IM AUFTRAG DER SOCIETE
DES AMIS DE L'UNIVERSITE
DE PARIS
G.W. F. HEGEL
DAS LEBEN JESU
HARMONIE DER EVANGELIEN
NACH EIGENER ÜBERSETZUNG
NACH DER UNGEDRUCKTEN
HANDSCHRIFT IN UNGEKÜRZTER
FORM HERAUSGEGEBEN VON
PAUL ROQUES
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS JENA 1906
VORWORT
s ist in der letzten Zeit der Wunsch nach einer
ungekürzten Ausgabe der von Rosenkranz nur
imAuszuge mitgeteilten theologischen Fragmente
Hegels (Vgl. Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin
1844, S. 490 — 514) mehrmals laut geworden. In
dem auf der Königl. Bibliothek zu Berlin befind-
lichen Hegeischen Nachlaß nehmen alle theologischen Fragmente
aus Hegels Jugendzeit drei Bände ein. (Bd. 7, Das Leben Jesu,
Harmonie der Evangelien nach eigener Übersetzung, 1794 — 95.
Bd. 8, Verhältnis der Vernunftreligion zur positiven Religion,
1795 — 9^- Bd. II, Theologica, 1793 — 96. Über den Begriff der
Religion, 1800). Wir bringen im vorliegenden Bande einen un-
gekürzten Abdruck des 7. Bandes des Nachlasses. Ferner sind
aus Bd. 1 1 alle Bruchstücke hinzugekommen, die unzweifelhaft
zum Thema des Lebens Jesu gehören. Somit dürften alle auf
die Person Jesu bezüglichen Fragmente, ausgenommen die in
Bd. 8 enthaltenen, zur Herausgabe gelangt sein.
Orthographie und Interpunktion haben wir den modernen
Regeln angepaßt, sonst aber den Urtext genau wiedergegeben. Die
in Kursivschrift stehenden Wörter haben wir zur Ergänzung oder
grammatischen Verbesserung des Manuskripts hinzufügen müssen.
Die von Hegel ausgestrichenen Stellen sind beibehalten worden,
stehen aber in eckigen Klammern. Von Erläuterungen und Ver-
gleichen mit Parallelstellen aus dem übrigen noch ungedruckten
Material haben wir grundsätzlich abgesehen, da erst nach Heraus-
gabe des ganzen Nachlasses an eine erschöpfende Kritik gedacht
werden kann. Ebenso haben wir auf eine kritische Anordnung
der oft nur lose zusammenhängenden Fragmente verzichtet, viel-
mehr dieselben in gleicher Reihenfolge abgedruckt, wie sie im
Manuskript zusammengeheftet sind ; denn eine solche Anordnung
hätte vielleicht willkürlich geschienen und jedenfalls nur unter
Weglassung oder Austrennung von ganzen, schwerlich einzu-
fügenden Stellen zustande gebracht werden können. Bruch-
stücke, Paralipomena liegen uns vor, die doch einmal ohne jede
Veränderung seitens des Herausgebers abgedruckt werden mußten,
VI VORWORT
die aber jedermann nun für sich deuten und anordnen darf. Für
unser Teil haben wir die Lektüre des stellenweise schwerver-
ständlichen Textes durch kurze Inhaltsangabe zu erleichtern ver-
sucht, sowie ein Register aufgestellt. Möge die vorliegende Aus-
gabe des Lebens Jesu dazu beitragen, der Hegeischen Philosophie
zu neuer Anerkennung zu verhelfen und manchen Leser zur
Durchsicht und weiteren Herausgabe des ungedruckt gebliebenen
Hegeischen Nachlasses anregen.
Der Generaldirektion der Königl. Bibliothek zu Berlin, die uns
bereitM'illigst die Erlaubnis zur Durcharbeitung sämtlicher Hand-
schriften und zur Herausgabe des Lebens Jesu erteilte, sprechen
wir unsern Dank aus.
EINLEITUNG
ertvoUe Angaben über das Leben Jesu befinden
sich bei Rosenkranz und Haym, denen der ganze
Nachlaß vorlag, und zwar hat Rosenkranz (Hegels
Leben, 1844, S. 49 — 53) hauptsächlich die Ent-
stehungsgeschichte, Haym (Hegel und seine Zeit,
1857, S. 46 — 53) die philosophische Tendenz
und das psychologische Interesse von Hegels Jugendwerk berück-
sichtigt. Keiner der folgenden Biographen aber hat Einsicht in
die Manuskripte genommen. Am gründlichsten haben Caird
(1883), K.Fischer (190 1) und Drews (Hegels Religionsphilosophie,
Diederichs Verlag, 1905, Historische Einführung S. XL — XLVII)
das schon vorhandene Material verwertet.
Im Herbst 1793 verließ Hegel nach bestandenem Kandidaten-
examen das Tübinger Stift, weilte einige Wochen in seiner Vater-
stadt Stuttgart und nahm darauf eine Hauslehrerstelle bei einem
Berner Patrizier, Herrn Steiger von Tschugg, an, die er bis Ende
1796 bekleidete. Aus den damals von Hegel an Schelling ge-
schriebenen Briefen geht hervor, daß Hegel von seinem Amt in
Bern sehr in Anspruch genommen war. «Ganz müßig bin ich
nicht, aber meine zu heterogene und oft unterbrochene Be-
schäftigung läßt mich zu nichts Rechtem kommen» (an Schelling,
24. Dez. 1794; vgl. Briefe von und an Hegel, herausg. von Karl
Hegel, 1887. S. 7). Dazu kam der Mangel an Lektüre in Bern
selbst und noch mehr auf dem Lande, denn im Frühling und
Sommer wohnte die Familie des Herrn Steiger aufschloß Tschugg,
in der Vogtei Erlach, am Bieler See gelegen. «Meine Entfernung
von allen Büchern», so klagt Hegel, «und die Eingeschränktheit
meiner Zeit erlauben mir nicht, manche Idee auszuführen, die ich
mit mir herumtrage» (Jan. 1795 ; vgl. Briefe, S. 12). Daraus erklärt
sich die bruchstückartige Form der Notizen, die Hegel in dieser
Zeit niederschrieb, und die teils das Wesen der Religion und die
Möglichkeit einer Volksreligion, teils die christliche Lehre und die
Person Jesu zum Gegenstande haben (Nachlaß, Bd. 7 und 11). Erst
nachdem mehrere von diesen Fragmenten aufgezeichnet waren,
schrieb Hegel im Frühjahr 1795 das eigentUche «Leben Jesu» nieder.
VIII EINLEITUNG
Nicht spurlos war die Aufklärung an Hegel vorübergegangen.
Er war der kirchlichen Dogmatik, dem dumpfen Beharren «im
System des Schlendrians> höchst abgeneigt (vgl. Brief an SchelUng,
Jan. 179 5) und bewegte sich ganz in Lessingschen Anschauungen,
als er folgende Einleitung zu einer unausgeführt gebliebenen Dar-
stellung der christlichen Religion schrieb: «In bezug auf die Sache
selbst wird hier bemerkt, daß überall der Grundsatz zum Fun-
dament aller Urteile über die verschiedene Gestalt, Modifikationen
und Geist der christlichen Religion gelegt worden sei, daß der
Zweck und das Wesen aller wahren Religion und auch unserer
Religion Moralität des Menschen sei und daß alle speziellen Lehren
des Christentums, alle Mittel dieselben auszubreiten, alle Pflichten
zu meinen und sonst an sich willkürliche Handlungen zu beob-
achten, nach ihrer näheren oder entfernteren Verbindung mit
jenem Zweck in Ansehung ihres Wertes und ihrer Heiligkeit ge-
schätzt werden» (Nachlaß Bd. 11). Im subjektiven Gefühl schien
ihm der Hauptwert der Religion zu liegen : «Inwiefern ist Religion
zu schätzen.^ Als subjektive oder als objektive? In Ansehung der
Empfindung vorzüglich? Die objektive ist vielmehr Theologie.
— Auf subjektive Religion kommt alles an. Diese hat eigentlich
wahren Wert. Die Theologen mögen sich über die Dogmen,
über das, was zur objektiven Religion gehört, über die näheren
Bestimmungen dieser Sätze streiten; jeder Religion liegen einige
wenige Fundamentalsätze zugrunde, die nun in den verschiedenen
Religionen mehr oder minder modifiziert, verunstaltet, mehr oder
weniger rein dargestellt sind, die den Grund allen Glaubens, aller
Hoffnungen ausmachen, welche die Religion uns an die Hand
gibt. Wenn ich von Religion spreche, so abstrahiere ich schlechter-
dings von aller wissenschaftlichen oder vielmehr metaphysischen
Erkenntnis Gottes, unseres und der ganzen Welt Verhältnisses
zu ihm, usw. Eine solche Erkenntnis bei der sich bloß der räso-
nierende Verstand beschäftigt, ist Theologie, nicht mehr Religion.
Von objektiver ReUgion spreche ich nur insofern, als sie einen
Bestandteil der subjektiven ausmacht» (Bd. 11). Selbst im Jahre
1796, als der Sinn fürs historisch Festgesetzte in ihm lebendig
wurde, ließ er zwar der positiven Religion in der Abhandlung :
«Über das Verhältnis der Vernunftreligion zur positiven Religion»
EINLEITUNG IX
(Nachlaß, Bd. 8) gewissermaßen Recht widerfahren, aber er be-
tonte nicht sowohl ihren dogmatischen als ihren psychologischen
Wert; er erklärte sie aus menschlichen Herzensbedürfnissen und
fand sie nur als Volksreligion berechtigt. Er war jedem Dogma-
tismus so sehr abgeneigt, daß er auch den aus der Aufklärung
entsprungenen bekämpfte, nämlich die Tendenz des Kantischen
Moralismus wieder in Dogmatismus umzuschlagen; die Ethiko-
theologie schien ihm wieder zur Physikotheologie hinüberzu-
leiten: «Zu dem Unfug, wovon Du schreibst, hat unstreitig Fichte
durch seine Kritik der Offenbarung Tür und Angel geöffnet; er
selbst hat mäßigen Gebrauch davon gemacht, aber wenn seine
Grundsätze einmal fest angenommen sind, so ist der theologischen
Logik kein Ziel und Damm mehr zu setzen. Er räsoniert aus
der Heiligkeit Gottes, was er vermöge seiner moralischen Natur
tun müsse und solle und hat dadurch ^die alte Manier, in der
Dogmatik zu beweisen, wiedereingeführt» (an Schelling, Jan.1795,
Briefe, S. 11).
Damit aber war Hegel über die Aufklärung hinaus. Die Auf-
klärung trug noch viel Verstandesmäßiges, Positives in sich, viel
moralische Wertmaßstäbe und Nutzanwendungen ; Hegels Stand-
punkt aber war nicht der der diskursiven, sondern der intuitiven
Erkenntnis. Dies erhellt z. B. in seinem «Leben Jesu» aus seiner
Besprechung des Eingangs des Johannesevangeliums, wo es heißt:
«Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott
war der Logos»; aber diese Sätze, meint Hegel, sind nicht als
gewöhnliche Urteile aufzufassen, in welchen einem Subjekt ein
Prädikat hinzugefügt wird; Prädikat und Subjekt sind ein und
dasselbe, ein Seiendes, Lebendiges, denn jedes über Göttliches in
Form der Reflexion Ausgedrückte wäre widersinnig. Desgleichen
ist das Verhältnis Gottes zur Welt kein toter Zusammenhang,
keine Entgegensetzung des Vernünftigen gegen das Sinnliche,
sondern eine Verbindung, die wahrhaft nur als lebendiger Zu-
sammenhang genommen und bei welcher von den Verhältnissen
der Bezogenen nur mystisch gesprochen werden kann. Daher
durfte sich Jesus als Sohn Gottes bezeichnen ; dies Verhältnis des
Sohnes zum Vater ist nicht bloße Vereinigung im Begriffe, sondern
lebendige Beziehung Lebendiger, gleiches Leben, nur Modifika-
X EINLEITUNG
tionen desselben Wesens; Gottes Sohn ist dasselbe Wesen, das
der Vater ist, zwar für jeden Akt der Reflexion, jedoch auch nur
für einen solchen ein Besonderes. Im selben Sinn leugnete Hegel
das Wunder. Er versuchte nicht, es durch verstandesmäßige
Reflexion, etwa als von den Jüngern Jesu nicht verstandene Natur-
erscheinungen hinzustellen ; er leugnete es einfach deshalb, weil es
der Vernunft widerstreite. Im Wunder als einzelnem Gescheh-
nisse, meinte er, könne sich unmöglich das Göttliche off"enbaren,
denn Göttliches sei nicht Geschehendes, sondern Allgemeinseien-
des; es heiße die Vernunft herabwürdigen, wenn man die Wunder
exegetisch zu erklären versuche, denn man tue schon dadurch,
daß man mit den Wunderverteidigern auf das Feld des Verstandes
heruntersteige, der Autonomie der Vernunft Abbruch: «Denn,
wenn man auch schon von jedem einzelnen Wunder zeigen könnte,
daß es sich natürlich erklären lasse, so hat man dem Verteidiger
schon zu viel eingeräumt. Auf die Führung des Streites vor den
Richterstuhl des Verstandes sich einzulassen, beweist schon, daß
uns die Erzählung von Wunderbegebenheiten stutzig gemacht
hat, daß wir es nicht allein vom Standpunkt der Vernunft aus
wagen, sie von der Hand zu weisen, sondern daß die Tatsachen,
die man uns als Wunder ausgibt, fähig sein könnten, jene Selb-
ständigkeit der Vernunft umzustoßen» (Vgl. Rosenkranz, S. 511).
Dieselbe Neigung Hegels nur nach dem Ganzen hinzustreben,
das Einige, Lebendige hervorzukehren, macht sich auch in seinem
Wegwerfen jeder positiven Moral, jeder Sittenrichterei, ja selbst
des Kantischen Imperativs geltend. Moralprinzipien sind für den
Menschen ein Fremdes, Äußerliches, ein Entgegensetzen des Sein-
sollenden und der Natur. Am Kantischen Sittlichkeitsbegriffe
hielt doch Hegel insofern fest, als er dem Menschen das Bewußt-
sein seines absoluten Wertes, seiner Gottähnlichkeit verschaffe.
«Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung er-
warte ich eine Revolution in Deutschland. Man wird schwindeln
bei dieser höchsten Höhe, wodurch der Mensch so sehr gehoben
wird; aber warum ist man so spät daraufgekommen, die Würde
des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit
anzuerkennen, das ihn in die gleiche Ordnung der Geister setzt?»
(An Schelling, 16. April 1795. Briefe, S. 15).
EINLEITUNG XI
Aus jenem fortwährenden Betonen des Vernünftigen und jenem
Vertrauen auf die Allmacht des menschUchen Geistes läßt sich
erkennen, daß Hegel sich schon damals über das Grundproblem
seiner spätem Philosophie, nämlich das Wirklichwerden von
Vernunft und Freiheit durch Überwindung aller beschränkenden
Bestimmungen klar geworden war. Aber er hatte noch nicht die
ganze spekulative Kraft seines späteren Denkens erreicht; daher
hat die Art, wie er jetzt die das menschliche Denken und Wirken
hemmenden Schranken aufzuheben versuchte, noch wenig von
der späteren Dialektik an sich. Vielmehr hat sein Philosophieren
einen starken Zug ins Mystisch-poetische ; seine Weltanschauung
ist eine überwiegend ästhetische; ist doch Schönheit, wie Ver-
nunft, Versöhnung der Gegensätze, Offenbarung des Absoluten.
Am tiefsten ist Hegel damals von Dichtern beeinflußt worden.
Schiller, den er eifrig las, hatte eben durch seinen ästhetischen
Idealismus die Gegensätze überwunden, bei denen Kant stehen
geblieben war; er hatte im Ideal der «schönen Seele» Sinnlich-
keit und Sittlichkeit, Neigung und Pflicht, Notwendigkeit und
Freiheit, Natur und Geist versöhnt. Hölderlin, mit dem Hegel
sich auf dem Tübinger Stift befreundet hatte, begeisterte ihn für
die Schönheit der griechischen Welt; unzweifelhaft schwebte
Hegel das Griechentum vor, als er von jeder positiven Religion
eine lebendige Harmonie von Kirche und Staat, ein schönes Ver-
hältnis des Gottesdienstes und der übrigen Lebensformen, sowie
Befriedigung des Gemüts und der Phantasie in den Grenzen ver-
nünftigen Glaubens verlangte (Nachlaß, Bd. ii). Mit Schelling
endlich, den er ebenfalls auf dem Stifte kennen lernte, hatte er
das Bedürfnis nach Totalität, nach Auflösung aller Gegensätze in
unmittelbarer Einheit gemein; bekanntlich hörte er erst ums Jahr
1803 ^uf, der SchelHngschen Identitätsphilosophie zu huldigen
und versuchte, nicht durch mystische Anschauung des Absoluten,
sondern durch schrittweise durchgeführte Dialektik zur Idee vor-
zudringen.
So mischen sich in Hegels damaliger Bildung der Rationalis-
mus der Aufklärung, ästhetische Weltanschauung und über-
schwengHche Mystik. Alles dies tritt in den vorliegenden Frag-
menten deutlich hervor. Unter denselben nimmt das eigentliche
XII EINLEITUNG
Leben Jesu eine eigene Stelle ein. Kein Bruchstück ist es, sondern
ein vollständiges Manuskript in Reinschriftform. Obgleich Hegels
Anlage zum Erzählen gering war, bequemte er sich doch, das rein
Faktische des Lebens Jesu vorzutragen, ohne dasselbe begrifflich
zu deuten. Die schlichte Erzählung macht eben deswegen einen
starken Eindruck, weil Hegel völlig unbefangen die Geschichte
Jesu erzählt. Ihm war Jesus ein bloßer Mensch, dem zwar das Gött-
liche rein zum Bewußtsein gekommen war, der aber als Mensch
lebte und starb. Von den Wundern sah Hegel gänzlich ab, legte
aber das Gewicht auf das Predigen Jesu. Er stellte keinen exege-
tischen Vergleich der Evangelien an, da ihm wenig am geschicht-
lichen Detail lag und er das kirchlich-dogmatische Interesse des
Neuen Testaments nicht ins Auge fassen wollte. Nie erregt er
durch persönliche Bemerkungen Anstoß; die Erzählung schreitet
ruhig vorwärts; in voller Wirkhchkeit erscheint der Mensch Jesus,
wie er mitten unter den Juden lebte und webte. Einfach realistisch
ist die Darstellung. Nach der Harmonie der Evangelien faßte
Hegel die Hauptereignisse des Lebens Jesu und die Hauptzüge
seiner Lehre zusammen, als wäre Jesus ein Sokrates gewesen.
Auch hier schwebten ihm in der Tat griechische Ideale vor:
nicht als Erlöser der leidenden Menschheit im Sinne des Christen-
tums, sondern als Philosoph und Held wird Jesus hingestellt.
Die Fragmente zerfallen in folgende Teile: i. Moral Jesu, (seine
neue Beurteilung menschlicher Werte, Liebe, Versöhnlichkeit).
2. Religion, (Reich Gottes, die Taufe, der Mensch als Sohn Gottes).
3. Geschichte, (Verhältnis Jesu zum Judentum, Ausbreitung seiner
Lehre). Meistenteils sind die auf Moral und Religion bezüglichen
Fragmente kaum als ein Kommentar zum Leben Jesu zu betrachten.
Das Neue Testament gab Hegel nur den Anstoß zur Darlegung
eigner Anschauungen allgemeinphilosophischen Inhalts. Hegels
Tendenz, das Faktische zu logisieren, tritt deutlich in die Er-
scheinung. Es war ihm hauptsächlich darum zu tun, den Text
der EvangeUen gedankenmäßig zu verarbeiten. An der Lebens-
geschichte und Lehre Christi entwickelt er Begriffe, und zwar
überhaupt solche, in die das Element der Empfindung und mysti-
scher Anschauung hineinspielt, als da sind die der Liebe, des un-
entzweiten Lebens, der Vereinigung mit Gott im Glauben usw.
EINLEITUNG XIII
Der Inhalt jener Fragmente mag in logischer Anordnung folgen-
dermaßen dargelegt werden.
Von einem Zustand absoluter Entgegensetzung und Zerrissen-
heit ausgehend, versucht Hegel den Weg zum Zustand völliger
Einheit und Harmonie zu zeigen. Bei jeder Zerreißung natür-
licher Bande trete unausbleiblich dem Menschen das verletzte
Leben als Schicksal entgegen, eine feindliche Macht, die es zu
versöhnen gelte. Ais solche trete zuerst das Gesetz auf, das durch
die Strafe befriedigt werde. Aber das Gesetz sei nur eine Ver-
einigung im Begriff, nämlich die Gleichsetzung des verletzten und
des eignen verwirkten Lebens. Der Verbrecher bleibe mit der
Welt und mit sich selbst entzweit; denn Leben sei von Leben
nicht verschieden, und indem der Verbrecher fremdes Leben zu
zerstören und sich damit zu erweitern vermeine, habe er sein
eignes zerstört und die Freundlichkeit des Lebens in einen Feind
verkehrt. Erst dadurch, daß er im Bewußtsein seiner selbst
die Zerstörung seines eignen Lebens fühle und sich nach dem
Verlorenen sehne, vereinige er sich mit dem verletzten Leben
und versöhne das Schicksal. Darin, daß das Feindliche als Leben
gefühlt werde, in der Liebe also liege die Möglichkeit der Ver-
söhnung. Ein reines Gemüt, eine schöne Seele vergebe die Sünden,
trete in die Verhältnisse der Freundschaft und Liebe sogleich
wieder ein. Liebe sei völlige Hingebung, Verzichten auf Indivi-
dualität, lebendige Vereinigung der Gegensätze. Diese allgemein-
philosophischen Motive bilden, sozusagen, selbständige Aufsätze
(von Rosenkranz unter dem Titel «Das Schicksal und seine Ver-
söhnung», «Die Liebe und die Scham» mitgeteilt; vgl. Hegels
Leben S. 493 ff.). Aber Hegel bezog sie in konkreter Form auf
die Lehre Jesu. Jesus machte es sich zur Aufgabe, jedes Objektive
zu vernichten, jedes äußere Gesetz aufzuheben. Die Wurzel des
Judentums war das Objektive, d. h. der Dienst des Fremden; die
Juden waren Knechte, sie gehorchten widersinnigen Satzungen
und Formeln, sie waren mit sich selbst entzweit. Moralität hebt
diese Entzweiung auf, aber Moralität (im Kantischen Sinne) ist
nicht lebendige Vereinigung mit dem Gesetz des Lebens, sondern
selbst Entzweiung, Entgegensetzung der objektiven Pflicht und
der Neigung. Vereinigung findet nur in Liebe statt; reine Tugen-
XIV EINLEITUNG
den sind nur Modifikationen der Liebe. Durch Liebe also ver-
suchte Jesus die Passivität der Juden zu überwinden ; er wollte sie
befreien, ihre beschränkten Gesetze zu lebendigen Beziehungen
vervollständigen; er strebte danach, jede Beschränkung des ge-
wöhnlichen Daseins aufzuheben, stellte also keine neuen Satzungen
auf; seine Parabeln enthalten kein Fabula docet, sondern stellen
den Fortgang des Lebendigen dar.
Das Gesetz als Herrschendes wird also durch Tugend, die Be-
schränktheit der Moralität durch Liebe aufgehoben; dies ist der
Sinn der Moral Christi. Dennoch, so führt nun Hegel weiter aus,
ist die Liebe als Empfindung unvollständiger Natur. Unbefriedigte
Liebe ist pathologisch und bleibt als Sehnsucht nach unerreichtem
Ideal im Zustand der Trennung und Zerrissenheit. Zwar ist in der
glücklichen Liebe kein Raum für Objektivität, aber jede Reflexion
stellt die Objektivität wieder her, und damit beginnt wieder das
Gebiet der Beschränkungen. Erst Religion hebt die Schranken
der Liebe auf, denn Religion ist Reflexion mit Liebe vereint, Er-
kenntnis und Verehrung der durch Einbildungskraft objektiv ge-
machten Liebe. Wie überhaupt der realistische Sinn Hegels ihn
stets dazu trieb, in seinen idealistischen Monismus (Panlogismus
oder Pantheismus) einen starken Zug ins Konkrete einzumischen,
jedes Vernünftige als in sinnlicher Verkörperung verwirklicht
anzusehen, so räumte er auch hier dem Theismus soviel ein, daß
Gott objektive Realität habe, freilich nicht in dem Sinne, als wäre
er ein Fremdes, wohl aber als die gestaltete Liebe. Wahre Religion
war ihm eine Synthese des subjektiven Gefühls und eines objek-
tiven Göttlichen, wogegen rein subjektive Religion leicht in
Schwärmerei, rein objektive in Knechtschaft übergehe. Die Ge-
meine erkennt sich als in Gott vereinigt; Gott ist das Bild ihrer
Einigkeit, die sichtbar gewordene Liebe der Gemeine, und die
christUche Religion ist die Verehrung des verklärten Jesus als
des lebendigen Bildes Gottes. Damit ist Religionsgefühl nicht
mehr unauslöschlicher, unbefriedigter Trieb nach Vereinigung,
sondern vollendete Harmonie. Daher konnte Hegel im Abend-
mahl keine eigentlich religiöse Handlung erblicken, sondern ledig-
lich eine Handlung der Liebe. Wein und Brot, meint er, seien
kein Göttliches, da sie kein bleibendes Objektives seien. Dadurch,
EINLEITUNG XV
daß Wein und Brot genossen werden, verschwinde das Bild, worin
sich Anschauung und Gefühl, Objektives und Subjektives ver-
einigen könnten. Nach dem Genüsse des Abendmahls kehre die
an ein Objektives geheftete Empfindung von dieser Objektivität
zu ihrer Natur zurück und werde wieder bloß subjektiv ; es ent-
stehe bei den Christen ein wehmütiges Staunen ; es war etwas
Göttliches versprochen und es ist im Munde zerronnen. Dagegen
sei Gott als Darstellung der die Gemeine vereinigenden Liebe ein
wahrhaft Objektives; der Zustand vollständiger Vereinigung der
Gemeine im Glauben an jenes Objektive sei das von Jesu ange-
kündigte Reich Gottes, nicht etwa die von den Juden erwartete
Weltherrschaft, sondern ein Lebendigwerden aller menschlichen
Beziehungen durch die Liebe, in welcher die Mitglieder der Ge-
meine Gott und sich als Gottes Kinder erkennen.
Fand aber Hegel in der Religion Jesu die Bestätigung seiner
eignen mystischen Anschauungen, so verhehlte er sich doch nicht,
daß die Lehre Jesu außerhalb der engeren christlichen Gemeine
keinen Anklang gefunden, keinen Zustand schöner Freiheit her-
beigeführt habe. Es erübrigt nur noch diese seine Würdigung
des der Lehre Jesu beschiedenen Erfolgs, also den historischen
Teil seiner Aufzeichnungen kurz darzulegen. Der erhabene Ver-
such Jesu, das jüdische Schicksal zu überwinden, mußte in seinem
Volke fehlschlagen, und er selbst ein Opfer desselben werden.
Die Feindschaften, die Jesus aufzuheben suchte, mußten durch
Tapferkeit, nicht durch Liebe überwältigt werden. Bald trat Jesus
selbst aus der ganzen Existenz seines Volkes heraus und sprach
schonungslos seine ganze Verachtung gegen die jüdische Knecht-
schaft unter objektiven Geboten aus. Um nicht in einen Bund
mit dem Gewebe jüdischer Gesetzlichkeiten einzutreten, suchte
er die Freiheit nur in der Leere; er isolierte sich von seiner Mutter,
seinen Brüdern und Verwandten; er durfte nicht Familienvater,
nicht Mitbürger werden und verlangte dasselbe von seinen Jüngern ;
er kam nicht, der Erde Frieden zu bringen, sondern das Schwert;
er lebte ohne Genuß in der negativen Tätigkeit des Kampfes und
fand keine Aussöhnung des Schicksals, sondern Schicksalslosig-
keit durch Flucht in unerfülltes Leben. Christliche Liebe sollte
und konnte nicht eine Vereinigung der Individualitäten sein,
XVI EINLEITUNG
sondern bloße Vereinigung in Gott, wie denn auch die Liebe der
Jünger Christi bloß gegenseitiges Bewußtsein gemeinschaftlichen
Glaubens war und in ihrer Religion verwirklicht wurde, sonst
aber weltfeindlich blieb und alle schönen natürlichen Verhältnisse
des menschlichen Lebens verkümmern ließ, und es ist das Schicksal
der christlichen Religion geblieben, daß Kirche und Staat, geistliches
und weltliches Tun nie in eins zusammenschmelzen können.
Aber auch als Religion verlor bald nach dem Tode Jesu seine
Lehre selbst im engen Kreise der Gemeine die Harmonie inniger
Vereinigung. Die Jünger Jesu waren wie Schafe ohne Hirten.
Jesus war ihr lebendiges Band, das göttliche Bild ihrer Liebe ge-
wesen; ihre sehnende Liebe hielt zwar auch ferner an diesem
Göttlichen fest, in dem auferstandenen Jesu fanden sie die Dar-
stellung ihrer Einigkeit wieder; es kam aber zum Bilde des Auf-
erstandenen viel Beiwesen, vollkommen Individuelles, Ungött-
liches hinzu, das dem durch Apotheose Vergötterten immer wie
Blei an den Füßen hängt und ihn zur Erde herabzieht. Wie Her-
kules durch den Holzstoß, hat sich Jesus durch ein Grab zum Gott
emporgeschwungen; aber nicht nur der Erstandene, auch der
Lehrende, Wunder Verrichtende und am Kreuz Hängende wird
angebetet; diese ungeheure Verbindung ist es, über welche seit
so vielen Jahrhunderten Millionen gottsuchender Seelen sich ab-
gekämpft und gemartert haben, und die Beigesellung des wirk-
lichen Jesu zum verklärten gewährte dem Trieb nach Religion
keine Befriedigung, denn dem unendlichen, ungestillten Lechzen
nach Göttlichem steht immer jenes Positive entgegen, welches
nie zu einem Göttlichen werden kann.
So wurde nun Hegel, nachdem er die christliche Religion in
ihrer ursprünglichen Form als Vernunftreligion ins Auge gefaßt
hatte, zur näheren Prüfung der Frage hingedrängt, warum die
Lehre Christi sich zu einer positiven Religion entwickeln mußte.
Mit diesem Problem befaßte er sich in einer Reihe weiterer, noch
ungedruckter Aufzeichnungen, in welchen die vorliegenden Frag-
mente ihre natürliche Fortsetzuns: haben.
CHARTRES IM APRIL 1906
PAUL ROQ.UES
1
DAS LEBEN JESU
on Anbeginn war die Weisheit; sie thronte bei
Gott und war Gott selbst. Schon von Anbeginn
war die Weisheit bei Gott; sie schuf alles, und
nichts von allem, was ist, wurde ohne sie. Diese
Weisheit ist eins mit der belebenden Gotteskraft,
welche schon früher die Menschen erleuchtete.
Nur faßten im Alten Testament die Menschen den göttlichen
Strahl nicht, bis Johannes die Erscheinung desselben in Jesu
vorbereitete, Joh. I, 14. Aö^a, die moralische Geistesgröße
und Hoheit Jesu, von der sich alle seine Schüler und Verehrer
aus dem persönlichen Umgang mit ihm überzeugen konnten.
II, 19. «Reißet immer diesen Tempel, an dem nun beinahe
ein halbes Jahrhundert gebaut wird, ein! Ich baue ihn in drei
Tagen.» Das heißt: «Dieser Tempel, das Palladium eurer Theo-
kratie, forderte die Kunst eines halben Jahrhunderts; meine Auf-
fassung ruht auf keinem Tempel und ist in kürzerer Zeit ge-
gründet.»
Matth. X, 23. Luk. IX, 20. «Mehrere unter euch werden
Zeugen sein, daß meine moralische Gotteslehre über die Staats-
religion des Judentums siegt.» — Matth. XIX, 28. Das Sitzen
Jesu auf seinem majestätischen Thron drückt auch hier seine un-
sichtbare Herrschaft durch die Wahrheit und Göttlichkeit seiner
Religion aus. Cf. Luk. XXII, 30, 69. Matth. XXVI, 63. «Freilich
bin ich Christus, nur nicht der von euch erwartete Volksmessias,
sondern nur der höhere moralische Christus, der eine neue Religion
gestiftet hat, und der nun bald, zur Himmelsherrlichkeit erhoben,
euch als Richter eurer Bosheit und Hartnäckigkeit erscheinen wird. »
Luk. IV, 4. Der Mensch braucht eben nicht irdische Güter zu
einem glückseligen Leben; besser sind die geistigen Güter Weis-
heit und Tugend.
Hegel, Das Leben Jesu 1
G. W. F. HEGEL
Joh. I. Die reine, aller Schranken unfähige Vernunft ist die
Gottheit selbst. Nach Vernunft ist also der Plan der Welt über-
haupt geordnet. Oft ist sie zwar verfinstert, aber doch nie ganz
ausgelöscht worden; selbst in der Finsternis hat sich immer ein
schwacher Schimmer derselben erhalten.
Unter den Juden war es Johannes, der die Menschen wieder auf
diese ihre Würde aufmerksam machte, die ihnen nichts Fremdes
sein sollte, sondern die sie in ihrem wahren Selbst, nicht in der
Abstammung, nicht in dem Triebe nach Glückseligkeit, nicht darin
suchen sollten, Diener eines groß geachteten Mannes zu sein,
sondern in der Ausbildung des göttlichen Funkens, der ihnen zu-
teil geworden ist, der ihnen das Zeugnis gibt, daß sie in einem
erhabnem Sinn von der Gottheit selbst abstammen. Ausbildung
der Vernunft ist die einzige Quelle der Wahrheit und der Be-
ruhigung, die Johannes nicht etwa ausschließend oder als eine
Seltenheit zu besitzen vorgab, sondern die alle Menschen in sich
selbst aufschließen können. Mehr Verdienst aber um die Besserung
der verdorbenen Maximen des Menschen und um die Erkenntnis
der echten Moralität und der geläuterten Verehrung Gottes hat
sich Christus erworben.
Der Ort, wo er geboren wurde, war ein Dorf Bethlehem in
Judäa. Seine Eltern waren Joseph und Maria, (die sonst in Xazareth
in Galiläa ansässig waren, aber nach Bethlehem, dem Stammort
der Familie Josephs, reisen mußten, um sich dort in die Liste, die
von der jüdischen Volksmenge im Befehl Augusts gemacht
wurde, einschreiben zu lassen), wovon jener sein Geschlecht von
David ableitete, nach Art der Juden, die viel auf Ahnentafeln hielten.
Jesus wurde nach den jüdischen Gesetzen acht Tage nach seiner
Geburt beschnitten (Luk. II, 21).
Von seiner Erziehung ist nichts bekannt, als daß er früh (Luk.
II, 41) Spuren von einem nicht gemeinen Verstand und Interesse
an religiösen Gegenständen genommen habe, wie ein Beispiel
davon angeführt wird, daß er sich in seinem zwölften Jahre einst
von seinen Eltern verlief, sie dadurch in großen Kummer setzte,
aber von ihnen im Tempel zu Jerusalem unter Priestern gefunden
wurde, die er durch die für sein Alter ungewöhnlichen Kennt-
nisse und Beurteilungsvermöo;en in Verwunderung setzte. Von
DAS LEBEN JESU 3
seiner fernem Bildung als Jüngling bis zu der Zeit, da er selbst
als gebildeter Mann und Lehrer auftrat, von der ganzen so höchst
merkwürdigen Entwicklungsperiode bis zum dreißigsten Jahre
sind nur folgende Nachrichten auf uns gekommen, daß er (Luk.
III, Matth. III) in Bekanntschaft mit dem obengenannten Johannes
kam, der sich der Täufer nannte, weil er die Gewohnheit hatte,
diejenigen, die seinen Aufruf, sich zu bessern, annahmen, zu taufen
pflegte. Dieser Johannes fühlte den Beruf in sich, seine Lands-
leute auf höhere Werke, als bloßen Genuß, aufbessere Erwartungen,
als die Wiederherstellung des ehemaligen Glanzes des jüdischen
Reiches aufmerksam zu machen. Der Ort, wo er lehrte und sich
aufhielt, war gewöhnlich eine abgelegene Gegend, seine sonstigen
Bedürfnisse sehr einfach; sein Kleid bestand in einem kamel-
härenen Mantel mit einem ledernen Gürtel, seine Speise in Heu-
schrecken, die in jenen Gegenden eßbar sind, und Honig von
wilden Bienen. Von seiner Lehre ist im allgemeinen nur bekannt,
daß er die Menschen zur Sinnesänderung, diese durch Taten zu
beweisen aufrief, daß die Juden, die wegen ihrer Abkunft von
Abraham derselben nicht bedürften, um der Gottheit wohlgefällig
zu sein, im Irrtum seien; und wenn die, welche zu ihm kamen,
Reue über ihre bisherige Ansicht zeigten, so taufte er sie, — eine
symbolische Handlung, die nach der Ähnlichkeit des Abwaschens
der Unreinlichkeiten auf die Ablegung einer verderbten Sinnes-
art hindeutete. So kam auch Jesus zu ihm, und ließ sich von ihm
taufen. Doch scheint Johannes nicht eine Ehre darein gesetzt zu
haben. Jünger zu haben, und sie an sich zu knüpfen, denn als er
in Jesu die großen Anlagen entdeckte, die er in der Folge bewies,
so bezeugte er ihm, daß er nicht nötig habe, getauft zu werden,
und wies auch andere an, sich an Jesum zu wenden und von ihm
sich belehren zu lassen, und bezeugte auch nachher (Joh. III, 27)
seine Freude darüber, als er hörte, daß Jesus so viele Zuhörer
finde, und so viele taufe; doch taufte er selbst nicht, sondern nur
seine Freunde.
Johannes wurde zuletzt das Opfer der beleidigten Eitelkeit des
Herodes, des Fürsten jener Gegenden, und eines Weibes. Er
hatte nämlich dessen Umgang mit Herodias, der Schwägerin des
Herodes, getadelt und wurde deswegen von ihm ins Gefängnis
G. W. F. HEGEL
gesetzt; doch wagte es Herodes nicht, ihn ganz aus dem Wege
zu schaffen, weil das Volk ihn für einen Propheten hielt. Als er
einst an seinem Geburtstag ein glänzendes Fest gab, und eine
Tochter jener Herodias Talent im Tanzen zeigte, so wurde Hero-
des dadurch so entzückt, daß er ihr erlaubte, sich eine Gnade von
ihm auszubitten, und wenn es die Hälfte seines Reiches wäre,
er würde sie ihr gewähren. Die Mutter, deren beleidigte Eitelkeit
ihre Rache gegen Johannes bisher hatte zurückhalten müssen, gab
ihrer Tochter an, sich den Tod des Johannes auszubitten. Hero-
des hatte nicht den Mut, zu glauben und es vor den Gästen zu
bezeugen, daß in seinem gegebenen Worte kein Verbrechen mit-
begriffen sei, und der Kopf des Johannes wurde von dem Kinde in
einer Schüssel überreicht, die sie ihrer Mutter brachte. Seinen
Körper begruben seine Jünger.
Luk. IV, Matth. IV. Außer diesem sind aus dieser Periode
seines Lebens nur noch einige schwache Züge von dem Gange
der Entwicklung seines Geistes auf die Nachwelt gekommen.
In den Stunden seines Nachdenkens in der Einsamkeit kam ihm
einst der Gedanke, ob es nicht die Mühe verlohnte, durch Stu-
dium der Natur und vielleicht durch \'erbindung mit höhern
Geistern es soweit zu bringen, zu suchen, unedlere Stoffe in
edlere, für die Menschen unmittelbar brauchbare zu verwandeln,
etwa wie Steine in Brot, und sich von der Natur überhaupt un-
abhängiger zu machen. Aber er wies diesen Gedanken ab durch
die Betrachtung der Schranken, die die Natur dem Menschen in
seiner Macht über sie gesetzt hat, durch die Betrachtung, daß es
selbst unter der Würde der Menschheit sei, nach einer solchen
Macht zu streben, da er in sich eine über die Natur erhabene
Kraft besitzt, deren Ausbildung und Erhöhung die wahre Be-
stimmung seines Lebens ist. Ein anderes Mal ging auch vor seiner
Einbildungskraft alles das vorüber, was unter den Menschen für
groß, für würdig gehalten wird, der Gegenstand der Tätigkeit
eines Menschen zu sein: über Millionen zu gebieten, die halbe
Welt von sich reden zu machen, tausende von seinem Willen,
von seinen Launen abhängig zu sehen, oder in fröhUchem Ge-
nüsse der Befriedigung reiner Wünsche zu leben, alles, was die
Eitelkeit oder die Sinne reizen kann. Als er aber weiter über die
DAS LEBEN JESU 5
Bedingungen nachdachte, unter welchen dies alles nur erworben
werden kann, selbst wenn man dessen Besitz nur zum Wohl der
Menschheit gebrauchen wollte, nämlich sich unter seine und fremde
Eigenschaften zu erniedrigen, seiner höheren Würde zu ver-
gessen, der Selbstachtung zu entsagen, so verwarf er, ohne sich
zu bedenken, den Gedanken, jene Wünsche zu den seinigen zu
machen, entschlossen, dem treu zu bleiben, was unauslöschlich
in seinem Herzen geschrieben stand, allein das ewige Gesetz der
Sittlichkeit und den zu verehren, dessen heiliger Wille unfähig
ist, von etwas anderem affiziert zu werden, als von jenem Gesetz.
In seinem dreißigsten Jahre erst trat er selbst öffentlich als
Lehrer auf. Sein Vortrag scheint im Anfang nur auf Einzelne
eingeschränkt gewesen zu sein. Joh. I, 35 — 51. Bald gesellten
sich teils durch den Geschmack, den sie an seinen Lehren fanden,
teils auf seinen Zuruf, inehrere Jünger, von denen er meist über-
all begleitet wurde, und aus denen er durch sein Beispiel und
seine Belehrungen den eingeschränkten Geist jüdischer Vorurteile
und Nationalstolzes zu vertreiben suchte und er beseelte sie mit
seinem Geiste, der nur in Tugend, die nicht an eine positive Na-
tion oder positive Einrichtungen gebunden ist, einen Wert setzte.
Der gewöhnliche Ort, wo er sich aufhielt, war Galiläa, und darin
Kapernaum ; von da aus machte er gewöhnlich an den hohen Festen
derjuden, besonders am jährlichen Osterfest, Reisen nachJerusalem.
Das erstemal, daß er nach Jerusalem kam (Joh. II, 12 ff.), seit-
dem er öffentlich als Lehrer auftrat, machte er durch eine auf-
fallende Begebenheit viel Aufsehen. Als er in den Tempel trat,
wohin alle Bewohner Judäas zusammenströmten, wo sie in ge-
meinschaftlicher Anbetung der Gottheit sich über die kleinen
Interessen des Lebens erhoben und sich der Gottheit näherten,
traf er eine Menge Krämer an, die auf die Religiosität der Juden
Spekulationen machten, und mit allen Arten von Waren Handel
trieben, die die Juden zu ihren Opfern gebrauchten, und bei dem Zu-
sammenfluß der Menge aus allen Gegendenjudäas zurZeit der Feste
und im Tempel ihre Geschäfte machten. Jesus, voll Unwillen über
diesen kaufmännischen Geist, jagte die Krämer zumTempel hinaus.
Er fand viele, bei denen seine Lehre Eingang hatte. Er kannte
die Anhänglichkeit der Juden an ihre eingewurzelten National-
G. W. F. HEGEL
Vorurteile und ihren Mangel an Sinn für etwas Höheres zu gut, als
daß er sich mit ihnen näher eingelassen, Vertrauen in ihre Über-
zeugung gesetzt hätte ; er hielt diese nicht für fähig, nicht für von
der Art, daß etwas Größeres darauf gebaut werden könnte; und
von der Eitelkeit, durch den Beifall einer großen Anzahl von
Menschen sich geehrt zu glauben, oder von der Schwäche, da-
durch als durch ein Zeugnis in seiner eignen Überzeugung mehr
befestigt zu werden, war er zu weit entfernt; er bedurfte keines
Beifalls, keiner Autorität, um an die Vernunft zu glauben.
Das Aufsehen, das Jesus hier machte, schien (Joh. III) auf die
Lehrer des Volkes und Priester wenig Eindruck zu machen, oder
sie gaben sich wenigstens die Miene, mit Verachtung auf ihn
herabzublicken. Doch fühlte sich einer von ihnen, Nikodemus,
dadurch veranlaßt, mit Jesu in nähere Bekanntschaft zu kommen,
und sich aus seinem Munde zu überzeugen, worin das Neue und
Unterscheidende der Lehre Jesu bestehe, und ob es einer Aufmerk-
samkeit würdig sei. Er kam, um sich nicht dem Hasse oder dem
Gelächter auszusetzen, in derDunkelheit derNacht zu ihm. «Auch
ich, sagte Nikodemus, komme, um von dir belehrt zu werden ;
denn alles, was ich von dir höre, beweist mir, daß du ein Gesandter
Gottes bist, daß Gott in dir wohnt, daß du vom Himmel kommst.»
— «Jawohl, antwortete Jesus. Wer nicht seinen Ursprung aus
dem Himmel hat, in wem nicht göttliche Kraft wohnt, ist kein
Bürger des Reiches Gottes.» — «Aber, erwiderte Nikodemus, wie
sollte der Mensch seinen natürlichen Anlagen entsagen, wie sollte
er zu höheren gelangen können? Er müßte in den Leib seiner
Mutter zurückkehren und ein Anderer, als Wesen eines anderen
Geschlechts geboren werden.» — «Der Mensch als Mensch, ver-
setzte Jesus, ist nicht bloß ein ganz sinnliches Wesen. Seine Natur
ist nicht bloß auf Trieb nach Vergnügen eingeschränkt; es ist
auch Geist in ihm, auch ein Funken des göttUchen Wesens, das
Erbteil aller vernünftigen Wesen, ist ihm zuteil geworden. So
wie du den Wind zwar sausen hörst und sein Wehen empfindest,
aber nichts über ihn vermagst, noch weißt, woher er komme,
oder wohin er gehe, so kündigt sich dir unwiderstehlich
jenes selbständige unveränderliche Vermögen innerlich an.
Aber wie es mit dem übrigen dem Wechsel unterworfenen
DAS LEBEN JESU
Gemüt der Menschen verknüpft, wie es zu einer Übermacht
über das sinnHche Vermögen kommen könne, das ist uns un-
bekannt.»
Nikodemus gestand, dies seien Begriffe, die er nicht kenne.
«Wie, sagte Jesus, du bist ein Lehrer in Jerusalem und das, was
ich sagte, begreifst du nicht? In mir ist die Überzeugung davon
so lebendig als die Gewißheit dessen, was ich sehe und höre. Wie
kann ich euch aber zumuten, es auf mein Zeugnis zu glauben,
wenn ihr auf das innere Zeugnis eures Geistes, auf diese himm-
lische Stimme nicht achtet? Nur sie, deren Wurzel im Himmel
ist, vermag euch über das zu belehren, was höheres Bedürfnis der
Vernunft sei, und doch nur im Glauben an sie, durch Gehorsam
gegen sie ist Ruhe und wahre Größe, die Würde des Menschen
zu finden. Denn so sehr hat Gott den Menschen vor der übrigen
Natur ausgezeichnet, daß er ihn mit dem Widerglanz seines Wesens
beseelte, ihn mit Vernunft begabte; durch den Glauben an sie er-
füllt der Mensch allein seine hohe Bestimmung; sie verdammt
nicht die Triebe der Natur, aber leitet und veredelt sie. Nur wer
ihr nicht gehorcht, der hat sich dadurch selbst gerichtet, daß er
jenes Licht verkannte, es in sich nicht nährte und so durch seine
Handlungen zeigte, wes Geistes Kind er sei ; er zieht sich vor dem
Glänze der Vernunft, die Sittlichkeit als Pflicht gebietet, zurück,
denn seine bösen Werke sträuben sich gegen jene Beleuchtung,
die ihn mit Scham, Selbstverachtung und Reue erfüllen würde.
Aber wer aufrichtig mit sich zu Werke geht, nähert sich gern dem
Richterstuhl der Vernunft, scheut sich nicht vor ihren Zurecht-
weisungen, vor der Selbstkenntnis, die sie ihm gibt, und braucht
seine Handlungen nicht zu verheimHchen, denn sie zeugen von
dem Geiste, der ihn beseelte, dem Geiste der vernünftigen Welt,
dem Geiste der Gottheit.»
Joh. IV. Jesus verließ Jerusalem wieder, als er hörte, daß die
Menge derer, die seiner Lehre Beifall gaben, die Aufmerksamkeit
der Pharisäer auf sich zog. Er reiste daher wieder nach Galiläa,
wohin der Weg durch Samaria führte. Er hatte seine Jünger vor-
aus in die Stadt geschickt, um Speise zu kaufen; er selbst weilte
indes an einer Quelle, welche schon Jakob, einer der Stammväter
des jüdischen Volks, besessen haben soll. Er traf hier ein sama-
G. W. F. HEGEL
ritisches Weib an, die er bat, ihm einen Trunk Wassers herauf-
zuziehen. Sie wunderte sich darüber, daß er, ein Jude, von einer
Samariterin zu trinken begehre; denn beide Völker haben einen
solchen Religions- und Nationalhaß gegeneinander, daß sie
schlechterdings keinen Umgang miteinander haben. Jesus ver-
setzte: «Wenn du meine Grundsätze kenntest, du würdest mich
nicht nach dem gemeinen Schlag von Juden beurteilt haben. Du
hättest selbst auch kein Bedenken getragen, mich darum zu bitten,
und ich hätte dir eine andere Quelle lebendigen Wassers eröffnet.
Wer aus derselben schöpft, dessen Durst ist gestillt ; das Wasser,
das aus ihr quillt, ist ein Strom, der ins ewige Leben leitet.» —
«Ich höre, erwiderte die Samariterin, daß du ein weiser Mann
bist; ich wage es, dich um Aufschluß über die wichtigste Frage,
den Streit unserer und deiner Religion zu bitten. Unsere Väter
verrichten hier auf dem Berge Garizim ihren Gottesdienst, und
ihr behauptet, Jerusalem allein sei der Ort, wo man den Aller-
höchsten verehren solle.» — «Glaube mir, Weib, antwortete
Jesus, es wird eine Zeit kommen, wo ihr keinen Gottesdienst
mehr feiern werdet, weder auf Garizim, noch in Jerusalem, wo
man nicht mehr glauben wird, der Gottesdienst schränke sich auf
vorgeschriebene Handlungen und einen bestimmten Ort ein. Es
wird die Zeit kommen, und sie ist eigentlich schon da, wo die
echten Verehrer Gottes den allgemeinen Vater im wahren Geist
der Religion verehren werden, denn nur solche sind ihm wohl-
gefällig, in deren Geist allein Vernunft und ihre Blüte, das Sitten-
gesetz, herrscht. Hierauf allein muß die echte Verehrung Gottes
gegründet sein.»
Die Erzählung der Frau, die sie ihren Mitbürgern von Jesu und
ihrem Gespräche machte, brachte ihnen schon eine hohe Meinung
von ihm bei. Sie veranlaßte viele Samariter hinauszugehen und
Belehrung von ihm zu erhalten. Während sich Jesus mit ihnen
unterhielt, boten ihm seine Jünger, die indes zurückgekehrt waren,
zu essen an. «Lasset das, antwortete er ihnen, ich denke nicht
an leibliche Nahrung; den Willen Gottes zu tun und das Werk
der Besserung der Menschen auszuführen ist meine Beschäftigung;
eure Gedanken sind auf Speise gerichtet, auf die Ernte, die bevor-
steht; erheitert eure Blicke, schauet auf zur Ernte, der das Men-
DAS LEBEN JESU
schengeschlecht entgegenreift; auch diese Saat zeitiget, in diesen
Gefilden habt ihr nicht ausgesäet. Der Keim des Guten, den die
Natur in die Herzen der Menschen einsetzte, hat sich hie und da
von selbst entwickelt; eure Sache aber ist es, diese Blüten zu
pflegen und zu warten, in die Arbeit einzutreten, die die Natur
•angefangen hat, und die Saat zur Zeitigung zu bringen.» Auf
das Ersuchen der Samariter blieb Jesus zwei Tage bei ihnen, und
gab ihnen Gelegenheit, durch eigene Erfahrung die hohe Meinung,
die sie von ihm auf die Erzählung der Frau gefaßt hatten, be-
stätigt zu finden.
Joh. IV, I — 3, Matth. IV, 12, Luk. IV, 14. Nach zwei Tagen
setzte er seinen Weg weiter fort nach Galiläa. Wo er hinkam,
rief er die Menschen zur Sinnesänderung und Besserung auf
(Matth. IV, 17), suchte sie aus ihrem Schlummer und der un-
fruchtbaren, untätigen Hoff"nung zu erwecken, ein Messias werde
bald erscheinen und den Glanz des jüdischen Gottesdienstes und
Staates wiederherstellen. «Wartet nicht auf einen andern, rief
ihnen Jesus zu, leget selbst Hand an das Werk eurer Besserung,
setzet euch ein höheres Ziel, als das wieder zu werden, was die
alten Juden waren; bessert euch, dann bringet ihr das Reich
Gottes herbei.» So lehrte Jesus überall (Luk. IV, 16 — 32), in
Kapernaum am See Genezareth, in öffentlichen Örtern und den
Lehrsälen der Juden; unter anderm auch sprach er über eine
Stelle aus den heiligen Büchern seiner Landsleute, in Nazareth,
seinem Geburtsort. Da hieß es denn: «Ist dies nicht Josephs
Sohn, der unter uns geboren und erzogen wurde.''» Das Vor-
urteil der Juden, daß der, den sie als ihren Retter erwarteten, von
vornehmer Abkunft sein und mit äußrem Glänze auftreten müsse,
war unüberwindlich und zuletzt wurde er von seinen Mitbürgern
zur Stadt hinaus weit vertrieben, wobei ihm selbst das Sprichwort
einfiel: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande.
Hier lud er auch Petrus und Andreas (Matth. IV, 18 — 22), wie
auch Jakobus und Johannes ein, ihm nachzufolgen, die er mit
Fischfangen, ihrem Handwerk, beschäftigt antraf, wobei er Petrus
sagte: «Laß die Fische, ich will dich zu einem Menschenfischer
machen.» Die Zahl seiner Anhänger (Matth. IV, 25) fing jetzt an,
sehr beträchtlich zu werden. Aus Städten und Dörfern begleiteten
10 G.W. F. HEGEL
ihn viele Menschen. Vor einer so zahlreichen Menge wahrschein-
lich hielt er einst in dieser Periode seines Lebens auf einem Berge
folgende Rede (Matth. V): «Wohl den Demütigen und Armen;
das Himmelreich ist ihr Teil. — Wohl denen, die Leid tragen ;
sie werden einst getröstet werden. — Wohl den Sanftmütigen,
sie werden zum Genuß der Ruhe gelangen. — Wohl denen, die
Verlangen tragen nach Gerechtigkeit; ihr Verlangen wird erfüllt
werden. — Wohl denen, die mitleidig sind; auch ihrer wird man
sich erbarmen. — Wohl denen, die reinen Herzens sind; sie nähern
sich dem Heiligen. — Wohl denen, die die Kinder lieben; ihnen
kommt der Name Kinder Gottes zu. — Wohl denen, die um der
gerechten Sache willen verfolgt werden, die Schmach und Ver-
leumdung darob erleiden. Freuet euch und jauchzet: ihr seid
Bürger des Himmelreichs!»
«Von euch, meine Freunde, wünschte ich sagen zu können:
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber dieses unschmackhaft wird,
womit soll man noch salzen? Es verliert sich unfühlbar unter
den andern gemeinen Stoffen. Wenn in euch die Kraft des Guten
erstürbe, so gingen eure Taten unter mit dem übrigen zwecklosen
Dringen und Treiben der Menschen. Zeiget euch, Lichter der
Welt, daß eure Taten die Menschen erleuchten und das Bessere,
das in ihnen liegt, entzünden, daß sie aufschauen lernen zu höherem
Glauben und zum \'ater im Himmel.»
«Glaubet nicht, daß ich etwa gekommen sei, Ungültigkeit der
Gesetze zu predigen; nicht die \'erbindlichkeit zu denselben auf-
zuheben bin ich gekommen, sondern sie vollständig zu machen,
diesem toten Gerippe Geist einzuhauchen. Himmel und Erde
mögen wohl verejehen, aber nicht die Forderunsjen des Sitten-
gesetzes, nicht die Pflicht, ihm zu gehorchen. Wer sich und andere
von Befolgung derselben freispricht, ist unwürdig, den Namen
eines Bürgers des Reiches Gottes zu tragen, wer sie aber selbst er-
füllt und auch andere sie ehren lehrt, der wird angesehen sein in
dem Himmelreich. Aber was ich, um das ganze System der Ge-
setze auszufüllen, hinzusetze, ist die Hauptbedingung, daß ihr euch
nicht mit der Beobachtung des Buchstabens der Gesetze, die allein
der Gegenstand menschlicher Gerichte sein kann, begnüget, wie
die Pharisäer und die Gelehrten eures Volkes, sondern im Geiste
DAS LEBEN JESU ii
des Gesetzes aus Achtung für die Pflicht handelt. Um euch dies
mit einigen Beispielen aus eurem Gesetzbuch zu erläutern, so ist
es euch als ein altes Gebot bekannt: Du sollst nicht töten; wer
tötet, der soll vor das Gericht gezogen werden. Ich aber sage
euch, daß nicht gerade der Tod des andern das Strafwürdige des
Verbrechens ausmacht; wer seinem Bruder ungerechterweise
zürnt, kann zwar von keinem weltlichen Gericht gestraft werden,
aber dem Geiste des Gesetzes nach ist er so strafwürdig, als jener;
wer aber aus Menschenverachtung (Lücke der Handschrift)
. . . «Soisteuchbefohlen,zugewissenZeitenOpferdarzubringen.
Wenn ihr euch dem Altar nähert und ihr euch dort erinnert, daß
ihr einen Menschen beleidigt habt, und dieser deswegen unzu-
frieden ist, so lasset eure Gabe vor dem Altar stehen, bietet eurem
Bruder die Hand zur Versöhnung, dann nahet euch erst gottwohl-
gefällig dem Altar.»
«Auch heißt eines eurer Gebote: Du sollst nicht ehebrechen.
Ich aber sage euch, daß nicht bloß die wirkliche Tat ein Vergehen
ist, sondern die Lüsternheit überhaupt beweist, daß das Herz un-
rein ist. Welche Neigung es sei, die natürlichste, liebste, tut ihr
Gewalt an, verletzet sie sogar, ehe ihr euch von ihr über die Linie
des Rechtes hinüberreißen und dadurch eure Maximen nach und
nach untergraben und verderben lasset, wenn ihr bei derBefriedigung
eurer Neigung wohl den Buchstaben des Gesetzes nicht verletztet. »
«Weiter ist es ein altes Gesetz: Du sollst nicht falsch schwören.
Überhaupt aber, wenn ihr Achtung vor euch selbst habt, muß jede
Versicherung, jedes Versprechen mit einem bloßen Ja, oder Nein,
ebenso aufrichtig, ebenso heilig und unverbrüchlich sein, als ein
Schwur bei der Gottheit, denn euer Ja oder Nein müsset ihr nur
mit der Überzeugung geben, daß ihr in alle Ewigkeit so handeln
würdet. — So ist es auch ein bürgerliches Gesetz: Auge um Auge,
Zahn um Zahn. Aber lasset diese gerichtliche Satzung nicht der
Maßstab eures Privatlebens in Erwiderung von Beleidigungen
oder in Erv\'eisung von Gefälligkeiten sein. Opfert, gleichgültig
gegen den Besitz des Eigentums, den edlen Gefühlen der Sanft-
mut und der Güte die Rachsucht und eure eigenen, wenn schon
oft gerechten Vorteile auf. Auch ist euch zwar Liebe gegen eure
12 G.W. F. HEGEL
Freunde und eure Nation geboten, aber dabei Haß gegen eure
Feinde und Fremde erlaubt; ich sage euch dagegen: Achtet auch
in euren Feinden die Menschheit, wenn ihr sie nicht Heben könnet,
wünschet denen Gutes, die euch fluchen, und tut wohl denen, die
euch hassen; bittet bei andern für die, welche euch bei andern
verleumden und durch andere euch unglücklich zu machen
suchen; so werdet ihr echte Kinder des Vaters im Himmel, ähn-
lich dem Allgütigen, der über Gute und Böse seine Sonne
scheinen, Redlichen und Ungerechten seinen Regen angedeihen
läßt; denn wenn ihr die wieder liebet, die euch lieben, euren
Wohltätern Gutes tut oder ausleihet, um den gleichen Wert
wieder zu empfangen (Luk. VI, 35), welches Verdienst habt ihr
dabei? Dies ist die Empfindung der Natur, die auch von den
Bösen nicht verleugnet wird ; für die Pflicht habt ihr damit noch
nichts getan; Heiligkeit sei euer Ziel, wie die Gottheit heilig ist.»
«Almosen geben und Mildtätigkeit (Matth. VI) sind empfeh-
lungswürdige Tugenden, aber sie sind, wenn sie nicht wie die
obigen Gebote im Geiste der Tugend, nur um sich sehen zu
lassen, ausgeübt werden, ohne Verdienst; wenn ihr also Almosen
geben wollt, so lasset es nicht in den Straßen und auf den Kanzeln
oder in Zeitungen ausposaunen, wie die Heuchler tun, um von
den Leuten hochgepriesen zu werden; tut es im Verborgenen,
daß gleichsam die linke Hand nicht weiß, was die rechte gibt.
Euer Lohn, wenn ihr die Vorstellung eines Lohns als Aufmun-
terung bedürft, ist der stille Gedanke, gut gehandelt zu haben,
und daß, so wenig die Welt den Urheber kennt, doch die Wirkung
eurer Handlung, sei es auch im Kleinen, die Hülfe, die ihr dem
Unglück gebracht, der Trost, den ihr dem Elend gereicht, in
Ewigkeit reich ist an wohltätigen Folgen. Wenn ihr betet, so
geschehe es ebensowenig nach Art der Heuchler, die in den
Kirchen auf den Knien liegen, auf der Straße die Hände falten,
oder den Nachbarn mit ihrem Singen beschwerUch fallen, um
vor den Menschen sich damit sehen zu lassen ; wahrlich ihr Ge-
bet ist ohne Frucht. Euer Gebet, es sei in der freien Natur oder
in eurem Zimmer, sei eine Erhebung eures Gemüts über die
kleinen Zwecke, die sich die Menschen setzen, und über die Be-
gierden, die sie hin und her treiben, durch den Gedanken an den
DAS LEBEN JESU 13
Heiligen, der eucli an das Gesetz erinnere, das in eurem Busen
gegraben ist, und euch mit Achtung für dasselbe, unverletzbar
durch alle Reihe der Neigungen, erfülle.»
«Setzet das Wesen des Gebets nicht in viele Worte, wodurch
abergläubische Menschen sich bei Gott in Gunst zu setzen oder
etwas über ihn und den Plan seiner ewigen Weisheit vermögen
zu können vermeinen; gleichet ihnen darin nicht; euer Vater
weiß, wessen ihr bedürfet, ehe ihr ihn darum bittet; Bedürfnisse
der Natur, Wünsche der Neigungen können also nicht Gegen-
stand eures Gebets sein, denn wie könnet ihr wissen, ob die Be-
friedigung derselben Zweck des moralischen Planes des Heiligen
sei? Der Geist eures Gebetes sei, daß ihr, von dem Gedanken an
die Gottheit belebt, vor derselben den festen Vorsatz fasset, euren
ganzen Wandel der Tugend zu weihen. Dieser Geist des Gebets
würde sich, in Worten ausgedrückt, etwa so darstellen lassen:
, Vater der Menschen, dem alle Himmel unterworfen sind, Du, der
Alleinheilige, seiest das Bild, das uns vorschwebe, dem wir uns
zu nähern trachten; daß Dein Reich einst kommen möge, in
welchem alle vernünftigen Wesen das Gesetz allein zur Regel
ihrer Handlungen machen 1 Dieser Idee werden alle Neigungen,
selbst das Schreien der Natur nach und nach unterworfen ! Im
Gefühl unserer Unvollkommenheit gegen Deinen heiligen Willen,
wie sollten wir uns zu strengen oder gar rachsüchtigen Richtern
unserer Brüder aufwerfen? Wir wollen vielmehr nur an uns
arbeiten, daß wir unser Herz bessern, die Triebfedern unsrer
Handlungen veredeln und unsre Gesinnungen vom Bösen immer
mehr und mehr reinigen, um Dir ähnlicher zu werden, dessen
Heiligkeit und Seligkeit allein unendlich istl'»
«Ein Kennzeichen eurer Zunahme an moralischer Vollkommen-
heit habt ihr; dies ist eure Zunahme an BruderUebe und an Ge-
neigtheit für Verzeihung. Nicht Schätze auf der Erde, die ihr
nicht einmal ganz euer Eigen nennen könnt, Gold und Silber,
oder Schönheit. Geschicklichkeit, die der VergängUchkeit, dem
Wechsel der Umstände, sogar dem Rost und dem Zerfressen von
Insekten oder der Gefahr, gestohlen zu werden, ausgesetzt sind,
nicht solche seien es, die eure Seelen ausfüllen. Sammlet einen
unvergänglichen Schatz in euch selbst, einen Reichtum von Mo-
14 G. W. F. HEGEL
ralität ; nur einen solchen könnet ihr im vollen Sinne des Wortes
euer Eigentum nennen, denn er hängt eurem eigensten Selbst an.
Der Zwang der Natur, oder der böse Wille der Menschen, selbst
der Tod vermag nichts über ihn. Wie das Auge als Leuchte für
den Leib dient und wenn es gesund ist, ihn in allen seinen Ver-
richtungen leitet, wenn es aber fehlerhaft ist, der Leib in allem
ungeschickt ist, so wenn das Licht der Seele, die Vernunft, ver-
dunkelt ist, woher sollte irgend ein Trieb, irgend eine Neigung
ihre wahre Richtung erhalten? So wie jemand nicht zwei Herren
mit gleichem Eifer dienen kann, so ist der Dienst Gottes und der
Vernunft mit dem Dienst der Sinne unvereinbar; der eine von
beiden schließt den andern aus, oder es entsteht ein unseliges,
unmächtiges Hin- und Herschwanken zwischen beiden. Darum
ermahne ich euch: Entreißet euch doch den ewigen Sorgen um
Essen und Trinken und Kleidung, Bedürfnissen, die den ganzen
Kreis des Bestrebens der meisten Menschen ausmachen, die der
Wichtigkeit. nach, die sie darein legen, ihre Bestimmung, den
letzten Endzweck ihres Daseins auszumachen scheinen. Liegt im
menschlichen Gemüt doch nicht noch ein erhabeneres Bedürfnis,
als das um Nahrung und Kleidung? Sehet doch die sorgenfreien
Vögel unter dem Himmel; sie säen nicht, sie ernten nicht und
sammeln nicht in die Scheuern ; der Vater der Natur hat für ihre
Nahrung gesorgt. Ist eure Bestimmung nicht höher als die ihrige?
und ihr solltet von der Natur verdammt sein, alle die edlen Kräfte
eurer Seele nur dazu anzuschauen, um die Bedürfnisse des Magens
zu befriedigen? Ihr wendet so viel Mühe auf Putz und Verschöne-
rung der Gestalt, die euch die Natur verlieh. Kann eure Eitelkeit
mit allem Aufwand von Sinnen und Sorgen eurer Länge einen Zoll
zusetzen? Oder sehet die Blumen der Felder an, die heute so präch-
tig blühen und morgen zu Heu gemacht werden; könnte Salomo in
all seiner Pracht der freien Schönheit es nachtun? Entschlaget euch
also doch ein wenig der ängstlichen Sorgen um Nahrung und Klei-
dung; das höchste Ziel eures Bestrebens sei das Reich Gottes und
die Sittlichkeit, wodurch ihr allein würdig werdet, Bürger des-
selben zu sein; das Übrige wird sich dann von selber geben.»
«Seid nicht streng in euren Urteilen über andere, denn eben
den Maßstab, den ihr gebraucht, wird man auch auf euch an-
DAS LEBEN JESU 15
wenden und dies möchte nicht immer zu eurem Vorteil ausfallen.
Warum sehet ihr so gern den geringern Splitter in dem Auge des
andern und bemerket nicht den viel größeren in eurem eigenen,
und sagt gar etwa noch zu ihm: Halt, mein Bester, laß dir doch
diesen Splitter aus deinem Auge nehmen? Und siehe, in eurem
eigenen ist der viel größere. Heuchler, zieh zuvor diesen aus,
und dann erst denke daran, den andern zu heilen; arbeite zuvor
an dir selbst, ehe du an andern arbeiten willst. Wie kann ein
Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden nicht beide in
die Grube fallen? Oder kann der Lehrer den Schüler geschickter
machen, als er selber ist (Luk. VI, 40)? Wenn ihr nun andere
bessern wollt, so wendet euch damit nicht unvorsichtigerweise
an einen jeden ohne Unterschied; werfet das Heiligtum nicht
vor die Hunde, noch die Perlen vor die Schweine; sie würden
es nur unter die Füße treten und euch umstürzen. Nahet
euch den Menschen mit Bitten, und sie werden euch oft nach-
geben; suchet eine Seite auf, wo ihr ihnen beikommen könnet;
ihr werdet eine finden; klopfet leise an und ihr werdet Eingang
finden.»
«Was ihr wollen könnet, daß es als allgemeines Gesetz unter
den Menschen auch gegen euch gelte, nach einer solchen Maxime
handelt; dies ist der Grundsatz der Sittlichkeit, der Inhalt aller
Gesetzgebungen und der heiligen Bücher aller Völker. Gehet
durch [diesen engen, scharf abgesteckten Weg des Rechts], diese
Pforte des Rechts ein in den Tempel der Tugend; diese Pforte
ist zwar eng, der Weg dahin gefahrvoll, und eurer Gefährten
werden wenige sein. Desto gesuchter ist der Palast des Lasters
und Verderbens, dessen Tore weit und dessen Straße eben ist.
Nehmet euch auf dem Wege besonders in acht vor falschen
Lehrern, die sich mit der sanftmütigen Miene eines Lammes
sich euch nähern und darunter die Begierden reißender Wölfe
verbergen. Ihr habt ein sicheres Merkmal, durch ihre Verstellung
leicht durchzudringen; beurteilet sie nach ihren Werken; man
Hest ja doch nicht Trauben von Dornbüschen, oder Feigen von
Disteln. Jeder gute Baum trägt gute und der schlechte Baum
schlechte Früchte. Der ist doch kein guter Baum, der schlechte
Früchte trägt, und der kein fauler, der gute Früchte trägt. An
i6 G.W. F. HEGEL
ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen (Luk. VI, 43). Aus
dem Reichtum eines guten Herzens schwillt Gutes, aus der Fülle
eines schlechten Herzens quillt Schlechtes hervor (Luk. VI, 44).
Nicht durch Worte der Frömmigkeit lasset euch täuschen. Nicht
jeder, der zu Gott ruft, der ihm Gebete und Opfer darbringt, ist
ein Glied seines Reiches, sondern nur der, der den Willen Gottes
tut, welcher dem Menschen in dem Gesetz seiner Vernunft ange-
kündigt ist. Viele werden in der Ewigkeit vor dem Weltrichter
sagen: Herr, Herr, wenn wir Wunder taten, wenn wir böse Geister
austrieben, und sonst große Dinge verrichteten, haben wir nicht
deinen Namen dabei gebraucht, dich dabei gepriesen, dir dafür
als deine Werke gedankt? Dann wird ihnen geantwortet werden:
Was sollen nur Wunder und Weissagungen, oder große Taten?
war es darum zu tun? Gott erkennt euch nicht als die Seinigen,
ihr seid nicht Bürger seines Reiches, ihr Wundertäter, ihr Weis-
sager, ihr Verrichter großer Taten I Ihr tatet dabei Böses, und
Sittlichkeit ist der einzige Maßstab der Wohlgefälligkeit Gottes I
Jeder, der diese Grundsätze gehört hat, und sie zu den seinigen
macht, den vergleiche ich mit einem klugen Mann, der sein Haus
auf einen Felsen baute; da nun ein Sturm kam, und die Ströme
daherrauschten und die Winde wehten, so stießen sie auch aut
jenes Haus, aber es fiel nicht, denn es war auf einen Felsen ge-
gründet. Der, der diese Lehre zwar hörte, aber sie nicht befolgt,
den vergleiche ich mit einem Toren, der sein Haus auf Sand
baute; da nun der Sturm kam, so stieß er auch auf dieses Haus
und stürzte es mit großem Krachen ein, denn es hatte einen
leichten Grund.»
Diese Rede machte großen Eindruck auf seine Zuhörer, denn
er sprach mit Kraft und Nachdruck, und die Gegenstände waren
solche, die das höchste Interesse der Menschheit ausmachen. Der
Zulauf, Jesum zu hören (Matth, IX, Mark. II, 13), wurde von
dieser Zeit an immer größer, aber auch die Aufmerksamkeit der
Pharisäer und der jüdischen Priesterschaft auf ihn wurde ver-
mehrt. Um dem Geräusch jener Menge und den Nachstellungen
dieser zu entgehen, zog er sich oft in die Einsamkeit zurück.
Während seines Aufenthalts in Galiläa kam er einst bei einem
Zollhause vorbei und sah dort einen Beamten, namens Matthäus,
DAS LEBEN JESU 17
(höchstwahrscheinlich die gleiche Geschichte und gleiche Person
wovon bei Luk. V, 27, Mark. II, 14 die Rede ist, nur daß hier der
Mann unter dem Namen Levi vorkommt), sitzen, den er auch zu
seiner Nachfolge einladete, und ihn auch nachher seines ver-
trauteren Umgangs würdigte. Er speiste mit ihm und die Ge-
sellschaft bestand aus noch mehreren solchen Beamten; da Zollbe-
amter und Sünder bei den Juden gleichbedeutende Worte waren,
so bezeugten die Pharisäer den Freunden Jesu ihre Verwunderung
darüber. Da dieser es hörte, so sagte er zu ihnen: «Die Gesunden
bedürfen des Arztes nicht, sondern nur die Kranken. Überleget
aber noch bei euch auf dem Wege, was es heißen wolle, was in
euren heiligen Büchern irgendwo steht: Nicht Opfer, sondern
Rechtschaffenheit, sind mir wohlgefällig.»
Einigen Jüngern des Johannes des Täufers fiel es dagegen auf,
daß sie und die Pharisäer so viele Fasten halten, die Freunde Jesu
dagegen nicht; auf ihre Frage darüber antwortete ihnen Jesus:
«Welchen Anlaß hätten sie auch wirklich zur Traurigkeit? Die
Tage werden schon kommen, wo ihnen auch ihr Lehrer, wie
euch der eurige, wird entrissen werden. Dann mögen sie fasten.
