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Full text of "Lehrbuch der dogmengeschichte"

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8AMMLUNG 


THEOLOGISCHER  LEHRBÜCHER 


DOriMENftESCHICHTE 


BEARBEITET 


VON 


Dr.  ADOLF  HARNACK 


ORD.  PROFESSOR  DER  KIRCHENGESCHICHTE  UND  MITGLIED  DER  K.  AKADEMIE  DER 

WISSENSCHAFTEN  IN  BERLIN 


DRITTER  BAND 


PREIBURG  I.  B.  1890 

AKADEMLSCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  VON  J.  C  B.  MOHR 

(PAUL    siebeck) 


LEHRBUCH 


DER 


DOGMENGESCHICHTE 


VON 


Dr.  ADOLF  HARNACK 


ORD.    PROFESSOR    DER    KIRCHENGESCHICHTE   UND   MITGLIED   DER   K.   AKADEMIE   DER 

WISSENSCHAFTEN   IN   BERLIN 


DRITTER  BAND 

DIE   ENTWICKELUNG  DES  KIRCHLICHEN  DOGMAS   II  III 

REGISTER  ZU  DEN  DREI  BÄNDEN 

ERSTE  UND   ZWEITE  AUFLAGE 


PREIBURG  I.  B.   1890 

AKADEMISCHE  VEKLAGSBUCIIHANDLUNG   VON  J.  C.  R.   MOHR 

(pAUL    SIKHKCK) 


IHF-  iNSTiTiirr  or  wediafval  siuojls 

10  ELMSLEY  PLACE 
\    TORONTO  6»   CANAOA, 


DEC        Jl 

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Das 

W  BecJd  der  IJehersetsung  in  fremde  Sprachen 

behält  sich  die  Verlagshandlung  vor. 


I 


Druck  von  C.  A.  Wagner  in  Freihurg  i.  B. 


Der  theologischen  Facultät  zu  Giessen 

und 

dem  evangelischen  Predigerseminar  zu  Friedberg  i.  H. 

in  treuer  Erinnerung 
an  die  gemeinsame  Arbeit. 


I 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/lehrbuchderdogm03harn 


Vorwort. 


Eine  anerkannte  Methode  für  die  Darstellung  der  Dogmen- 
geschichte der  mittleren  und  neueren  Zeit  giebt  es  noch  nicht.  Weder 
über  den  Umfang  noch  über  die  Behandlung  des  Stoffs  ist  man  einig, 
und  über  das  Ziel,  welches  zu  erreichen  ist,  herrscht  vollends  die  grösste 
Unklarheit.  Zweck  und  Ziel,  Methode  und  Weg,  welche  dieses  Lehr- 
buch sich  erwählt  hat,  sind  in  der  Einleitung  zum  ersten  Bande  deut- 
lich bezeichnet  worden.  Ich  habe  keinen  Anlass  gefunden,  sie  in  der 
Ausführung  zu  verändern.  Aber  so  bestimmt  man  auch  die  Aufgabe 
unserer  Disciplin  fassen  mag  —  angesichts  des  ungeheuren  theologischen 
Stoffs,  welchen  das  Mittelalter  bietet,  und  der  Unsicherheit  über  das, 
was  in  jener  Zeit  Dogma  gewesen  ist,  ist  die  Auswahl  an  vielen  Stellen 
ein  Experiment.  Ich  darf  nicht  hoffen,  dass  das  Experiment  immer  ge- 
glückt ist. 

Nach  einer  längeren  Pause  ist  es  in  den  letzten  zwei  Jahren  auf 
dem  Gebiete  unserer  Disciplin  sehr  lebhaft  geworden.  Benrath, 
Hauck,  Bonwetsch  und  Seeberg  haben  ältere  Lehrbücher  in  neuer 
Bearbeitung  herausgegeben;  Loofs  hat  einen  ausgezeichneten  Leit- 
faden der  Dogmengeschichte  veröffentlicht;  Kaftan  hat  in  seinem 
Werke  über  die  Wahrheit  der  christhchen  Religion  einen  Abriss  der 
Disciplin  geliefert ;  M  ö  1 1  e  r  und  K  o  f  f  m  an  e  haben  in  ihren  Darstellungen 
der  alten  Kirchengeschichte  den  dogmengeschichtlichcn  Abschnitten 
eine  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Bei  dem  Studium  dieser 
Bücher  und  mancher  anderer,  die  ich  mit  Dank  benutzt  habe,  habe  ich 
erkennen  düffen,  dass  meine  Bemülningen  um  den  grossen  Gegenstand 
nicht  isolirt  geblieben  sind  und  nicht  fruchtlos  waren.  Diese  Einsicht 
hat  manche  Erfahrungen  aufgewogen,  über  welche  ich  schweigend 
hinweggehe. 

Auf  die  Nachsicht  sachkundiger  Collegen  rechnet  dieser  Schluss- 
band in  höherem  Masse  als  die  früheren  Bände ;  denn  sein  Verfasser 
gehört  weder  in  Bezug  auf  die  Geschichte  der  mittelaltcrhclien  Kirche 
noch  in  Bezug  auf  das  Ileformationszeitalter  zu  den  „Spccialisten". 

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VIII  Vorwort. 

Allein  der  Vortheil,  welchen  der  besitzt,  der  von  einer  gesicherten 
Kenntniss  des  kirchlichen  Alterthunis  zum  Mittelalter  und  zur  Refor- 
nuition  fortschreitet,  wiegt  vielleicht  die  Mängel  einer  Darstellung  auf, 
die  nicht  überall  auf  einer  vollkommenen  Induction  beruht.  Die  Quellen 
zur  Gesclüchte  der  alten  Kirche  vermag  der  Einzelne  wirklich  zu 
übersehen ;  aber  in  Bezug  auf  das  Mittelalter  und  die  Reformations- 
geschichte wird  auch  ein  besserer  Kenner,  als  es  der  Verfasser  dieses 
Lehrbuchs  ist,  seine  Umsicht  nur  durch  die  zutreffendste  Auswahl  des 
Stoffs,  den  er  selbständig  durchstudirt,  bewähren  können.  Was  über 
Augustin,  Anselm,  Thomas,  das  Tridentinum,  den  Socinianismus  und 
Luther  ausgeführt  ist,  beruht  durchweg  auf  selbständigen  Studien. 
Auch  in  anderen  Partieen  wird  man  solche  nicht  vermissen ;  man  wird 
aber  auch  Abschnitte  finden,  in  welchen  die  Forschung  nicht  gefördert, 
sondern  nur  ihr  gegenwärtiger  Stand  wiedergegeben  ist. 

Auf  die  Ausarbeitung  eines  genauen  Registers  habe  ich  sehr  viel 
Zeit  verwendet.  Möge  es  dem  Gebrauche  des  Buches  zu  statten  kom- 
men! Diesem  selbst  aber  wünsche  ich,  dass  es  an  seinem  Theile  dazu 
beitrage,  die  eigentHche  Grossmacht  in  den  theologischen  Kämpfen 
der  Gegenwart  brechen  zu  helfen  —  die  Unwissenheit.  Ueber  die  Be- 
deutung der  theologischen  Wissenschaft  für  die  christHche  Frömmig- 
keit kann  man  freilich  nicht  bescheiden  genug  denken;  aber  nicht  hoch 
genug  kann  man  ihre  Bedeutung  veranschlagen  in  Bezug  auf  den  Aus- 
bau der  evangelischen  Kirche,  die  Auseinandersetzung  mit  der  Ver- 
gangenheit und  die  Anbahnung  jener  besseren  Zukunft,  in  welcher,  wie 
einst  im  zweiten  Jahrhundert,  der  christliche  Glaube  wieder  der  Trost 
der  Schwachen  und  die  Stärke  der  Starken  sein  wird. 

