was  man  nicht  ganz  gern  tut.    Zu  dieser 

Stufe  der  moralischen  Gesinnung  aber  kann  es  ein  Geschöpf 

niemals  bringen.» 

S.  104.    Vgl.  Romeo  und  Julia,  II,  2. 

Julia:  My  bounty  is  as  boundless  as  the  sea, 

My  love  as  deep :  the  more  I  give  to  thee, 
The  more  I  have,  for  both  are  infinite. 

S.  173.    Alle  folgenden  Bruchstücke  gehören  dem  11.  Bande 

des  Nachlasses  an  (Theologica  1793 — ^79^)- 

S.  176.    Von  Haym  schon   mitgeteilt  (Hegel  und  seine  Zeit 

S.  473—474)- 

S.  184.    Vgl.  Matth.  XIX,  8.    Asys*.  aOTors  •  Sti  Mwüj^s  ^^p^s  '"i"' 

jxXr^poxapSiav  üfimv  lusxps'4'ev  u[ilv  dT^oXOaa'.  läc;  y'J^*^^*?  jjiwv. 

S.  204.    Vgl.  Nathan  II,  i. 

Sittah: 

Du  kennst  die  Christen  nicht,  willst  sie  nicht  kennen. 
Ihr  Stolz  ist:  Christen  sein,  nicht  Menschen.    Denn 
Selbst  das,  was,  noch  von  ihrem  Stifter  her, 
Mit  Menschlichkeit  den  Aberglauben  würzt. 
Das  lieben  sie,  nicht  weil  es  menschlich  ist: 
Weil's  Christus  lehrt,  weil's  Christus  hat  getan. 
Wohl  ihnen,  daß  er  ein  so  guter  Mensch 
Noch  war!    Wohl  ihnen,  daß  sie  seine  Tugend 
Auf  Treu'  und  Glauben  nehmen  können. 


10 


INHALT 

Vorwort S.      V 

Einleitung S.   VII 

Das  Leben  Jesu S.        i 

Theologische  Fragmente S.75 

Das  Judentum.  Auftreten  Jesu.  Jesus  bekämpft  die  objektiven 
Gesetze  der  Juden.    Versöhnung  des  Schicksals  und  Oifen- 

barung  des  Götthchen  durch  die  Liebe S.     75 

Aufhebung  der  objektiven  Gebote  durch  die  Gesinnung.  Ver- 
vollständigung der  Gesinnung  durch  die  Liebe  .     .     .  S.     83 
Verhalten  Jesu  gegen  die  Objektivität  der  jüdischen  Gesetze. 
Schrankenlosigkeit  der  Liebe.   Das  Abendmahl  eine  Hand- 
lung der  Liebe S.     86 

Vereinigung  aller  Gegensätze  in  der  Liebe.  Die  Liebe  als 
Verzicht  auf  Individualität.   Die  Scham  eine  Wirkung  der 

Liebe.    Gütergemeinschaft S.   100 

Historische  Entwickelung  des  Judentums.  Knechtschaft  der 
Juden.  Jesus  isoliert  sich  von  seinem  Volk.  Sein  nega- 
tives Verhältnis  zur  Welt.  Vereinigung  der  Gemeine  im 
Glauben  an  Jesum.  Darstellung  der  Liebe  in  objektiver 
Form.  Entwickelung  der  Liebe  zur  Objektivität  der  Re- 
ligion. Vergötterung  des  auferstandenen  Jesus.  Beigesel- 
lung des  Götthchen  und  des  Wirklichen.  Anbetung  auch 
des  Ungöttlichen.  Das  Wunder.  Gegensatz  der  christ- 
lichen Religion  und  des  Lebens S.   106 

Der  Gottes-  und  Menschensohn.  Vereinigung  der  Menschen 
mit  Gott  im  Glauben.  Die  Taufe.  Das  Königreich  Gottes 
ein  Reich  der  Liebe.  Die  Gemeine  der  Jünger.  Be- 
schränkung ihrer  Liebe  auf  gemeinschaftlichen  Glauben 
und  gemeinschaftliche  religiöse  Handlungen.  Abwendung 
der  Gemeine  von  gewöhnlichen  Lebensformen  .     .     .  S.   124 