Warum sollte ich überhaupt eine solche Strenge in ihrer Lebens-
art von ihnen fordern.'' Es würde weder zu ihrer bisherigen Ge-
wohnheit, noch zu meinen Grundsätzen passen, die keinen Wert
in ein strenges Äußere legen, und noch weniger mir erlauben,
andern eine Beobachtung gewisser Gebräuche aufzuerlegen.»
Da jetzt wieder ein Passahfest einfiel (Joh. V, i), so begab sich
auch Jesus nach Jerusalem. Während seines Aufenthalts daselbst
war es den Juden sehr anstößig, daß er einmal einem armen Kranken
an einem Sabbat einen Liebesdienst erwies; sie sahen darin eine
Entweihung dieses heiligen Tages und eine Anmaßung, ein Gebot,
das Gott selbst gegeben, für nicht verbindlich zu halten, sich gleich-
sam ein Recht, das nur Gott zukomme, herauszunehmen und
seine Autorität der Autorität der Gottheit gleichzusetzen. Jesus
gab ihnen zur Antwort: «Wenn ihr eure kirchlichen Statuten und
positiven Gesetze für das höchste Gesetz haltet, das den Menschen
gegeben ist, so verkennet ihr die Würde des Menschen und das
Vermögen in ihm, aus sich selbst den Begriff der Gottheit und
die Erkenntnis ihres Willens zu schöpfen ; wer das Vermögen in
Hegel, Das Leben Jesu J
i8 G.W. F. HEGEL
sich nicht ehrt, der ehrt die Gottheit nicht. Was der Mensch sein
Ich nennen kann und wodurch er über Grab und Verwesung er-
haben ist und sich selbst seinen verdienten Lohn bestimmen wird,
fähig ist, sich selbst zu richten, es kündigt sich als Vernunft an,
deren Gesetzgebung von nichts mehr abhängig ist, der keine andere
Autorität auf Erden oder im Himmel einen andern Maßstab des
Richtens an die Hand geben kann. Das, was ich lehre, gebe ich
nicht für meine Einfälle, für mein Eigentum aus; ich verlange
nicht, daß irgend jemand auf meine Autorität es annehmen solle,
denn ich suche nicht meinen Ruhm, ich unterwerfe es der Be-
urteilung der allgemeinen Vernunft, die jeden bestimmen mag, es
zu glauben oder nicht. Wie könntet aber ihr Vernunft als höchsten
Maßstab des Wissens und des Glaubens gelten lassen, da ihr die
Stimme der Gottheit nie vernähmet, auf den Nachhall dieser
Stimme in eurem Herzen nie hörtet, auf den nicht achtet, der
diesen Ton anschlägt, da ihr euch ausschUeßend im Besitze
der Wissenschaft dessen, was Wille Gottes sei, glaubet, und die
Auszeichnung, die euch vor allen andern Menschenkindern zu-
kommen soll, zum Gegenstande eures Ehrgeizes machet, da ihr
euch auf Moses und immer auf Moses berufet und euren Glauben
auf fremde Autorität eines einzelnen Mannes gründet? Ja, leset nur
eure heiligen Bücher aufmerksam; aber ihr müsset dazu den Geist
der Wahrheit und der Tugend mitbringen und ihr werdet in ihnen
Zeugnis von diesem Geiste und zugleich eure eigene Anklage
darin finden, daß euer Stolz, der sich in seinem eingeschränkten
Gesichtskreise gefällt, es euch nicht erlaubt, zu etwas Höherem
aufzuschauen, als eure geistlose Wissenschaft und eure mecha-
nischen Gebräuche sind.»
Noch einige Anlässe gaben (Matth. XII, i — 8, Luk. VI, i — 5)
den Pharisäern Veranlassung, Christo und seinen Jüngern Ent-
heiligung des Sabbats vorzuwerfen. Er spazierte an einem
solchen Tage mit seinen Freunden durch ein Ährenfeld; diese
hatten Hunger und rauften Ähren, oder was es sonst für Pflanzen
waren, etwa orientalische Bohnen, aus, und aßen die Körner,
welches sonst wohl erlaubt war. Pharisäer, die dies sahen, mach-
ten Christum darauf aufmerksam, daß seine Jünger etwas tuen,
was am Sabbat nicht erlaubt ist. Christus gab ihnen aber zur Ant-
DAS LEBEN JESU 19
wort: «Erinnert ihr euch aus der Geschichte eures Volkes, daß
David, als er Hunger hatte, die geweihten Brote des Tempels aß
und auch seinen Gefährten davon austeilte? oder daß die Priester
im Tempel auch am Sabbat mannigfaltige Verrichtungen haben?
Soll der Tempel diese Verrichtungen heiligen? Ich sage euch,
der Mensch ist mehr als ein Tempel; der Mensch, nicht ein ge-
wisser Ort, heiligt die Handlungen oder macht sie unheilig. Wenn
ihr überhaupt bedacht hättet, was ich bei einer andern Gelegen-
heit einigen eures Standes sagte, was es heißt: Gott verlangt Liebe,
nicht Opfer, so hättet ihr Unschuldige nicht so streng getadelt. Der
Sabbat ist um des Menschen willen geordnet, nicht dieser um des
Sabbats willen gemacht; der Mensch ist auch Herr des Sabbats. t
Ebenso fragten ihn die Pharisäer (Matth. XII, 9 — 12) in einer
Synagoge an einem andern Sabbat, um einen Grund, ihn anzu-
klagen, zu finden, bei der Gelegenheit, daß ein Mann, der eine
beschädigte Hand hatte, gegenwärtig war, ob es erlaubt sei, diese
Leute zu heilen. Jesus versetzte: «Wer ist unter euch, der nicht
sein Schaf, wenn es ihm an einem Sabbat in eine Grube fällt,
herausziehe? Und wie viel größeren Wert hat nicht ein Mensch,
als ein Schaf? So wird es doch wohl erlaubt sein, am Sabbat
eine gute Handlung zu verrichten!»
Schon aus mehreren Beispielen haben wir dabei den bösen
Willen der Pharisäer gegen Jesum gesehen, und von der Zeit an
verbanden sie sich wirklich mit dem Herodes, Jesum womöglich
aus dem Wege zu räumen. Wir treffen diesen jetzt wieder in
Galiläa an, wo er seinen Aufenthalt wegen jener Nachstellungen
verborgen hielt, auch seinen Zuhörern, die sich bei ihm einfanden,
es einschärfte, seinen Aufenthalt nicht bekannt zu machen.
Aus der Menge seiner Zuhörer (Luk. VI, 12 — 13) sonderte
Jesus jetzt zwölf ab, die er seines besonderen Unterrichts würdigte,
um sie tüchtig zu machen, ihn in der Ausbreitung seiner Lehre
zu unterstützen, und da Jesus nur zu gut einsah, daß das Leben
und die Kraft eines Menschen nicht hinreiche, eine ganze Nation
zur Moralität zu bilden, um doch einige zu haben, denen er seinen
Geist rein einhauchen könnte.
Luk. VII, 18. Bei der Gelegenheit, daß Johannes einige seiner
Freunde an Jesum geschickt hatte, um ihn über den Zweck seiner
2»
20 G.W. F. HEGEL
Rede zu befragen, machte Jesus den Pharisäern Vorwürfe über
den Kaltsinn, womit sie den Aufruf des Johannes zur Besserung
angenommen hatten. «Welche Neugierde, sagte er, trieb euch?
denn Begierde, euch zu bessern, war es doch nicht? Warum
seid ihr hinaus in die Wüste gegangen ? Et\va euresgleichen zu
sehen, einen charakterlosen Mann, der seine Maximen nach
seinem Vorteil ändert? ein Schilfrohr, das vom Winde hin und
her getrieben wird? oder einen Mann in prächtigen Kleidern, der
viel Aufwand macht? Solche träfet ihr nicht in einer Wüste,
nur in den Palästen der Könige an! Oder etw-a einen Wahrsager,
einen Wundermann? Johannes war mehr als dies! Beim ge-
meinen \'olk fand Johannes noch eher Eingang. Aber die Herzen
von Pharisäern und rechtgläubigen Gesetzgelehrten konnte Jo-
hannes nicht erschüttern oder sie des Guten empfänglich machen.
Mit was soll ich denn diese Menschenart vergleichen? Etwa mit
Knaben, die auf dem Markte spielen und den andern zurufen:
«Wir haben euch gepfiffen und ihr habt nicht getanzt! Nun
haben wir euch traurige Lieder gesungen, aber ihr habt auch
nicht geweint!» Johannes aß kein Brot und trank keinen Wein;
ihr saget, eine böse Laune plage ihn; ich esse und trinke wie
andere Leute, da saget ihr: «der Mann ist ein Fresser und Säufer
und geht mit schlechten Leuten um. Doch Weisheit und Tugend
werden \''erehrer finden, die ihren Wert rechtfertigen werden.»
Ohngeachtet dieser Strafpredigt lud ihn ein Pharisäer, namens
Simon, zum Mittagessen ein. Eine Frau, die den Lehren Jesu
wahrscheinlich viel zu verdanken hatte, hatte dies erfahren und
kam mit einem Gefäß köstlicher Salben in das Zimmer, und
näherte sich Jesu. Der Anblick des Tugendhaften und das Ge-
fühl ihres schuldvollen Lebens machte sie Tränen vergießen und
sich zu seinen Füßen werfen, in der Empfindung dessen, was er
zu ihrer Reue und Rückkehr auf den Weg der Tugend beige-
tragen hatte; sie küßte seine Füße, benetzte sie mit ihren Tränen,
trocknete sie mit ihren Locken und salbte ihn mit köstlicher
Salbe. Die Güte, womit Jesus diese Äußerungen, worin ein reu-
volles und dankbares Herz Linderung findet, aufnahm, die Güte
Jesu, die diese Empfindung nicht zurückstieß, beleidigte die Deli-
katesse der Pharisäer. Sie ^aben in ihren Mienen ihr Befremden
DAS LEBEN JESU 21
zu erkennen, daß Jesus einer Frau von einem solchen Übeln Rufe
so gütig begegne. Jesus merkte es und sagte zu Simon: «Ich
hätte dir etwas zu erzählen.» — «Rede nur», sagte Simon. —
«Ein Schuldherr, erzählte Jesus, hatte zwei Schuldner, deren
einer ihm fünfhundert, der andere fünfzig Denare schuldig war.
Da sie außerstande waren, ihm die Schuld heimzubezahlen, so
erheß er sie ihnen. Welcher wird ihn von beiden mehr lieben?»
— «Wohl der, sagte Simon, dem er am meisten schenkte.» —
«Ohne Zweifel, erwiderte Jesus, indem er auf die Frau zeigte:
«Schau hieher, fuhr er fort. Ich kam in dein Haus; du hast mir
kein Wasser, die Füße zu waschen, angeboten; sie hat sie mit
ihren Tränen benetzt und mit den Locken ihres Hauptes abge-
trocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; sie hat es nicht
unter ihrer Würde gehalten, mir sogar die Füße zu küssen. Du
hast mein Haupt nicht mit Salbe gesalbt; sie hat es mit köstlicher
Salbe meinen Füßen getan. Einem Weibe, das solcher Liebe,
solcher Dankbarkeit fähig ist, sind ihre Fehler, und wenn es schon
viele wären, verziehen. Kälte solcher edeln Empfindungen zeigt
keine Rückkehr zur Unbefangenheit der Tugenden an. Ein gött-
licher Genuß, sagte Jesus noch zu der Frau, den Sieg des Glau-
bens an dich selbst, noch des Guten fähig zu sein, und deines
Mutes zu sehen ! Lebewohl!»
Jesus zog weiter durch Städte und Dörfer (Luk. VIII, i) und
predigte überall. Seine Begleiter waren seine zwölf Apostel, auch
einige zum Teil reiche Frauen, die die Gesellschaft aus ihrem
Vermögen unterhielten.
Einst, in Gegenwart einer großen Versammlung, legte er ihnen
folgende Parabel vor (d. i. erdichtete Erzählung, die eine gewisse
Lehre sinnlich darstellt; sie unterscheidet sich von den Fabeln da-
durch, daß in diesen Tiere, von den Mythen, daß in diesen Dämonen
oder allegorische Wesen, in den Parabeln Menschen die handeln-
den Personen sind): «Ein Sämann ging aus, seinen Samen zu
säen; ein Teil desselben fiel auf den Weg und wurde zertreten
und von den Vögeln gefressen; ein anderer Teil fiel auf Felsen-
grund, wo er nicht viel Erde hatte ; er ging bald auf, aber von
der Hitze welkte er bald dahin, weil er keine tiefen Wurzeln
hatte; anderer Samen fiel in Dornhecken, die aufschössen und
22 G.W. F. HEGEL
ihn erstickten ; ein Teil fiel aber auf gutes Land und gab dreißig-,
sechzig- bis hundertfältige Früchte.» Als seine Jünger ihn darüber
befragten, warum er dem Volke die Lehren in Parabeln eingehüllt
vortrage, so gab er ihnen zur Antwort: «Ihr habt wohl Sinn für
die erhabenen Ideen von dem Reiche Gottes, und von der Sitt-
lichkeit, die das Bürgerrecht in demselben gibt; aber die Erfahrung
hat mich belehn, daß dies verlorene Worte bei den Juden sind,
und doch verlangen sie etwas von mir zu hören; ihre tiefen Vor-
urteile lassen die nackte Wahrheit nicht bis an ihr Herz dringen.
Wer Anlage hat, ein Besseres in sich aufzunehmen, der kann
Nutzen aus meinen Lehren ziehen; wenn aber jener bessere Sinn
fehlt, dem dient auch die wenige Erkenntnis des Guten zu nichts,
die er etwa haben mag. Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren
und hören nicht; deswegen habe ich nur ein Gleichnis zu ihnen
gesprochen, das ich euch jetzt erklären will. Der ausgesäete Samen
ist die Erkenntnis des Sittengesetzes. Wer nun Gelegenheit hat,
zu dieser Erkenntnis zu gelangen, sie aber nicht fest auffaßte, dem
reißt gar leicht ein Verführer das wenige Gute aus dem Herzen,
das etwa darein gesäet war. Dies bedeutet den Samen, der auf
die Straße fiel. Der auf einen feisichten Grund gesäet wurde ist
die Erkenntnis, die zwar mit Freuden aufgenommen wird, aber
weil sie keine tiefe Wurzel geschlagen hat, bald den Umständen
nachgibt, und wenn Not und Unglück die Rechtschaffenheit be-
drohen, dann scheitert. Der Samen, der in Hecken fiel, ist der
Zustand solcher, die zwar wohl auch von der Tugend haben
sprechen hören, in denen sie aber von den Sorgen des Lebens und
der täuschenden Verführung des Reichtums erstickt wird, und
ohne Früchte bleibt. Der Samen, der auf einen guten Grund ge-
säet wurde, ist die Stimme der Tugend, die verstanden wurde,
und dreißig-, sechzig- bis hundertfältige Frucht trägt.»
Erlegte ihnen noch andere Parabeln vor (Matth. XIII, i8 — 23):
Das Reich des Guten läßt sich mit einem Acker vergleichen, den
der Besitzer desselben mit gutem Samen angesäet hatte. Während
die Leute schliefen, kam sein Freund und säete Unkraut unter
den Weizen und schlich sich davon. Als nun der Samen in
Ähren zu schießen anfing, so zeigte sich auch das Unkraut. Die
Knechte frugen den Herrn: «Du hast doch reinen Samen gesäet.
DAS LEBEN JESU 23
Wie kommt es, daß so viel Unkraut auf dem Acker ist?» — «Ein
Feind von mir wird es wohl gesäet haben, antwortete der Herr.»
Die Knechte sagten: «Willst du nicht, daß wir es ausjäten?» —
«Nein, antwortete der klügere Herr, denn mit dem Unkraut würdet
ihr auch die Weizenähren ausreißen. Lasset beides nur bis zu
der Ernte miteinander wachsen; dann werde ich den Schnittern
befehlen, das Unkraut zu sondern und wegzuschaffen und den
reinen Weizen aufzuheben.»
Als Jesus mit seinen Jüngern allein war, und sie ihn um die
Erklärung desselben befragten, gab er ihnen folgende Antwort:
«Der Säemann des guten Samens sind gute Menschen, die durch
ihre Lehren und ihr Beispiel die Menschen auf die Tugend auf-
merksam machen; der Acker ist die Welt; der gute Samen sind
die besten Menschen, das Unkraut die lasterhaften; der Feind,
der Unkraut aussäet, sind Verführungen und Verführer; die Zeit
der Ernte ist die Ewigkeit, die Vergelterin des Guten und des
Bösen; indessen stehen Tugend und Laster in zu genauer Ver-
bindung miteinander, als daß dieses ohne Schaden der erstem
schon ausgerottet werden könnte; so werden in der großen
Erntezeit gute und böse Menschen sich voneinander unter-
scheiden, jene durch die Belohnung, die sie in der Ruhe finden,
die die Tugend gibt, diese durch Reue, Selbstanklage und Scham.»
Auch verglich er das Reich des Guten mit einem verborgenen
Schatz in einem Acker, den einer entdeckt, aber wieder verbirgt
und dann in der Freude alles verkauft, was er hat, und jenen Acker
kauft, — oder mit einem Kaufmann, der schöne Perlen sucht, und
eine sehr kostbare findet, für die er alles verkauft, um Besitzer
derselben zu werden, — oder mit einem Fischer, der in seinem
Netz Fische aller Art gefangen hat, sie dann am Ufer ausliest, die
guten in seine Gefäße legt, die schlechten aber hinauswirft. In
einer andren Rücksicht verglich er das Reich des Guten mit einem
Senfkorn, das so klein ist, aber zu einer großen Staude aufwächst,
daß die Vögel darin nisten können, — oder mit ein wenig ge-
säuertem Teig, der unter drei Scheffel Mehl geknetet die ganze
Masse durchsäuert. Es geht mit dem Reich des Guten wie mit
dem Samen, der in den Boden gesäet keiner weiteren Mühe be-
darf; er keimt und treibt sich, ohne daß man es bemerkt; denn
24 G.W. F. HEGEL
die Erde hat von Natur eine eigene Triebkraft, wodurch der
Same keimt, zu Halmen aufschießt und volle Ähren trägt (Mark.
V, 26 ff.).
Indessen waren Anverwandte Jesu (Luk. VIII, 19) gekommen,
ihn zu besuchen. Vor der Menge Menschen, die ihn umgaben,
konnten sie sich ihm nicht nähern. Da man es Jesu sagte, ant-
wortete er: «Meine Brüder und Verwandten sind diese, die auf
die Stimme der Gottheit hören und ihr folgen.»
Auf die Nachricht von der Ermordung des Johannes Heß er
sich an das westliche Ufer des Sees Tiberias überschiffen (Luk.
VIII, 22, Matth. XIV, 13), hielt sich aber nur eine kurze Zeit
unter den Gadarenern auf, und kehrte wieder nach Galiläa
zurück.
Seine zwölf Apostel schickte Jesus um diese Zeit aus (Luk. IX),
um, wie er, die Vorurteile der Juden zu bestreiten, die, stolz auf
ihren Namen und auf ihre Abstammung, dies, welches in ihren
Augen ein großer Vorzug war, über den einzigen Wert setzten,
den die Sittlichkeit dem Menschen gibt. «Ihr brauchet keine
große Anstalten zu eurer Reise zu machen, sagte Jesus, euch durch
irgend einen Aufwand anzukündigen. Wo man euch Gehör gibt,
da haltet euch eine Zeitlang auf; w^er euch ungütig aufnimmt, dem
dringet euch nicht auf, sondern verlasset den Ort gleich wieder
und setzet euren Weg weiter fort.» Es scheint, sie seien nur
wenige Zeit ausgeblieben und haben sich bei Jesu bald wieder
eingefunden.
Einst befand er sich in einer Gesellschaft (Mark. VII) von Phari-
säern und Gesetzgelehrten, die von Jerusalem kamen. Diesen fiel
es auf, daß die Jünger sich mit unreinen Händen zu Tische setzten:
denn die Juden, nach einer Vorschrift, die sich auf das Her-
kommen gründet, essen nichts, ehe sie sich nicht sehr reinlich
gewaschen haben; so mußten auch außerdem, daß sie schon rein
gemacht waren, vor jedem Essen alle Trinkgeschirre und sonstigen
Gefäße, Stühle und Bänke mit Wasser bespritzt werden. Die
Pharisäer fragten Jesum : «Warum leben doch nicht deine Schüler
nach den Vorschriften unsrer Väter, sondern setzen sich mit
ungeweihten Händen zu Tische.''» Jesus antwortete: «Eine Stelle
eurer heiligen Bücher läßt sich gut auf euch anwenden; sie heißt:
DAS LEBEN JESU 25
Dies Volk dient mir mit den Lippen ; ihr Herz aber ist weit von
mir; seelenlos ist ihre Verehrung, denn sie ist eine Befolgung
willkürlicher Satzungen. Ihr achtet nicht das göttliche Gebot,
sondern haltet euch ganz an menschliche Gebräuche, z. B. an
das Weihen der Becher und Stühle durch Wasser, und ähnliche
dergleichen Dinge; darin seid ihr genau. Ein göttliches Gebot
z. B., das ihr so aufhebet, um euren kirchlichen Statuten getreu
zu bleiben, ist das Gesetz: Ehre deinen Vater und deine Mutter,
wer gegen Vater und Mutter lieblose Reden ausstößt, soll sterben.
Ihr aber habt ein anderes Gesetz aufgestellt. Wenn jemand im
Zorn zu seinem Vater oder Mutter gesprochen hat: «Was ich
euch noch für Dienste erweisen, oder euch Gutes tun könnte,
das soll dem Tempel geweiht sein» — so erkläret ihr ihn dadurch
als durch ein Gelübde gebunden, ihnen nichts mehr Gutes zu er-
weisen und rechnet es ihm für eine Sünde an, wenn er seinem
Vater oder Mutter noch irgend einen Dienst erwiese. So hebet
ihr jenes göttUche Gebot durch eure Gebote wieder auf. Auf
ähnliche Art habt ihr noch mehrere Satzungen.»
Jesus sagte darauf zu der Menge, die um ihn her stand:
«Höret mir zu und begreifet, was ich euch sage: Kein körper-
liches Ding, nichts, das der Mensch von außen her in sich nimmt,
kann ihn verunreinigen, sondern das, dessen Urheber er ist; was
aus seinem Munde ausgeht, zeigt an, ob seine Seele rein oder un-
rein ist.» Seine Schüler wollten ihn darauf aufmerksam machen,
daß die Pharisäer ein Ärgernis an diesen Reden nehmen. «Lasset
sie sich ärgern, sagte Jesus; solche Pflanzungen, die von Menschen
herrühren, müssen ausgerottet werden. EssindBHnde, die Blinden
den Weg weisen, und solchen blinden Wegweisern möchte ich
das Volk entreißen; sonst fällt dieses mit denen in die Grube,
denen es sich anvertraut.» Als das Volk sich zerstreut hatte, und
Jesus in das Haus zurückgekehrt war, so fragten ihn seine Freunde
um Erläuterung dessen, was er dem Volke von reinen und un-
reinen Dingen gesagt hatte. «Wie? versetzte Jesus. Auch ihr
seid noch nicht so weit gekommen, es zu fassen? Begreifet ihr
denn nicht, daß das, was durch den Mund des Menschen geht,
im Magen und in den Gedärmen verarbeitet und durch die Ab-
führungswege fortgeschafft wird? Was aber aus dem Munde geht,
26 G.W. F. HEGEL
Worte und Handlungen überhaupt, kommen aus dem Gemüt des
Menschen, und diese können rein oder unrein, heilig oder unheilig
sein. Aus der Seele entspringen doch die bösen Gedanken, die
Mordtaten, die Ehebrüche, die Diebstähle, die falschen Zeugnisse,
die Schmähungen, Neid, Hochmut, Schwelgerei, Geiz. Diese
Laster sind es, die den Menschen entheiligen, nicht das, wenn er
etwa die Hände nicht mit Wasser weiht, ehe er sich zu Tische
setzt.»
Zur Zeit des Laubhüttenfestes der Juden (Joh. VII) redeten Jesu
seine Verwandten zu, mit ihnen nach Jerusalem zu reisen, um
dort auf einem größern Schauplatz, als in den galiläischen Städten
und Dörfern, sich hören zu lassen und bekannt zu machen. Er
gab ihnen aber zur Antwort, für ihn sei es jetzt keine schickliche
Zeit; sie können nur immer gehen, sie werden von den Menschen
nicht gehaßt, wie er, weil er den Juden das Zeugnis gegeben habe,
daß ihre Sitten verderbt und ihre Handlungen böse seien. Erst
einige Tage nachdem seine Verwandten aus Galiläa abgereist
waren, ging auch Jesus, aber ganz in der Stille, nach Jerusalem.
Dort waren schon Nachfragen nach ihm geschehen, denn man
hatte ihn als einen Juden erwartet. Das Urteil des Volkes, besonders
der Galiläer, fiel verschieden über ihn aus. Ein Teil hielt ihn für
einen rechtschaffenen Mann, ein anderer Teil sah ihn als einen
Verführer an, doch wagten es die Galiläer aus Furcht vor den
Juden nicht, öffentlich von ihm zu sprechen.
Einst, in der Mitte der Tage des Festes, begab sich Jesus in den
Tempel und lehrte dort. Die Juden wunderten sich hierüber, da
sie wußten, daß er nicht studiert habe. Jesus gab ihnen zur Ant-
wort: «Meine Lehre ist nicht eine Erfindung der Menschen, die
mühsam von andern erlernt zu werden brauchte. Wer ohne
Vorurteile dem unverfälschten Gesetze der Sittlichkeit zu folgen
sich vorgesetzt hat, der wird meine Lehre gleich prüfen können,
ob sie meine Erfindung ist. Wer seinen eignen Ruhm sucht, setzt frei-
lich einen großen Wert aufSpekulationen und Gebote der Menschen.
Wer aber die Ehre Gottes wahrhaftig sucht, der ist aufrichtig
genug, jene Erfindungen, die die Menschen dem Sittengesetz
beigesellt, oder gar an seiner Statt gesetzt haben, zu verwerfen.
So weiß ich, daß ihr mich hasset und gar mich zu töten trachtet,
DAS LEBEN JESU 27
weil ich es für erlaubt erklärt habe, am Sabbat einen Menschen
zu heilen. Erlaubte euch doch Moses, den Menschen am Sabbat
zu beschneiden I Wie viel mehr, ihn gesund zu machen 1» Einige
Jerusalemer, die ihn sprechen hörten, zeigten durch ihre Reden,
daß sie von einem Vorhaben des hohen Rats, Jesum aus dem Wege
zu räumen, gehört hatten. Sie verwunderten sich, ihn so öffent-
lich und frei sprechen zu hören und daß doch noch niemand Hand
an ihn lege, da man dies doch im Sinne habe; der Messias, den
die Juden erwarteten, um den Glanz ihres Gottesdienstes und die
Unabhängigkeit ihres Reiches wiederherzustellen, könne Jesus
freilich nicht sein; denn von ihm wissen sie ja, woher er sei; der
Messias hingegen werde den Prophezeiungen zufolge plötzlich
erscheinen. So standen Jesu immer die Vorurteile der Juden ent-
gegen, die wenig nach einem Lehrer fragten, der ihre Sitten zu
verbessern und sie von ihren der Moralität entgegengesetzten Vor-
urteilen zurückzubringen suchte, sondern einen Messias wollten,
der sie von der Abhängigkeit der Römer befreite und einen solchen
an Jesu nicht fanden.
Den Mitgliedern des hohen Rats gaben ihre Diener bald Nach-
richt davon, daß Jesus sich im Tempel befinde; sie bekamen Vor-
würfe, daß sie Jesum nicht gleich gefangen mitgebracht hatten.
Sie entschuldigten sich damit, daß sie noch niemand so haben
sprechen hören und es nicht gewagt haben, ihn zu packen. Die
Pharisäer sagten ihnen darauf: «Wie es scheint, auch euch hat
er verführt; sehet ihr denn, daß ein Mitglied des Rats oder ein
Pharisäer etwas auf ihn hält.-* Nur der unserer Gesetze unkundige
Pöbel läßt sich von ihm täuschen.» Als Nikodemus, der Jesum
einst bei Nacht besucht hatte, ihnen vorstellte, daß man nach den
Gesetzen niemand verdammen könne, ohne ihn vorher gehört
und von seinen Handlungen genau sich unterrichtet zu haben,
so warfen ihm die andern vor, er sei wohl auch ein Anhänger
des Galiläers; aus Galiläa könne doch kein Prophet herstammen.
Ohne, wie es scheint, wegen Jesu einen förmlichen Beschluß ge-
faßt zu haben, ging der Rat wieder auseinander.
Jesus brachte die Nacht auf dem Ölberg (Joh. VIII), vielleicht
in Bethanien zu, das an dem Fuß dieses Berges lag, wo er Be-
kannte hatte; doch kam er wieder in die Stadt und in den Tem-
28 G.W. F. HEGEL
pel zurück. Während er da lehrte, führten einige Gesetzgelehrten
und Pharisäer eine Frau, die im Ehebruch enappt worden war,
zu ihm, stellten sie in die Mitte, um gleichsam Gericht über sie
zu halten, und legten Jesu den Fall vor, daß das Gesetz Moses
befehle, eine solche mit Steinen totzuwerfen, und fragten ihn,
was seine Meinung sei? Jesus sah ihre Absicht, ihm eine Schlinge
zu legen, wohl ein, stellte sich, nichts gehört zu haben, und bückte
sich und machte mit dem Finger Figuren in den Sand. Als sie
darauf bestanden, seine Meinung zu hören, erhob er sich und
sagte zu ihnen: «Wer sich unter euch ohne Vergehen weiß, der
werfe den ersten Stein auf sie. » Dann machte er wie vorhin Fi-
guren in den Sand. Auf jene Antv.-ort Jesu hatte sich von den
Schriftgelehrten einer um den andern davongeschlichen und Jesus
blieb mit der Frau allein. Jesus erhob sich jetzt und sah nie-
mand mehr als noch die Frau. «Wo sind deine Ankläger, fragte
er, hat keiner dich verurteilt?» — «Keiner», sagte sie. «Auch ich,
erwiderte Jesus, verdamme dich nicht; lebe wohl, und vergehe
dich in Zukunft nimmer.»
Joh. VIII, 12 — 20. Als Jesus ein andermal im Tempel einen
öffentlichen Vortrag hielt, so hielten ihm die Pharisäer entgegen,
welches Zeugnis er aufweisen könne, das ihm selbst und andern
die Wahrheit seiner Lehren verbürgen könne; sie genießen das
Glück, eine Verfassung und Gesetze zu haben, die durch feier-
Hche Offenbarungen der Gottheit legitimiert seien. Jesus gab
ihnen zur Antwon: «Glaubet ihr etwa, die Gottheit habe das
menschliche Geschlecht in die Welt geworfen und der Natur
überlassen, ohne ein Gesetz, ohne ein Bewußtsein des Endzwecks
ihres Daseins, ohne die Möglichkeit, in sich selbst es zu finden,
wie es der Gottheit wohlgefällig werden könne?* es sei eine Sache
des Glückes, daß die Kenntnis der moralischen Gesetze euch allein,
diesem Winkel der Erde, man weiß nicht warum, ausschließlich
aller Nationen der Erde zuteil geworden sei? Dies macht euch
die selbstsüchtige Eingeschränktheit eurer Köpfe zu wähnen. Ich
halte mich allein an die unverfälschte Stimme meines Herzens
und Gewissens. Wer aufrichtig dieser horcht, dem leuchtet aus
* Goethe: Jeder vernimmt sie, dem des Lebens Quelle rein im Busen fließt.
(Anmerkung 1)
DAS LEBEN JESU 29
ihr Wahrheit entgegen. Auf diese Stimme zu hören fordre ich
allein von meinen Schülern. Dieses innerliche Gesetz ist ein
Gesetz der Freiheit, dem sich, als von ihm selbst gegeben, der
Mensch freiwillig unterwirft. Es ist ewig; in ihm liegt das Ge-
fühl der Unsterblichkeit. Für die Pflicht, die Menschen damit
bekannt zu machen, bin ich bereit, wie ein treuer Hirt für seine
Herde, das Leben zu lassen. Ihr möget mir es nehmen, so raubet
ihr mir es nicht, sondern frei opfere ich es selbst auf. Ihr seid
Sklaven, denn ihr stehet unter dem Joche eines Gesetzes, das
euch von außen aufgelegt ist, und darum nicht die Macht hat,
euch durch Achtung für euch selbst dem Dienste der Neigungen
zu entreißen.»
Die Aufnahme, die Jesus in Jerusalem gefunden hatte, die
Stimmung der Juden und besonders der Priesterschaft gegen ihn,
welche den Beschluß gefaßt hatten, diejenigen in Bann zu tun,
aus der Teilnehmung am Gottesdienst und am öffentlichen Unter-
richt auszuschUeßen (Joh. IX), die Jesum für den Messias, den die
Juden erwarteten, wofür er sich im öffentlichen ausgegeben hatte,
halten würden, — diese feindselige Stimmung gab ihm ein Vorge-
fühl von Gewalttätigkeiten (vielleicht dem Tod), die er noch
werde zu erdulden haben, und er teilte diese Gedanken auch
seinen Jüngern mit. «Wir wollen doch nicht hoffen, sagte Petrus,
da sei Gott vorl» «Wie.-' antwortete Jesus, bist du schwach ge-
nug, nicht darauf bereitet zu sein, oder etwa mich nicht darauf
bereitet zu glauben ? Wie sinnlich denkst du noch I Du kennst
die göttliche Kraft noch nicht, die die Achtung für Pflicht gibt,
ihr zuliebe die Forderung der Neigungen und selbst die Liebe
zum Leben zu besiegen!» Dann wandte er sich zu den übrigen
Jüngern: «Wer der Tugend folgen will, muß sich Verleugnungen
aufzulegen wissen ; wer ihr unverrückt getreu bleiben will, muß
ihr selbst sein Leben aufzuopfern bereit sein. Wer sein Leben
lieb hat, wird seine Seele entadeln; wer es verachtet, der bleibt
seinem bessern Ich getreu und rettet es aus dem Zwange der
Natur. Welcher Wert bliebe dem Menschen, dem die ganze
Welt zur Beute würde und der sein Selbst darüber erniedrigte.!*
Welchen Preis gäbe es, der eine Entschädigung für die verlorene
Tugend wäre.!* Einst wird der Unterdrückte in Herrlichkeit
30 G.W. F. HEGEL
glänzen und die in ihre Rechte eingesetzte Vernunft wird selbst
jedem den Lohn seiner Taten bestimmen.»
Nach längerem Aufenthalt in Jerusalem, als Jesus sonst machte,
(denn er blieb vom Laubhüttenfest bis zum Fest der Tempelweihe
im Dezember, Joh. X, 22), kehrte Jesus, und zwar zum letzten
Male, nach der Gegend, die der gewöhnliche Schauplatz seines
Lebens war, nach Galiläa, zurück (Matth. XVII, 22). In dieser
Zeit seines dortigen Aufenthalts scheint er nicht mehr, wie vor-
hin (Mark. IX, 30), vor einer großen Volksmenge gelehrt, sondern
sich vorzüglich mit der Bildung seiner Jünger beschäftigt zu
haben.
Matth. XVII, 24 — 27. In Kapernaum forderte man von ihm
die jährliche Steuer zum Besten des Tempels. «Was meinst du,
Petrus, sagte er zu diesem, als er mit ihm ins Haus trat, die Könige
der Erde fordern Steuern ein, etwa von ihren Söhnen oder von
andern?» — «Von andern», sagte Petrus. — «So wären also die
Söhne frei, erwiderte Jesus, und war, die Gott im wahren Geiste
des Wortes verehren, brauchten nichts zur Erhaltung eines Tem-
pels beizutragen, dessen wir nicht bedürfen, um Gott zu dienen,
denn wir suchen dies durch einen guten Lebenswandel zu tun.
Doch damit sie kein Ärgernis nehmen und wir keine Verachtung
desjenigen zeigen, was ihnen so heilig ist, so bezahle für uns.»
Luk. IX, 46 — 50. Unter den Jüngern Jesu entstand ein Streit
über den Rang, der einem jeden gebührte, besonders im Reiche
Gottes, wenn es einst erscheinen sollte, indem sie damit noch
sehr sinnliche Ideen verbanden, von dem jüdischen Sinne eines
weltlichen Reiches noch nicht ganz frei waren, noch nicht sich
diese Idee des Reiches Gottes als eines Reichs des Guten, worin
Vernunft und Gesetz allein gebieten, rein dachten. Jesus hörte
mit Wehmut diesen Streit, rief dann ein Kind und sagte ihnen:
«Wenn ihr euch nicht ändert, und zu der Unschuld, zu der Ein-
falt und Anspruchslosigkeit, die dieses Kind hat, zurückkehret,
so seid ihr wahrlich nicht Bürger des Reiches Gottes; wer
gegen andere, selbst gegen ein solches Kind fehlt, und sich gegen
sie etwas herausnehmen oder sie gleichgültig behandeln zu dürfen
glaubt, der ist ein Unwürdiger; wer aber die Heiligkeit der Un-
schuld beleidigt und ihrer Reinheit weh tut, dem wäre es besser,
DAS LEBEN JESU 31
man hinge ihm einen Mühlstein an den Hals und ersäufte ihn im
Meere. In der Welt wird es freilich immer nie an Verletzungen
einer reinen Gesinnung fehlen, aber wehe dem Menschen, der zu
einem solchen Ärgernis Anlaß gibt! Sehet euch wohl vor, nie-
mand, am wenigsten Einfalt des Herzens zu verachten; es ist die
zarteste, die edelste Blüte der Menschheit, das reinste Ebenbild
der Gottheit; sie allein gibt einen, und zwar den höchsten Rang;
diese Einfalt ist wert, daß alles aufgeopfert werde, was eure lieb-
sten Neigungen sind, jede Regung von Eitelkeit und Ehrgeiz
oder von falscher Scham, alle Rücksichten von Nutzen oder Vor-
teil. Wenn ihr derselben nachstrebet, wenn ihr die Würde, zu
der jeder Mensch bestimmt und deren jeder fähig ist, zu schätzen
wisset, und endlich bedenket, daß nicht allen Bäumen eine Rinde
wachsen könne, sondern daß wer in dem, was der Menschheit not
tut, nur nicht wider euch ist, im übrigen aber, was gleichgültig
ist, andere Sitten, andere Manieren hat, daß der für euch ist, —
so wird euch keine Eitelkeit, keine Überhebung über andere an-
wandeln.»
«Wo ihr aber wirklich etwas verloren glaubet, da gebet euch
Mühe, statt es zu verachten, es zu bessern, den Menschen auf
den Weg der Tugend zu leiten. Was meinet ihr, wird nicht der
Hirt, dem von hundert Schafen eins sich verloren hat, die Ge-
birge durchstreifen, um dies verirrte zu suchen? und wenn er das
Glück hat, es zu finden, so wird seine Freude über dasselbe größer
sein, als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrten.»
«Wenn aber ein Mensch sich gegen dich verfehlt, so suche es
zwischen ihm und dir auszumachen; bringe ihn zur Erklärung
und verständige dich mit ihm; hört er dich an, so ist es dein
Fehler, wenn du dich mit ihm nicht verständigen kannst ; hört
er dich nicht an, so nimm noch einen oder zwei mit dir, um das
Mißverständnis zu heben; gelingt auch das nicht, so unterwerfet
euren Streit dem Urteil mehrerer Schiedsrichter; beut er euch
dann die Hand nicht zur Versöhnung, und du hast von deiner
Seite alles getan, so fliehe ihn und habe nichts mehr mit ihm zu
schaffen. Beleidigungen und Unrecht, die Menschen einander
verziehen und wieder gut gemacht, ersetzt haben, sind auch
im Himmel verziehen; wenn ihr so im Geist der Liebe und Ver-
32 G.W. F. HEGEL
söhnlichkeit beisammen seid, da ist der Geist unter euch, mit dem
ich euch zu beleben wünschte.»
Petrus fragte hierauf Jesum (Matth. XVIII, 21 — 35): «Wie oft
muß ich einem Menschen vergeben, der mich beleidigt, oder mir Un-
recht tut? etwa bis auf siebenmal?» — «Glaubst du etwa, dies sei
oft? versetzte Jesus. Ich sage dir, bis auf siebenmal siebenmal.
Höret eine Geschichte: Ein Fürst wollte Rechnung halten mit
seinen Dienern. Bei einem fand er eine Schuld von zehntausend
Talenten; da er diese Summe nun nicht hatte, so hieß er ihm
alles, was er sein Eigentum nennen könne, selbst Frau und
Kinder als Sklaven zu verkaufen und ihn zu bezahlen. Der
Diener fiel ihm zu Füßen, flehte um Geduld und um Frist, er
wolle ihm noch alles bezahlen; der Herr fühlte Mitleiden mit
seiner Lage und erließ ihm die ganze Schuld. Als dieser Diener
von seinem Herrn wegging, traf er einen seiner Mitdiener an, der
ihm hundert Denare (eine Summe gegen die andere wie eins zu
mehr als einer Million) schuldig war; er fuhr ihn an und ver-
langte ungestüm die Bezahlung der Schuld, hörte nicht auf das
fußfällige Flehen des andern um Geduld, sondern ließ ihn ins
Gefängnis setzen, bis das Ganze abbezahlt sei. Die andern Die-
ner, die dies mit ansahen, betrübte diese Behandlung aufs äußerste
und sie meldeten es dem Fürsten. Dieser ließ den harten Mann
zu sich kommen und sagte ihm: Hartherziger, auf deine Bitten
habe ich dir deine große Schuld erlassen; hättest du nicht dich
des andern erbarmen sollen, wie ich mit dir Mitleid hatte? Hin-
weg mit ihm ! Und der Fürst befahl, ihn im Gefängnis zu be-
halten, bis er alles würde abgetragen haben. — In diesem Bilde
sehet ihr, daß Versöhnlichkeit ein Kennzeichen einer gereinigten
Gesinnung ist, welche allein von der heiligen Gottheit für die
oft mangelhafte Tat als vollgültig angenommen wird, welche die
einzige Bedingung ist, unter welcher ihr hoffen könnet, von der
ewigen Gerechtigkeit Freiheit von Strafe zu erhalten, die euer
vorheriger Lebenswandel verdiente, — die Bedingung, durch
Sinnesänderung andere Menschen zu werden.»
Jesus entschloß sich jetzt, wieder nach Jerusalem zurück zu
gehen (Luk. IX, 51), und zwar den Weg durch Samaria zu neh-
men, und schickte einige von seiner Gesellschaft voraus, um in
DAS LEBEN JESU 33
einem Flecken das Nötige vorzubereiten. Weil aber die Sama-
riter ihren Entschluß sahen, auf das Passahfest nach Jerusalem zu
reisen, so wollten sie ihnen nicht reine Gastfreundschaft erweisen,
oder verweigerten ihnen gar die Durchreise. Einige Begleiter
Jesu hatten den Einfall, den Himmel bitten zu wollen, mit seinen
Blitzen diesen Flecken zu verzehren. Jesus wandte sich unwillig
gegen sie: «Ist dies der Geist, der euch beseelt, der Geist der
Rache, der, wenn ihm die Kräfte der Natur zu Gebote ständen,
sie anwendete, eine unfreundliche Begegnung mit Zerstörung zu
rächen? Zum Reiche des Guten aufzubauen, nicht zu zerstören,
sei euer Ziel!» Sie begaben sich sodann wieder zurück.
Auf dem Wege bot sich (Luk. IX, 57) ein Gesetzgelehrter zu
einem beständigen Begleiter Jesu an. Jesus sagte ihm: «Aber be-
denke, daß die Füchse Höhlen und die Vögel Nester haben, ich
aber keine Stelle mein Eigen nenne, wo mein Haupt ruhen könnte. »
Luk. X. Jesus nahm nun einen anderen, etwas weitern Weg
nach Jerusalem, schickte immer zwei seiner Begleiter voraus, um
die Leute auf seine Ankunft gefaßt zu machen, denn sein Gefolge
war sehr zahlreich. Er gab ihnen Verhaltungsregeln mit auf den
Weg, keine Gefälligkeit ertrotzen zu wollen, wo man sie nicht
aufnehmen wolle, weiter zu gehen, überall zu ihrem Hauptaugen-
merk zu machen, die Menschen zum Guten aufzumuntern ; es
sei noch viel hierin zu tun und der Arbeiter so wenige.
Luk, X, 17, ff Matth. XI, 25 — 30. Seine jünger brachten ihm
die Nachricht, sie haben hier und da guten Eingang gefunden.
Jesus brach hiebei in die Worte aus: «Dank und Preis sei Dir,
Vater des Himmels und der Erde, daß es nicht ein Eigentum der
Gelehrsamkeit und der Kenntnisse ist, zu erkennen, was Pflicht
für jeden ist, daß jedes unverdorbene Herz den Unterschied
zwischen Gut und Böse selber fühlen kann 1 Ach ! wären die
Menschen hiebei stehen geblieben und hätten nicht außer den
Pflichten, welche die Vernunft auferlegt, noch eine Menge Laster
erfunden, die arme Menschheit damit zu plagen, die eine Quelle
von Stolz werden, und in denen keine Beruhigung, außer auf
Kosten der Tugend, zu finden ist!»
Auf dieser Reise traf Jesus einen Gesetzgelehrten an, der, um
die Grundsätze Jesu kennen zu lernen und zu prüfen, sich mit
Hegel, Das Leben Jesu 3
34 G.W. F. HEGEL
ihm in eine Unterredung einließ: «Was muß ich tun, Lehrer, um
der Glückseligkeit würdig zu sein?» — «Was ist dir im Gesetze
aufgegeben?» fragte ihn Jesus wieder. «Du sollst, antwortete jener,
die Gottheit als das Urbild der Heiligkeit von ganzer Seele und
deinen Nächsten lieben, als wenn er du selbst wäre.» — «Du hast
gut geantwortet, versetzte Jesus. Befolge dies und du bist der
höchsten Glückseligkeit würdig.» Der Gesetzgelehrte wollte
zeigen, daß diese einfache Antwort seinem tiefergehenden Geist
noch nicht befriedigend sei. «Es bedarf noch einer Erläuterung,
wen wir unter dem Nächsten, den zu lieben uns geboten ist, zu
verstehen haben.-» — «Ich will dir diese Erklärung durch eine
Geschichte geben. Ein Mann reiste von Jerusalem nach Jericho,
(ein Weg, der durch eine Wüste führte und unsicher war), und
fiel unter Räuber, die ihn auszogen, ihm verschiedene Wunden
beibrachten, und ihn halbtot liegen ließen. Von ungefähr kam
gleich nach dieser Tat ein Priester dieselbe Straße, sah den Ver-
wundeten, setzte aber seinen Weg weiter fort; ebenso ein Levit,
der diesen Weg kam, ging ohne Mitleiden vorüber. Ein Samariter
aber, der vorbeireiste, erbarmte sich seiner, sobald er ihn sah,
ging zu ihm hin, verband seine Wunden und wusch sie mit Ol
und Wein darein, nahm ihn auf sein Maultier und brachte ihn
in eine Herberge, wo er ihn besorgen ließ, und da er des andern
Tages weiter reiste, hinterließ er dem Wirt noch Geld, um davon
zu bestreiten, was der Kranke sonst noch nötig hätte; und wenn
schon die Kosten dies Geld übersteigen, so solle er nichts sparen,
er wolle das Übrige im Rückwege ersetzen. Welcher von diesen
dreien nun hat sich als Nächsten gegen den Unglücklichen be-
wiesen? Welcher hat ihn für seinen Nächsten angesehen?» Der
Gesetzgelehrte antwortete: «Der, welcher sich mitleidig seiner
annahm.» — «So sieh auch du, sagte Jesus, jeden für deinen
Nächsten an, der deiner Hülfe, deines Mitleidens bedarf, von
welcher Nation, von welchem Glauben, von welcher Farbe er
sei.»
Luk. XI, 1 6, Matth. XVI, i. Die Pharisäer, unzugänglich für
die Lehren Jesu, der ihnen die Unzulänglichkeit ihres gesetzlichen
Betragens zur Sittlichkeit vorstellte, forderten zu verschiedenen
Malen von ihm, als eine Beglaubigung seines Vortrags, der ihrer
DAS LEBEN JESU 35
Gesetzgebung den Wert abspreche, irgend eine außerordentliche
Lufterscheinung, so wie bei der feierlichen Bekanntmachung,
daß ihr Jehova es sanktioniert habe. Jesus gab ihnen zur Ant-
wort: «Des Abends saget ihr: Es wird morgen schön Wetter, denn
der Himmel hat eine schöne Abendröte. Ist aber der Himmel
des Morgens so trüberot, so prophezeiet ihr Regen daraus. So
verstehet ihr euch auf das Aussehen des Himmels, um daraus die
Witterung zu sagen, aber die Zeichen der gegenwärtigen Zeit
verstehet ihr nicht zu beurteilen.? Bemerket ihr nicht, daß höhere
Bedürfnisse in dem Menschen, daß die Vernunft erwacht ist, die
eure willkürlichen Lehren und Satzungen, eure Herabwürdigung
des Endzwecks des Menschen, der Tugend, unter dieselben, den
Zwang, womit ihr das Ansehen eures Glaubens und eurer Gebote
unter eurem Volke aufrecht erhalten wollet, in Anspruch nehmen
wird.-* Kein anderes Zeichen wird euch gegeben als Lehren, von
denen auch ihr lernen könntet, was zu eurem und der Mensch-
heit Besten diente.»
Luk. XI, 37, Matth. XXIII, 25. Ein Pharisäer lud Jesum bei
dieser Gelegenheit zum Mittagessen ein. Jener wunderte sich, da
er bemerkte, daß Jesus nicht, ehe er sich setzte, die Hände wusch.
Jesus sagte ihnen: «Ihr waschet wohl das Äußere des Bechers
und der Tafel, aber ist deswegen auch das Innere rein } Wer
sein Äußeres gut in Ordnung hat, ist der mit seinem Innern in
Richtigkeit? Wo die Seele geweiht ist, da ist schon auch das
Äußere geweiht. Ihr gebet richtig den Zehnten vom Majoran
und Raute und jedem unbedeutenden Kräutchen, das in euren
Gärten wächst. Vergesset ihr über dieser Ängstlichkeit in Klei-
nigkeiten, die ihr für Vollkommenheit ausgebet, nicht, daß es
noch höhere Pflichten gibt, Gerechtigkeit, Mitleiden und Treue,
deren Beobachtung das Wesen der Tugend ausmacht, wobei man
das andere dann doch auch tun muß? Sind nicht eure Begriffe
von dem, was einen Wert hat, nur aufs Äußere berechnet? So
haltet ihr äußerst auf einen hohen Rang in den Lehrsälen, auf
den Vorsitz bei Gastmahlen oder darauf, von jedermann auf den
Straßen gegrüßt zu werden. Ihr beschweret das Volk mit einer
Menge lästiger Gebote und ihr selbst bleibet bei dem Äußern der-
selben stehen 1 Ihr maßet euch an, Bewahrer des Schlüssels zum
3«
36 G.W. F. HEGEL
Heiligtum zu sein, aber ihr versperrt euch und andern den Ein-
gang zu diesem Heiligtum durch eure Gebote.» Solche Vervs'eise,
die Jesus oft noch mit stärkeren Ausdrücken an die Pharisäer und
Gesetzgelehrten, in deren Händen die Regierung des Landes war,
und gegen ihre geheiligten Gebräuche richtete, trugen immer
mehr dazu bei, sie zu erbittern und den Entschluß in ihnen zur
Reife zu bringen, eine Anklage gegen ihn anhängig zu machen.
Vor einer großen Menge Volkes (Luk. XII) sprach er noch
dringender von der Gefahr, sich von dem Geiste der Pharisäer
anstecken zu lassen. «Nehmet euch in acht, sagte er, vor dem
Sauerteige der Pharisäer, der unbemerkbar für sich auch das Äußere
des Ganzen nicht verändert, ihm aber doch einen völlig andern
Geschmack gibt, ich meine, vor der Heuchelei ! Diese \'erstellung
wird das Auge des Allsehenden nicht betrügen. Yor ihm liegt die
Gesinnung des Herzens offen, man mag sie noch so sehr ver-
bergen. Der Allwissende braucht allein die Menschen nicht nach
ihrenTaten, den äußeren für Menschen ofttrüglichen Erscheinungen
ihres Charakters zu richten, sondern richtet nach der inneren Güte
des Willens. Ich sage euch, meine Freunde, fürchtet euch nicht
vor Menschen, die doch nur den Körper töten können, deren
Macht sich ja weiter nicht erstreckt; fürchtet euch aber davor,
die Würde eures Geistes zu erniedrigen und damit vor der Ver-
nunft und vor der Gottheit als des Verlustes der Glückseligkeit
würdig erklärt zu werden. Aus Menschenfurcht aber es nicht zu
wagen, die Grundsätze der Wahrheit und Tugend in Handlungen
auszudrücken, oder sie durch Reden zu bekennen, ist eine ver-
ächtliche Heuchelei. Von mir oder einem andern Lehrer der
Tugend übel zu sprechen ist noch verzeihliche Sache. Wer aber
den heiligen Geist derTugend selbst lästert, deristeinVersvorfener.
Habet dabei nicht die kindische Angst, ihr möchtet in Verlegen-
heit kommen, wenn man euch vor Gerichten oder in Lehrsälen
über euer freies Bekenntnis des Guten zur Rede stellt ; vom Geiste
der Tugend beseelt, wird es euch weder an Mut, noch an Worten
fehlen, sie zu verteidigen.»
Einer aus der anwesenden Menge trat zu Jesu und ersuchte ihn,
in der Hoffnung, das Ansehen Jesu werde mehr ausrichten, als er,
seinen Bruder zu bewegen, sein Erbgut mit ihm zu teilen. Jesus
DAS LEBEN JESU 37
gab ihm aber den Bescheid: «Wer hat mich zum Richter oder
Teilerzwischen euch gesetzt?» und wandte sich zu den andern : «Er-
gebet euch nicht der Habsucht; durch reicher und immer reicher
werden erfüllt der Mensch seine Bestimmung nicht. Ich will
euch dies durch ein Beispiel deutlicher machen: Einem reichen
Mann trugen seine Güter so viele Früchte, daß er mit der Menge
derselben in Verlegenheit kam; er mußte seine Scheunen größer
machen lassen, um sie aufzuheben; dann dachte er bei sich:
Wenn dies in Ordnung ist, so hebst du alles sehr sorgfältig auf
und hast reichlich zu leben auf viele Jahre; dann ruhe aus, iß,
trinke und laß dir wohl sein. Aber jetzt vernahm er die Stimme
des Todes: «Tor! heute nacht wird man deine Seele von dir
fordern; für wen hast du jetzt gesammelt?» So macht sich der für
niedrige Zwecke verlorene Arbeit, der Schätze häuft und nicht
auf einen Reichtum, auf eine Bestimmung denkt, deren Zweck
ewig ist. Die Sorge für Reichtum fülle nicht eure Seele aus;
euer Geist sei allein der Pflicht geweiht, eure Arbeit dem Reiche
des Guten. So stehet ihr als Männer gerüstet, zum Leben und
zum Tode; sonst wird die Liebe zum Leben den Tod mit
Schrecken gegen euch waffnen, und die Furcht vor dem Tode
euch das Leben stehlen. Schiebet es nicht auf, und denket nicht
etwa, es habe keine Eile, sich höhern Zwecken zu widmen, als
Schätze zu sammeln und dem Vergnügen zu leben. Jede Zeit, die
ihr dem Dienste des Guten entzogen habt, ist für eure Bestimmung
verloren. Oder der Tod übereilt euch und ihr gleichet einem
Haushalter, dessen Herr abwesend ist und ihm indessen sein Haus-
wesen anvertraut hat. Der Aufseher denkt nun bei sich: Mein
Herr wird noch lange ausbleiben, und fängt an, das Gesinde zu
mißhandeln, zu schwelgen und sich zu betrinken. Aber zu einer
Zeit, wo er es am wenigsten erwartet, wird der Herr ihn über-
raschen, und ihm seinen verdienten Lohn erteilen. Und wie der
Knecht, der den Willen seines Herrn kennt, aber ihn nicht be-
folgt, härter gestraft wird, als der so zwar auch strafwürdig handelt,
aber den Willen seines Herrn nicht wußte, so wird auch von dem
Menschen, dem viel anvertraut wurde, der Talent und Gelegen-
heit hatte, viel Gutes zu tun, viel gefordert werden. Glaubet ihr
etwa, ich habe euch zu einem ruhigen Lebensgenuß eingeladen.
38 G.W. F. HEGEL
eine kummerfreie, glückliche Zukunft sei auch das Schicksal, das
ich für mich ervv-arte und verlange? Nein, Verfolgung wird mein
Los sein, so wie das eure, Uneinigkeit und Streit die Folge, die
meine Lehren haben werden. Dieser Streit zwischen Laster und
Tugend und zwischenAnhänglichkeit an hergebrachten Meinungen
und Gebräuchen des Glaubens, die durch irgend eine Autorität
in den Köpfen und Herzen der Menschen gegründet worden sind,
und zwischen der Rückkehr zum wiederauflebenden Dienste der
in ihre Rechte eingesetzten Vernunft, — dieser Streit wird Freunde
und Familien entzweien. Dieser Streit wird dem besseren Teile
der Menschheit Ehre machen, aber unselig wird er sein, wenn
die, die das Alte stürzten, weil es der Freiheit der Vernunft Fesseln
anlegte und die Quelle der Sittlichkeit verunreinigte, an seine
Stelle wieder einen befohlenen Glauben, an Buchstaben gebunden,
setzten, der von neuem der Vernunft das Recht nähme, aus sich
selbst das Gesetz zu schöpfen und mit Freiheit daran zu glauben
und sich ihm zu unterwerfen, ach! und wenn sie diesen be-
fohlenen Glauben mit dem Schwert und äußerer Gewalt waffneten,
und Väter wider Söhne, Brüder wider Brüder, Mütter wider
Töchter hetzten und die Menschheit zur Verräterin an der Mensch-
heit machten!»
Man erzählte Jesu eine Begebenheit, die sich (Luk. XIII) um
diese Zeit zugetragen hatte. Pilatus, der Prokonsul von Judäa,
hatte nämlich, man weiß nicht aus welchen Gründen, einige
Galiläer, während sie im Opfern begriffen waren, hinrichten
lassen. Mit der Denkungsart seiner Jünger bekannt (Joh.IX), die
schon ein anderes Mal, als ihnen ein Blindgeborener begegnete,
den raschen Schluß gemacht hatte, entweder dieser Blinde oder
seine Eltern müssen große Verbrecher sein, nahm hier Jesus Ver-
anlassung, ihnen folgende Erinnerung zu geben: «Habt ihr hiebei
etwa den Gedanken, diese Galiläer seien die schlimmsten aus
ihrem Volke gewesen, daß sie dies Schicksal hatten, oder jene
acht oder zehn, die neulich von einem Turm zu Siloha erschlagen
wurden, seien die verdorbensten unter den Bewohnern Jerusalems
gewesen? Nein, über Menschen, denen ein solches Unglück
widerfährt, ein liebloses Urteil zu fällen, ist nicht die Seite, von
der ihr eine solche Begebenheit anzusehen habt, aufgeschreckt
DAS LEBEN JESU 39
dadurch von der Ruhe, mit der ihr euch eurer Selbstzufriedenheit
überlasset, sondern in euren eigenen Busen zu greifen, und euch
aufrichtig zu fragen, ob ihr nicht ein solches Schicksal verdient
habt. Höret folgende Geschichte: Der Besitzer eines Weinberges
hatte auch einen Feigenbaum darin gepflanzt; so oft er kam, um
Früchte davon zu pflücken, fand er nie eine; er sagte deswegen
zum Gärtner: «Schon drei Jahre komme ich immer vergebens
zu diesem Baum, hau' ihn aus, daß der Platz, den er einnimmt,
besser benutzt werden könne.» Der Gärtner erwiderte: «Laß ihn
noch, daß ich um ihn herum den Boden auflockere und ihm
Dünger zugebe, so hoffe ich vielleicht ihm noch Früchte abzu-
nötigen; wo nicht, so will ich ihn dann umhauen.» Lange zögert
oft so das verdiente Schicksal und gibt dem Verbrecher Zeit, sich
aufzurichten, dem Sorglosen, mit höheren Zwecken bekannt zu
werden. Versäumt er unbekümmert diese Frist, so ereilt ihn
sein Schicksal, und es trifft ihn die strafende Vergeltung.»
Indessen setzte Jesus seinen Weg gegen Jerusalem hin immer
weiter fort, hielt sich hie und da auf, wo er Gelegenheit fand,
den Menschen gute Lehren zu geben. Auf dieser Reise wurde
auch die Frage an ihn gemacht, ob deren nur wenige seien, die
zur Seligkeit gelangen. Jesus antwortete auf diese Frage: «Ein
jeder ringe für sich, den schmalen Weg des guten Lebenswandels
zu treffen; viele, die es versuchen, verfehlen ihn. Wenn ein
Hausherr einmal seine Türe verschlossen hat, und ihr jetzt an-
klopfet und rufet, euch aufzutun, so wird er euch antworten:
«Ich kenne euch nicht.» Ihr habt doch sonst schon mit ihm ge-
speist und getrunken, und seid seine Zuhörer gewesen. So wird
er euch wiederholen: «Wohl habt ihr mit mir gespeist und ge-
trunken und wäret meine Zuhörer, wenn ich lehrte. Aber ihr
seid lasterhaft geworden; ich erkenne euch nicht für meine
Freunde; weg von hier!» So werden viele von Morgen und
von Abend, von Mittag und Mitternacht, die den Zeus, oder
Brahma, oder Wodan verehrten, vor dem Richter der Welt
Gnade finden, und von denen, welche stolz auf ihre Erkenntnis
Gottes durch ihr Leben dieser besseren Erkenntnis Schande
machten und die ersten zu sein sich einbildeten, viele verworfen
werden.»
40 G.W. F. HEGEL
Einige Pharisäer warnten Jesum — ob aus guter oder irgend
einer anderen Absicht, ist nicht bekannt — das Gebiet des Herodes
zu verlassen, weil dieser Anschläge auf sein Leben habe. Jesu
Antwort war, seine Verrichtungen seien von der Art, daß sie dem
Herodes schlechterdings keine Besorgnisse erregen können, und
außerdem wäre es außer der Regel, wenn Jerusalem, der gewöhn-
liche Schauplatz des Todes so vieler Lehrer, die das jüdische
Volk von seiner Hartnäckigkeit in seinen \'orurteilen und von
dem Schwindel, womit es für dieselben alle Regeln der Sittlichkeit
und der Klugheit verletzte, zu heilen versuchten, wenn Jerusalem
nicht auch der Ort wäre, wo ihn ein solches Los treffen sollte.
Er speiste auch wieder (Luk. XIV) bei einem Pharisäer. Hier
bemerkte er an einigen eine Sorgfalt, die obersten Plätze auszu-
lesen, die sie nach ihrem Range einnehmen zu müssen glaubten,
und machte die Bemerkung, sich an die obern Plätze zu drängen
sei oft die Schuld an Verlegenheiten geworden, denn wenn noch
ein Vornehmerer komme, so müsse man mit Beschämung sich
gefallen lassen, seinen Platz abzutreten und ihn mit einem untern
zu vertauschen ; da hingegen der, welcher sich untenan setzt und
von dem Gastgeber weiter heraufgerufen wird, mehr Ehre davon
habe. Überhaupt, wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt,
der Bescheidene dagegen wird gehoben werden. Gegen den Gast-
geber bemerkte er, er kenne außer der Gastfreundschaftlichkeit,
seine Verwandten und Freunde oder seine reichen Nachbarn zu
einem Essen einzuladen, von denen ein solcher Beweis der
Freundschaft gewöhnlich durch gegenseitige Einladung erwidert
werde, außer dieser Freigebigkeit kenne er noch eine andere edlere,
nämlich arme Kranke oder andere Unglückliche zu speisen, die
eine Wohltat nicht wieder erstatten können, als durch die unver-
stellten Ausdrücke ihres Dankes und des Gefühls ihres gelinderten
Kummers, als durchs Bewußtsein, das dir solche Handlungen
geben, Balsam in die Wunden der Unglücklichen gegossen und
dem Elend wohlgetan zu haben. «Wohl dem, rief einer der Mit-
gäste aus, der zu dieser Zahl gehört, der ein Bürger des Reiches
Gottes ist!»
Jesus erläuterte diesen Begriff vom Reiche Gottes durch das
Bild eines Fürsten (Matth. XXII), der die Hochzeit seines Sohnes
DAS LEBEN JESU 41
durch ein großes Mahl feiern wollte und viele Gäste einlud. Am
Tage des Festes schickte er seine Diener zu den Geladenen, um sie
zu bitten, jetzt zu kommen, das Mahl warte auf sie. Der eine nun ließ
sich entschuldigen, daß er nicht kommen könne, denn er habe
Felder gekauft, die er in Augenschein nehmen müsse; ein zweiter
habe die fünf Paar Ochsen, die er erst gekauft habe, zu besichtigen;
ein dritter entschuldigte sein Ausbleiben mit seiner Heirat, die er
erst vollzogen habe; andere behandelten die Diener sogar mit
Verachtung, so daß von den geladenen Gästen keiner erschien.
Der Fürst, unwillig darüber, befahl seinen Dienern, da der Aufwand
schon gemacht sei, auf die Gassen und Plätze der Stadt zu gehen und
die Armen, Blinden, Lahmen oder sonst Gebrechlichen einzuladen.
Die Diener taten es. Da aber noch Platz übrig war, schickte der Herr
die Diener noch einmal, um auf den Landstraßen und an den Zäunen
zu suchen, und was sie fänden herzubringen, damit das Haus voll
werde. [Jedem wurde ein Feierkleid gegeben, das ihm zugleich
zum Merkmal diente, daß er als ein Gast angesehen würde. Der
Fürst kam, seine Gäste zu sehen, und bemerkte einen, der kein
solches Kleid anhatte. So ist an alle der Ruf der Gottheit er-
gangen.] So verhält es sich auch mit dem Reiche Gottes. Vielen
sind kleinere Zwecke wichtiger als ihre höhere Bestimmung; viele,
in einen größeren Wirkungskreis von der Natur oder dem Glück
gesetzt, vernachlässigen unverantwortlich die Gelegenheit, viel
Gutes wirken zu können, und oft ist Rechtschaffenheit in niedere
Hütten verbannt oder eingeschränkten Talenten überlassen. Auf-
opfern zu können ist eine Haupteigenschaft eines Bürgers des
Reiches des Guten. Wem die Verhältnisse als Sohn, oder als
Bruder, als Ehemann, als Vater, wem seine Glückseligkeit und
sein Leben teurer sind, als die Tugend, der ist nicht geschickt
dazu, weder der Vollkommenheit entgegen sich selbst durchzu-
arbeiten, noch andere dahin zu führen. Besonders wer für andre
arbeiten will, prüfe seine Kräfte vorher wohl, ob er es hinaus-
zuführen im Stande sei, wie ein Mann, der ein Haus zu bauen
anfängt, es aber unvollendet lassen muß, weil er die Kosten des
Ganzen vorher nicht berechnete, den Leuten zum Gespötte wird,
oder wie ein Fürst seine Stärke vorher prüft, ehe er sich an einen
andern wagt, ihm Krieg droht und wenn er seine Kräfte ihm
42 G.W. F. HEGEL
nicht gewachsen findet, Frieden mit ihm zu machen sucht, so
prüfe sich jeder, der sich der Verbesserung der Menschen weihen
will, ob er fähig sein werde, in diesem Kampfe auf alles Verzicht
zu tun, was sonst Reize für ihn hatte.»
Luk. XV. Auch hier nahmen die Pharisäer wieder einen An-
stoß daran, daß sie Zollbediente und schlechte Leute unter den
Zuhörern Jesu sahen, und daß er solche nicht von sich wies.
Jesus sagte darüber: « Wenn ein Schafsich von der Herde des Hirten
verirrte, macht es ihm nicht Freude, es wiederzufinden? oder wenn
ein Weib ein Stück Geld verloren hat, sucht sie es nicht sorgfältig, und
wenn sie es wiederfindet, ist ihr Vergnügen an dem gefundenen
Stücke nicht größer als an den andern, die sie nicht verlor? Ist
es nicht auch so eine Freude für gute Menschen, einen Verirrten
zur Tugend zurückkehren zu sehen? Ich will euch eine Geschichte
erzählen: Ein Mann hatte zwei Söhne. Auf die Bitte des jungem,
ihm sein Erbteil herauszugeben, teilte der Vater mit seinen Söhnen.
Der jüngere packte seine Sachen nach einigen Tagen zusammen,
und um es ungehindert nach seinem Geschmack genießen zu
können, reiste er damit in ein entlegeneres Land und durchschwelgte
dort sein ganzes \'ermögen. Er befand sich schon im Mangel,
als dieser durch eine große Teurung noch vermehrt wurde, und da-
durch aufs höchste stieg. Er kam endlich noch bei einem Manne
unter, der ihn aufs Feld schickte, um die Schweine zu hüten, mit
denen er die Eichelkost teilen mußte. Sein trauriges Schicksal
erinnerte ihn jetzt wieder an das Haus seines Vaters. «Wie viel
besser, dachte er bei sich selbst, haben es die Tagelöhner meines
A'aters, denen es nie an Brot fehlte, als ich, den hier der Hunger
aufzehrt! Ich will zu meinem Vater zurückkehren, ihm bekennen:
Ach, Vater! ich habe gegen den Himmel und dich gesündigt; ich
bin nicht wert, dein Sohn mehr zu heißen; nimm mich nur als
einen deiner Tagelöhner an ! » Er führte diesen Gedanken aus ;
sein Vater sah ihn schon von weitem kommen, lief auf ihn zu,
fiel ihm um den Hals und küßte ihn. «Ach! meine Fehler, sagte
der reuige Unglückliche, machen mich unwert, mich deinen Sohn
zu nennen!» Der Vater aber befahl seinen Knechten, den besten
Rock zu holen, und ihm Schuhe zu geben, und sagte: «Schlachtet
das gemästete Kalb, wir wollen alle uns gütUch tun ! Denn mein
DAS LEBEN JESU 43
Sohn, der für mich tot war, ist ins Leben zurückgekehrt; er war
verloren und ist wiedergefunden.» Indessen kehrte der ältere
Sohn vom Felde zurück. Als er sich dem Hause näherte, hörte
er die laute Freude und fragte, was es gäbe? Da ein Knecht es
ihm sagte, wurde er unwillig darüber, und wollte nicht ins Haus
gehen. Der Vater kam heraus und machte ihm Vorstellungen.
Der Sohn wollte nichts davon hören: «So lange bin ich bei dir,
arbeite dir, befolge überall deinen Willen und du hast mir noch
nie es angeboten, mir mit meinen Freunden eine Freude zu
machen; und dieser Sohn, der sein Vermögen mit liederlichen
Weibern verpraßte, kommt, und du stellst ihm Feste an!» —
«Mein Sohn, sagte der Vater, du bist immer bei mir; es gebricht
dir an nichts; all das Meinige ist dein; du solltest dich freuen und
guter Dinge sein, daß dein Bruder, der verloren war, sich wieder
gefaßt hat, den wir aufgegeben hatten, wieder genesen ist. »
Bei einer andern Veranlassung (Luk. XVI), die uns aber un-
bekannt ist, erzählte Jesus seinen Freunden folgende Geschichte:
«Ein reicher Mann hatte einen Verwalter. Dieser wurde bei ihm
angegeben als ein Verschwender des ihm anvertrauten Vermögens.
Der Herr ließ ihn rufen und sagte ihm: «Was höre ich von dir.^
Lege mir Rechnung von deiner Verwaltung ab, denn du kannst
dein Amt nicht länger behalten.» Dieser überlegte jetzt, was zu
machen sei; sein Amt verliere er, zum Tagelöhnern habe er nicht
Kraft, und zu betteln schäme er sich. Endlich fiel ihm ein Mittel
ein, sich aus der Verlegenheit zu helfen, nämlich die Schuldner
seines Herrn sich zu Freunden zu machen, damit, wenn er seinen
Posten verlassen müsse, sie ihn aufnehmen; er ließ einen nach
dem andern kommen und dem einen, der hundert Tonnen Öls
schuldig war, ließ er eine andere Schuldverschreibung machen,
worin die Schuld nur auf fünfzig Tonnen angegeben war. Einen
andern ließ er seine Schuld von hundert Malter Weizen auf
achtzig herabsetzen und so machte er es auch mit den übrigen.
Der Herr mußte, als er es nachher erfuhr, dem ungetreuen Ver-
walter wenigstens das Zeugnis der Klugheit geben, an welcher
die guten Menschen meistens von den bösen übertroffen werden,
da der letztern Klugheit sich kein Gewissen daraus macht, die
Ehrlichkeit zu verletzen. — Ich nehme aus der erzählten Ge-
44 G.W; F. HEGEL
schichte für euch den Rat, daß eure Klugheit in Anwendung des
Geldes, daß ihr etwa habt, darin bestehe, euch davon Freunde
unter den Menschen, besonders unter unglücklichen, zu machen;
aber nicht, wie jener Verwalter auf Kosten der Rechtschaffenheit;
denn wer im Kleinen ungetreu ist, wird es noch mehr im Großen
sein. Wenn ihr in Geldsachen nicht ehrlich sein könnet, wie
werdet ihr für das höhere Interesse der Menschheit empfänglich
sein? Wenn ihr an etwas, das ihr als euch fremd behandeln
solltet, so hängt, daß ihr ihm zuliebe die Tugend vergäßet, was
wäre noch Großes von euch zu erwarten? Seinen Vorteil und
den Dienst der Tugend zum höchsten Ziele seines Lebens zu
setzen, sind zwei Dinge, die unvereinbar sind.»
Einige Pharisäer, die dies mit anhörten und das Geld sehr
liebten, spotteten darüber, daß Jesus den Wert des Reichtums so
sehr herabsetzte. Jesus wandte sich an sie und sagte ihnen: «Ihr
legt es nur darauf an, euch in den Augen der Menschen einen
Schein von Heiligkeit zu geben, aber Gott kennt eure Herzen. Was
nach der sinnlichen Art zu urteilen als groß, als achtungswert
vorkommt, verschwindet in sein Nichts vor der Gottheit. — Es
war einst ein reicher Mann, der sich in Purpur und Seide kleidete
und täglich im Vollauf schwelgte. Vor seiner Türe saß oft ein
Armer, namens Lazarus, dessen krankem Körper, der voll Ge-
schwüre war, niemand als etwa Hunde durch ihr Lecken einige
Linderung gab. Er hätte gern oft seinen Hunger nur mit übrigen
Brocken von der Tafel des reichen Mannes gestillt. Der Arme
starb und wohnte jetzt in den Gefilden der Seligen, Bald her-
nach starb auch der Reiche und ward mit Pomp zur Erde bestattet.