Berlin,  den  24.  Dec.  1889. 

Adolf  Harnack, 


1 


Inhalt. 

ZWEITER  THEIL: 
Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Dogmas. 

Zwreites  Buch: 

Die  Erweiterung  und  Umprägung  des  Dogmas  zu  einer 

Lehre  von  der  Sünde,  der  Gnade  und  den  &nadenmitteln 

auf  dem  Grunde  der  Kirche. 

(S.  3—562.) 

Seite 

Erstes    Capitel:    Geschichtliche   Orieutirung        .     .  3  —  12 

Augustin  die  massgebende  Autorität  bis  zur  Reforma- 
tionszeit 8.  3.  Augustin  und  das  abendländische  Christen- 
thum  S.  3.  Augustin  als  Reformator  der  christlichen 
Frömmigkeit  S.  4.  Augustin  als  Lehrer  der  Kirche 
S.  4.  Augustin  und  das  Dogma  S.  4.  Das  Dogma  im 
Mittelalter  S.  5.  Die  germanischen  und  romanischen 
Völker  und  das  Dogma  S.  6.  Methode  der  mittelalter- 
Hchen  Dogmengeschichte  8.8.   Periodeneintheilung  8.  11. 

Zweites  Capitel:  Das  abendländische  Christenthum 

und  die  abendländischen  Theologen  vor  Augustin        12  —  54 

Tertullian  als  Begründer  des  abendländischen  Christen- 
thums  8.  12.  Die  Elemente  des  tertullianischen  Christen- 
thums  als  Elemente  des  abendländischen  Christenthums 
überhaupt  8.  14  (die  lex  8.  14,  das  juristische  Element 
8.  14,  das  syllogistisch-dialektischo  8.  15,  das  psycholo- 
gische 8. 19,  das  biblisch-praktische  8. 20).  Eschatologie  und 
Moral  S.  21.  Die  Bedeutung  Cyprian's  8.  22.  Die  rö- 
mische Kirche  8.  23.  Der  Umschwung  unter  Konstantin ; 
die  origenistischc  Theologie  und  das  Mönchthum  werden 
in  das  Abendland  iniportirt  8.  24.  In  Augustin  mündet 
die  gräciairtc  abendländische  Theologie  und  die  altlatei- 
nischc  S.  27.  Die  Bedeutung  der  Griechenscliüler  Am- 
brosiuH  8.  27  und  Victorinus  Rhctor  für  Augustin  8.  30. 
Die   Bedeutung    der   genuinen    Lateiner   für    ihn    8.    33 


X  lulialt. 

Seit« 
(Cypriau  S.  34,  der  donatistischo  Streit  S.  35,  Optatus 
S.  38,  Ambrosius  als  Lateiner  S.  43).  Resultate  der  vor- 
augustiiiischeu  Eiitwickelung  S.  46  (die  Lehre  des  Sym- 
bols S.  47,  der  Tod  Cliristi  S.  48,  die  Soteriologie  S.  50, 
die  Kirche  S.  53),     Kom  und  das  Heideuthum  S.  53. 

Drittes  Capitel:  Die  woltgeschichtliche  Stellung 
Augustin's  als  Keformator  der  christlichen  Fröm- 
migkeit                 54  —  84 

Allgemeine  Charakteristik  S.  54.  Die  voraugustinische 
Frömmigkeit  S.  59.  Sünde  und  Gnade  die  entscheiden- 
den Factoreu  bei  Augustin  S.  6L  Die  geschichtliche  Be- 
deutung seiner  Frömmigkeit  S.  64.  Kritik  dieser  Fröm- 
migkeit S.  66.  Die  vier  Elemente,  welche  den  katho- 
lischen Charakter  der  Frömmigkeit  constituiren  S.  685 

1)  die   Autorität   der  Kirche   als  religiöse  Grösse    S.  70, 

2)  die  Gnadenmittel  S.  74,  3)  Glaube,  Sündenvergebung 
und  Verdienst  S.  77,  4)  die  pessimistische  Betrachtung 
des  Diesseits  S.  8L     Schlussbetrachtung  S.  83. 

Viertes    Capitel:    Die    weltgeschichtliche    Stellung 

Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche 84—215 

Das  neue  dogmatische  Schema  S.  84.  Die  Anknüpfung 
an  das  Symbol  S.  85.  Die  Spannung  zwischen  Symbol 
und  hl.  Schrift  S.  87.  Die  Spannung  zwischen  dem  Schrift- 
und  dem  Heilsprincip  S.  88.  Die  Spannung  zwischen  der 
Religion  und  der  Philosophie  S.  89.  Die  Spannung 
zwischen  der  Gnadenlehre  und  der  Ecclesiastik  S.  90. 
Die  AVidersprüche  innerhalb  derselben  Gedankenreihen 
S.  90.  L^nmöglichkeit  eines  augustinischen  Systems  S.  91. 
Universelle  Wirkung  Augustin's  S.  91.  Methode  für  die  Dar- 
stellung des  Augustinismus  5  das  Dogma  und  Augustin  S.  92. 

1.  Augustin's  Lehren  von  den  ersten  und  letzten  Dingen      94-127 

Die  Theologie  und  Psychologie  Augustin's  („Aristoteles 
alter")  ist  aus  der  Frömmigkeit  geboren  S.  94.  Auflösung 
der  antiken  Stimmung  S.  97.  Die  psychologische  und 
neuplatonische  Betrachtung  Gottes  und  der  Seele  S.  98. 
Die  mit  dieser  verflochtene  ethische  Betrachtung  (Gott, 
Welt,  Seele,  Wille,  Liebe)  S.  103.  Einfluss  des  Christ- 
lich-Kirchlichen S.  111  [über  Vernunft,  Oßenbarung, 
Glaube  und  Wissen  S.  112].  Die  Geltung  Christi  und  die 
Christologie  S.  112.  Die  letzten  Ziele  im  Jenseits  und 
Diesseits  S.  121.     Schlussbetrachtung  S.  125. 

2.  Der  donatistische  Kampf.    Das  Werk  de  civitatc  dei. 

Die  Lehre  von  der  Kirche  und  den  Gnadenmitteln        127     151 

Einleitung  S.  127.  Die  Kirche  als  Lehrautorität  S.  129. 
Die    Einheit   der   Kirche  S.  130,   die  Heiligkoit  S.  132, 


1 


Inhalt.  XI 

Seite 
die  Katholicität  S.  134,  die  Apostolicität  und  die  übrigen 
Eigenschaften  S.  135.  Kirche  und  Reich  Gottes  S.  136. 
Wort  und  Sacrament  S.  140.  Die  Sacramente  S.  141. 
Abendmahl  S.  143.  Taufe  S.  144.  Ordination  S.  145. 
Die  Kirche  als  societas  sacramentorum  S.  146,  als  himm- 
lische Gemeinschaft  S.  148,  als  die  uranfängliche  S.  148, 
als  communio  fidelium  S.  149,  als  numerus  electorum  S.  149. 
Schlussbetrachtung  S.  151. 