Das  Schicksal  und  seine  Versöhnung        S.   144 

Jesus  isoliert  sich  von  seinem  Volke.  Hilflosigkeit  seiner 
Jünger  nach  seinem  Tode.   Ihre  Einigkeit  in  der  Anbetung 

des  Auferstandenen  wieder  dargestellt S.   159 

Moral  Jesu ;  die  Bergpredigt.    Religion ;  Einigkeit  der  Men- 


210        INHALT 

sehen  im  Anschauen  Gottes.    Geschichte;  das  Verhähnis 
Jesu  zur  Welt;  Ausbreitung  seiner  Lehre;  Parabeln     .   S.   164 
Moral  Jesu.    Heuchelei  der  Pharisäer.    Beten  und  Fasten, 
Verachtung    der  Reichtümer    usw.     Gesetzlosigkeit   der 

Liebe S.   169 

Das  Schicksal  und  seine  Versöhnung.  Das  Judentum.  Wieder- 
herstellung schöner  Harmonie  durch  die  Liebe  und  die 
Vergebung  der  Sünden.  Aufhebung  aller  Einseitigkeiten 
der  einzelnen  Tugenden  durch  die  Liebe.  Ergänzung  der 
Gesetze  und  Pflichtgebote.  Wegfall  aller  Bestimmtheiten 
im  Glauben.    Das  Göttliche  als  reines  Leben.    Der  Gottes- 

und  Menschensohn.    Der  heilige  Geist S.   173 

Verhältnis  Jesu  zur  Welt.    Haß  gegen  ihn S.   191 

Knechtschaft  der  Juden.  Moral  Jesu.  Reich  Gottes.  Ver- 
vollständigung der  Gesetzlichkeit  durch  die  Gesinnung. 
Steigende  Erbitterung  Jesu  gegen  seine  Zeit.  Religion  das 
Komplement  der  Liebe.    Einheit  der  menschUchen  und 

der  götthchen  Natur S.   194 

Die  Apostel.    Verhältnis  des  Sokrates  zu  seinen  Schülern  S.  203 
Anmerkungen S.  205 


DRUCK  VON  DER  OFFIZIN   F.  A.  LATTMANN  IN  GOSLAR 


ADDENDA  ET  CORRIGENDA 

S.  13  Z.  5  V.  u.  lies:  Schönheit, 

S.  15  Z.  20  V.  o.  [Die  allgemeine  Regel  der  Klugheit  ist:  «Was 
ihr  wollet,  daß  es  euch  die  Leute  tun  sollen,  das  tut  ihr  ihnen 
auch»,  die  Regel  der  Sittlichkeit:]  «Was  ihr  wollen  könnet  usw. 

S.  22  Z.  II  V.  o.  lies:  wem  aber 

S.  22  Z.  8  V.  u.  lies:  Früchte  trägt. 

S.  22  Z.  4  V.  u.  lies:  kam  sein  Feind 

S.  32  Z.  6  V.  o.  Hes:  bis  auf  siebzigmal  siebenmal. 

S.  34  Z.  IG  V.  o.  lies:  bestimmt  zu  verstehen  haben. 

S.  38  Z.  5  V.  o.  lies:  an  hergebrachte  Meinungen  und  Gebräuche 

S.  39  Z.  8  V.  o.  lies:  Baum; 

S.  43  Z.  IG  V.  u.  lies:  den  einen, 

S.  53  Z.  16  V.  u.  lies:  In  Beziehung  hierauf 

S.  54  Z.  I  V.  o.  lies:  der  Regenten 

S.  64  Z.  8  V.  o.  lies:  Du 

S.  72  Anm.  lies:  ^). 

S.  73  Anm.  lies:  A.q(uv  «cps-::  tStoiuv 

S.  82  Z.  14  V.  u.  lies:  stellet. 

S.  83  Z.  5  V.  o.  lies:  uuo 

S.  83  Z.  6  V.  o.  lies:  lyzw oti 

S.  86  Z.  IG  V.  u.  und  reine  Entgegensetzung,  offener  Krieg  ent- 
steht, 

S.  86  Z.  6  V.  u.  sich  von  seinen  Wellen  ohne  Bewußtsein  fort- 
tragen zu  lassen, 

S.  93  Z.  17  V.  u.  lies:  ja,  ja,  nein,  nein; 

S.  105  Z.  1 1  V.  o.  lies:  das  das  andere 

S.  III  Z.  9  V.  o.  lies:  rücksichtslosesten 

S.  III  Z.  12  V.  u.  lies:  isolierte 

S.  112  Z.  18  V.  u.  lies:  Zerrüttung 

S.  125  Z.  13  V.  o.  Das  Einzelne,  Beschränkte,  als  Entgegengesetz- 
tes, Totes,  ist  zugleich  ein  Zweig  des  unendlichen  Lebensbaumes; 
jeder  Teil  usw. 