Aber das Los des armen Mannes war jetzt nicht sein Los. Als
er seine Augen erhob und den Lazarus bei Abraham erblickte, so
rief er laut: «Ach, Vater Abraham! erbarme dich meiner und
schicke Lazarus, daß er mich in meiner Qual nur mit einem
Tropfen Linderung erquicke, wie ein Fieberkranker mit einem
Tropfen Wassers gelabt wird!» Abraham antwortete: «Erinnere
dich, mein Sohn, daß du dein Gutes in jenem Leben genossen
hast, Lazarus hingegen unglücklich war. Dieser wird jetzt ge-
tröstet und du leidest.» — «So bitte ich dich nur, Vater, daß du
ihn in mein väterliches Haus schickest, denn ich habe noch fünf
DAS LEBEN JESU 45
Brüder, damit er sie von meinem Schicksal belehre, und sie warne,
nicht auch ein solches zu verdienen.» — «Sie haben in ihrer Ver-
nunft ein Gesetz und die Lehre guter Menschen ; die sollen sie
hören.» — «Dies ist nicht hinreichend für sie, sagte der Unglück-
liche. Aber wenn ein Toter aus seiner Gruft ihnen erschiene,
so würden sie wohl sich bessern.» — «Dem Menschen, versetzte
Abraham, ist das Gesetz seiner Vernunft gegeben ; weder vom
Himmel, noch aus dem Grabe kann ihm eine andere Belehrung
zukommen, denn eine solche wäre dem Geiste jenes Gesetzes
gänzlich zuwider, welches eine freie, nicht durch Furcht erzwun-
gene, knechtische Unterwerfung verlangt.»
Luk. XVII, 5 . Bei einer anderen gleichfalls unbekannten Ver-
anlassung machten die Freunde Jesu die sonderbare Bitte an ihn,
ihren Mut und Standhaftigkeit zu stärken. Jesus gab ihnen zur
Antwort: «Dies kann allein der Gedanke an eure Pflicht tun und
an da^ große Ziel der Bestimmung, das dem Menschen ge-
setzt ist. So werdet ihr nie am Ende eurer Arbeit zu sein und
jetzt zum Genuß euch berechtigt zu sein glauben. Wenn ein
Knecht vom Felde heimkommt, so wird sein Herr ihm nicht
sagen: Gehe jetzt und tue dir gütlich, sondern: So mache jetzt
mein Essen fertig und bediene mich dabei; dann kannst auch du
essen. Und wenn der Knecht dies getan hat, so wird er ihm nicht
Dank dafür schuldig zu sein glauben. So auch ihr, wenn ihr ge-
tan, was ihr solltet, so denket nicht: wir haben etwas Übriges
getan, die Zeit der Arbeit ist jetzt vorbei und die Zeit des Ge-
nusses muß jetzt eintreffen; sondern: wir haben nichts getan, als
was unsre Schuldigkeit war.»
Ein andres Mal fragten Pharisäer, die ihre sinnliche Vorstellung
vom Reich Gottes nicht ablegen konnten, Jesum, der diese Idee
oft im Munde führte, wann denn das Reich Gottes komme? Jesus
antwortete ihnen: «Das Reich Gottes zeigt sich nicht durch Ge-
pränge oder äußerliche Gebärden; man kann auch nie sagen: hier
ist es und dort ist es, denn siehe, das Reich Gottes muß inwendig
in euch errichtet werden.» Er wandte sich hierauf zu seinen
Jüngern: «Ihr werdet oft auch wünschen, das Reich Gottes auf
Erden errichtet zu sehen. Oft wird man euch sagen: hier oder
dort gibt es eine solche glückliche Verbrüderung von Menschen
46 G.W. F. HEGEL
unter Tugendgesetzen. Laufet solchen Vorspiegelungen nicht
nach; hoffet das Reich Gones nicht in einer äußeren glänzenden
Vereinigung von Menschen zu sehen, etwa in einer äußeren Form
eines Staates, in einer Gesellschaft, unter den öffentlichen Ge-
setzen einer Kirche. Eher als so ein ruhiger, glänzender Zustand
wird Verfolgung das Los der wahren Bürger des Reiches Gottes,
der Tugendhaften sein, oft am meisten von denen, die etwa wie
die Juden als Glieder einer solchen Gesellschaft sich viel damit
wissen. Von zwei, die einerlei Glauben bekennen, zu einerlei
Kirche sich halten, kann der eine ein Tugendhafter, der andere
ein Verworfener sein. Bleibet also nicht an der äußeren Form
hängen; lasset euch nicht durch das Vertrauen, in pünktlicher
Beobachtung derselben eure Pflicht erfüllt zu haben, in eine träge
Ruhe versenken, wobei auch wohl die Liebe zum Leben und
Lebensgenüsse ihre Rechnung fände. Denn wer dies nicht für
die Pflicht aufzuopfern vermag, der macht sich eben dadurch des-
selben unwürdig. Ebensowenig (Luk. XVIII) darf euch Stand-
haftigkeit verlassen, daß, wenn ihr ^wr^ Hoffnungen, durch euren
Kampf Gutes auszurichten, so lange nicht in Erfüllung gehen sehet,
ihr müde würdet und in verdrießlicher Laune mit dem allge-
meinen Strome der Verworfenheit fortzuschwimmen euch ent-
schlösset ; wie oft ein Klient nicht von der Rechtschaffenheit des
Richters in seiner Angelegenheit gefördert wird, sondern weil er
sich von den anhaltenden Bitten des Klienten losmachen wollte,
so werdet ihr auch viel Gutes durch Standhaftigkeit ausrichten
und dann, wenn ihr die Größe des Ziels, das die Pflicht setzt, mit
ganzer Seele aufgefaßt habt, so wird euer Streben wie dieses Ziel
für die Unendlichkeit sein und nie ermatten, ihr möget in diesem
Leben Früchte reifen sehen oder nicht.»
In Beziehung auf die Pharisäer, die sich so vollkommen dünken
und die w^gen diesem Eigendünkel die übrigen Menschen ver-
achten, erzählte Jesus folgende Geschichte: «Es gingen zwei
Menschen in den Tempel zu beten, deren der eine ein Pharisäer,
der andere ein Zollbedienter war. Das Gebet des Pharisäers lautete
so: «Ich danke Dir, o Gott, daß ich nicht bin wie die übrigen
Menschen, ein Räuber, ein Ungerechter, ein Ehebrecher oder
einer wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Woche, besuche
DAS LEBEN JESU 47
regelmäßig den Gottesdienst und gebe gewissenhaft meinen Zehnten
für deinen Tempel.» Der Zöllner stand weit von diesem Heiligen,
wagte seinen Blick nicht gen Himmel zu erheben, sondern schlug
auf seine Brust und flehte: «Ach Gott! sei mir Sünder gnädig!»
Ich sage euch, dieser ging mit wahrerer Beruhigung des Gewissens
nach Hause als jener Pharisäer.»
Luk. XVIII, 18. Ein vornehmer Jüngling trat zu Jesu: «Guter
Lehrer, was muß ich tun, fragte er ihn, um tugendhaft, um vor
Gott der GlückseHgkeit nach diesem Leben würdig zu sein.» —
«Warum nennst du mich gut.-* erwiderte Jesus. Vollkommen gut
ist niemand als Gott. Übrigens kennst du ja die Gebote eurer
Sittenlehrer: Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, kein falscher
Zeuge sein, deinen Vater und deine Mutter ehren.» Der Jüngling
sagte hierauf: «Ich habe von Jugend auf all diese Gebote ge-
halten.» — «Nun, sagte Jesus, wenn du fühlst, daß du noch mehr
tun könntest, so wende deinen Reichtum zur Unterstützung der
Armen und zur Beförderung der Sittlichkeit an und werde darin
mein Gehülfe.» Der Jünghng hörte dies mit Betrübnis, denn er
war sehr reich. Jesus bemerkte dies und sagte zu seinen Jüngern :
«Wie fest kann doch die Liebe zum Reichtum den Menschen
umstricken, welch großes Hindernis zur Tugend für ihn werden!
Die Tugend verlangt Aufopferung, die Liebe zum Reichtum
immer neuen Erwerb, jene sich auf sich selbst einzuschränken,
diese sich auszubreiten, das, was der Mensch sein Eigen nennt,
immer zu vergrößern.» Die Freunde Jesu fragten ihn: «Aber
wie kann man hoffen, daß dieser Trieb der menschlichen Natur
es nicht unmöglich mache, tugendhaft zu sein?» — «Den Wider-
spruch dieser Triebe, antwortete Jesus, hebt der Umstand auf,
daß Gott dem einen eine eigentümliche gesetzgebende Gewalt
verliehen hat, die die Pflicht auferlegt, die Übermacht über den
andern zu bekommen, und ihm auch die Kraft beigelegt hat, dies
zu können.» Petrus, einer seiner Freunde, erwiderte hierauf:
«Du weißt, wir haben alles verlassen, um uns deiner Bildung zu
übergeben und uns allein der Sittlichkeit zu weihen.» — «Für
das, was ihr aufgegeben habt, sagte Jesus, ist der Erwerb des Be-
wußtseins, der Pflicht allein gelebt zu haben, ein reichlicher Er-
satz in diesem Leben und in alle Ewigkeit.»
48 G.W. F. HEGEL
Luk. XVIII, 31, Matth. XX, 17. Jesus war jetzt mit seiner Be-
gleitung, die nur aus seinen zwölf auserlesenen Freunden bestand,
in die Nähe von Jerusalem gekommen und machte sie mit den
trüben Ahnungen bekannt, die er vor der Art seiner dortigen
Aufnahme und Behandlung hatte, Ahnungen, die mit demjenigen
sehr in Widerspruch standen, was seine Jünger sich von seiner
Ankunft und seinem Aufenthalt in Jerusalem versprachen. Sogar
sie, die den täglichen Umgang und die Belehrung Jesu genossen,
hatten aus ihren jüdischen Köpfen die sanguinische Hoffnung, Jesus
werde bald öffentlich als König auftreten, den Glanz des jüdischen
Staats und seine Unabhängigkeit von den Römern wiederherzu-
stellen, und sie als seine Freunde und Gehülfen durch Macht und
Ehre für das, was sie indes entbehrt hatten, belohnen; diese Hoff-
nung hatten sie noch nicht verbannt, sie hatten sich noch nicht den
geistigen Sinn des Reiches Gottes, als einer Herrschaft der Tugend-
gesetze unter den Menschen zu eigen gemacht. So trat jetzt die
Mutter des Johannes und des Jakobus zu Jesu, fiel ihm zu Füßen,
und auf die Frage Jesu, was sie verlange, tat sie mit ihnen die
Bitte an Jesum, weil sie jetzt die Entwicklung ihrer Hoffnungen
herannahen zu sehen glaubten: «Wenn du nur dein Reich er-
richtest, so erhebe meine Söhne zum nächsten Rang nach dir.»
Jesus gab ihr zur Antwort: «Ihr wisset nicht, um was ihr bittet
Seid ihr bereit, der Pflicht, die ihr über euch genommen habt,
der \'erbesserung der Menschen zu leben und mein Schicksal zu
teilen, es warte auf mich, was es sei?» — Sie antworteten, wahr-
scheinlich in der Hoffnung, daß dieses kein anderes als ein glän-
zendes sein werde: «Ja, wir sind bereit.» — «Nun, sagte Jesus,
so tut eure Pflicht und unterwerfet euch ruhig eurem Schicksal;
erwartet aber dabei nicht, die Hoffnungen, die ihr durch eure
Bitte gezeigt habt, erfüllt zu sehen ; die Reinheit eurer Gesinnung
allein, die vor der Gottheit, nicht vor mir, offen liegt, kann den
Wert bestimmen, den ihr vor der Gottheit habt.» Die übrigen
Freunde Jesu wurden über diese Bitte der beiden Brüder sehr er-
bittert. Jesus gab ihnen die Weisung: «Ihr wisset, daß Herrsch-
sucht eine sehr verführerische und sehr allgemeine Leidenschaft
unter den Menschen ist. Sie äußert sich in den großen sowohl
als in den eingeschränkten Kreisen des Lebens. Aus eurer Ge-
DAS LEBEN JESU 49
Seilschaft sei sie verbannt. Setzet eure Ehre untereinander darein,
gegenseitig gefällig zu sein und einander zu dienen, so wie der
Zweck meines Lebens nie war, über andere zu gebieten, sondern
der Menschheit zu dienen und für sie selbst mein Leben aufzu-
opfern. i>
In Beziehung auf diese EpA'artungen der Begleiter Jesu, seine
Freundschaft werde ihnen aus Gunst für sie bei der jetzt heran-
nahenden Periode seiner Macht einen glänzenden Anteil daran
einräumen, belehrte sie Jesus von dem Unterschiede des Wertes
der Menschen durch folgende Parabel: «Ein Fürst verreiste einst
in ein entferntes Land, um die Regierung desselben zu überneh-
men. Ehe er aus dem Lande abreiste, dessen Regent er schon war,
vertraute er seinen Dienern zehn Pfund an, um mehr damit zu
gewinnen. Die Bürger schickten ihm eine Gesandtschaft nach,
ihm die Erklärung zu machen, daß sie ihn nimmer als ihren
Fürsten anerkennen. Ohngeachtet dessen behauptete er bei seiner
Zurückkunft den Thron, und verlangte jetzt von seinen Dienern
Rechnung über die Anwendung des ihnen zurückgelassenen Geldes.
Der erste sagte: «Mit dem Pfunde, das du mir anvertraut hast, habe
ich zehn gewonnen.» — «Wohl, versetzte der Fürst, du hast mit
wenigem gut Haus gehalten; ich will dich über mehr setzen; ich
übertrage dir die Regierung über zehn Städte.» Der andere hatte
mit seinem Pfunde fünf gewonnen ; der Fürst gab ihm die Regierung
über fünf Städte. Ein anderer sagte: «Ich bringe dir das Pfund
unverloren wieder; ich habe es sorgfältig bewahrt; ich fürchtete,
es an etwas zu wagen, da du ein strenger Herr bist, willst nehmen,
was du nicht hingesetzt, ernten, was du nicht gesäet hast.» —
«Deine Rechtfertigung verurteilt dich, antwortete der Fürst.
Wenn du wußtest, daß ich ein strenger Mann bin, ernten will,
was ich nicht gesäet habe, warum hast du nicht dein Geld den
Wechslern gegeben, und hättest mir dann dein Pfund mit den Zinsen
zurückgeben können? Du verlierst dein Geld und es sei dessen,
der zehn gewonnen hat.» Den andern Dienern fiel es auf, daß
der, der schon zehn Pfund habe, dies auch bekommen solle. Der
Fürst sagte ihnen aber: «Dem, der das gut angewandt hat, was
ihm anvertraut worden ist, wird noch mehr zugelegt werden ; der
aber von dem ihm Anvertrauten einen schlechten oder gar keinen
Hegel, Das Leben Jesu 4
50 G.W. F. HEGEL
Gebrauch gemacht hat, macht sich auch des ihm Anvertrauten
unwürdig. Und jetzt führet diejenigen vor mich, die mir den Ge-
horsam aufgesagt haben, daß ich sie zur Strafe ziehe.» — Wie dieser
Fürst, so richtet Gott den Wert der Menschen nach dem treuen
Gebrauch der ihnen verHehenen Kräfte und nach dem Gehorsam
gegen die moralischen Gesetze, unter denen sie stehen.»
Auch hier (Jesus war in Jericho, etwa sechs Stunden von
Jerusalem), zeigten wieder Pharisäer ihre Mißbilligung, daß Jesus
in dem Hause eines Zöllners einkehrte; er hieß Zachäus. Um
Jesum, dem er sich wegen der Menge Menschen nicht nähern
konnte und weil er von Person sehr klein war, zu sehen, war er
auf einen Baum gestiegen und war von der Ehre überrascht, daß
Jesus sein Hauszum Ausruhen wählte. Da er denken konnte, welche
Begriffe von seinem Charakter Jesus sielt aus seinem bisherigen
Amte machen würde und es fühlte, daß er ihm in einem nach-
teiligen Lichte erscheinen müßte, so machte er Jesum mit der Ver-
besserung seiner vormaligen Denkungsart bekannt und sagte ihm:
«Von meinem erworbenen Vermögen gebe ich die Hälfte den
Armen, und wen ich über\'orteilt habe, dem erstatte ich den
Schaden vierfach.» Jesus bezeugte ihm sein Gefallen über diese
Rückkehr zur Rechtschaffenheit, und daß seine Absicht auf der
Erde sei, die Menschheit auf diesen Weg zu führen.
Joh. XI, 55. Das Passahfest war jetzt wieder eingefallen, und die
meisten Juden hatten sich deswegen schon in Jerusalem einge-
funden. Jesus hielt sich noch einige Tage in der Nähe von Jeru-
salem auf, in einer Stadt namens Ephrem, und besonders zu
Bethanien (Joh. XII). Bei einem Gastmahl, das ihm hier gegeben
wurde, war auch ein Frauenzimmer, Maria, eine Freundin Jesu, zu-
gegen. Sie salbte seine Füße mit einem kostbaren Balsam und
trocknete sie mit ihren Haaren. Ein Apostel Jesu, Judas, der das
Geld der Gesellschaft verwaltete, bemerkte darüber, man hätte
diese Salbe besser anwenden können, w^nn man sie verkauft und
das Geld den Armen ausgeteilt hätte. Judas hatte gehofft, dies
Geld alsdann in seinen Beutel zu bekommen und bei der Ver-
teilung desselben unter die Armen würde er sich nicht vergessen
haben. Jesus gab ihm aber die Weisung, er würde durch seinen
Tadel dem Herzen der Maria nicht weh getan haben, wenn er
DAS LEBEN JESU 51
den Ausdruck ihrer Freundschaft in ihrer Handlung empfunden
hätte, die dem ähnHch sei, wenn man den Toten seine Liebe
durch Einbalsamieren zeige. Seine vorgegebene Mildtätigkeit
gegen Arme werde er sonst jederzeit Gelegenheit haben zu zeigen.
Indessen hatte der hohe Rat von Jerusalem (Matth. XXVI, 3),
der erwartete, Jesus werde, wie jeder Jude, auf das Fest kommen,
den Beschluß gefaßt, Jesum bei dieser Gelegenheit gefangen zu
nehmen und dahin zu bringen, daß er am Leben gestraft würde;
das Letztere aber ward ausgemacht bis nach dem Feste zu ver-
schieben, weil sie fürchteten, seine während dieser Zeit anwesen-
den Landsleute, die Galiläer, möchten etwa einen Versuch machen,
Jesum zu befreien. Es wurde daher (Joh. XI, 56 — 57) die Ver-
anstaltung von dem hohen Rat gemacht, daß es ihm sogleich an-
gezeigt würde, wenn Jesus im Tempel bemerkt würde, und die-
jenigen, die diesen Auftrag hatten, waren in den ersten Tagen des
Festes verlegen, als sie in diesem Jesum nirgends sahen.
Sechs Tage nach jenem Mahle ging Jesus nach Jerusalem selbst.
Als er die Stadt zu Gesichte bekam, traten ihm Tränen in die
Augen: «Ach! sagte er, wenn du es einsähest, was zu deinem
Wohle diente! So aber ist es dir verborgen. Denn euer Stolz,
eure Hartnäckigkeit in euern Vorurteilen, eure Intoleranz werden
eure Feinde gegen euch reizen und sie werden euch umlagern
und an allen Orten ängstigen, bis euer Staat, eure Verfassung,
der Gegenstand eures Stolzes zernichtet und ihr unter seinen Ruinen
begraben werdet, ohne das Gefühl, ohne den Ruhm zu haben, in
einer edlen Verteidigung einer guten, einer großen Sache ge-
storben zu sein!»
Jesus ritt nach Art der Morgenländer auf einem Esel. Eine
Menge Volkes, die ihn kannte, kam ihm entgegen und begleitete
ihn mit Ölzweigen in der Hand und unter den Jubelgesängen der-
selben zog er in die Stadt.
Jesus blieb nicht in Jerusalem, sondern in Bethanien über Nacht
(Matth. XXI, 17), kehrte aber des Morgens dorthin wieder zurück,
zeigte sich öffentlich im Tempel und lehrte. Seine Feinde (Luk.
XX) suchten ihn durch verfängliche Fragen zu veranlassen, stVÄ eine
Blöße zu geben, um teils einen Vorwand, ihn anzuklagen, zu
finden, teils ihn bei dem Volke verhaßt zu machen, wegen dessen
52 G.W. F. HEGEL
sie nicht ruhig waren ; besonders hatte der große Zulauf bei seiner
Ankunft in der Stadt ihre Besorgnisse noch vermehrt.
So fragten sie ihn einmal, als er vor einer großen Menge Zu-
hörern im Tempel saß, aus welcher Vollmacht er dies Amt, öffent-
lich zu lehren, verrichte. Jesus sagte: «Lasset mich eine Gegen-
frage an euch tun: Die Beweggründe des Johannes, öffentlich zu
lehren, waren sie Eifer für Wahrheit und Tugend oder hatte er
selbsüchtige Absichten dabei?» Diejenigen, die ihn gefragt
hatten, dachten: «Antworten wir das erstere, so fragt uns Jesus
wieder: warum habt ihr ihm nicht Gehör gegeben? Antworten
wir das letztere, so bringen wir das Volk gegen uns auf.» Sie
antworteten also, sie wissen es nicht. «Nun, sagte Jesus, so kann
ich euch auf eure Frage nicht antworten. Urteilet aber einmal !
Ein Mann (Matth. XXI, 28 ff.), der zwei Söhne hatte, hieß den
einen heute in den Weinberg gehen und arbeiten; dieser gab zur
Antwort, er gehe nicht, bereute dies aber hernach und ging.
Eben diesen Befehl gab der Vater dem zweiten, der gleich Bereit-
willigkeit zeigte und zu gehen versprach, aber dann doch nicht
ging. Welcher hat nun dem Vater Gehorsam bewiesen?» Sie
antsvorteten : «Der erste.» — «Ebenso, antwortete Jesus, geht es
unter euch. Menschen, die im allgemeinen Rufe der sittlichen
Verdorbenheit standen, haben auf die Aufforderung des Johannes
der Stimme der Tugend Gehör gegeben und übertreffen euch
jetzt in guter Gesinnung, euch, die ihr den Namen Gottes immer
im Munde führet und seinem Dienste allein zu leben vorgebet.»
Jesus legte ihnen noch eine andere Geschichte vor: «Ein Mann
legte einen großen Weinberg an, umgab ihn mit Mauern, be-
festigte ihn und gab ihn Winzern zum Bauen und reiste weg.
Zur Herbstzeit schickte er Leute hin, um das, was der Weinberg
getragen hatte, einzunehmen. Sie wurden aber von den Winzern
auf alle mögliche Art mißhandelt. Ebenso ging es den zweiten,
die der Besitzer des Gutes schickte. In der Hoffnung, sie werden
Ehrfurcht vor seinem Sohne haben, schickte er jetzt diesen;
allein die Winzer lachten, dieser sei der Erbe und durch seinen
Tod setzen sie sich in den völligen Besitz des Gutes. Sie ermor-
deten also auch diesen. Was wird nun der Herr des Weinbergs
tun?» fragte Jesus die Umstehenden. Diese sagten: «Er wird die
DAS LEBEN JESU 53
Winzer mit der Strenge, die sie verdienen, strafen und den Wein-
berg andern Winzern geben, von denen er die Früchte riciitig
erhält.» — «So, sagte Jesus, haben die Juden das Glück gehabt,
früher als manche andern Nationen würdigere Begriffe von der
Gottheit und von dem zu erlangen, wasihrWille an dem Menschen
ist. Aber ihr erzeuget nicht die Früchte, die den Menschen in
den Augen der Gottheit wohlgefällig machen. Darum ist es ein
eitler Wahn, euch durch jenen Vorzug allein Lieblinge der Gott-
heit zu glauben, und ein Verbrechen, Menschen zu mißhandeln,
die es fühlen und es auch sagen, daß es etwas Höheres ist, das
dem Menschen einen wahren Wert gibt.» — Die Mitglieder des
hohen Rats, die Veranlassung zu diesem ihnen gemachten Vor-
wurf gegeben hatten, würden die Hände gleich an Jesum gelegt
haben, wenn sie es wegen des Volkes gewagt hätten.
Joh. XII, 20. Einige griechische Juden, die auch aufs Fest ge-
kommen waren, wünschten Jesum zu sprechen und wandten sich
daher an einige von den Freunden Jesu, um sich von Jesu, wie
es scheint, eine Privatunterredung auszubitten. Jesus bezeugte,
wie es scheint, keine Lust dazu, weil er dachte, sie bringen die
gewöhnlichen jüdischen Messiasideen und wollen sich ihm, als
dem zukünftigen König und Herrscher der Juden, zum voraus
empfehlen. In Beziehung hieran sagte er bei dieser Gelegenheit
zu seinen Jüngern: «Diese Menschen irren sich, wenn sie mir
den Ehrgeiz zutrauen, mich zu einem Messias aufwerfen zu wollen,
wie sie einen erwarten, wenn sie glauben, ich verlange, daß sie
mir dienen sollen, oder ich finde mich dadurch geschmeichelt,
wenn sie sich anerbieten, mein Gefolge vermehren zu wollen.
Wenn sie dem heiligen Gesetze ihrer Vernunft gehorchen, so
sind wir Brüder, so sind wir von einer Gesellschaft. Wenn sie
Macht und Ruhm für meinen Zweck halten, so verkennen sie
die erhabene Bestimmung des Menschen oder glauben, ich ver-
kenne sie. — Wie ein Saatkorn, das in die Erde gelegt wird, erst
abstirbt, daß sein Keim zu einem Halm aufschieße, so verlange
auch ich nicht die Früchte von dem zu erleben, was der Zweck
meiner Arbeit war, so hat auch mein Geist in der Hülle dieses
Körpers seine Bestimmung nicht vollendet. Um dieses Leben zu
erhalten, sollte ich dem ungetreu werden, was ich als Pflicht er-
54 G.W. F. HEGEL
kenne; ich sehe es mit Betrübnis, wohin die Anschläge des Re-
genten dieses Volkes gehen; sie wollen mir das Leben nehmen,
aber sollte ich darum wünschen oder bitten : Vater, entreiße mich
dieser Gefahr! Nein, mein Bestreben, die Menschen zum wahren
Dienste der Gottheit, zur Tugend zu rufen, hat mich in diese
Lage gebracht und ich bin bereit, mich jeder Folge, die daraus
entspringen mag, zu unterwerfen. Widerspricht dies wieder euern
Erwartungen, daß der Messias, auf den ihr hoffet, nicht sterben
werde, so ist euch das Leben für sich so etwas Großes und der
Tod so etwzs Fürchterliches, daß ihr diesen an einem Menschen
nicht reimen könnet, der eure Achtung verdienen sollte! Ver-
lange ich denn aber Achtung für meine Person? oder Glauben an
mich? oder will ich einen Maßstab, den Wert der Menschen zu
schätzen, und sie zu richten, als eine Erfindung von mir euch
aufdringen? Nein, Achtung für euch selbst, Glauben an das
heilige Gesetz eurer Vernunft und Aufmerksamkeit auf den inne-
ren Richter in euerm Busen, auf das Gewissen, einen Maßstab,
der auch der Maßstab der Gottheit ist, dies wollte ich in euch
en\^ecken.»
Es wurden jetzt wieder (Luk. XX, 20) von den Pharisäern und
Anhängern des Herodischen Hauses einige an Jesum geschickt,
um sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen, in dem sie einen
Grund finden könnten, ihn bei der römischen Obrigkeit anzu-
klagen. Um einzusehen, wie verfänglich die Frage war und wie
leicht Jesus sich in der Antwort entweder gegen diese Obrigkeit
oder gegen die Vorurteile der Juden hätte verstoßen können, so
muß man sich an die jüdische Denkungsart erinnern, die es ganz
unerträglich fand, einem fremden Fürsten Abgaben zu bezahlen,
weil sie solche ihrem Gott und seinem Tempel bezahlen wollte.
Die an ihn Abgeschickten redeten ihn also an: «Wir wissen,
Lehrer, daß du in dem, was du sagst, aufrichtig bist, dich an die
unverfälschte Wahrheit hältst und niemand zu Gefallen etwas be-
hauptest. Sage uns, ist es recht, daß wir dem römischen Kaiser
Auflagen entrichten?» Jesus merkte ihre Absicht und sagte: «Ihr
Heuchler, was suchet ihr mir eine Falle zu legen? Zeiget mir
einen Denarius. Wessen ist dies Bild und die Umschrift (Legende)?>
— Sie antwoneten: «Des Kaisers». — «Wenn ihr denn dem
DAS LEBEN JESU 55
Kaiser, sagte Jesus, das Recht einräumet, Münzen zu eurem Ge-
brauch zu prägen, so gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist,
und eurem Gotte, was zu seinem Dienste erfordert wird.» Sie
mußten mit dieser Antwort zufrieden sein, ohne ihm etwas an-
haben zu können. Auch die Sadduzäer, eine Sekte unter den
Juden, die nicht an UnsterbUchkeit der Seele glaubte, wollten ihre
Einsichten auch gegen Jesum wagen, und sagten ihm daher:
«Nach unsern Gesetzen muß ein Mann, dessen Bruder ohne
Kinder stirbt, die hinterlassene Witwe heiraten. Nun geschah es,
daß eine Frau auf diese Art sieben Brüder nacheinander heiratete,
da einer nach dem andern starb, ohne Kinder mit ihr zu erzeugen.
Wessen sollte nun, wenn die Menschen nach dem Tode fort-
dauerten, die Frau sein?» Jesus antwortete auf diesen abge-
schmackten Einwurf: «In diesem Leben verheiraten sich wohl
die Menschen. Aber die Unsterblichen, die jetzt in die Gesell-
schaft der reinen Geister getreten sind, werden mit dem Körper
solche Bedürfnisse ablegen.»
Ein Pharisäer, der die guten Antworten Jesu auf die Fragen der
andern mit angehört hatte, tat (wie es scheint mit einer bösen
Absicht) auch eine Frage an Jesum, welches der höchste Grund-
satz der Sittlichkeit sei. Jesus antw^ortete ihm: «Es ist Ein Gott,
und diesen sollst du von ganzem Herzen lieben und ihm deinen
Willen, deine ganze Seele, alle deine Kräfte weihen; dies ist das
erste Gebot. Das zweite ist diesem an Verbindlichkeit ganz gleich
und lautet so: Liebe jeden Menschen, als wenn er du selbst wäre;
ein höheres Gebot gibt es nicht.» Der Pharisäer bewunderte die
Vortrefflichkeit dieser Antwort und erwiderte: «Du hast der
Wahrheit gemäß geantwortet. Gott seine ganze Seele weihen
und den Nächsten als sich selbst lieben ist mehr als alle Opfer
und Räucherungen.» Jesum freute die gute Gesinnung des
Mannes und er sagte ihm: «In dieser Gesinnung bist du nicht
weit entfernt, ein Bürger des Reiches Gottes zu sein, wo nicht
durch Opfer oder Abbüßungen oder Lippendienst oder Entsagung
der Vernunft um seine Gunst geworben werden soll.»
In einem Teile des Tempels war (Luk. XXI, i) eine Büchse
aufgestellt, wo man die Geschenke für den Tempel einlegte.
Jesus beobachtete unter denen, die ihren Beitrag gaben, neben
56 G.W. F. HEGEL
den Reichen, die große Summen steuerten, auch eine arme Witwe,
die zwei Heller einlegte. Er sagte darüber: «Diese hat mehr ein-
gelegt als alle anderen. Denn alle haben aus ihrem Überflüsse ge-
geben, diese aber gab in diesem Wenigen ihr ganzes Vermögen.»
Matth. XXIII. Auf Veranlassung von diesen Versuchen der
Pharisäer gegen Jesum nahm er Gelegenheit, das Volk und seine
Freunde vor den Pharisäern zu warnen. «Die Pharisäer und Ge-
setzgelehrten haben sich, sagte er, auf den Stuhl Moses gesetzt.
Die Gesetze nun, die sie euch gebieten zu halten, die haltet. Aber
ihrem Beispiele, ihrer Handlungsweise folget nicht. Denn sie
handhaben zwar die Gesetze des Moses, aber sie selbst halten sie
nicht. Ihre Handlungen haben allein den Zweck, sich vor den
Menschen einen äußeren Schein der Rechtschaffenheit zugeben.»
— «Ihr verzehret das Gut der Witwe und tut euch gütlich bei
ihnen, unter dem Vorwand, mit ihnen zu beten. Ihr gleichet
übertünchten Gräbern, deren Äußeres bemalt ist, und in deren
Innerem die Verwesung haust. Äußerlich gebet ihr euch den Schein
der Heiligkeit; euer Inneres ist Heuchelei und Ungerechtigkeit.»
Er faßte noch manche Züge zusammen, die er einzeln bei den
Gelegenheiten, die sich angeboten hatten, schon an ihnen ge-
rügt hatte.
Matth. XXIV. Unter dem Herumspazieren in den verschiedenen
Teilen des Tempels unterhielten sich die Freunde Jesu über die
Pracht desselben. Jesus sagte dabei, es ahne ihm, dieser pomp-
volle Gottesdienst und diese Gebäude selbst werden ihr Ende er-
reichen. Den Freunden Jesu war dies sehr aufgefallen und als
nachher sie allein mit ihm auf dem Ölberg waren, von wo aus
sie die Aussicht auf die schönen Tempelgebäude und einen großen
Teil der Stadt hatten, so fragten sie ihn: «Wann wird dieses, wo-
von du uns vorhin sprachst, geschehen,'' und an welchem Zeichen
werden wir die Annäherung der Vollendung des Reiches des
Messias erkennen.?» Jesus antwortete ihnen: «Diese Erwartung
eines Messias wird meine Landsleute noch in große Gefahren
stürzen und verbunden mit ihren übrigen Vorurteilen und dieser
blinden Hartnäckigkeit ihren völligen Untergang graben ; diese
chimärische Hoffnung wird sie zum Spiel listiger Betrüger oder
kopfloser Schwärmer machen. Nehmet euch in acht, daß auch
DAS LEBEN JESU 57
ihr dadurch euch nicht in Irrtum führen lasset. Oft wird es heißen :
Hier oder dort ist der erwartete Messias. Viele werden sich für den
Messias ausgeben, unter diesem Titel sich zu Anführern von
Empörungen machen und Häuptern religiöser Sekten aufwerfen,
Weissagungen verkünden und Wunder verrichten, um womög-
lich auch die Guten irre zu machen. Oft wird es heißen: Dort
in der Wüste zeigt sich der erwartete Messias, hier in Grüften
hält er sich noch verborgen. Lasset euch dadurch nicht verführen,
ihnen nachzulaufen. Solche Anmaßungen und Gerüchte werden
zu politischen Aufruhren und Spaltungen des Glaubens Anlaß
geben. Man wird Partei nehmen und in diesem Parteigeist ein-
ander hassen und verraten und diesem bUnden Eifer für Namen
und Worte die heiligsten Pflichten der Menschlichkeit aufzuopfern
sich berechtigt glauben. Zerrüttung des Staates, Auflösung aller
Bande der Gesellschaft und der Menschlichkeit und in ihrem Gefolge
Pest und Hungersnot wird dies unglückliche Land leicht zur
Beute auswärtiger Feinde machen. Lasset euch in diesen Stürmen
nicht verführen, Partei zu nehmen. Viele werden von diesem
Schwindelgeiste angetastet, ohne selbst recht zu wissen, wie ihnen
geschah, im Wirbel fortgerissen mit jedem Schritte von der
Mäßigung sich entfernen und am Ende sich in die Verbrechen
und den Ruin ihrer Partei sich ohne Möglichkeit der Rückkehr
verwickelt sehen. Fliehet, fliehet vielmehr, wenn ihr könnt,
diesen Schauplatz der Zerrüttung und Lieblosigkeit, entreißet
euch allen häuslichen Verhältnissen, zaudert nicht, um noch dies
oder das zu bewegen oder zu retten. In jedem Fall bleibet unver-
rückt euren Grundsätzen getreu. Ihr Zelotengeist mag euch an-
fallen und mißhandeln, prediget Mäßigung und ermahnet zu Liebe
und zum Frieden und interessiert euch für keine dieser religiösen
und politischen Parteien. Glaubet nicht, in solchen Zusammen-
rottungen oder in Verbindungen, die auf den Namen und Glauben
einer Person schwören, den Plan der Gottheit vollendet zusehen;
er schränkt sich nicht auf ein Volk, einen Glauben ein, sondern
umfaßt mit unparteiischer Liebe das ganze menschliche Geschlecht.
Dann könnet ihr sagen, er ist vollendet, wenn der Dienst nicht
von Namen und Worten, sondern der Dienst der Vernunft und
der Tugend auf der ganzen Erde anerkannt und geübt wird. Diese
58 G.W. F. HEGEL
Hinsicht auf diese Hoffnung der Menschheit, nicht die eitle Na-
tionalhoffnung der Juden wird euch frei von Sektengeist, sowohl
als immer aufrecht und mutvoll erhalten. Unter diesen Spaltungen
gründe sich eure Ruhe; euer Mut auf unverfälschte Tugend
wird wachsen, daß nicht eine falsche, träge Beruhigung sich in
euer Herz einschleiche. [Seid immer wachsam, lasset euch nicht
in eine träge Ruhe versinken, durch eine falsche Beruhigung],
die sich auf Anhänglichkeit an Glaubensformeln, auf Lippendienst
und pünktliche Beobachtung der Zeremonien einer Kirche gründet.
Es würde (Matth. XXV) dem ähnlich sein, wie wenn zehn Jung-
frauen den Bräutigam mit Lampen erwarten, der die Braut heim-
führt; wovon fünf sich klüglich mit Öl versahen, fünf aber töricht
dies vernachlässigten. Nach langem Warten kommt endlich spät
in der Nacht der Bräutigam; sie wollen ihm entgegen; die fünf,
die kein Öl hatten, wollten in der Eile fort, um sich noch welches
zu kaufen ; die andern konnten ihnen nichts leihen, weil sie gerade
für sich genug hatten. In ihrer Abwesenheit kommt indes der
Bräutigam an die fünf Klugen ; sie begleiten ihn ins Haus zum
Hochzeitsmahl; die andern aber, die auf die Einladung sich ver-
ließen, aber von ihrer Seite an dem Wesentlichen es fehlen ließen,
wurden ausgeschlossen. So glaubet auch ihr es nicht hinreichend,
einen Glauben ergriffen zu haben, wenn ihr es am Notwendigsten,
an der Übung der Tugend fehlen laßt, und dann etwa in der Not
oder beim Herannahen des Todes noch geschwind einige Grund-
sätze zusammenzuraffen oder mit fremdem Verdienst, woran jeder
für sich genug hat und andern nichts zukommen lassen kann,
euch auszuschmücken gedächtet. Ihr würdet mit eurem Kirchen-
glauben allein und der Vertröstung auf fremdes Verdienst vor
dem heiligen Richter der Welt nicht bestehen. Ich vergleiche sein
Gericht mit dem Gerichte eines Königs, der seine Völker ver-
sammelt und wie ein Hirt die Böcke von den Lämmern, die Guten
von den Bösen sondert. Zu jenen spricht er: Nähert euch mir,
ihr meine Freunde, genießet des Glücks, dessen ihr euch würdig
gemacht habt; denn ich hungerte und ihr gäbet mir zu essen; ich
litt Durst und ihr tränktet mich; wenn ich als Fremder unter
euch war, so nähmet ihr mich auf; wenn ich nackt war, kleidetet
ihr mich; wenn ich krank war, pflegtet ihr mich; im Gefängnis
DAS LEBEN JESU S9
besuchtet ihr mich. Sie werden voll Verwunderung fragen : Herr,
wann sahen wir dich hungrig oder durstig, daß wir dich gesättigt
hätten, oder nackt, oder als einen Fremden, oder krank, oder im
Gefängnisse, daß wir dich bekleidet, aufgenommen oder besucht
hätten ? Der König aber antwortet ihnen : Was ihr einem der ge-
ringsten meiner oder eurer Brüder tatet, das belohne ich, als mir
erwiesen. Zu den andern aber wird er sprechen: Entfernet euch
und empfanget den Lohn eurer Taten ; wenn ich hungerte oder
dürstete, speistet, tränktet ihr mich nicht; wenn ich nackt, oder
krank oder im Gefängnis war, nähmet ihr euch meiner nicht an.
Diese werden ihn auch fragen: Wo sahen wir dich hungrig, oder
durstig, oder nackt, oder krank, oder im Gefängnis, daß wir dir
einen Dienst hätten erweisen können? Der König wird ihnen die
gleiche Antwort geben: Was ihr dem Geringsten nicht getan
habt, das vergelte ich, als hättet ihr es mir nicht getan. So spricht
auch der Richter der Welt das Urteil der Verwerfung denen, die
die Gottheit nur mit den Lippen und andächtigen Mienen, nicht
in ihrem Bilde, der Menschheit, ehren.»
Des Tages über pflegte Jesus sich in den Gebäuden und Höfen
des Tempels, und des Nachts außerhalb der Stadt bei dem Oliven-
berge aufzuhalten. Der hohe Rat wagte es nicht, seinen Schluß,
Jesum gefangen zu nehmen, öffentlich auszuführen. Nichts kam
ihnen daher erwünschter, als das Anerbieten des Judas, eines der
zwölf vertrautern Freunde Jesu, ihnen für eine Summe Gelds
den Nachtaufenthalt Jesu zu verraten und ihnen behilflich zu sein,
ihn da heimlich gefangen zu nehmen. Habsucht scheint die
Hauptleidenschaft des Judas gewesen zu sein, die durch seinen
Umgang mit Jesu nicht einer besseren Gesinnung Platz gemacht
hatte und die wohl sein ursprünglicher Grund, Jesu Anhänger zu
werden, gewesen sein mochte, indem er sie befriedigen zu können
hoffte, wenn Jesus sein Messiasreich aufgerichtet haben würde.
Da Judas einzusehen anfing, daß ein solches Reich der Zweck
Jesu nicht sei und daß er sich in seiner Hoffnung betrogen. habe,
so suchte er noch aus seiner Freundschaft mit Jesu durch Verräterei
an demselben den größtmöglichsten Nutzen zu ziehen.
Jesus ließ, nach Gewohnheit der Juden, in Jerusalem ein Passah-
mahl, wobei ein Schaf das vorzüglichste Gericht war, zubereiten.
6o G.W. F. HEGEL
Es war der letzte Abend, den er mit seinen Freunden zubrachte,
Er widmete ihn denselben ganz, um einen tiefen Eindruck von
demselben in ihnen zu hinterlassen.
Joh. XIII. Bei dem Anfang des Essens stand Jesus noch ein-
mal auf, legte seine Oberkleider ab, schürzte sich auf, nahm ein
Leintuch und wusch seinen Freunden die Füße, eine Verrichtung,
die gewöhnlich von Dienstboten geschah. Petrus wollte dies
nicht geschehen lassen. Jesus sagte ihm, er werde den Grund
davon gleich erfahren. Als er mit allen fertig war, so sagte er:
«Ihr sehet, was ich tat. Ich, den ihr euren Lehrer nennet, habe
euch die Füße gewaschen. Ich wollte euch damit ein Beispiel
geben, wie ihr euch gegeneinander betragen sollet (Luk. XXII,
25 ff.). Fürsten lieben die Herrschaft und lassen sich dafür Wohl-
täter des menschlichen Geschlechts nennen. Ihr nicht also;
keiner erhebe sich über den andern, nehme sich etwas heraus
über ihn, sondern als Freunde sei jeder gefällig und dienstfertig
und mache seine Dienste nicht als eine Wohltat oder als eine
Herablassung gegen andere geltend. Ihr wisset dies ; wohl euch,
wenn ihr es auch tut. Ich spreche dabei nicht von euch allen,
denn ich kann hier das anwenden, ivie er irgend heißt: Einer der
mit mir Brot ißt, stößt seinen Fuß gegen mich ; denn einer unter
euch wird mich verraten.» Dieser Gedanke machte Jesum trau-
rig und ebenso seine Freunde verlegen. Johannes, der Jesu zu-
nächst lag, fragte ihn leise, welcher es doch sei? Jesus sagte ihm:
«Dem ich dieses Stück Brot gebe, der ist es», und reichte es dem
Judas dar mit den Worten: «Was du tun willst, das tue bald.»
Von den andern verstand keiner, was dies sagen wollte. Sie
meinten, es betreffe sonst einen Auftrag, weil Judas die Kasse der
Gesellschaft verwaltete. Judas, vielleicht in der Furcht, von Jesu
öffentlich beschämt zu werden, (weil er sah, daß sein Vorhaben
Jesu nicht unbekannt sei.) oder durch längere Gegenwart in
seinem Vorsatz wankend gemacht zu werden, verließ eilig die
Gesellschaft.
Jesus sprach jetzt weiter: «Euer Freund, meine Lieben, hat
bald seine Bestimmung vollendet. Ihn nimmt der Vater der
Menschen in die Wohnungen seiner Seligkeit auf; nicht lange
mehr, so werde ich euch entrissen werden. Als Vermächtnis an
DAS LEBEN JESU 6i
euch hinterlasse ich euch das Gebot, euch untereinander zu heben,
und das Beispiel meiner Liebe an euch. Nur durch diese gegen-
seitige Liebe sollet ihr euch als meine Freunde auszeichnen.»
Petrus fragte Jesum: «Wo gedenkst du denn hinzugehen, daß du
uns verlassen willst?» — «Auf den Weg, den ich gehe, sagte
Jesus, kannst du mich nicht begleiten.» — «Warum, antwortete
Petrus, sollte ich dir nicht folgen können? Ich bin bereit, es mit
Gefahr meines Lebens zu tunl» — «Dein Leben willst du mir auf-
opfern ? sagte Jesus. Ich kenne dich zu gut, daß du dafür noch nicht
Stärke genug hast. Ehe es wieder Morgen wird, kannst du dar-
über auf die Probe gesetzt werden. Werdet nicht bestürzt darüber,
daß ich von euch getrennt werde. Ehret den Geist, der in euch
wohnt, höret auf seine unverfälschte Stimme; durch ihn lernet
ihr den Willen der Gottheit kennen, durch ihn seid ihr mit ihr
verwandt, ihres Geschlechts, nur in ihm ist euch der Weg zu ihr
und zur Wahrheit aufgeschlossen. So sind zwar unsere Personen
verschieden und getrennt, aber unser Wesen ist eins und wir
sind einander nicht fern. Bisher war ich euer Lehrer, und meine
Gegenwart leitete eure Handlungen. Da ich euch verlasse, so
lasse ich euch nicht als Waisen zurück. Ich hinterlasse euch
einen Führer in euch selbst. Den Samen des Guten, den die
Vernunft in euch legte, habe ich in euch aufgedeckt, und das
Andenken an meine Lehren und an meine Liebe zu euch wird
diesen Geist der Wahrheit und der Tugend in euch aufrecht er-
halten, dem die Menschen nur deswegen nicht huldigen, weil
sie ihn nicht kennen und nicht in sich selbst suchen. Ihr seid
Männer geworden, die ohne fremdes Gängelband sich endlich
selbst anzuvertrauen sind. Wenn auch ich nicht mehr bei euch
bin, so sei von nun an eure entwickelte Sittlichkeit euer Weg-
weiser. Ehret mein Andenken, meine Liebe zu euch dadurch,
daß ihr den Weg der Rechtschaffenheit verfolget, auf den ich
euch geleitet habe. Der heilige Geist der Tugend wird euch noch
vollständiger das lehren, für was ihr jetzt noch nicht empfänghch
wäret und euch vieles ins Gedächtnis zurückrufen und ihm Be-
deutung geben, was ihr noch nicht verstandet. Ich hinterlasse
euch meinen Segen, nicht den Gruß, der bedeutungslos gegeben
wird, sondern der reich an Früchten des Guten sei. Daß ich
62 G.W. F. HEGEL
euch verlasse, ist selbst für euch besser, denn nur durch eigene
Erfahrung und Übung werdet ihr Selbständigkeit bekommen und
lernen, euch selbst zu führen. Daß ich von euch gehe, soll euch
nicht mit Betrübnis, sondern mit Freude erfüllen, denn ich trete
eine höhere Laufbahn in besseren Welten an, wo der Geist
schrankenloser sich zum Urquell alles Guten emporschwingt und
in seine Heimat, in das Reich der Unendlichkeit eintritt!»
«Mit Verlangen habe ich dem Genüsse dieses Mahles in eurer
Gesellschaft entgegengesehen. Lasset die Speisen und den Becher
herumgehen. Lasset uns hier den Bund der Freundschaft er-
neuern.» Und dann teilte er nach der Sitte der Morgenländer
(wie noch heutigentags bei den Arabern durchs Essen vom
gleichen Brot und Trinken aus demselben Kelche unverbrüchliche
Freundschaft gestiftet wird,) einem jeden Brot aus und nach dem
Essen ließ er ebenso den Kelch umhergehen und sagte dabei:
«Wenn ihr wieder so in freundschaftlichem Kreise zusammen-
speiset, so erinnert euch auch eures alten Freundes und Lehrers,
und wie euch das Passah ein Bild des Passahs war, das eure Väter
in Ägypten aßen und das Blut eine Erinnerung des Opferblutes
bei dem Opfer, wodurch Moses einen Bund zwischen Jehova und
seinem Volke stiftete (IL Mos. XXIV, 8), so gedenket in Zu-
kunft bei dem Brote an seinen Leib, den er aufopferte, und bei
dem Becher Weines an sein vergossenes Blut. Behaltet mich in
eurem Angedenken, der sein Leben für euch gab, und mein An-
denken, mein Beispiel, sei euch ein kräftiges Stärkungsmittel zur
Tugend. Ich sehe euch um mich wie die Schosse eines Wein-
stocks, die von ihm genährt Früchte tragen und jetzt bald, von
ihm abgenommen, durch eigne Lebenskraft das Gute zur Reife
bringen. Liebet einander, liebet alle Menschen, wie ich euch
liebte; daß ich mein Leben zum Wohl meiner Freunde hingebe,
ist der Beweis meiner Liebe. Ich nenne euch nicht mehr Schüler
oder Zöglinge; diese folgen dem Willen ihrer Erzieher, oft ohne
den Grund zu wissen, warum sie so handeln müssen. Ihr seid
zur Selbständigkeit des Mannes, zur Freiheit eignen Willens er-
wachsen, aus eigner Tugendkraft werdet ihr Früchte tragen, wenn
schon der Geist der Liebe, die Kraft, die euch und mich begeistert,
dieselbe ist.»
DAS LEBEN JESU 63
«Wenn man euch verfolgt und mißhandelt, so erinnert euch
an mein Beispiel, daß es mir und Tausenden nicht besser gegangen
ist. Würdet ihr euch auf die Seite der herrschenden Laster und
Vorurteile schlagen, so würdet ihr Freunde genug finden, so aber
wird man euch hassen, weil ihr Freunde des Guten seid. Das
Leben eines Rechtschaifenen ist ein beständiger Vorwurf für den
Bösen, der dies fühlt und dadurch erbittert wird; und wenn ihm
kein Vorwand übrig bleibt, den guten, vorurteilsfreien Mann zu
verfolgen, so wird er die Sache der Vorurteile, der Unterdrückung
und des Lasters zur Sache Gottes machen und sich und die Men-
schen überreden, er tue mit dem Haß des Guten der Gottheit
einen Dienst. Aber der Geist der Tugend wird, wie ein Strahl
aus bessern Welten, euch beseelen und euch über die kleinlichen
und lasterhaften Zwecke der Menschen erheben. Ich spreche
euch im voraus hiervon, damit es euch nicht unerwartet kommt.
Wie die Angst der Gebärerin in Freude verwandelt wird, wenn
sie einen Menschen in die Welt geboren hat, so wird der Kummer,
der eurer wartet, einst in Seligkeit übergehen.»
Dann erhob Jesus seine Augen gegen Himmel: «Mein Vater,
sagte er, meine Stunde ist gekommen, die Stunde, den Geist,
dessen Ursprung Deine Unendlichkeit ist, in seiner Würde zu
zeigen, und heimzukehren zu Dir! Seine Bestimmung ist die
Ewigkeit und Erhebung über alles, was Anfang und Ende hat,
über alles, was endlich ist; meine Bestimmung auf Erden, Dich,
Vater, und die Verwandtschaft meines Geistes mit Dir zu erkennen
und durch Treue gegen dieselbe mich zu ehren und die Menschen
durch das erwachte Bewußtsein dieser Würde zu veredeln. Diese
Bestimmung auf Erden habe ich vollendet. Die Liebe zu Dir hat
mir Freunde zugeführt, welche es einsehen gelernt haben, daß
ich nicht etwas Fremdes oder Willkürliches den Menschen auf-
dringen wollte, sondern daß es Dein Gesetz ist, was ich sie lehrte,
das still und verbannt von den Menschen in aller Busen wohnt.
Nicht durch etwas Eigentümliches oder Auszeichnendes mir Ehre
zu erwerben, sondern die verlorene Achtung gegen die wegge-
worfene Menschheit wiederherzustellen, war meine Absicht, und
der allgemeine Charakter vernünftiger Wesen, die Anlage zur
Tugend, die allen zuteil geworden ist, mein Stolz. Voll-
64 G.W. F. HEGEL
kommenster, bewahre sie, daß nur Liebe zum Guten das höchste
Gesetz in ihnen sei, das sie beherrsche! So sind sie eins, so blei-
ben sie vereinigt mit Dir und mit mir. Ich gehe zu Dir, und richte
dies Gebet an Dich, daß die freudige Stimmung, die mich belebt,
auch sie durchströme. Ich habe sie mit Deiner Offenbarung be-
kannt gemacht, und weil sie sie ergriffen haben, so haßt sie die
Welt, wie mich, der ich ihr gehorche. Ich bitte Dich nicht, daß
du sie von der Welt nehmest — eine Bitte dieser Art kann nicht
vor Deinen Thron gebracht werden — aber heilige sie durch
Deine Wahrheit; nur aus Deinem Gesetze strahlt sie. Deinen
hohen Ruf, die Menschen zur Tugend zu bilden, dem ich folgte,
habe ich in ihre Hände niedergelegt. Mögen sie auch in ihrem
Teil ihn vollenden und Freunde erziehen, die vor keinem Götzen
mehr die Knie beugen, keine Worte, keinen Glauben zum Bande
ihrer Vereinigung machen, als die Tugend und Annäherung zu
Dir, dem Heiligsten.»
Luk. XXII. 39 ; cit. loc. Parallelstellen. Nach diesen Gesprächen
stand die Gesellschaft auf, verließ Jerusalem — die Nacht war an-
gebrochen — wie gewöhnlich, ging über den Bach Kedron, nach
einem Meierhofe, namens Gethsemane, in der Gegend des Ol-
bergs. Dieser Ort des nächtlichen Aufenthalts Jesu war auch dem
Judas bekannt, weil er oft mit Jesu dort gewesen war. Er hieß
seine Jünger beisammen bleiben und er selbst ging mit dreien an
einen abgelegenen Ort, um sich seinen Gedanken zu überlassen.
Hier trat die Natur auf einige Zeit in ihre Rechte ein. Der Ge-
danke der Verräterei seines Freundes, der Ungerechtigkeit seiner
Feinde und der Härte seines bevorstehenden Schicksals bemäch-
tigte sich des Jesus hier in der Einsamkeit der Nacht, erschütterte
ihn und erfüllte ihn mit Angst. Er bat seine Jünger, bei ihm zu
bleiben und mit ihm zu wachen, ging unruhig hin und her, sprach
bald einiges mit ihnen, ermunterte sie wieder, wenn sie in Schlaf
gefallen waren, ging von Zeit zu Zeit auf die Seite und betete
einigemal: «Mein Vater, laß, wenn es möglich ist, den bitteren
Kelch des Leidens, der mir bevorsteht, bei mir vorübergehen!
Doch nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe! Wenn
es nicht sein soll, daß ich dieser Stunde überhoben sei, so ergebe
ich mich in Deinen Willen.» Der Schweiß lief ihm in großen
DAS LEBEN JESU 65
Tropfen herunter. Als er wieder einmal bei seinen Jüngern stand,
und ihnen zuredete, zu wachen, so vernahmen sie das Kommen
von Menschen: «Wachet auf, lasset uns gehen, rief er zu seinen
Jüngern, mein Verräter naht!»
Judas näherte sich jetzt mit Bewaffneten und Fackeln. Jesus
hatte seine Standhaftigkeit gesammelt, ging ihnen entgegen: «Wen
suchet ihr.f*» fragteer. Sie sagten: «Jesum den Nazarener.» —
«Ich bin's», antwortete Jesus. Sie waren verlegen, ob sie am
Rechten seien. Er fragte sie noch einmal und erwiderte das
Gleiche mit dem Zusatz: «Wenn ihr mich suchet, so lasset diese
meine Freunde verschont.» Jetzt nahte sich Judas und gab seinen
Begleitern das Zeichen, das er mit ihnen verabredet hatte, um
ihnen Jesum kenntlich zu machen. Er sagte nämlich: «Sei ge-
grüßt, Lehrer», und umarmte ihn dabei. Jesus erwiderte: «Wie,
Freund, mit einem Kusse verrätst du mich?», ward dann von den
Soldaten ergriffen. Als Petrus dies sah, zog er sein Schwert,
schlug darein und hieb einem Knechte des Hohenpriesters das
Ohr ab. Jesus verwies ihn zur Ruhe: «Laß das, und ehre das
Schicksal, das die Gottheit mir bestimmt.» Die übrigen Freunde
Jesu flohen und zerstreuten sich, als sie sahen, daß die Schar sich
Jesu bemächtigt, ihn gebunden hatte und jetzt wegführte, außer
ein Jüngling, vom Schlafe aufgeschreckt, der in der Eile nichts
als einen Mantel um sich geworfen hatte ; er wollte Jesu folgen,
wurde aber von den Soldaten ergriffen und rettete sich dadurch,
daß er ihnen entschlüpfte und den Mantel in den Händen ließ.
Im Gehen sagte Jesus zu seinen Führern: «Ihr kommet zu mir
gewaffnet, mich wie einen Räuber zu packen und doch saß ich
alle Tage unter euch öffentlich im Tempel, und ihr ergriffet mich
nicht. Aber die Mitternacht ist eure Stunde und die Finsternis
euer Element.» Jesus wurde zuerst zu Hannas, dem alten Hohen-
priester und Schwiegervater des Kaiphas, und dann zu dem
letzteren, der dieses Jahr Hohepriester war, geführt, wo der ganze
hohe Rat von Jerusalem versammelt den Gefangenen erwartete
und wo Kaiphas diese Maxime eingeschärft hatte, einen zum
Besten des ganzen Volkes aufzuopfern sei Pflicht. Petrus war nur
von fern den Häschern gefolgt und hätte es nicht gewagt, in den
Palast selbst einzutreten, wenn nicht Johannes, der mit dem Hohen-
Hegel, Das Leben Jesu S
66 G.W. F. HEGEL
priester wohl bekannt war und freien Zutritt in seinem Hause
hatte, der Türhüterin gesagt hätte, den Petrus auch einzulassen.
Diese machte die Bemerkung gegen den letzteren: «Bist du nicht
einer von den Anhängern dieses Mannes?» Petrus leugnete dies
geradezu und stellte sich an das Kohlenfeuer unter die Gerichts-
diener und Knechte, um sich da, wie sie, zu wärmen.
Der Hohepriester, vor dem jetzt Jesus stand, tat verschiedene
Fragen an ihn, die seine Lehre und seine Schüler betrafen. Jesus
antwortete hierauf: «Ich habe frei und öffentlich vor jedermann
geredet, ich habe im Tempel und in den Synagogen gelehrt, wo
die Juden alle hinzugehen pflegen; ich habe keine geheimen
Lehren; warum fragst du also mich? Frage die, die mich gehört
haben, um was ich lehrte; es werden alle es dir sagen können.»
Einem der Häscher schien diese Antwort Jesu gegen den Hohen-
priester unbescheiden: «So antwortest du dem Hohenpriester?»
sagte er, und gab ihm einen Schlag. Jesus sagte mit ruhiger
Fassung zu ihm: «Habe ich nicht recht geantwortet, so sage mir
den Fehler; habe ich aber gut geantwortet, warum schlägst du
mich?»* Viele Zeugen waren aufgeboten worden, um Aussagen
gegen Jesum vorzubringen, aber die Priester konnten keinen Ge-
brauch davon machen, teils weil sie nicht entscheidend genug
waren, teils nicht übereinstimmten. Endlich traten einige auf, die
aussagten, sie haben ihn unehrerbietig vom Tempel sprechen ge-
hört; aber auch diese stimmten in den näheren Ausdrücken nicht
miteinander.
Jesus schwieg zu allen still. Endlich trat der Oberpriester un-
geduldig hervor. «Antwortest du zu allen diesen Anklagen nichts,
so beschwöre ich dich bei dem lebendigen Gotte, uns zu sagen,
ob du ein Geweihter, ein Sohn der Gottheit bist.» — «Ja, ich bin
es», antwortete Jesus, und diesen verachteten Menschen, der der
Gottheit und der Tugend geheiligt war, werdet ihr einst mit
Herrlichkeit bekleidet und über die Sterne erhaben erblicken.*
Der Hohepriester zerriß sein Kleid und rief: «Er hat Gott ge-
* Nach Joh. XVIII, 24 schiene dies in dem Palast des Hannas vorgefallen
zu sein; war aber bei Kaiphas der Rat versammelt und geschah dort das eigent-
liche Verhör, so stimmte derOrt, wo Petrus Jesum verleugnete, nicht zusammen;
bei Kaiphas, allein es heißt überall c/f-y.if il:, im Plural.
DAS LEBEN JESU 67
lästert I Was brauchen wir andere Zeugnisse? Ihr habt sein eigenes
gehört. Was ist eure Meinung?» — «Er hat des Todes sich
schuldig gemacht», war ihr Urteil. Dieser Ausspruch war für die
Häscher ein Signal zu Mißhandlungen und Verhöhnungen Jesu, der
jetzt in ihren Händen blieb, da der hohe Rat jetzt auf einige
Stunden auseinander ging, um früh morgens sich wieder zu ver-
sammeln.
Petrus hatte indessen immer bei dem Feuer gestanden (Mark.
XIV, 66) und noch eine andere Weibsperson, die auch im Dienst
des Hohenpriesters stand, erkannte den Petrus und sagte zu den
Umstehenden: «Gewiß, dieser ist auch einer der Begleiter des
Gefangenen.» Petrus antwortete wieder mit einem unbedingten:
Nein! Aber ein Knecht des Hohenpriesters, ein Anverwandter
dessen, den Petrus einige Stunden später verwundet hatte, sagte:
«Habe ich dich nicht bei Jesu im Meierhofe gesehen?» Auch die
Übrigen stimmten ein, auch seine Mundart verrate ihn, daß er
aus Galiläa sei. Bei so vielen Umständen, die gegen ihn zeugten,
vergaß sich Petrus in der Verlegenheit und Angst so weit, daß er
hoch beteuerte und beschwor, daß er nicht begreife, was sie wollen,
daß er den Menschen, für dessen Freund sie ihn ansehen, ganz
und gar nicht kenne. Indessen fingen die Hähne an, den werden-
den Morgen anzukündigen, und gerade unter diesen Beteuerungen
wurde Jesus an ihm vorbeigeführt, der sich gegen ihn zuwandte
und einen Blick auf ihn warf. Petrus fühlte diesen tief, fühlte
jetzt das Verächtliche seines Betragens, fühlte es, wie sehr Jesus
in der Abendunterredung berechtigt gewesen war, zu zweifeln,
ob die Standhaftigkeit, deren sich Petrus so sehr gerühmt hatte,
die Probe aushalten würde, entfernte sich eilig und vergoß bittere
Tränen der Selbstbeschämung und Reue.
Als jetzt Judas der Verräter sah, daß es mit Jesu so weit ging,
daß er zum Tode verurteilt worden war, so reute ihn seine Tat,
Er brachte sein Geld (dreißig Silberlinge) den Priestern wieder
zurück und sagte: «Ich habe unrecht getan, euch einen Un-
schuldigen in die Hände zu liefern.» Man antwortete ihm aber,
dies sei seine Sache, sie gehe seine Tat nichts an. Judas warf das
Geld in die Tempelbüchse und erhängte sich. Die Priester hatten
nun Gewissensskrupel darüber, dies Geld, weil es Blutgeld sei, zu
5»
68 G.W. F. HEGEL
dem Gelde des Tempels zu fügen und kauften einen Acker dafür,
den sie zum Begräbnisplatz für Fremde bestimmten.
Die wenigen übrigen Stunden der Nacht verflossen und der
hohe Rat hatte sich wieder versammelt, und da dieser ihn für des
Todes schuldig erkannte, aber das Recht nicht mehr hatte, ein
solches Urteil zu fällen und zu vollziehen, so verfügte sich die
Versammlung gleich des Morgens mit Jesu zu Pilatus, dem römi-
schen Statthalter dieser Provinz, um demselben Jesum zu über-
geben und dadurch es unmöglich zu machen, daß ein Aufruhr
zu Gunsten Jesu unter dem Volke entstünde, wenn er noch in
ihren Händen wäre. Sie gingen nicht in den Palast selbst hinein,
weil dies noch ein Tag des Festes war, um sich nicht zu verun-
reinigen. Pilatus kam heraus in den Vorhof und fragte sie:
«Welcher Verbrechen klaget ihr diesen Menschen an, daß ihr seine
Verurteilung verlangt?» — «Wäre er nicht ein Verbrecher, so
hätten wir dir ihn nicht überliefert», antworteten die Priester.
Pilatus en^'iderte: «Nun, so machet ihm den Prozeß und richtet
ihn nach euren Gesetzen.» — «Wir dürfen ja kein Todesurteil
fällen», versetzten sie. Als Pilatus also hörte, daß das Verbrechen
des Todes würdig sein sollte, so konnte er es nicht mehr ablehnen,
der Richter über Jesum zu sein und ließ sich jetzt die Anklagen
des Rats gegen ihn vortragen. — Mit dem, was nach jüdischen
Begriffen eine Lästerung der Gottheit war, daß Jesus für einen
Sohn derselben sich bekannt hatte und was der Rat für das todes-
würdige Verbrechen hielt, mit dieser Anklage wußte der jüdische
Rat wohl, konnte er von Pilatus kein Verdammungsurteil zum
Tode erhalten. Sie klagten Jesum also an, daß er das Volk ver-
führe, es zur Gleichgültigkeit gegen die Staatsverfassung verleite,
woraus zuletzt die Weigerung entstehen werde, dem Kaiser den
Tribut zu bezahlen, und daß er sich für einen König ausgebe.
Als Pilatus diese Anklagepunkte angehört hatte, verfügte er sich
in seinen Palast zurück, ließ Jesum vor sich rufen und fragte ihn:
«Gibst du dich wirklich für den König der Juden aus?» Jesus
fragte ihn dagegen: «Bist du für dich selbst veranlaßt geworden,
den Verdacht zu haben, daß ich mich dafür ausgebe, oder fragst
du mich nur, weil andere dessen mich beschuldigten?» Pilatus
antwortete: «Bin ich denn ein Jude, daß ich für mich selbst einen
DAS LEBEN JESU 69
König eurer Nation erwartete? Dein Volk und die Hohenpriester
haben dich bei mir dessen angeklagt. Was hast du getan, das sie
dazu veranlaßte?» Jesus antwortete: «Sie beschuldigen mich, ich
maße mir ein Reich an. Aber dieses Reich ist nicht das, was man
sonst für einen Begriff mit einem Reiche verbindet. Wäre es dies,
so würde ich Untergebene und Anhänger haben, die für mich
gekämpft hätten, daß ich nicht in die Hände der Juden gefallen
wäre.» — «So gibst du dich doch, erwiderte Pilatus, für einen
König aus, da du von einem Reiche sprichst?» — «Wenn du es
so nennen willst, ja, antwortete Jesus ; ich glaube mich dafür ge-
boren, dies für meine Bestimmung in der Welt, Wahrheit zu
lehren und ihr Anhänger zu werben. Und wer sie liebte, der
hörte auf meine Stimme.» — «Was ist Wahrheit?» erwiderte
Pilatus mit der Miene des Hofmanns, die kurzsichtig, doch
lächelnd, des Ernstes Sache verdammt, und hielt wohl Jesum für
einen Schwärmer, der sich für ein Wort, für eine Abstraktion
aufopferte, die in der Seele des Pilatus bedeutungslos war, und
betrachtete das Ganze als eine Sache, die bloß auf die Religion der
Juden Bezug habe und die weder ein Verbrechen gegen bürgerliche
Gesetze betreffe, noch dabei für die Sicherheit des Staates Gefahr
sei. Er verließ Jesum und ging hinaus zu den Juden und sagte
ihnen, er finde keine Schuld an dem Menschen. Diese wieder-
holten ihre Anklagen, daß er durch seine Lehre im ganzen Lande,
von Galiläa an bis nach Jerusalem, Unruhe stifte. Pilatus, auf-
merksam dadurch gemacht, daß sie Galiläa als die Gegend nannten,
von wo er zu lehren angefangen habe, erkundigte sich, ob der
Mann ein Galiläer sei. Da er dies hörte, so schien er froh zu sein,
diesen verdrießlichen Handel sich von dem Halse zu schaffen,
weil Jesus, als Galiläer, unter Herodes, dem Fürsten dieser Gegend
stand, und schickte ihn daher diesem zu, der sich des Festes wegen
gerade in Jerusalem befand.
Dem Herodes machte es Freude, Jesum zu sehen. Er wünschte
dies schon längst, weil er so viel von Jesu reden gehört hatte und
etwas Außerordentliches von ihm zu sehen hoffte. Er tat viele
Fragen an ihn ; auch die Hohenpriester und ihre Begleiter wieder-
holten hier ihre Anklagen. Jesus antwortete nichts zu allem;
ebenso gelassen blieb er, als Herodes und seine Höflinge in Spott
70 G.W. F. HEGEL
sich gegen ihn ergossen und ihm zuletzt ein Kleid, das ein Zeichen
der fürstlichen Würde war, anlegten. Da Herodes nichts mit
ihm zu machen wußte und ihm Jesus nur ein Gegenstand des
Spottes, nicht einer Strafe zu sein schien, so schickte er ihn zu
Pilatus wieder zurück. Übrigens hatte diese Aufmerksamkeit des
Pilatus, die Gerichtsbarkeit des Herodes über Jesumals einen Gali-
läer zu respektieren, die Wirkung, die Freundschaft zwischen beiden,
die vorher unterbrochen worden war, wieder herzustellen. Pilatus
war in der vorigen Verlegenheit, berief die Hohenpriester und
Ratsglieder zusammen und erklärte ihnen, sie haben diesen
Menschen als einen Unruhstifter bei ihm angeklagt, er finde aber
nichts, aus dem sich eine Schuld ergebe, die den Tod verdiene,
ebensowenig als auch Herodes; weiter als ihn geißeln zu lassen
könne er nichts tun und dann werde er ihm die Freiheit wieder-
geben. Die Juden waren mit dieser Strafe nicht befriedigt, sondern
drangen auf die Todesstrafe. Pilatus, der die Ruhe Jesu bei allen
diesen Verhandlungen bewunderte und äußerst ungern daran kam,
ein Werkzeug zu sein, dem jüdischen Religionshaß Jesum aufzu-
opfern, schlug einen neuen Ausweg vor. Da auch seine Frau zu
ihm schickte und sich für Jesum interessierte, so brachte Pilatus
einen andern Ausweg auf die Bahn. Es war nämlich eine Gewohn-
heit, daß der römische Statthalter am Osterfeste einem jüdischen
Gefangenen Freiheit und Leben schenkte. Außer Jesu war noch
ein anderer Jude damals im Gefängnis, namens Barrabas, den die
Juden wegen verübter Räubereien und Totschläge angeklagt hatten.
Pilatus, in der Hoffnung, die Juden werden dies Herkommen aus-
zuüben nicht unterlassen wollen und eher die Freiheit Jesu als
des Mörders verlangen, überließ ihnen die Wahl zwischen beiden,
zwischen Barrabas und dem König der Juden, wie er Jesum
spottend nannte. Die Priesterschaft überredete leicht das um-
stehende Volk, die Loslassung des Barrabas und den Tod des Jesus
zu begehren. Als sie Pilatus noch einmal fragte, zu was sie sich
entschlossen hätten, welchen er ihnen frei geben sollte, so riefen
sie: «Den Barrabas I» Unwillig rief Pilatus: «Und was soll ich
denn mit Jesu anfangen?» — «Laß ihn kreuzigen!» war ihr Ge-
schrei. — «Aber was hat er denn Böses getan?» frug Pilatus wieder.
Sie riefen stärker: «Ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm!» Pilatus ließ
DAS LEBEN JESU 71
hierauf Jesum geißeln. Die Soldaten flochten eine Krone von
Dornen (Bärenklau, Heracleum), setzten sie ihm aufs Haupt und
riefen: «Sei gegrüßt, König der Juden!» und gaben ihm Stöße
dabei.
Pilatus hoffte ihre Wut dadurch gesättigt zu sehen, sagte ihnen :
«Ich wiederhole es euch, daß ich nichts Schuldiges an ihm finde»,
ließ ihn in die Vorhalle herausführen und sagte: «Da sehet ihn,
weidet eure Augen an diesem Schauspiel!» Dieser Anblick be-
sänftigte sie nicht. Sie verlangten lärmend seinen Tod. «So nehmet
ihn, rief Pilatus noch ungeduldiger, kreuziget ihn! Ich finde ihn
nicht schuldig.» Die Juden versetzten: «Er ist nach unsern Ge-
setzen des Todes schuldig, denn er hat sich für einen Sohn der
Gottheit ausgegeben.» Den Pilatus, der sich hierbei nach römischen
Begriffen einen Göttersohn dachte, wandelte noch mehr Bedenk-
lichkeit an, und er fragte Jesum: «Woher bist du eigentlich?»
Jesus gab aber keine Antwort darauf «Wie, sagte Pilatus, auch mir
antwortest du nicht? Weißt du, daß dein Leben und dein Tod
ganz von mir abhängt?» Jesus erwiderte: «Nur soweit, als mein
Leben und mein Tod in den Plan der Gottheit paßt. Doch ver-
mindert dies die Schuld derer nicht, die mich überlieferten.»
Pilatus war immer mehr für Jesum eingenommen und geneigt,
ihn frei zu lassen. Die Juden, die dies sahen, warfen sich jetzt in
die Rolle getreuer und für Cäsars Interesse allein besorgter Unter-
tanen, eine Rolle, die ihnen sauer genug ankommen mußte, die
aber ihren Zweck nicht leicht verfehlen konnte. «Läßt du diesen
los, riefen sie, so bist du nicht ein Freund Cäsars, denn wer sich
für einen König ausgibt, ist ein Rebell gegen unsern Fürsten.
Pilatus setzte sich jetzt feierlich zu Gericht, ließ Jesum vorführen:
« Sehet hier euern König. Soll ich euern König ans Kreuz schlagen
lassen.» — «Kreuzige ihn! wir erkennen keinen König als Cäsar!»