3.  Der  pelagianische  Kampf.    Die  Lehre  von  der  Gnade 

und  Sünde 151  —  199 

Augustin's  Lehre  vor  dem  Kampf  S.  151.  Allgemeine 
Charakteristik  des  Augustinismus  und  Pelagianismus,  so- 
wie des  Pelagius,  Cälestius  und  Julian  S.  152.  Ursprung 
und  "Wesen  des  Pelagianismus  S.  155.  I.  Der  äussere 
Verlauf  des  Streits  S.  157.  Pelagius  und  Cälestius 
in  Rom  und  Karthago  S.  157.  Die  Vorgänge  in  Pa- 
lästina S.  159.  Die  Vorgänge  in  Nordafrika  und  Rom 
S.  163.  Die  Verurtheilung  in  Rom,  Julian  von  Eklanum 
S.  166.  Ausgänge  S.  169.  11.  Die  pelagianische 
Lehre  S.  170.  Uebereinstimmung  und  Differenzen  zwischen 
den  Häuptern  S.  170.  Die  Hauptlehren  S.  173.  Die  ein- 
zelnen Lehren  in  ihrer  Anpassung  an  die  Ueberlieferung 
S.  177.  ni.  Die  augustinische  Lehre  S.  183.  Die 
Lehre  von  der  Gnade,  der  Prädestination,  Erlösung  und 
Rechtfertigung  S.  184.  Die  Lehre  von  der  Sünde,  der 
Erbsünde  und  dem  Urständ  S.  190.  Beurtheilung  des 
Augustinismus  S.  196. 

4.  Augustin's  Erklärung  des  Symbols  (Enchiridion).    Die 

neue  Religionslehre 200  —  215 

Die  Auslegung  des  1.  Artikels  S.  200,  des  2.  Artikels 
S.  203,  des  3.  Artikels  S.  205.  Beurtheilung  dieser  Aus- 
legung, die  alte  und  die  neue  Religionslehrc  S.  210. 

Fünftes  Capitel:   Geschichte   des  Dogmas  im  Abend- 
land bis  zum  Beginn  des  ]\[ittelalters  (von  430  bis  604)    215     244 
Geschichtliche  Orientirung  S.  215. 

1.  Der  Kampf  des  Semipelagianismus  und  Augustinismus    219  —  233 

Die  Mönche  von  Hadrumet  und  in  Südgallien,  Cassian 
S.  220.  Prospcr  S.  223.  Die  Schrift  de  vocationc  gentium 
S.  224.  Libcr  Pracdcstinatus  S.  225.  Faustus  von  Reji 
S.  225.  Das  Decrct  de  libris  rccipicndis  S.  227.  Die 
skythischen  Mönche,  Fulgcntius,  Hormisdas  S.  228.  Cä- 
sarius  von  Arles,  die  Synoden  von  Valcncc  und  Orange 
S.  230.     Ergebnisse  S.  232. 

2.  Gregor  der  Grosse 233  —  244 

Allgemeine  Charakteristik  S.  233.  Superstition,  Chri- 
Btologic,  Intercesbionen  S.  235.    Lehre   von    der   Sünde 


Xll  Inhalt. 

Seite 
mal  (iiiadc  8.  237.     Verdienste,   Satisfactioueu,    Heilige, 
Reliquien,    Fegefeuer    S.  238.     Busse    S.  240.     Gregor's 
Stellung  zwischen  Augustin  und  dem  Mittelalter  S.  241. 

Sechstes  Capitel:  Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit 

der  ktirolingischen  Renaissance 244—293 

Die  Bedeutung  der  karolingischen  Epoche  in  der  Dog- 
men- und  Kirchengeschichte  S.  244. 

la.    Der  adoptianische  Streit 248     261 

Die  Entstehung  des  Problems  S.  248.  Spanische  Zu- 
stände und  der  Streit  in  Spanien.  Elipaudus',  Felix',  Bca- 
tus'  Lehre  die  augustinische  S.  250.  Der  Streit  vor  dem 
tränkischen  und  römischen  Forum  S.  256.  Alcuin's  Lehre. 
Der  Einfluss  der  griechischen  Auffassung  S.  258.  Der 
Zusammenhang  mit  der  Abendmahlslchrc  S.  260.  Aus- 
gang S.  26L 

Ib.    Der  Streit  über  die  Prädestination 261—270 

Der  INIönch  Gottschalk  S.  262.  Rabanus  und  Ratram- 
uus  seine  Gegner  S.  264.  Der  Streit  unter  den  fränki- 
schen und  lothringischen  Bischöfen.  Die  objective  Unwahr- 
haftigkeit  der  Gegner  Gottschalk's.  Synode  zu  Chiersey 
S.  267.  Synode  zu  Valcnce  S.  268.  Synoden  zu  Savonieres 
und  Toucy  S.  268.  Unter  augustiuischen  Formeln  be- 
hauptet die  der  Kirchenpraxis  entsprechende  Theorie  das 
Feld  S.  269. 

2.  Der  Streit  über  das  filioque  und  über  die  Bilder      .    270  —  274 

Das  filioque,  die  Franken  und  der  Papst  S.  270.  Die 
Stellung  der  Franken  zu  den  Bildern  S.  271.  Die  libri 
Carolini  und  das  Selbstbewusstsein  der  fränkischen  Kirche, 
Frankfurter  Synode  S.  272.  Die  spätere  Geschichte  der 
Bilder  S.  273. 

3.  Die  Fortbildung  der  Praxis  und  Theorie  der  Messe  (des 

Abendmalilsdogmas)  und  der  Busse 274  —  293 

Die  drei  Ursachen  der  Fortbildung  der  Theorie  vom 
Abendmahl  im  Abendland  S.  275  (die  Controverse  de 
partu  virginis  S.  276).  Die  augustinische  Auffassung  (Beda) 
durch  Alcuin  zurückgedrängt  S.  277.  Paschasius  Radber- 
tus  S.  278.  Rabanus  und  Ratramnus  S.  283.  Die  Vorstel- 
lungen von  der  Messe  als  eines  Bestandtheils  des  Ent- 
sühnungsinstituts  S.  287.  Die  Beichtpraxis,  1)  der  zu  Grunde 
liegende  Gottesbegriff  S.  288.  2)  Die  Entwickelung  des 
Bussinstituts  aus  römisch-kirchlichen  und  germanischen 
Prämissen,  Einwirkung  des  Mönchthums  S.  288.  3)  Man- 
gelnde Theorie  S.  291.  4)  Anwachsen  der  Satisfactionen 
und  Ablässe  S.  291. 


Inhalt.  XTTI 

Seite 

Siebentes  Capitel:  Geschichte  des  Dogmas  im  Zeit- 
alter Clugiiy's,  Anselm's  und  Bernhard's      .     .     .    294  —  363 
Einleitung  S.  294. 

1.  Der  Aufschwung  der  Frömmigkeit 296  —  306 

Clugny.  Weltflucht  und  Weltherrschaft.  Monachisirung 
der  GeistHchkeit  S.  296.   Die  Kreuzzüge  und  ihre  Folgen  ' 

für  die  Frömmigkeit  S.  299.   Die  Frömmigkeit  des  hl.  Bern- 
hard S.  301.     Bedenkliches  in  seiner  Mystik  S.  804. 

2.  Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts    .     .     .     .    307—312 

Die  Entwickelung  des  Papstthums  zur  Autokratie,  die 
päpstlichen  Decretalen  S.  807.  Die  Ausbildung  des  neuen 
Kirchenrechts  und  die  Verbindung  von  Recht  und  Dogma 
S.  309.     Die  Jurisprudenz  als  Grossmacht  S.  811. 