S.  1 3  5  Z.  1 5  V.  o.  mit  dem  ihr  nichts  gemein  habet  und  mit  wem 
ihr  die  Gemeinschaft  aufhebet;  was  ihr  usw. 


EUGEN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

HEGELS  RELIGIONSPHILOSOPHIE.  In  gekürzter  Form,  mit 
Einführung,  Anmerkungen  und  Erläuterungen  herausgegeben 
von  Arthur  Drews.    Brosch.  Mk.  13. — ,  geb.  Mk.  15. — 

Monatsschrift  für 'kirchliche  Praxis:  Drews  g^ibt  den 
Text  in  verkürzter  Form,  wozu  ihn  schon  die  Eigenart  dieser 
Schrift  Hegels  als  eines  Nachlasses  und  von  H.  nicht  selbst  de- 
finitiv redigierten  Werkes  berechtigt.  Anmerkungen  und  zum  Teil 
kritische  Erläuterungen  sind  hinzugefügt.  Eingeleitet  wird  die  Aus- 
gabe durch  eine  Skizze  über  den  Entwicklungsgang  der  neueren 
Philosophie,  die  in  eine  Charakteristik  des  Systems  H.s  mit  besonderer 
Berücksichtigung  seines  allmählichen  Werdens  ausmündet.  Drews 
erwartet,  ohne  sich  mit  H.s  Auffassung  von  der  Religion  und  Philo- 
sophie zu  identifizieren,  doch  vom  Anschluß  an  den  ideaHstischen  Mo- 
nismus H.s  die  Gewinnung  einer  aus  unserem  eigenen  (germanischen) 
Geist  herausgeborenenr.  Religion,  die  die  fremdrassigen  Elemente  des 
Christentums  sieghaft  abstößt.  H.  konnte  diese  ihm  ursprünglich  vor- 
schwebende Aufgabe  nicht  lösen,  weil  er  allzu  nachgiebig  gegen  die 
kirchliche  Religion  war.  So  vermittelt  diese  Ausgabe  nicht  bloß  die 
Bekanntschaft  mit  H.s  Religionsphilosophie,  sie  lehrt  auch  einen  \"er- 
such  zur  Weiterbildung  der  Religion  oder  \''ersöhnung  von  Glauben 
und  Wissen  kennen,  der  auch  die  von  Drews  als  philosophisch  un- 
haltbar charakterisierte  christliche  Theologie  interessiert.         O.  S. 

ARTHUR  DREWS,  DIE  RELIGION  ALS  SELBSTBEWUSST- 
SEIN  GOTTES.  Eine  philosophische  Untersuchung  über  das 
Wesen  der  Religion.  Brosch.  Mk.  12. — ,  in  Halbfranz  ge- 
bunden Mk.  14. — 

Gegenüber  der  modischen  rein  empirischen  und  psychologischen 
Auffassung  der  Religion  faßt  der  bekannte  Hochschulprofessor  in 
Karlsruhe  das  Problem  der  Religion  als  ein  wesentlich  metaphy- 
sisches auf,  gegenüber  dem  Theismus  der  bestehenden  Religionen 
vertritt  er  den  Standpunkt  des  Pantheismus.  Dabei  wendet  sich 
das  Werk  besonders  auch  gegen  die  herrschende  Richtung  der  pro- 
testantischen Theologie,  die,  unter  Verwerfung  des  christlichen  Dog- 
mas, das  gesamte  Christentum  zu  einem  Kultus  der  rein  menschlichen 
Persönlichkeit  Jesu  verdünnen  möchte.  Es  zeigt,  daß  eine  Weiter- 
entwicklung der  Rehgion  und  eine  Gesundung  der  religiösen  Zustände 
nicht  durch  ein  Zurückschrauben  der  bisherigen  Entwicklung  zu  ihrem 
Ausgangspunkt,  wie  Harnack  und  seine  Anhänger  möchten,  sondern 
durch  Fortbildung  der  in  jenen  enthaltenen  Keime  aus  dem  innersten 
Wesen  der  Religion  heraus  möglich  ist. 


UC  SOUTHERN  REGIONAL  LIBRARY  FACILITr 


A     000  647  050     4