Als Pilatus den Lärm und das Getümmel immer größer werden
sah und Unruhen, vielleicht einen Aufstand zu befürchten hatte,
dem die Juden einen für Pilatus höchst gefährlichen Anstrich des
Eifers für die Ehre Cäsars geben konnten, und sah, daß die Hart-
näckigkeit der Juden unbezwinglich war, ließ er sich ein Gefäß
mit frischem Wasser bringen, wusch seine Hände vor dem Volke
und sagte: «Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten!
72 G.W. F. HEGEL
Ihr habt es zu verantworten ! » Die Juden riefen : «Ja, sein Tod
werde an uns und unsern Kindern gestraft!» Der Sieg der Juden
war entschieden, Barrabas freigegeben und Jesus zum Tode am
Kreuze verurteilt, (eine römische, aber so entehrende Todesart,
als heutzutage der Tod am Galgen).
Jesus blieb dem rohen Spott und den Mißhandlungen der
Soldaten ausgesetzt, bis er hinaus zum Richtplatz geführt wurde.
Der Verurteilte mußte den Pfahl sonst selbst hinausschleppen.
Doch wurde er Jesu abgenommen und einem Manne mit Namen
Simon, der eben in der Nähe stand, zu tragen gegeben. Der Zu-
lauf der Menge war sehr groß. Seine Freunde wagten es nicht,
sich ihm zu nähern, sondern folgten und sahen der Hinrichtung
nur zerstreut und aus der Ferne zu. Ihm näher waren mehrere
Frauen, die ihn gekannt hatten und jetzt weinten und sein Schick-
sal bejammerten. Jesus wandte sich im Gehen zu ihnen und
redete sie an: «Beweinet mich nicht, ihr Frauen von Jerusalem,
vielmehr euch selbst und eure Kinder. Es werden Zeiten kommen,
wo man die Kinderlosen, die Brüste, die nie säugten, die Leiber,
die nie gebaren, glücklich preisen wird. Ihr sehet, wie es mir geht;
ziehet den Schluß, wohin ein solcher Geist unter einem Volke es
noch bringen w4rd.»
Jesus wurde in Gesellschaft zweier Verbrecher gekreuzigt. Sein
Kreuz kam in die Mitte zu stehen. Während man ihn daran be-
festigte (durch Annagelung der Hände und Anbindung der Füße*),
rief Jesus aus: «Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.»
Seine Kleider verteilten wie gewöhnlich die Soldaten unter sich.
Pilatus ließ in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache
die Aufschrift über sein Kreuz heften: Dies ist der König der
Juden. Die Priester verdroß dies und sie meinten, Pilatus hätte
schreiben sollen, dass Jesus sich nur dafür ausgegeben habe. Pilatus,
der unwillig wegen der ganzen Anklage über sie war, sah gern,
daß sie das Demütigende, das für sie in seiner Überschrift lag,
empfanden, und gab ihnen, auf ihr Ansuchen, es zu ändern, zur
Ant\vort: «Es bleibt bei dem, was ich geschrieben habe.» Indessen
war Jesus außer dem körperlichen Schmerz, dem triumphierenden
Spotte des jüdischen vornehmen und gemeinen Pöbels wie auch
Nur wahrscheinlich; s. Paulus' Memorabilien 2.
DAS LEBEN JESU 73
dem rohen Witze der römischen Soldaten ausgesetzt. Auch den
einen Verbrecher, der mit Jesu gekreuzigt worden war, machte
die Gleichheit ihres Schicksals nicht freundschaftlicher gegen
Jesum; es hinderte ihn nicht, auch seinen Spott in den Hohn der
Menge zu mischen. Dem andern aber war menschHchere Empfin-
dung und Gewissen bei seinen Verbrechen nicht ganz fremd gewor-
den ; er verwies es jenem, daß er noch in solchen Umständen gegen
einen, der in gleichem Leiden mit ihm sich befinde, bitter sein könne
und setzte hinzu: «Unser Los ist gerecht, denn wir empfangen,
was unsere Taten verdienten ; und diesem ist schuldlos ein gleiches
Schicksal zuteil geworden! Gedenke meiner, sagte er zu Jesu,
wenn du in deinem Reiche bist.» — «Bald werden uns zu-
sammen, erwiderte Jesus, die Gefilde der Seligkeit aufnehmen.»
Unter dem Kreuz stand in tiefer Betrübnis die Mutter Jesu, mit
einigen ihrer Freundinnen. Johannes allein von allen Vertrauten
Jesu war bei ihnen und teilte ihre Schmerzen. Jesus erblickte sie
beisammen und sagte zu seiner Mutter: «Siehe, da ist ein Sohn
statt meiner», und zu Johannes: «Sieh diese als Mutter an!»
Johannes nahm sie auch dem Wunsche seines sterbenden Freundes
gemäß in sein Haus und in seine Pflege auf.
Nach einigen Stunden, die er schon am Kreuze hing, rief er
überwältigt vom Schmerz aus: «Mein Gott, mein Gott! warum
hast du mich verlassen?» Nachdem er noch gerufen, es durste
ihn und von ein wenig Essig, den man ihm in einem Schwamm
reichte,* zu sich genommen hatte, sprach er noch: «Es ist voll-
endet», und zuletzt mit lauter Stimme: «Vater, in deine Hände
befehle ich meinen Geist», neigte das Haupt und verschied.
Selbst der römische Hauptmann, der bei der Hinrichtung
kommandierte, bewunderte die ruhige Fassung und die sich gleich
bleibende Würde, mit welcher Jesus starb. Seine Freunde hatten
dem Ende ihres teuern Lehrers von ferne zugesehen.
Weil die Gekreuzigten sonst nur langsam abstarben und oft
noch mehrere Tage am Pfahle lebten und der folgende Tag bei
den Juden ein Festtag war, so baten sie Pilatus, damit morgen die
* Ae'(cuv • ct^sTs loojjicv et ip/ETczi 'HXci'czc xa&sXstv «ütöv. Lasset ihn nun,
quälet ihn nicht weiter, daß er etwa zu zeitig stirbt; wir brächten uns ja nur
um den Spaß, wenn Elias kommt und ihm hilft. Mark. XV, 36.
74 G.W. F. HEGEL
Körper nicht am Kreuze seien, den Gerichteten die Beine zer-
schlagen zu lassen und sie abzunehmen. Bei den Missetätern, die
mit Jesu gerichtet worden waren, geschah dies, weil sie noch lebten.
Bei Jesu selbst sahen sie, daß dies nicht nötig war. Sie stießen ihm
also nur einen Speer in die Seite, woraus ein Wasser (eine Lymphe)
mit Blut vermischt herausfloß. Joseph von Arimathia, ein Mitglied
des hohen Rats zu Jerusalem, ein sonst unbekannter Freund Jesu,
bat es sich von Pilatus aus, ihm den Leichnam Jesu anzuver-
trauen. Pilatus erlaubte dies. Joseph in Gesellschaft des Niko-
demus, eines andern Freundes, nahm den Toten also ab, balsamierte
ihn mit Myrrhe und Aloe, umwickelte ihn mit Leinwand (Linnen)
und setzte ihn in seiner Familiengruft bei, die in seinem Garten
in Felsen gehauen war und die nahe bei der Gerichtsstätte war,
wo sie also um so eher mit diesen Zurüstungen fertig werden
konnten, noch vor dem Anfang des Festes selbst, an dem es nicht
erlaubt gewesen wäre, mit Toten zu tun zu haben.
24.JuU 95
LI der Zeit, da Jesus unter der jüdischen Nation
auftrat, befand sie sich in dem Zustande, der die
Bedingung einer früher oder später nachfolgen-
den Revolution ist, und immer die gleichen all-
gemeinen Charaktere trägt. Wenn der Geist aus
einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen
ist, und jener durch seine Veränderung zu diesen nicht mehr
stimmt, so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas Anderem,
das bald von jedem in etwas anderem gefunden wird, wodurch
denn eine Mannigfaltigkeit der Bildungen, der Lebensweise, der An-
sprüche, der Bedürfnisse hervorgeht, die, wenn sie nach und nach so
weit divergieren, daß sie nimmer nebeneinander bestehen können,
endlich einen Ausbruch bewirken und einer neuen allgemeinen
Form, einem neuen Bande der Menschen ihr Dasein geben. Je
loser dieses Band ist, je mehr es unvereinigt läßt, desto mehr
Samen zu neuen Ungleichheiten und künftigen Explosionen liegt
darin.
So gibt das jüdische Volk zur Zeit Jesu uns nicht mehr das Bild
eines Ganzen. Ein Allgemeines hält sie notdürftig noch zu-
sammen, aber es ist so viel fremdartiger und mannigfaltiger Stoff,
so vielerlei Leben und Ideale vorhanden, so viel unbefriedigtes
und nach Neuem neugierig umherschauendes Streben, daß jeder
mit Zuversicht und Hoffnungen auftretende Reformator sich eines
Anhangs für ebenso versichert halten kann, als einer feindlichen
Partei.
Die äußere Unabhängigkeit des jüdischen Staates war verloren.
Die Römer und von Römern geduldete oder gegebene Könige
vereinigten darum ziemlich den allgemeinen, heimlichen Haß der
Juden gegen sich. Die Forderung der Unabhängigkeit lag zu tief
in ihrer Religion, die andern Völkern kaum das Neben-ihr-Bestehen
gönnte; wie sollte sie die Herrschaft eines derselben über ihre
Kinder erträglich finden? Das Volk, dessen sonstige Wirklichkeit
noch ungekränkt blieb, war noch nicht auf dem Punkt, diese auf-
opfern zu müssen, und wartete daher auf einen fremden, mit
Macht ausgerüsteten Messias, der für dasselbe täte, was es selbst
nicht wagte, oder es zum Wagen begeisterte und durch diese Ge-
walt fortrisse.
76 G.W. F. HEGEL
Es zeichneten sich viele durch strengere und genauere Beob-
achtung aller religiösen Pünktlichkeiten aus, und schon daß sie
sich dadurch auszeichneten, zeigt uns den Verlust der Unbefangen-
heit, die Mühe und einen Kampf, etwas zu erreichen, was nicht
aus sich selbst hervorging. Der Dienst in dem sie standen, war
der Dienst gegen ein blindes, nicht wie das griechische innerhalb
der Natur liegendes Fatum, und ihre größere Religiosität ein be-
ständigeres Anhängen und Abhängen von Mannigfaltigerem, das
sich auf das Eine bezöge, aber jedes andere Bewußtsein ausschlösse.
Die Pharisäer suchten mit Anstrengung vollkommene Juden zu
sein und dies beweist, daß sie die Möglichkeit kannten, es nicht
zu sein. Die Sadduzäer ließen sich ihr jüdisches Dasein als ein
Wirkliches in sich bestehen, weil es einmal da war, und waren
mit wenigem zufrieden, aber es schien für sie unmittelbar kein
Interesse zu haben, als nur insofern, als es einmal Bedingung ihres
übrigen Genusses w-ar. Sonst waren sie und ihr Dasein sich selbst
höchstes Gesetz. Auch die Essener ließen sich nicht in Kampf
mit ihm ein, sondern ließen es beiseite liegen, denn dem Streite
zu entfliehen warfen sie sich in ihre einförmige Lebensart.
Es mußte endlich einer auftreten, der das Judentum selbst ge-
radezu angriff"; aber weil er in den Juden nichts fand, das ihm ge-
holfen hätte, es zu bestreiten, das er hätte festhalten und mit
welchem er es hätte stürzen können, so mußte er untergehen und
unmittelbar nur eine Sekte gestiftet haben.
Die Wurzel des Judentums ist das Objektive, d. h. der Dienst,
die Knechtschaft des Fremden. Dies greift Jesus an. Nur dann
kann zwischen Zeremonien und moralischen Gesetzen unter-
schieden werden, wenn Moralität vindiziert ist; in der jüdischen
Religion war Moralität unmöglich, weil keine Freiheit darin war,
sondern durchgängige Herrschaft.
a) Knechtschaft gegen ihr Gesetz, den Willen des Herrn; —
ihm entgegengesetzt Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit. Was ist
Knechtschaft gegen das Gesetz? «. Willenslosigkeit. "p. In Be-
ziehung auf andere Menschen Gefühllosigkeit, Mangel schöner
Beziehungen, Trennung. 7. Gottlosigkeit.
b) Der Herr, ein unsichtbarer Herr; — ihm entgegengesetzt
Schicksallosigkeit, entweder der Unschuld, oder der Selbstmacht;
DAS LEBEN JESU 77
jene nicht möglich; er konnte in sie nicht die beiden Entgegen-
gesetzten vereinigen, weil eigentUch nur eins der Entgegenge-
setzten ohne Widerstreit herrschte; diese nichts als Gottlosigkeit;
also die Herrschaft gemildert in Vaterschaft, Abhängigkeit von
einem Liebenden in Ansehung der Not.
c) Andere bestimmt, «. entweder von mir; diesem entgegenge-
setzt Moralität; — oder ß. von einem andern; Verachtung der
Menschen, Egoismus und Hoffen auf objektive Hülfe; diesem
entgegengesetzt Achtung anderer, Berichtigung oder Vernichtung
dieser Hoffnung.
Autorität gegen Autorität; allein die Autorität des Glaubens an
Menschennatur. Er wußte, welche Kraft im Menschen war.
Wunder. Er hoffte auch auf ihre Wirkung.
Reelles, nicht Polemisches. Die Anregung des Subjekts in
mancherlei Rücksichten, eine schöne Religion zu stiften. Das Ideal
davon, findet man es?
Im allgemeinen das Subjekt gegen das Gesetz. Dem Gesetz
setzte er Moralität entgegen. Moralität ist nach Kant die Unter-
jochung des Einzelnen unter das Allgemeine, der Sieg des Allge-
meinen über sein entgegengesetztes Einzelnes. Eher Erhebung
des Einzelnen zum Allgemeinen, Vereinigung, Aufhebung der
Entgegengesetzten durch Vereinigung. «. Einigkeit im Bestimmten
setzt Freiheit voraus; denn ein Beschränktes hat ein Entgegenge-
setztes, und die Einigkeit selbst ist auf diese Art beschränkt. .Nicht
des Verstandes Einheit, die auch eine unvollständige Einheit ist;
durch die Verstandseinheit werden die Getrennten als getrennt
gelassen, die Substanzen bleiben getrennt. Die Vereinigung ist ob-
jektiv in der Willenseinigkeit. Da sind die Getrennten keine Sub-
stanzen. Von den Entgegensetzen wird eins völlig ausgeschlossen ;
das andere wird gewählt, d. h. es geht eine Vereinigung des Vor-
gestellten und des Vorstellenden vor; das Vorstellende und das
Vorgestellte sind eins; dies ist die Handlung. Das Moralische der
Handlung ist in der Wahl ; die Vereinigung in der Wahl ist, daß
das Ausgeschlossene ein Trennendes ist, daß das Vorgestellte, das
in der Handlung vereinigt wird mit dem Vorstellenden, der Tätig-
keit, selbst schon ein Vereinigtes sei ; unmoralisch wenn es ein
Trennendes ist. Die Möglichkeit des Entgegensetzens ist Freiheit;
G.W. F. HEGEL
das Entgegensetzen selbst ein Akt der Freiheit. Die moralische
Handlung ist dann unvollständig und unvollkommen, weil sie die
Wahl, weil sie Freiheit, Entgegengesetzte, Ausschließung eines
Entgegengesetzten voraussetzt. Je verbundener dies Ausge-
schlossene ist, desto größer die Aufopferung, die Trennung, desto
unglücklicher das Schicksal; desto größer dieses Einzelne, desto
zerrissener die Idee des Menschen; desto intensiver sein Leben,
desto mehr verliert es an Extension und es trennt sich wieder
desto mehr. Moralität ist Angemessenheit, Vereinigung mit dem
Gesetz des Lebens; ist dieses Gesetz aber nicht Gesetz des Lebens,
sondern selbst ein Fremdes, so ist es die höchste Trennung, Objek-
tivität. H- Einigkeit des ganzen Menschen. T. Ideal der Einigkeit.
Die Idee des Willens ist das Gegenteil des Willens, ihr Zweck,
nicht zu wollen; aber das Objekt der Handlung, der Gedanke, der
Zweck, immer ein Trieb, eine Tätigkeit, eine reflektierte freilich,
aber nicht des passiven Menschen, also eines fremden Willens.
Zur bestimmten Handlung ein bestimmter Wille, Trieb not-
wendig. Aber dieser bestimmte Wille nicht im passiven Menschen
wirklich, also nicht in der Idee, in der Vorstellung. Dieser fremde
Wille ein objektives Gesetz.
Von moralischen Geboten sind nur die Verbote fähig, objektiv
zu werden. Die moralischen Gebote sind Vereinigungen als
Regeln ausgedrückt. Regeln sind die Beziehungen der Objekte
aufeiiiander. Die äußere Beziehung Getrennter kann nur negativ,
d. h. als Verbot angesehen werden, und lebendige Vereinigung,
Einigkeit in der moralischen Handlung ist keine äußere, d. h. die
Bezogenen sind keine Getrennten mehr.
Moralität ist Aufhebung von Trennung im Leben, Theoretische
Einheit ist Einheit Entgegengesetzter. Das Prinzip der Moral ist
Liebe. Beziehung in Trennung, Bestimmen oder Bestimmtwerden,
jenes unmoralisch gegen andere, dies gegen sich selbst; denn beides
ist nur Bewirkung einer theoretischen Einheit. Wollen ist das
AusschHeßen des Entgegengesetzten; die Tat ist das Aufheben
der Trennung zwischen dem Gewollten, jetzt noch Vorgestellten
und dem Streben, der Tätigkeit, dem Trieb, dem Wollenden. Bei
einem positiven Gesetz ist die Handlung keine Vereinigung,
sondern ein Bestimmtwerden, das Prinzip nicht Liebe; das Motiv
DAS LEBEN JESU 79
ist ein Beweggrund im eigentlichen Sinne; es verhält sich als Ur-
sache, Wirkendes, es ist ein Fremdes, nicht eine Modifikation des
Wollenden.
Dadurch, daß er ihnen zeigte, sie haben einen schlechten Willen,
zeigte er ihnen, daß sie einen Willen haben. In der Bergpredigt
immer ein Gegenüberstellen des objektiven Gebotes und der
Pflicht. Ein Opfer nicht deswegen, damit etwas geschenkt und
verziehen wird, sondern ihr sollt verzeihen; Eid nicht wegen des
Tempels heilig, sondern ihr sollt wahrhaftig sein; die Handlung
und eure Absicht sollen eins sein; ihr sollt die Handlung in ihrem
ganzen Umfang tun; jede Handlung stammt aus einem Gesetz,
dies Gesetz soll euer eignes sein.
Mit der Veränderung des objektiven Gesetzes mußten sich auch
die andern Seiten der Verhältnisse der Juden ändern. Hat der
Mensch selbst Willen, so steht er in ganz anderm Verhältnis zu
Gott als der bloß passive. Zwei unabhängige Willen, zwei Sub-
stanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins
sein. Aber der Mensch ist der Sohn und Gott der Vater; der
Mensch nicht unabhängig und auf sich selbst bestehend; er ist nur,
insofern er entgegengesetzt, eine Modifikation ist, und darum auch
der Vater in ihm. In diesem Sohne sind auch seine Jünger, auch
sie sind eins mit ihm, eine wirkHche Transsubstantiation, ein
wirkliches Einwohnen des Vaters im Sohne und des Sohnes in
seinen Schülern. Diese alle nicht Substanzen, schlechthin getrennt
und nur im allgemeinen Begriffe vereinigt, sondern wie ein Wein-
stock und seine Reben; ein lebendiges Leben der Gottheit in ihnen.
Diesen Glauben an ihn forderte Jesus, Glauben an den Menschen-
sohn, daß der Vater in ihm wohne; und wer an ihn glaube, in
dem wohne auch er und der Vater. Dieser Glaube ist der Objek-
tivität der Passivität unmittelbar entgegen, und unterscheidet sich
von der Passivität der Schwärmer, die ein Einwohnen Gottes und
Christi in sich hervorbringen oder empfinden wollen, indem sie
hier sich und dieses in ihnen regierende Wesen unterscheiden,
also wieder die von einem Objekt Beherrschten sind. Uns von
einem objektiven historischen Christus und der Abhängigkeit von
demselben dadurch befreien wollen, daß er so subjektiv gemacht
wird, daß er ein Ideal sei, heißt eben, ihm das Leben zu einem
8o G.W. F. HEGEL
Gedanken machen, dem Menschen gegenüber zur Substanz, und
ein Gedanke ist nicht der lebendige Gott.
Ihn zu einem bloßen Lehrer der Menschen machen, heißt die
Gottheit aus der Welt der Natur und dem Menschen nehmen.
Jesus nannte sich der Messias, ein Menschen-Sohn, und kein
anderer konnte er sein; nur Unglaube an die Natur konnte einen
andern, einen übernatürlichen en-varten; das Übernatürliche ist
nur beim Unternatürlichen vorhanden, denn das Ganze, obzwar
getrennt, muß immer da sein.
Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott; es gibt keine andere Gott-
heit als die Liebe. Nur was nicht göttlich, was nicht liebt, muß
die Gottheit in der Idee haben, außer sich. Wer nicht glauben
kann, daß Gott in Jesu war, daß er im Menschen wohne, der ver-
achtet die Menschen. Wohnt die Liebe, wohnt Gott unter den
Menschen, so kann es Götter geben; wo nicht, so sind keine
Götter möglich. *
Die Objektivität der Gebote, der Gesetze zerstören, zeigen, daß
etwas auf einem Bedürfnisse des Menschen, auf der Natur ge-
gründet ist, Sünden vergeben [a-^zho.'.), erlassen, die Strafen der
Sünden aufheben, dies ist ein Wunder; denn die Wirkung kann
nicht von der Ursache getrennt werden; vorzüglich aber kann
das Schicksal nicht zernichtet werden. Denkt man sich eine Auf-
hebung der Strafe, so ist die Strafe etwas ganz Objektives, von
einem Objekt Kommendes, nicht ganz notwendig mit der
Schuld Zusammenhängendes. Überhaupt, wenn man auch die
Strafe als etwas von der Schuld ganz Untrennbares nimmt, so
ist sie doch soweit objektiv, dass sie Folge eines Gesetzes ist, von
dem man sich in der Übertretung losgemacht hat, aber doch
noch von ihm abhängt. Bei einem objektiven Gesetz und Richter
ist das Gesetz befriedigt, wenn ich mißhandelt worden bin, wie
ich mißhandelt habe, wenn die Trennung, die ich gemacht,
ebenso auf mich zurückgewirkt hat. In der moralischen Strafe
ist das Getrennte nicht ein Äußeres, dem ich entfliehen, das ich
überwältigen kann; die Tat ist die Strafe in sich selbst; soviel ich
mit der Tat anscheinend fremdes Leben verletzt habe, so viel habe
* Götter sind die einzelnen Ideale der Trennungen; ist alles getrennt, so ist
nur ein Ideal.
DAS LEBEN JESU
ich eignes verletzt. Leben ist als Leben nicht von Leben ver-
schieden; das verletzte Leben steht mir als Schicksal gegenüber;
befriedigt ist es, wenn ich seine Macht, die Macht des Toten ge-
fühlt habe, so wie ich im Verbrechen bloß als Macht handelte.
Versöhnt kann das Gesetz nicht werden, denn es beharrt immer
in seiner furchtbaren Majestät und läßt sich nicht durch Liebe bei-
kommen. Denn es ist hypothetisch und die Möglichkeit kann nie
aufgehoben, die Bedingung, unter der es eintritt, kann nie un-
möglich werden. Es ruht, so lange diese Bedingung nicht eintritt,
aber ist nicht aufgehoben. Aber diese Ruhe ist keine Versöhnung,
weil das Gesetz zwar kein so Bestehendes ist, daß es immer wirk-
sam sein und trennen müßte, aber weil es bedingt, weil es nur
unter einer Trennung möglich ist. Das Schicksal hingegen kann
versöhnt werden, weil es selbst eins der Glieder, ein Getrenntes
ist, das nicht als Getrenntes durch sein Gegenteil vernichtet, aber
durch Vereinigung aufgehoben werden kann. Schicksal ist das
Gesetz selbst, das ich in der Handlung (diese sei Übertretung eines
andern Gesetzes) aufgestellt habe, in seiner Rückwirkung auf mich.
Die Strafe ist nur die Folge eines andern Gesetzes ; die notwendige
Folge kann nicht aufgehoben werden; die Handlung müßte un-
geschehen gemacht werden ; wo nichts als Ursachen undWirkungen,
als Getrennte sind, da ist keine Unterbrechung der Reihe möglich.
Das Schicksal hingegen, d. h. das rückwirkende Gesetz selbst
kann aufgehoben werden; denn ein Gesetz, das ich selbst aufge-
stellt habe, eine Trennung, die ich selbst gemacht habe, kann ich
auch vernichten. Da Handlung und Rückwirkung eins ist, so
versteht es sich von selbst, daß die Rückwirkung nicht einseitig
aufgehoben werden kann. Die Strafe ist das Bewußtsein einer
fremden Macht, eines Feindseligen ; wenn sie ausgewirkt hat unter
der Herrschaft des Gesetzes, so ist dieses Gesetz befriedigt und ich
bin befreit von einem Fremden, das von mir abläßt und sich wieder
in die drohende Gestalt zurückzieht, das ich aber nicht zum
Freunde gemacht habe. Das böse Gewissen ist das Bewußtsein
einer bösen Handlung, eines Geschehenen, einesTeils eines Ganzen,
über das ich keine Macht habe, eines Geschehenen, das nie un-
geschehen gemacht werden kann, denn es war ein Bestimmtes,
Beschränktes. Das Schicksal ist das Bewußtsein seiner selbst
Hegel, Das Leben Jesu 6
82 G.W. F. HEGEL
(nicht der Handlung), seiner selbst als eines Ganzen, dies Bewußt-
sein des Ganzen reflektiert, objektiviert. Da dieses Ganze ein
Lebendiges ist, das sich verletzt hat, so kann es wieder zu seinem
Leben, zu der Liebe zurückkehren; sein Bewußtsein wird wieder
Glaube an sich selbst ; und diese Anschauung seiner selbst ist eine
andere geworden, und das Schicksal ist versöhnt.
Liebe ist aber alsdann Bedürfnis; in sich selbst ist die Ruhe ver-
loren; dies ist die Wunde, die zurückbleibt, die Anschauung seiner
selbst als eines Wirklichen, dem die Anschauung seiner als eines
Strebenden, das von dieser Wirklichkeit sich entfernt, entgegen
ist. Weil aber eben hier nur ein Streben ist, so ist es Bedürfnis
und mit einer Wehmut verknüpft, die in der Liebe, dem be-
friedigten Streben allein wegfällt.
Vergebung der Sünden ist daher nicht Aufhebung der Strafe
(denn jede Strafe ist etwas Positives, Objektives, das nicht ver-
nichtet werden kann), nicht Aufhebung des bösen Gewissens,
denn keine Tat kann zur Nichttat werden, sondern durch Liebe
versöhntes Schicksal. Daher die Regel Jesu: «Wenn ihr die Fehler
vergebet, so sind euch die eurigen vom Vater auch vergeben».
Andern verzeihen kann nur die Aufhebung der Feindschaft, die
zurückgekehrte Liebe, und diese ist ganz. Die Verzeihung der
Fehler kommt aus ihr; diese Verzeihung ist nicht ein Fragment,
eine einzelne Handlung. «Richtet nicht, daß ihr nicht gerichtet
werdet; stellt ihr keine Gesetze auf, denn diese gelten auch für
euch». Jesu zuversichtlicher Ausspruch: «Dir sind deine Sünden
vergeben», wo er Glauben und Liebe fand, wie bei Maria Magdalena.
Die Vollmacht, die er seinen Freunden gab, zu binden und zu
lösen, wenn er in ihnen den hohen Glauben an ihn als einen
Menschen gefunden hatte, — einen Glauben, der die ganze Tiefe
der Menschennatur gefühlt hatte, — dieser Glaube schließt die
Fähigkeit in sich, andere durchzufühlen und die Harmonie oder
Disharmonie ihres Wesens zu empfinden, ihre Schranken und
ihr Schicksal, ihre Bande zu erkennen.
Rückkehr zur Moralität hebt die Sünden und ihre Strafen, das
Schicksal nicht auf Die Handlung bleibt; im Gegenteil wird sie
nur um so zwingender. Je größer die Moralität, um so tiefer wird
das Unmoralische derselben gefühlt. Die Strafe, das Schicksal w^ird
DAS LEBEN JESU 83
nicht aufgehoben, weil die Moralität noch immer eine objektive
Macht sich gegenüberstehen hat. Die Aufhebung der Handlung,
Schadenersatz ist eine ganz objektive Handlung. (Lücke der
Handschrift)^)
. . . Joh. V, 26. "Öoirap ■[dp o TraTr^p aysi C<'jv;v iv iauiu) ,ou':(tJC zat tw uiu)
£0(oxcv C"J^(V i/ätv iv iß'jTio.xcä i^ouatfzv ioioxsv cüiio xpt'aiv zoiciv ,ö-i utöc c(v9pojxou
ioTtv. Jener das Einige, Ungeteilte, Schöne; dieser das Modifizierte,
utoc av()^p(ijTOu, das Herausgegangene aus der Einigkeit. Darum hat
er Macht gegen ein FeindHches, Gegenüberstehendes, das Gericht,
ein Gesetz gegen solche, die von ihm abtrünnig sind. Reich der
Freiheit und Wirklichkeit. Joh. XII, ^6. 'Sc to ^w; 'i'/y^^, ziaTcüsis v.:,
TÖ (fwc , Iva uJot 'fwTOQ 'f3VT;a9-c.
In Matthäus, Markus und Lukas Christus mehr im Gegensatz
gegen die Juden, mehr Moral. In Johannes mehr er selbst, seine
Beziehung auf Gott und seine Gemeine; mehr religiösen Inhalts.
Seine Einheit mit dem Vater und wie seine Anhänger mit ihm
und unter sich eins sein sollen. Er ist der Mittelpunkt und das
Oberhaupt; wie bei der lebendigsten Vereinigung mehrerer
Menschen immer noch Trennung stattfindet, so auch in dieser
Vereinigung. Dies das Gesetz der Menschheit; im Ideal das völlig
vereinigt, was noch getrennt ist, die Griechen in Nationalgöttern,
die Christen in Christo.
a) Moral, b) Liebe, c) Religion. Ich Christus, Reich Gottes,
Gestalt desselben unter diesen Umständen. Wunder.
Gesinnung hebt die Positivität der Gebote auf, Liebe die
Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe.
In der objektiven Welt ist der Mensch der Macht entgegenge-
gesetzt, die ihn beherrscht, und ist insofern leidend, sofern er
tätig ist. Er verhält sich ebenso ; es ist ihm ein Leidendes gegen-
über. Er ist immer Sklave gegen einen Tyrannen und zugleich
Tyrann gegen einen Sklaven. Durch die Gesinnung ist nur das
objektive Gesetz aufgehoben, aber nicht die objektive Welt. Der
Mensch steht einzeln und die Welt ihm gegenüber. Die Liebe
knüpft Punkte in Momenten zusammen, aber die Welt, in ihr der
Mensch und ihre Beherrschung besteht noch.
6*
84 G.W. F. HEGEL
In einer positiven Religion der Mensch einerseits bestimmt,
Gott der Herrscher; auch sein Entgegengesetztes, Objektives nicht
allein, einsam, auch ein Beherrschtes von Gott. Die tyrannische
Idee zugleich schützend, denn jeder ist der LiebUng seiner Idee:
die Idee beherrscht mich, ist gegen mich, aber zugleich in meiner
Entgegensetzung gegen die Welt ist sie auf meiner Seite.* Die
Beherrschung der Juden vom Tyrannen verschieden, weil der
Tyrann ein wirklicher ist; ihr Jehova ein Unsichtbares; der wirk-
liche Tyrann ist feindselig.
Mit dem objektiven Gesetze fällt ein Teil des Beherrschens und
des Beherrschtwerdens weg. Ein Gesetz ist eine Tätigkeit als
Wirkung, also bestimmte, beschränkte Tätigkeit, die die Wirkung
bei einer eintretenden Bedingung ist, oder vielmehr der Zusammen-
hang selbst zwischen den Bedingungen und der Tätigkeit als
Wirkung. Ist der Zusammenhang notwendig, so ist er ein Muß ;
ist die Möglichkeit der Nichtäußerung der Tätigkeit möglich, ein
Sollen. Ist der Zusammenhang so notwendig, keine Freiheit. Dies
auf zweierlei Art: der vollständige Grund, d. i. der vollständige
Zusammenhang in der Bedingung selbst, lebendige Wirkung, oder
nicht in der Bedingung, tot zwischen beiden. Freiheit und Ge-
setz, a) Tauglichkeit zur Bekämpfung des Gesetzes, b) Mangel-
haftigkeit.
Das Objekt der Handlung ist im Positiven nicht der reflektierte
Trieb selbst, oder der Trieb als Objekt, sondern ein Fremdes, von
dem Triebe Verschiedenes.
Kants praktische Vernunft ist das\'ermögen der Allgemeinheit,
d. h. das Vermögen auszuschließen ; die Triebfeder Achtung ; dies
Ausgeschlossene in Furcht unterjocht; eine Desorganisation, das
Ausschließen eines noch \''ereinigten ; das Ausgeschlossene ist
nicht ein Aufgehobenes, sondern ein Getrenntes, noch Bestehendes.
Das Gebot ist zwar subjektiv, ein Gesetz des Menschen, aber ein
Gesetz, das anderm in ihm Vorhandenen widerspricht, ein Gesetz,
das herrscht. Es gebietet nur die Achtung, ist das Gegenteil des
* In der Beherrschung das wirkliche A tätig, das wirkliche B leidend ; die
Synthese C der Zweck; C eine Idee in A und insofern B ein Mittel; aber auch
A das dem C Gehorchende, von C Bestimmte; A ist in Rücksicht auf C be-
herrscht, in Rücksicht auf B beherrschend; da C zugleich ein Zweck A's, so
dient C dem A und beherrscht das B.
DAS LEBEN JESU 85
Prinzips, dem die Handlung gemäß ist; das Prinzip ist allgemein;
Achtung ist dies nicht; die Gebote sind für die Achtung immer
ein Gegebenes. Moralität ist Abhängigkeit von mir selbst, Ent-
zweiung in sich selbst.
Die Moralität hebt nur das Beherrschtwerden des Ich auf,
und damit das Herrschen desselben über Lebendige. Aber
dadurch ist das Lebendige noch eine Menge schlechthin Getrennter,
Unverbundener und es bleibt noch ein unendlich toter Stoff
übrig, und diese Vereinzelten bedürfen noch eines Herrschers,
eines Gottes, und das moralische Wesen selbst insofern eines
Herrschers, insofern es nicht moralisch (nicht: unmoralisch) ist;
es ist ein Ruhendes, das keine Gewalt tut und keine leidet, auch
wo einem Wesen von einem dritten Gewalt geschieht, nicht abhilft.
Die Allgemeinheit ist tot, denn sie ist dem Einzelnen entgegenge-
setzt, und Leben ist Vereinigung beider.
Die Moralität hebt zugleich die rein positiven Gebote auf, in-
dem sie kein Gesetz anerkennt, als ihr eigenes; aber inkonsequent
darin, indem sie doch nicht bloß ein Bestimmendes, sondern ein
Bestimmbares ist, also noch unter einer fremden Macht steht.
Jesus setzt dem Gebote die Gesinnung gegenüber, d. h. die Ge-
neigtheit, so zu handeln. Eine Neigung ist in sich gegründet,
hat ihr idealisches Objekt in sich selbst, nicht in einem Fremden
(dem Sittengesetz der Vernunft). Er sagt nicht: «Haltet solche
Gebote, weil sie Gebote eures Geistes sind, nicht weil sie euern
Voreltern gegeben worden sind, sondern weil ihr sie selbst euch
gebt.» So sagt er nicht; ersetzt der pßichtmäßigen Gesinnung
gegenüber die Geneigtheit, so zu handeln. Da eine moralische
Handlung beschränkt ist, so ist auch das Ganze, aus dem sie
kommt, immer beschränkt und zeigt sich nur in dieser Beschrän-
kung; sie ist aber nur durch ihr Objekt, durch die besondere Art
der Trennung, die sie aufhebt, bestimmt; sonst ist innerhalb dieser
Grenze ihr Prinzip vollständige Vereinigung. Da aber diese Ge-
sinnung bedingt, beschränkt ist, so ruht sie, und handelt nur,
wenn die Bedingung eintritt; dann vereinigt sie. Sie ist also einer-
seits nur im Handeln sichtbar, in dem, was sie tut; man kann von
ihr nicht im vollen Sinne sagen: sie ist, weil sie nicht unbedingt
ist. Andererseits ist sie in der Handlung nicht vollständig dar-
86 G.W. F. HEGEL
gestellt; denn die Handlung zeigt nur die bewirkte objektive Be-
ziehung des bei der Handlung Vorhandenen, nicht die Ver-
einigung, die das Lebendige ist. Aber weil diese Vereinigung nur
in dieser Handlung ist, so steht sie einzeln und isoliert; es ist
nichts mehr vereinigt worden, als in dieser Handlung geschehen ist.
Ist zugleich ein Streben vorhanden, diese Akte zu verviel-
fältigen, so ist das Prinzip nicht mehr eine ruhende Gesinnung;
ein Bedürfnis des Ganzen, der Vereinigung ist vorhanden, das
Bedürfnis der Liebe, allgemeiner Menschlichkeit. Sie sucht das
Ganze in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Handlungen zu
fassen, dem Beschränkten der einzelnen Handlung durch die
Menge und Vervielfältigung den Schein des ganzen Unendlichen
zu geben. Darum sind schöne Seelen, die unglücklich sind, ent-
weder daß sie sich ihres Schicksals bewußt oder daß sie nur nicht
in der ganzen Fülle ihrer Liebe befriedigt sind, so wohltätig. Sie
haben schöne Momente des Genusses, aber auch nur Momente,
und die Tränen des Mitleidens, die Rührung über eine solche
Handlung sind Wehmut über ihre Beschränktheit, oder das hart-
näckige Ausschlagen der Annehmung des Dankes, der verborgene
Hochmut sind eine Scham über die Mangelhaftigkeit des Zu-
standes; der Wohltäter ist immer größer als der Empfangende.
Jesus trat nicht lange vor der letzten Krise auf, welche die
Gärung der mannigfachen Elemente des jüdischen Schicksals
herbeizog. In dieser Zeit der Innern Gärung, der Entwickelung
dieses verschiedenen Stoffes, bis er zu einem Ganzen gesammelt
wird, und offener Krieg entsteht, gingen dem letzten Akte mehrere
partielle Ausbrüche vorher. Menschen von gemeinerer Seele,
aber von starken Leidenschaften, faßten das Schicksal des jüdi-
schen Volkes nur unvollständig auf, und waren also nicht ruhig
genug, weder um leidend sich von seinem Willen forttragen zu
lassen, und nur in der Zeit mit fortzuschwimmen, noch um die
weitere Entwickelung abzuwarten, die nötig gewesen wäre, um
sich eine größere Macht beizugesellen; so liefen sie der Gärung
des Ganzen zuvor und fielen ohne Ehre und ohne Wirkung. Jesus
bekämpfte nicht nur einen Teil des jüdischen Schicksals, weil er
DAS LEBEN JESU 87
nicht von einem andern Teil desselben befangen war, sondern
stellte sich dem Ganzen entgegen, war also selbst darüber erhaben
und suchte sein Volk darüber zu erheben. Aber solche Feind-
schaften, als er aufzuheben suchte, können nur durch Tapferkeit
überwältigt, nicht durch Liebe versöhnt werden. Auch sein er-
habener Versuch, das Ganze des Schicksals zu überwinden, mußte
darum in seinem Volke fehlschlagen, und er selbst ein Opfer des-
selben werden. Weil Jesus sich auf keine Seite des Schicksals
geschlagen hatte, so mußte zwar nicht unter seinem Volke, denn
dies besaß noch zu viel, aber in der übrigen Welt seine Religion
einen so großen Eingang bei Menschen finden, die keinen Anteil
mehr an dem Schicksal, gar nichts zu verteidigen oder zu be-
haupten hatten. Vor dem Geiste Christi (Lücke der Handschrift)
.... digen Modifikation der Menschennatur gegründet er-
kennen mögen, waren ihnen geboten, waren für sie durchaus
positiv. — Die Ordnung, in welcher hier den verschiedenen
Arten von Gesetzgebung der Juden gefolgt wird, ist also eine ihr
fremde, eine gemachte Ordnung, und die Unterschiede kommen
erst in sie durch die Art, wie verschieden auf sie reagiert wird.
Geboten, die einen bloßen Dienst des Herrn, eine unmittelbare
Knechtschaft, einen Gehorsam ohne Freude, ohne Lust und Liebe
verlangten, d. h. den gottesdienstlichen Geboten stellte Jesus das
ihnen gerade Entgegengesetzte, einen Trieb, sogar ein Bedürfnis
des Menschen gegenüber. Da religiöse Handlungen das Geistig-
ste, das Schönste, dasjenige sind, was auch die durch die Ent-
wickelung notwendigen Trennungen noch zu vereinigen strebt,
und die Vereinigung im Ideal als völlig seiend, der WirkUchkeit
nicht entgegengesetzt darzustellen, also in einem Tun sie auszu-
drücken, zu bekräftigen sucht, so sind religiöse Handlungen, wenn
ihnen jener Geist der Schönheit mangelt, die leerste, die sinn-
loseste Knechtschaft*, und über diese ist die Befriedigung des ge-
meinsten menschlichen Bedürfnisses erhaben, weil in ihm doch
das Gefühl oder die Erhaltung eines wenn auch leeren Seins liegt.
Daß die höchste Not Heiliges verletzt, ist ein identischer Satz,
* Ein Bewußtsein seiner Vernichtung fordert ein Tun, in dem der Mensch
sein Nichtsein, seine Passivität ausdrückt.
88 G.W. F. HEGEL
denn die Not ist ein Zustand des Zerrissenseins und eine ein
heiliges Objekt verletzende Handlung ist die Not in Handlung.
Aber durch eine unbedeutende Handlung ein heiliges Objekt zu
entweihen, kann nur aus der \'erachtung desselben entspringen,
und eine geringe Ehrfurcht wird sich die Äußerung eines Einfalls
oder einer Willkür nicht versagen. Der Kontrast zwischen der
Heiligkeit eines Objekts oder Gebotes und die Entweihung des-
selben wird desto größer, je geringer die Not, je größer die Will-
kür in der Entweihung war.
In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht
und unterdrückt oder er muß die Natur zu einem Objekt machen
und unterdrücken. Nicht nur die Natur ist heilig; es kann auch
Heiliges geben, das an sich Objekt ist, nicht nur wenn Objekte
selbst Darstellungen eines viele vereinigenden Ideals sind, sondern
auf irgend eine Art mit diesem in Beziehung stehen, zu ihm ge-
hören. Die Not kann die Entweihung eines solchen heiligen
Dinges gebieten; aber es ohne Not zu verletzen, ist Mutwille,
wenn das, worin ein Volk vereinigt ist, zugleich ein Gemeinsames,
ein Eigentum aller ist. Denn alsdann ist die Verletzung des
Heiligtums zugleich eine ungerechte Verletzung des Rechtes aller.
Der fromme Eifer, der Tempel und Altäre eines fremden Gottes-
dienstes zerbricht, seine Priester verjagt, entweiht gemeinsame
und allen gehörige Heiligtümer. Aber ist ein Heiliges nur inso-
fern alle vereinigend, als alle entsagen, als alle dienen, so nimmt
hieran jeder, der sich von anderen trennt, sein Recht wieder auf,
und die Verletzung eines solchen heiligen Dinges oder Gebotes
ist in Rücksicht der andern nur insofern eine Störung, als der
Gemeinschaft mit ihnen entsagt und der willkürliche Gebrauch
seiner Sache, sei dies seine Zeit oder was es ist, wieder vindiziert
wird. Um so geringer aber ein solches Recht und die Auf-
opferung desselben ist, um so weniger wird der Mensch darüber
seinen Mitbürgern in dem, was ihnen das Höchste ist, sich ent-
gegensetzen, die Gemeinschaft mit ihnen im innigsten Punkte
der Verknüpfung zerreißen wollen, nur wenn das Ganze der Ge-
meinschaft ein Gegenstand der Verachtung ist; und da Jesus aus
der ganzen Existenz seines Volkes heraustrat, so fiel diese Art von
Schonung weg, mit der ein Freund sich in Gleichgültigkeiten
DAS LEBEN JESU 89
gegen den beschränkt, mit dem er sonst ein Herz und eine Seele
ist, und um einer jüdischen HeiHgkeit willen versagte er sich nicht,
schob nicht einmal die Befriedigung eines sehr gemeinen Bedürf-
nisses, einer Willkür auf, sondern ließ darin seine Trennung von
seinem Volk, seine ganze Verachtung gegen die Knechtschaft
unter objektiven Geboten lesen.
Seine Begleiter gaben den Juden durch das Ausraufen der
Ähren am Sabbat ein Ärgernis. Der Hunger, der sie dazu trieb,
konnte in jenen Ähren keine große Befriedigung finden. Die
Ehrfurcht für den Sabbat hätte diese geringe Befriedigung wohl
um die Zeit aufschieben können, die sie bis zu einem Orte zu
kommen brauchten, wo sie zubereitete Speise finden konnten.
Jesus hält den Pharisäern, die jene unerlaubte Handlung rügten,
die Handlung Davids entgegen (Matth. XII); David hatte in der
äußersten Not nach den Schaubroten gegriffen. Er führte auch
die Entweihung des Sabbats durch priesterliche Geschäfte an;
allein sie sind gesetzlich und keine Entweihung desselben. Am
gleichen Tage heilt Jesus eine verdorrte Hand. Die eigne Hand-
lungsart der Juden in Ansehung eines in Gefahr sich befindenden
Viehs bewies ihnen zwar, wie Davids Verbrauch der heiligen
Brote oder die Geschäfte der Priester am Sabbat, daß ihnen selbst
die Heiligkeit dieses Tages nicht absolut gelte, daß sie selbst etwas
Höheres als die Beobachtung dieses Gebotes kennen ; aber auch
in dem Falle, den er hier den Juden entgegenhält, ist ein Notfall,
und die Not tilgt die Schuld; das Tier, das in den Brunnen fällt,
erfordert augenblickliche Hilfe; ob aber jener Mann auch noch
bis zum Untergang der Sonne den Gebrauch seiner Hand ent-
behrte, war ganz gleichgültig. Die Handlung Jesu drückte die
Willkür aus, einige Stunden früher diese Handlung zu verrichten
und das Primat einer solchen Willkür über ein Gebot, das von
der höchsten Autorität ausgeht; und indem er auf einer Seite das
Vergehen selbst durch die Bemerkung vergrößert, daß die Priester
nur im Tempel den Sabbat entweihen, hier aber noch mehr sei,
die Natur heiliger sei als der Tempel, so erhebt er auf der anderen
Seite im allgemeinen die für die Juden götterlose unheilige Natur
über ihren Ort, über die Beschränkung der Welt, die mit Gott
in Beziehung stehe, auf einen einzigen, von den Juden gemachten
90 G.W. F. HEGEL
Ort. Unmittelbar aber setzt er der Heiligung einer Zeit den Men-
schen entgegen, und erklärt jene für niedriger als eine gleich-
gültige Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses. Dem Ge-
brauch des Händewaschens vor dem Brotessen setzt Jesus (Matth.
XV, 2) die ganze Subjektivität des Menschen entgegen und über
die Knechtschaft gegen ein Gebotenes, die Reinheit oder Unrein-
heit eines Objekts, die Reinheit oder Unreinheit des Herzens.
Er macht die unbestimmte Subjektivität, den Charakter zu einer
ganz andern Sphäre, die mit der pünktlichen Befolgung objektiver
Gebote gar nichts gemein habe.
Anders als gegen die rein objektiven Gebote, denen Jesus etwas
ganz Fremdes, das Subjektive im allgemeinen entgegenhielt, ver-
hielt sich Jesus gegen diejenigen Gesetze, die wir nach verschie-
dener Rücksicht entweder moralische oder bürgerliche Gebote
nennen, [welche insofern subjektiv sind, als sie in einer Tätigkeit
des menschlichen Wesens, in einer seiner Kräfte gegründet sind.
Alle bürgerlichen Gesetze sind zugleich moralische, und sie unter-
scheiden sich von den rein moralischen, die nicht föhig sind,
bürgerliche Gesetze zugleich zu werden, dadurch, daß sie ihre
Bed]. Da sie natürUche Beziehungen der Menschen in der Form
von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung
derselben darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv
werden. Da Gesetze Vereinigungen Entgegengesetzter in einem
Begriffe, der sie also als entgegengesetzt läßt, sind, der Begriff
aber selbst in der Entgegensetzung gegen Wirkliches besteht, so
drückt er ein Sollen aus. Insofern der Begriff nicht seinem In-
halte nach, sondern seiner Form nach, daß er Begriff ist, vom
Menschen gemacht und gefaßt ist, ist das Gebot moralisch ; inso-
fern bloß auf den Inhalt gesehen wird, als die bestimmte \''ereini-
gung bestimmter Entgegengesetzter und das Sollen also nicht von
der Eigenschaft des Begriffs stammt, sondern durch fremde Macht
"behauptet wird, insofern ist das Gebot bürgerlich. Weil bei der
letzteren Rücksicht die Vereinigung der Entgegengesetzten nicht
begriffen, nicht subjektiv ist, so enthalten bürgerliche Gesetze die
Grenze der Entgegensetzung mehrerer Lebendiger; die rein mo-
ralischen aber bestimmen die Grenze der Entgegensetzung in
einem Lebendigen; also jene die Entgegensetzung Lebendiger
DAS LEBEN JESU 91
gegen Lebendige, diese die Entgegensetzung einer Seite, einer
Kraft eines Lebendigen gegen andre Seiten, andre Kräfte eben-
desselben Lebendigen, und eine Kraft dieses Wesens ist insofern
herrschend gegen eine andre Kraft desselben.
Rein moralische Gesetze, die nicht fähig sind, bürgerliche zu
werden, d. h. in denen die Entgegengesetzten und die Vereini-
gung nicht die Form Fremder haben können, wären solche, welche
die Einschränkung solcher Kräfte betreffen, deren Tätigkeit nicht
eine Tätigkeit, eine Beziehung gegen andre Menschen ist. Die
Gesetze, wenn sie als bloße bürgerliche Gebote wirksam sind,
sind positiv, aber weil sie ihrer Materie nach moralischen gleich
sind, oder weil die Vereinigung Objektiver im Begriff auch eine
nicht objektive voraussetzt, oder eine solche werden kann, so
wäre es die Aufhebung der Form der bürgerlichen Gesetze, wenn
sie zu moralischen gemacht würden, wenn ihr Soll nicht der
Befehl einer fremden Macht, sondern die Folge des eignen Be-
griffes, Achtung für die Pflicht ist. Aber auch diejenigen morali-
schen Gebote, die nicht fähig sind, bürgerliche zu werden, können
dadurch objektiv werden, daß die Vereinigung (oder Einschrän-
kung) nicht selbst als Begriff, als Gebot wirkt, sondern als ein der
eingeschränkten Kraft Fremdes, obzwar auch Subjektives. [Solche
Gesetze sind ihrer Natur nach zum Teil positiv, da sie nur die
Reflexion über eine einseitige, den übrigen fremde Kraft sind und
also diese übrigen durch jene entweder ausgeschlossen oder be-
herrscht sind. Sie können aber auch durchaus positiv werden,
wenn sie nicht einmal als eine Kraft des Menschen, sondern durch-
aus als eine fremde Macht wirken, wenn der Mensch diesen Herrn
nicht einmal in sich, sondern durchaus außer sich hat.] Diese Art
von Objektivität könnte nur aufgehoben werden durch Wieder-
herstellung des Begriffs selbst und der Beschränkung der Tätig-
keit durch ihn.
Auf diese Art könnte man erwarten, daß Jesus gegen die Posi-
tivität moralischer Gebote, gegen bloße Legalität gearbeitet hätte,
daß er gezeigt hätte, das Gesetzliche sei ein Allgemeines und seine
ganze Verbindlichkeit liege in seiner Allgemeinheit, weil zwar
einesteils jedes Sollen, jedes Gebotene als ein Fremdes sich an-
kündigt, andernteils aber der Begriff (die Allgemeinheit) ein Sub-
92 G.W. F. HEGEL
jcktives ist, wodurch es als Produkt einer menschlichen Kraft, des
Vermögens des Allgemeinen, der Vernunft, Objektivität, Positivi-
tät, Heteronomie verliert und das Gebotene als in einer Auto-
nomie des menschlichen Willens gegründet sich darstellt. Durch
diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen,
[denn das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen
entgegengesetzt bleibt], und zwischen dem tungusischen Scha-
manen mit dem Kirche und Staat regierenden europäischen Prä-
laten oder dem Mogulitzen und zwischen dem seinem Pflicht-
gebot gehorchenden Puritaner ist nicht der Unterschied, daß jene
sich zu Knechten machten, dieser frei wäre, sondern daß jene
den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt. ^)
Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wieder her-
stellen wollte, konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen,
der der Zerrissenheit der Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel
zugesellt. Im Geiste der Gesetze handeln konnte ihm nicht heißen,
aus Achtung für die Pflicht mit Widerspruch der Neigungen
handeln; denn beide Teile des Geistes (man kann bei diesem Zer-
rissensein des Gemüts nicht anders sprechen) befänden sich ja eben
dadurch gar nicht im Geiste, sondern gegen den Geist der Gesetze,
der eine, weil er ein Ausschließendes, also von sich selbst Be-
schränktes, der andere, weil er ein Unterdrücktes ist, zugleich
aber sein eigner Knecht ist. Für das Besondere, Triebe, Neigungen,
pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das
Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives;
es bleibt eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch
empörend wird, daß der Lihalt, den das allgemeine Pflichtgebot
erhält, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch, eingeschränkt und
allgemein zugleich zu sein, enthält und um der Form der Allge-
meinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätensionen
macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade
im Begriffe der Pflicht sich befinden, der, so wie er nicht bloß
der leere Gedanke der Allgemeinheit ist, sondern in Handlung
sich darstellen soll, alle andere Beziehungen ausschließt oder be-
herrscht.
Unmittelbar gegen Gesetze gekehrt zeigt sich dieser über Mo-
ralität erhabene Geist in der Bergpredigt, die ein durch mehrere
DAS LEBEN JESU 93
Beispiele von Gesetzen durchgeführter Versuch ist, den Gesetzen
das Gesetzliche, die Form von Gesetzen zu benehmen, der nicht
Achtung für dieselben predigt, sondern dasjenige aufzeigt, was
sie erfüllt, aber als Gesetze aufhebt, und also etwas Höheres ist
als der Gehorsam gegen dieselben und sie entbehrlich macht.
[Er erklärt gleich anfangs, daß in dem Reiche, das er zu stiften ge-
kommen sei, und dessen Ideal er den Juden hier vorhalte, alles
das geschehen müsse, was die Gesetze fordern, aber seine Absicht
sei, das Mangelhafte auszufüllen, das allem anklebe, was die Form
von Gesetzen hat ; er fordre eine Gerechtigkeit von seinen Freunden,
die vollständiger, in welcher mehr sei, als in der Gerechtigkeit der
Pharisäer.]
Da die Pflichtgebote eine Trennung voraussetzen und die
Herrschaft des Begriffs in einem Sollen sich ankündigt, so ist da-
gegen dasjenige, was über diese Trennung erhaben ist, ein Sein,
eine Modifikation des Lebens, welche nur in Ansehung des Ob-
jekts betrachtet ausschließend, also beschränkt ist, indem die Aus-
schließung nur durch die Beschränktheit des Objekts gegeben ist
und nur dasselbe betrifft. Wenn Jesus auch das, was er den Ge-
setzen entgegen — und über sie setzt, als Gebote ausdrückt, (Meinet
nicht, ich wolle das Gesetz aufheben ; euer Wort sei ja, ja, itein,
nein; ich sage euch nicht zu widerstehen, usw. ; liebe Gott und
deinen Nächsten) so ist diese Wendung in einem ganz andern
Sinne Gebot, als das Sollen des Pflichtgebots. Es ist nur die Folge
davon, daß das Lebendige gedacht, ausgesprochen, in der ihm
fremden Form des Begriffs gegeben wird, da hingegen das Pflicht-
gebot seinem Wesen nach als ein Allgemeines ein Begriff" ist. Und
wenn so das Lebendige in der Form eines Reflektierten, Gesagten
gegen Menschen erscheint, so hatte Kant sehr unrecht, diese zum
Lebendigen nicht gehörige Art des Ausdrucks: «Liebe Gott über
alles und deinen Nächsten als dich selbst» als ein Gebot anzusehen,
welches Achtung für ein Gesetz fordert, das Liebe befiehlt. Auf
dieser Verwechselung des Pflichtgebots, welches in der Entgegen-
setzung des Begriffs und des Wirklichen besteht, und der ganz
außerwesentlichen Art, das Lebendige auszusprechen, beruht seine
tiefsinnige Zurückführung dessen, was er ein Gebot nennt (Liebe
Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst) auf sein
94 G.W. F. HEGEL
Pflichtgebot. Und seine Bemerkung, daß Liebe, oder in der Be-
deutung, die er dieser Liebe geben zu müssen meint, (alle Pflichten
gerne ausüben) nicht geboten werden könne, fällt von selbst hin-
weg, weil in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt. Und
auch die Ehre, die er jenem Ausspruch Jesu dagegen wieder
angedeihen läßt, ihn als das von keinem Geschöpfe erreichbare
Ideal der Heiligkeit anzusehen, ist ebenso überflüssig verschwendet ;
denn ein solches Ideal, in dem die Pflichten als gerne getan vor-
gestellt würden, ist in sich selbst widersprechend, weil Pflichten
eine Entgegensetzung und das Gerntun keine Entgegensetzung
forderten und er kann diesen Widerspruch ohne Vereinigung in
seinem Ideal ertragen, indem er die vernünftigen Geschöpfe (eine
sonderbare Zusammenstellung) jenes Ideal zu erreichen für un-
fähig erklärt.^)
Jesus fängt die Bergpredigt mit einer Art von Paradoxen an, in
denen seine volle Seele gegen die Menge erwartender Zuhörer
sogleich unzweideutig erklärt, daß sie von ihm etwas ganz Frem-
des, einen andern Genius, eine andre Welt zu erwarten haben.
Es sind Schreie, in denen er sich begeistert von der gemeinen
Schätzung von Tugend entfernt, begeistert ein andres Recht und
Licht, eine andre Region des Lebens ankündigt, deren Beziehung
auf die Welt nur die sein könne, von dieser gehaßt und verfolgt
zu werden. In diesem Himmelreiche zeigt er ihnen aber nicht
die Auflösung der Gesetze, sondern sie müssen durch eine Gerech-
tigkeit erfüllt werden, die eine andere, vollständigere sei als die
Gerechtigkeit der Pflicht, eine Ausfüllung des Mangelhaften der
Gesetze. Er zeigt hierauf dies Ausfüllende an mehreren Gesetzen.
(Lücke der Handschrift)
. . . werden: Du sollst lieben; die Liebe selbst spricht dein
Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes All-
gemeines, nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des
Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens,
schrankenlos im UnendHchen fühlen. In diesem Gefühle der
Harmonie ist freilich keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie
ist das Besondere nicht widerstreitend, sondern einkhngend, sonst
wäre keine Harmonie; und liebe deinen Nächsten als dich selbst
heißt nicht, ihn so sehr lieben als sich selbst, denn sich selbst
DAS LEBEN JESU 95
lieben ist ein Wort ohne Sinn, sondern liebe ihn als einen, der
du selbst ist, im Gefühl des gleichen, nicht mächtigern, nicht
schwächern Lebens.
Erst durch die Liebe wird die Macht des Objektiven gebrochen,
denn durch sie wird dessen ganzes Gebiet gestürzt; die Tugenden
setzten durch ihre Grenzen außerhalb derselben immer noch ein
Objektives, und die Vielheit der Tugenden eine um so größere
Mannigfaltigkeit des Objektiven. Nur die Liebe hat keine Grenze;
was sie nicht vereinigt hat, ist ihr nicht objektiv; sie hat es über-
sehen oder noch nicht entwickelt; es steht ihr nicht gegenüber.
[Der Lieblosigkeit der Juden konnte Jesus nicht geradezu die Liebe
entgegenstellen, denn die Lieblosigkeit als etwas Negatives muß
sich notwendig in einer Form zeigen, und diese Form ist ein
Positives, ist Gesetz und Recht; in dieser rechtmäßigen Gestalt
tritt sie auch immer auf, so in der Geschichte der Maria Magda-
lena, im Munde Simons: Wäre dieser ein Prophet, so würde
er wissen, daß diese eine Sünderin ist; so finden die Phari-
säer es unschicklich, daß er mit Zöllnern und Sündern um-
geht.]
Der Abschied, den Jesus von seinen Freunden nahm, war die
Feier eines Mahls der Liebe. Liebe ist noch nicht Religion, dieses
Mahl also auch keine eigentlich religiöse Handlung: denn nur
eine durch Einbildungskraft objektivierte Vereinigung in Liebe
kann Gegenstand einer religiösen Verehrung sein; bei einem
Mahl der Liebe aber lebt und äußert sich die Liebe selbst; und
alle Handlungen dabei sind nur Ausdrücke der Liebe. Die Liebe
selbst ist nur als Empfindung vorhanden, nicht zugleich als Bild ;
das Gefühl und die Vorstellung desselben sind nicht durch Phan-
tasie vereinigt. Aber bei dem Mahle der Liebe kommt doch auch
Objektives vor, an welches die Empfindung geknüpft, aber nicht
in ein Bild vereinigt ist, und darum schwebt dieses Essen zwischen
einem Zusammenessen der Freundschaft und einem religiösen
Akt, und dieses Schweben macht es schwer, seinen Geist deutlich
zu bezeichnen.
Jesus brach das Brot: «Nehmet hin, dies ist mein Leib, für
euch gegeben, tut's zu meinem Gedächtnis.» Desgleichen nahm
er den Kelch: «Trinket alle daraus, es ist mein Blut des neuen
96 G.W. F. HEGEL
Testaments, für euch und für viele zur Vergebung der Sünden
vergossen; tut dies zu meinem Gedächtnis!»
Wenn ein Araber eine Tasse Kaffee mit einem Fremden ge-
trunken hat, so hat er damit seinen Freundschaftsbund mit ihm
gemacht; diese gemeinschaftliche Handlung hat sie verknüpft,
und durch diese Verknüpfung ist der Araber zu aller Treue und
Hülfe mit ihm verbunden. Das gemeinschaftUche Essen und
Trinken ist hier nicht das, was man ein Zeichen nennt. Die
Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist nicht selbst
geistig, Leben; es ist ein objektives Band; Zeichen und Bezeich-
netes sind einander fremd und ihre Verbindung ist außer ihnen
nur in einem Dritten und eine gedachte. Mit jemand essen und
trinken ist ein Akt der Vereinigung, eine gefühlte Vereinigung
selbst, nicht ein konventionelles Zeichen. Es wird gegen die
Empfindung natürlicher Menschen sein, die Feinde sind, ein Glas
Wein miteinander zu trinken; dem Gefühl der Gemeinschaft in
dieser Handlung würde ihre sonstige Stimmung gegeneinander
widersprechen.
Das gemeinschaftliche Nachtessen Jesu und seiner Jünger ist
an sich schon ein Akt der Freundschaft. Noch verknüpfender ist
das feierliche Essen vom gleichen Brote, das Trinken aus dem
gleichen Kelche; auch dies ist nicht ein bloßes Zeichen der
Freundschaft, sondern ein Akt, eine Empfindung der Freund-
schaft selbst, des Geistes der Liebe. Aber das Weitere, die Er-
klärung Jesu: «Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut», nähert die
Handlung einer religiösen, aber macht sie nicht dazu. Diese Er-
klärung und die damit verbundene Handlung der Austeilung der
Speise und des Trankes macht die Empfindung zum Teil objektiv;
die Gemeinschaft mit Jesu, ihre Freundschaft gegeneinander und
die Vereinigung derselben in ihrem Mittelpunkte, ihrem Lehrer,
wird nicht bloß gefühlt, sondern, indem Jesus das an alle auszu-
teilende Brot und Wein seinen für sie gegebenen Leib und Blut
nennt, so ist die Vereinis^ung nicht mehr bloß empfunden, son-
dern sie ist sichtbar geworden ; sie wird nicht nur in einem Bilde,
einer allegorischen Figur vorgestellt, sondern an ein Wirkliches
geknüpft, in einem Wirklichen, dem Brote, gegeben und genossen.
Einerseits wird also die Empfindung objektiv, andererseits aber ist
DAS LEBEN JESU 97
dies Brot und Wein und die Handlung des Austeilens zugleich
nicht bloß objektiv; es ist mehr in ihr, als gesehen wird; sie ist
eine mystische Handlung. Der Zuschauer, der ihre Freundschaft
nicht gekannt und die Worte jesu nicht verstanden hätte, hätte nichts
gesehen als das Austeilen von etwas Brot und Wein und das Ge-
nießen derselben; sowie, wenn scheidende Freunde einen Ring bra-
chen, und jeder ein Stück behielt, der Zuschauer nichts sieht, als das
Zerbrechen eines brauchbaren Ringes und das Teilen in unbrauch-
bare, wertlose Stücke; das Mystische der Stücke hat er nicht gefaßt.
So ist, objektiv betrachtet, das Brot bloßes Brot, der Wein bloßer
Wein ; aber beide sind auch noch mehr. Dieses Mehr hängt nicht
mit den Objekten als eine Erklärung, durch ein bloßes Gleichwie,
zusammen: «Gleichwie die vereinzelten Stücke, die ihr esset, von
einem Brot, der Wein, den ihr trinket, aus dem gleichen Kelche
ist, so seid ihr zwar Besondere, aber in der Liebe, im Geiste, eins;
— gleichwie ihr alle teilnehmet an diesem Brot und Wein, so
nehmet ihr auch alle an meiner Aufopferung teil», oder welche
Gleichwies man darin finden mag. Der Zusammenhang des
Objektiven und des Subjektiven, des Brotes und der Personen ist
nicht der Zusammenhang des Verglichenen mit dem Gleichnis,
der Parabel, in welcher das Verschiedene, Verglichene als ge-
schieden, als getrennt aufgestellt wird, und nur Vergleichung, das
Denken der Gleichheit Verschiedener gefordert wird. Denn in
dieser Verbindung fällt die Verschiedenheit weg, also auch die
Möglichkeit der Vergleichung. In der Parabel ist die Forderung
nicht, daß die verschiedenen Zusammengestellten in Eins gefaßt
würden ; hier aber soll das Ding und die Empfindung sich ver-
binden. Die Heterogenen sind aufs innigste verknüpft. In dem
Ausdruck (Joh. VI, 56): «Wer mein Fleisch ißt und mein Blut
trinkt, bleibt in mir und ich in ihm», oder (Joh. X, 7): «Ich bin
die Türe» und ähnlichen harten Zusammenstellungen muß in der
Vorstellung das Verbundene notwendig in verschiedene Ver-
glichene getrennt und die Verbindung als eine Vergleichung an-
gesehen werden. Hier aber werden (wie die mystischen Stücke
des Rings) Wein und Brot mystische Objekte, indem Jesus sie
seinen Leib und Blut nennt und ein Genuß, eine Empfindung
unmittelbar sie begleitet. Er zerbrach das Brot, gab es seinen
Hegel, Das Leben Jesu 7
98 G.W. F. HEGEL
Freunden: «Nehmet, esset; dies ist mein Leib, für euch hinge-
geben»; so auch den Kelch: ^< Trinket alle daraus; dies ist mein
Blut, das Blut des neuen Bundes, über viele ausgegossen zur Er-
lassung der Sünden. Nicht nur der Wein ist Blut, auch das Blut
ist Geist, der gemeinschaftliche Becher, das gemeinschaftliche
Trinken der Geist eines neuen Bundes, der viele durchdringt, in
welchem viele Leben zur Erhebung über ihre Sünden trinken
und von diesem Gewächs des Weinstocks werde ich nicht mehr
trinken bis auf jenen Tag der Vollendung, wenn ich ein neues
Leben in dem Reiche meines Vaters mit euch trinken werde.»
Der Zusammenhang des ausgegossenen Blutes und der Freunde
Jesu ist nicht, daß es als ein ihnen Objektives zu ihrem Besten,
zu einem Nutzen für sie vergossen wäre, sondern (wie im Aus-
druck: wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt) ist das \'er-
hältnis des Weins zu ihnen, den alle aus demselben Kelche
trinken, der für alle, und derselbe ist. Sie sind alle Trinkende,
ein gleiches Gefühl ist in allen, vom gleichen Geiste der Liebe
sind alle durchdrungen. Wäre ein aus einer Hingebung des Leibes
und Vergießung des Blutes entstandener Vorteil, Wohltat das-
jenige, worin sie gleichgesetzt wären, so wären sie in dieser Rück-
sicht nur im gleichen Begriffe vereinigt. Indem sie aber das Brot
essen und den Wein trinken, sein Leib und sein Blut in sie über-
geht, so ist Jesus in allen und sein Wesen hat sie göttlich, als
Liebe, durchdrungen. So ist das Brot und der Wein nicht bloß
für den Verstand ein Objekt, die Handlung des Essens und Trin-
kens nicht bloß eine durch Vernichtung derselben mit sich ge-
schehene Vereinigung, noch die Empfindung ein bloßer Ge-
schmack der Speise und des Trankes; der Geist Jesu, in dem seine
Jünger eins sind, ist für das äußere Gefühl, als Objekt gegen-
wärtig, ein Wirkliches geworden.
Aber die objektiv gemachte Liebe, dies zur Sache gewordene
Subjektive kehrt zu seiner Natur wieder zurück, wird im Essen
wieder subjektiv. Diese Rückkehr kann etwa in dieser Rücksicht
mit dem im geschriebenen Worte zum Dinge gewordenen Ge-
danken verglichen werden, der aus einem Toten, einem Objekte,
im Lesen seine Subjektivität wieder erhält. Die \'ergleichung
wäre treffender, wenn das geschriebene Wort aufgelesen würde.
DAS LEBEN JESU 99
durch das Verstehen als Ding verschwände, so wie im Genüsse
des Brotes und Weines von diesen mystischen Objekten nicht
bloß die Empfindung erweckt, der Geist lebendig wird, sondern
sie selbst als Objekte verschwinden. Und so scheint die Handlung
reiner, ihrem Objekte gemäßer, indem sie nur Geist, nur Emp-
findung gibt, und dem Verstände das Seinige raubt, die Materie,
das Seelenlose zernichtet. Wenn Liebende vor dem Altar der
Göttin der Liebe opfern und das betende Ausströmen ihres Ge-
fühls ihr Gefühl zur höchsten Flamme begeistert, so ist die Göttin
selbst in ihre Herzen eingekehrt, aber das Bild von Stein bleibt
immer vor ihnen stehen, da hingegen im Mahl der Liebe das
Körperliche vergeht und nur lebendige Empfindung vorhanden ist.
Aber gerade diese Art von Objektivität, die ganz aufgehoben
wird, indem die Empfindung bleibt, diese Art mehr einer objek-
tiven Vermischung als einer Vereinigung, daß die Liebe in etwas
sichtbar, an etwas geheftet wird, das zernichtet werden soll, —
ist es, was die Handlung nicht zu einer religiösen werden ließ.
Das Brot soll gegessen, der Wein getrunken werden; sie können
darum nichts Göttliches sein. Was sie auf der einen Seite voraus
haben, daß die Empfindung, die an sie geheftet ist, wieder von
ihrer Objektivität zu ihrer Natur gleichsam zurückkehrt, das
mystische Objekt wieder zu einem bloß Subjektiven wird, das
verlieren sie eben dadurch, daß die Liebe durch sie nicht objektiv
genug wird. Etwas Göttliches kann nicht, indem es göttlich ist,
in der Gestalt eines zu Essenden und zu Trinkenden vorhanden
sein. [Der Moment der Göttlichkeit könnte nur augenblicklich
sein, so lange die Phantasie die schwere Aufgabe erfüllen kann,
in dem Dinge die Liebe festzuhalten, und in ihrem Anschauen ist
man zugleich von dem Gefühl ewiger Jugendkraft und der Liebe
durchdrungen.] Es ist immer zweierlei vorhanden, der Glaube
und das Ding, die Andacht und das Sehen oder Schmecken.
Im Glauben ist der Geist gegenwärtig, in dem Sehen oder
Schmecken das Brot und Wein; es gibt keine Vereinigung für
sie. In der symbolischen Handlung soll das Essen und Trinken
und das Gefühl des Einsseins in Jesu Geist zusammenfließen.
Aber das Ding und die Empfindung, der Geist und die Wirklich-
keit vermischen sich nicht. Die Phantasie kann sie nie in einem
100 G.W. F. HEGEL
Schönen zusammenfassen; das angeschaute und genossene Brot
und Wein können nie die Empfindung der Liebe erwecken, und
diese Empfindung kann sich nie weder in ihnen als angeschauten
Objekten finden, so wie sie auch dem Gefühl des wirklichen Auf-
nehmcns in sich, ihres Subjektivwerdens, des Essens und Trinkens
widerspricht. In einem Apoll, einer Venus muß man wohl den
Marmor, den zerbrechlichen Stein vergessen, und sieht in ihrer
Gestalt nur die Unsterblichen. Aber reibt die Venus, den Apoll
zu Staub und sprecht: Dies ist Apoll, dies Venus; so ist wohl vor
mir der Staub und das Bild der Götter in mir; aber der Staub und
das Göttliche treten nimmer in Eins zusammen. Das Verdienst
des Staubes bestand in seiner Form, dieses ist verschwunden, er
ist jetzt die Hauptsache; das Verdienst des Brotes bestand in seinem
mystischen Sinne, aber zugleich in seiner Eigenschaft, daß es
Brot, eßbar ist; auch in der Verehrung soll es als Brot vorhanden
sein. Vor dem zu Staube geriebenen Apoll bleibt die Andacht,
aber sie kann sich nicht an den Staub wenden. Der Staub kann
an die Andacht erinnern, aber nicht sie auf sich ziehen. Es ent-
steht ein Bedauern; dies ist die Empfindung dieser Scheidung,
dieses Widerspruchs, wie die Traurigkeit bei der Unvereinbarkeit
des Leichnams und die Vorstellung der lebendigen Kräfte. Der
Verstand widerspricht der Empfindung, die Empfindung dem
Verstände; für die Einbildungskraft, in welcher beide aufgehoben
sind, ist nichts zu tun; sie hat hier kein Bild, worin sich An-
schauung und Gefühl vereinigten.
Nach dem Nachtmahl der Jünger entstand ein Kummer wegen
des bevorstehenden Verlustes ihres Meisters; aber nach echt
religiöser Handlung ist die ganze Seele befriedigt, und nach dem
Genüsse des Abendmahls unter den jetzigen Christen entsteht ein
andächtiges Staunen ohne Heiterkeit oder mit einer wehmütigen
Heiterkeit, denn die geteilte Spannung der Empfindung und der
Verstand waren einseitig, die Andacht unvollständig. Es war
etwas Göttliches versprochen und es ist im Munde zerronnen.