3.  Der  Aufschwung  der  Wissenschaft 312  —  332 

Wesen  der  Scholastik  S.  312.  Scholastik  und  Mystik 
S.  314.  Vorgeschichte  der  mittelalterlichen  Wissenschaft, 
Verhältniss  zur  griechischen;  das  überlieferte  Capital 
S.  317.  Das  karolingische  Zeitalter  S.319.  Die  üebergangs- 
zeit  S.  820.  Das  11.  Jahrh.,  das  Vorherrschen  des  Realis- 
mus, die  Universalienfrage,  die  Dialektiker  S.  821.  Der 
„Aristotelismus"  S.  324.  Die  negative  und  positive  Be- 
deutung der  Wissenschaft  Abälard's  S.  826.  Schüler  und 
Gegner  Abälard's,  die  Versöhnung  der  Dogmatik  mit  Ari- 
stoteles S.  880. 

4.  Arbeiten  am  Dogma 332  —  363 

Einleitung S. 832.  A.  Der  Berengar' sehe  Streit  S.383. 
Die  Ausprägung  der  Transsubstantiationslehre  nach  dem 
Streit  S.  888.  Die  Bedeutung  des  4.  Lateranconcils  für 
die  Lehre  von  dem  Abendmahl,  der  Taufe  und  Busse 
S.  840.  B.  Anselm's  Satisfactionslehrc  S.  841.  Be- 
urtheilung  dieser  Lehre  S.  351.  Mangelnder  Erfolg  S.  358. 
Lehre  vom  Verdienst  Christi;  Abälard's  Versöhnungslehre 
S.  858.     Petrus  Lombardus  S.  861. 

Achtes  Capitel:  Geschichte  des  Dogmas  im  Zeit- 
alter der  Bettelorden  bis  zum  Anfang  des  1  6.  Jahr- 
hunderts   363  —  562 

Einleitung  S.  368. 

1.    Zur  Geschichte  der  Frömmigkeit 364  —  391 

Der  hl.  Franciskus,  das  apostolische  Leben,  die  francis- 
kanische  Fröminigkeit  S.  364  (die  Waldenser  und  die 
lombardischen  A)Tncn  S.  867).  Franciskus  und  die  Kirche 
S.  869.  Die  Armuthslchrc,  die  verschiedenen  Richtungen, 
die  Fraticellen  und  Spiritualen  S.  371.   Conservativer  Ein- 


XIV  Inhalt. 

Seite 
fluss  der  religiösen  Erweckung  auf  das  Dogma  »S.  373.  Die 
Mystik  uud  die  Bettelorden  S.374.  Die  Mystik  als  die  katho- 
lische Frömmigkeit  S.  375.  Beschreibung  der  Mystik,  der 
Pantheismus,  der  Aufschwung  des  Individualismus  S.  378. 
Thomistische  und  scotistische  Mystik  S.  383.  Der  Auf- 
schwung des  thätigen  Lebens  S.  384.  Die  Erweckung  der 
Laien,  die  freien  Vereine  und  Bussprediger  S.  38H.  Die 
Stadien  in  der  Entwiekelung  der  Frömmigkeit  S.  387.  Die 
Frömmigkeit  im  14.  uud  15.  Jahrb.,  ihre  Oi)position  gegen 
die  Kirche  S.  388.  Die  Frömmigkeit,  das  Dogma  (unange- 
tastet) und  die  Kirche;  Ausblick  auf  die  Reformation 
S.  390.  Die  Gothik  als  der  der  mittelalterlichen  Frömmig- 
keit entsprechende  Baustil  S.  391. 

2.    Zur   Geschichte    des   kirchlichen   Rechts.     Die  Lehre 

von  der  Kirche 392  —  419 

Die  Herrschaft  des  päpstlichen  Systems,  die  Jurispru- 
denz als  Grossmacht  S.  392.  Die  leitenden  Gedanken  des 
päpstlichen  Systems  in  Bezug  auf  denKirehenbegriff  S.393. 
Die  Lehre  vom  Papst,  die  neuen  Fälschungen,  die  Unfehl- 
barkeit S.  395.  Die  Concordate,  die  Landeskirchen  S.  399. 
Der  geringe  Antheil  der  Theologie  an  der  Feststellung 
des  hierarchischen  Kirchenbegriffs  S.  400.  Die  Verhand- 
lungen mit  den  Griechen,  Thomas'  Kirchenbegriff  S.  402. 
Der  AViderspruch  gegen  den  hierarchischen  und  papalen 
Kirchenbegriff  ist  vom  Augustinismus  abzuleiten  S.  405. 
Der  Kirchenbegriff  der  Oppositionsparteien  hat  mit  dem 
Hierarchischen  eine  Wurzel  gemeinsam  und  unterscheidet 
sich  nur  in  den  Consequenzen  S.  407,  daher  bringt  er  es 
nicht  zu  einer  kräftigen  Kritik  S.  408.  Die  Opposition 
der  AValdenser,  Apokalyptiker,  Franciskaner,  Imperialisten 
und  Episkopalisten  S.  410.  Der  Kirchenbegriff  von  Wiclif 
und  Hus  und  ihre  Opposition  gegen  die  Hierarchie  S.  412. 
Kritik  dieser  Bewegung;  das  Dogma  im  strengen  Sinn 
bleibt  unangetastet  S.416.  Positive  Bedeutung  des  wiclifiti- 
schen  und  des  hierarchischen  Kirche nbegriffs  S.  418. 

3.    Zur  Geschichte  der  kirchlichen  Wissenschaft   .     .     .    419-439 

Die  Gründe  für  den  Aufschwung  der  Wissenschaft  im 
Anfang  des  13.  Jahrh.  S.  420  (Arr.ber,  Juden  S.  420). 
Der  Sieg  des  Aristoteles  und  der  Bettelorden  S.  420.  Der 
„oremilderte"  Realismus  S.  421.  Wesen  der  Scholastik  auf 
ihrem  Höhepunkt,  Verhältniss  zur  Kirche  und  zur  Ver- 
nunft S.  422.  Die  Wissenschaft  des  hl.  Thomas  S.  424. 
Die  Summe  des  hl.  Thomas  S.  425.  Uebergang  zu  Duns 
Scotus  S.  428.  Neues  Erstarken  der  A^eruunft  und  der 
Autorität,  der  Nominalismus  S.  430.  Probabilismus,  Casui- 
stik  und  fides  implicita  S.  431.  Ausmerzuug  des  Augusti- 
nismus S.  434.     Reaction   des  Augustinismus  im  14.  und 


Inhalt.  XV 

Seite 
15.  Jahrb.,  Bradwardina,  Wiclif,  Hus,  Wesel,  "Wessel  S.435. 
Verfall  des  Nominalismus,  der  wiederentdeckte  Plato,  die 
Renaissance  S.  437. 

4.    Die  Ausprägung  der  Dogmatik  in  der  Scholastik      .    439  —  562 

Die  Voraussetzungen  der  Scholastik  des  13.  Jahrh.  S.439. 
Der  finis  theologiae  (das  Seligkeitsideal)  und  die  Haupt- 
elemente S.  440.  Die  alten  articuli  fidei  und  die  Trans- 
substantiationslehre  S.  441.  Die  dreifache  Aufgabe,  welche 
die  Scholastik  in  Bezug  auf  das  Dogma  gelöst  hat ;  Span- 
nung mit  der  Frömmigkeit  S.  442.  A.  Die  Bearbeitung 
der  überlieferten  articuli  fidei  S.443.  1)  DieGottes- 
lehre  S.  443.  2)  Die  Trinitätslehre  S.  446.  3)  Die  Lehre 
von  der  Schöpfung,  Erhaltung  und  Gubernation  S.  448. 
4)  Die  Lehre  von  der  Person  Christi  S.  451  (vom  hl.  Geist 
S.  452).  Die  Lehre  vom  Werk  Christi  (Satisfaction  und 
Verdienst)  S.  453.  Die  Lehre  des  Thomas  S.  454,  des 
Duns  Scotus  S.  459.  Zersetzung  und  Gegenwirkung  S.  461. 
ß.  Die  scholastische  Sacramentslehre  S.  462.  Be- 
deutung und  Princip  S.  462.  Zahl  der  Sacramente  S.  463. 
Definition  (Hugo  und  der  Lombarde)  S.  466.  Wesen,  Ver- 
hältniss  von  Gnade  und  Sacrament  S.  467.  Einzelne  Fragen 
S.  469.  Die  thomistische  Sacramentslehre  S.  470  (Wir- 
kungen der  Sacramente,  Charakter  S.  471 ;  Definition,  ma- 
teria,  forma  etc.  S.  472;  Nothwendigkeit  S.  473;  Effect 
S.  474;  causa  S.  475).  Der  minister  sacramenti  S.  477. 
Bedingungen  des  heilsamen  Empfangs,  die  Disposition 
S.  478,  die  attritio  S.  482.  Eigenthümlichkeiten  der  scoti- 
stischen  Sacramentslehre  S.483.  Die  einzelnen  Sacramente. 
Die  Taufe  S.  484.  Die  Firmung  S.  487.  Die  Eucharistie 
S.  488.  Das  ßusssacrament  S.  498  (die  Reue  S.  502. 
Die  Beichte  S.  505.  Die  Absolution  S.  507.  Die  Satis- 
faction S.  508.  Der  Ablass  S.  511.  Der  Widerspruch  gegen 
den  Ablass;  Wiclif,  Hus,  Wesel,  Wessel  S.  517).  Die 
letzte  Oelung  S.  520.  Die  Priesterweihe  S.  520.  Das  Elie- 
sacrament  S.  522.  Uebergang  zur  Gnadenlelire  S.  524.  C.  D  i  e 
Bearbeitung  des  Augustinismus  in  der  Ri  chtung 
auf  die  Lehre  vom  Verdienst  S.525.  Der  Lombarde 
über  Gnade,  Freiheit  und  Verdienst  S.  525.  Thomas. 
Princii)ielles  zur  scholastischen  Gnadcnlchrc,  der  Begrifl" 
Gottes,  die  Gnade  als  Antheil  an  der  göttlichen  Natur, 
das  Verdienst  S.528.  Die  Gnadenlehre  des  Thomas  (lumen 
superadditum  naturae,  gratia  opcrans  et  coopcrans,  prae- 
veniens  et  subsefjucns,  Essenz  der  Gnade,  Disposition  für  die 
Gnade,  Effecte  derselben,  Sündenverge])ung,  Liebe,  Ver- 
dienste de  condigno  et  de  congnio)  S.  530.  Geschicht- 
lioheWürdigunfrdfTthomiHtischenCJnadenlehrc,  Zusammen- 
hang mit  Augustin  (PrudestinatioiiHlchre)  und  Aristoteles 
S.  542.    Urständ,  iustitia  originalis,  Sündcnfall,  Sünde  bei 


XVI  Inhalt. 

Seite 
Thomas  S.  544.  Consilia  evangeUca  S.  545.  Doppeltes 
Uesicht  der  thomistischen  8üntleii-  und  Gnadcjnlehre  S.547. 
Die  Sünden-  und  Gnadenlehro  der  späteren,  scotistischen 
Scholastik  S.  548,  ihre  Reciitfertigungs-  und  Verdieust- 
lehre  S.  554  (Bradwardina's  Reaction  S.  553  f.).  Ardiang: 
Die  Lehre  von  der  unbefleckten  Empfängniss  Maria's  und 
von  ihrer  Mitwirkung  beim  Erlösungswerk  S.  558. 


Drittes  Buch: 
Der  dreifache  Ausgang  der  Dogmengeschichte. 

(S.  565—764.) 

Erstes  Capitel:  Geschichtliche  Orientirung      .     .     .     565 — 588 

Im  Mittelalter  haben  sich  die  Elemente  der  augustini- 
schen  Theologie  verstärkt,  aber  sind  auch  auseinander- 
getreten, Thomas  hat  sie  noch  einmal  zusammenzuhalten 
versucht  S.  565.  Die  curialistische  und  die  oppositionelle 
Richtung  um  das  Jahr  1500  (1)  der  Curialismus  S.  566. 
Die  Gewohnheiten  der  römischen  Kirche  sind  die  gött- 
lichen Wahrheiten  S.  567.  Unbestimmtheit  ihres  Um- 
fangs  S.  568.  Die  nominalistische  Scholastik  und  die 
fides  implicita  sind  dem  Curialismus  bequem  S.  568. 
Untergang  des  alten  Dogmas  bei  dieser  Haltung;  es  wird 
lediglich  Rechtsordnung  im  Dienst  der  Politik  S.  569. 
Das  christliche  Element  im  verweltlichten  Kirchenbegriff 
S.  570.  (2)  Die  Opposition  gegen  den  Curialis- 
mus S.  570.  Die  Gewohnheiten  der  römischen  Kirche 
sind  Tyrannei  und  haben  das  Zeugniss  des  kirchlichen 
Alterthums  gegen  sich ;  nur  die  hl.  Schrift  und  das  alte 
Dogma  sind  die  Grundlagen  der  Kirche  S.  571.  Un- 
sicherheit und  Unhaltbarkeit  dieses  Standpunkts  um  1500 
S.  572.  Das  allgemeine  Misstrauen  gegen  die  Theologie, 
das  „praktische  Christenthum"  als  die  Losung ;  das  Dogma 
als  Rechtsordnung  S.  573.  Die  allgemeine  innere  Ent- 
fremdung vom  alten  Dogma  S.  574.  Der  versuchte  Rück- 
gang auf  Augustin  S.  576.  Der  Individualismus  in  seinen 
mannigfaltigen  Ausgestaltungen  S.  577.  —  Verschiedene 
Möglichkeiten  in  Bezug  auf  den  Ausgang  der  kirchlichen 
Krisis  um  1500  S.  578.  Der  wirkliche  Ausgang  a)  im 
tridentinischen  Katholicismus  S.  580,  b)  im  Socinianismus 
S.  581,  c)  in  der  Reformation  S.  582.  In  diesen  Aus- 
gängen stellen  sich  auch  Ausgänge  des  Dogmas  dar; 
hiernach  ist  die  Aufgabe  dieses  letzten  Abschnitts  zu  be- 
stimmen S.  585.  Anhang:  Nachweis,  dass  die  Dogmen- 
geschichte nicht  bis  zur  Concordienformel  vorschreiten 
darf,  sondern  bei  Luther  stehen  bleiben  muss  S.  585. 