(Lücke der Handschrift) welchem Zwecke denn alles Übrige
dient, nichts im Kampfe mit diesem, in gleichem Rechte steht;
DAS LEBEN JESU loi
wie z. B. Abraham sich und seine FamiUe und nachher sein Volk,
oder die ganze Christenheit sich zum Endzweck setzt. Aber je
weiter dieses Ganze ausgedehnt, je mehreres in die Gleichheit der
Abhängigkeit versetzt wird, wenn der Kosmopolit das ganze
Menschengeschlecht in seinem Ganzen begreift, so kommt von
der Herrschaft über die Objekte und von der Gunst des regierenden
Wesens desto weniger auf einen. Jeder Einzelne verliert um so
mehr an seinem Wert, an seinen Ansprüchen, seiner Selb-
ständigkeit, denn sein Wert war der Anteil an der Herrschaft.
Ohne den Stolz, der Mittelpunkt der Dinge zu sein, ist ihm der
Zweck des kollektiven Ganzen das Höchste und er verachtet sich
als einen so kleinen Teil, wie alle Einzelne.
Weil diese Liebe um des Toten willen nur mit Stoff umgeben,
der Stoff an sich ihr gleichgültig ist, und ihr Wesen darin besteht,
daß der Mensch in seiner innersten Natur ein Entgegengesetztes,
Selbständiges ist, daß ihm alles Außenwelt ist, welche also so
ewig ist als er selbst, so wechseln zwar seine Gegenstände, aber
sie fehlen ihm nie; so gewiß er ist, sind sie und seine Gottheit.
Daher seine Beruhigung bei Verlust und sein gewisser Trost,
daß der Verlust ihm ersetzt werde, weil er ihm ersetzt werden
kann.
Die Materie ist auf diese Art für den Menschen absolut; aber
freilich, wenn er selbst nimmer wäre, so wäre auch nichts mehr
für ihn, und warum müßte er auch sein? Daß er sein möchte, ist
sehr begreiflich; denn außer seiner Sammlung von Beschränkt-
heiten, seinem Bewußtsein liegt nicht die in sich vollendete, ewige
Vereinigung, [sondern] nur das dürre Nichts; aber in diesem sich
zu denken kann freilich der Mensch nicht ertragen. Er ist nur
als Entgegengesetztes; das Entgegengesetzte ist sich gegenseitig
Bedingung und Bedingtes; er muß sich außer seinem Bewußtsein
denken. Weder ein Bedingtes ohne ein Bestimmendes und um-
gekehrt; keins ist unbedingt, keins trägt die Wurzel seines Wesens
in sich; jedes ist nur relativ notwendig; das eine ist für das andere,
und also auch für sich, nur durch eine fremde Macht; das andere
ist ihm durch ihre Gunst und Gnade zugeteilt; es ist überall in
einem Fremden ein unabhängiges Sein, von welchem Fremden
dem Menschen alles geschenkt ist, und dem er sich und [seine]
102 G.W. F. HEGEL
Unsterblichkeit zu danken haben muß, um welche er mit Zittern
und Zagen bettelt.
Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Leben-
digen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus fürein-
ander Lebendige, von keiner Seite gegen einander Tote sind.
Sie schließt alle Entgegensetzungen aus; sie ist nicht Verstand,
dessen Beziehungen das Mannigfaltige immer als ein Mannig-
faltiges lassen, und dessen Einheit selbst Entgegensetzung ist; sie
ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlecht-
hin entgegensetzt; sie ist nichts Begrenzendes, nichts Begrenztes,
nichts Endliches; sie ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Ge-
fühl ; aus dem einzelnen Gefühl drängt sich das Leben durch Auf-
lösung zur Zerstreuung in der Mannigfaltigkeit der Gefühle, um
sich in diesem Ganzen der Mannigfaltigkeit zu finden; in der
Liebe ist dieses Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderen
enthalten ; in ihr findet sich das Leben selbst als eine Verdoppelung
seiner selbst und Einigkeit desselben. Das Leben hat von der un-
enrsvickelten Einigkeit aus durch die Bildung den Kreis zu einer
vollendeten Einigkeit durchlaufen. Der unentwickelten Einigkeit
stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt gegenüber.
In der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr Ent-
gegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie
das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe
die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegen-
gesetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich
selbst ohne weiteren Mangel findet. In der Liebe ist das Getrennte
noch, aber nicht mehr als Getrenntes, sondern als Einiges und
das Lebendige fühlt das Lebendige.
Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist, so können
Liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind,
als sie die Möghchkeit der Trennung denken, nicht insofern als
wirklich ervs^as getrennt wäre, als das Mögliche mit einem Sein
verbunden, ein Wirkliches wäre. An Liebenden ist keine Materie,
sie sind ein lebendiges Ganze. Liebende haben keine Selbständig-
keit, ihr eignes Lebensprinzip heißt nur: sie können sterben. Die
Pflanze hat Salz und Erdteile, die eigne Gesetze ihrer Wirkungsart in
sich tragen, ihr Lebensprinzip ist die Reflexion eines Fremden und
DAS LEBEN JESU 103
heißt nur: die Pflanze kann verwesen. Die Liebe strebt aber auch
diese Unterscheidung, diese MögUchkeit als bloße Möglichkeit auf-
zuheben und selbst das Sterbliche zu vereinigen, es unsterblich zu
machen, indem sie unendliche Vereinigungen sich ausfindet, an
die ganze Mannigfaltigkeit der Natur sich wendet. Diesen Reich-
tum des Lebens erwirbt die Liebe in der Auswechselung aller
Gedanken, aller Mannigfaltigkeiten der Seele, indem sie unend-
liche Unterschiede sucht. Das Eigenste, das noch Getrennte ver-
einigt sich in der Berührung, in der Befühlung bis zur Bewußt-
losigkeit, der Aufhebung aller Unterscheidung. Das Sterbliche
hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt und ist ein Keim der
Unsterblichkeit, ein Keim des ewig aus sich Entwickelnden und
Zeugenden, ein Lebendiges geworden. Das Vereinigte trennt sich
nicht wieder, denn in der Vereinigung ist nicht ein Entgegen-
gesetztes behandelt worden; sie ist rein von aller Trennung; die
Gottheit hat gewirkt, erschaffen.
Dieses Vereinigte aber ist nur ein Punkt, der Keim ; die Lieben-
den können ihm nicht zuteilen, daß in ihm ein Mannigfaltiges
sich befände. Alles, wodurch es ein Mannigfaltiges sein, ein Da-
sein haben kann, muß das Neugezeugte in sich gezogen, entge-
gengesetzt und vereinigt haben. Es windet sich immer mehr zur
Entgegensetzung los; jede Stufe seiner Entwickelung ist eine
Trennung, um wieder den ganzen Reichtum des Lebens zu ge-
winnen. Und so ist nun das Einige die Getrennten und das
Wiedervereinigte; die Vereinigten trennen sich wieder, aber im
Kinde ist die Vereinigung selbst ungetrennt. [Aus dem Vereinigten
geht es durch ein feindliches, durchs Animalische zum Menschen-
leben. Das Trennbare aber kehrt in den Zustand der Trennbar-
keit zurück; aber was vom bestimmten Bewußtsein noch getrennt
war, wird alles auf die Seite geschafft, wird ausgeglichen, wird
ausgewechselt.]
Das Trennbare, so lange es vor der vollständigen Vereinigung
noch ein Eignes ist, macht den Liebenden Verlegenheit. Es ist
eine Art von Widerstreit zwischen der völligen Hingebung, der
einzig möglichen Vernichtung, der Vernichtung des Entgegen-
gesetzten in der Vereinigung, und der noch vorhandenen Selb-
ständigkeit; jene fühlt sich durch diese gehindert. Die Liebe ist
104 G.W. F. HEGEL
unwillig über das noch Getrennte, über ein Eigentum. Dieses
Zürnen der Liebe über Individualität ist die Scham. Sie ist nicht
ein Zucken des Sterblichen, nicht eine Äußerung der Freiheit,
sich zu erhalten, zu bestehen. Bei einem Angriff ohne Liebe wird
ein liebevolles Gemüt durch diese Feindseligkeit selbst beleidigt;
seine Scham wird zum Zorn, der jetzt nur das Eigentum, das
Recht verteidigt. Wäre die Scham nicht eine Wirkung der Liebe,
die nur darüber, daß etwas Feindseliges ist, die Gestalt des Un-
willens hat, sondern ihrer Natur nach selbst etwas Feindseliges,
das ein angreifbares Eigentum behaupten wollte, so müßte man
von den Tyrannen sagen, sie haben am meisten Scham, so wie
von Mädchen, die ohne Geld ihre Reize nicht preisgeben, oder
von den eiteln, die durch sie fesseln wollen. Beide lieben nicht;
ihre Verteidigung des Sterblichen ist das Gegenteil des Unwillens
über dasselbe; sie legen ihm in sich einen Wert bei, sie sind
schamlos. Ein reines Gemüt schämt sich der Liebe nicht; es
schämt sich aber, daß diese nicht vollkommen ist. Sie wirft es
sich vor, daß noch eine Macht, ein Feindliches ist, das der Voll-
endung Hindernisse macht. Die Scham tritt nur ein durch die
Erinnerung an den Körper, durch persönliche Gegenwart, beim
Gefühle der Individualität; sie ist nicht eine Furcht für das
Sterbliche, Eigne, sondern vor demselben, die, so wie die Liebe
das Trennbare vermindert, mit ihm verschwindet. Denn die
Liebe ist stärker als die Furcht; sie fürchtet ihre Furcht nicht;
aber von ihr begleitet hebt sie Trennungen auf, mit der Besorgnis,
eine widerstehende, gar eine feste Entgegensetzung zu finden;
sie ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben. Schüchtern, ihre
Gaben möchten verschmäht, schüchtern, ihrem Nehmen möchte
ein Entgegengesetztes nicht weichen, versucht sie, ob die Hoffnung
sie nicht getäuscht, ob sie sich selbst durchaus findet. Dasjenige,
das nimmt, wird dadurch nicht reicher, als das andere; es be-
reichert sich zwar, aber um eben so viel das andere; ebenso das-
jenige, das gibt, macht sich nicht ärmer; indem es dem andern
gibt, hat es um eben so viel seine eigenen Schätze vermehrt.
Julie in Romeo: «Je mehr ich gebe, desto mehr habe ich usw.»*')
Diese Vereinigung der Liebe ist zwar vollständig, aber sie kann
es nur so weit sein, als das Getrennte nur so entgegengesetzt ist.
DAS LEBEN JESU 105
daß das eine das Liebende, das andere das Geliebte ist, daß also
jedes Getrennte ein Organ eines Lebendigen ist. Außerdem
stehen die Liebenden aber noch mit vielem Toten in Verbindung;
jedem gehören viele Dinge zu, d. h. jedes steht in Beziehung mit
Entgegengesetzten, die auch für das Beziehende selbst noch Ent-
gegengesetzte, Objekte sind, und so sind sie noch einer mannig-
faltigen Entgegensetzung in dem mannigfaltigen Erwerb und Be-
sitz von Eigentum und Recht fähig. Das unter der Gewalt des
einen befindliche Tote ist beiden entgegengesetzt, und es könnte
nur die Vereinigung darüber stattfinden, daß es unter die Herr-
schaft beider käme. Das Liebende, daß das andere im Besitze
eines Eigentums erblickt, diese Besonderheit des andern, die es
gewollt hat, selbst fühlt, kann diese ausschließliche Herrschaft
des andern nicht aufheben, denn dies wäre wieder eine Entgegen-
setzung gegen [die Macht des andern. In diesem Falle scheut
sich das Ärmere, dem Reichern zu nehmen, sich in gleichen Be-
sitz mit ihm zu setzen, weil dieses selbst eine Handlung des Ent-
gegensetzens getan, sich außer den Kreis der Liebe gesetzt, seine
Selbständigkeit bewiesen hat] ; aber dieser Furcht, die sein Eigen-
tum erweckt, kommt das Besitzende dadurch zuvor, daß es sein
Recht des Eigentums, das ihm gegen jedermann zukommt, selbst
gegen das Liebende aufhebt, [ihm schenkt].
[Geschenke sind Entäußerungen einer Sache, die schlechter-
dings den Charakter eines Objekts nicht verlieren kann. Nur das
Gefühl der Liebe, der Genuß ist gemeinschaftlich ; was Mittel des
Genusses, tot ist, ist nur Eigentum, und da die Liebe nichts Ein-
seitiges tut, so kann sie nichts nehmen, was auch in der Bemäch-
tigung, in der Vereinigung der Herrschaft noch ein Mittel, ein
Eigentum bleibt. Ein Ding, etwas, das außer dem Gefühl der
Liebe ist, kann nicht gemeinschaftlich sein, eben weil es ein Ding
ist, und sollte das Haben eines Dinges gemeinschaftlich sein, hätte
das Besitzende sein Recht und ausschließendes Eigentum zwar
aufgegeben, so gehört es entweder keinem der Liebenden, oder
jedem gehört ein besonderer Teil. Gütergemeinschaft heißt das
Recht eines jeden an das Ding, der entweder gleiche oder unbe-
stimmte Anteil. Sie setzt immer eine Teilung, und zwar Not-
wendigkeit dieser Teilung, Besonderes, Rechte, Eigentum zwar
io6 G.W. F. HEGEL
nicht der ruhenden Mittel, des Ungenutzten, Toten, aber eine
notwendige Teilung desselben in dem Gebrauch voraus. Durch
jene Nichtabsonderung des Eigentums täuscht die Gütergemein-
schaft mit einem Schein der völligen Aufhebung der Rechte.
In der Gütergemeinschaft sind die Sachen kein Eigentum, aber
es ist in ihr das Recht an einen Teil derselben versteckt, so lange
er nicht gebraucht ist, und im Grunde ist auch ein Recht an den
Teil des Eigentums, der nicht unmittelbar gebraucht wird, beibe-
halten, nur wird davon stillgeschwiegen. Danach ist die gewöhn-
liche Art, unter Liebenden die Rechte der Liebenden auf Sachen
(Personenrecht schließt sich schon durch seinen Namen von der
Liebe als ein ihr abscheulicher Dienst aus) gegenseitig aufzuheben,
und dies als einen Beweis der Liebe anzusehen, zu beurteilen.]
Wenn der Besitz und Eigentum einen so wichtigen Teil des
Menschen, seine Sorgen und Gedanken ausmacht, so können
auch Liebende sich nicht enthalten, auf diese Seite ihrer Verhält-
nisse zu reflektieren; und wenn schon der Gebrauch gemein-
schaftlich ist, so würde damit das Recht am Besitz unentschieden
bleiben. Der Gedanke des Rechts würde nichts vergessen,
weil alles, in dessen Besitz jetzt die Menschen sind, die Rechts-
form des Eigentums hat; setzt aber das Besitzende das andere
auch ins gleiche Recht des Besitzes, so ist doch die Gütergemein-
schaft nur das Recht von beiden an das Ding. (Lücke der Hand-
schrift)
. . . Der Druck erweckte wieder den Haß, und damit wachte
ihr Gott wieder auf. Ihr Trieb nach Unabhängigkeit war eigent-
lich Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem.
b) Diese Veränderung, die andere Nationen oft nur in Jahr-
tausenden durchlaufen, mußte beim jüdischen Volke so schnell
sein. Jeder seiner Zustände war zu gewaltsam, als daß er hätte
lange anhalten können. Der Zustand der Unabhängigkeit, an all-
gemeine Feindschaft geknüpft, konnte nicht lange dauern; er ist
zu sehr der entgegengesetzte der Natur. Der Zustand der Unab-
hängigkeit anderer Völker ist ein Zustand des Glücks, ein Zustand
schöner Menschlichkeit; der Zustand der Unabhängigkeit der
Juden sollte ein Zustand einer völligen Häßlichkeit sein. Weil
DAS LEBEN JESU 107
ihre Unabhängigkeit ihnen nur Essen und Trinken, eine dürftige
Existenz sicherte, so war mit der Unabhängigkeit, mit diesem
Wenigen auch alles verloren oder in Gefahr; es blieb nichts
Lebendiges mehr übrig, das sie sich erhalten und dessen sie sich
erfreut hätten, dessen Genuß sie manche Not ertragen, vieles
hätte aufopfern gelehrt. In dem Drucke kam das kümmeriiche
Dasein unmittelbar in Gefahr, zu dessen Rettung sie losschlugen.
[Sie konnten nicht, wie spätere Schwärmer, sich dem Beile oder
Hungertode hingeben, weil sie an keiner Idee, sondern an einem
tierischen Dasein hingen.] Dies tierische Dasein war nicht mit
der schönen Form der Menschheit verträglich, die ihnen Freiheit
gegeben hätte, [und sie glaubten an ihren Gott, weil sie mit der
Natur völlig entzweit, in ihm die Vereinigung derselben durch
Herrschaft fanden].
Als die Juden die königliche Gewalt (die Moses für verträglich
mit der Theokratie, Samuel aber für unverträglich hielt), bei sich
einführten, erhielten viele Einzelne eine politische Wichtigkeit,
die sie zwar mit den Priestern teilen, oder gegen sie verteidigen
mußten. Wie in freien Staaten die Einführung der Monarchie
alle Bürger zu Privatpersonen hinabwirft, so erhob sie dagegen
in diesem Staate, in welchem jeder ein politisches Nichts war,
wenigstens Einzelne zu einem mehr oder weniger eingeschränkten
Etwas.
Nach dem Verschwinden des ephemerischen, aber sehr
drückenden Glanzes der Salomonischen Regierung zerrissen die
neuen Mächte, die die Einführung des Königtums noch in die
Geißel ihres Schicksals eingeflochten hatte — unbändige Herrsch-
sucht und ohnmächtige Herrschaft — das jüdische Volk vollends,
und kehrten gegen seine eigenen Eingeweide eben die rasende
Liebe und Gottlosigkeit, die es vorher gegen andere Nationen
gewendet hatte; sie leiteten sein Schicksal auf es selbst. [Seine
Feindschaft wurde zwar nicht gemildert, aber doch insoweit
unterdrückt, daß es aus einem in der Idee herrschenden ein in
der Wirklichkeit beherrschtes Volk wurde, und das Gefühl seiner
äußeren Abhängigkeit erhielt, die es durch Demütigungen].
Fremde Nationen lernte es wenigstens fürchten; es wurde aus
einem in der Idee herrschenden ein in der Wirklichkeit be-
io8 G.W. F. HEGEL
herrschtes Volk und erhielt das Gefühl seiner äußern Abhängig-
keit. Eine Zeitlang erhielt es sich durch Demütigungen eine Art
von Staat, bis es am Ende — wie in der Politik der listigen
Schwäche nie der Unglückstag ausbleibt — vollends zu Boden
getreten wurde, ohne die Kraft des Wiederaufstehens zu behalten.
Den alten Genius hatten von Zeit zu Zeit Begeisterte festzuhalten,
den ersterbenden wieder zu beleben gesucht. Doch den ent-
flohnen Genius einer Nation kann die Begeisterung nicht zurück-
beschwören, das Schicksal eines Volkes nicht unter ihren Zauber
bannen, wohl einen neuen Geist aus der Tiefe des Lebens hervor-
rufen, wenn sie rein und lebendig ist, aber die jüdischen Pro-
pheten zündeten ihre Flamme an der Fackel eines erschlafften
Dämons an; sie suchten ihm seine alte Kraft und mit der Zer-
störung der mannigfaltigen Interessen der Zeit ihm seine alte
schaudernd erhabene Einheit wiederherzustellen. Sie konnten also
nur kalte und bei ihrer Einmischung in Politik und sonstige Zwecke
nur eingeschränkte und wirkungslose Fanatiker werden, nur eine
Erinnerung vergangener Zeiten geben, die gegenwärtigen noch
mehr verwirren, aber nicht andere Zeiten herbeiführen. Die Bei-
mischung der Leidenschaften vermochte nie wieder in einförmige
Passivität überzugehen, aber aus passiven Gemütern mußten sie
um so gräßlicher wüten.
Dieser schauderhaften Wirklichkeit zu entfliehen, suchten die
Menschen in Ideen Trost; der gemeine Jude, der sich wohl, aber
nicht seine Objekte aufgeben wollte, in der Hoffnung eines
kommenden Messias; die Pharisäer in dem Treiben des Dienstes
und Tun des gegenwärtigen Objektiven, einer völligen Vereini-
gung des Bewußtseins mit demselben;* die Sadduzäer in der
ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Existenz und der Zerstreuung eines
unwandelbaren Daseins, das nur durch Bestimmtheiten erfüllt
und dessen Unbestimmtheit nur als Möglichkeit eines Übergangs
zu andern Bestimmtheiten wäre; die Essener in einem Ewigen,
in einer Verbrüderung, die alles scheidende Eigentum, und was
*Weil sie außer dem Kreise ihres Wirkens, in welchem sie Herren waren,
bei seiner Unvollständigkeit noch ihnen fremde Mächte fühlten, so glaubten
sie an die Vermengung eines fremden Schicksals mit der Macht ihres
Willens und ihrer Tätigkeit
DAS LEBEN JESU 109
damit zusammenhängt, ausschlösse, und sie zu einem lebendigen
Einen ohne Mannigfaltigkeit machte, in einem gemeinsamen
Leben, das von allen Verhältnissen der Wirklichkeit unabhängig
wäre, dessen Genuß sich auf die Gewohnheit des Zusammenseins
gründete, eines Zusammenseins, das durch die völlige Gleichheit
der Mitglieder von keiner Mannigfaltigkeit gestört würde. Um
so durchgängiger die Abhängigkeit der Juden von ihrem Gesetz
war, um so größer mußte ihr Eigensinn sein in dem, worin sie
noch einen Willen haben konnten, und dies einzige war ihr Dienst
selbst, wenn er eine Entgegensetzung fand. Mit so leichtem Sinn
sie sich verführen ließen, ihrem Glauben untreu zu werden, wenn
das ihm Fremde sich ihnen — wenn sie nicht in Not und ihr
dürftiger Genuß befriedigt war — nicht als Feindliches nahte, so
hartnäckig kämpften sie für ihren Dienst, wenn er angegriffen
wurde. Sie stritten für ihn als Verzweifelte. Sie waren selbst
fähig, im Kampf für ihn seine Gebote, z. B. die Feier des Sabbats
zu übertreten, die sie auf Befehl eines andern mit Bewußtsein zu
verletzen durch keine Gewalt vermocht werden konnten, und so
wie das Leben in ihnen mißhandelt, wie in ihnen nichts
Unbeherrschtes, nichts Heiliges gelassen war, so wurde ihr
Handeln zur unheiligsten Raserei, zum wütendsten Fanatismus.
Das große Trauerspiel des jüdischen Volkes ist kein griechisches
Trauerspiel. Es kann nicht Furcht, noch Mitleiden erwecken,
denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen
Fehltritts eines schönen Wesens; jenes kann nur Abscheu erwek-
ken. Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Mac-
beths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Menschen
hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur
zertreten und ermorden, von seinen Göttern endlich verlassen —
denn es waren Objekte, er war Knecht — und an seinem Glauben
selbst zerschmettert werden mußte. (Lücke der Handschrift)
. . . und seine Freunde ihm entreißt. So weit Jesus die Welt
nicht verändert sieht, so weit flieht er sie und alle Beziehungen
mit ihr. So viel er mit dem ganzen Schicksal seines Volkes zu-
sammenstößt, verhält er sich, wenn sein Verhalten ihm auch wider-
sprechend scheint, passiv gegen dasselbe. «Gebt dem Kaiser, was
des Kaisers ist», sagte er, als die Juden die Seite ihres Schicksals,
HO G.W. F. HEGEL
den Römern zinsbar zu sein, gegen ihn zur Sprache brachten.
Als es ihm widersprechend schien, daß er und seine Freunde auch
den Tribut, der auf die Juden gelegt war, bezahlen sollten, hieß er
ihn, um keinen Anstoß zu geben, den Petrus bezahlen. Er stand
mit dem Staate in dem einzigen Verhältnis, innerhalb seiner Ge-
richtsbarkeit sich aufzuhalten, und der Folge dieser Macht über
ihn unterwarf er sich mit Widerspruch seines Geistes, mit Be-
wußtsein leidend. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt;
allein es ist für dasselbe eine große Verschiedenheit, ob ihm diese
Welt als entgegengesetzt vorhanden oder nicht existiert, nur
möglich ist. Da jenes der Fall war und Jesus mit Bewußtsein
vom Staate litt, so ist mit diesem Verhältnis zum Staate schon
eine große Seite lebendiger Vereinigung, für die Mitglieder des
Reiches Gottes ein wichtiges Band abgeschnitten, ein Teil der
Freiheit, des negativen Charakters eines Bandes der Schönheit,
eine Menge tätiger Verhältnisse, lebendiger Beziehungen verloren.
Die Bürger des Reiches Gottes werden einem feindseligen Staate
entgegengesetzte, von ihm sich ausschließende Privatpersonen.
Diese Beschränkung des Lebens erscheint übrigens mehr als die
Gewalt einer fremden herrschenden Macht über äußere Dinge,
die selbst mit Freiheit aufgegeben werden können, als ein Raub
am Leben für diejenigen, die nie in einer solchen Vereinigung
tätig waren, nie dieses Bundes und dieser Freiheit genossen haben,
besonders wenn das staatsbürgerliche Verhältnis vorzüglich nur
Eigentum betrifft ; was an Menge der Beziehungen, an Mannig-
faltigkeit froher und schöner Bande verloren geht, ersetzt sich
durch Gewinn an isolierter Individualität und dem engherzigen
Bewußtsein von Eigentümlichkeiten; aus der Idee des Reiches
Gottes sind zwar alle durch einen Staat gegründeten Verhältnisse
ausgeschlossen, welche unendlich tiefer stehen als die lebendigen
Beziehungen des göttlichen Bundes und von einem solchen nur
verachtet werden können; aber wenn er vorhanden war und Jesus
oder die Gemeine ihn nicht aufheben konnte, so bleibt das
Schicksal Jesu und seiner ihm hierin treu bleibenden Gemeine
ein Verlust an Freiheit, eine Beschränkung des Lebens, eine
Passivität in der Beherrschung durch eine fremde Macht, die
man verachtet, die aber doch das Wenige, das Jesus von ihr
DAS LEBEN JESU iii
brauchte, Existenz unter seinem Volk, ihm unvermindert über-
ließ.
Außer dieser Seite des Lebens, die vielmehr nicht Leben, nur
Möglichkeit des Lebens genannt werden kann, hatte sich der
jüdische Geist nicht nur aller Modifikationen des Lebens be-
mächtigt, sondern sich in ihnen auch zum Gesetz als Staat ge-
macht, und die reinsten, unmittelbarsten Formen der Natur zu
bestimmten Gesetzlichkeiten verkrüppelt. Im Reiche Gottes kann
es keine Beziehung geben, als die aus der rücksichtlosesten Liebe
und damit der höchsten Freiheit hervorgeht, die von der Schön-
heit allein die Gestalt ihrer Erscheinung und ihr Verhältnis zu
der Welt erhält. Wegen der Verunreinigung des Lebens konnte
Jesus das Reich Gottes nur im Herzen tragen, mit Menschen nur
in Beziehung treten, um sie zu bilden, um den guten Geist, an
den er in ihnen glaubte, zu entwickeln, um erst Menschen zu
schaffen, deren Welt die seinige wäre. Aber in seiner wirklichen
Welt mußte er alle lebendigen Beziehungen fliehen, weil alle unter
dem Gesetze des Todes lagen, die Menschen unter der Gewalt
des Jüdischen gefangen waren. Durch ein von beiden Seiten
freies Verhältnis wäre er in einen Bund mit dem Gewebe jüdischer
Gesetzlichkeiten eingetreten, und um seine eingegangene Be-
ziehung nicht zu entheiligen oder zu zerreißen, hätte er sich von
seinen Fäden müssen umschhngen lassen und so konnte er die
Freiheit nur in der Leere finden, weil jede Modifikation des
Lebens gebunden war.
Darum isoliert sich Jesus von seiner Mutter, seinen Brüdern
und Verwandten. Er durfte kein Weib lieben, keine Kinder zeugen,
nicht Familienvater, nicht Mitbürger werden, der mit den andern
des Zusammenlebens genösse. Das Schicksal Jesu war, vom Schick-
sal seiner Nation zu leiden, entweder es zu dem seinigen zu
machen und seine Notwendigkeit und seine Genüsse zu teilen, und
seinen Geist mit dem ihrigen zu vereinigen, aber das Göttliche
aufcMopfern, oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen,
sein Leben aber unentwickelt und ungenossen in sich zu erhalten,
in keinem Falle die Natur zu erfüllen, in jenem nur Fragmente
von ihr, und auch diese verunreinigt zu fühlen, in diesem sie voll-
ständig zum Bewußtsein zu bringen, aber ihre Gestalt nur als einen
112 G.W. F. HEGEL
glänzenden Schatten, dessen Wesen höchste Wahrheit ist. zu er-
kennen, aber dem Gefühle derselben, ihrer Belebung in Tat und
Wirklichkeit zu entsagen. Jesus wählte das letztere Schicksal, die
Trennung seiner Natur und der Welt, und verlangte dasselbe von
seinen Freunden : « Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr
liebt, als mich, ist meiner nicht würdig.» Je tiefer er aber diese
Trennung fühlte, desto weniger konnte er sie ruhig tragen, und
seine Tätigkeit war die mühevolle Reaktion seiner Natur gegen
die Welt; und sein Kampf war rein und erhaben, weil er das
Schicksal in seinem ganzen Umfang erkannt und sich gegenüber-
gesetzt hatte. Sein und seiner von ihm gestifteten Gemeine Wider-
stand gegen die \'erdorbenheit mußte diese Verdorbenheit sich
selbst und dem von ihr noch freien Geist zum Bewußtsein bringen,
und ihr Schicksal mit sich entzweien. Der Kampf des Reinen
mit dem Unreinen ist ein erhabener Anblick, der sich aber bald
in einen gräßlichen verwandelt, wenn das Heilige selbst vom Un-
heiligen gelitten und eine Amalgamation beider mit der Anmaßung,
rein zu sein, gegen das Schicksal wütet, indem es selbst noch
unter ihm gefangen liegt. Jesus sah die ganze Gräßlichkeit dieser
Zerüttung voraus. «Ich kam nicht, sagte er, der Erde Frieden zu
bringen, sondern das Schwert; ich kam, den Sohn gegen seinen
Vater zu entzweien, die Tochter gQgen ihre Mutter, die Braut
gegen ihren Schwieger.» Was zum Teil sich vom Schicksal los-
gesagt hat, zum Teil aber im Bunde damit steht, mit oder ohne
Bewußtsein dieser Vermischung, muß sich und die Natur um so
fürchterlicher zerreißen und bei der Vermischung der Natur und
Unnatur muß der Angriff auf die letztere auch die erstere treffen,
der Weizen mit dem Unkraut zertreten und das Heiligste der
Natur selbst verletzt werden, weil es in das Unheilige verflochten
ist. Die Folgen vor Augen, dachte Jesus nicht daran, seine Wirk-
samkeit zurückzuhalten, um der Welt ihr Schicksal zu ersparen,
ihre Zuckungen zu mildern und ihr im Untergange den trösten-
den Glauben an Schuldlosigkeit zu lassen.
Die Existenz des Jesus war also Trennung von der Welt und
Flucht von ihr in den Himmel, Wiederherstellung des leer aus-
gehenden Lebens in der Idealität, bei jedem Widerstreitenden Er-
innerung und Emporschauen zu Gott, aber zum Teil Betätigung
DAS LEBEN JESU 113
des Göttlichen und insofern Kampf mit dem Schicksal, teils in
Verbreitung des Reiches Gottes, mit dessen Darstellung das ganze
Reich der Welt in sich zusammenfiel und verschwand, teils in
unmittelbarer Reaktion gegen einzelne Teile des Schicksals, so
wie sie an ihm gerade anstießen, außer gegen den Teil des Schick-
sals, der unmittelbar als Staat erschien, und auch in Jesu zum Be-
wußtsein kam, gegen welchen er sich passiv verhielt.
Das Schicksal Jesu war nicht ganz das Schicksal seiner Ge-
meine. Da sie ein aus mehreren Zusammengesetztes war, die
zwar in gleicher Trennung von der Welt lebten, so fand jedes
Mitglied mehrere ihm gleich Gestimmte; sie hielten sich zusammen
und konnten sich in der Wirklichkeit von der Welt entfernter
halten und da damit des Zusammentreffens und Widerstoßens an
ihr weniger war, so wurden sie weniger von ihr gereizt, lebten
in der negativen Tätigkeit des Kampfes und das Bedürfnis nach
positivem Leben mußte in ihnen größer werden, denn Gemein-
schaftlichkeit des Negativen gibt keinen Genuß, ist keine Schönheit.
Aufhebung des Eigentums, eingeführte Gütergemeinschaft, ge-
meinschaftUches Mahl gehört mehr zum Negativen der Ver-
einigung, als daß es eine positive Vereinigung wäre. Das Wesen
ihres Bundes war Aussonderung von den Menschen und Liebe
untereinander; beides ist notwendig verbunden. Diese Liebe sollte
und konnte nicht eine Vereinigung der Individualitäten sein,
sondern die Vereinigung in Gott; und in Gott allein, im Glauben
kann nur das sich vereinigen, was einer Wirklichkeit sich entgegen-
setzt, von ihr sich aussondert. Damit war diese Entgegensetzung
fixiert und ein wesentlicher Teil des Prinzips des Bundes, und die
Liebe mußte immer die Form der Liebe, des Glaubens an Gott
behalten, ohne lebendig zu werden und in Gestalten des Lebens
sich darzustellen, w^eil jede Gestalt des Lebens entgegensetzbar ist,
vom Verstand als sein Objekt, als eine Wirklichkeit gefaßt w^erden
kann ; und das Verhältnis gegen die Welt mußte zu einer Ängst-
lichkeit vor ihren Berührungen werden, einer Furcht vor jeder
Lebensform, weil in jeder sich, da sie Gestalt hat und nur eine
Seite ist, ihr Mangel aufzeigen läßt und dies Mangelnde ein Anteil
an der Welt ist. So fand also der Bund der Gemeine keine Aus-
söhnung des Schicksals, aber das entgegengesetzte Extrem des
Hegel, Das Leben Jesu 8
114 G.W. F. HEGEL
jüdischen Geistes, nicht die Mitte der Extreme in der Schön-
heit.
Der jüdische Geist hatte die Modifikationen der Natur, die Ver-
hältnisse des Lebens zu WirkHchkeiten fixiert, aber als Gaben des
Herrschers schämte er sich der Dürftigkeit derselben nicht nur
nicht, sondern sein Stolz und sein Leben war der Besitz von
Wirklichkeiten. Der Geist der christlichen Gemeine sah gleich-
falls in jedem Verhältnis die sich entwickelnden und darstellenden
Lebenswirklichkeiten ; aber da ihm als Empfindung der Liebe die
Objektivität der größte Feind war, so blieb er ebenso arm, als der
jüdische, aber er verschmähte den Reichtum, um dessentwillen
der jüdische diente.
Der negativen Seite des Schicksals der christlichen Gemeine,
der die Modifikationen des Lebens zu Bestimmtheiten und die
Beziehungen mit ihnen also zu Verbrechen machenden Entgegen-
setzung gegen die Welt, steht die positive Seite, das Band der
Liebe gegenüber. Durch die Ausdehnung der Liebe auf eine ganze
Gemeine kommt in den Charakter derselben, daß sie nicht eine
lebendige Vereinigung der Individualitäten ist, sondern daß ihr
Genuß sich aufs gegenseitige Bewußtsein, daß sie sich lieben, be-
schränkt. Die Schicksallosigkeit durch die Flucht in unerfülltes
Leben war den Mitgliedern der Gemeine darin erleichtert, daß sie
eine Gemeine ausmachten, die sich aller Formen des Lebens gegen-
einander enthielt, oder sie nur durch den allgemeinen Geist der
Liebe bestimmte, d. h. nicht in diesen Formen lebte.
Diese Liebe ist ein göttlicher Geist, aber noch nicht Religion.
Daß sie dazu würde, mußte sie zugleich in einer objektiven Form
sich darstellen; sie, eine Empfindung, ein Subjektives, mußte mit
dem Vorgestellten, dem Allgemeinen zusammenschmelzen, und
damit die Form eines anbetungsfähigen und würdigen Wesens
gewinnen. Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die
Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen,
den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, in einem
Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste des menschlichen
Geistes ist der Trieb nach Religion. Diesem Trieb der christHchen
Gemeine konnte Glaube an Gott nicht Befriedigung sein. Denn
in ihrem Gotte mußte nur ihre gemeinschaftliche Empfindung
DAS LEBEN JESU 115
sich finden. In dem Gotte der Welt sind alle Wesen vereinigt;
die Mitglieder der Gemeine sind als solche nicht in ihm; ihre
Harmonie ist nicht die Harmonie des Ganzen, sonst machten sie
keine besondere Gemeine aus, sonst wären sie nicht untereinander
durch Liebe verbunden; die Gottheit der Welt ist nicht die Dar-
stellung ihrer Liebe, ihres Göttlichen. Das Bedürfnis des Jesus
nach Religion war in dem Gotte des Ganzen befriedigt; denn sein
Aufblick zu ihm war jeder seiner beständigen Anstöße an der
Welt, seine Flucht vor ihr. Er bedurfte nur des der Welt Ent-
gegengesetzten, in dem seine Entgegensetzung selbst gegründet
war; er war sein Vater, er war einig mit ihm. Aber bei seiner
Gemeine fiel der beständige Anstoß an der Welt mehr weg; sie
lebte ohne tätigen Kampf gegen sie und war insoweit glücklich,
nicht beständig von ihr gereizt zu werden und daher nicht allein
nur zum Entgegengesetzten, zu Gott fliehen zu müssen, sondern
sie fand in ihrer Gemeinschaft, in ihrer Liebe einen Genuß, ein
Reelles, eine Art lebendigen Verhältnisses. Nur da jede Beziehung
dem Bezogenen entgegengesetzt, die Empfindung noch die Wirk-
lichkeit, oder, subjektiv ausgedrückt, das Vermögen derselben, den
Verstand, als sich entgegengesetzt hat, so muß ihr Mangel in
einem beides Vereinigenden ergänzt werden. Die Gemeine hat
das Bedürfnis eines Gottes, der der Gott der Gemeine ist, in dem
gerade die ausschließende Liebe, ihr Charakter, ihre Beziehung zu-
einander dargestellt ist, nicht als ein Symbol, oder Allegorie, nicht
als eine Personifikation eines Subjektiven, bei welcher man sich
der Trennung desselben von seiner Darstellung bewußt wäre,
sondern das zugleich im Herzen, zugleich die Empfindung und
Gegenstand ist, Empfindung als Geist, der alle durchweht und ein
Wesen bleibt, wenn auch jeder Einzelne seiner Empfindung als
seiner einzelnen bewußt wird.
Es ist nicht die Knechtsgestalt, die Erniedrigung selbst, an
welcher als der Hülle des Göttlichen sich der Trieb nach Religion
stieße, wenn die Wirklichkeit sich damit begnügte, Hülle zu sein
und vorüberzugehen ; aber so soll sie fest und bleibend noch an
und in dem Gotte zu seinem Wesen gehören und die Individualität
Gegenstand der Anbetung sein ; und die im Grabe abgestreifte Hülle
der Wirklichkeit ist aus dem Grabe wieder emporgestiegen und
ii6 G.W. F. HEGEL
hat sich dem Gotterstandenen angehängt. Dies der Gemeine
trauriges Bedürfnis eines WirkUchen hängt tief mit ihrem Geiste
und seinem Schicksale zusammen. Ihre jede Lebensgestalt zum
Bewußtsein eines Objektes bringende und sie somit verachtende
Liebe hatte in dem Erstandenen zwar sich selbst als gestaltet er-
kannt, er war aber für sie nicht bloß die Liebe; denn da ihre Liebe
von der Welt abgeschieden sich nicht in der Entwickelung des
Lebens, noch in seinen schönen Beziehungen und in der Aus-
bildung der natürlichen Verhältnisse darstellte, da die Liebe Liebe
sein und nicht leben sollte, so mußte irgend ein Kriterium der
Erkenntnis derselben zur Möglichkeit des gegenseitigen Glaubens
an sie vorhanden sein. Weil die Liebe nicht selbst die durch-
gängige Vereinigung stiftete, so bedurfte es eines andern Bandes,
das die Gemeine verknüpfte und worin sie zugleich die Gewißheit
der Liebe aller fände. Sie mußte sich an einer Wirklichkeit er-
kennen. Diese war nun die Gleichheit des Glaubens, die Gleichheit,
eine Lehre empfangen, einen gemeinschaftUchen Meister und Leh-
rer zu haben. Dies ist eine auszeichnende Seite des Geistes der Ge-
meine, daß das Göttliche, das sie Vereinigende die Form eines
Gegebenen für sie hat. Dem Geiste, dem Leben wird nichts ge-
geben; was er empfangen hat, das ist er selbst geworden, das ist
so in ihn übergegangen, daß es jetzt eine Modifikation desselben,
daß es sein Leben ist. Aber in der Lebenslosigkeit der Liebe der
Gemeine blieb der Geist ihrer Liebe so dürftig, fühlte sich so leer,
daß er den Geist, der an ihn ansprach, nicht voll in sich lebendig
erkennen konnte und ihm fremd blieb. Eine \'erknüpfung mit
einem fremden und als fremd gefühlten Geist ist Bewußtsein der
Abhängigkeit von ihm. Da die Liebe der Gemeine einesteils sich
selbst übersprungen hatte, indem sie sich auf eine ganze Ver-
sammlung von Menschen ausdehnte, und darum andernteils an
idealischem Lihalt zwar voll, an Leben aber verlor, so war das
nicht erfüllte Ideal der Liebe ein Positives für sie, sie erkannte es
als entgegengesetzt und sich als abhängig von ihm; in ihrem
Geiste lag das Bewußtsein der Jüngerschaft und eines Herrn und
Meisters; ihr Geist war nicht in der gestalteten Liebe vollständig
dargestellt ; die Seite desselben, eine Lehre empfangen zu haben und
zu lernen und tiefer als der Meister zu stehen, fand ihre Darstellung
DAS LEBEN JESU 117
in der Gestalt der Liebe, wenn mit dieser zugleich eine Wirklich-
keit verknüpft war, die der Gemeine gegenüberstand.
Dieses höhere Entgegengesetzte ist nicht die Erhabenheit des
Gottes, die dieser notwendig hat, weil in ihm der Einzelne nicht
sich selbst als ihm gleich erkennt, sondern in ihm der ganze Geist
all der Vereinigten enthalten ist, — sondern sie ist ein Positives,
Objektives, das so viel fremde Herrschaft in sich hat, als im Geist
der Gemeine Abhängigkeit ist. In dieser Gemeinschaft der Ab-
hängigkeit, der Gemeinschaft, durch einen Stifter zu sein, in dieser
Einmischung eines GeschichtHchen, WirkUchen in ihr Leben, er-
kannte die Gemeine ihr reelles Band, die Sicherheit der Vereini-
gung, die in der unlebendigen Liebe nicht zum Gefühl kommen
konnte. Dies ist der Punkt, an welchem die Gemeine, die in der
außer allem Bündnis mit der Welt unvermischt sich erhaltenden
Liebe allem Schicksal entgangen zu sein schien, von ihm ergriffen
wurde, von einem Schicksale, dessen Mittelpunkt die Ausdehnung
der alle Beziehungen fliehenden Liebe auf eine Gemeine war, das
sich teils in der Ausdehnung der Gemeine selbst um so mehr ent-
wickelte, teils durch diese Ausdehnung immer mehr mit dem
Schicksal der Welt zusammentraf, sowohl indem es bewußtlos in
sich viele Seiten von ihm aufnahm, als indem es gegen dasselbe
kämpfte, sich immer mehr verunreinigte.
Das ungöttliche Objektive, für welches auch Anbetung gefordert
wird, wird durch den Glanz, der es umstrahlt, nie zu einem Gött-
lichen. Zwar umgeben auch den Menschen Jesum [göttliche] sinn-
liche Erscheinungen; um seine Geburt sind höhere Wesen be-
schäftigt, [um seine Person zeigt sich einigemal ein höherer Glanz],
er selbst wird einmal in eine strahlende Lichtgestalt verklärt.
Aber auch diese Formen von Himmlischem sind nur außer dem
Wirklichen ; [der Liebling Gottes bleibt nur ein Mensch, er wandelt
in niedriger Gestalt umher] und dies Göttliche um das Individuum
dient nur, den Kontrast desto mehr in die Augen fallen zu machen.
Noch weniger als solche vorübergehende Nimbusse können die
Tätigkeiten, die für Götthches angesehen werden und aus ihm
selbst kommen, in die höhere Gestalt ihn erheben. Die Wunder,
die ihn nicht bloß umschweben, sondern aus seiner innern Kraft
hervorgehen, scheinen eines Gottes würdige Attribute, einen Gott
ii8 G.W. F. HEGEL
zu charakterisieren; in ihnen scheint das Göttliche aufs innigste
mit dem Objektiven vereinigt und somit die harte Entgegensetzung
und lose Verknüpfung Entgegengesetzter hier wegzufallen; jene
wundersamen Wirksamkeiten vollbringt der Mensch, er und das
Göttliche scheinen unzertrennbar. Allein je näher die Verknüp-
fung ist, die doch keine Vereinigung wird, um so härter fällt das
Unnatürliche der verknüpften Entgegengesetzten auf.
Wenn ein Gott wirkt, so ist es nur von Geist zu Geist. Die
Wirksamkeit setzt einen Gegenstand voraus, auf welchen gewirkt
wird, aber die Wirkung des Geistes ist die Aufhebung desselben ;
das Herausgehen des Göttlichen ist nur eine Enr^vickelung, indem
es das Entgegengesetzte aufhebt, in der Vereinigung darstellt.
Aber in den Wundern erscheint der Geist auf Körper wirkend.
Die Ursache wäre nicht gestalteter Geist, dessen Gestalt bloß in
seiner Entgegensetzung betrachtet, als Körper, einem andern gleich
und entgegensetzbar in den Zusammenhang von Ursache und
Wirkung treten könnte ; dieser Zusammenhang wäre eine Gemein-
schaft des Geistes, der nur insofern Geist ist, als er nichts mit dem
Körper gemein hat und des Körpers, der Körper ist. [Diese Wir-
kungsart setzt gerade eine Trennung des Göttlichen selbst voraus,
die sogar auch in der Verbindung noch bleibt. Wunder ist die
Darstellung des Ungöttlichsten, eine Beherrschung des Toten,
nicht eine Vermählung verwandter Wesen und Erzeugung neuer,
sondern die Herrschaft des Geistes, weil dem Körper mit dem
Geiste nichts gemein ist. Die Ungleichartigen, die als Ursache
und Wirkung verbunden sind, sind in einem Begriffe eins; aber
Geist und Körper, Lebendiges und Totes haben nichts gemein;
ihre Verbindung ist nicht einmal in einem Begriffe möglich und
sie können sich gar nicht als Ursache und Wirkung zusammen-
verhalten ; denn sie sind absolut entgegengesetzt.] Ihre Vereini-
gung, in welcher ihre Entgegensetzung aufhört, ist ein Leben,
das ist gestalteter Geist. Und wenn dieser als Göttliches, Unge-
trenntes wirkt, so ist sein Tun eine Vermählung mit verwandtem
Wesen, mit Göttlichem, und Erzeugung, Entwickelung von Neuem,
die Darstellung ihrer Vereinigung. Sofern aber der Geist in einer
andern, entgegengesetzten Gestalt, als Feindliches, Beherrschendes
wirkt, so hat er seine Göttlichkeit vergessen. Wunder sind darum
DAS LEBEN JESU 119
die Darstellung des Ungöttlichsten, weil sie das Unnatürlichste
sind und die härteste Entgegensetzung des Geistes und Körpers
in ihrer ganzen ungeheuren Roheit verknüpft enthalten. Gött-
liches Tun ist Wiederherstellung und Darstellung der Einigkeit,
Wunder die höchste Zerreißung.
In dem Wunder als einer Handlung wird dem Verstand ein
Zusammenhang von Ursache und Wirkung gegeben und das Ge-
biet seiner Begriffe anerkannt. Zugleich aber wird sein Gebiet
damit zerstört, daß die Ursache nicht ein so Bestimmtes, als die
Wirkung ist, sondern ein Unendliches sein soll, da der Zusammen-
hang der Ursache und Wirkung im Verstände die Gleichheit der
Bestimmtheit ist, ihre Entgegensetzung nur die, daß im einen diese
Bestimmtheit Tätigkeit, im andern Leiden ist. Hier soll zugleich
in der Handlung selbst ein Unendliches mit unendHcher Tätigkeit
eine höchst beschränkte Wirkung haben. Nicht die Aufhebung
des Gebiets des Verstands, sondern daß es zugleich gesetzt und
aufgehoben wird, ist das Unnatürliche. So wie nun einerseits das
Setzen einer unendlichen Ursache dem Setzen einer endlichen
Wirkung widerspricht, ebenso hebt das Unendliche die bestimmte
Wirkung auf Dort aus dem Gesichtspunkte des Verstandes an-
gesehen ist das Unendliche nur ein Negatives, das Unbestimmte,
an das ein Bestimmtes angeknüpft wird; hier von der Seite des
Unendlichen als eines Seienden ist es ein Geist, der wirkt, und
die Bestimmtheit der Wirkung eines Geistes ist ihre negative Seite;
nur aus einem andern Gesichtspunkte in der Vergleichung kann
seine Handlung bestimmt erscheinen; an sich, ihrem Sein nach,
ist sie die Aufhebung einer Bestimmtheit und in sich unendlich.
[Durch die Erniedrigung des Göttlichen zu einer Ursache ist
der Mensch nicht zu ihm emporgehoben. Ein Wunder ist eine
wahre creatio ex nihilo, und kein Gedanke paßt so wenig zum
Göttlichen als dieser; denn es ist die Vernichtung oder die Er-
schaffung einer ganz fremden Kraft, die wahre actio in distans ;
und statt daß im wahren Göttlichen Einigkeit ist, und Ruhe ge-
funden wird, so ist das Göttliche des Wunders die völligste
Zerreißung.]
Die rege gemachte Erv^'^artung also, die mit dem verklärten, zum
Gotte erhobenenjesu vergesellschaftete Wirklichkeit durch wunder-
120 G.W. F. HEGEL
bare Tätigkeit dieses Wirklichen zur Göttlichkeit zu erheben, wird
also so gar nicht erfüllt, daß sie vielmehr die Härte dieser Bei-
fügung eines Wirklichen um so mehr erhöht. Doch ist sie für
uns um so viel größer, als für die Mitglieder der ersten christ-
lichen Gemeine, um so viel mehr wir Verstand haben, als diese,
die vom orientalischen Geiste angehaucht, die Trennung des
Geistes und des Körpers weniger vollendet, dem Verstand weniger
als Objekt überliefert hatten. Wo wir bestimmte Wirklichkeit,
geschichtliche Objektivität mit dem Verstände erkennen, da ist oft
für sie Geist; und wo wir nur den reinen Geist setzen, da ist er
ihnen noch bekörpert. \'on der letztern Art der Ansicht ist die
Form, in der sie das, was wir Unsterblichkeit und zwar Unsterb-
lichkeit der Seele nennen, ein Beispiel; sie erscheint ihnen als eine
Auferstehung des Leibes. Beide Ansichten sind die Extreme gegen
den griechischen Geist; jenes das Extrem der Vernunft, die eine
Seele, ein Negatives gegen allen Verstand und sein Objekt, den
toten Körper entgegensetzt, dieses das Extrem sozusagen eines
positiven Vermögens der Vernunft, die den Körper als lebendig
setzt, während sie zu gleicher Zeit ihn für tot annahm ; indes dem
Griechen Leib und Seele in einer lebendigen Gestalt bleibt, in
den beiden Extremen hingegen der Tod eine Trennung des Leibes
und der Seele ist, und in dem einen der Seele der Leib nicht mehr,
in dem anderen der Leib bleibt, der auch ohne Leben ist.
In anderem, wo wir nur mit dem Verstände Wirkliches oder,
welches ebensoviel ist, etwa fremden Geist erkennen, mischen
die ersten Christen ihren Geist bei. In den Schriften der Juden
sehen wir vergangene Geschichten, individuelle Lagen und ge-
wesenen Geist der Menschen, in den jüdischen gottesdienstlichen
Handlungen befohlenes Tun, dessen Geist, Zweck und Gedanke
für uns nicht mehr ist, keine Wahrheit mehr hat. Für sie hatte
dies alles noch Wahrheit und Geist, aber ihre Wahrheit, ihren
Geist, sie ließen es nicht objektiv werden. Der Geist, den sie
Stellen der Propheten und anderer jüdischen Bücher geben, ist in
ihrem Sinne weder in Rücksicht auf die Propheten die Meinung,
Voraussagungen von Wirklichkeiten in ihnen zu finden, noch von
ihrer Seite die Anwendung auf Wirklichkeit. Es ist ein ungewisses,
gestaltloses Schweben zwischen Wirklichkeit und Geist; es ist
DAS LEBEN JESU 121
einerseits in der Wirklichkeit nur der Geist betrachtet, andererseits
die Wirklichkeit selbst als solche betrachtet, aber nicht fixiert.
Um ein Beispiel anzuführen, bezieht Johannes (XII, 14 ff.) auf den
Umstand, daß Jesus auf einem Esel nach Jerusalem hineinzog,
einen Ausdruck der Propheten, dessen Begeisterung einen solchen
Aufzug sah, den Johannes in dem Aufzuge des Jesus seine Wahr-
heit finden läßt. Die Erweise, daß ähnhche Stellen der jüdischen
Bücher teils an sich unrichtig, gegen den Wortsinn des Original-
textes angeführt, teils gegen ihren Sinn, den sie durch ihren Zu-
sammenhang erhalten, erklärt seien, teils sich auf ganz andere
Wirklichkeiten, den Propheten gleichzeitige Umstände und
Menschen beziehen, teils nur isolierte Begeisterung der Propheten
seien, — alle diese Erweise treffen nur die Wirklichkeit der Be-
ziehung, die die Apostel zwischen ihnen und Lebensumständen
des Jesus aufstellen, nicht ihre Wahrheit und Geist, so wenig als
ihre Wahrheit in der strengen objektiven Annahme sichtbar ist,
daß die wirklichen Worte und Gesichte der Propheten der frühere
Ausdruck späterer Wirklichkeiten seien. Der Geist der Beziehung,
die die Freunde Christi zwischen den Gesichten der Propheten
und den Begebenheiten des Jesus finden, wäre zu schwach aufge-
faßt, wenn sie nur in die Vergleichung von Ähnlichkeit der Situ-
ationen gesetzt würde, in eine Vergleichung, wie wir der Dar-
stellung einer Lage oft den bestimmten Ausdruck alter Schrift-
steller hinzufügen. Johannes sagt bei dem oben angeführten Bei-
spiel ausdrücklich, daß die Freunde des Jesus erst nachdem Jesus
verklärt, nachdem der Geist über sie gekommen war, diese Be-
ziehung erkannten. Hätte Johannes einen bloßen Einfall, eine
bloße Ähnlichkeit Verschiedener in dieser Beziehung gesehen, so
hätte es dieser Bemerkung nicht bedurft ; so war aber im Geiste
jenes Gesicht des Propheten und dieser Umstand bei einer Hand-
lung Jesu eins; und da die Beziehung nur im Geiste ist, so fällt
die objektive Ansicht derselben, als eines Zusammentreffens von
Wirklichem, von Individuellem weg. Dieser Geist, der das Wirk-
liche so wenig fixiert oder es zu einem Unbestimmten macht, und
nichts Individuelles, sondern ein Geistiges darin erkennt, ist be-
sonders auch Joh. XI, 5 1 sichtbar, wo Johannes über die Maxime
des Kaiphas und deren Anwendung, daß es besser sei, ein Mensch
122 G.W. F. HEGEL
sterbe fürs Volk, als dies im ganzen in Gefahr komme, erinnert,
daß Kaiphas dies nicht für sich selbst als Individuum gesprochen
habe, sondern als Hoherpriester in prophetischer Begeisterung
(jxpo'fr;-:£j3sv). Was wir etwa unter dem Gesichtspunkte eines In-
strumentes der göttlichen \'orsehung ansehen würden, darin sah
Johannes ein vom Geiste Erfülltes, da der Charakter der Ansicht
Jesu und seiner Freunde nichts so sehr entgegengesetzt sein konnte,
als dem Gesichtspunkte, alles für Maschine, Werkzeug, Instrument
zu nehmen, sondern vielmehr der höchste Glaube an Geist war;
und da, wo man Einheit des Zusammentreffens von Handlungen
erblickt, denen für sich einzeln diese Einheit, die Absicht des
Ganzen oder Wirkung mangelt, und diese Handlungen (wie die
des Kaiphas) als ihr unterworfen, von ihr ohne Bewußtsein in ihrer
Beziehung auf die Einheit beherrscht, geleitet, als Wirklichkeiten
und Instrumente betrachtet, sieht Johannes Einheit des Geistes
und in dieser Handlung selbst den Geist der ganzen Wirkung
handelnd. Er spricht von Kaiphas als selbst von dem Geiste er-
füllt, in dem die Notwendigkeit des Schicksals des Jesus lag.
So verlieren denn auch, mit der Seele der Apostel gesehen, die
Wunder von der Härte, welche die Entgegensetzung des Geistes
und des Körpers in ihnen für uns hat, da es sichtbar ist, daß jenen
der europäische Verstand mangelte, der dem ins Bewußtsein
Kommenden so allen Geist entzieht und es zu absoluten Objek-
tivitäten, dem Geiste schlechthin entgegengesetzten Wirklichkeiten
fixiert, daß jene Erkenntnis vielmehr ein unbestimmtes Schweben
zwischen Wirklichkeit und Geist ist, das beide zwar noch trennte,
aber nicht so unwiderruflich trennte, sondern die unklare Ent-
gegensetzung schon gab, die bei größerer Entwickelung eine
Paarung des Lebendigen und Toten, des Göttlichen und Wirk-
lichen werden mußte, das durch die Beigesellung des wirklichen
Jesus zum verklärten, zum Gotte gewordenen, dem tiefsten Triebe
nach Religion Befriedigung zeigte, — aber nicht gewährte und
ihn zu einem unendlichen, unauslöschlichen und ungestillten
Sehnen machte; denn dem Sehnen steht in seiner höchsten
Schwärmerei, in den Verzückungen der feinst organisierten, die
höchste Liebe atmenden Seelen immer das Individuum, ein Ob-
jektives, Persönliches gegenüber, nach der Vereinigung mit
DAS LEBEN JESU 123
welchem alle Tiefen ihrer schönen Gefühle schmachteten, welche
Vereinigung aber, weil es ein Individuum ist, ewig unmöglich
ist, da es ihnen immer gegenüber, ewig in ihrem Bewußtsein
bleibt und die Religion nie zum vollständigen Leben werden läßt.
In allen Formen der christlichen Religion, die sich im fort-
gehenden Schicksal der Zeit entwickelt haben, ruht dieser Grund-
charakter der Entgegensetzung in dem Göttlichen, das allein im
Bewußtsein, nie im Leben vorhanden sein soll. Von den ver-
zückenden Vereinigungen des Schwärmers, der aller Mannig-
faltigkeit des Lebens, auch der reinsten, in welcher der Geist seiner
selbst genießt, entsagt und nur Gottes sich bewußt ist, also nur
im Tode die Entgegensetzung der Persönlichkeit wegschaffen
könnte, bis zur Wirklichkeit des mannigfaltigsten Bewußtseins,
der Vereinigung mit dem Schicksal der Welt und der Entgegen-
setzung Gottes gegen dasselbe, entweder der gefühlten Entgegen-
setzung bei allen Handlungen und Lebensäußerungen, die ihre
Rechtmäßigkeit durch die Empfindung der Dienstbarkeit und
Nichtigkeit ihrer Entgegensetzung erkaufen (wie in der katho-
lischen Kirche), oder der Entgegensetzung Gottes in bloßen mehr
oder weniger andächtigen Gedanken (wie bei der protestantischen
Kirche), entweder der Entgegensetzung eines hassenden Gottes
gegen das Leben, als eine Schande und ein Verbrechen (bei
einigen Sekten derselben), oder eines gütigen gegen das Leben und
seine Freuden als lauter empfangene Wohltaten und Geschenke
von ihm, als lauter Wirklichkeit, in welche dann auch die über
ihr schwebende Geistesform in der Idee eines göttlichen Menschen,
der Propheten usw. zu geschichtlicher, objektiver Ansicht herab-
gezogen wird, — zwischen diesen Extremen von dem mannigfal-
tigen oder verminderten Bewußtsein, der Freundschaft, des Hasses
oder der Gleichgültigkeit gegen die Welt, zwischen diesen Extre-
men, die sich innerhalb der Entgegensetzung Gottes und der Welt,
des Göttlichen und des Lebens befinden, hat die christliche Kirche
vor- und rückwärts den Kreis durchlaufen, aber es ist gegen ihren
wesentlichen Charakter, in einer unpersönlichen lebendigen Schön-
heit Ruhe zu finden und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat,
Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches
und weltliches Tun nie in eins zusammenschmelzen können.
124 G.W. F. HEGEL
Man kann den Zustand der jüdischen Bildung nicht einen Zu-
stand der Kindheit und ihre Sprache eine unentwickelte, kindliche
Sprache nennen. Es sind noch einige tiefen, kindlichen Laute
in ihr aufbehalten oder vielmehr wiederhergestellt worden, aber
die übrige schwere, gezwungene Art, sich auszudrücken, ist
vielmehr eine Folge der höchsten Mißbildung des Volkes, mit
welcher ein reineres Wesen zu kämpfen hat und von welcher es
leidet, wenn es sich in ihren Formen darstellen soll, welche es
nicht entbehren kann, da es selbst zu diesem Volke gehört.
Der Anfang des Evangeliums des Johannes enthält eine Reihe
thetischer Sätze, die in eigentlicherer Sprache über Gott und
Göttliches sich ausdrücken. Es ist die einfachste Reflexionssprache,
zu sagen: Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott,
und Gott w^ar der Logos, in ihm w^ar Leben. Aber diese Sätze
haben nur den täuschenden Schein von Urteilen, denn die Prädikate
sind nicht Begrifi"e, Allgemeines, wie der Ausdruck einer Reflexion
in Urteilen notwendig enthält, sondern die Prädikate sind selbst
wieder Seiendes, Lebendiges. Auch diese einfache Reflexion ist
nicht geschickt, das Geistige mit Geist auszudrücken. Nirgends
mehr als in Mitteilung des Göttlichen ist es für den Empfangenden
notwendig, mit eigenem tiefem Geiste zu fassen, nirgend ist es
weniger möglich, zu lernen, passiv in sich aufzunehmen, weil
unmittelbar jedes über Göttliches in Form der Reflexion Aus-
gedrückte widersinnig ist und die passive geistlose Aufnahme
desselben nicht nur den tieferen Geist leer läßt, sondern auch den
\'erstand, der es aufnimmt und dem es Widerspruch ist, darum
zerrüttet. Diese immer objektive Sprache findet daher allein im
Geiste des Lesers Sinn und Gewicht, und einen so verschiedenen,
als verschieden die Beziehungen des Lebens und die Entgegen-
setzung des Lebendigen und des Toten zum Bewußtsein gekommen
ist. Von den zwei Extremen, den Eingang des Johannes aufzu-
fassen, ist die subjektivste Art, den Logos als ein Wirkliches, ein
Individuum, die objektivste Art, ihn als Vernunft zu nehmen, dort
als ein Besonderes, hier als die Allgemeinheit, dort die eigenste,
ausschließendste Wirklichkeit, hier das bloße Gedachtsein. Gott
und Logos werden unterschieden, weil das Seiende in zweierlei
Rücksicht betrachtet werden muß, denn die Reflexion supponiert
DAS LEBEN JESU 125
das, dem sie die Form des Reflektierten gibt, zugleich als nicht
reflektiert, einmal als das Einige, in dem keine Teilung, Entgegen-
setzung ist und zugleich mit der Möglichkeit der Trennung, der
unendlichen Teilung des Einigen. Gott und Logos sind nur in-
sofern verschieden, als jener der Stoff" in der Form des Logos ist;
der Logos selbst ist bei Gott; sie sind eins. Die Mannigfaltigkeit,
die Unendlichkeit des Wirklichen ist die unendliche Teilung als
wirklich; alles ist durch den Logos; die Welt ist nicht eine
Emanation der Gottheit, denn sonst wäre das Wirkliche durchaus
ein Göttliches; aber als Wirkliches ist es Emanation, Teil der un-
endhchen Teilung, zugleich aber im Teile (iv aZzw fast besser auf
das nächste oGoä 'h 0 ^qovsv) oder in dem unendlich Teilenden
(iv aü-w auf Xö^o; bezogen) Leben. Jeder Teil, außer dem das Ganze
ist, ist zugleich ein Ganzes, ein Leben, und dies Leben wiederum
auch als ein reflektiertes, auch in Rücksicht der Teilung, des
Verhältnisses als Subjekt und Prädikat, ist Leben (Cojy;) und auf-
gefaßtes Leben («?&;), Wahrheit. Diese Endlichen haben Entgegen-
setzungen ; für das Licht gibt es Finsternis. Der Täufer Johannes
war nicht das Licht; er zeugte nur von ihm; er fühlte das Einige,
aber es kam nicht rein, nur in bestimmte Verhältnisse beschränkt,
zu seinem Bewußtsein. Er glaubte daran, aber sein Bewußtsein
war nicht gleich dem Leben; nur ein Bewußtsein, das dem Leben
gleich und nur darin verschieden ist, daß dieses das Seiende, jenes
dies Seiende als Reflektiertes ist, ist (?w;. Ungeachtet Johannes nicht
selbst das <f<üz war, so war es doch in jedem Menschen, der in die
Menschenwelt tritt (xo^iioc;, das Ganze der menschlichen Verhält-
nisse und menschlichen Lebens, beschränkter als rdvTc« I, 3 und
0 7qov£v). Nicht nur wie der Mensch in der Welt ist er cpomCöiisvo; ;
das cpöj; ist auch in der Welt selbst ; sie ist ganz ; alle ihre Beziehungen,
Bestimmungen sind das Werk des äv&pcüxou cfwxo;, des sich ent-
wickelnden Menschen, ohne daß die Welt, in der diese Verhält-
nisse leben, ihn, die zum Bewußtsein kommende ganze Natur,
erkennte, ohne daß sie ins Bewußtsein der Welt käme. Die
Menschenwelt ist sein Eigenstes [-zi l'oicc), das ihm Verwandteste,
und sie nehmen ihn nicht auf, sie behandeln ihn als fremd. Die
aber in ihm sich erkennen, erhalten dadurch Macht, die nicht eine
neue Kraft, ein Lebendiges ausdrückt, sondern nur den Grad, die
126 G.W. F. HEGEL
Gleichheit oder Ungleichheit des Lebens. Sie werden nicht ein
Anderes, aber sie erkennen Gott und sich als Kinder Gottes, als
schwächer als er, aber von gleicher Natur, insofern sie sich jener
Beziehung (övoiia) des av&ptürou cpwTiCoiiivou (pwTi äXr|9-iv(u bewußt werden,
ihr Wesen in nichts Fremdem, sondern in Gott findend.
Bisher war nur von der Wahrheit selbst und dem Menschen
im allgemeinen gesprochen; I, 14 erscheint der Logos auch in
der Modifikation als Individuum, in welcher Gestalt er sich auch
uns gezeigt hat, (iv8^puji:o; ipydiicvo; EtQ X03J10V, anders ist nichts da,
worauf das oütöv des Verses I, 10 und ff. gehen könnte). Nicht bloß
vom cpüj; (I, 7), auch vom Individuum zeugte Johannes (I, 15).
Die Idee von Gott mag noch so sublimiert werden, so bleibt
immer das jüdische Prinzip der Entgegensetzung des Gedankens
gegen die Wirklichkeit, des Vernünftigen gegen das Sinnliche, die
Zerreißung des Lebens, ein toter Zusammenhang Gottes und der
Welt, eine Verbindung, die wahrhaft nur als lebendiger Zusammen-
hang genommen und bei welcher von den Verhältnissen der Be-
zogenen nur mystisch gesprochen werden kann.
Der am häufigsten vorkommende und bezeichnendste Ausdruck
des Verhältnisses Jesu zu Gott ist, daß er sich Sohn Gottes nennt,
und sich als Sohn Gottes sich als dem Sohn des Menschen ent-
gegensetzt. Die Bezeichnung dieses Verhältnisses ist einer der
wenigen Naturlaute, die in der damaligen Judensprache zufällig
übriggeblieben war und daher unter ihre glücklichen Ausdrücke
gehört. Das Verhältnis eines Sohnes zum Vater ist nicht eine Ein-
heit, ein Begriff, wie etwa Einheit, Übereinstimmung der Gesin-
nung, Gleichheit der Grundsätze und dergleichen, eine Einheit,
die nur ein Gedachtes ist und vom Lebendigen abstrahiert, sondern
lebendige Beziehung Lebendiger, gleiches Leben, nur Modifika-
tionen desselben Lebens, nicht Entgegensetzung des Wesens, nicht
eine Mehrheit absoluter Substantialitäten; also Gottes Sohn, das-
selbe Wesen, das der Vater ist, aber für jeden Akt der Reflexion,
jedoch auch nur für ein solches, ein besonderes. Auch im Aus-
druck: ein Sohn des Stammes Koresch z. B., wie die Araber den
Einzelnen, ein Individuum desselben bezeichnen, liegt es, daß
dieser Einzelne nicht bloß ein Teil des Ganzen, das Ganze also
nicht etwas außer ihm, sondern er selbst eben das Ganze ist, das
DAS LEBEN JESU 127
der ganze Stamm ist. Es ist dies auch aus der Folge klar, die es
bei einem solchen natürlichen ungeteilten Volke auf seine Art
Krieg zu führen hat, indem jeder Einzelne aufs grausamste nieder-
gemacht wird; im jetzigen Europa hingegen, wo jeder Einzelne
nicht das Ganze des Staates in sich trägt, sondern das Band nur
ein Gedachtes, das gleiche Recht für alle ist, wird darum nicht
gegen den Einzelnen, sondern gegen das außer jedem liegende
Ganze Krieg geführt; wie bei jedem echt freien Volk, so ist bei
den Arabern jeder ein Teil, aber zugleich das Ganze. Nur von
Objekten, von Toten gilt es, daß das Ganze ein Anderes ist, als
die Teile, im Lebendigen hingegen der Teil desselben eben so
wohl und dasselbe Eins, als das Ganze. Wenn die besonderen
Objekte als Substanzen, doch zugleich jedes mit seiner Eigenschaft
als Individuum (in Zahlen) zusammengefaßt werden, so ist ihr
Gemeinsames, die Einheit, nur ein Begriff, nicht ein Wesen, ein
Seiendes; aber die Lebendigen sind Wesen als abgesonderte und
ihre Einheit ist ebensowohl ein Wesen. Was im Reich des Toten
Widerspruch ist, ist es nicht im Reiche des Lebens. Ein Baum,
der drei Äste hat, macht mit ihnen zusammen einen Baum, aber
jeder Sohn des Baumes, jeder Ast, auch seine andern Kinder,
Blätter und Blüten, ist selbst ein Baum; die Fasern, die dem Aste
Saft aus dem Stamm zuführen, sind von der gleichen Natur der
Wurzeln; ein Baum, umgekehrt in die Erde gesteckt, wird aus
den in die Luft gestreckten Wurzeln Blätter treiben und die Zweige
werden sich in die Erde einwurzeln; und es ist eben so wahr, daß
hier nur ein Baum ist, als daß es drei Bäume sind.
Diese Weseneinheit des Vaters und des Sohnes in der Göttlich-
keit fanden auch die Juden in dem Verhältnisse, das sich Jesus zu
Gott gab. Sie fanden (Job. V, 18), er mache sich selbst Gott gleich,
indem er Gott seinen Vater nenne. Dem jüdischen Prinzip der
Herrschaft Gottes konnte Jesus zwar die Bedürfnisse des Menschen
entgegenstellen (wie das Bedürfnis, den Hunger zu befriedigen, der
Feier des Sabbats), aber auch dies nur im allgemeinen. Die tie-
fere Entwickelung dieses Gegensatzes, etwa ein Primat der prak-
tischen Vernunft, war nicht in der Bildung jener Zeiten. In seiner
Entgegensetzung stand er vor den Augen nur als Individuum.
Den Gedanken dieser Individualität zu entfernen, beruft sich Je-
128 G.W. F. HEGEL
sus, besonders bei Johannes, immer auf seine Einigkeit mit Gott,
der dem Sohne Leben in sich selbst zu haben gegeben, wie der
\'ater selbst Leben in sich selbst habe; daß er und der Vater eins
sei; er sei Brot, vom Himmel herabgestiegen, usw.: harte Aus-
drücke (3x"/,y;poL )Ayj:) , welche dadurch nicht milder werden, daß man
sie für bildliche erklärt und ihnen, statt sie mit Geist als Leben zu
nehmen, Einheiten der Begriffe unterschiebt. Freilich, sobald man
Bildlichem die Verstandesbegriffe entgegensetzt und die letzteren
zum Herrschenden annimmt, so muß alles Bild nur als Spiel, als
Beiwesen der Einbildungskraft ohne Wahrheit, beseitigt werden
und statt des Lebens des Bildes bleibt nur Objektives.