Inhalt.  XVII 

Seite 

Zweites  Capitel:  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  römi- 
schen Kathoiicismus 588 — 653 

1.  Die  Codificirung  der  mittelalterlichen  Lehren  im 
Gegensatz  zum  Protestantismus  (das  Tridentinum)     .  588 — 617 

Einleitung  in  die  Decrete  des  Tridentinums,  Einfluss 
der  Reformation,  Einfluss  des  Augustinismus,  die  Stellung 
der  Curie,  Bedeutung  und  Bedeutungslosigkeit  der  De- 
crete S.  588.  Die  Erkenntnissquellen  und  Autoritäten, 
Schrift  und  Tradition  S.  592.  Die  Sacramente  S.  595 
(Taufe  S.  597,  Eucharistie  S.  597,  Busse  S.  600,  Priester- 
weihe und  Ehe  S.  602).  Fegefeuer,  Heilige,  Ablässe 
S.  603.  Die  Decrete  über  die  Sünde,  Gnade  und  Recht- 
fertigung S.  605.     Schlussausführung  S.  616. 

2.  Die  Grundzüge  der  dogmatischen  Entwickelung  im 
Kathoiicismus  zwischen  1563  und  1870  als  Vorbe- 
reitung des  Vaticanums 617—647 

la)  Der  Untergang  des  Episkopalismus  und 
Sieg  des  Curialismus  S.  617.  Die  Professio  fid. 
Trid.  und  der  Catechismus  Romanus  S.  618.  Der  Galli- 
kanismus,  die  vier  Propositionen  S.  619.  Ludwig  XIV. 
S.  620.  Napoleon  L,  das  Concordat  v.  1801,  de  Maistre  etc., 
der  ültramontanismus  in  Frankreich  S.  621.  Febronius 
und  die  Emser  Punktation  S.  622.  Der  Ultramontanis- 
mus in  Deutschland  S.  623.  Ib)  Schrift  und  Tradi- 
tionS.  623.  Die  hl.  Schrift  S.  624.  Das  neue  gnostische 
und  enthusiastische  Traditionsprincip  S.  625.  2)  Der 
Untergang  des  Augustinismus  S.  628.  Bajus  S.  628. 
Lessius,  Hamel,  Molina  S.  631.  Die  congregatio  de  auxiliis 
S.  632.  Jansen  und  der  .Tansenismus  S.  633.  Quesnel 
und  die  Constitution  Unigenitus  S.  636.  Definitiver  Sieg 
über  den  Augustinismus,  das  Dogma  von  der  unbefleck- 
ten Emptängniss  Maria's  S.  639.  3)  DerProbabilismus 
und  die  Jesuiten  S.  640.  B.  de  Medina  S.  642.  Pascal, 
der  Kampf  der  Päpste  gegen  den  Probabilismus  S.  643. 
Thyrsus  Gonzalez  S.  645.  Alphons  Liguori  S.  646.  Die 
arbiträren  Entscheidungen  der  Curie  im  19.  Jahrh.  S.  647. 

3.  Das  Vaticanum .     G47  — 653 

Die  päpstliche  Unfehlbarkeit  S.  647.  Aussichten  für 
die  Zukunft;  die  Nothwendigkeit  des  Kirchenstaats  eine 
„untrügliche  Wahrheit"  S.  649.  Das  Dogma  in  der  Hand 
des  Papstes  S.  652. 

Drittes  Capitel:  Die  Ausgänge  des  Dogmas   im  Anti- 

trinitarismus  und  Socinianismus 653 — 691 

1.    Geschichtliche  Einleitung 653-668 

Charakter,  Ursprung  und  Vorstufen  des  Socinianismus 
S.    653.     Die   pantheistisch -mystische   Richtung   S.    656. 


XVIII  .  luhalt. 

Seite 
Die  wiedertäuferische  Grruppe  S.  658.  Die  ratioualistischeii 
Reformer  S.  659.  Die  paütheistisch-ratioualistischon  Re- 
former ;  Servede  S.  660.  Die  Stellung  zur  Tradition  und 
Schrift  S.  661.  Der  Autitrinitarismus :  Schwenkfeld, 
Weigel,  Bruno,  Denck,  Hätzer,  Campanus,  Joris,  Hotfmann, 
die  italienischen  Autitrinitarier  in  der  Schweiz,  Polen 
und  Siebenbürgen  S.  662.  Fausto  Sozzini  in  Polen 
S.  667. 

2.    Die  socinianische  Lehre 668-691 

Die  christliche  Religion  ist  Religion  des  Buchs  und 
vernünftige  Theologie  des  NT.'s;  die  Lehre  von  der  Schrift 
S.  669.  Die  Lehre  vom  Heilsweg  S.  672.  Die  Gottes- 
lehre (Verwerfung  der  Trinitätslehre)  S.  673.  Die  Lehre 
von  der  Person  Christi  S.  675.  Die  Lehre  vom  Werk 
Christi  (Sacramente,  Kritik  der  Satisfactionslehre)  S.  676. 
Die  Lehre  vom  Glauben  S.  685.  Die  Lehre  von  der  Kirche 
S.  687.    Beurtheilung  des  Socinianismus  S.  689. 

Viertes  Capitel:    Die   Ausgänge   des  Dogmas   im  Pro- 
testantismus         691-764 

1.  Einleitung 691-700 

Allgemeine  Charakteristik  Luther's,  seine  Stellung  in 
der  Dogmengeschichte  ein  Problem :  Luther  als  Restau- 
rator des  alten  Dogmas  und  als  Reformator  S.  691. 

2.  Das  Christenthum  Luther's 700  —  719 

Die  religiöse  Entwickelung  Luther's  S.  700.  Der  gnädige 
Gott  S.  702.  Die  Reduction  des  überlieferten  Stoffs,  der 
Glaube  als  das  persönliche  Ergriffensein  von  Gott  S.  702. 
Die  Freiheit  S.  704.  Die  Kirche  S.  704.  Wort  Gottes 
und  Kirche  S.  705.  Wort  Gottes  und  Christus  S.  705. 
Die  Kirche  als  Gemeinschaft  der  Gläubigen  die  Mutter 
S.  706.  Das  neue  Lebensideal  S.  706.  Ausführungen  über 
Luther's  Theologie  S.  710.  Gotteslehre,  Trinität,  der 
erste  Glaubensartikel  S.  710.  Jesus  Christus  S.  711.  Die 
Sünde  (Urständ)  S.  713.  Prädestination,  unfreier  Wille 
S.  714.  Gesetz  und  Evangelium  S.  715.  Rechtfertigung 
S.  716. 

3.  Die  Kritik  Luther's  an  der  herrschenden  kirchlichen 

TJeberlieferung  und  am  Dogma 719  —  733 

1)  Die  Kritik  an  den  dogmatischen  Grundbegriffen  S.  719. 
2)  Die  Kritik  am  Lebensideal  und  an  der  Seligkeitsvorstel- 
lung S.  720,  an  den  Sacramenten  S.  721,  an  dem  hier- 
archischen System  S.  724,  an  dem  herrschenden  Kultur 
S.  725,  an  den  Autoritäten,  Tradition  und  Schrift  S.  727, 
an  der  dogmatischen  Terminologie  S.  729.  Schluss- 
folgerung:  Luther's  Werk  ist  die  Aufrichtung  des 
Glaubens  und  die  Zertrümmerung  des  Dogmas  S.  730. 