Jesus nennt sich aber nicht nur der Sohn Gottes, er nennt sich
auch Sohn des Menschen. Wenn Sohn Gottes eine Modifikation
des Göttlichen ausdrückt, so wäre ebenso Sohn des Menschen eine
Modifikation des Menschen. Aber der Mensch ist nicht eine Na-
tur, ein Wesen, wie die Gottheit, sondern ein Begriff, ein Ge-
dachtes; und der Menschensohn heißt ein dem Begriffe Mensch
Subsumiertes. Jesus ist Mensch, ist ein eigentliches Urteil; das
Prädikat ist nicht ein Wesen, sondern ein Allgemeines (<zv»p(.)-o;
der Mensch, u-o; rh^6i-<i'j ein Mensch). Der Gottessohn ist auch
Menschensohn; das Göttliche in einer besonderen Gestalt erscheint
als ein Mensch. Der Zusammenhang des Unendlichen und des
EndUchen ist freihch ein heiliges Geheimnis, weil dieser Zu-
sammenhang das Leben selbst ist. Die Reflexion, die das Leben
trennt, kann es in Endliches und Unendliches unterscheiden, und
nur die Beschränkung, das Endliche für sich betrachtet, gibt den
Begriff des Menschen als der Gottheit entgegengesetzt; außerhalb
der Reflexion, in der Wahrheit, findet sie nicht statt. Diese Be-
deutung des Menschensohnes tritt da am hellsten hervor, wo der
Menschensohn dem Gottessohn entgegengesetzt ist, wie Joh. V,
26, 27. Wie der Vater Leben in sich selbst hat, so gab er auch
dem Sohne, Leben in sich selbst zu haben; und er gab ihm auch
Macht, Gericht zuhalten, weil er Menschensohn ist,» denn (V, 22)
«der Vater richtet niemand, sondern hat das Richten dem Sohne
gegeben.» Dagegen heißt es Joh. III, 17 (Matth. XVIII, 11): «Gott
hat seinen Sohn nicht in die Welt geschickt, daß er die Welt
richte, sondern daß die \\'elt durch ihn gerettet werde.» Richten
DAS LEBEN JESU 129
ist nicht ein Akt des Göttlichen; denn das Gesetz, das im Richten
ist, ist das den zu Richtenden entgegengesetzte Allgemeine, und
das Richten ist ein Urteilen, ein Gleich- oder Ungleichsetzen, das
Anerkennen einer gedachten Einheit oder einer unvereinbaren
Entgegensetzung; der Gottessohn richtet, sondert, trennt nicht,
hält nicht Entgegengesetztes in seiner Entgegensetzung; eine
Äußerung, das Regen des Göttlichen ist kein Gesetzgeben, Gesetz-
aufstellen, kein Behaupten der Herrschaft des Gesetzes, sondern
die Welt soll durch das Göttliche gerettet werden. Auch Retten
ist ein Ausdruck, der nicht gut vom Geiste gebraucht wird; denn
er bezeichnet die absolute Unmacht gegen die Gefahr desjenigen,
der in Gefahr schwebt; und die Rettung ist insofern die Handlung
eines Fremden zu einem Fremden, und die Wirkung des Gött-
lichen kann nur insofern als Rettung genommen werden, als der
Gerettete nur seinem vorhergehenden Zustande, nicht seinem
Wesen fremd wird. Der Vater richtet nicht, auch nicht der Sohn,
der Leben in ihm selbst hat, insofern er eins ist mit dem Vater.
Aber zugleich hat er auch Macht erhalten, und die Gewalt, Ge-
richt zu machen, weil er Menschensohn ist; denn die Modifikation
ist als solche, als ein Beschränktes, der Entgegensetzung und der
Trennung in Allgemeines und Besonderes fähig; in ihm findet
Vergleichung in Rücksicht auf die Materie, Vergleichung der Kraft,
also Macht statt, und in Rücksicht auf die Form, die Tätigkeit des
Vergleichens, der Begriff', das Gesetz und das Trennen oder Ver-
binden desselben mit einem Individuum, Urteilen und Gericht-
halten. Zugleich aber könnte wieder der Mensch nicht richten,
wenn er nicht ein Göttliches wäre ; denn dadurch allein ist in ihm
der Maßstab des Richtens, die Trennung möglich; in dem Gött-
lichen ist seine Macht, zu binden und zu lösen, gegründet. Das
Richten selbst kann wieder von zweierlei Art sein, das Ungött-
liche entweder nur in der Vorstellung oder in der Wirklichkeit
zu beherrschen. Jesus sagt (Joh. III, 18, 19): «Wer an den Gottes-
sohn glaubt, wird nicht gerichtet, wer aber nicht an ihn glaubt,
ist schon gerichtet,» weil er diese Beziehung des Menschen zu
Gott, seine Göttlichkeit nicht erkannt hat, und: «Ihr Gericht ist
ihre größere Liebe selbst zur Finsternis als zur Wahrheit.» In
ihrem Unglauben besteht also das Gericht selbst; der göttliche
Hegel, Das Leben Jesu 9
130 G.W. F. HEGEL
Mensch naht sich dem Bösen nicht als eine es beherrschende,
unterdrückende Gewalt, denn der göttliche Menschensohn hat
zwar Macht erhalten, aber nicht Gewalt (Unterschied von o'jyaw.-
und i^ouatct); er behandelt, bekämpft die Welt nicht in der Wirk-
lichkeit; erbringt ihr ihr Gericht nicht als Bewußtsein einer Strafe
bei; was mit ihm nicht leben, nicht genießen kann, was sich ab-
gesondert hat und getrennt steht, dessen selbstgesteckte Grenzen
erkennt er als solche Beschränkungen, wenn sie schon vielleicht
der höchste Stolz der Welt sind und von ihr nicht als Beschrän-
kungen gefühlt werden und ihr Leiden für sie vielleicht nicht die
Form des Leidens, wenigstens nicht die Form der rückwirkenden Be-
leidigung eines Gesetzes hat. Ihr Unglaube aber ist es, was sie
in eine tiefere Sphäre setzt, ihr eigenes Gericht, wenn sie sich in
ihrem Unbewußtsein des Göttlichen, in ihrer Erniedrigung auch
gefällt.
Das Verhältnis Jesu zu Gott, als eines Sohnes zum Vater, konnte,
je nachdem der Mensch das Göttliche ganz außer sich setzt, oder
nicht, entweder als Erkenntnis oder mit dem Glauben gefaßt wer-
den. Die Erkenntnis setzt für ihre Art, jenes Verhältnis aufzu-
nehmen, zweierlei Naturen, eine menschliche und eine göttliche
Natur, ein menschUches Wesen und ein göttliches Wesen, deren
jedes Persönlichkeit, Substantialität hat, und die in jeder Art von
Beziehung zwei bleiben, weil sie als absolut verschieden gesetzt
sind. Diejenigen, die diese absolute Verschiedenheit setzen, und
zugleich doch fordern, die Absoluten in der innigsten Beziehung
als Eins zu denken, heben nicht in der Rücksicht den Verstand
auf, daß sie etwas ankündigten, das außerhalb seines Gebietes wäre,
sondern er ist es, dem sie zumuten, absolut verschiedene Substan-
zen aufzufassen und zugleich absolute Einheit derselben; sie zer-
stören ihn also, indem sie ihn setzen. Diejenigen, die die gege-
bene Verschiedenheit der Substanzialitäten annehmen, aber ihre
Einheit leugnen, sind konsequenter. Zu jenem sind sie berechtigt,
denn es wird gefordert, Gott und Mensch zu denken, und auch
zu diesem, denn die Trennung zwischen Gott und Mensch auf-
zuheben, wäre gegen das erste ihnen Zugemutete. Sie retten auf
diese Art wohl den Verstand, aber wenn sie bei dieser absoluten
Verschiedenheit der Wesen stehen bleiben, so erheben sie den
DAS LEBEN JESU 131
Verstand, die absolute Trennung, das Töten zum Höchsten des
Geistes. Auf diese Art nahmen die Juden Jesum auf.
Das Wesen des Jesus als ein Verhältnis des Sohnes zum Vater
kann in der Wahrheit nur mit dem Glauben aufgefaßt werden,
und Glauben an sich forderte Jesus von seinem Volke. Dieser
Glaube charakterisiert sich durch seinen Gegenstand, das Gött-
liche. Der Glaube an Wirkliches ist eine Erkenntnis irgend eines
Objekts, eines Beschränkten, und so wie ein Objekt ein Anderes
ist als Gott, so sehr ist diese Erkenntnis verschieden von dem
Glauben an das Göttliche. Gott ist ein Geist, und die ihn anbe-
ten, müssen ihn «in Geist und Wahrheit anbeten». Wie könnte
dasjenige einen Geist erkennen, das nicht selbst ein Geist wäre?
Die Beziehung eines Geistes zu einem Geiste ist Gefühl der Har-
monie, ihre Vereinigung; wie könnte Heterogenes sich vereinigen .f*
Glaube an Göttliches ist nur dadurch möglich, daß im Glauben-
den selbst Göttliches ist, welches in dem, woran es glaubt, sich
selbst, seine eigene Natur wiederfindet, wenn es auch nicht das
Bewußtsein hat, daß dies Gefundene seine eigne Natur wäre.
Denn in jedem Menschen selbst ist das Licht und Leben, er ist
das Eigentum des Lichts; und er wird vom Lichte nicht erleuch-
tet, wie ein dunkler Körper, der nur fremden Glanz trägt, sondern
sein eigner Feuerstoff gerät in Brand und ist eine eigne Flamme.
Der Mittelzustand zwischen der Finsternis, dem Fernsein von dem
Göttlichen, dem Gefangenliegen unter der Wirklichkeit und
zwischen einem eignen ganz götthchen Leben, einer Zuversicht
auf sich selbst, ist der Glaube an das Göttliche. Er ist das Ah-
nen, das Erkennen des Göttlichen und das Verlangen der Verei-
nigung mit ihm, die Begierde gleichen Lebens; aber er ist noch
nicht die Stärke des Göttlichen, das alle Fäden seines Bewußtseins
durchdrungen, all seine Beziehungen zu der Welt berichtigt hat,
in seinem ganzen Wesen weht. Der Glaube an das Göttliche
stammt also aus der Göttlichkeit der eignen Natur; nur die Modi-
fikation der Gottheit kann sie erkennen. Als Jesus seine Jünger
fragte: «Wer sagen die Menschen, daß ich, der Menschensohn,
sei?», erzählten seine Freunde die Meinungen der Juden, welche
auch indem sie ihn verklärten, ihn über die Wirklichkeit der
Menschenwelt hinaufsetzten, doch nicht aus der Wirklichkeit
132 G.W. F. HEGEL
herausgehen konnten, sondern in ihm nur ein Individuum sahen,
das sie auf eine unnatürUche Art mit ihr verbanden. Als aber Pe-
trus seinen Glauben an den Menschensohn, daß er in ihm den
Sohn Gottes erkenne, ausgesprochen hatte, so preist ihn Jesus selig,
ihn, den Simon, den Sohn des Jona, was er für die andern Men-
schen war, den Menschensohn ; denn der \'ater im Himmel habe
ihm dies geoffenbart. Einer Offenbarung bedurfte es nicht zu einer
bloßen Erkenntnis von göttlicher Natur. Ein großer Teil der Chri-
stenheit lernt diese Erkenntnis; den Kindern werden Schlüsse aus
den Wundern usw. gegeben, daß Jesus Gott sei; man kann dieses
Lernen, dies Empfangen keine göttliche Offenbarung nennen;
dieses Glaubens Befehl und Prügel tun es hier. «Mein Vater im
Himmel hat es dir geoffenbart; das Göttliche, das in dir ist, hat
mich als Göttliches erkannt; du hast mein Wesen verstanden; es
hat in dem deinigen wieder getönt. » Den unter den Menschen
als Simon, Sohn des Jona, Gangbaren macht er zu Petrus, zum
Felsen, der seine Gemeine gründen werde. Er setzt ihn nun in
seine eigne Macht ein, zu binden und zu lösen — eine Macht,
die nur einer das Göttliche rein in sich tragenden Natur zukom-
men kann, um jede Entfernung von ihm zu erkennen. «Es ist
nunmehr kein anderes Urteil im Himmel als das deinige; was du
auf Erden als frei oder gebunden erkennst, ist es auch vor den
Augen des Himmels». Nun erst wagt es Jesus, seinen Jüngern
von seinem bevorstehenden Schicksal zu sprechen, aber das Be-
wußtsein des Petrus von der Göttlichkeit seines Lehrers charak-
terisiert sich sogleich nur als Glauben, der zwar das Göttliche
gefühlt, aber noch nicht eine Erfüllung des ganzen Wesens durch
dasselbe, noch kein Empfangen des heiligen Geistes ist. Es ist
eine oft wiederkehrende \^orstellung, daß der Glaube der Freunde
Jesu an ihn Gott zugeschrieben wird. Besonders Joh. XMI, 6,
nennt er sie Menschen, die ihm von Gott gegeben; so wie Joh.
VI, 29, ein Werk Gottes, eine göttliche Wirkung, an ihn zu glau-
ben: ein göttliches Wirken ist ganz etwas anderes als ein Lernen
und Unterrichtetwerden. Joh. VI, 65: «Niemand kann zu mir
kommen, wenn es ihm nicht von meinem XziQv gegeben ist. »
Dieser Glaube ist aber nur die erste Stufe der Beziehung mit
Jesu, die in ihrer \'ollendung so innig vorgestellt wird, daß seine
DAS LEBEN JESU 133
Freunde eins seien mit ihm. Bis sie selbst das Licht haben, sollen
sie an das Licht glauben, daß sie Söhne des Lichts werden (Joh.
XII, 36). Zwischen denen, die nur erst den Glauben an das Licht
haben, und denen, die selbst Kinder des Lichts sind, ist der Unter-
schied wie zwischen dem Täufer Johannes, der nur vom Lichte
zeugte, und Jesu, dem individualisierten Lichte. Wie Jesus ewiges
Leben in sich hat, so sollen auch die Gläubigen an ihn (Joh. VI,
40) zum unendlichen Leben kommen. Am klarsten ist die leben-
dige Vereinigung Jesu in seinen letzten Reden bei Johannes dar-
gestellt: sie in ihnen und er in ihnen, sie zusammen eins, er der
Weinstock, sie die Ranken ; in den Teilen dieselbe Natur, das glei-
che Leben, das im Ganzen ist. Diese Vollendung seiner Freunde
ist es, worum Jesus seinen Vater bittet, und die er ihnen verheißt,
wenn er von ihnen entfernt sein werde. So lange er unter ihnen
lebte, blieben sie nur Gläubige, denn sie beruhten nicht auf sich
selbst. Jesus war ihr Lehrer und Meister, ein individueller Mittel-
punkt, von dem sie abhingen. Sie hatten noch nicht eignes, un-
abhängiges Leben. Der Geist Jesu regierte sie. Aber nach seiner
Entfernung fiel auch diese Objektivität, diese Scheidewand zwi-
schen ihnen und Gott und der Geist Gottes konnte dann ihr gan-
zes Wesen beleben. Wenn Jesus (Joh. VII, 38, 39) sagt: «Wer an
mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme des Lebens quel-
len», so macht Johannes die Anmerkung, daß dies erst von der
noch künftigen durchgängigen Belebung durch den heiligen Geist
gemeint gewesen sei, den sie noch nicht empfangen hatten, weil
Jesus noch nicht verklärt war. Es muß aller Gedanke einer Ver-
schiedenheit des Wesens Jesu und derer, in denen der Glaube an
ihn zum Leben geworden, in denen selbst das Göttliche ist, ent-
fernt werden. Wenn Jesus so häufig von sich als einer eminenten
Natur spricht, so geschieht dies im Gegensatz gegen die Juden.
Von diesen trennt er sich und erhält dadurch die Gestalt eines
Individuums auch in Ansehung des Göttlichen. «Ich bin die
Wahrheit und das Leben; wer an mich glaubt» — dies bestän-
dige, einförmige Vorschieben des Ich bei Johannes ist wohl eine
Absonderung seiner Persönlichkeit gegen den jüdischen Charakter.
Aber so sehr er gegen diesen Geist sich zum Individuum macht,
ebensosehr hebt er alle göttliche Persönlichkeit, göttliche Indivi-
134 G.W. F. HEGEL
dualität gegen seine Freunde auf, mit denen er nur eins sein will,
die in ihm eins sein sollen. Johannes sagt (II, 25) von Jesu: «Er
wußte, was im Menschen war», und der treuste Spiegel seines
schönen Glaubens an die Natur sind seine Reden beim Anblick
unverdorbener Natur (Matth. XVIII, i ff., XIX, 3 ff.). «Wenn ihr
nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das göttliche
Reich kommen; der Kindlichste ist der Größte in der himmlischen
Welt, und wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt,
nimmt mich in sich auf. Wer in ihm sein reines Leben zu fühlen,
das Heilige seiner Natur zu erkennen fähig ist, der hat mein Wesen
gefühlt. Wer diese heilige Reinheit besudelt, dem wäre es gut,
daß ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und daß er im tiefsten
Meer ersäuft würde. » O der schmerzlichen Notwendigkeit solcher
Verletzungen des Heiligen! Der tiefste, heiligste Kummer einer
schönen Seele, ihr unbegreiflichstes Rätsel, daß die Natur zerstört,
das Heilige verunreinigt werden muß! Wie dem \"erstande das
Göttliche und das Einssein mit Gott das Unbegreifliche ist, so ist
es dem edlen Gemüt die Entfernung von Gott. «Sehet zu, ver-
achtet nicht eins dieser Kleinen; denn ich sage euch, ihre Engel
in den Himmeln, beständig schauen sie das Angesicht meines Va-
ters im Himmel.» Unter den Engeln der Kinder können keine
objektiven Wesen verstanden werden. Denn (um einen Grund ad
hominem anzugeben) auch die Engel der andern Menschen müßte
man als in der Anschauung Gottes lebend denken. In der Engel
Anschauen Gottes ist sehr glücklich viel vereinigt: das Bewußt-
lose, die unentwickelte Einigkeit, das Sein und Leben in Gott ist,
weil es als eine Modifikation der Gottheit in den existierenden
Kindern vorgestellt werden soll, von Gott getrennt; aber ihr Sein,
ihr Tun ist eine ewige Anschauung desselben.
Um den Geist, das Göttliche außer seiner Beschränkung und
die Gemeinschaft des Beschränkten mit dem Lebendigen darzu-
stellen, trennt Plato das reine Lebendige und das Beschränkte
durch die Verschiedenheit der Zeit. Er läßt die reinen Geister
ganz in der Anschauung des Göttlichen gelebt haben und sie im
spätem Erdenleben, nur mit verdunkeltem Bewußtsein dieses
Himmlischen, dieselben sein. Auf eine andere Art trennt und
vereinigt hier Jesus die Natur, das Göttliche des Geistes und die
DAS LEBEN JESU 135
Beschränkung. Als Engel ist der kindliche Geist nicht als ohne
alle Wirklichkeit, ohne Existenz, in Gott, sondern zugleich als
Söhne Gottes, als Besondere dargestellt. Die Entgegensetzung
des Anschauenden und des Angeschauten, daß sie Subjekt und
Objekt sind, fällt in der Anschauung selbst weg. Ihre Verschieden-
heit ist nur eine Möglichkeit der Trennung; ein Mensch, der
ganz in der Anschauung der Sonne versunken wäre, wäre nur ein
Gefühl des Lichtes, ein Lichtgefühl als Wesen; der ganz in der
Anschauung eines andern Menschen lebte, wäre ganz dieser
andere selbst, nur mit der Möglichkeit, ein andrer zu sein.
Was aber verloren ist, was sich entzweit hat, wird durch die
Rückkehr zur Einigkeit, zum Werden wie Kinder wiederge-
wonnen. Was aber diese Wiedervereinigung von sich stößt, fest
gegen sie hält, das hat sich abgesondert. «Das sei euch fremd,
mit dem ihr nichts gemein habet; was ihr unter seiner Absonderung
gebunden erkläret, ist es auch im Himmel ; was ihr aber löset, für
frei und damit für vereinigt erkläret, ist auch im Himmel frei, in
ihm Eins, schaut die Gottheit an.» In einer andern Gestalt stellt
Jesus (Matth. XVIII, 19) diese Einigkeit dar: «Wo zwei euer
auf etwas einig sind, darum zu bitten, wird es euch der Vater ge-
schehen lassen.» Die Ausdrücke: bitten, gewähren, beziehen sich
eigentlich auf Vereinigung über Objekte [r.rjd-f \xaza); für eine solche
nur hat die jüdische Wirklichkeitssprache Ausdrücke. Das Objekt
kann aber hier nichts anders sein als nur die reflektierte Einigkeit
(die a-Jiicpojvict -ojv oDO'v oua'ojv) ; als Objekt ist es ein Schönes, subjektiv
die Vereinigung, denn in eigentlichen Objekten können Geister
nicht einig sein. Das Schöne, eine Einigkeit euer zwei oder drei,
ist es auch in der Harmonie des Ganzen, ist ein Laut, Einklang
in dieselbe und ist von ihr gewährt; es ist, weil es in ihr ist, weil
es ein Göttliches ist. Und mit dieser Gemeinschaft mit dem
Göttlichen sind die Einigen zugleich in der Gemeinschaft des
Jesus: «Wo zwei oder drei vereinigt sind in meinem Geist (si; tö
iu-öv ö'vo|i.c<, wie Matth. X, 41) in der Rücksicht, in der mir Sein und
ewiges Leben zukommt, in der ich bin, bin ich in ihrer Mitte; so
ist mein Geist.» So bestimmt erklärt sich Jesus gegen Persönlich-
keit, gegen eine seinen vollendeten Freunden entgegengesetzte
Individualität seines Wesens (gegen den Gedanken eines persön-
136 G.W. F. HEGEL
liehen Gottes), von welcher der Grund eine absolute Besonderheit
seines Seins gegen sie wäre. Ein Ausdruck über die Vereinigung
Liebender (Matth. XIX, 5) gehört auch hierher: «Die zwei. Mann
und Weib, werden eins sein, so daß sie nun nicht mehr zwei sind.»
Was also Gott vereinigt hat, soll der Mensch nicht trennen. Sollte
sich diese Vereinigung nur auf die ursprüngliche Bestimmung
des Mannes und des Weibes für einander beziehen, so paßte dieser
Grund nicht gegen Scheidung der Ehe, denn durch die Scheidung
wird jene Bestimmung, die Vereinigung des Begriffs nicht auf-
gehoben, welche bliebe, wenn auch eine lebendige Vereinigung
zertrennt wird. Von einer solchen ist gesagt, daß sie eine Wirkung
Gottes, ein Göttliches ist.
Da Jesus mit dem ganzen Genius seines Volkes in den Kampf
trat und mit seiner Welt durchaus gebrochen hatte, so konnte die
Vollendung seines Schicksals keine andere sein, als durch den
feindlichen Genius des Volkes erdrückt zu werden. Die Verherr-
lichung des Menschensohns in diesem Untergange ist nicht das
Negative, alle Beziehungen an sich mit der Welt aufgegeben zu
haben, sondern das Positive, der unnatürlichen Welt seine Natur
versagt und sie lieber- im Kampfund Untergang gerettet, als sich
entweder mit Bewußtsein unter die A'erdorbenheit a;ebeua;t. oder
ohne Bewußtsein von ihr beschlichen in ihr sich fortgewälzt zu
haben. Jesus hatte das Bewußtsein der Notwendigkeit des Unter-
gangs seines Individuums und suchte auch seine Jünger von ihr
zu überzeugen. Aber sie konnten ihr Wesen nicht von seiner
Person trennen ; sie waren nur noch Glaubende. Als Petrus eben
im Menschensohn das Göttliche anerkannt hatte, glaubte Jesus
seine Freunde föhig zu sein, ihre Absonderung von ihm ins Be-
wußtsein zu bringen und ihren Gedanken zu tragen. Er sprach
ihnen also, unmittelbar nachdem er von Petrus seinen Glauben
gehört hatte, davon. Aber in dem Erschrecken des Petrus darüber
zeigte sich der Abstand des Glaubens von der \"ollendung. Erst
nach der Entfernuns; seines Individuums konnte ihre Abhängig-
keit davon aufhören und eigner Geist, oder der göttliche Geist in
ihnen selbst bestehen. «Es ist auch nützlich, daß ich weggehe,
sagt Jesus (Joh. XVI, 7); denn wenn ich nicht abginge, so käme
der Tröster nicht zu euch, der Geist der Wahrheit (Joh. XIV, 16),
DAS LEBEN JESU 137
den die Welt nicht aufnehmen kann, weil sie ihn nicht erkennt.
So lasse ich euch nicht als Waisen zurück; ich komme zu euch
und ihr werdet mich schauen, daß ich lebe und daß auch ihr le-
bet. — Wenn ihr das Göttliche nicht mehr nur außer euch, nur
in mir schauet, sondern selbst Leben in euch habt, dann wird es
auch in euch zum Bewußtsein kommen (Joh. XV, 27), daß ihr
von Anbeginn mit mir seid, daß unsere Naturen eins sind in der
Liebe und in Gott. — Der Geist wird euch in alle Wahrheit lei-
ten (Joh. XVI, 13) und euch alles in Erinnerung bringen, was ich
euch sagte. Er ist ein Tröster, wenn Trost geben die Aussicht
auf ein gleiches oder größeres Gut, als das verlorene ist, geben
heißt. So seid ihr nicht als Waisen zurückgelassen, denn so viel
werdet ihr in euch selbst empfangen.»
Das Individuum setzt Jesus auch (Matth. XII, 31, ff.) gegen den
Geist des Ganzen. «Wer einen Menschen (mich als Menschen-
sohn) lästert, dem kann diese Sünde verziehen werden. Wer aber
den Geist selbst, das Göttliche lästert, dessen Sünde wird nicht
in dieser, noch in der kommenden Zeit vergeben. Aus dem Über-
fluß des Herzens spricht der Mund, aus dem Reichtum eines gu-
ten Geistes gibt der Gute Gutes, aus dem bösen Geist gibt der
Böse Böses. — Wer das Einzelne lästert, mich als Individuum,
der schließt sich nur von mir aus, nicht von der Liebe; wer sich
aber vom Göttlichen absondert, die Natur selbst, den Geist in ihr
lästert, dessen Geist hat das Heilige in sich zerstört, und er ist
darum unfähig, seine Trennung aufzuheben und sich zur Liebe,
zum Heiligen zu vereinigen. Durch ein Zeichen könntet ihr er-
schüttert werden, aber die verlorene Natur stellte sich darum
nicht in euch her. Die Eumeniden eures Wesens könnten er-
schreckt werden, aber die Leere, die die vertriebenen Dämonen
euch zurücklassen, würde nicht von der Liebe erfüllt, sondern sie
zöge eure Furien wieder zurück, die nun verstärkt durch euer
Bewußtsein selbst, daß sie Furien der Hölle sind, eure Zerstörung
vollendeten.»
Die Vollendung des Glaubens, die Rückkehr zur Gottheit, aus
der der Mensch geboren ist, schließt den Zirkel seiner Entwicke-
lung. Alles lebt in der Gottheit, alle Lebendigen sind seine Kin-
der. Aber das Kind trägt die Einigkeit, den Zusammenhang, den
138 G.W. F. HEGEL
Einklang in die Harmonie unzerstört, aber unentwickelt in sich;
es beginnt mit dem Glauben an Götter außer sich, mit der Furcht,
bis es selbst immer mehr gehandelt, getrennt hat, aber in den Ver-
einigungen zur ursprünglichen, aber nun entwickelten, selbstpro-
duzierten gefühlten Einigkeit zurückkehrt und die Gottheit er-
kennt, d. h. der Geist Gottes in ihm ist, aus seinen Beschrän-
kungen tritt, die Modifikation aufhebt und das Ganze wiederher-
stellt. «Gott, der Sohn, der heilige Geist! Lehret alle Völker (es
sind die letzten Worte des verklärten Jesus, Matth. XXVIII, 19),
indem ihr sie in diese Beziehungen der Gottheit, in das Verhält-
nis des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes eintaucht.»
Schon aus der Stellung der Worte erhellt, daß unter dem Ein-
tauchen nicht ein Tauchen in Wasser, eine sogenannte Taufe ge-
meint ist, bei welcher ein Aussprechen von einigen Worten, wie
von einer Zauberformel stattfinden sollte. Dem u.r^r-.i-h'x-z ist
durch seinen Zusatz auch der Begriff" des eigentlichen Lehrens
genommen ; Gott kann nicht gelehrt, nicht gelernt werden, denn
er ist Leben, und kann nur mit Leben gefaßt werden. «Erfüllet
sie mit der Beziehung (ovo^ry.^ v,-ie Matth. X, 41: Wer einen Pro-
pheten aufnimmt zh c-'vou-ct rpo'fy;T';'j, insofern ist er ein Prophet) des
Einigen, der Modifikation (Trennung) und der entwickelten Wie-
dervereinigung in Leben und Geist (nicht im Begriff").» Matth.
XXI, 25, fragt Jesus: «Woher war das ^d--<.o>xa des Johannes? aus
dem Himmel oder aus dem Menschen?» Bcz— i^aa, die ganze Wei-
he des Geistes und Charakters, wobei an das Eintauchen ins Was-
ser, aber als Nebensache, auch gedacht werden kann. Aber Mark.
I, 4, fällt der Gedanke an diese Form der Aufnahme des Johannes
in seinen Geistesbund ganz weg ; Johannes, heißt es, verkündigte
das ßdzT'3jj.cz der Sinnesänderung zur Sündenerlassung. III, 1 1 sagt
Matthäus: «Ich taufte euch mit Wasser; er aber wird euch in
den heiligen Geist und Feuer (Luk. III, 16) eintauchen, (iv Tr.-s'ju.a-:'.
ä.-(iw ysx'. -'jpi, wie Matth. XII, 28: v> r^n-j\}.n.-<. &3oiJ ixßa/JvOj -a o<z'.u.övia, im
Geiste Gottes, als eins mit Gott). Er wird euch mit Feuer und
göttlichem Geist umdrängen und erfüllen; denn derjenige, der
iv zvj'jact-:'. (Mark. I, 8), selbst erfüllt vom Geiste, andere weiht, weiht
sie auch si; -^r^j^yj., v.-^ Iwm -r/j -r-^aJu-aTo; (Matth. XXVIII, 19); was sie
empfangen, was in ihnen wird, ist nicht ein Anderes, als in ihm ist. »
DAS LEBEN JESU 139
Die Gewohnheit des Johannes (von Jesu ist keine solche Hand-
lung bekannt), die zu seinem Geiste Erzogenen in Wasser unter-
zutauchen, ist eine bedeutende symbolische. Es gibt kein Gefühl,
das dem Verlangen nach dem Unendlichen, dem Sehnen, in das
Unendliche überzufließen so homogen wäre, als das Verlangen,
sich in einer Wasserfülle zu begraben; der Hineinstürzende hat
ein Fremdes vor sich, das ihn sogleich ganz umfließt, an jedem
Punkte seines Körpers sich zu fühlen gibt; er ist der Welt ge-
nommen, sie ihm; er ist nur gefühltes Wasser, das ihn berührt,
wo er ist, und er ist nur, wo er es fühlt. Es ist in der Wasserfülle
keine Beschränkung, keine Mannigfaltigkeit oder Bestimmung.
Das Gefühl derselben ist das Unzertrennteste, Einfachste. Der
Untergetauchte steigt wieder in die Luft empor, trennt sich vom
Wasserkörper, ist von ihm schon geschieden, aber er trieft noch
allenthalben von ihm. So wie er ihn verläßt, nimmt die Welt
wieder um ihn Bestimmtheit an und er tritt gestärkt in die Mannig-
faltigkeit des Bewußtseins zurück. Im Hinaussehen in die un-
schattierte Bläue und die einfache gestaltenlose Fläche eines
morgenländischen Horizonts wird die umgebende Luft nicht ge-
fühlt, und das Spiel der Gedanken ist etwas anderes als das Hin-
aussehen. Im Untergetauchten ist nur ein Gefühl und die Ver-
gessenheit der Welt, eine Einsamkeit, die alles von sich geworfen,
allem sich entwunden hat. Als ein solches Entnehmen alles Bis-
herigen, als eine begeisternde Weihe in eine neue Welt, in welcher
vor dem neuen Geist das, was wirklich ist, unentschieden zwischen
Wirklichkeit und Traum schwebt, erscheint die Taufe des Jesus
bei Mark. I, 9 ff". Er wurde von Johannes in den Jordan getaucht
und indem er sogleich aus dem Wasser heraufstieg, sah er die
Himmel zerreißen und den Geist wie eine Taube auf sich herab-
steigen, und eine Stimme geschah aus dem Himmel: «Du bist
mein geliebter Sohn, in welchem ich mich getrennt habe.» Und
sogleich warf ihn der Geist in die Wüste ; und er war dort vierzig
Tage, versucht vom Satan, und er war mit den Tieren und die
Engel dienten ihm. Im Emporsteigen aus dem Wasser ist er der
höchsten Begeisterung voll, die ihn in der Welt nicht bleiben läßt,
sondern in die Wüste treibt, wo das Arbeiten seines Geistes das
Bewußtsein der Wirklichkeit noch nicht von sich geschieden hat,
140 G.W. F. HEGEL
zu welcher Scheidung er erst nach vierzig Tagen vöUig erwacht
und sicher in die Welt, aber fest gegen sie eintritt.
Der Ausdruck yia^r-.fjoa-t yj.--JZ,u'i-t^ ist darum von tiefer Bedeu-
tung. «Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden»,
so spricht Jesus bei Joh. XIII, 3 1 von seiner Verherrlichung, als
Judas die Gesellschaft verlassen hatte, um den Jesus den Juden zu
verraten, in dem Zeitpunkte, wo er der Heimkehr zu seinem Va-
ter, der größer ist, als er, entgegensah, hier, wo er als schon allem
entnommen, was die Welt an ihn fordern, wo sie teil an ihm haben
könnte, vorgestellt wird. «Es ist mir alle Gewalt gegeben, im
Himmel und auf Erden; darum gehet hin in alle Völker und euer
Jüngermachen sei, daß ihr sie in das Verhältnis des Vaters,
Sohnes und heiligen Geistes einweihet, daß es sie, wie das Wasser
den in Wasser Getauchten, in allen Punkten ihres Wesens um-
fließe und umfühle. Und siehe, ich bin mit euch das Ganze der
Tage bis zur Vollendung der Welt.» In diesem Zeitpunkte, wo
Jesus als aller Wirklichkeit und Persönlichkeit enthoben dargestellt
wird, kann am wenigsten an eine Individualität, Persönlichkeit
seines Wesens gedacht werden. Er ist mit ihnen, deren Wesen
vom göttlichen Geiste durchdrungen, die in das Göttliche einge-
weiht, deren Wesen in dem Göttlichen, das in ihm nun vollendet,
lebendig ist.
Das Eintauchen in das Verhältnis des\'aters, Sohnes und Geistes
drückt Lukas viel schwächer aus (XXIV, 47), als eine Verkündi-
gung im Namen Christi der Sinnesänderung und der Entlassung
der Sünden, eine Verkündigung, die in Jerusalem beginnensolle;
sie seien Zeugen des Geschehenen, er werde ihnen das Versprechen
seines Vaters zuschicken, und sie sollen ihr Werk außer Jerusalem
nicht eher beginnen, bis sie mit der Kraft aus der Höhe angekleidet
seien. Eine bloße Lehre kann verkündigt und durch das Zeug-
nis geschehener Dinge unterstützt werden, ohne eignen heiligen
Geist. Ein solches Lehren wäre aber keine Weihe, kein Eintauchen
des Geistes. In Markus — • wenn das letzte Kapitel auch nicht
ganz echt wäre, so ist doch sein Ton charakteristisch — ist dieser
Abschied des Jesus viel objektiver ausgedrückt; das Geistige er-
scheint in ihm mehr als gewöhnliche Formel; die Ausdrücke,
durch die Gewohnheit einer Kirche verkältete, übliche Worte:
DAS LEBEN JESU 141
«Verkündet das Evangelium (ohne weiteren Zusatz eine Art von
terminus technicus), — der Glaubende und Getaufte wird gerettet,
der Nichtglaubende verurteilt werden, — der Glaubende und der
Getaufte», — haben schon das Ansehen bestimmter, einer Sekte
oder Gemeine zum Abzeichen dienender Worte ohne Seele, deren
volle Begriffe vorausgesetzt werden. Statt des Geistvollen: «Ich
bin mit euch alle Tage», des Erfülltseins der Gläubigen vom Geiste
Gottes und des verherrlichten Jesus spricht Markus trocken, ohne
daß es durch Begeisterung gehoben mit Geist anwehte, von wun-
derbaren Beherrschungen der Wirklichkeit, von Teufelaustreiben
und dergleichen Handlungen, die Gläubige vermögen werden, so
objektiv als man nur von Handlungen sprechen kann, ohne ihrer
Seele zu erwähnen.
Die Entwickelung des Göttlichen in den Menschen, das Ver-
hältnis, in das sie, durch die Erfüllung mit dem heiligen Geiste,
mit Gott treten, seine Söhne zu werden und in der Harmonie
ihres ganzen Wesens und Charakters, ihrer entwickelten Mannig-
faltigkeit zu leben, einer Harmonie, in welcher nicht ihr vielseitiges
Bewußtsein in einen Geist, die vielen Lebensgestalten in ein
Leben einklingen, sondern durch welche auch die Scheidewände
gegen andere gottähnlichen Wesen aufgehoben werden und der-
selbe lebendige Geist die verschiedenen Wesen beseelt, welche
also nicht mehr nur gleich, sondern einig sind, nicht eine Ver-
sammlung ausmachen, sondern eine Gemeine, weil sie nicht in
einem Allgemeinen, einem Begriffe, etwa als Glaubende, sondern
durch Leben, durch die Liebe vereinigt sind, — diese lebendige
Harmonie von Menschen, ihre Gemeinschaft in Gott nennt Jesus
das Königreich Gottes. Die jüdische Sprache gab ihm das Wort
Königreich, das etwas Heterogenes in dem Ausdruck göttlicher
Vereinigung gibt, da es nur eine Einheit durch Herrschen, durch
Gewalt eines Fremden über ein Fremdes bezeichnet, die aus der
Schönheit und dem göttlichen Leben eines reinen Menschen-
bundes — dem Freisten, was möglich ist — ganz entfernt werden
muß. Diese Idee eines Reiches Gottes vollendet und umfaßt das
Ganze der Religion, wie sie Jesus stiftete, und es ist noch zu be-
trachten, ob sie die Natur vollkommen befriedigt, oder welches
Bedürfnis seine Jünger zu etwas Weiterem getrieben hat. Im
142 G.W. F. HEGEL
Reiche Gottes ist das Gemeinschaftliche, daß alle in Gott lebendig
sind, nicht das Gemeinschaftliche in einem Begriff, sondern Liebe,
lebendiges Band, das die Glaubenden vereinigt, diese Empfindung
der Einigkeit des Lebens, in der alle Entgegensetzungen als solche,
Feindschaften, und auch die Vereinigungen der bestehenden Ent-
gegensetzungen, Rechte, aufgehoben sind: «Ein neues Gebot gebe
ich euch, sagt Jesus, daß ihr euch untereinander liebet; daran soll
man erkennen, daß ihr meine Jünger seid.» Diese Seelen-
freundschaft, als Seele, als Geist für die Reflexion ausgesprochen,
ist der göttliche Geist, Gott, der die Gemeine regiert. Gibt es
eine schönere Idee, als ein Volk von Menschen, die durch Liebe
aufeinander bezogen sind? eine erhebendere, als einem Ganzen
anzugehören, das als Ganzes, Eines der Geist Gottes ist, dessen
Söhne die Einzelnen sind? Sollte in dieser Idee noch eine Un-
vollständigkeit sein, daß ein Schicksal Macht in ihr hätte? oder
wäre das Schicksal die Nemesis, die gegen ein zu schönes Streben,
gegen ein Überspringen der Natur wütete?
In der Liebe hat der Mensch sich selbst in einem andern wieder-
gefunden. Weil sie eine Vereinigung des Lebens ist, setzt sie
Trennung, eine Entwickelung, gebildete Vielseitigkeit desselben
voraus; und in je mehr Gestalten das Leben lebendig ist, in desto
mehr Punkten kann es sich vereinigen und fühlen, je ausgedehnter
an Manni2;falti?keit die Beziehungen und Gefühle der Liebenden
sind, desto inniger kann die Liebe sein. Je inniger die Liebe sich
konzentriert, desto ausschließender ist sie, desto gleichgültiger für
andere Lebensformen. Ihre Freude vermischt sich mit jedem
andern Leben, erkennt es an, aber zieht sich beim Gefühl einer
Individualität zurück, und je vereinzelter die Menschen in An-
sehung ihrer Bildung und Interesses, ihres Verhältnisses zur Welt
stehen, je mehr Eigentümliches jeder hat, desto beschränkter wird
die Liebe auf sich selbst, und um das Bewußtsein ihres Glücks zu
haben, um sich selbst, wie sie gern tut, es zu geben, ist es not-
wendig, daß sie sich absondert, daß sie sich sogar Feindschaften
erschafft. Eine Liebe unter vielen läßt daher nur einen gewissen
Grad der Stärke, der Innio;keit zu, und fordert Gleichheit des
Geistes, des Interesses, vieler Lebensverhältnisse, Verminderung
der Individualitäten. Diese Gemeinsamkeit des Lebens, diese
DAS LEBEN JESU 143
Gleichheit des Geistes kann aber, da sie nicht Liebe ist, nur durch
ihre bestimmten, stark gezeichneten Äußerungen zum Bewußtsein
kommen. Von einer Übereinstimmung in Erkenntnis, in gleichen
Meinungen, kann nicht die Rede sein. Die Verbindung vieler
beruht auf gleicher Not. Sie stellt sich an Gegenständen dar, die
gemeinschaftlich sein können, in Verhältnissen, die darüber ent-
stehen und dann in dem gemeinsamen Bestreben um dieselben
und gemeinsamer Tätigkeit und Handlung. Sie kann sich an
tausend Gegenstände gemeinschaftlichen Besitzes und Genusses
und gleicher Bildung anschließen und sich darin erkennen. Eine
Menge gleicher Zwecke, der ganze Umfang der physischen Not
kann Gegenstand vereinigter Tätigkeit sein. In dieser steht der
gleiche Geist dem gleichen Geist gegenüber, und dieser gemein-
same Geist gefällt sich dann auch, sich in der Ruhe zu erkennen
zu geben, seiner Vereinigung froh zu sein, indem er sich in Freude
und Spiel sich selbst genießt.
Die Freunde Jesu hielten sich nach seinem Tode zusammen,
aßen und tranken gemeinschaftlich ; einige ihrer Verbrüderungen
hoben alles Eigentumsrecht gegeneinander auf, andere zum Teil
in reichlichen Almosen und Beiträgen zur Gemeine; sie sprachen
zusammen von ihrem geschiedenen Freunde und Meister, beteten
gemeinschaftlich und stärkten einander in Glauben und Mut.
Ihre Feinde beschuldigten einige ihrer Gesellschaften auch der
Gemeinschaft der Weiber, eine Beschuldigung, die sie entweder
den Mut und die Reinheit nicht hatten, zu verdienen oder sich
ihrer nicht zu schämen. Gemeinschaftlich zogen viele aus, ihres
Glaubens und ihrer Hoffnungen andere Völker teilhaftig zu
machen ; und weil dies das einzige Tun der christlichen Gemeinde
ist, so ist ihr der Proselytismus wesentlich eigen. Außer diesem
gemeinschaftlichen Genießen, Beten, Essen, Freuen, Glauben und
Hoffen, außer der einzigen Tätigkeit für die Verbreitung des
Glaubens, die Vergrößerung der Gemeinschaftlichkeit der Andacht,
liegt noch ein ungeheures Feld von Objektivität, die ein Schicksal
von dem vielseitigsten Umfange und gewaltiger Macht aufstellt
und mannigfaltige Tätigkeit anspricht. In der Aufgabe der Liebe
verschmäht die Gemeine jede Vereinigung, die nicht die innigste,
jeden Geist, der nicht der höchste wäre. Der Unnatur und
144 G.W. F. HEGEL
Schalheit der prächtigen Idee einer allgemeinen Menschenliebe
nicht zu gedenken, da sie nicht das Streben der Gemeine ist, muß
diese bei der Liebe selbst stehen bleiben ; außer der Beziehung des
gemeinschaftlichen Glaubens und den Darstellungen dieser Ge-
meinschaft in darauf sich beziehenden religiösen Handlungen ist
jede andere Verbindung in einem Objektiven, zu einem Zwecke,
einer Entwickelung einer anderen Seite des Lebens, zu einer ge-
meinsamen Tätigkeit, jeder zu etwas anderm als der Ausbreitung
des Glaubens zusammenwirkende und sich in andern Modi-
fikationen und partiellen Gestalten des Lebens, in Spielen, sich
darstellende und seiner sich freuende Geist der Gemeine fremd;
sie würde sich in ihm nicht erkennen; sie hätte von der Liebe,
ihrem einzigen Geiste, gelassen, wäre ihrem Gotte untreu ge-
worden. Auch würde sie nicht nur die Liebe verlassen haben,
sondern sie auch zerstören; denn die Mitglieder setzen sich in
Gefahr, mit ihren Lidividualitäten gegeneinander zu stoßen und
müßten dies um so mehr, da ihre Bildung verschieden war und
sie sich damit in das Gebiet ihrer verschiedenen Charaktere, in
die Macht ihrer verschiedenen Schicksale begäben und über einem
Interesse für etwas Geringes, über einer verschiedenen Bestimmt-
heit in etwas Kleinem die Liebe sich in Haß verkehren und eine
Abtrünnigkeit von Gott erfolgen würde. Diese Gefahr wird nur
durch eine untätige, unentwickelte Liebe abgewendet, daß sie,
das höchste Leben, unlebendig bleibt. So verwickelt die wider-
natürliche Ausdehnung des Umfangs der Liebe in einen Wider-
spruch, in ein falsches Bestreben, das der Vater des fürchterlichsten
leidenden oder tätigen Fanatismus werden mußte. Diese Be-
schränkung der Liebe auf sich selbst, ihre Flucht von allen Formen,
wenn auch schon ihr Geist in ihnen wehte oder sie aus ihm ent-
sprängen, diese Entfernung von allem Schicksal ist gerade ihr
größtes Schicksal, und hier ist der Punkt, wo Jesus mit dem
Schicksal zusammenhängt, und zwar auf die erhabenste Art, aber
von ihm litt.
Der Passivität der Juden hat Jesus den Menschen entgegen-
gesetzt, den Gesetzen und ihren Pflichten die Tugenden, und in
DAS LEBEN JESU 145
diesen die Immoralität des positiven Menschen aufgehoben. Der
positive Mensch ist zwar in Rücksicht auf eine bestimmte Tugend,
die für ihn und in ihm Dienst ist, weder moralisch noch immo-
rahsch, und der Dienst, in welchem er gewisse Pflichten ausübt,
ist nicht unmittelbar eine Untugend gegen dieselben Pflichten;
aber mit dieser bestimmten Gleichgültigkeit ist zugleich eine Im-
moraUtät von einer andern Seite verknüpft; weil sein bestimmter,
positiver Dienst eine Grenze hat, und er über diese nicht hinaus
kann, so ist er jenseits ihrer unmoralisch. Diese Immoralität der
Passivität geht also auf eine andere Seite der menschHchen Be-
ziehungen als der positive Gehorsam innerhalb eines Kreises;
dieser ist nicht moralisch, nicht unmoralisch.
[Das Entgegengesetzte der Tugend aber ist Laster. Der speku-
lative Moralist, der moraHsche Lehrer macht eine philosophische
Beschreibung der Tugend. Seine Beschreibung muß deduziert,
es muß in ihr kein Widerspruch sein ; eine Beschreibung einer
Sache ist immer die vorgestellte Sache ; hält er diese Vorstellung,
den Begriff" an das Lebendige, so sagt er : das Lebendige soll so
sein; zwischen dem Begriff" und der Modifikation eines Leben-
digen soll kein Widerspruch sein, als der allein, daß jener ein Ge-
dachtes, dieses ein Seiendes ist. Eine Tugend, in der Spekulation
allein, ist, und ist notwendig, d. h. ihr Begriff", und das Gegenteil
kann nicht sein ; es ist keine Veränderung, kein Erwerb, kein Ent-
stehen, kein Vergehen in ihr als Begriff". Aber dieser Begriff" mit
dem Lebendigen zusammengehalten, die Tugend als Modifikation
des Lebendigen ist, oder ist auch nicht, kann entstehen und ver-
gehen. Der spekulative Moralist kann sich also wohl hinreißen
lassen, in eine warme Betrachtung des Tugendhaften und des
Lasterhaften zu verfallen; aber seine Sache ist eigentlich nur, mit
dem Lebendigen den Krieg zu führen, gegen dasselbe zu polemi-
sieren oder nur ganz kalt seine Begriff"e zu kalkulieren. Aber der
Volkslehrer, der Verbesserer der Menschen, der sich an die Men-
schen selbst wendet, kann zwar nicht von der Entstehung der Tu-
gend, von der Bildung der Tugend, aber von dem Zerstörenden
des Lasters und der Rückkehr zur Tugend sprechen. Die Zer-
störung des Lasters besteht darin, daß sie dem Menschen Strafe
zuzieht. Strafe ist die notwendige üble Folge eines Verbrechens;
Hegel, Das Leben Jesu 10
146 G.W. F. HEGEL
aber nicht jede Folge kann eine Strafe genannt werden, z.B. nicht
das, daß der Charakter sich in dem Verbrecher noch mehr ver-
schHmmert; man kann nicht sagen: er hat verdient, noch schlech-
ter zu werden.] Die Strafe liegt unmittelbar in dem beleidigten
Gesetze; des gleichen Rechtes, das durch ein Verbrechen in einem
andern verletzt worden ist, wird der Verbrecher verlustig, [d. h.
er verdient die Strafe; die Notwendigkeit, daß sie erfolgt, liegt in
etwas Äußerem, und ist dem Verbrechen korrespondierend].
In der Setzung der Subjektivität gegen das Positive schwindet
die Gleichgültigkeit des Dienstes und seine Grenze. Der Mensch
steht für sich; sein Charakter und seine Tat wird er selbst; er hat
nur Schranken da, wo er sie selbst setzt, und seine Tugenden Be-
stimmtheiten, die er selbst begrenzt. Diese Möglichkeit der Be-
grenzung, der Entgegensetzung ist die Freiheit, das Oder, in Tu-
gend und Laster. In der Entgegensetzung des Gesetzes gegen die
Natur, des Allgemeinen gegen das Besondere sind die beiden Ent-
gegengesetzten gesetzt, wirklich ; das eine ist nicht ohne das andere.
In der Freiheit der Entgegensetzung der Tugend und des Lasters
ist durch das eine das andere ausgeschlossen, also, wenn das eine
gesetzt ist, das andere nur möglich.
Die Entgegensetzung der Pflicht und der Neigung hat in den
Modifikationen der Liebe, in den Tugenden ihre Vereinigung ge-
funden. Da das Gesetz nicht seinem Inhalt, sondern seiner Form
nach der Liebe entgegengesetzt war, so konnte es in sie aufge-
nommen werden. In dieser Aufnahme aber verlor es seine Ge-
stalt. Dem Verbrechen hingegen ist es seinem Inhalt nach ent-
gegengesetzt; es ist von ihm ausgeschlossen und ist doch; denn
das Verbrechen ist eine Zerstörung der Natur, und da dieNatur einig
ist, so ist im Zerstörenden so viel zerstört als im Zerstörten. Wenn
das Einige entgegengesetzt ist, so ist die Vereinigung der Entge-
gengesetzten nur im Begriffe vorhanden ; es ist ein Gesetz gemacht
worden. Ist das Entgegengesetzte zerstört worden, so bleibt der
Begriff, das Gesetz. Aber es drückt alsdann nur das Fehlende,
eine Lücke aus, weil sein Inhalt in der Wirkhchkeit aufgehoben
ist, und heißt strafendes Gesetz. Diese Form des Gesetzes ist un-
mittelbar; es ist seinem Inhalt nach dem Leben entgegengesetzt,
weil es die Zerstörung desselben anzeigt. Aber um so schwerer
DAS LEBEN JESU 147
scheint es zu denken zu sein, wie das Gesetz in dieser Form, als
strafende Gerechtigkeit, könne aufgehoben werden. In der vori-
gen Aufhebung des Gesetzes durch Tugenden verschwand nur
die Form des Gesetzes, sein Inhalt bheb ; aber hier würde mit der
Form auch der Inhalt aufgehoben, denn sein Inhalt ist die Strafe.
Die Strafe hegt unmittelbar in dem beleidigten Gesetze. Des glei-
chen Rechtes, das durch ein Verbrechen in einem andern verletzt
worden ist, wird der Verbrecher verlustig; der Verbrecher hat sich
außer den Begriff gesetzt, der der Inhalt des Gesetzes ist. Zwar
spricht das Gesetz nur: er soll das im Gesetz begriffene Recht ver-
lieren ; weil er unmittelbar nur ein Gedachtes ist, so verliert nur
der Begriff des Verbrechers das Recht; aber daß er es in der Wirk-
lichkeit verliere, d. h., daß das, was der Begriff des Verbrechers
verloren hat, auch die Wirklichkeit des Verbrechers verliere, muß
dies Gesetz mit Lebendigem verbunden, mit Macht bekleidet wer-
den. Das Gesetz beharrt in furchtbarer Majestät, und daß die
Strafe des Verbrechens verdient ist, dies zwar kann nie aufgehoben
werden. Das Gesetz kann die Strafe nicht schenken, nicht gnädig
sein, denn es höbe sich selbst auf. Das Gesetz ist vom Verbrecher
gebrochen worden, sein Inhalt ist nicht mehr für ihn, er hat ihn
aufgehoben; aber die Form des Gesetzes, die Allgemeinheit ver-
folgt ihn und schmiegt sich sogar an sein Verbrechen an. Seine
Tat wird allgemein und das Recht, das er aufgehoben hat, ist auch
für ihn aufgehoben.
Also das Gesetz bleibt und das Verdienen einer Strafe bleibt.
Aber das Lebendige, dessen Macht sich mit dem Gesetz vereinigt
hat, der Exekutor, der das im Begriff verlorene Recht dem Ver-
brecher in der Wirklichkeit nimmt, der Richter, ist nicht die ab-
strakte Gerechtigkeit, sondern ein Wesen, und Gerechtigkeit nur
seine Modifikation. Die Notwendigkeit des Verdienens der Strafe
steht fest, aber die Übung der Gerechtigkeit ist nichts Notwendiges,
weil sie als Modifikation eines Lebendigen auch vergehen, eine
andere Modifikation eintreten kann, und so wird Gerechtigkeit
etwas Zufälliges. Es kann zwischen ihr als allgemein gedacht,
und zwischen ihr als wirklich, d. h. in einem Lebendigen seiend,
ein Widerspruch sein ; ein Rächer kann es aufheben, sich zu rächen,
ein Richter, als Richter zu handeln; ein Richter kann begnadigen.
148 G.W. F. HEGEL
Aber damit ist der Gerechtigkeit nicht Genüge geleistet; diese ist
unbeugsam, und so lange Gesetze das Höchste sind, so lange kann
ihr nicht entflohen werden, so lange muß das Individuelle dem
Allgemeinen aufgeopfert, d. h., es muß getötet werden. Darum
ist es auch widersprechend zu denken, als ob das Gesetz an einem
Repräsentanten vieler gleicher Verbrecher sich befriedigen könn-
te; denn insofern auch sie in ihm die Strafe ausstehen sollten, ist
er das Allgemeine, der Begriff derselben, und das Gesetz, als ge-
bietend oder als strafend, ist nur dadurch Gesetz, daß es Beson-
deren entgegengesetzt ist. Das Gesetz hat die Bedingung seiner
Allgemeinheit darin, daß die handelnden Menschen oder Hand-
lungen besondere sind, und die Handlungen sind besondere, in-
sofern sie in Beziehung auf die Allgemeinheit, auf die Gesetze
betrachtet werden, als ihnen gemäß oder zuwider, und insofern
kann ihr Verhältnis, ihre Bestimmtheit keine Veränderung leiden ;
sie sind wirklich, sie sind, was sie sind; was geschehen ist, kann
nicht ungeschehen gemacht werden. Die Strafe folgt der Tat;
ihr Zusammenhang ist unzerreißbar. Gibt es keinen Weg, eine
Handlung ungeschehen zu machen, ist ihre Wirklichkeit ewig,
so ist keine Versöhnung möglich, auch nicht durch Ausstehen
der Strafe. Das Gesetz ist wohl dadurch befriedigt, denn der
Widerspruch zwischen seinem ausgesprochenen Soll und zwischen
der WirkUchkeit des Verbrechens, die Ausnahme, die der Ver-
brecher von der Allgemeinheit machen wollte, ist aufgehoben.
Allein der Verbrecher ist nicht mit dem Gesetz — dies sei für den
Verbrecher ein fremdes Wesen, oder subjektiv in ihm, als böses
Gewissen — versöhnt. In jenem Fall hört die fremde Macht,
welche der Verbrecher gegen sich selbst geschaffen und bewaffnet
hat, dieses feindselige Wesen, auf, wenn es gestraft hat, auf ihn
zu wirken ; wenn es auf eben die Art, auf welche der Verbrecher
wirkte, auf ihn zurückgewirkt hat, läßt es zwar ab, zieht sich aber
in die drohende Stellung zurück und seine Gestalt ist nicht ver-
schwunden oder freundlich gemacht. An dem bösen Gewissen,
dem Bewußtsein einer bösen Handlung, seiner selbst als eines Bö-
sen, ändert die erlittene Strafe nichts, denn der Verbrecher schaut
sich immer als Verbrecher; er hat über seine Handlung als eine
Wirklichkeit keine Macht, und diese seine Wirklichkeit ist im
DAS LEBEN JESU 149
Widerspruch mit seinem Bewußtsein des Gesetzes. Und doch
kann der Mensch diese Angst nicht aushaken; der schreckHchen
WirkUchkeit des Bösen und der Unveränderiichkeit des Gesetzes
kann er nur zu der Gnade entfliehen; der Druck und Schmerz
des bösen Gewissens kann ihn wieder zu einer Unredlichkeit trei-
ben, sich selbst und damit dem Gesetz und der Gerechtigkeit zu
entlaufen zu suchen ; er wirft sich dem Handhaber der abstrakten
Gerechtigkeit, seine Güte zu erfahren, in den Schoß, von welcher
er hofft, daß sie ein Auge bei ihm zudrücken, ihn anders ansehen
möchte, als er ist; er selbst leugnet zwar sein Vergehen nicht,
aber er tut den unredlichen Wunsch, daß die Güte sich selbst
seine Vergehen leugne und findet Trost in dem Gedanken, in der
unwahren Vorstellung, die ein anderes Wesen sich von ihm macht.
Und so gäbe es keine Rückkehr zur Einigkeit des Bewußtseins
auf einem reinen Wege, keine Aufhebung der Strafe des drohen-
den Gesetzes und des bösen Gewissens, als ein unendliches Betteln,
wenn die Strafe nur als etwas Absolutes angesehen werden muß,
wenn sie unter keiner Bedingung stünde, und keine Seite hätte,
von welcher sie mit einer Bedingung eine höhere Sphäre vor sich
hätte. Gesetz und Strafe kann nicht versöhnt, aber in der Ver-
söhnung des Schicksals aufgehoben werden. Die Strafe ist Wir-
kung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch sich
losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem —
weder der Strafe, noch seiner Tat — er nicht entfliehen kann.
Denn da der Charakter des Gesetzes Allgemeinheit ist, so hat der
Verbrecher zwar die Materie des Gesetzes zerbrochen, aber die
Form, die Allgemeinheit bleibt und das Gesetz, über das er Meister
geworden zu sein glaubt, bleibt, erscheint aber seinem Inhalt nach
entgegengesetzt; es hat die Gestalt der dem vorigen Gesetze wider-
sprechenden Tat; der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der All-
gemeinheit und ist Gesetz. Diese Verkehrtheit desselben, daß er
das Gegenteil dessen wird, was er vorher war, ist die Strafe. In-
dem sich der Mensch vom Gesetz losgemacht hat, bleibt er ihm
noch Untertan ; und da das Gesetz als Allgemeines bleibt, so bleibt
auch die Tat, denn sie ist das Besondere. Die Strafe als Schicksal
vorgestellt ist ganz anderer Art. Das Schicksal ist eine feindliche
Macht, ein Individuelles, in dem Allgemeines und Besonderes auch
150 G.W. F. HEGEL
in der Rücksicht vereinigt ist, daß in ihm das Sollen und die Aus-
führung dieses SoUens nicht getrennt ist, wie beim Gesetz, das
nur eine Regel, ein Gedachtes ist und eines ihm Entgegengesetzten,
eines Wirklichen bedarf, von dem es Gewalt erhält. In dieser
feindlichen Macht ist auch das Allgemeine vom Besonderen nicht
in der Rücksicht getrennt, wie das Gesetz als Allgemeines dem
Menschen oder seinen Neigungen als dem Besonderen entgegen-
gesetzt ist. Das Schicksal ist nur der Feind, und der Mensch steht
ihm ebensogut als kämpfende Macht gegenüber, da hingegen das
Gesetz als Allgemeines das Besondere beherrscht und diesen Men-
schen unter seinem Gehorsam hat. Das Verbrechen des Menschen,
der unter dem Schicksal befangen betrachtet wird, ist dann nicht
eine Empörung des Untertanen gegen seinen Regenten, das Ent-
laufen des Knechts von seinem Herrn, das Freimachen von einer
Abhängigkeit, nicht ein Lebendigwerden aus einem toten Zu-
stande, denn der Mensch ist, und vor der Tat ist keine Trennung,
kein Entgegengesetztes, viel weniger ein Beherrschendes, [sondern
ein Töten des Lebens]. Erst die Tat hat ein Gesetz erschaffen,
dessen Herrschaft nun eintritt; dies Gesetz ist die Vereinigung im
Begriffe, die Gleichheit des anscheinend fremden, verletzten Le-
bens und des eignen. Jetzt erst tritt das verletzte Leben als eine
feindselige Macht gegen den Verbrecher auf und mißhandelt ihn,
wie er mißhandelt hat.
So ist die Strafe als Schicksal die gleiche Rückwirkung der Tat
des Verbrechers selbst, einer Macht, die er selbst bewaffnet, eines
Feindes, den er selbst sich zum Feinde machte. Keine Möglich-
keit denkbar, wie die Strafe aufgehoben werde und das Bewußt-
sein der bösen Wirklichkeit verschwinden könnte, weil das Ge-
setz eine Macht ist, über welche nichts, welcher das Leben Unter-
tan, über welche selbst nicht die Gottheit ist. Denn sie ist nur die
Gewalt des höchsten Gedankens, nur das Handhaben des Gesetzes.
Aber bei der Strafe als Schicksal ist das Gesetz später als das Leben
und das Leben kann seine Wunden wieder heilen, das getrennte
feindliche Leben in sich selbst zurückkehren und das Machwerk
eines Verbrechers, das Gesetz und die Strafe auf heben. Nur durch
ein Herausgehen aus dem einigen, weder durch Gesetz regu-
lierten, noch gesetzwidrigen Leben, durch Töten des Lebens, wird
DAS LEBEN JESU 151
ein Fremdes geschaffen. Vernichtung des Lebens ist nicht ein
Nichtsein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernich-
tung besteht darin, daß es umgeschaffen worden ist. Es ist un-
sterblich, und getötet erscheint es als sein schreckendes Gespenst,
das alle seine Zweige geltend macht, seine Eumeniden losläßt. Die
Täuschung des Verbrechens, das fremdes Leben zu zerstören und
sich damit erweitert glaubt, löst sich dahin auf, daß der abge-
schiedene Geist des verletzten Lebens gegen es auftritt, wie Ban-
quo, der als Freund zu Macbeth kam, in seinem Morde nicht ver-
tilgt war, sondern im Augenblick darauf doch seinen Stuhl ein-
nahm, nicht als Genosse des Mahls, sondern als böser Geist. Der
Verbrecher meinte, es mit fremdem Leben zu tun zu haben; aber
er hat nur sein eignes Leben zerstört; denn Leben ist vom Leben
nicht verschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist, und
in seinem Übermut hat er zwar zerstört, aber nur die Freundlich-
keit des Lebens; er hat es in einen Feind verkehrt; es ist nur die
Lücke desselben, das mangelnde Leben als Macht. Die Tat eines
Verbrechers ist, auf diese Art betrachtet, kein Fragment; die Hand-
lung, die aus dem Leben, aus dem Ganzen kommt, stellt auch
das Ganze dar. Das Verbrechen, das die Übertretung eines Ge-
setzes ist, ist nur ein Fragment, denn außer ihr ist schon das Ge-
setz, das nicht zu ihr gehört. Das Verbrechen, das aus Leben
kommt, stellt dieses Ganze, aber geteilt, dar, und die feindseligen
Teile können wieder zum Ganzen zusammengehen.
[Verbrechen und Strafe stehen nicht mehr im Verhältnis der
Ursache und Wirkung, deren bestimmendes Band ein Objektives,
ein Gesetz wäre; in diesem Falle könnte Ursache und Wirkung
als schlechthin getrennt nicht mehr vereinigt werden ; das Schick-
sal hingegen, das auf den Verbrecher rückwirkende Gesetz, kann
aufgehoben werden, weil er das Gesetz selbst aufgestellt hat; die
Trennung, die er gemacht hat, kann vereinigt werden ; diese Ver-
einigung ist in der Liebe.] Mit dem Schicksal scheint eine Ver-
söhnung noch schwerer denkbar zu sein, als mit dem strafenden
Gesetze, da, um das Schicksal zu versöhnen, die Vernichtung auf-
gehoben werden zu müssen scheint. Aber das Schicksal hat vor
dem strafenden Gesetz in Ansehung der Versöhnbarkeit das vor-
aus, daß es innerhalb des Gebiets des Lebens sich befindet, ein
152 G.W. F. HEGEL
Verbrechen aber unter Gesetz und Strafe im Gebiete unüberwind-
licher Entgegensetzung, absoluter Wirklichkeiten. Eine Wirklich-
keit kann nur vergessen werden, d. h. in einer andern Schwäche
sich als Vorgestelltes verlieren, wodurch ihr Sein doch als bleibend
gesetzt würde.
Von da an, wo der \^erbrecher die Zerstörung seines eignen
Lebens fühlt (Strafe leidet), oder sich (im bösen Gewissen) als
zerstört erkennt, hebt die Wirkung seines Schicksals an, und dies
Gefühl des zerstörten Lebens muß eine Sehnsucht nach dem
Verlorenen werden. Das Mangelnde wird erkannt als sein Teil,
als das, was in ihm sein sollte und nicht in ihm ist, Diese Lücke
ist nicht ein Nichtsein, sondern das Leben als nichtseiend erkannt
und gefühlt. Dies Schicksal als möglich empfunden ist die Furcht
vor ihm und ist ein ganz andres Gefühl, als die Furcht vor der
Strafe. Jenes ist die Furcht vor der Trennung, eine Scheu vor
sich selbst; die Furcht vor der Strafe ist die Furcht vor einem
Fremden; denn wenn auch das Gesetz als eignes Gesetz erkannt
wird, so ist in der Furcht vor der Strafe die Strafe ein Fremdes,
wenn sie nicht als Furcht vor Unwürdigkeit vorgestellt wird; aber
in der Strafe kommt zur Unwürdigkeit auch die Wirklichkeit
eines Glücks hinzu, das der Begriff des Menschen verloren, d. h.
dessen der Mensch unwürdig geworden ist; die Strafe setzt also
einen fremden Herrn dieser Wirklichkeit voraus und die Furcht
vor der Strafe ist Furcht vor ihm. Im Schicksal hingegen ist die
feindliche Macht die Macht des verfeindeten Lebens, also Furcht
vor dem Schicksal nicht die Furcht vor einem Fremden.
Auch bessert die Strafe nicht, weil sie nur ein Leiden ist, ein
Gefühl der Ohnmacht gegen einen Herrn, mit dem der Verbrecher
nichts gemein hat und nichts gemein haben will. Sie kann nur
Eigensinn bewirken, Hartnäckigkeit im Widerstand gegen einen
Feind, von welchem unterdrückt zu werden Schande wäre, weil
der Mensch sich darin selbst aufgäbe. Im Schicksal aber erkennt
der Mensch sein eignes Leben und sein Flehen zu demselben ist
nicht das Flehen zu einem Herrn, sondern ein Wiederkehren und
Nahen zu sich selbst. Das Schicksal, in welchem der Mensch
das Verlorene fühlt, bewirkt eine Sehnsucht nach dem verlorenen
Leben. Diese Sehnsucht kann, wenn von Bessern und Gebessert-
DAS LEBEN JESU 153
werden gesprochen werden soll, schon eine Besserung heißen,
weil sie, indem sie ein Gefühl des Verlusts des Lebens ist, das
Verlorene als Leben, als ihr einst Freundliches erkennt; und dies
ist schon selbst Erkenntnis, ist schon selbst ein Genuß des Lebens
und die Sehnsucht kann so gewissenhaft sein, d. h. im Wider-
spruch des Bewußtseins ihrer Schuld und des wiederangeschauten
Lebens sich von der Rückkehr zu diesem zurückhalten, so sehr
das böse Bewußtsein und das Gefühl des Schmerzes verlängern
und jeden Augenblick es aufreizen, um sich nicht leichtsinnig
mit dem Leben, sondern aus tiefer Seele sich wieder zu vereinigen,
es wieder als Freund zu begrüßen. In Opfern und Büßungen
haben Verbrecher sich selbst Schmerzen gemacht, als Wallfahrer
im härenen Hemde und barfuß bei jedem Tritt auf den heißen
Sand, das Bewußtsein des Bösen, den Schmerz verlängert und
vervielßiltigt und einesteils ihren Verlust, ihre Lücke ganz durch-
gefühlt, andernteils zugleich dies Leben, obwohl als FeindUches,
ganz darin angeschaut und sich so die Wiederaufnahme ganz
möglich gemacht. Denn die Entgegensetzung ist die Möglichkeit
der Wiedervereinigung und soweit es im Schmerz entgegengesetzt
war, ist es fähig, wieder aufgenommen zu werden. Weil auch
das Feindliche als Leben gefühlt wird, darin liegt die Möglichkeit
der Versöhnung des Schicksals. Diese Versöhnung ist weder die
Zerstörung der Unterdrückung eines Fremden, noch ein Wider-
spruch zwischen Bewußtsein seiner selbst und der gehofften Ver-
schiedenheit der Vorstellung von sich in einem andern, oder ein
Widerspruch zwischen dem Verdienen dem Gesetze nach und
der Erfüllung desselben, dem Menschen als Begriff und dem
Menschen als Wirklichem. Dies Gefühl des Lebens, das sich selbst
wiederfindet, ist die Liebe, und in ihr versöhnt sich das Schicksal.
Die Gerechtigkeit ist befriedigt, denn der Verbrecher hat das
gleiche Leben, das er verletzt hat, in sich als verletzt gefühlt.
Die Stacheln des Zerreißens sind stumpf geworden, denn aus der
Tat ist ihr böser Geist gewichen; es ist nichts Feindseliges mehr
im Menschen und sie bleibt höchstens als ein seelenloses Gerippe
im Beinhause der Wirklichkeit, im Gedächtnis liegen.
[So ist das Schicksal nichts Fremdes, wie die Strafe, nicht ein
Festbestimmtes, Wirkliches, wie die böse Handlung im Gewissen.
154 G.W. F. HEGEL
Das Schicksal ist das Bewußtsein seiner selbst, aber als eines Feind-
lichen. Das Ganze kann in sich die Freundschaft wiederherstellen,
es kann zu seinem reinen Leben durch Liebe zurückkehren. So
wird sein Bewußtsein wieder Glaube an sich selbst; die Anschauung
seiner selbst ist eine andere geworden und das Schicksal ist ver-
söhnt. Vergebung der Sünden ist daher unmittelbar nicht Auf-
hebung der Strafen, denn jede Strafe ist etwas Positives, Wirkliches,
das nicht vernichtet werden kann ; nicht Aufhebung des bösen
Gewissens, denn keine Tat kann ungeschehen gemacht werden,
sondern durch Liebe versöhntes Schicksal.
Das Schicksal ist entweder aus eigner, oder andrer Tat entstan-
den.] Wer einen ungerechten Angriff leidet, kann sich wehren
und sich und sein Recht behaupten, oder auch sich nicht wehren.
Mit seiner Reaktion, sie sei duldender Schmerz oder Kampf, fängt
seine Schuld, sein Schicksal an. In beiden Fällen leidet er keine
Strafe, aber auch nicht Unrecht. Im Kampf hält er an seinem
Rechte fest und behauptet es; auch im Dulden gibt er sein Recht
nicht auf; sein Schmerz ist der Widerspruch, daß er sein Recht
erkennt, aber die Kraft nicht hat, es festzuhalten, und sein Schick-
sal ist seine Willenlosigkeit; er streitet nicht dafür. Wer für das
kämpft, was in Gefahr ist, hat das nicht verloren, für was er streitet
[und läßt es in der Idee auch nicht fahren und sein Leiden ist ge-
rechtes Schicksal. Aber er kann dies Leiden, dies Schicksal über-
treffen, wenn er das angegriffene Recht aufgibt, wenn er dem
Beleidiger seinen Fehler verzeiht. Daß beides, der Kampf für
Rechte und das Aufgeben der Rechte ein unnatürlicher Zu-
stand ist, erhellt daraus, daß in beiden ein Widerspruch ist]. Durch
die Selbstverteidigung des Beleidigten wird der Angreifende gleich-
falls angegriffen, und dadurch in das Recht der Selbstverteidigung
gesetzt, so daß beide Recht haben, beide im Kriege sich befinden,
der beiden das Recht, sich zu verteidigen, gibt, und entweder
lassen sie auf Gewalt und Stärke die Entscheidung des Rechts an-
kommen, oder, da doch das Recht und die Wirklichkeit nichts
miteinander gemein haben, sie vermischen beide und machen jenes
von dieser abhängig, sie unterwerfen sich einem Richter, d. h., in-
sofern sie feindselig sind, geben sie sich wehrlos, tot an; sie tun
auf ihre eigne Beherrschung der Wirklichkeit, auf Macht Verzicht,
DAS LEBEN JESU 155
und lassen ein Fremdes, ein Gesetz im Munde des Richters über
sich sprechen ; sie unterwerfen sich also einer Behandlung, gegen
welche doch jeder Teil protestierte, indem sie der Kränkung ihres
Rechtes widersprachen, d. h. sich gegen die Behandlung durch
einen andern setzten. Derjenige, der das fahren läßt, dem ein an-
derer feindselig sich naht, das sein zu nennen aufhört, was der
andere antastet, entgeht dem Schmerz über Verlust, er entgeht dem
Behandeltwerden durch den andern oder durch den Richter, er
entgeht der Notwendigkeit, den andern so zu behandeln. Welche
Seite an ihm berührt wird, aus der zieht er sich zurück und über-
läßt nur eine Sache, die er im AugenbUck des Angriffs zu einer
fremden gemacht hat, dem andern. Diese Aufhebung einer Be-
ziehung, die eine Abstraktion von sich selbst ist, hat aber seine
Grenzen. Um sich zu retten, tötet der Mensch sich; um das Sei-
nige nicht in fremder Gewalt zu sehen, nennt er es nicht mehr
das Seinige, und so vernichtet er sich, indem er sich erhalten
wollte, denn was unter fremder Gewalt wäre, wäre nicht mehr er.
Je lebendiger die Beziehungen sind, aus denen eine edle Natur
sich zurückziehen muß, weil sie befleckt sind, da sie, ohne sich
selbst zu verunreinigen, nicht darin bleiben könnte, desto größer
ist ihr Unglück. Dies Unglück aber ist weder ungerecht noch ge-
recht. Es wird nur dadurch ihr Schicksal, daß sie mit eignem
Willen, mit Freiheit jene Beziehungen verschmäht. Alle Schmerzen,
die ihr daraus entstehen, sind alsdann gerecht und sind jetzt ihr
unglückliches Schicksal, das sie selbst mit Bewußtsein gemacht
hat, und ihre Ehre ist es, gerecht zu leiden ; denn sie ist über diese
Rechte so sehr erhaben, daß sie sie zu Feinden haben wollte. Und
weil dies Schicksal in ihr selbst liegt, so kann sie es ertragen, ihm
gegenüber stehen, denn ihre Schmerzen sind nicht eine reine
Passivität, die Übermacht eines Fremden, sondern ihr eigenes Pro-
dukt. Das Unglück kann so groß werden, daß sein Schicksal,
diese Selbsttötung im Verzichttun auf Leben den Menschen so weit
treibt, daß er sich ganz ins Leere zurückziehen muß.
[Beides, der Kampf und das Vergeben, sollte seine Grenze haben,
und es ist nichts, das nicht angegriffen und das nicht aufgegeben
werden könnte. Und so schwankt auch Jesus, mehr in seinem
Betragen als in seiner Lehre, zwischen beidem.
is6 G.W. F. HEGEL
Wird der Mensch durch andere Tat in ein Schiclcsal verflochten,
so kann er dieses versöhnen, wenn er von seiner Seite die Feind-
schaft gar nicht stattfinden läßt oder sie aufhebt, dem Beleidiger
verzeiht und sich mit ihm versöhnt.] Diese Verzeihung der Fehler,
die Bereitwilligkeit, sich mit dem andern zu versöhnen, macht
Jesus so bestimmt zur Bedingung der Verzeihung für seine eignen
Fehler, der Aufhebung eines eignen feindseligen Schicksals. Beide
sind nur verschiedene Anordnungen desselben Charakters der
Seele. In der Versöhnung gegen ^^« Beleidiger besteht das Gemüt
nicht mehr auf der rechtlichen Entgegensetzung, die es gegen jenen
erwarb, und indem es sich als sein feindliches Schicksal, den bösen
Genius des andern aufgibt, versöhnt es sich mit ihm und hat für
sich selbst ebenso viel Leben, das ihm feindlich war, sich zum
Freunde gemacht, das Göttliche mit sich versöhnt und das durch
eigene Tat gegen sich bewaffnete Schicksal ist in die Lüfte der
Nacht zerflossen.
Indem sich aber so der Mensch das vollständigste Schicksal selbst
gegenübersetzt, so hat er sich zugleich über alles Schicksal er-
hoben. Das Leben ist ihm untreu geworden, aber er nicht dem
Leben. Er hat es geflohen, aber nicht verletzt, und er mag sich
nach ihm als einem abwesenden Freunde sehnen, aber es kann
ihn nicht als ein Feind verfolgen und er ist auf keiner Seite ver-
wundbar; wie die schamhafte Pflanze zieht er sich bei jeder Be-
rührung in sich, und ehe er das Leben sich zum Feind machte,
ehe er ein Schicksal gegen sich aufreizte, entflieht er dem Leben.
So verlangte Jesus von seinen Freunden Vater, Mutter und alles
zu verlassen, um nicht in einen Bund mit der entw^ürdigten Welt
und so in die Möglichkeit eines Schicksals zu kommen. Ferner:
«Wer dir deinen Rock nimmt, dem gib auch den Mantel. Wenn
ein Glied dich ärgert, so haue es ab. » Die höchste Freiheit ist das
negative Attribut der Schönheit der Seele, d. h. die Möglichkeit,
auf alles Verzicht zu tun, um sich zu erhalten. Wer aber sein
Leben retten will, der wird es verlieren. So ist mit der höchsten
Schuldlosigkeit die höchste Schuld, mit der Erhabenheit über alles
Schicksal das höchste, unglücklichste Schicksal vereinbar.
Ein Gemüt, das so über die Rechtsverhältnisse erhaben, von
keinem Objektiven befangen ist, hat dem Beleidiger nichts zu ver-
DAS LEBEN JESU 1 57
zeihen, denn dieser hat ihm kein Recht verletzt, denn es hat es auf-
gegeben, wie sein Objekt angetastet wurde. Es ist für die Ver-
söhnung offen, denn es ist ihm möglich, sogleich jede lebendige
Beziehung wieder aufzunehmen, in die Verhältnisse der Freund-
schaft, der Liebe wieder einzutreten, da es in sich kein Leben ver-
letzt hat. Von seiner eigenen Seite steht ihm keine feindseHge
Empfindung im Wege, kein Bewußtsein, keine Forderung an den
andern, das verletzte Recht wiederherzustellen, kein Stolz, der
vom andern das Bekenntnis verlangte, in einer niedrigem Sphäre,
dem rechtlichen Gebiete, unter ihm gewesen zu sein.
Außer dem persönlichen Haß, der aus der Beleidigung ent-
springt, die dem Individuum widerfahren ist, und welcher das
daraus gegen den andern erwachsene Recht in Erfüllung zu
bringen strebt, außer diesem Haß gibt es noch einen Zorn der
Rechtschaffenheit, eine hassende Strenge der Pflichtgemäßheit,
welche nicht über eine Verletzung ihres Individuums, sondern
über eine Verletzung ihrer Begriffe, der Pflichtgebote zu zürnen
hat. Dieser rechtschaffene Haß, indem er Pflichten und Rechte für
andere erkennt und setzt und im Urteile über sie sie als denselben
unterworfen darstellt, setzt eben da seine Rechte und Pflichten
für sich, und indem er in seinem gerechten Zorn über die Verletzer
derselben ihnen ein Schicksal macht und ihnen nicht verzeiht,
hat er damit auch sich selbst die Möglichkeit, Verzeihung für
Fehler zu erhalten, mit einem Schicksal, das ihn darüber träfe,
ausgesöhnt zu werden, benommen, denn er hat Bestimmtheiten
befestigt, die ihm über seine Wirklichkeiten, über seine Fehler sich
emporzuschwingen nicht erlauben. Hieher gehören die Gebote:
«Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet, denn mit welchem
Maß ihr messet wird euch wieder gemessen.» Das Maß sind
Gesetze und Rechte. Jenes Gebot kann doch nicht heißen: Was
ihr andern wider die Gesetze nachseht und erlaubt, wird euch
auch nachgesehen werden, wie ein Bund schlechter Menschen
jedem Einzelnen die Erlaubnis erteilt, schlecht zu sein. [Es kann
nicht heißen : Dispensiert andre von dem Rechttun und der Liebe,
so seid ihr davon dispensiert], sondern: Hütet euch, das Rechttun
und die Liebe als eine Abhängigkeit von Gesetzen und Gehorsam
gegen Gebote zu nehmen und sie nicht als aus dem Lebendigen
158 G.W. F. HEGEL
kommend zu betrachten; ihr erkennt eine Herrschaft über euch,
über die ihr nichts vermögt, die stärker ist als ihr; ihr setzt für
euch sowie für andre ein vor der Tat Fremdes; ihr erhebt zu
einem Ganzen ein Fragment des menschlichen Gemüts und stellt
darin eine Herrschaft der Gesetze und Knechtschaft der Sinnlich-
keit oder des Individuums auf und setzt auf diese Art die Mög-
lichkeit von Strafen, nicht eines Schicksals, jene von außen her,
von einem Unabhängigen kommend, dieses durch seine Natur,
obzwar als ein jetzt Feindseliges bestimmt, aber doch nicht über
dem Menschen, sondern nur gegen ihn.
Ein Schicksal, in das der Mensch durch die Tat andrer ver-
wickelt würde, wenn er den Fehdehandschuh aufnähme und sich
in sein Recht gegen den Beleidiger setzte, wird abgewendet durch
Aufgebung des Rechts und Festhalten an der Liebe. Aber das
Schicksal hat ein ausgedehnteres Gebiet als die Strafe; auch von
der Schuld ohne Verbrechen wird es aufgereizt und ist darum un-
endlich strenger als die Strafe. Seine Strenge scheint oft in die
schreiendste Ungerechtigkeit überzugehen, wenn es der erhabensten
Schuld, der Schuld der Unschuld gegenüber um so fürchter-
licher auftritt. Weil nämlich die Gesetze nur gedachte Ver-
einigungen von Entgegensetzungen sind, so erschöpfen diese Be-
griffe bei weitem die Vielseitigkeit des Lebens nicht und die
Strafe übt nur soweit ihre Herrschaft aus, als das Leben zum
Bewußtsein gekommen, wo eine Trennung im Begriffe vereinigt
worden ist. Aber über die Beziehungen des Lebens, die nicht
aufgelöst, über die Seiten des Lebens, die lebendig vereinigt ge-
geben sind, über die Grenzen der Tugenden hinaus übt sie keine
Gewalt. Das Schicksal hingegen ist unbestechlich und unbegrenzt
wie das Leben ; es kennt keine gegebenen Verhältnisse, keine Ver-
schiedenheit der Standpunkte, der Lage, keinen Bezirk der Tugend.
Wo Leben verletzt ist, sei es auch noch so rechtlich, so mit Selbst-
zufriedenheit geschehen, da tritt das Schicksal auf, und man kann
darum sagen : nie hat die Unschuld gelitten, jedes Leiden ist Schuld.
Aber die Ehre einer reinen Seele ist um so größer, mit je mehr
Bewußtsein sie Leben verletzt hat, um das Höchste zu erhalten,
um so viel schwärzer das Verbrechen, mit je mehr Bewußtsein
eine unreine Seele Leben verletzt. Ein Schicksal scheint nur durch
DAS LEBEN JESU 159
fremde Tat entstanden; diese ist nur die Veranlassung; wodurch
es aber entsteht, ist die Art der Realction gegen die fremde Tat.
Dadurch, daß der Mensch sich in Gefahr begibt, hat er sich
dem Schicksal unterworfen, denn er tritt auf den Kampfplatz
Macht gegen Macht und wagt sich gegen ein Anderes. Die Tapfer-
keit aber ist größer als schmerzendes Dulden, weil jene, wenn sie
auch unterUegt, diese Möglichkeit vorher erkannte, also mit Be-
wußtsein die Schuld übernahm, die schmerzende Passivität hin-
gegen nur an ihrem Mangel hängt und ihm nicht eine Fülle von
Kraft entgegensetzt. Das Leiden der Tapferkeit aber ist auch ge-
rechtes Schicksal, weil der Tapfere sich ins Gebiet des Rechts
und der Macht einließ und darum ist schon der Kampf der Rechte
ein unnatürlicher Zustand, so gut als das passive Leiden, in wel-
chem der Widerspruch zwischen dem Begriffe vom Rechte und
seiner Wirklichkeit ist; denn auch im Kampfe für Rechte liegt
ein Widerspruch. Das Recht, das ein Gedachtes, also ein Allge-
meines ist, ist in dem Angreifenden ein anderes Gedachtes. Also
gäbe es hier zwei Allgemeine, die sich aufhöben und doch sind.
Ebenso sind die Kämpfenden als Wirkliche entgegengesetzt, zwei-
erlei Lebende, Leben im Kampfe mit Leben, welches sich wie-
derum widerspricht.
Das Wahre beider Entgegengesetzten, der Tapferkeit und der
Passivität, vereinigt sich so in der Schönheit der Seele, daß von jener
das Leben bleibt, die Entgegensetzung aber wegfällt, von dieser der
Verlust des Rechts bleibt, der Schmerz aber verschwindet. Und so
geht eine Aufhebung des Rechts ohne Leiden hervor, eine lebendige,
freie Erhebung über den Verlust des Rechts und über den Kampf.
(Lücke der Handschrift) [die Tochter gegen die Mutter, die
Braut gegen die Schwiegermutter. Wer Vater oder Mutter, Sohn
oder Tochter mehr liebt, als mich, ist meiner nicht würdig. Er
konnte dem gräßlichen Zerreißen aller Bande der Natur ins Auge
sehen; denn diese schönen, freien Beziehungen waren zugleich
Fesseln, die sich an das Unheiligste knüpften und in die Tyrannei
selbst verflochten waren. Nur ganz reine Gemüter können ohne
Schmerz und Bedauern das Reine und das Unreine sc-heiden. Un-
i6o G.W. F. HEGEL
reine Gemüter halten an beiden fest. In der Zerstörung dieser
Amalgamation des Reinen mit dem Unreinen wird denn auch das
Reine beschädigt und mit dem Unreinen zu Boden getreten. Aber
wegen dieser Vermischung konnte Jesus für sich nicht im Reiche
Gottes leben; er konnte es nur in seinem Herzen tragen; mit
Menschen konnte er nicht in Beziehung treten, um sie zu bilden;
durch ein einziges, von beiden Seiten gleiches, freies Verhältnis
wäre er in einen Bund mit dem ganzen Gewebe jüdischer Ge-
setzlichkeiten getreten, und um seine Beziehung nicht zu zerrei-
ßen oder zu beleidigen, hätte er sich von seinen Fäden umschlingen
lassen müssen. Darum isolierte sich Jesus von seiner Mutter, sei-
nen Brüdern und Verwandten. Er durfte kein Weib lieben, keine
Kinder zeugen, nicht Familienvater, nicht Bürger des Staats wer-
den. Nur dadurch, daß er auf alle diese Formen des Lebens Ver-
zicht tat, konnte er sich rein erhalten, denn alle diese Formen
waren entweiht], und weil sein Reich Gottes nicht auf Erden noch
Platz finden konnte, so mußte er es in den Himmel verlegen. Die
lebenverachtende Schwärmerei kann sehr leicht in Fanatismus
übergehen ; denn um sich in ihrer Beziehungslosigkeit zu erhalten,
muß sie dasjenige, von dem sie gestört wird und das, sei es auch
das Reinste, für sie unrein ist, zerstören, und einen Inhalt, oft die
schönsten Beziehungen verletzen. Schwärmer späterer Zeiten
haben das Verschmähen aller Formen des Lebens, weil sie verun-
reinigt sind, zu einer unbedingt leeren Gestaltlosigkeit gemacht,
und jedem Trieb der Natur, bloß weil er eine äußere Form sucht,
den Krieg angekündigt, und um so schrecklicher war die Wirkung
dieser versuchten Selbstmorde, dieses Festhalten an der leeren
Einheit, je fester in den Gemütern die Fessel der Mannigfaltigkeit
war; so blieb ihnen nichts übrig, als eine durch Greueltaten und
Verwüstungen bewerkstelligte Flucht ins Leere. Als aber das
Schicksal der Welt zu groß wurde und sich neben und in der Kir-
che, die mit ihm unverträglich ist, erhielt, so war an keine Flucht
mehr zu denken. Große Heuchler gegen die Natur haben es da-
her versucht, eine widernatürliche Verbindung der Mannigfaltig-
keit der Welt und der lebenlosen Einheit, aller beschränkten, ge-
setzUchen Verhältnisse und menschlichen Tugenden mit dem ein-
fachen Geist zu finden und zu erhalten. Sie erdachten für jede
DAS LEBEN JESU i6i
bürgerliche Handlung oder für jede Äußerung der Lust und der
Begierde einen Schlupfwinkel in der Einheit, um so durch Betrug
jede Beschränkung zugleich sich zu erhalten und sie zu genießen
und ihr zugleich zu entgehen.
Indem Jesus es verschmähte, mit den Juden zu leben, aber mit
seinem Ideal zugleich immer ihre Wirklichkeiten bekämpfte, so
konnte es nicht fehlen, er mußte unter diesen erliegen. Er wich
dieser Entwickelung seines Schicksals nicht aus, aber er suchte
sie freilich auch nicht auf Jedem Schwärmer, der nur für sich
schwärmt, ist der Tod willkommen ; aber wer für einen großen
Plan schwärmt, der kann nur mit Schmerz den Schauplatz ver-
lassen, auf welchem er sich entwickeln sollte. Jesus starb mit der
Zuversicht, daß sein Plan nicht verloren gehen würde.
Nach dem Tode Jesu waren seine Jünger wie Schafe, die keinen
Hirten haben. Es w^ar ihnen ein Freund gestorben, aber sie hatten
auch gehofft, er sei der, der Israel befreien vv^erde (Luk. XXIV, 21),
und diese Hoffnung war mit seinem Tode dahin. Er hatte alles
mit sich ins Grab genommen ; sein Geist war nicht in ihnen zu-
rückgeblieben. [Zwei Tage nach seinem Tode stand Jesus von
dem Tode auf und der Glaube kehrte in ihre Gemüter zurück;
und bald kam der heilige Geist über sie selbst und die Aufer-
stehung wurde der Grund ihres Glaubens und ihres Heils. Da die
Wirkung dieser Auferstehung so groß, da diese Begebenheit der
Mittelpunkt ihres Glaubens wurde, so mußte das Bedürfnis der-
selben sehr tief ihnen sein.] Ihre Religion, ihr Glaube an reines
Leben hatte an dem Individuum Jesus gehangen. Er war ihr le-
bendiges Band und das geoffenbarte, gestaltete Göttliche ; in ihm
war ihnen Gott auch erschienen ; sein Individuum vereinigte ihnen
das Unbestimmte der Harmonie und das Bestimmte in einem Le-
bendigen.
Mit seinem Tode waren sie in die Trennung des Sichtbaren und
Unsichtbaren, des Geistes und des Wirklichen zurückgeworfen.
Zwar das Andenken an dies göttliche Wesen wäre ihnen geblieben,
aber die Gewalt, die sein Sterben über sie ausübte, hätte sich mit
der Zeit in ihnen gebrochen; der Tote würde ihnen nicht ein
bloßer Toter geblieben, der Schmerz über den modernden Körper
nach und nach dem Anschauen seiner Göttlichkeit gewichen sein,
Hegel, Das Leben Jesu il
i62 G.W. F. HEGEL
und der unverwesliche Geist und das Bild reinerer Menschheit wäre
aus einem Grabe ihnen hervorgegangen ; aber der Verehrung dieses
Geistes, dem Genuß des Anschauens dieses Bildes wäre das An-
denken an das Leben dieses Bildes zur Seite gestanden, dieser er-
habene Geist hätte an seiner verschwundenen Existenz immer sei-
nen Gegensatz gehabt. Und die Gegenwart desselben vor der
Phantasie wäre mit einem Sehnen verbunden gewesen, das nur
das Bedürfnis der Religion bezeichnet hätte, aber die Gemeine
hätte noch keinen eignen Gott gehabt. Ein Kreis der Liebe, ein
Kreis von Gemütern, die ihre Rechte an alles Besondere gegenein-
ander aufgeben und nur durch gemeinschaftlichen Glauben und
Hoffnung vereinigt sind, deren Genuß und Freude allein diese
reine Einmütigkeit der Liebe ist, ist ein kleines Reich Gottes. Aber
ihre Liebe ist nicht Religion, denn die Einigkeit, die Liebe der
Menschen enthält nicht zugleich die Darstellung dieser Einigkeit.
Liebe vereinigt sie, aber die Geliebten erkennen diese Vereinigung
nicht; wo sie erkennen, erkennen sie Abgesondertes. Daß der
göttliche Geist erscheine, muß der unsichtbare Geist mit Sicht-
barem vereinigt sein, daß alles in einem Erkennen und Empfinden,
daß eine vollständige Synthese, eine vollendete Harmonie, daß
Harmonie und das Harmonische eins sei. Sonst bleibt [Liebe, was
sie ist,] in Beziehung auf das Ganze der trennbaren Natur ein Trieb,
der für die Unendlichkeit der Welt zu klein und für ihre Objek-
tivität zu groß ist und nicht gesättigt werden kann ; es bleibt der
unauslöschliche, unbefriedigte Trieb nach Gott.
Zur Schönheit, zur Göttlichkeit fehlt dem Bilde das Leben, dem
Göttlichen in der Gemeinschaft der Liebe, diesem Leben Bild und
Gestalt. Aber in dem Auferstandenen und dann gen Himmel Er-
hobenen fand das Bild wieder Leben und die Liebe die Darstellung
ihrer Einigkeit. In dieser Wiedervermählung des Geistes und des
Körpers ist der Gegensatz des Lebendigen und des Toten ver-
schwunden und hat sich in einem Gotte vereinigt. Die sehnende
Liebe hat sich als lebendiges Wesen, dessen Verehrung nun die
Religion der Gemeine ist, gefunden und kann nun sich selbst ge-
nießen. Das Bedürfnis der Religion findet seine Befriedigung in
diesem auferstandenen Jesus, in dieser gestalteten Liebe. Die Be-
trachtung der Auferstehung des Jesus als einer Begebenheit ist der
DAS LEBEN JESU 163
Gesichtspunkt des Geschichtsforschers, der mit der Rehgion nichts
zu tun hat. Der Glaube oder Unglaube an dieselbe, als bloße
Wirklichkeit, ohne das Interesse der Religion, ist eine Sache des
Verstandes, dessen Wirksamkeit, Fixierung der Objektivität ge-
rade der Tod der Religion ist und aufweichen sich zu berufen von
der Religion abstrahieren heißt. Aber freilich scheint der Verstand
ein Recht zu haben, mitzusprechen, da die objektive Seite des
Gottes nicht bloß eine Gestalt der Liebe ist, sondern für sich selbst
besteht und als eine Wirklichkeit in der Welt der Wirklichkeit
einen Platz behauptet. Und darum ist es schwer, die religiöse
Seite des auferstandenen Jesus, die gestaltete Liebe in ihrer Schön-
heit festzuhalten ; denn erst durch eine Apotheose ist er Gott ge-
worden, seine Göttlichkeit ist eine Deifikation eines auch aus Wirk-
lichem Vorhandenen, Er hatte als menschliches Individuum ge-
lebt, war am Kreuz gestorben und begraben worden. Dieser Makel
der Menschlichkeit ist etwas ganz anderes als die Gestalt, die dem
Gotte eigentümlich ist. Das Objektive des Gottes, seine Gestalt
ist nur insoweit objektiv, als er nur die Darstellung der die Ge-
meinde vereinigenden Liebe, nur die reine Entgegensetzung der-
selben ist und nichts enthält, was nicht selbst in der Liebe, aber
hier nur als Entgegengesetztes, was nicht zugleich Empfindung
wäre. So aber kommt zum Bild des Auferstandenen, der zum
Wesen gewordenen Vereinigung noch anderes Beiwesen, voll-
kommen Objektives, Individuelles hinzu, das mit der Liebe ge-
paart werden, aber als Individuelles, als Entgegengesetztes fest
für den Verstand fixiert bleiben soll, das dadurch eine Wirklich-
keit ist, die dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt,
das ihn zu der Erde zieht, da der Gott zwischen dem unendlichen
Himmel und zwischen der Erde, dieser Versammlung von lauter
Beschränkungen, in der Mitte schweben sollte. Sie ist nicht aus
der Seele zu bringen, die Zweierleiheit der Naturen. Wie Her-
kules durch den Holzstoß, hat der Vergötterte auch nur durch ein
Grab zum Heros sich emporgeschwungen. Aber dort sind der
gestalteten Tapferkeit allein, dem zum Gott gewordenen, nicht
mehr kämpfenden, noch dienenden Helden, hier nicht dem Heros
allein die Altäre geweiht, werden die Gebete gebracht; nicht der
Erstandene allein ist das Heil der Sünder und ihres Glaubens Ent-
11*
i64 G.W. F. HEGEL
Zuckung; auch der Lehrende und Wandehide und am Kreuz
Hängende wird angebetet. Diese ungeheure Verbindung ist es,
über welche seit so vielenJahrhundertenMilHonen Gottsuchender
Seelen sich abgekämpft und gemartert haben.
B MORAL
[Bergpredigt, Matth. V — Jesus ßingt mit Schreien an, in denen
er vor der versammelten Menge seinem Herzen und seiner andren
Beurteilungsart menschlicherWerte Luft macht. Begeistert schreit
er aus, daß es nun um eine andre Gerechtigkeit, um andern Wert
des Menschen zu tun sei. Begeistert entfernt er sich sogleich von
der gemeinen Schätzung der Tugenden und kündigt eine andre
Region des Lebens an, in der eine ihrer Freuden sein müsse, von
der Welt verfolgt zu werden, der sie ihre Entgegensetzung gegen
sie zeigen müssen. Dies neue Leben zerbreche aber nicht die
Materie der Gesetze, sondern es sei vielmehr ihre Erfüllung, die
Ergänzung dessen, was unter der Form eines Entgegengesetzten,
als Gesetz bisher vorhanden war. Diese Form des Gebotenseins
soll durch ihr neues Leben vertilgt werden, und vor der Fülle
ihres Geistes, ihres Wesens verschwinden (Matth. V, 21 — 26).
Das Gesetz gegen Totschlag wird durch den höheren Genius der
Versöhnlichkeit erfüllt und zugleich für ihn aufgehoben ; für ihn
gibt es kein solches Gebot.
id. 27 — 30. Erfüllt wird das Gesetz gegen den Ehebruch durch
die Heiligkeit der Liebe und durch die Fähigkeit, wenn man auf
die vielen Seiten des Menschen sich einläßt, sich zu seiner Ganz-
heit zu erheben.
id. 31 — 32. Ehescheidung. Aufhebung der Liebe, der Freund-
schaft gegen ein Weib, in der sie noch ist, macht sie sich selbst
ungetreu werden und sündigen, und die Beobachtung der recht-
lichen Pflicht und Dezenz ist eine elende Beschönigung, eine neue
Härte dieser Verletzung ihrer Liebe.
id. 3 3 — 37. Bist du wahrhaftig, so brauchst du den Zusammen-
hang zwischen deiner Rede und der Tat oder Gedanken nicht an
ein Fremdes zu knüpfen, in die Hand eines Fremden zu legen,
ihn als Herrn dieses Zusammenhangs zu erklären. Du selbst bist
DAS LEBEN JESU 165
über alle fremde Macht erhaben. Das Gesetz, nicht falsch zu
schwören, Gott aber zur Macht über sein Wort zu machen, ist
durch die Wahrhaftigkeit erfüllt und sie ist darüber erhaben.
id. 38 — 42. Gerechtigkeit, gänzliche Erhebung über die Sphäre
des Rechts oder Unrechts durch Aufhebung alles Eigentums.
id. 43 ff. Zusammenfassung des Ganzen.
Kap. VI, I — 4. Almosen, nicht vor den Leuten, nicht vor dir
selbst.]
id. 5 — 15. Gebet. Auch hier sei nur das Beten rein. Mischet
nicht Fremdes ein, gesehen zu werden, sondern betet in euerm
Kämmerlein und ein solches einsames und einzelnes Gebet ist das
Vaterunser. Es ist nicht das Gebet eines Volkes zu seinem Gotte,
sondern das Gebet eines Isolierten, Unsichern, Ungewissen. Dein
Reich komme, dein Name werde geheiligt; — • der Wunsch des
Einzelnen, denn ein Volk kann nicht wünschen. Dein Wille ge-
schehe; — ein Volk von Ehre und Stolz tut seinen eignen Willen
und weiß von keinem andern, als einem Feindlichen; der Einzelne
kann den Willen Gottes und den allgemeinen entgegengesetzt
sehen. Gib uns heute unser täglich Brot ; — eine Bitte der stillen Ein-
falt, die im Munde eines Volkes nicht paßte, das sich seiner Herr-
schaft über die Nahrungsmittel bewußt ist oder unmöglich nur
den Gedanken an die Speise eines Tages haben kann, sondern
wohl um Gedeihen des Ganzen, um freundliche Natur beten kann ;
beten ist nicht bitten. Vergib uns; — auch ein Gebet des Ein-
zelnen ; Nationen sind Getrennte, Abgesonderte ; es ist nicht denk-
bar, wie sie einer andern Nation verzeihen sollen; es könnte
nicht durch eine Vereinigung, sondern durch das Gefühl der
Gleichheit oder des Übergewichts der Macht, Furcht, geschehen.
Das Bewußtsein eigner Sünden, diese Reflexion kann eine Nation
nur durch Schwert erhalten, denn sie kann ihren Willen nicht
unter einem Gesetz anerkennen. Aber der Einzelne kann beten:
So viel Liebe ich habe, so viel möge ich erfahren.
[id. 16 — 18. Fasten. Wie beim Beten und Almosengeben nichts
Fremdes einmischen.
id. 20 — 34. Sich nicht zerstreuen und das Ganze nicht in Sorge
und Abhängigkeit verlieren. Solche partiellen Dinge, Bedürf-
nisse, Reichtum, Nahrung, Kleidung bringen Bestimmtheiten in
i66 G.W. F. HEGEL
den Menschen, die ihn objektiv des reinen Lebens unfähig
machen.
Kap. VII, I — 5. Richten über andere, sie seiner Rede unter-
\verfen im Urteil, die Tyrannei in Gedanken.
id. 7 — I ). Die Vereinigung der Menschen in Bitten und Geben.
id. 1 3 ff. Allgemeines Bild des vollendeten Menschen.
Matth. XII, 3 I ff : 0; iäv ctinj Xo^ov xa-ä toü utoü -cou ov&pjizo'j, dtpsB-T^siTai
a'jtui'S; 8'av e'rr] xaia -oü rveü|jLaTOs toü 0^100, oux accc&r^Oc'ai ct'jiwoüxs ivxo'jxcftiö
a:"(i>vi oy'£ Iv xtp jjlsXXovt'..
id. 34. Aus dem Überfluß des Herzens spricht der Mund; der
gute Mensch gibt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute,
der böse das Böse aus dem bösen Herzen. Wer den Menschen
lästert, der lästert den Einzelnen, den Besonderen; wer aber den
heiligen Geist lästert, lästert die Natur und ist unfähig, Sünden-
vergebung zu erlangen, denn er ist unfähig, mit dem Ganzen sich
zu vereinigen; er bleibt isoliert und ausgeschlossen. Eine solche
Lästerung kommt aus der Fülle des Herzens und zeigt seine Zer-
störung, seine Zerrüttung; seine Unheiligkeit ist des Heiligen un-
fähig, das er gelästert hat, und das Heilige nach Trennung und
Vereinigung ist die Liebe. Ein Zeichen könnte euch etwa er-
schüttern. Aber der ausgetriebene Geist kommt mit sieben andern
zurück, und der Mensch wird zerrütteter als vorher.
C RELIGION
Matth. XVIII, I — 10. Der Größte iv -i^; ßay.Xsi'q; xwv oüpavwv der
dem Kinde am nächsten kommt. Ihre Engel (id. 10) im Himmel
sehen beständig das Angesicht des Vaters, der im Himmel ist.
Unter den Engeln der Kinder kann kein objektives Wesen ver-
standen werden, denn auch von den Engeln der andern Menschen
(um in diesem Ton zu sprechen) müßte gedacht werden, daß sie
Gott anschauen. Ihre unentwickelte Einigkeit, das Bewußtlose,
ihr Sein und Leben in Gott ist in einer Gestalt vorgestellt; dann
ist auch diese wieder substantialisiert, isoliert, ihre Beziehung auf
Gott eine ewige Anschauung desselben. Um den Geist, das Gött-
liche außer der Form dieser Beschränkung und die Gemeinschaft
dieses Beschränkten mit dem Lebendigen zu bezeichnen, setzt
DAS LEBEN JESU 167
Plato das reine Leben und das beschränkte in eine Verschiedenheit
der Zeit; er läßt die reinen Geister vorhin ganz in der Anschau-
ung des Göttlichen gelebt haben und sie im Erdenleben dieselben
sein, nur mit verdunkeltem Bewußtsein jenes Himmlischen. Auf
eine andre Art bezeichnet Jesus die Natur, das Göttliche, als Kin-
der des Geistes, als Engel, die immer im Anschauen Gottes leben.
Auch in dieser Form sind sie nicht als Gott, sondern als Söhne
Gottes, als Besondere dargestellt. Die Entgegensetzung des An-
schauenden gegen das Angeschaute, daß sie als ein Subjekt und
ein Objekt entgegengesetzt sind, fäUt in der Anschauung weg.
Ihre Verschiedenheit ist nur die Möglichkeit der Trennung; ein
Mensch, der die Sonne immer anschaute, wäre nur ein Gefühl
des Lichts, das Gefühl als Wesen ; wer ganz in der Anschauung
eines andern Menschen lebte, wäre dieser andere selbst, nur mit
der Möglichkeit eines Andersseins. Unmittelbar damit in Ver-
bindung gesetzt: ^X6sv 6 U!Ö; x'/j dvfl-piÜTto'j awgai xo ccxoXwXö;, und das Ge-
bot, sich zu versöhnen, Entzweiung aufzuheben und einig zu
werden; diese Einigkeit ist das Anschauen Gottes, das Werden
wie Kinder. Wenn der Beleidiger nicht auf die Gemeine hört, so
sei er als Heide und Zöllner. Wer sich absondert, die versuchte
Vereinigung verschmäht, fest dagegen hält (Der Satz ist unvoll-
endet geblieben.) Ferner stellt Jesus diese Einigkeit in andrer
Form dar (XVIII, 19): Wenn zwei von euch über etwas einig sind
und ihr bittet darum, so wird es euch der Vater gew^ähren, und
fügt bei: Was ihr binden oder lösen werdet, ist im Himmel gelöst
oder gebunden; was euch entgegengesetzt ist, ist der Gottheit
fremd, schaut sie nicht an. Die Ausdrücke: bitten, gewähren, sind
so gemein geworden und werden (Lücke der Handschrift )\
D GESCHICHTE
Die Form, wie er als Einzelner gegen Einzelne, und Einzelne
gegen ihn stehen. Ausbreitung seiner Lehre.
Der Anfang seines Predigens. Matth. IV, 17 : ptavoshe • t^^y^xsv y«?
71 ßaaiXeta -cdiv oüpavuiv.
Ibid. 19. Anwerbung Simons und Andreas': xoiyjaoi ujiäc; äXesi;
dv&pojTCojv.
Matth. VIII, 20: ö uw; xoü dv&pwTCOu oux lyst iroü xrjv xscpaXrjv xXtvi[].
168 G.W. F. HEGEL
V III, 22 : axoXoü^ai jio'., zal «(ch; -coü; vczpoü; &oiat "oü; ia'jtojv vE/pcit;;.
In beiden Fällen das Verzichttun auf das Gewebe menschlicher
Verhältnisse und Bedürfnisse. Trennung von ihrem Leben. Aber
nicht Absonderung von Zöllnern und Sündern (Matth. IX, ii).
Zustand des jüdischen Volkes; wie Schafe ohne Hirten (IX, 36).
— Zu den Pharisäern: «Könnet ihr nicht die Zeichen der Zeit
beurteilen?» — Ausschickung der Zwölf (Matth. X, 5). Ihre In-
struktionspredigt: r/fY^cv r] ^az'Xzia twv oöpavojv. Das Übrige negativ:
Sorget für Reisebedürfnisse; sehet, wo ihr Würdige findet; wenn
das Haus würdig ist. komme euer Gruß, £!>r,vr, (er befahl vorher
ein Haus zu grüßen) über es; wo nicht, so kehre er zu euch selbst
zurück. Der Gruß ist in beiden Fällen dasselbe; es kommt auf die
Würdigkeit des Hauses an, ob er als Wort in ihm erschallt oder
dieselbe Fülle ihm in den Gemütern anschlägt, mit der er gegeben
ist; sonst kehrt er zu euch zurück; ihr habt den Frieden nicht
verschwendet, er hört sich in euch.
Also kein Belehren und Behandeln. Haß der Welt, Verfolgung.
Der Geist wird aus euch sprechen; seid nicht bekümmert, was
ihr sagen wollt. Furchtlosigkeit, teils wegen eignen Leidens, teils
wegen der Zerrüttungen, die ihre Sendung der Welt bringen wird.
Matth. X, 41 : Wer einen Propheten als Propheten (si^ovoua -potpr;-cou,
wem ein Prophet ein Prophet ist), einen Gerechten als Gerechten,
einen Jünger als solchen aufnimmt, der hat den Lohn, den Wert
eines Propheten; wie der Mensch den Menschen auffaßt, so ist
er selbst.
Unwille über die Art der Aufnahme seiner Lehre von seinem
Zeitalter (Matth. XI, 25), Beschränkung ihrer Wirksamkeit auf
vr,-[oi., /ozuüvti; zcfl rctpopTiaiiEvoi. Matth. XII, 49: iz'iHiva; ttjv yBioa izi
-o'j!; ^adr^zoL^ auToü sTrsv • lool» 7; u-rjxrjp ^ou xal ot aoaXttot yio'j. Trennung Jesu
von den Beziehungen des Lebens. Von hier beginnen seine hef-
tigen Ausdrücke gegen die Pharisäer. Seine Antworten über
Fragen, Anlässe, gehen nur darauf, sie zum Schweigen zu bringen,
nur polemisch; das Wahre richtet er an andre Zuhörer.
Parabeln. Matth. XIII.
Über die Art der Ausbreitung seiner Lehre, das Schicksal der-
selben, alle (vom Sämann, Weizen und Unkraut, Senfkorn, Heten-
teig, gefundenen Schatz usw.) ganz analog mit den Mythen, aber
DAS LEBEN JESU 169
freilich in jüdisclie Wirklichkeiten [eingehüllt]. Es ist in ihnen
kein fabula docet; keine Moral kommt aus ihnen, sondern das
Geschichtliche, das Werden, der Fortgang des Seienden, des
Ewigen, des Lebendigen. Das Werden des Seins ist das Geheimnis
der Natur; und alles fade Geschwätz von innigerer Überzeugung
vom Guten usw. ist unendlich sinnloser, als die übernatürliche
Erleuchtung, Wiedergeburt usw. Die Menge der Parabeln zeigt
das Unvermögen, das darzustellen, auf was sie deuten sollen; nur
daß dies kostbar, ein Großes, Wünschenswertes, aber ein Anderes
ist, als sie kennen. Matth. XIII, 55: oüy oy-oQ iaxiv 6 -oü texxovoc utö;;
ouy_ yj lAyjTTjp abiou Xs^sißi Mapiaji; — Oüz saxiv -potfrjxT); «xhi-oq u \i-r^ ev x^^ äczxptoi
xat iv xi^ oixtcf auxoü. Sie sehen nichts als die Wirklichkeit, nicht den
Geist, nichts, als was sie selbst sind. So auch Matth. XXV. Diese
Parabeln sind weder morgenländische Allegorien, noch griechische
Mythen. Diese beiden sprechen von der Sache selbst, von dem
Sein, von dem Schönen, dessen Entwickelung, aus sich Heraus-
gehen, Veränderungen bei den Orientalen meist ungeheure und
unnatürliche Geburten werden, weil sie für sich, von der Phantasie
allein, also als Ungeheuer gehalten werden, bei den Griechen zwar
auch als Substanzen, als Modifikationen in einem lebendigen
Wirklichen auftreten, aber von der Phantasie doch an eine natür-
liche Handlung, an eine Menschenform geheftet werden; sie ver-
lieren das Idealische dadurch nicht, das ihnen die orientalischen
Ungeheuer behalten wollen, es wird doch kein individuelles Leben
(Ceres, Venus usw.); das Unmenschliche dieser Göttergestalten
ist nur Befreiung von dem ihnen Heterogenen, z. B. Schwere,
Arbeit, Not usw. Die Parabeln Christi sind eigentliche Gleichnisse,
moderne Fabeln, in denen es ein tertium comparationis gibt, d. h.
wo das Gleiche gedacht ist. In den alten äsopischen Fabeln waren
es selbst Triebe, Instinkte, das gleich modifizierte Leben. In den
Parabeln ganz wirkliche Geschichten; daher immer ein: Gleich
wie —
(Lücke der Handschrift) Der Pharisäer dankt Gott dafür.
Er ist so bescheiden, nicht die Kraft seines Willens darin zu er-
kennen, daß er nicht wie viele andere Menschen ist, die Räuber,
lyo G.W. F. HEGEL
Ungerechte, Ehebrecher sind, oder wie der ZöUner hier neben
ihm; er faste nach der Regel, er bezahle als ein rechtschaffener
Mann gewissenhaft seinen Zehnten. Diesem Bewußtsein der
Rechtschaffenheit, von welchem gar nicht gesagt ist, daß es nicht
wahr gewesen sei, setzt Jesus den niedergesunkenen Blick, der
sich nicht zum Himmel zu erheben wagt, des Zöllners entgegen,
welcher an seine Brust schlägt: Gott sei mir gnädig. Das Be-
wußtsein des Pharisäers, seine Pflicht erfüllt zu haben, wie auch
das Bewußtsein des Jünglings, ein treuer Beobachter aller Ge-
setze gewesen zu sein (Matth. XIX, 20), dies gute Gewissen ist
darum eine Heuchelei, weil es teils, wenn es schon mit der Ab-
sicht der Handlung verbunden ist, eine Reflexion über sich selbst,
über die Handlung, ein Unreines, nicht zur Handlung Gehöriges
ist, teils, wenn es eine Vorstellung seiner selbst als eines morali-
schen Menschen ist, wie beim Pharisäer und bei jenem Jüngling, eine
Vorstellung ist, deren Inhalt die Tugenden sind, d. h. beschränkte,
denen ihr Kreis gegeben, die in ihrem Stoffe begrenzt sind,
also alle zusammen ein Unvollständiges sind, da das gute Gewis-
sen, das Bewußtsein, seine Pflichten erfüllt zu haben, sich zum
Ganzen heuchelt.
In eben diesem Geist spricht Jesus vom Beten und Fasten. Bei-
des entweder ganz objektive, durchaus gebotene Pflichten, oder
nur in einem Bedürfnis gegründet. Sie sind nicht fähig, als mo-
ralische Pflichten vorgestellt zu werden, weil sie keine Entgegen-
setzung voraussetzen, die in einem Begriff vereinigt zu werden
fähig wäre. Jesus rügt bei beiden den Schein, den man sich vor
den Menschen damit gibt und beim Gebet besonders auch das
viele Schwätzen, wodurch es das Ansehen einer Pflicht und der
Ausübung derselben erhält. Das Fasten beurteilt Jesus (Matth. VI,
18) nach der Empfindung, die dabei zugrunde liegt, nach dem
Bedürfnis, das dazu treibt. Außer der Entfernung der Unreinheit
beim Gebet gibt Jesus auch eine Art zu beten an. Die Rücksicht
auf das Wahre des Gebets gehört nicht an diese Stelle.
Über die folgende Forderung von Abwerfung der Lebenssorgen
und Verachtung der Reichtümer, sowie über: «Wie ist es mög-
Uch, daß ein Reicher ins Reich Gottes komme (Matth. XIX, 23)?»
ist wohl nichts zu sagen. Es ist eine Litanei, die nur in Predigten
DAS LEBEN JESU 171
oder in Reimen verziehen wird. Denn eine solche Forderung hat
keine Wahrheit für uns. Das Schicksal des Eigentums ist uns zu
mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine
Trennung von uns denkbar wäre. Aber so viel ist doch einzu-
sehen, daß der Besitz von Reichtum, mit allen den Rechten, so
wie mit allen Sorgen, die damit zusammenhängen, Bestimmtheiten
in den Menschen bringt, deren Schranken den Tugenden ihre
Grenzen setzen, ihnen Bedingungen und Abhängigkeiten geben,
innerhalb deren wohl für Pflichten und Tugenden Raum ist, die
aber kein Ganzes, kein vollständiges Leben zulassen, weil es an
Objekte gebunden ist, Bedingung seiner außer sich selbst hat, weil
dem Leben noch etwas als eigen zugegeben ist, was doch nie sein
Eigentum sein kann. Der Reichtum verrät sogleich seine Entge-
gensetzung gegen die Liebe, gegen die Ganzheit dadurch, daß er
ein Recht und in einer Reihe von Rechten begriffen ist, wodurch
teils seine unmittelbar auf ihn sich beziehende Tugend, die Recht-
schaffenheit, teils die anderen innerhalb seines Kreises möglichen
Tugenden notwendig mit Ausschließung verbunden und jeder
Tugendakt an sich selbst ein Entgegengesetztes ist. An einen
Synkretismus, einen Zweiherrendienst ist nicht zu denken, weil
das Unbestimmte und das Bestimmte mit Beibehaltung ihrer For-
men nicht verbunden werden können. Jesus mußte nicht bloß das
Komplement der Pflichten, sondern auch das Objekt dieser Prinzi-
pien, das Wesen der Sphäre der Pflichten aufzeigen, um das der
Liebe entgegengesetzte Gebiet zu zerstören. Lukas (XII, 13 ff".) bringt
die Ansicht, nach welcher Jesus sich gegen die Reichtümer erklärt,
in einer Verbindung vor, wodurch sie noch deutlicher wird. Ein
Mann hatte ihn darum angesprochen, sich bei seinem Bruder über
die Teilung ihrer Erbschaft zu verwenden. Eine Bitte um eine
solche Verwendung abzuschlagen, wird nur als die Verfahrungs-
art eines Egoisten beurteilt. Jesus scheint in seiner Antwort gegen
den, der die Bitte an ihn getan hatte, unmittelbar nur seine In-
kompetenz dazu entgegenzuhalten. Aber in seinem Geiste liegt
mehr, als daß er nur kein Recht zu jener Teilung habe, denn er
wendet sich sogleich zu seinen Jüngern mit einer Ermahnung ge-
gen die Begierde zu haben, und fügt eine Parabel bei von einem
reichen Mann, den Gott mit der Stimme aufschreckt: «Tor! diese
172 G.W. F. HEGEL
Nacht wird man deine Seele von dir fordern ; was du erworben
hast, wem wird es gehören?» So ist es mit dem, der sich Schätze
sammelt und nicht in Gott reich ist. So wendet Jesus nur jenem
Profanen die Rechtsseite zu: gegen seine Jünger fordert er Erhe-
bung über das Gebiet des Rechts, der Gerechtigkeit, der Billigkeit,
der Freundschaftsdienste, die Menschen in diesem Gebiete sich
leisten können, über die ganze Sphäre des Eigentums.
Dem Gewissen, dem Bewußtsein der eignen Pflichtgemäßheit
oder Nichtgemäßheit steht die Anwendung der Gesetze auf andere
im Urteile gegenüber: «Richtet nicht, sagt Jesus, auf daß ihr nicht
gerichtet werdet. Mit welchem Maße ihr messet, mit dem wird
euch dagegen gemessen werden (Matth. VII, i — 2).» Dieses Sub-
sumieren andrer unter einen Begriff, der im Gesetze dargestellt
ist, kann darum eine Schwäche genannt werden, weil der Ur-
teilende nicht stark genug ist, sie ganz zu ertragen, sondern sie
teilt und gegen ihre Unabhängigkeit nicht auszuhalten vermag,
nicht wie sie sind, aber wie sie sein sollen, durch welches Urteil
er sie sich (denn der Begriff der Allgemeinheit ist sein) im Gedan-
ken unterjocht hat. Mit diesem Richten aber hat er ein Gesetz
anerkannt und sich selbst der Herrschaft desselben unterzogen,
ein Maß des Richtens auch für sich aufgestellt und mit der Heb-
reichen Gesinnung für seinen Bruder, ihm den Splitter aus dem
Auge zu ziehen, ist er selbst unter das Reich der Liebe gesunken.
Das noch Folgende ist nicht mehr eine Entgegenstellung des-
sen, was höher ist als die Gesetze, gegen sie, sondern die Aufzei-
gung einiger Äußerungen des Lebens in seiner schönen, freien
Region, als die Vereinigung der Menschen im Bitten, Geben und
Nehmen. Das Ganze schließt mit dem Bestreben, das Bild des
Menschen, wie es im Vorherigen in der Entgegensetzung gegen
die Bestimmtheiten gezeichnet ist, weswegen auch das Reine
mehr in seinen Modifikationen, in besonderen Tugenden, als Ver-
söhnlichkeit, eheUche Treue, Wahrhaftigkeit usw. erschien, rein
außer dieser Sphäre darzustellen, welches denn freilich nur in un-
vollständigen Parabeln geschehen kann.
Einen Kontrast mit dieser Gesetz- und Pflichtlosigkeit in der
Liebe, die Jesus als das Höchste bezeichnet, macht die Art des
lohannes des Täufers, von welcher Lukas (III, 7 ff.) einige Pro-
DAS LEBEN JESU 173
ben aufbehalten hat. Wie sie [hoffen könnten], sagt er zu den
Juden, ungeachtet sie Abraham zum Vater haben, ihrem erzürnten
Schiclvsal zu entgehen? «Die Axt liegt schon an der Wurzel der
Bäume.» Und da die Juden ihn nun fragten, was sie zu tun haben,
so sagte er: «Wer zwei Röcke oder überflüssige Speise hat, gebe
es dem, der nichts hat.» Die Zöllner gemahnte er, nicht mehr
Abgaben zu fordern, als ihnen vorgeschrieben ist, die Soldaten,
niemand zu schlagen, nichts zu erpressen, sondern von ihrem
Solde zu leben. Noch ist von ihm bekannt (Matth. XIV, 4), daß
er sich in Schmälen über das Verhältnis des Herodes mit seines
Bruders Frau einließ, ein Schelten, das ihn den Kopf kostete. Sein
Schicksal vollendete sich über einer Bestimmtheit, wie sein Lehren
nach den obigen Proben eine Ermahnung zu bestimmten Tugen-
den war und den großen Geist, die alles umfangende Seele der-
selben nicht in seinem Bewußtsein zeigt. Er fühlte dies auch selbst
und verkündigte einen andern, der die Wurfschaufel in der Hand
die Tenne fegen werde. Johannes hoffte im Glauben, statt seiner
Wassertaufe, von seinem Nachfolger eine Taufe mit Feuer undGeist.
Auch ein Schicksal) das der Mensch durch widerrechtliche
Lebensverletzung gegen sich erw^eckt hat, kann er durch die stär-
ker werdende Liebe wieder zum Schlafe bringen. Die Strafe des
Gesetzes ist nur gerecht. Der gemeinsame Charakter, der Zu-
sammenhang des Verbrechens und der Strafe ist nur Gleichheit,
nicht Leben. Gegen den Tyrannen stehen wieder Peiniger, gegen
den Mörder Henker ; und die Peiniger und die Henker, die das-
selbe tun, was die Tyrannen und die Mörder taten, heißen darum
gerecht, weil sie das Gleiche tun, sie mögen es mit Bewußtsein
als Rächer, oder als blinde Werkzeuge tun; ihre Seele kommt
nicht in Anschlag, nur ihre Tat. Von Versöhnung, von Wieder-
kehr zum Leben kann also bei der Gerechtigkeit nicht die Rede
sein. Auch in der Feindschaft des Schicksals wird gerechte Strafe
empfunden. Aber da sie nicht von einem fremden Gesetz über
den Menschen kommt, sondern aus dem Menschen erst das Gesetz
und das Schicksalsrecht entsteht, so ist die Rückkehr zum ur-
sprünglichen Zustand, zur Ganzheit möglich, denn der Sünderist
174 G.W. F. HEGEL
mehr als eine existierende Sünde, Persönlichkeit habendes Ver-
brechen; er ist Mensch; Verbrechen und Schicksal ist in ihm, er
kann wieder zu sich selbst zurückkehren, und wenn er zurück-
kehrt, unter ihm. Die Elemente der Wirklichkeit haben sich
aufgelöst, Geist und Körper haben sich getrennt. Die Tat besteht
zwar noch, aber als ein Vergangenes, als ein Fragment, als eine
tote Trümmer; derjenige, der als böses Gewissen war, ist ver-
schwunden und die Erinnerung der Tat ist nicht mehr eine An-
schauung seiner selbst. Das Leben hat in der Liebe das Leben
wiedergefunden. Zwischen Sünde und ihre Vergebung tritt so
wenig als zwischen Sünde und Strafe ein Fremdes ein ; das Leben
entzweite sich mit sich selbst und vereinigt sich wieder.
Daß auch Jesus den Zusammenhang zwischen Sünde und Ver-
gebung der Sünde, zwischen Entfremdung von Gott und Ver-
söhnung mit ihm nicht außer der Natur fand, kann vollständig
späterhin gezeigt werden. Hier kann immer soviel angeführt
werden, daß er die Versöhnung in Liebe und Lebensfülle setzte
und diese Vorstellung des Verbrechens, des Schicksals und der
Versöhnung bei jeder Veranlassung in wenig abwechselnder Form
äußerte. Wo er Glauben fand, tat erkühn den Ausspruch: «Dir
sind deine Sünden vergeben.» Dieser Ausspruch ist kein Ver-
nichten der Strafe, kein Zerstören des noch bestehenden Schick-
sals, sondern die Zuversicht, die im Glauben der ihn Fassenden
sich selbst, ein ihm gleiches Gemüt erkannte. Gegenseitigen Glau-
ben kann nur die Gleichheit des Gemüts finden ; in wem Jesus
Glauben an ihn fand, den erkannte er als über Gesetz und Schick-
sal erhaben und kündigte ihm Vergebung der Sünden an. Mit
vollem Zutrauen an einen Menschen, mit solcher Hingebung an
ihn, mit der sich nichts zurückbehaltenden Liebe kann nur eine
reine oder gereinigte Seele sich dem Reinen in die Arme werfen,
und Glaube an Jesum heißt mehr als ein Diener sein. Glaube
ist eine Erkenntnis des Geistes durch Geist und nur gleiche Geister
können sich erkennen und verstehen; ungleiche erkennen nur,
daß sie nicht sind, was der andere ist. Verschiedenheit der Geistes-
macht ist aber nicht Ungleichheit. Der Schwächere hängt sich
an den Höheren als ein Kind oder kann an ihm hinaufgezogen
werden. So lange er in einem andern die Schönheit liebt und sie
DAS LEBEN JESU 175
zwar in ihm, aber nicht entwickelt ist, d. h., daß er sich in Hand-
lung und Tätigkeit noch nicht mit der Welt ins Gleichgewicht
und Ruhe gesetzt hat, daß er noch nicht zum Bewußtsein seines
Verhältnisses zu den Dingen gekommen ist, so glaubt er nur noch.
So drückt sich Jesus (Joh. XII, 36) aus: «Bis ihr selbst das Licht
habt, glaubet an das Licht, damit ihr selbst Söhne des Lichtes
werdet.» Von Jesu dagegen ist (Joh. II, 25) gesagt, daß er sich
den Juden, die an ihn glaubten, nicht anvertraut habe, weil er sie
kannte und weil er ihres Zeugnisses nicht bedurfte, sich nicht erst
in ihnen erkannte.
Im Geiste der Juden freilich stand zwischen Trieb und Hand-
lung, Lust und Tat, zwischen Leben und Verbrechen, Verbrechen
und Verzeihung eine unübersteigliche Kluft, ein fremdes Gericht,
und wenn sie auf ein Band zwischen Sünde und Versöhnung im
Menschen in der Liebe verwiesen wurden, mußte ihr liebloses
Wesen empört und ein solcher Gedanke, wenn ihr Haß die Form
eines Urteils trug, für sie der Gedanke eines Wahnsinnigen sein.
Denn sie hatten alle Harmonie des Wesens, alle Liebe, Geist und
Leben einem fremden Objekt anvertraut, aller Genien, in denen
die Menschen vereinigt sind, sich entäußert und die Natur in
fremde Hände gelegt. Was sie zusammenhielt, waren Ketten, Ge-
setze, vom Mächtigen gegeben. Das Bewußtsein des Ungehor-
sams gegen den Herrn fand in der ausgestandenen Strafe oder
Schuldbezahlung unmittelbar seine Befriedigung. Böses Gewissen
kannten sie nur als Furcht vor Strafe; denn als Bewußtsein seiner
gegen sich selbst setzt es immer ein Ideal gegen die ihm nicht an-
gemessene WirkHchkeit voraus und das Ideal ist im Menschen ein
Bewußtsein seiner eigenen ganzen Natur. Aber ihrer Dürftigkeit
blieb in der Anschauung ihrer nichts übrig ; allen Adel, alle Schön-
heit hatten sie verschenkt; ihre Armut mußte dem unendlich Rei-
chen dienen und durch das, was sie ihm für sich entwendeten, im
Gefühl der Selbstheit sich erstahlen, hatten sie ihre Wirklichkeit
nicht, wie der Mensch von bösem Gewissen, ärmer, sondern rei-
cher gemacht, aber hatten dann den bestohlenen Herrn zu fürch-
ten, der sie ihren Raub wieder bezahlen, opfern lassen und sie ins
Gefühl ihrer Armut zurückschleudern würde. Nur durch Bezah-
lung an ihren allmächtigen Gläubiger wurden sie ihre Schulden
176 G. W. F. HEGEL
los und wenn sie bezahlt hatten, besaßen sie doch wieder nichts.
Eine schuldbewußte, bessere Seele will mit dem Opfer nichts er-
kaufen, nicht den Raub zurückgeben, sondern in der freiwilligen
Entbehrung mit einer herzlichen Gabe, nicht im Gefühl der Pflicht
und des Dienstes, sondern in brünstigem Gebete sich einem Rei-
nen mit der Seele nahen, um, was sie in sich selbst nicht zum Be-
wußtsein bringen kann, in der Anschauung der ersehnten Schön- -
heit ihr Leben zu stärken und freie Lust und Freude zu gewinnen.
Aber der Jude hatte in der Bezahlung seiner Schuld nur den
Dienst, dem er entlaufen wollte, wieder aufgenommen, und ging
vom Altar mit dem Gefühl des mißlungenen Versuchs und der
Wiederanerkennung seines knechtischen Joches. Versöhnung in
der Liebe ist statt der jüdischen Rückkehr unter Gehorsam eine
Befreiung, statt der Wiederanerkennung der Herrschaft die Auf-
hebung derselben in der Wiederherstellung des lebendigen Bandes,
eines Geistes der Liebe, des £[eo;enseitis;en Glaubens, eines Geistes,
der in Rücksicht auf Herrschaft betrachtet die höchste Freiheit ist,
ein Zustand, der das unbegreiflichste Gegenteil des jüdischen
Geistes ist.
Nachdem Petrus Jesum als eine göttliche Natur anerkannt und
dadurch sein Gefühl der ganzen Tiefe der Menschennatur, daß er
einen Menschen als einen Gottessohn fassen konnte, bewiesen
hatte, übergab ihm Jesus die Gewalt der Schlüssel des Himmel-
reichs; was er binden würde, sollte im Himmel gebunden, was
er lösen würde, sollte im Himmel auch los sein. Da Petrus ein-
mal das Bewußtsein eines Gottes gehabt hatte, so mußte er in
jedem die Göttlichkeit oder Ungöttlichkeit seines Wesens, oder
sie als Gefühl derselben in einem dritten, die Stärke des Glaubens
oder Unglaubens anerkennen können, der ihn von allem bleiben-
den Schicksal befreite, über die ewige, unbewegliche Herrschaft
erhebe oder nicht ; er mußte die Gemüter verstehen, ob ihre Taten
vergangen sind, ob sie noch, die Geister derselben, Schuld und
Schicksal bestehen; er mußte binden, noch unter der Wirklichkeit
des Verbrechens stehend, und lösen, über die Wirklichkeit des-
selben erhaben erklären können.
Auch ein schönes Beispiel^) einer wiederkehrenden Sünderin
kommt in der Geschichte Jesu vor: die berühmte schöne Sünderin
DAS LEBEN JESU 177
Maria Magdalena. Es möge nicht übel gedeutet werden, wenn
die in Zeit, Ort und andern Umständen abweichenden Erzählungen
(Luk. VII, Matth. XXVI), die auf verschiedene Begebenheiten
deuten, hier nur als verschiedene Formen derselben Geschichte
behandelt werden, da über die Wirklichkeit damit nichts ge-
sprochen sein soll und an unserer Ansicht nichts verändert wird.
Die schuldbewußte Maria hört, daß Jesus in dem Hause eines
Pharisäers speiste, in einer großen Versammlung rechtlicher,
rechtschaffener Leute (honnetes gens). Ihr Gemüt treibt sie zu
Jesu, sie tritt durch diese Gesellschaft hinten zu seinen Füßen,
weint und netzt seine Füße mit ihren Tränen und trocknet sie
mit den Haaren ihres Hauptes, küßt sie und salbt sie mit Salben,
mit unverfälschtem und köstlicheniNardenwasser. Die schüchterne,
sich selbst genügende, stolze Jungfräulichkeit kann das Bedürfnis
der Liebe nicht laut werden lassen, kann noch viel weniger bei
der Ergießung der Seele den gesetzlichen Blicken rechtlicher
Leute, der Pharisäer und der Jünger trotzen ; ihre Sünden sind,
sich über das Rechtliche weggesetzt zu haben; aber eine tief ver-
wundete, der Verzweiflung nahe Seele muß sich überschreien
und ihrer Blödigkeit und ihrem eignen Gefühl der Rechtlichkeit
zum Trotz die ganze Fülle von Liebe geben und genießen, um in
diesen innigen Genuß ihr Bewußtsein zu versenken. Der recht-
schaffene Simon fühlt im Angesicht dieser fließenden Tränen,
dieser lebendigen, alle Schuld tilgenden Küsse, dieser Seligkeit
der aus ihrem Erguß Versöhnung trinkenden Liebe nur die Un-
schicklichkeit, daß Jesus mit einer solchen Kreatur sich einlasse.
Er setzt dies Gefühl so sehr voraus, daß er es nicht ausdrückt,
daß es ihn nicht beschäftigt, sondern sogleich kann er die Kon-
sequenz ziehen: Wenn Jesus ein Seher wäre, so würde er wissen,
daß dies Weib eine Sünderin ist. «Ihr sind die vielen Sünden
vergeben, sagte Jesus, denn sie hat viel geliebt; welchem aber
wenige vergeben werden, der hat wenig geliebt.» Bei Simon
hatte nur seine Urteilskraft sich geäußert; bei den Freunden Jesu
regt sich ein viel edleres, ein moralisches Interesse, das Wasser
hätte wohl um dreihundert Groschen verkauft und das Geld den
Armen gegeben werden können. Ihre moralische Tendenz, den
Armen wohl zu tun, ihre wohlberechnende Klugheit, ihre auf-
Hegel, Das Leben Jesu 12
178 G. W. F. HEGEL
merksame Tugend mit Versrand verbunden ist nur eine Roheit;
denn sie faßten die schöne Situation nicht nur nicht, sie beleidigten
sogar den heiligen Erguß eines liebenden Gemüts. «Warum be-
kümmen ihr sie? sagt Jesus; sie hat ein schönes Werk an mir
getan;» und es ist das Einzige, was in der Geschichte Jesu den
Namen eines Schönen führt. So unbefangen, so ohne Zweck
irgend einer Nutzanwendung in Tat oder Lehre äußerte sich nur
ein Weib voll Liebe. Wohl nicht um einer Eitelkeit willen, auch
nicht um die Jünger auf den eigentlichen Standpunkt zu stellen,
aber um Ruhe für die Situation zu gew^innen, muß Jesus eine
Seite ihnen zuwenden, für die sie empfänglich sind, mit der er
ihnen nicht das Schöne derselben erklären will. Er leitet eine
Art von Verehrung seiner Person aus der Handlung ab. Gegen
rohe Seelen muß man sich begnügen, nur eine Entweihung eines
schönen Gemüts durch sie abzuwenden. Es wäre vergebens,
einer groben Organisation den feinen Duft des Geistes erklären
zu wollen, dessen Anhauch für sie unempfindbar war. «Sie hat
mich, sagte Jesus, im voraus auf mein Begräbnis gesalbt. Ihr sind
viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt. Gehe hin im
Frieden, dein Glaube hat dich gerettet.» Wollte man sagen, es
wäre besser gewesen, daß Maria in das Schicksal des Judenlebens
sich gefügt hätte, und nicht so durch Liebe zum schönsten Bewußt-
sein zurückgekehrt wäre, als ein Automat ihrer Zeit, rechtlich
und gemein, ohne Sünde und ohne Liebe abgelaufen wäre.'' ohne
Liebe, denn die Zeit ihres Volks war wohl eine von denen, in
welchen das schöne Gemüt ohne Sünde nicht leben konnte;
aber zu dieser wie zu jeder andern konnte sie durch Liebe zum
schönsten Bewußtsein zurückkehren.
Die Zuversicht und Kühnheit der Entscheidung über die Fülle
des Lebens, den Reichtum der Liebe, liegt in dem Gefühle des-
jenigen, der die ganze Menschennatur in sich trägt. Ein solches
Gemüt bedarf der hochgerühmten profonden Menschenkennerei
nicht, die für zerrissene Wesen, deren Natur eine große Mannig-
faltigkeit, viele und verschiedenfarbige Einseitigkeiten ohne Ein-
heit in sich schließt, freilich eine Wissenschaft von großem Um-
fang und großer Zweckmäßigkeit ist, denen aber das, was sie
suchen, der Geist immer entschlüpft und nur Bestimmtheiten sich
u
DAS LEBEN JESU 179
anbieten. Eine ganze Natur hat im Moment eine andre durch-
gefühlt und ihre Harmonie oder Disharmonie empfunden. Daher
der unbedenkliche, zuversichtliche Ausspruch Jesu: deine Sünden
sind dir vergeben.
Die Liebe versöhnt aber nicht nur den Verbrecher mit dem
Schicksal; sie versöhnt auch mit der Tugend, d.h. wenn sie nicht
das einzige Prinzip der Tugend wäre, so wäre jede Tugend zu-
gleich eine Untugend. Der völligen Knechtschaft unter dem Ge-
setze eines fremden Herrn setzte Jesus nicht eine teilweise Knecht
Schaft unter einem eignen Gesetze, den Selbstzwang der Kan-
tischen Tugend entgegen, sondern Tugenden ohne Herrschaft
und ohne Unterwerfung, Modifikationen der Liebe; und müßten
sie nicht als Modifikationen eines lebendigen Geistes angesehen
werden, sondern wäre eine absolute Tugend, so würden unauf-
lösbare Kollisionen durch die Mehrheit der Absoluten entstehen ;
und ohne jene Vereinigung in einem Geiste hat jede Tugend etwas
Mangelhaftes, denn jede Tugend ist schon ihrem Namen nach
eine einzelne, also eine beschränkte; die Umstände, unter denen
sie möglich ist, die Bedingungen einer Handlung sind etwas Zu-
fälliges, Äußerliches; außer wenn die Beziehung der Tugend auf ihr
Objekt eine ist und nicht nur Beziehungen derselben Tugend aut
andere Objekte ausschließt, so hat jede Tugend in ihrem Begriffe
sowohl als auch in ihrer Tätigkeit ihre Grenze, die sie nicht über-
schreiten kann. Ist der Mensch von dieser bestimmten Tugend
nur ein so tugendhafter Mann und handelt er auch jenseits der
Grenze seiner Tugend, so kann er, indem er seiner Tugend ge-
treu bleibt, nur lasterhaft handeln. Wohnt in ihm aber die andere
Tugend, die jenseits der Grenze der ersten ihr Gebiet hat, so kann
man zwar sagen, die tugendhafte Gesinnung für sich allein im
allgemeinen betrachtet, d. h. abstrahiert von den hier gesetzten
Tugenden, komme nicht in Kollision, weil die tugendhafte Ge-
sinnung nur eine ist; allein damit wird die Voraussetzung aufge-
hoben. Sind beide Tugenden gesetzt, so hebt die Übung der einen
den Stoff" und dann die Möglichkeit der Ausübung der andern,
die ebenso absolut ist, auf, und die begründete Forderung der an-
dern ist abgewiesen. Ein Recht, das für die eine Beziehung auf-
gegeben würde, kann es nicht mehr für die andre werden, oder.
i8o G.W. F. HEGEL
wird es für die andre aufgespart, so muß die erste darben. Sowie
sich die Mannigfaltigkeit der menschlichen Verhältnisse mehrt,
wächst auch die Menge der notwendigen Kollisionen und die Un-
möglichkeit, sie zu erfüllen. Will der Vieltugendliche unter der
Menge seiner Gläubiger, die er nicht alle befriedigen kann, eine
Rangordnung machen, so erklärt er sich gegen die, die er hinten-
ansetzt, für nicht so schuldig als gegen andere, die er höhere nennt.
Tugenden könnten also aufhören, absolute Pflichten zu sein; sie
können sogar Laster werden. In dieser Vielseitigkeit der Be-
ziehungen und Menge der Tugenden bleibt nichts übrig, als Ver-
zweiflung der Tugend und Verbrechen der Tugend selbst. Nur
wenn keine Tugend darauf Anspruch macht, in ihrer beschränk-
ten Form fest und absolut zu bestehen, wenn sie darauf Verzicht
tut, auch in das Verhältnis, in welches sie eintreten kann, ein-
treten zu müssen, wenn der eine lebendige Geist allein nach dem
Ganzen der gegebenen Verhältnisse, aber in völliger Unbe-
schränktheit, ohne durch ihre Mannigfaltigkeit zugleich geteilt zu
werden, handelt, sich selbst beschränkt, dann bleibt nur die Viel-
seitigkeit der Verhältnisse, aber die Menge absoluter und unver-
träglicher Tugenden schwindet. Es kann hier nicht davon die
Rede sein, daß bei allen Tugenden ein und derselbe Grundsatz
zugrunde liegt, welcher immer dasselbe unter verschiedenen
Verhältnissen in verschiedener Modifikation, als eine besondere
Tugend erscheint; denn eben darum, weil ein solches Prinzip ein
Allgemeines und also ein Begriff ist, so muß unter bestimmten
Verhältnissen notwendig: die bestimmte Anwenduns;, eine be-
stimmte Tugend, eine gewisse Pflicht eintreten. In einer solchen
Absolutheit des Bestehens zerstören sich die Tugenden gegenseitig;
die mannigfachen \'erhältnisse als gegebene Wirklichkeiten, eben-
so das Prinzip, die Regel für alle und also die Anwendungen des
Prinzips auf die Wirklichkeiten, mannigfaltigen Tugenden sind
unwandelbar. Die Einheit derselben durch die Regel ist nur eine
scheinbare, weil sie nur ein Gedachtes ist und eine solche Einheit
die Mannigfaltigkeit weder aufhebt, noch vereinigt, sondern in
ihrer ganzen Stärke bestehen läßt.
Ein lebendiges Band der Tugenden, eine lebendige Einheit ist
eine ganz andere, als die Einheit des Begriffs. Sie stellt nicht für
DAS LEBEN JESU i8i
bestimmte Verhältnisse eine bestimmte Tugend auf, sondern er-
scheint auch im buntesten Gemisch von Beziehungen unzerrissen
und einfach, Ihre äußere Gestalt kann sich auf die unendlichste
Art modifizieren; sie wird nie zweimal dieselbe haben und ihre
Äußerung wird nie eine Regel geben können; denn sie hat nie
die Form eines Allgemeinen gegen Besonderes, Wie die Tugend
das Komplement des Gehorsams gegen die Gesetze ist, so ist die
Liebe das Komplement der Tugenden, Alle Einseitigkeiten, alle
Ausschließungen, alle Schranken der Tugenden sind durch sie
aufgehoben; es gibt keine tugendhaften Sünden oder sündigen
Tugenden mehr, denn sie ist die lebendige Beziehung der Wesen
selbst; in ihr sind alle Trennungen, alle beschränkten Verhältnisse
verschwunden. So hören auch die Beschränkungen der Tugen-
den auf. Wo bliebe für Tugenden Raum, wenn kein Recht mehr
aufzugeben ist? Liebe fordert Jesus; sie soll die Seeleseiner Freunde
sein: «Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander
liebet. Daran wird man erkennen, daß ihr meine Freunde seid.»
[Dem Gebote der Liebe Gottes setzt er an die Seite Liebe zu
dem Nächsten, d. h. nicht zu allen Menschen. Die Menschenliebe,
die sich auf alle erstrecken soll, von denen man auch nichts weiß,
die man nicht kennt, mit denen man in keiner Beziehung steht],
diese allgemeine Menschenliebe ist eine schale, aber charakte-
ristische Erfindung der Zeiten, welche nicht umhin können, idea-
lische Forderungen, ein Gedankending aufzustellen, um in solchem
gedachten Objekte recht prächtig zu erscheinen, da ihre Wirklich-
keit so arm ist. Die Liebe zu dem Nächsten ist Liebe zu den
Menschen, mit denen man in Beziehung kommt. Ein Gedachtes
kann kein Geliebtes sein. Freilich kann Liebe nicht geboten wer-
den, freilich ist sie pathologisch, eine Neigung, aber damit ist ihr
von ihrer Größe nichts benommen ; sie ist damit gar nicht herab-
gesetzt. Liebe kann gewiß nicht geboten werden, weil ihr Wesen
keine Herrschaft über ein Fremdes ist; sie ist aber dadurch so
wenig unter Pflicht und Recht, daß es vielmehr ihr Triumph ist,
über nichts zu herrschen und ohne feindliche Macht gegen ein
Anderes zu sein. «Die Liebe hat gesiegt», heißt nicht, wie «die
Pflicht hat gesiegt», sie hat die Feinde unterjocht, sondern: sie
hat die Feindschaft überwunden. Es ist der Liebe eine Art von
i82 G.W. F. HEGEL
Unehre, wenn sie geboten wird, daß sie, ein Lebendiges, mit Na-
men genannt wird. Ihr Name, daß über sie reflektiert wird, ein
Aussprechen desselben, ist nicht Geist, nicht ihr Wesen, sondern
ihm entgegengesetzt, und nur als Name, als Wort kann sie ge-
boten, es kann nur gesagt (Lücke der Handschrift)
. . . Man kann dies mehr in sich Enthaltende eine Geneigtheit, so
zu handeln, nennen, wie die Gesetze gebieten würden, Einigkeit
der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses seine Form als
Gesetz verliert. Diese Übereinstimmung der Neigung ist das -Xyj-
piujio des Gesetzes, ein Sein, das, wie man sich sonst ausdrückt,
das Komplement der Möglichkeit ist. Denn Möglichkeit ist das
Objekt, als ein Gedachtes, das Allgemeine, Sein die Synthese des
Subjekts und Objekts, in welcher Subjekt und Objekt ihre Ent-
gegensetzung verloren haben. Ebenso jene Geneigtheit einer Tu-
gend ist eine Synthese, in der das Gesetz (das Kant darum immer
ein Objektives nennt) seine Allgemeinheit und ebenso das Sub-
jekt seine Besonderheit, beide ihre Entgegensetzung verlieren, da
in der Kantischen Tugend diese Entgegensetzung bleibt und das eine
zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten wird. Die Über-
einstimmung der Neigung mit dem Gesetze ist von der Art, daß
Gesetz und Neigung nicht verschieden sind, und der Ausdruck
Übereinstimmung der Neigung mit dem Gesetze wird darum ganz
unpassend, weil in ihm noch Gesetz und Neigung als Besondre,
Entgegengesetzte vorkommen und leicht eine Unterstützung der
moralischen Gesinnung (der Achtung für Gesetze und des Be-
stimmtseins des Willens durch Gesetz) durch die davon verschie-
dene Neigung verstanden werden könnte und da die Überein-
stimmenden verschieden sind, auch die Übereinstimmung nur zu-
fällig, nur die Einheit Fremder, ein Gedachtes wäre. Da aber hier
in dem Komplement der Gesetze und was damit zusammenhängt,
Pflicht, moralische Gesinnung und dergleichen aufhört, AUge:
meines, der Neigung entgegengesetzt, und die Neigung aufhört.
Besonderes, dem Gesetze entgegengesetzt zu sein, so ist jene
Übereinstimmung Leben und als Beziehung Verschiedener Liebe,
ein Sein, das als Begriff" ausgedrückt, notwendig dem Gesetz, d. h.
sich selbst gleich, oder als Wirklichkeit, als Neigung, dem Begriffe
entgegengesetzt, gleichfalls sich selbst, der Neigung gleich ist.