Inhalt.  XIX 

Seite 

4.  Die   von  Luther   neben  und  in   seinem  Christenthum 
festgehaltenen  katholischen  Elemente 733  —  759 

Schranken  Luther's,  aus  seiner  Haltung  als  Reformator 
und  aus  dem  geistigen  Zustande  des  Zeitalters  folgend 
S.  734.  Schranken,  die  seiner  Eigenart  als  Reforaiator 
entgegengesetzt  sind  S.  737.  Verwirrungen  und  Probleme 
in  der  „Dogmatik",  die  er  der  Folgezeit  hinterlassen  hat 
S.739,  1)  das  EvangeHum  und  die  doctrina  evangelii  S.740, 

2)  der  evangelische  Griaube  und  das  alte  Dogma  S.  741, 

3)  das  Wort  Gottes  und  die  hl.  Schrift  S.  744,  4)  die 
G-nade  Gottes  und  das  Sacrament  S.  746,  A.  die  Kinder- 
taufe S.748,  B.  die  Busse  S.749,  C.  das  Abendmahl  S.  753. 
Gefahr  eines  neuen  kümmerlichen  Katholicismus  im  Luther- 
thum  S.  759. 

5.  Schlussbetrachtuns: 759—764 


Nachträge. 


Zum  1.  Band. 

S.  35.  Fr.  Bonifas,  Hist.  des  Dopmas  2  Edd.  1886.  -  S.  50  Vgl.  die 
merkwürdigen  Stellen  TertuU.  de  auima  47:  „Maior  paene  v  hominum  e  visi- 
onibus  deum  discunt",  und  Orig.  c.  Geis.  I,  46:  lloXXcl  ^aKEpel  axovtec;  TipoaeXYj- 
Xüö-ao:  )(pi'.aTiavio^u),  TiVcUixatoc;  xv^O(;  xpe<l/avTo?  .  ,  .  xal  (f'avTaa'.a»aavTO(;  06x065 
oTiap  Y]  ovap.  —  S.  68  Gunkel,  Die  Wirkungen  d.  hl.  Geistes  nach  d.  popul. 
Anschauung  d.  apost.  Zeit  u.  nach  d.  L.  des  Ap.  Paulus  1888.  —  S.  101  Hier 
sind  vielleicht  auch  die  fünf  merkwürdigen  Fragmente  aus  Psalmen  (Oden)  Salo- 
mons  herbeizuziehen,  die  sich  in  der  „Pistis  Sophia"  (ed.  Petermann  S.  73. 
75.  84.  96.  99)  finden;  sie  sind  nicht  den  18  Psalmen  Salomons  entnommen 
und  vielleicht  christlichen  Ursprungs.  —  S.  103  Hirsch feld,  Z.  Gesch.  d. 
röm.  Kaiserkultus  (Sitz.-Berichte  d.  K.  Akad.  d.  Wissensch.  Berlin,  19.  Juli  1888 
S.  833  ff.),  Büchner,  De  neocoria  1888,  Neumann,  D.  röm.  Staat  u.  die  allg. 
Kirche  I.  Bd.  S.  8ft'.  In  Bezug  auf  die  hohe  Bedeutung  von  „xu&'.0(;"  s.  Iren. 
I,  1,  3;  er  sagt  von  den  Valentinianern:  tov  ocuT-rjpo'.  Xeyoooiv,  ohok  -pp  xupiov 
6vo[xaCsiv  aüTov  9-sXoügcv.  —  S-  119  n.  3  Justin  (bei  Euseb.,  h.  e.  IV,  17,  10) 
nennt  das  Christenthum  x6  otoaaxaXiov  tyj?  d-üoLc,  apsxvji;.  —  S.  1*^5  Irenäus 
(Fragm.  29,  Harvey  II  p.  494)  sagt,  Christus  sei  das  Samenkorn,  die  zwölf 
Apostel  die  aus  ihm  entsprossenen,  die  Welt  überschattenden  Zweige.  —  S.  155 
n.  2  Ignat.  ad  Smym.  inscr. :  6  •r]Y«7r-r)|j.£vo(;.  —  S.  225  Man  muss  die  Pistis 
Sophia  studiren,  um  einzusehen,  wie  das  Fegefeuer,  die  Mysterien,  die  Fürbitten 
für  die  Todten  etc.  der  katholischen  Kirche  bei  den  Gnostikern  v-Tgebildet 
sind  (z.  B.  S.  173 f.);  S.  233  wird  geradezu  gesagt,  dass  die  ganze  Hinterlassen- 
schaft Christi  die  Sacramente  sind:  „Dixit  Jesus  ad  suos  discipulos:  Amen,  dixi 
vobis ;  haud  adduxi  quidquam  in  mundum  veniens  nisi  hunc  ignem  et  ha  \c  aquam 
et  hoc  vinum  et  hunc  sangiiinem."  —  S.  304  Zahn,  Gesch.  d.  NTlichen  Kanons 
1888 f.  A.  Harnack,  Das  NT.  um  d.  J.  200.  —  S.  306  n.  4  die  Vertrautheit 
des  Ig-natius  mit  NTlichen  Schriften  war  doch  eine  recht  umfangrq'che  und 
innige.  —  S.  331  Die  Montanisten  scheinen  auch  eine  Succession  der  1 ,  opheten 
angenommen  zu  haben.  —  S.  347  Vielleicht  ist  Cyprian's  Auffassung  des  Ver- 
liältnisses  von  Gesammtkirche  und  Gesammtepiskopat  aus  der  alten  Vorstellung 
des  Verhältnisses  von  Einzelgemeinde  und  Bischof  erwachsen.  —  S.  379  Doch 
sü.  die  schweren  Anklagen,  welche  Origenes  gegen  die  Bischöfe  (besonders 
der  grossen  Städte)  erhebt  auf  Ehrgeiz,  Hochmuth,  Streitsucht,  Verachtung 
der  Armen  u.  s.  w.,  s.  Comm.  in  Matth.  IV  p.  23  sq.  62  sq.  etc.  (ed.  Lomm.). 
—  S.  396  Hippolyt  (Can.  arab.  10)  sieht  die  Taufe  nicht  als  Initiationsact  an; 
auch  ein  Ungetaufter  gehört  unter  Umständen  zur  Gemeinde.  —  S.  396  n.  3 
Hippolyt  (1.  c.  38) :  „Baptizatus  et  corpore  Christi  pastus."  —  S.  400  Zu  diesem 
Abschnitt  vgl.  meine  Schrift  über  Pseudocyprian,  De  aleatoribus  1888  u.  auch 
die  Acta  Addaei  (c.  400);  s.  Tixeront,  Edesse  p.  149.  152,  —  S.  468  In  Bezug 
auf  das  Verhältniss  von  TertuUian  zu  Irenäus  ist  es  beachtenswerth,  dass  Jener, 
obgleich  er  Diesen  gelesen,  in  seiner  Schrift  de  praescr.  haer.  peremptorisch  for- 
dern konnte,  man  solle  sich  mit  den  Häretikern  nicht  auf  einen  Streit  über 
die  Schrift,  überhaupt  nicht  auf  den  Schriftbeweis,  einlassen.  Das  zeigt  doch, 
dass  Tert.  die  Bemühungen  des  Irenäus  für  erfolglos  gehalten  haben  muss.  — 
S.  oll  Tert.  ad  nat.  II,  4:  „Ut  iure  consistat  collegium  nominis  communione 
substantiae."  —  S.  616  Ueber  die  Aloger  vgl.  meine  Schrift,  „Das  NT.  um 
d.  J.  200  S.  58  tf.  —  S,  619  n.  1  Die  zweite  Hälfte  des  Citats  ist  zu  tilgen.  — 
S.  739  Z.  10  V.  u.  lies  4.  Jahrh. 

Zum  2.  Band. 