DAS LEBEN JESU 183
Das Gebot: Du sollst nicht töten, — ein Grundsatz, der für den
Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird, der als
Prinzip einer gemeinen Gesetzgebung gelten kann — einem sol-
chen Gebot setzte Jesus den höhern Genius der Versöhnhchkeit
(einer Modifikation der Liebe) entgegen, der nicht nur gegen jenes
Gesetz handelt, sondern es ganz überflüssig macht, eine so reiche,
lebendige Fülle in sich schUeßt, daß für ihn so etwas Dürftiges,
als so ein Gesetz gar nicht ist. Was der Versöhnlichkeit, da in
ihr das Gesetz seine Form verliert, der Begriff" vom Leben ver-
drängt wird, an der Allgemeinheit, die im Begrifft alles Besondere
in sich faßt, abgeht, ist nur ein scheinbarer Verlust und ein wah-
rer, unendlicher Gewinn durch den Reichtum lebendiger Be-
ziehungen mit den vielleicht wenigen Individuen, mit denen sie
in Verhältnis kommt. Sie schheßt nicht Wirkliches, sondern Ge-
dachtes, Möglichkeiten aus, und dieser Reichtum der Möglichkeit
in der Allgemeinheit des Begriffs, das Gebot seiner Form nach
ist selbst eine Zerreißung des Lebens und seinem Inhalte nach so
dürftig, daß es außer der einzigen in ihm verbotenen Mißhandlung
alle übrigen zuläßt; vor der Versöhnlichkeit hingegen ist auch der
Zorn ein Verbrechen, als die schnelle Reaktion des Gefühls einer
Unterdrückung, die Aufwallung, wieder zu unterdrücken, welche
eine Art blinder Gerechtigkeit ist und also doch Gleichheit, aber
feindliche, voraussetzt, der Geist der Versöhnlichkeit hingegen,
in sich ohne feindselige Gesinnung, die Feindschaft des andern
aufzuheben strebt. Wenn nach der Liebe geurteilt wird, so ist es
ihr auch, und zwar ein größeres Verbrechen als der Zorn, seinen
Bruder einen Schurken zu schelten. Aber ein Schurke in seinem
Isolieren, indem er sich, ein Mensch, den Menschen feindHch ge-
genüberstellt und in dieser Zerrüttung zu bestehen strebt, wird
noch für etwas gehalten ; er gilt noch, denn er wird gehaßt und
ein großer Schurke kann bewundert werden. Der Liebe ist es
daher noch fremder, den andern für einen Narren zu erklären,
welches nicht nur alle Beziehung mit ihm, sondern auch alle
Gleichheit, alle Gemeinschaft des Wesens aufhebt, ihn in der Vor-
stellung völlig unterjocht, als Nichts bezeichnet.* ' ' ;'
* Die Worterklärung spricht am meisten für die hier angenommene Bedeu'-
tung des (jay.d (Matth. V, 22), die Hauptschwierigkeit dagegen machte der mo'-
i84 G.W. F. HEGEL
Dagegen (Matth. V, 2 3) läßt die Liebe, die sich vor dem Altar einer
Entzweiung bewußt wird, ihr Opfer dort, versöhnt sich mit dem
Bruder und tritt dann erst rein und einig vor die einige Gottheit.
Sie läßt sich nicht vom Richter ihr Recht zumessen, sondern ver-
söhnt sich ohne alle Rücksicht auf Rechte.
Ebenso stellt Jesus der pflichtmäßigen Treue in der Ehe und
dem Rechte, sich von dem Weibe zu scheiden, die Liebe ent-
gegen, welche, was jene Pflicht nicht verbot, auch die Begierde aus-
schließt, und diese Erlaubnis, die jener Pflicht widersprechend
war, bis auf einen Fall aufhebt. So ist einesteils die Heiligkeit der
Liebe die Ergänzung (das ->.-/; fxoaa) des Gesetzes wider den Ehebruch
und diese Heiligkeit gibt allein Fähigkeit, wenn eine der vielen
Seiten des Menschen sich zum Ganzen oder gegen das Ganze er-
heben wollte, sie niederzuhalten und nur die Empfindung des
Ganzen, die Liebe, vermag die Zerstreuung des Wesens zu ver-
hindern. Andernteils hebt die Liebe die Erlaubnis, sich zu schei-
den, auf, und gegen die Liebe kann, weder so lange sie lebt, noch
wie sie aufhört, von Erlaubnis und Recht die Rede sein. Das
Aufhören der Liebe gegen ein Weib, in welchem noch die Liebe
ist, macht sie sich selbst untreu werden und sündigen ; und eine
Übertragung ihrer Leidenschaft ist nur eine Verirrung derselben,
die sie mit bösem Gewissen büßen muß. Ihr Schicksal kann ihr
in diesem Falle freilich nicht erspart werden und die Ehe ist an
sich getrennt, aber der Beistand, den der Mann von einem Rechte
und Gesetze holt und durch den er Rechtlichkeit und Schicklich-
keit auf seine Seite zieht, heißt ^^r Verletzung der Liebe des Wei-
bes noch eine niederträchtige Härte hinzufügen. Im Falle nur,
den Jesus ausnimmt, wenn das Weib ihre Liebe einem andern zu-
gewandt hat, kann der Mann ihr Knecht nicht bleiben. Den Juden,
oxXrjp&Tt; zapotav, mußte Moses wohl über die Ehe Gesetze und Rechte
geben, von Anfang aber war es nicht so.^)
In einer Versicherung über ein Wirkliches wird das Subjekt
und das Objekt als getrennt gedacht, oder in einer Versicherung
ralische Sinn der Ausleger, die den Narren gelinder finden als den Schurken
und beide Worte nicht nach dem Gemüt, aus dem sie kommen, sondern nach
dem Eindruck, den sie machen, beurteilen; der für einen Narren Erklärte fühlt
sich sui juris gemacht, und wenn er so gescheit ist, als der andere, dreht er
es um und heißt den anderen einen Narren.
DAS LEBEN JESU 185
über ein Künftiges, in einem Versprechen, sind die Erklärung eines
Willens und die Tat selbst noch ganz getrennt, und es ist um die
Wahrheit, d. i. den festen Zusammenhang beider zu tun. In einer
eidlichen Versicherung wird die Vorstellung der entweder schon ge-
schehenen oder erst zukünftigen Tat an etwas Göttliches geknüpft,
der Zusammenhang des Worts und der Tat, die Verknüpfung, das
Sein dargestellt an einem Seienden, in ihm vergegenwärtigt und
weil die Wahrheit des Falles, der beschworen wird, nicht selbst
sichtbar gemacht werden kann, wird an ihre Stelle die Wahrheit
selbst, Gott gesetzt und teils auf diese Art dem andern gegeben,
in ihm Überzeugung bewirkt, teils durch die Rückwirkung dieses
Seienden auf das sich entschließende Gemüt der Schwörenden
das Gegenteil der Wahrheit ausgeschlossen, und es ist gar nicht
abzusehen, inwiefern hierin ein Aberglaube liegen soll. Wenn die
Juden bei dem Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem oder bei ihrem
Haupthaar schwuren und ihren Eid Gott anheimstellten, ihn in
die Hand des Herrn legten, so knüpften sie die Wirklichkeit des
Versicherten an ein Objekt, setzten beide Wirklichkeiten gleich
und den Zusammenhang dieses Objektes und des Versicherten,
die Gleichheit beider legten sie in die Gewalt einer fremden Macht,
und Gott ist zur Macht über das Wort gesetzt und dieser Zu-
sammenhang soll im Menschen selbst begründet sein. Die ver-
sicherte Tat und das Objekt, bei dem versichert wird, werden so
aneinander gekettet, daß, wenn eins aufgehoben wird, auch das
andere geleugnet, in der Vorstellung aufgehoben wird. Wenn
also die versprochene Tat oder die versicherte Wirklichkeit nicht
wirklich ist, so ist damit auch das Objekt, bei dem geschworen
wurde, der Himmel, die Erde usw. geleugnet und in diesem Falle
muß der Herr desselben es vindizieren, Gott Rächer des Seinigen
werden. Dieser Anknüpfung der versicherten Tat an etwas Ob-
jektives widerspricht Jesus ; er bekräftigt nicht die Pflicht, den Eid
zu halten, sondern erklärt ihn überhaupt für überflüssig, denn we-
der der Himmel, noch die Erde, noch Jerusalem, noch das Haupt-
haar ist des Menschen Geist, der allein der Verknüpfer dieses
Wortes und einer Handlung ist, sondern es sei ein fremdes Eigen-
tum und die Gewißheit der Tat dürfe nicht an etwas Fremdes ge-
knüpft sein, in ein Fremdes gelegt werden, sondern der Zusam-
i86 G.W. F. HEGEL
menhang des Wortes und der Handlung müsse lebendig sein, in
dem Menschen selbst beruhen.
Jesus fordert hierauf im allgemeinen Aufhebung des Rechts,
Erhebung der ganzen Sphäre der Gerechtigkeit oder Ungerech-
tigkeit durch Liebe, in welcher mit dem Rechte auch dies Gefühl
der Ungleichheit und das Soll dieses Gefühls, das Gleichheit for-
dert, d. i. der Haß gegen Feinde verschwindet. Auge um Auge,
Zahn um Zahn, sagen die Gesetze; die Wiedervergeltung und die
Gleichheit derselben ist das heilige Prinzip aller Gerechtigkeit, das
Prinzip, auf dem jede Staatsverfassung ruhen muß; Aufhebung
der Gei'ecktigkeit fordert aber Jesus.
Die Gesetze und Pflichten, von denen Jesus bisher sprach, waren
im ganzen bürgerliche und die Ergänzung, die er ihnen gab, war
nicht die, daß er sie als Gesetze und Pflichten bestätigte, aber als
Triebfeder reine Achtung für sie forderte, sondern zeigt vielmehr
A'erachtung gegen sie und seine Ergänzung ist ein Geist, dessen
Handlungen, w^enn sie etwa nach Gesetzen und Pflichtgeboten
beurteilt werden, denselben gemäß befunden werden, der aber
kein Bewußtsein für Pflichten und Rechte hat. Weiterhin spricht
Jesus von einer bloß moralischen Pflicht der Tugend, der Wohl-
tätigkeit. Jesus verurteilt bei ihr, wie beim Gebet und Fasten, das
Einmischen eines Fremden, die Unreinheit der Handlung. «Tut
es nicht, um gesehen zu werden.» Der Zweck der Handlung,
d. h. die Handlung als gedacht, ehe sie noch getan ist, sei gleich
der vollbrachten Handlung. Außer dieser Heuchelei, die in den
Gedanken der Handlung das andere [von den Menschen gesehen
zu werden] einmischt, das nicht in der Handlung ist, scheint Jesus
auch hier selbst das Bewußtsein der Handlung als einer erfüllten
Pflicht zu entfernen, denn der erkannte Beifall anderer über einen
Sieg, den die Pflicht, das Allgemeine über das Besondere davon-
getragen hat, ist gleichsam nicht mehr die bloß gedachte, sondern
die angeschaute Allgemeinheit und Besonderheit, jene in der Vor-
stellung der andern, diese in den andern selbst als WirkHchen,
und das einsame Bewußtsein der erfüllten Pflicht ist von der Ehre
nicht der Art nach, sondern nur insofern verschieden, als in der
Ehre die Allgemeinheit nicht bloß allgemein gültig, sondern auch
als allgemein geltend erkannt wird. «Lasset die linke Hand nicht
DAS LEBEN JESU 187
wissen, was die rechte tut», kann nicht von Bekanntwerden der
Handlung genommen werden, sondern ist das Gegenteil des «von
den Leuten gesehen werden», und wenn es also einen Sinn haben
soll, so wird es die eigne Reflexion über seine Pflichtgemäßheit
bezeichnen. Ob bei der Handlung nur ich, oder ob ich denke,
daß auch andre mir zuschauen, ob ich nur mein Bewußtsein oder
auch den Beifall andrer genieße, ist wohl kein großer Unterschied.
In dem eignen Bewußtsein, die Pflicht erfüllt zu haben, gibt sich
das Individuum selbst den Charakter der Allgemeinheit ; er schaut
sich als ein Allgemeines an, als erhaben über sich selbst als Be-
sonderes und über das, was in der Besonderheit liegt, über die
Menge der Individuen; denn so wie der Begriff" der Allgemein-
heit auf das Individuum angewendet wird, so erhält der Begriff"
der Besonderheit auch diese Beziehung auf Individuen und die
Entgegensetzung derselben gegen jenes sich selbst der Allgemein-
heit gemäß in Erfüllung der Pflicht Erkennende, und dieses Selbst-
bewußtsein ist der Handlung ebenso fremd als der Beifall der
Menschen. Von dieser Überzeugung in sich, gerecht zu sein, und
der Herabsetzung anderer dadurch (welch beides in notwendiger
Verbindung steht, wegen der notwendigen Entgegensetzung des
Besonderen gegen das Allgemeine) spricht auch Jesus in der Pa-
rabel Luk. XVIII, 9 ff.
Reines Leben zu denken ist die Aufgabe, alle Taten, alles zu
entfernen, was der Mensch war, oder sein wird ; Charakter abstra-
hiert nur von der Tätigkeit, er drückt das Allgemeine der be-
stimmten Handlungen aus; Bewußtsein reinen Lebens wäre Be^
wußtsein dessen, was der Mensch ist ; in ihm gibt es keine Ver-
schiedenheit, keine entwickelte wirkliche Mannigfaltigkeit. Dies
Einfache ist nicht ein negatives Einfaches, eine Einheit der Ab^
straktion, denn in der Einheit der Abstraktion ist nur ein Be-
stimmtes gesetzt und von allen übrigen Bestimmtheiten abstrahiert;
ihre reine Einheit ist nur die gesetzte Forderung der Abstraktion
von allem Bestimmten, das negative Unbestimmte. Reines Leben
ist Sein ; die Vielheit ist nichts Absolutes ; dies Reine ist die Quelle
alles vereinzelten Lebens, der Triebe und aller Tat; aber so wie
es ins Bewußtsein kommt, wenn der Mensch daran glaubt, so ist
es zwar noch lebendig in ihm, aber außer den Menschen zum Teil
i88 G.W. F. HEGEL
gesetzt. Weil das Bewußtseiende insofern sich beschränkt, so kann
es und das Unendliche nicht völlig in einem sein. Nur dadurch
kann der Mensch an einen Gott glauben, daß er von aller Tat,
von allem Bestimmten zu abstrahieren vermag, aber die Seele jeder
Tat, alles Bestimmten rein festhalten kann. Worin keine Seele,
kein Geist ist, darin ist nichts Göttliches. Wer sich immer be-
stimmt fühlt, immer als dies oder jenes tuend, oder leidend, so
oder so handelnd, in dessen Abstraktion wird nicht das Begrenzte
vom Geist abgeschieden, sondern das Bleibende ist nur das Ent-
gegengesetzte des Lebendigen ; das Ganze der Bestimmtheiten fällt
weg und das herrschende Allgemeine über dem Bewußtsein der
Bestimmtheiten ist nur die leere Einheit des Alls der Objekte als
herrschendes Wesen über dieselben; [wer sich immer bestimmt
fühlt, dessen Gottheit kann nur das sein, was er über diesem Be-
wußtsein fühlt, das All der Objekte und der Herrscher derselben;
die Gottheit selbst ist um so leerer, je mehr sie über alles, über
jede lebendige Kraft erhaben ist].
Diesem Unendlichen des Herrschens und Beherrschtwerdens
kann nur das reine Gefühl des Lebens entgegengesetzt werden ;
es hat in sich selbst seine Rechtfertigung und seine Autorität;
aber indem es als Gegensatz auftritt, tritt es als ein Bestimmtes in
einem bestimmten Menschen auf, der den an Wirklichkeiten ge-
bundenen und entweihten Augen nicht die Anschauung der Rein-
heit geben kann. In der Bestimmtheit, in der er erscheint, kann
er sich nur auf seinen Ursprung, auf die Quelle, aus welcher jede
Gestalt des beschränkten Lebens ihm fließt, berufen. Er muß an
das Höhere, an den Vater appellieren, der unven-vandelt in allen
Verwandlungen lebt. Weil das Göttliche reines Leben ist, so muß
notwendig, wenn von ihm und was von ihm gesprochen wird,
nichts Entgegengesetztes in sich enthalten, und alle Ausdrücke der
Reflexion über Verhältnisse des Objektiven oder über Tätigkeit
gegen objektive Behandlung derselben vermieden werden. Denn
die Wirkung des Göttlichen ist nur eine Vereinigung der Geister;
nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein. Ausdrücke
wie befehlen, lernen, sehen, erkennen, machen, wollen, (ins Him-
melreich) kommen, gehen, drücken nur Beziehungen von Ob-
jektivem aus, wenn es Aufnahme eines Objektiven in einen Geist
DAS LEBEN JESU 189
ist. Über Göttliches kann darum nur in Begeisterung gesprochen
werden. Die jüdische Bildung zeigt uns nur einen Kreis leben-
diger Beziehungen zum Bewußtsein gekommen und auch diese
in Form von Begriffen als Tugenden und Eigenschaften, welches
um so natürlicher ist, da sie hauptsächlich nur Beziehungen zwi-
schen fremden, verschiedenen Wesen auszudrücken hatten, als
Barmherzigkeit, Güte usw. Unter den Evangelisten spricht Jo-
hannes am meisten von dem Göttlichen und der Verbindung Jesu
mit ihm. Aber die an geistigen Beziehungen so arme jüdische
Bildung nötigte ihn, für das Geistigste sich objektiver Verbin-
dungen, einer Wirklichkeitssprache zu bedienen, die darum oft
härter lautet als wenn in dem Wechselstil Empfindungen sollten aus-
gedrückt werden. Das Himmelreich, in das Himmelreich hinein-
gehen, ich bin die Türe, ich bin die rechte Speise, wer mein
Fleisch ißt usw., in solchen Verbindungen der dürren Wirklich-
keit ist das Geistige hineingezwängt [und nirgends mehr als hier
ist es notwendig, mit eignem, tiefem Geist zu fassen, nirgends ist
es weniger möglich als hier, zu lernen, passiv etwas in sich auf-
zunehmen, da diese objektive Sprache vom Geistigen, aber in ihrer
Form von Wirklichkeitsbegriffen verstanden den Geist zerrüttet].
Jesus erklärt und wiederholt es oft, daß das, was er tue, nicht
seine Tat, was er rede, nicht seine Gedanken seien, alle seine
Kraft und seine Lehre sei ihm vom Vater gegeben. Er kann keine
andre Legitimation seiner Bestreitung des Judentums und seiner
Lehre aufweisen, als dies feste Bewußtsein, was aus ihm spreche,
sei in ihm, aber zugleich etwas Höheres als er, der hier stehe, lehre
und spreche. Er nennt sich deswegen nie Gott, aber den Sohn
Gottes ; jenes ist er nicht, weil er Mensch ist, aber als Mensch ist
auch er zugleich Sohn Gottes, von einem höheren Rang; eine
höhere Natur ist zugleich in ihm, als die Befangenheit in Be-
schränkungen ; er erwartet Glauben von den Juden nur aus dem
Grunde, auf die Art, daß es ihnen von seinem Vater geoffenbart
werde, daß sie selbst aus Gott geboren seien. Als Petrus in ihm
den Gottgezeugten, den Sohn des Lebens erkannte, sagte er:
«Dies hat dir nicht deine Endlichkeit, sondern mein Vater hat es
dir geoffenbart. » [Der Zusammenhang des Unendlichen mit dem
Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil er Leben und
190 G.W. F. HEGEL
also das Geheimnis des Lebens ist. Spricht man freiHch von
zweieriei, von einer göttlichen und menschlichen Natur, so ist
keine Verbindung zu treffen, denn auch in jeder Verbindung sollen
sie noch zwei bleiben, wenn beide als absolute Verschiedene ge-
setzt sind. Dies Verhältnis eines Menschen zu Gott, Sohn Gottes
zu sein, wie ein Stamm der Vater der Zweige, des Laubes und
der Früchte ist, mußte die Juden am tiefsten empören, die eine un-
übersteigbare Kluft zwischen menschliches und göttliches Wesen
gesetzt und unserer Natur keinen Teil am Göttlichen eingeräumt
hatten.
Jesus nennt sich auch Sohn des Menschen. Von dem einigen,
ungeteilten oder unendlich gegliederten Lebendigen kann ein
Glied sich als einen Teil setzen und von dem andern unterschei-
den. Dieses modifizierte Leben ist als reines Leben in dem reinen
All des Lebens ; als Modifikation setzt es sich andern entgegen ;
der Vater hat Leben in sich selbst und so hat er auch dem Sohn
Leben in sich zu haben gegeben, und weil er des Menschen Sohn
ist, hat er ihm Macht erteilt, Gericht zu machen. Das Einige ist
ohne Macht, denn es ist ihm kein Feindseliges, mit ihm Kämpfen-
des entgegen. Aber das Wirkliche, wie der Mensch, kann von
feindseligen Kräften angegriffen werden und in einen Streit kom-
men; nur er kann auch ein Fremdes, das ihn zwar in Ruhe läßt,
aber nicht mit ihm leben und genießen will, das sich abgesondert
hat und getrennt steht, gegen sich über haben und im Rechte
gegen andere stehen, die ruhigen Grenzen ihrer Trennung stecken
und bewahren; nur er kann Gericht halten.]
Das Bewußtsein, dem Joche der Wirklichkeiten sich entzogen
zu haben und von Gott getrieben zu werden, nennt Jesus den
Geist Gottes. Die Gestalt, in der alles Göttliche erscheinen muß,
die das Wirkliche bekämpfende Erscheinung Gottes muß eine
Form haben. Diese Tätigkeit geht gegen das Beschränkte, aber
sie selbst erscheint, obzwar in der freisten, doch in einer Form ;
und darum läßt sich in ihrer Erscheinung noch zwischen Gestalt
und Wesen unterscheiden. Das Wesen ist das Treibende, Tätige
und darum kann Jesus noch von einem Geiste Gottes sprechen ;
und wenn im Menschen der Sohn des Menschen, die Individuali-
tät, und der Sohn Gottes, als in dem der Geist Gottes wohnt,
DAS LEBEN JESU 191
unterschieden wird, so ist die Modifikation, das von Gott nur Be-
lebte verwundbar und an sich nicht heilig und wenn die Indivi-
dualität beleidigt wird, damit das Göttliche selbst nicht verletzt.
Eine Sünde am Menschensohn kann vergeben werden, aber nicht
eine wider den heiligen Geist ; über den im Streite begriffenen
Individualitäten gibt es ein Höheres ; jene Sünde kann in der Liebe
Verzeihung erlangen, diese hat sich an der Liebe selbst versün-
digt und allem Rechte, allem Anteil am GöttUchen entsagt. So
lange Jesus mit seinen Jüngern war, regierte sie der Glaube an ihn,
der Glaube, daß in ihm, einem Menschen, Göttliches ist. Dieser
Glaube war noch nicht der heilige Geist, denn obschon sie jenen
Glauben nicht haben konnten ohne Selbstgefühl der Göttlichkeit,
so waren doch noch dieses Selbstgefühl und ihre Individualität
Getrennte. Letztere hing von der Individualität eines andern
Menschen ab. Das Göttliche in ihnen und sie selbst waren noch
nicht eins. Darum versprach Jesus ihnen nach seiner Entfernung,
die ihnen eine fremde Stütze entzog, den heiligen Geist, der über
sie werde ausgegossen werden, ihre Abhängigkeit von ihm werde
mit seinem Tode aufhören, sie werden in sich selbst den Führer
in alle Wahrheit finden und Söhne Gottes sein : inwieweit diese
Hoffnung ihres Lehrers in Erfüllung gehen konnte, wird sich
weiterhin zeigen.
[Das Bewußtsein der Freiheit und die göttliche Harmonie, die
Beseelung aller Lebensgestalten durch die Gottheit allein nennt
Jesus das Licht und das göttliche Leben der Menschen, ihre Har-
monie bei ihrer Mannigfaltigkeit nennt er ein Königreich, eine
Herrschaft, denn welche andre Einigkeit konnten Juden fassen als
die Einheit durch Herrscher.? Diese Benennung bringt etwas He-
terogenes in die göttliche Vereinigung der Menschheit, denn sie
zeigt immer noch Getrenntes und Widerstreitiges, das aus der
Schönheit und dem göttUchen Leben eines reinen Menschenbundes
ganz entfernt sein muß.]
Liebe a) Eingeschränkt auf wenige, b) Tätig. Die Christen mit-
einander; Aufhebung des Eigentums; Gemeinschaft der Weiber;
Essen und Trinken; Beten, nicht Tätigkeit; also nur im Begriffe
192 G.W. F. HEGEL
vereinigte Glaubende, Liebende; andre in ihrem Gott nicht le-
bendig vereinigt.
Schicksal Jesu. Entsagung den Beziehungen des Lebens: a) bür-
gerlichen, zivilen; b) politischen; c) Zusammenleben mit andern
Menschen; Familie, Verwandte, Ernährung.
Das Verhältnis Jesu zu der Welt teils Flucht, teils Reaktion, Be-
kämpfung derselben. So lange Jesus die Welt nicht verändert
hatte, so weit mußte er sie fliehen.
Mit dem Mute und dem Glauben eines gottbegeisterten Mannes,
der von den klugen Leuten ein Schwärmer genannt wird, trat
Jesus unter dem jüdischen Volke auf. Er trat nur in eignem Geiste
auf; die Welt lag vor ihm, wie sie werden sollte, und das erste
Verhältnis, in das er sich selbst zu ihr setzte, war, sie zum Anders-
werden aufzurufen. Er fing damit an, allen zuzurufen: Ändert
euch, denn das Reich Gottes ist nahe. Hätte in den Juden der
Funke des Lebens geschlafen, da hätte er eines Hauchs bedurft,
um zur Flamme aufzulodern, die alle ihre armseligen Titel und
Ansprüche verbrannt hätte. Hätte das Bedürfnis nach etwas Rei-
nerem bei ihrer Unruhe und Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit
in ihnen gelegen, so hätte der Zuruf des Jesus Glauben gefunden,
und dieser Glaube hätte das Geglaubte in demselben Augenblick
ins Dasein gebracht. Mit ihrem Glauben wäre das Reich Gottes vor-
handen gewesen. Jesus hätte ihnen eigentlich nur ausgesprochen,
was unentwickelt und unbewußt in ihrem Herzen lag; und mit
dem Finden des Worts, mit dem Insbewußtseinkommen des Be-
dürfnisses wären die Bande abgefallen, vom alten Schicksal hätten
sich nur noch Zuckungen des erstorbenen Lebens geregt und das
Neue wäre da gestanden. So aber wollten die Juden zwar etwas
anderes als das Bisherige, aber sie gefielen sich zu sehr in dem
Stolze ihrer Knechtschaft, um das, was sie suchten, in dem zu
finden, was Jesus ihnen anbot. Ihre Gegenwirkung, die Antwort,
die ihr Genius auf den Anruf des Jesus gab, war eine sehr unreine
Aufmerksamkeit. Einige wenige reine Seelen schlössen sich mit
dem Triebe, gebildet zu werden, an ihn an. Mit großer Gutmütig-
keit, mit dem Glauben eines reinen Schwärmers nahm er ihr Ver-
langen für befriedigtes Gemüt, ihren Trieb für Vollendung, ihre
Entsagung einiger bisherigen Verhältnisse, die meist nicht glän-
DAS LEBEN JESU 193
zend waren, für Freiheit und geheiltes oder besiegtes Schicksal;
denn bald nach seiner Bekanntschaft mit ihnen hielt er sie für
fähig und sein Volk für reif, einer ausgebreiteteren Ankündigung
des Reichs Gottes zu folgen. Er schickte seine Schüler paarweise
im Land umher, um seinen Ruf vervielfältigt erschallen zu lassen.
Aber der göttliche Geist sprach nicht in ihrer Predigt; nach viel
längerem Umgang lassen sie noch sehr häufig eine kleine, wenig-
stens ungereinigte Seele blicken, von der wenige Äste nur das
Göttliche durchdrungen hatten. Ihre ganze Instruktion, außer
dem Negativen, das sie enthält, war, die Nähe des Reiches Gottes
zu verkündigen. Sie sammeln sich bald wieder zu Jesu und man
erblickt keineWirkung der Hoffnung Jesu und ihres Apostolisierens.
Die Gleichgültigkeit der Aufnahme seines Aufrufs verwandelte
sich bald in Haß gegen ihn, dessen Wirkung auf ihn eine immer
steigende Erbitterung gegen sein Zeitalter und sein Volk war, vor-
züglich gegen die, in welchen der Geist seiner Nation am stärksten
und leidenschaftlichsten wohnte, gegen die Pharisäer und die
Führer des Volks. Sein Ton ist kein Versuch, sich mit ihnen zu
versöhnen, ihrem Geiste etwas anzuhaben, sondern der heftigste
Ausbruch seiner Erbitterung gegen sie, die Enthüllung ihres ihm
feindseligen Geistes. Er handelt gegen diesen nicht einmal mit
dem Glauben der Möglichkeit einer Linderung. Wenn ihr ganzer
Charakter ihm widerstand, so konnte er bei Veranlassungen, über
religiöse Gegenstände mit ihnen zu sprechen, nicht auf eine Wi-
derlegung und Belehrung ausgehen. Er bringt sie nur durch ar-
gumenta ad hominem zum Schweigen ; das ihnen entgegengesetzte
Wahre richtet er an die andern gegenwärtigen Menschen. Mir
scheint, nach der Rückkehr seiner Jünger zu ihm (Matth. XII)
entsaojte er seinem Volke und hat gefühlt, daß Gott sich nur dem
einfachen Menschen offenbare, und er beschränkt sich jetzt auf
Wirksamkeit auf einzelne und läßt das Schicksal seiner Nation
unangetastet stehen, indem er sich selbst von ihm absondert.
Weil alles, auch die schönsten Formen des Lebens befleckt
waren, so konnte sich Jesus mit keiner einlassen. In seinem Reiche
Gottes konnte es keine Beziehung geben, als die aus der Schönheit
und Freiheit selbst hervorginge. Die Verhältnisse des Lebens
waren unter seinem Volke unter der Sklaverei der Gesetze und
Hegel, Das Leben Jesu 13
194 G.W. F. HEGEL
des selbstsüchtigen Geistes. Er scheint von seinem Judengeschlecht
keine allgemeine Wegwerfung seines Joches erwartet zu haben,
und darum sah er einen Kampf des Heiligen mit dem Unheiligen
voraus, vor dessen ganzer Gräßlichkeit er sich fürchtete. «Ich
kam nicht, sagt er, um der Erde Frieden zu bringen, sondern das
Schwert. Ich kam, den Sohn gegen seinen Vater zu entzweien.»
Zustand der jüdischen Religion. Das jüdische Volk, das
schlechterdings alle es umgebenden Völker verabscheute und
verachtete, wollte für sich hocherhaben, allein in seiner Art,
seinen Sitten, seinem Dünkel beharren. Jede Gleichstellung
mit andern war ihm eine greuelhafte Abscheulichkeit und doch
stand es durch die Lage seines kleinen Landes, durch Han-
delsverbindungen, durch die Vereinigung der Völker, welche die
Römer stifteten, in mannigfaltigen Beziehungen mit andern. Dem
Drange der Völker, sich zu vereinigen, mußte die jüdische Sucht,
sich zu isolieren, unterliegen und nach Kämpfen, die um so ent-
setzlicher waren, je eigner dies Volk war, waren sie auch unter-
legen, und durch die Unterwerfung des Staats unter eine fremde
Gewalt tief gekränkt und erbittert worden. Um so hartnäckiger
hielt dies Volk fernerhin auf seine statutarischen Gebote der Re-
ligion. Es leitete seine Gesetze unmittelbar von einem ausschließ-
lichen Gott ab. In seiner Religion war die Ausübung einer un-
zähligen Menge sinn- und bedeutungsloser Handlungen w^esent-
lich und sein pedantischer, sklavischer Geist hatte noch den
gleichgültigsten Handlungen des täglichen Lebens eine Regel vor-
geschrieben und der ganzen Nation das Ansehen eines Mönchs-
ordens gegeben. Der Dienst Gottes und der Tugend war ein
zwangvolles Leben in toten Formularen. Dem Geist blieb nichts
als der hartnäckige Stolz auf diesen Gehorsam der Sklaven gegen
jene nicht selbstgegebenen Gesetze übrig.
Dieser Zustand der jüdischen Religion mußte in Menschen von
besserem Kopf und Herzen, die ihr Selbstgefühl nicht zu toten
Maschinen und zugleich zur Wut des Knechtsinns herunterbeugen
konnten, das Bedürfnis einer freiem Tätigkeit und reinern Selb-
ständigkeit, als mit mönchischer Geschäftigkeit eines geist- und
DAS LEBEN JESU 195
wesenlosen Mechanismus kleinlicher Gebräuche ein Dasein ohne
Selbstbewußtsein zu leben, das Bedürfnis eines edlern Genusses,
als in diesem Sklavenhandwerk sich groß zu dünken und für das-
selbe zu rasen, erwecken. Die Natur empörte sich gegen diesen
Zustand und trieb die mannigfaltigsten Reaktionen hervor: die Ent-
stehung vieler Räuberbanden, vieler Messiasse, das strenger und
mönchischer gemachte Judentum der Pharisäer, die Verbindung
von Freiheit und Politik mit demselben in dem Sadduzäismus, das
brüderliche, von den Leidenschaften und Sorgen ihres Volks fer-
ne Eremitenleben der Essener, die Aufhellung des Judentums
durch schönere Blüte der tiefern menschlichen Natur im Plato-
nismus, endhch das Erheben und offene Predigen des Johannes an
alles Volk, und zuletzt die Erscheinung des Jesus, der das Übel
seines Volks an der Wurzel angriif, nämlich an seiner hochmü-
tigen und feindseligen Aussonderung von allen Nationen, es also
zum Gotte aller Menschen, zu allgemeiner Menschenliebe, zur
Entsagung lieb- und geistlosen Mechanismus, ihres Gottesdienstes
führen wollte, dessen neue Lehre eben deswegen mehr noch zur
Religion der Welt als seines Volkes wurde, — ein Beweis, wie
tief er die Bedürfnisse seines Zeitalters aufgegriffen hatte und wie
die Juden in rettungsloser Abwesenheit des Guten und Wut der
Geistesknechtschaft versunken waren.
Wie die Bildung des Jesus gereift ist, über diese interessante
Frage sind keine Nachrichten auf uns gekommen. In seinem
männlichen Alter erst tritt er auf, frei von der eingeschränkten
Trägheit, die an die gemeinen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten
des Lebens ihre einzige Tätigkeit verwendet, wie von Ehrgeiz und
andern Leidenschaften, deren Befriedigung ihn genötigt haben
würde, in den Vertrag der Vorurteile und der Laster einzutreten.
Seine ganze Manier hat das Ansehen, daß er zwar unter seinem
Volk erzogen, aber fern von ihm, und wohl länger als vierzig
Tage, von dem Enthusiasmus des Reformators beseelt wurde.
Zugleich aber trägt seine Art zu handeln und zu sprechen keine
Spuren irgend einer damals vorhandenen Bildung, eines andern
Volkes oder Religion an sich. Er tritt auf einmal jugendlich, mit
aller freudigen Hoffnung und zweifellosen Zuversicht des Erfolges
auf. Der Widerstand, der ihm von den eingewurzelten Vorur-
13*
196 G.W. F. HEGEL
teilen seines Volkes kommt, scheint ihm unerwartet. Den er-
töteten Geist freier Religiosität, die hartnäckige Raserei des Knecht-
sinns seiner Nation schien er vergessen zu haben.
[Er unternahm es, Religion und Tugend zur Moralität zu er-
heben und die Freiheit derselben, worin ihr Wesen besteht, wieder-
herzustellen; denn so wie jede Nation eine hergebrachte National-
tracht, eine eigne Manier zu essen und zu trinken und in ihrer
übrigen Lebensart eigne Gewohnheiten hat, so war Moralität
von der ihr eigentümlichen Freiheit zu einem System solcher Ge-
bräuche herabgesunken. Er rief die moralischen Prinzipien, die
in den heiligen Büchern seines Volkes lagen, demselben ins Ge-
dächtnis zurück. Die höchsten Grundsätze der MoraHtät fand
Jesus vor und stellte keinen neuen auf; (Matth. XXII, 37 cf. Deut.
VI, 5 ; Matth. V, 43 cf Lev. XIX, 18 ; Matth. V, 48 cf. Lev. XI, 44:
Seid heilig wie ich, und XVIII, 5 ; Matth. VII, 1 2 hat einen zu weiten
Umfang und ist auch für den Lasterhaften als Maxime der Klugheit
zu gebrauchen, als daß es einen moralischen Grundsatz abgeben
könnte); und wirklich wäre es sonderbar gewesen, wenn eine Reli-
gion wie die jüdische, die die Gottheit zu ihrem politischen Gesetz-
geber machte, nicht auch rein moralische Prinzipien enthalten hätte.]
Fasten, Matth. IX, 14; menschliches Leben und Liebe darüber
erhaben ; Fasten muß von der Stimmung des Gemüts zu Freude
oder Leid abhängen ; 16 — 17, Unverträglichkeit des Alten mit dem
Neuen ; Gefahr, die der Selbstbestimmung der Moralität durch das
Positive droht.
Matth. XII, I — 8, Entheiligung des Sabbats; entgegengesetzt
das Beispiel ihrer Priester (die Nichtnotwendigkeit) und die Ge-
setzgebung des Menschen; 11 — 12, Vorzug des Bedürfnisses des
Menschen; XV, 2, Händewaschen vor dem Brotessen; den Phari-
säern entgegengesetzt das Übertreten des Gebots durch die Phari-
säer selbst, durch ihre objektiven Gebote; 11 — 20, dem übrigen
Volke die Gesinnung, die Subjektivität des Menschen, nichts Ob-
jektives rein, keine gegebene Reinheit.
XVII, 25, Steuer; der König nimmt sie nur von Fremden; so
sind die Söhne frei; daß sie sich aber nicht ärgern (axovoa/.iCH'.v).
XIX, I, die Liebe, die Gesinnung über das Gesetz, in Ansehung
der Ehe.
DAS LEBEN JESU 197
Moralität erhält, sichert nur die Möglichkeit der Liebe und ist
daher ihrer Handlungsart nach nur negativ. Ihr Prinzip ist die
Allgemeinheit, d. h. alle als seinesgleichen, als gleiche zu behan-
deln; die Bedingung der Liebe, das Vermögen des Allgemeinen
ist die Vernunft. Ein durchaus nur moralischer Mensch ist ein
Geiziger, der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt,
ohne je zu genießen. Die moralische Handlung ist immer eine
beschränkte, weil sie eine Handlung ist und die Gesinnung ist
einseitig und unvollständig, weil sie der Handlung entgegengesetzt
ist. Bei Moralität ohne Liebe ist zwar in der Allgemeinheit die
Entgegensetzung gegen einzelne Objekte aufgehoben, — eine
Synthese Objektiver; aber das Einzelne ist als ein ausgeschlossenes
Entgegengesetztes vorhanden.
Immoralität hebt die Möglichkeit der Liebe auf durch Mißhand-
lung Lebendiger. Rückkehr zur Moralität durch die Rückwirkung
des Gesetzes, durch Schicksal und Strafe, ist Furcht vor dem Ob-
jekt, vor dem, was man mißhandelt hat. Rückkehr zur Legalität,
d. h. zur objektiven Regel, zur Moralität nur durch die Liebe,
deren Bedürfnis für sich gefühlt, ihre Befriedigung durch Immo-
ralität sich unmögHch gemacht hat und das Lebendige achtet.
Das Gesetz als Herrschendes durch Tugend aufgehoben; die
Beschränkung der Tugend durch Liebe; aber Liebe ist Empfin-
dung, mit ihr die Reflexion nicht vereinigt.
Die Gottheit; so unendlich das Objekt, so unendlich die Passi-
vität; durch Moralität und Liebe diese vermindert, aber nicht zur
vollendeten Selbständigkeit gebracht; diese Passivität besteht
durch Streit gegen das Objektive, und auf diese Art keine Religion
möglich; das Objekt nicht verneinen, sondern versöhnen.
Liebe die Blüte des Lebens; Reich Gottes der ganze Baum mit
allen Modifikationen, Stufen der Entwickelung. Die Modifikatio-
nen sind AusschUeßungen, aber nicht Entgegensetzungen; d. h. es
gibt keine Gesetze, das Gedachte ist dem Wirklichen gleich ; es
gibt kein Allgemeines, keine Beziehung ist objektiv, zur Regel ge-
worden. Alle Beziehungen sind lebendig aus der Entwicklung
des Lebens hervorgegangen; kein Objekt an ein Objekt gebunden,
nichts ist fest geworden. Keine Freiheit der Entgegensetzungen,
kein freies Ich, kein freies Du. Aus der Entgegensetzung durch
198 G.W. F. HEGEL
Freiheit entspringen Rechte. Freiheit ohne Entgegensetzung ist
nur eine MögUchkeit. Die Menschen sind so, wie sie sein sollen;
das Seinsollen muß freilich dann ein unendliches Streben sein,
wenn das Objekt schlechthin nicht zu überwinden ist, wenn Sinn-
Uchkeit und Vernunft, oder Freiheit und Natur, oder Subjekt und
Objekt, so schlechterdings entgegengesetzt sind, daß sie absolut
sind; durch die Synthese: kein Objekt, kein Subjekt, oder kein
Ich, kein Nicht-Ich, wird ihre Eigenschaft als Absolute nicht auf-
gehoben. Gesetz ist eine Beziehung der Objekte aufeinander; im
Reich Gottes kann es keine Beziehung geben, weil es keine Ob-
jekte füreinander gibt. Eine gedachte Beziehung ist fest und blei-
bend, ohne Geist, ein Joch, eine Zusammenkettung, eine Herr-
schaft und Knechtschaft. Tätigkeit und Leiden; Bestimmen und
Bestimmtwerden.
Matth. IV, 17 Msxavoshc • rjf'./.sv -jap r^ pco'.Xii'a tiöv oöpavüjv. Dies ist
der erste Aufruf und Versicherung, das Himmelreich sei da.
Matth. V, i7.z>.r,pu)3a!. ergänzen, vollständig machen durch die
Gesinnung, durch Hinzufügung des Innern zum Äußern — V, 20;
Rechtschaffenheit seiner Anhänger müsse mehr sein, als die der
Pharisäer und Gesetzverständigen; es müsse außer dieser auch
noch das hinzukommen, daß das Gesetz, dem sie folgen, ihr eig-
nes sei — V, 21, 23 ; zu dem objektiven Verbot des Mordes wird
die Mißbilligung des Zorns über seinen Bruder gefügt, zum Ver-
söhnopfer wirkliche Versöhnung usw. — V, 33; dem Gebot, daß
nicht falsch geschworen werden soll, dem Herrn der Eid gehalten
werden soll — gar nicht schwören, nicht bei etwas Fremdem,
nicht beim Himmel, denn er ist nur der Thron Gottes usw., nicht
bei unserm Haar, das nicht ganz in unserer Gewalt ist, bei nichts
Fremdem also überhaupt, an diesem nicht hängen, sondern wir
selbst sein. Ein anderer Maßstab entgegengesetzt, die Gesinnung,
und nach diesem leidenschaftliche Handlungen, die in dem Be-
stehen des andern nichts ändern, ebenso verurteilt als die Stö-
rung eines für sich bestehenden Lebens, und zum Prinzip Ver-
söhnlichkeit, d. h. die Geneigtheit, die Trennung aufzuheben, an-
gegeben.
Aber wenn der Mensch nun eins mit sich selbst ist, jede Ab-
hängigkeit, jeden Bund mit den Objekten verschmäht, so muß er
DAS LEBEN JESU 199
doch mit der Not einen Bund machen; VI, 25 ff. : «Seid unbeküm-
mert über die Not.»
Mit der eignen Knechtschaft hört auch die Herrschaft, die man
durch die Idee der morahschen Gebote über andre ausübt, auf;
VII, I ff., eigne Freiheit gesteht andern gleichfalls Freiheit zu.
Sittenrichterei erkennt nichts für sich Bestehendes, nur alles unter
einem Gesetz, unter einer Herrschaft stehend, nicht das Wesen
und das Gesetz eins, in einer Natur. «Das Prinzip eures Ver-
hältnisses gegen andre ist, ihre Freiheit zu ehren, und was ihr also
von ihnen wollet, nur darum zu bitten.»
Jesum charakterisiert als den Stifter einer neuen Religion unter
einem verdorbenen Volke die Entsagung den Bequemlichkeiten
des Lebens und die gleiche Forderung desselben an seine Gehülfen,
auch das Entreißen sonstigen Verhältnissen und heiligen Bezie-
hungen des Lebens.
Antwort, die er seinem Anhängergab, der seinen Vater begraben
wollte, (Matth. VIII, 22).
Matth. VIII, 10; die erste Äußerung über Kälte bei den Juden
und ihre Verwerfung.
IX, 15; Fasten nicht zu einem Zwecke, sondern nach den
Umständen.
IX, 36 — 38, X, I ff. ; Schicken der Apostel ins Land. Mark.
VI, 7; Jesus schickt sie fort; VI, 30 sammeln sie sich wieder zu
ihm. Luk. IX, 6 und IX, 10 zurück. Nicht die Menschen zu
versöhnen und das Menschengeschlecht zu Freunden zu machen;
die Allgemeinheit seiner Reformation aufgegeben. Matth. X, 21:
«Ein Bruder wird den Bruder, der Vater das Kind zum Tode geben,
Kinder die Eltern.» id. 34: «Ich kam nicht, um Frieden auf die
Erde zu werfen, sondern das Schwert. Ich kam, den Mann gegen
seinen Vater, die Tochter gegen die Mutter, die Braut gegen die
Schwieger zu entzweien. Die Hausgenossen werden die Feinde
des Mannes sein. Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter
mehr liebt, als mich, ist meiner nicht würdig.» Gräßliches Zer-
reißen aller Bande der Natur, Zerstörung aller Natur.
Steigende Erbitterung gegen seine Zeit, Matth. XI, 12 ff. —
id. 25: «Du hast dies den Verständigen und Klugen verborgen
und den Einfältigen geoffenbart ; so war dein Belieben. » — XII, 8 ff. ;
200 G.W. F. HEGEL
der Mensch höher als der Sabbat — id. i6; er verbot den Ge-
heilten, dies auszusagen — id. 3 1 ; Sünde gegen den Menschen-
sohn wohl vergeben, aber nicht die Sünde gegen den heiligen
Geist — id. 48: «Wer ist meine Mutter und mein Bruder.'' Diese»,
indem er sich zu seinen Anhängern wendete — XIII, 54 — 5 5 : «Ist
dieser nicht der Sohn des Zimmermanns?» Unglaube an Menschen-
natur, Verachtung aller menschlichen Verhältnisse. Daher seine
Entfernung von denselben, weil sie nicht geheiligt waren. —
V, 57; ein Prophet gilt in seinem Vaterlande nichts; dazu oben
X, 36 ; Reinheit durch alles verunreinigt, nicht wiederherzustellen.
Es kann dem Schicksal nicht entgangen werden. Wenn die Schön-
heit aus allem entflohen ist, so gab er alles auf, um sie allein zu-
erst wiederherzustellen.
Mark. XVI, 17. Zeichen, die die Gläubigen begleiten werden;
übernatürliche Kräfte. Was die Natur vermochte, war vorhanden,
war da als Erscheinung, als Tat; es war geschehen; alle Seiten
der menschlichen Natur waren Sitte, Gewohnheit, Lebensweise
der Völker, objektiv geworden ; Taten, die als Taten göttlich sein
sollten, mußten übernatürlich sein. Göttlich ist aber nichts, was
geschieht, sondern was ist; etwas Göttliches, was geschieht, ist
größer, als was andere tun, und wäre also nur relativ. Die Tat
an sich ist der Zusammenhang der aufeinander folgenden Objek-
tiven ; so viel in dem einen Objekt Leiden, so viel in dem andern
Tätigkeit, und jedes Objekt ist ein Allgemeines eben darum, weil
es unter einem Gesetz steht.
Jesus fing seine Predigt damit an, zu verkündigen, das Reich
Gottes sei da. Die Juden erwarteten die Wiederkehr der Theo-
kratie. Sie sollten es glauben, und das Reich Gottes kann im
Glauben da sein. Was aber im Glauben vorhanden ist, ist der
Wirklichkeit und dem Begriff von ihr entgegengesetzt ; das All-
gemeine drückt ein Soll aus, weil es ein Gedachtes ist, weil es
nicht ist, aus dem gleichen Grunde, warum Dasein nicht bewiesen
werden kann.
Das Reich Gottes ist der Zustand, wenn die Gottheit herrscht,
also alle Bestimmungen, alle Rechte aufgehoben sind. Diese Ver-
hältnisse zu Vater, Familie, Eigentum konnten nicht zu schönen
Verhältnissen werden ; also sollten sie gar nicht da sein, damit
DAS LEBEN JESU 201
wenigstens nicht das Gegenteil da wäre. Daher zumjünghng:
«Verkaufe das Deinige; es ist schwer, daß ein Reicher ins Reich
Gottes eingehe.» Daher Entsagung allen Besitzungen und aller
Ehre, entweder durch einen Sprung oder durch sukzessive Auf-
hebung der einzelnen Bestimmungen, durch Auflösung. Jenes,
die Begeisterung, versuchte Jesus; er versicherte, das Reich Gottes
sei da ; er sprach das Dasein einer Sache aus. Nach dem Tode
Christi sagten zwei seiner Anhänger (Luk. XXIV, 21): «Wir hoff-
ten, er sei der, der Jerusalem befreien werde.» Die Juden erwar-
teten mit dem Reich Gottes, daß vieles geschähe, daß sie von der
Herrschaft der Römer befreit würden, ihr Priestertum in seinem
alten Glanz wiederhergestellt würde usw., das heißt, daß außer
ihnen viele Veränderungen vorgingen. Solche Juden konnten
nicht glauben, das Reich Gottes sei da, wenn Jesus es ihnen ver-
kündigte. Die aber in sich selbst beruhten, vollendet waren, konn-
ten es glauben, nicht als Isolierte, denn Gott ist in nichts Isolier-
tem, sondern in lebendiger Gemeinschaft. Glaube an die Mensch-
heit ist Glaube ans Reich Gottes ; Glaube ist das Individuelle gegen
das Lebendige; nicht die Gesetze Gottes herrschen, denn Gott
und seine Gesetze sind nicht zweierlei; Leben und Rückkehr zum
Leben, aber keine Regel darüber (Luk. XV, 32).
Am interessantesten wird es sein, zu sehen, wie sich Jesus und
was er unmittelbar dem Prinzip des Beherrschtwerdens und dem
unendlichen Herrscher der Juden entgegenstellt. Hier, im Mittel-
punkt ihres Geistes, mußte der Kampf am hartnäckigsten sein;
denn hier wurde alles in einem angegriffen. Der Angriff auf die
einzelnen Zweige des Judengeistes trifft zwar auch das Prinzip,
aber es ist noch nicht im Bewußtsein, daß dieses angegriffen ist.
Erst wenn immer mehr gefühlt wird, daß dem Streit um Einzel-
nes ein Widerstreit der Prinzipien selbst zugrunde liegt, dann
tritt Erbitterung ein. Zwischen den Juden und Jesu kam bald seine
Entgegensetzung gegen ihr Höchstes zur Sprache. Der Idee der
Juden von Gott als ihrem Herrn und Gebieter über sie setzt Jesus
das Verhältnis Gottes zu den Menschen als eines Vaters gegen
seine Kinder entgegen.
Moralität hebt die Beherrschung in den Kreisen des zum Be-
wußtsein Gekommenen, Liebe die Schranken der Kreise der Mo-
202 G.W. F. HEGEL
ralität auf. Aber die Liebe selbst ist noch unvollständiger Natur.
In der glücklichen Liebe ist kein Raum für Objektivität; aber jede
Reflexion hebt die Liebe auf, stellt die Objektivität wieder her
und mit ihr beginnt wieder das Gebiet der Beschränkungen. Re-
flexion und Liebe vereint, beide verbunden gedacht, Religiöses ist
also das xXrjpwjia der Liebe. Die Anschauung der Liebe scheint
die Forderung der Vollständigkeit zu erfüllen, aber es ist ein
Widerspruch: das Anschauende, Vorstellende ist ein Beschränken-
des und nur Beschränktes Aufnehmendes, das Objekt aber wäre
ein Endliches ; das Unendliche kann nicht in diesem Gefäße ge-
tragen werden.
Wenn Jesus so sprach: «Der Vater ist in mir, ich im Vater;
wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen; wer den Vater
kennt, der weiß, daß meine Rede Wahrheit ist; ich und der Vater
sind eins,» so klagten ihn die Juden der Gotteslästerung an, daß
er, der ein Mensch geboren sei, sich zum Gotte mache; wie hätten
sie an einem Menschen etwas Göttliches erkennen sollen, sie, die
Armen, die in sich nur das Bewußtsein ihrer Erbärmlichkeit und
ihrer tiefen Knechtschaft, ihrer Entgegensetzung gegen das Gött-
liche, das Bewußtsein einer unübersteigbaren Kluft zwischen
menschlichem und göttHchem Sein trugen? Nur der Geist erkennt
den Geist. Sie sahen in Jesu nur den Menschen, den Nazarener,
den Zimmermannssohn, dessen Brüder und Verwandte unter
ihnen lebten. So viel war er; mehr konnte er ja auch nicht sein;
er war nur einer, wie sie, und sie selbst fühlten, daß sie nichts
waren. Am Haufen der Juden mußte sein Versuch scheitern, ihnen
das Bewußtsein von etwas Göttlichem zu geben. Denn der Glaube
an etwas Göttliches, an etwas Großes kann nicht im Kote wohnen.
Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuß, der unendliche Geist
nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele, das All des Lebens
nicht in einem dürrenden Blatt. Der Berg und das Auge, das ihn
sieht, sind Subjekt und Objekt, aber zwischen Mensch und Gott,
zwischen Geist und Geist ist diese Kluft der Objektivität nicht;
einer ist dem andern ein andrer nur darin, daß er ihn erkennt.
Ein Zweig der objektiven Annahme des Verhältnisses des Sohnes
zum Vater, oder vielmehr die Form derselben in Rücksicht des
Willens ist in dem Zusammenhang, der bei Jesu zwischen der ge-
DAS LEBEN JESU 203
trennten menschlichen und göttUchen Natur gedacht und verehrt
wird, auch für sich selbst einen Zusammenhang mit Gott zu finden,
eine Liebe zwischen ganz Ungleichem, eine Liebe Gottes zu dem
Menschen zu hoffen, die höchstens ein Mitleid sein könnte. Das
Verhältnis Jesu als Sohnes zum Vater ist ein kindliches Verhältnis,
denn der Sohn fühlt sich im Wesen, im Geiste eins mit dem Vater,
der in ihm lebt, und hat keine Ähnlichkeit mit dem kindischen
Verhältnis, in welches sich der Mensch mit dem reichen Ober-
herrscher der Welt setzen möchte, mit dem er nur durch die
geschenkten Dinge, durch die Brocken, die von des Reichen Tisch
fallen, zusammenhängt.
Christus hatte zwölf Apostel. Die Zahl zwölf war eine fest blei-
bende Zahl. Der Jünger mehr, aber die Apostel waren die, die
seines vertrauten Umgangs genossen, die sich aller andern Ver-
hältnisse entschlagen hatten und nur seinen Umgang, seinen Un-
terricht genossen, ihm so viel als möglich in allem ähnlich zu
werden sich bestrebten, sich durch die Länge der Zeit, des Unter-
richts und seines lebendigen Beispiels, seines Geistes sich zu be-
mächtigen suchten. Und wie eingeschränkt jüdisch, wie ganz
irdisch anfangs ihre Erwartungen, Hoffnungen, Ideen waren, und
wie lange sie ihren Blick und ihr Herz von einem jüdischen Mes-
sias und Stifter eines Reiches, wo General- und Marschallstellen
zu vergeben sein würden, und von dem Eigennutz, der zuerst an
sich denkt, nicht erheben, nicht erweitern konnten zu dem bloßen
Ehrgeiz, ein Mitbürger des Reiches Gottes zu werden ! Es genügte
dem Christus nicht. Jünger zu haben, wie Nathanael, Joseph von
Arimathia, Nikodemus und dergleichen, d. h. mit Männern von
Geist und vortrefflichem Herzen Gedankenkorrespondenzen ge-
habt zu haben, etwa einige neuen Ideen, einige Funken in ihre
Seele geworfen zu haben, die, wenn das Zeug, wo sie hinfallen,
nicht gut ist, selbst Brennstoff enthält, ohnedem verloren sind.
Solche Männer, teils glückUch und zufrieden lebend im Schöße
ihrer Familie und nützlich tätig in ihrem Wirkungskreise, teils
bekannt mit der Welt und ihren Vorurteilen, daher tolerant gegen
sie, obzwar streng gegen sich, wären für die Anforderung, eine
204 G.W. F. HEGEL
Art von Abenteurern zu werden, nicht empfänglich gewesen —
Christus sagt: «Das Reich Gottes zeigt sich nicht mit äußerlichen
Geberden.» Es scheint also, seine Schüler haben ihn bei dem Be-
fehl: «Gehet hin in alle Welt usw. und taufet sie» insoweit miß-
verstanden, daß sie diese Taufe, ein äußeres Zeichen, für allgemein
notwendig hielten, welches um so schädlicher ist, da Unterschei-
dung durch äußere Zeichen Sektiererei, Entfernung von andern
nach sich zieht, überhaupt der Unterschied durch das Moralische
dadurch, daß ihm noch ein anderer Unterschied zugegeben wird,
geschwächt, gleichsam schon von seiner Bedeutung verliert. Chri-
stus sagt: «Wer da glaubt» ; es heißt aber nicht gerade: «Wer an
mich glaubt». Es sei nun darunter zu verstehen oder nicht, so
nahmen es die Apostel einmal so und das Schiboleth ihrer Freunde,
der Bürger ihres Reiches Gottes war nicht: Tugend, Rechtschaffen-
heit, sondern: Christus, Taufe usw. Wäre ihnen Christus nicht
ein so guter Mann gewesen — (s. Nathan). ^^)
Sokrates hatte Schüler von allerlei An, oder vielmehr er hatte
keine; er war nur Lehrer und Meister, wie es jeder durch sein
Beispiel der Rechtschaffenheit und durch vorzügliche Vernunft
sich auszeichnende Mann für jeden ist, wenn man ihn schon nicht
vom Katheder oder von einem Berg herunter predigen hört. Wie
hätte es überhaupt einem Sokrates in Griechenland einfallen sol-
len, zu predigen? Er ging darauf aus, die Menschen zu belehren,
über das, was ihr höchstes Interesse erwecken soll, aufzuklären und
dafür zu beleben. Er ließ sich für seine Weisheit nicht bezahlen;
er jagte ihr zuliebe sein unfreundliches Weib nicht aus dem Hause,
daß er nichts mit ihr hätte zu schaffen haben wollen, sondern blieb
ohne Widerwillen, seiner Weisheit unbeschadet, in den Verhält-
nissen als Mann, als Vater.
ANMERKUNGEN
des Herausgebers
^ S. 28. Vgl. Iphig. auf Tauris V, 3:
Es hört sie jeder,
Geboren unter jedem Himmel, dem
Des Lebens Quelle durch den Busen rein
Und ungehindert fließt.
^ S. 72. «Memorabilien, eine philosophisch -theologische Zeit-
schrift der Geschichte und Philosophie der Religionen, dem
Bibelstudium und der morgenländischen Literatur gewidmet»,
herausgegeben von H. E. G. Paulus, Bd. I, erstes, zweites und
drittes Stück, Leipzig, 1791 ; Bd. II, viertes, fünftes und sechstes
Stück, 1793 ; Bd. III, siebentes und achtes Stück, 1795. Vgl.:
H. E. G. Paulus und seine Zeit, von K. A. Freiherrn von Reich-
lin-Meldegg, Stuttgart 1853, 2. Bd., erster Band S. 184 — 189.
Der betreffende Aufsatz (von Paulus selbst) führt den Titel:
Antiquarisches Problem über das Annageln der Füße bei Ge-
kreuzigten (4. Stück, S. 36 — 65).
^ S. 83. Hier ist im Manuskript ein Blättchen eingefügt, welches
folgende Auszüge aus der Ilias enthält:
Fatum.
IL B. 830—834.
Töv ■^px' 'AdpTjoTÖs TS xal 'Aiicpios XtvoO-cöpYj^,
ufs 80(1) Msponog Ilepxcoaioü, og nspl uävxwv
■qb&e liavToauvag, ou8h oug TiaiSos laaxsv
azslyzi^ ic, uöXsiiov cp^-toT^vopa • X(b Ss ol oöxi
netO-daö-irjv • Kfipsq yäp S.yo'v (xsXavos d'aväxoto.
B. 858—860.
Muawv öe Xpöiitg -^pxs xal 'Ewonog olcüvioxi^s'
dXX' oüx olcovolatv ipüaaaxo K^pa [isXaivav,
dXX' sSajirj ut:ö x^P^^ t^oScüxsoi; AlaxtSao.
C. loi— 102.
'Huscüv S'ÖTiTtoxdptp O-avaxog xac [lolpa xexuxxat,
xsö-vaiT).
C. 165 — 166.
Ouxi |Jioi alxtT) iaai, 9-sod vü |jLOt ai'xio! siaiv,
ol p.01 icpojpiATjaav toXeiiov noXüSaxpuv 'AxaiMv.
2o6 ANMERKUNGEN
C. 308 — 309.
Zsü; [iiv Tzou t6 yz ol5& xai äO-ävotTO'. d'Eoi äXXot,
ÖTCrtoxiptp S-avctToto teXo; TzenpwiJiivov eaxiv.
D. 406 — 409.
Utielg xal 9T,ßrj? I5o?; EÜXojiev kTiza.Tii}Xoio,
:iaupdT£pov Xaöv äyaY'^''^' ^^^ "^sly^^S "Apsiov,
Ttsid-d^ievo'. -cepäeoai ^smv xai Zyjvö? dpcüy^-
xelvGi Se acpeTdpTjoiv dTaaS-aXiijotv SXovto.
E. 62 — 64.
°0j xai 'AXe^ivSpü) Texnr^vaTO vf^a; itoog
dpxexäxoug, a? :iao'. xaxöv Tpusooi y^^o^'^°)
ot x'auTcp, ijiei oüv. O-eöv Ix 0-sacpaxa ^5yj.
S. 92. Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft, 1793, viertes Stück, zweiter Teil, § 3 «Von
einem tungusischen Schaman, bis zu dem Kirche und Staat
zugleich regierenden europäischen Prälaten, oder (wollen wir
statt der Häupter und Anführer nur auf die Glaubensanhänger
nach ihrer eignen Vorstellungsart sehen), zwischen dem ganz
sinnlichen Mogulitzen [Ausgabe 1794: Wogulitzen], der die
Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt
legt, mit dem kurzen Gebet: «Schlag mich nicht tot!» bis zum
sublimierten Puritaner und Independenten in Konnecticut ist
zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im
Prinzip zu glauben ; denn, was dieses betrifft, so gehören sie
insgesamt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in
dem, was an sich keinen bessern Menschen ausmacht (im
Glauben statutarischer Sätze, oder Begehen gewisser willkür-
licher Observanzen) ihren Gottesdienst setzen.»
S. 94. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, i. Teil,
I. Buch, drittes Hauptstück: «Es ist sehr schön, aus Liebe zu
Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu
tun, aber das ist noch nicht die echte moralische Maxime
unseres Verhaltens, die unserm Standpunkte, unter vernünf-
tigen Wesen, als Menschen angemessen ist, wenn wir uns an-
maßen, gleichsam als Volontäre, uns mit stolzer Einbildung
über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen, und, als vom
Gebote unabhängig, bloß aus eigener Lust das tun zu wollen,
wozu für uns kein Gebot nötig wäre. Wir sind zwar gesetz-
ANMERKUNGEN 207
gebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch prak-
tische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs der
Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt
desselben. Hiermit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen
Gebots, als: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als
dich selbst, ganz wohl zusammen. Denn es fordert doch, als
Gebot, Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und über-
läßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Prinzip zu
machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe)
ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben
dieselbe gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht
geboten werden ; denn es steht in keines Menschen Vermögen,
jemanden bloß auf Befehl zu lieben. Also ist es bloß die prak-
tische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze verstanden wird.
Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne tun ;
den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne aus-
üben. Das Gebot aber, das dieses zur Regel macht, kann auch
nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben,
sondern bloß danach zu streben gebieten. Denn ein Gebot,
daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil,
wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen,
wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gerne zu tun,
ein Gebot darüber ganz unnötig, und, tun wir es zwar, aber
eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein
Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime
macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwider wirken würde.
Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vor-
schrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen
Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit
von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist,
welchem wir uns zu nähern, und in einem ununterbrochenen,
aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen.
Könnte nämlich ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kommen,
alle moralische Gesetze vöUig gerne zu tun, so würde das so-
viel bedeuten, als, es fände sich in ihm auch nicht einmal die
Möglichkeit einer Begierde, die es zur Abweichung von ihnen
reizte; denn die Überwindung einer solchen kostet dem Sub-
2o8 ANMERKUNGEN
jekt immer Aufopferung, bedarf also Selbstzwang, d. h. innere
Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut. Zu dieser
Stufe der moralischen Gesinnung aber kann es ein Geschöpf
niemals bringen.»
S. 104. Vgl. Romeo und Julia, II, 2.
Julia: My bounty is as boundless as the sea,
My love as deep : the more I give to thee,
The more I have, for both are infinite.
S. 173. Alle folgenden Bruchstücke gehören dem 11. Bande
des Nachlasses an (Theologica 1793 — ^79^)-
S. 176. Von Haym schon mitgeteilt (Hegel und seine Zeit
S. 473—474)-
S. 184. Vgl. Matth. XIX, 8. Asys*. aOTors • Sti Mwüj^s ^^p^s '"i"'
jxXr^poxapSiav üfimv lusxps'4'ev u[ilv dT^oXOaa'. läc; y'J^*^^*? jjiwv.
S. 204. Vgl. Nathan II, i.
Sittah:
Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen.
Ihr Stolz ist: Christen sein, nicht Menschen. Denn
Selbst das, was, noch von ihrem Stifter her,
Mit Menschlichkeit den Aberglauben würzt.
Das lieben sie, nicht weil es menschlich ist:
Weil's Christus lehrt, weil's Christus hat getan.
Wohl ihnen, daß er ein so guter Mensch
Noch war! Wohl ihnen, daß sie seine Tugend
Auf Treu' und Glauben nehmen können.
10
INHALT
Vorwort S. V
Einleitung S. VII
Das Leben Jesu S. i
Theologische Fragmente S.75
Das Judentum. Auftreten Jesu. Jesus bekämpft die objektiven
Gesetze der Juden. Versöhnung des Schicksals und Oifen-
barung des Götthchen durch die Liebe S. 75
Aufhebung der objektiven Gebote durch die Gesinnung. Ver-
vollständigung der Gesinnung durch die Liebe . . . S. 83
Verhalten Jesu gegen die Objektivität der jüdischen Gesetze.
Schrankenlosigkeit der Liebe. Das Abendmahl eine Hand-
lung der Liebe S. 86
Vereinigung aller Gegensätze in der Liebe. Die Liebe als
Verzicht auf Individualität. Die Scham eine Wirkung der
Liebe. Gütergemeinschaft S. 100
Historische Entwickelung des Judentums. Knechtschaft der
Juden. Jesus isoliert sich von seinem Volk. Sein nega-
tives Verhältnis zur Welt. Vereinigung der Gemeine im
Glauben an Jesum. Darstellung der Liebe in objektiver
Form. Entwickelung der Liebe zur Objektivität der Re-
ligion. Vergötterung des auferstandenen Jesus. Beigesel-
lung des Götthchen und des Wirklichen. Anbetung auch
des Ungöttlichen. Das Wunder. Gegensatz der christ-
lichen Religion und des Lebens S. 106
Der Gottes- und Menschensohn. Vereinigung der Menschen
mit Gott im Glauben. Die Taufe. Das Königreich Gottes
ein Reich der Liebe. Die Gemeine der Jünger. Be-
schränkung ihrer Liebe auf gemeinschaftlichen Glauben
und gemeinschaftliche religiöse Handlungen. Abwendung
der Gemeine von gewöhnlichen Lebensformen . . . S. 124
Das Schicksal und seine Versöhnung S. 144
Jesus isoliert sich von seinem Volke. Hilflosigkeit seiner
Jünger nach seinem Tode. Ihre Einigkeit in der Anbetung
des Auferstandenen wieder dargestellt S. 159
Moral Jesu ; die Bergpredigt. Religion ; Einigkeit der Men-
210 INHALT
sehen im Anschauen Gottes. Geschichte; das Verhähnis
Jesu zur Welt; Ausbreitung seiner Lehre; Parabeln . S. 164
Moral Jesu. Heuchelei der Pharisäer. Beten und Fasten,
Verachtung der Reichtümer usw. Gesetzlosigkeit der
Liebe S. 169
Das Schicksal und seine Versöhnung. Das Judentum. Wieder-
herstellung schöner Harmonie durch die Liebe und die
Vergebung der Sünden. Aufhebung aller Einseitigkeiten
der einzelnen Tugenden durch die Liebe. Ergänzung der
Gesetze und Pflichtgebote. Wegfall aller Bestimmtheiten
im Glauben. Das Göttliche als reines Leben. Der Gottes-
und Menschensohn. Der heilige Geist S. 173
Verhältnis Jesu zur Welt. Haß gegen ihn S. 191
Knechtschaft der Juden. Moral Jesu. Reich Gottes. Ver-
vollständigung der Gesetzlichkeit durch die Gesinnung.
Steigende Erbitterung Jesu gegen seine Zeit. Religion das
Komplement der Liebe. Einheit der menschUchen und
der götthchen Natur S. 194
Die Apostel. Verhältnis des Sokrates zu seinen Schülern S. 203
Anmerkungen S. 205
DRUCK VON DER OFFIZIN F. A. LATTMANN IN GOSLAR
ADDENDA ET CORRIGENDA
S. 13 Z. 5 V. u. lies: Schönheit,
S. 15 Z. 20 V. o. [Die allgemeine Regel der Klugheit ist: «Was
ihr wollet, daß es euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen
auch», die Regel der Sittlichkeit:] «Was ihr wollen könnet usw.
S. 22 Z. II V. o. lies: wem aber
S. 22 Z. 8 V. u. lies: Früchte trägt.
S. 22 Z. 4 V. u. lies: kam sein Feind
S. 32 Z. 6 V. o. Hes: bis auf siebzigmal siebenmal.
S. 34 Z. IG V. o. lies: bestimmt zu verstehen haben.
S. 38 Z. 5 V. o. lies: an hergebrachte Meinungen und Gebräuche
S. 39 Z. 8 V. o. lies: Baum;
S. 43 Z. IG V. u. lies: den einen,
S. 53 Z. 16 V. u. lies: In Beziehung hierauf
S. 54 Z. I V. o. lies: der Regenten
S. 64 Z. 8 V. o. lies: Du
S. 72 Anm. lies: ^).
S. 73 Anm. lies: A.q(uv «cps-:: tStoiuv
S. 82 Z. 14 V. u. lies: stellet.
S. 83 Z. 5 V. o. lies: uuo
S. 83 Z. 6 V. o. lies: lyzw oti
S. 86 Z. IG V. u. und reine Entgegensetzung, offener Krieg ent-
steht,
S. 86 Z. 6 V. u. sich von seinen Wellen ohne Bewußtsein fort-
tragen zu lassen,
S. 93 Z. 17 V. u. lies: ja, ja, nein, nein;
S. 105 Z. 1 1 V. o. lies: das das andere
S. III Z. 9 V. o. lies: rücksichtslosesten
S. III Z. 12 V. u. lies: isolierte
S. 112 Z. 18 V. u. lies: Zerrüttung
S. 125 Z. 13 V. o. Das Einzelne, Beschränkte, als Entgegengesetz-
tes, Totes, ist zugleich ein Zweig des unendlichen Lebensbaumes;
jeder Teil usw.
S. 1 3 5 Z. 1 5 V. o. mit dem ihr nichts gemein habet und mit wem
ihr die Gemeinschaft aufhebet; was ihr usw.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
HEGELS RELIGIONSPHILOSOPHIE. In gekürzter Form, mit
Einführung, Anmerkungen und Erläuterungen herausgegeben
von Arthur Drews. Brosch. Mk. 13. — , geb. Mk. 15. —
Monatsschrift für 'kirchliche Praxis: Drews g^ibt den
Text in verkürzter Form, wozu ihn schon die Eigenart dieser
Schrift Hegels als eines Nachlasses und von H. nicht selbst de-
finitiv redigierten Werkes berechtigt. Anmerkungen und zum Teil
kritische Erläuterungen sind hinzugefügt. Eingeleitet wird die Aus-
gabe durch eine Skizze über den Entwicklungsgang der neueren
Philosophie, die in eine Charakteristik des Systems H.s mit besonderer
Berücksichtigung seines allmählichen Werdens ausmündet. Drews
erwartet, ohne sich mit H.s Auffassung von der Religion und Philo-
sophie zu identifizieren, doch vom Anschluß an den ideaHstischen Mo-
nismus H.s die Gewinnung einer aus unserem eigenen (germanischen)
Geist herausgeborenenr. Religion, die die fremdrassigen Elemente des
Christentums sieghaft abstößt. H. konnte diese ihm ursprünglich vor-
schwebende Aufgabe nicht lösen, weil er allzu nachgiebig gegen die
kirchliche Religion war. So vermittelt diese Ausgabe nicht bloß die
Bekanntschaft mit H.s Religionsphilosophie, sie lehrt auch einen \"er-
such zur Weiterbildung der Religion oder \''ersöhnung von Glauben
und Wissen kennen, der auch die von Drews als philosophisch un-
haltbar charakterisierte christliche Theologie interessiert. O. S.
ARTHUR DREWS, DIE RELIGION ALS SELBSTBEWUSST-
SEIN GOTTES. Eine philosophische Untersuchung über das
Wesen der Religion. Brosch. Mk. 12. — , in Halbfranz ge-
bunden Mk. 14. —
Gegenüber der modischen rein empirischen und psychologischen
Auffassung der Religion faßt der bekannte Hochschulprofessor in
Karlsruhe das Problem der Religion als ein wesentlich metaphy-
sisches auf, gegenüber dem Theismus der bestehenden Religionen
vertritt er den Standpunkt des Pantheismus. Dabei wendet sich
das Werk besonders auch gegen die herrschende Richtung der pro-
testantischen Theologie, die, unter Verwerfung des christlichen Dog-
mas, das gesamte Christentum zu einem Kultus der rein menschlichen
Persönlichkeit Jesu verdünnen möchte. Es zeigt, daß eine Weiter-
entwicklung der Rehgion und eine Gesundung der religiösen Zustände
nicht durch ein Zurückschrauben der bisherigen Entwicklung zu ihrem
Ausgangspunkt, wie Harnack und seine Anhänger möchten, sondern
durch Fortbildung der in jenen enthaltenen Keime aus dem innersten
Wesen der Religion heraus möglich ist.
UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITr
A 000 647 050 4