S.  64  Gregor  I.  denkt  ep.  VI,  14  bei  einem  gegebenen  Fall  sofort  an  eine 
Fälschung   der  Acten  des  Ephesinums.    —    S.  221   n.  2  ist  der  letzte  Satz  zu 
tilgen.  —  S.  295  n.  1  Z.  20    „mitti"    bezieht  sich  hier  auf  die  Erscheinung  des 
Sohnes  in  der  Welt.  —    S.  403   Z.  5  lies  Zwei  willenlehre.   —    S.  426  Jahn, 
Dionysiaca  1889. 

Zum  3.  Band. 

S.  10  n.  1  Die  angfeführten  Worte  sind  von  Gilbert. 


ii 


Yergieichende  Uebersicht 

der 

Seitenza^hlen 

in  der  ersten  und  in  der  zv/eiten  Auüage  des  Ersten  Bandes. 


1.  Aufl.  2.  Aufl. 

1.  Aufl.  2.  Aufl. 

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178  179 

II  a  r  n  ü  i;  k  ,  Doginongcschichtu.    Bund  III. 


A. 


Vergleichende  Uebersicht  der  Seitenzahlen  des  I.  Bandes  1.  u.  2.  Aufl. 


1.  Auf 

l.   2. 

Aufl. 

1.  Auf 

l.  a.  AuM. 

1.  Auf 

1.   2. 

Aufl. 

l.  Aufl.  2. 

Aufl. 

1.  Aufl.  2.  Aufl. 

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200 

229 

248 

277  278 

296 

330 

331 

344 

380 

381 

392 

433 

Vergleichende  Uebersicht  der  Seitenzahlen  des  I.  Bandes  1.  u,  2.  Aufl. 


3 


1.  Aufl 

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.  2.  Aufl. 

434  435 

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,  2.  Aufl. 

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2.  Aufl. 

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1.  Aufl 

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,  2.  Aufl. 
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679  680 


Vertrlcicht'udü  UebcrsichL  der  Scitenziihlcn  clus  I.  Bandes  1.  u.  2.  Aufl. 


1.  Aufl.     2.  Aufl.      1.  Aufl.     i.  Auil.       1.  Aufl.     2.  Aufl.       l.  Aufl.     2.  Aufl.      l.  Aufl.     2.  Aufl 


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2. 

Aufl. 

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•)_ 

Auil. 

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693 

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745  746 

746  747 

747  748 

748  7^19 

749  750 

750  751 


Zweiter  Theil: 

Die  Entwickelung  des  kirchliclien  Dogmas. 


Zweites  Bucli : 

Die  Erweiterung  und  Umprägung  des  Dogmas  zu  einer 

Lehre  von  der  Sünde,  der  Gnade  und  den  Gnadenmitteln 

auf  dem  Grunde  der  Kirche. 


Jlainar.k,  DofjmenKescliiclitL'  Jll, 


Domiiii  mors  potentior  erat  quam  vita . . . 
Lex  Christianorum  crux  est  sancta  Christi. 
Pseudocyprian. 

Die  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter  uns 
ist,  ist  ein  Letztes,  wozu  die  Menschheit 
gelangen  konnte  und  nmsste.  Aber  was 
gehörte  dazu,  die  Erde  nicht  allein  unter 
sich  liegen  zu  lassen  und  sich  auf  einen 
höheren  (leburtsort  zu  berufen,  sondern 
auch  Niedrigkeit  und  Armuth,  Spott  und 
Verachtung,  Schmach  und  Elend,  Leiden 
und  Tod  als  göttlich  anzuerkennen,  ja 
selbst  Sünde  und  Verbrechen  nicht  als 
Hindernisse,  sondern  als  Fördernisse  des 
Heiligen  zu  verehren! 

Goethe. 


Erstes  Capitel:  GescMchtliclie  Orieiitirung  ^ 

1.  Die  Geschichte  der  Frömmigkeit  und  der  Dogmen  im  Abend- 
land ist  vom  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  bis  zur  Reformationszeit  so 
durchgreifend  von  Augustin  beherrscht  gewesen,  dass  man  diese  ganze 
Zeit  als  eine  Periode  zusammenfassen  muss.  Ja  nun  kann  zweifelhaft 
sein,  ob  es  nicht  richtig  ist,  auch  die  Folgezeit  mit  hineinzuziehen,  da 
der  Augustinismus  im  16.  Jahrhundert  fortgewirkt  hat.  Allein  die  Ge- 
sichtspunkte, nach  denen  der  Reformation  die  Bedeutung  eines  neuen 
Ansatzes  zukommt,  müssen  den  Ausschlag  geben,  und  auch  im  nach- 
tridentinischen  Katholicismus  sowie  vollends  im  Socinianismus  ist  die 
Abkehr  von  Augustin  ausgeprägt  ^.  Wir  betrachten  daher  in  diesem 
unserem  zweiten  Buche  des  zweiten  Theiles  die  Dogmengeschichte  des 
Abendlandes  von  Augustin  bis  zur  Reformation  als  eine  einheitliche 
Entwickelung  und  lassen  dann  —  gemäss  unserer  Begriffsbestimmung 
des  Dogmas  und  der  Dogmengeschichte ^  —  die  „Ausgänge  des  Dog- 
mas" in  ihrer  dreifachen  Gestalt  (im  tridentinischen  Katholicismus,  im 
Socinianismus  und  im  Protestantismus)  folgen. 

2.  Um  das  Eintreten  Augustin's  richtig  zu  würdigen,  ist  zuerst 
(Cap.  2)  die  Eigenart  des  abendländischen  Christenthums  und  der 
abendländischen  Theologen  vor  Augustin  zu  schildern.  Hier  stellt 
sich  heraus,  dass  das  Abendland  zwar  für  den  Augustinismus  dis- 
ponirt  gewesen  ist,  dass  aber  andererseits  gerade  auch  solche  Ele- 
nifnto,  die  das  Cjharakteristische  des  abendländischen  Christenthums 
bildeten  (das  juristische,  das  moralistische)  sich  gegen  die  augustinische 
Denkweise  in  Sachen  des  Glaubens  sträubten.  Die  s])ätere  Geschichte 

•des  Augustinismus  in  der  Kirche  ist  hier    somit    schon  vorgebildet. 


'S,  Bau  r,  Vorlos.  iil).  die  cliristl.  D.-Ci.  2.  F'xl.  1800,  P,nc]i,  Die  Dogmeu- 
gfsdiichto  (los  Mittelalters,  2  Bde.  1873,  1875.  Secberg,  Die  Dogmengescli.  des 
Mittr.jalters  (Th  ornasi  us,  Die  eliristl.  Dognieiioesel).  2.  Aufl.  2.  Bd,  1 .  Abtli.)  1888. 
Alle  set/en  in  der  Zeit  nach  Au<riisiin  ein,  ebendort  auch  S(;hvvane,  T).-(ir.  der 
mittleren  Zeit  1882, 

'■^  Den  vollen  Bruch  mit  Augustin  bezeichnet  freilich  weder  Luther,  nocli 
Ignaz  von  Loyola,  noch  Socin,  sondern  erst  Leibniz  und  Thomasius. 

«S.  Bd.  T.  i*  1. 

1* 


4  Geschichtliche  Orieutiruug. 

3.  Aiigustin  kommt  zuerst  als  Reformator  der  christlichen 
Frömmigkeit  in  Betracht,  indem  er  viel  vulgär  Katholisches  umge- 
stimmt und  vor  Allem  den  Monotheismus  streng  durchge- 
führt, die  lebendige  Beziehung  der  Seele  zu  Gott  in  den  Mittel- 
punkt gerückt,  die  Hehgion  aus  der  Sphäre  der  Kosmologie  und  des 
(Jultus  herausgezogen  und  in  dem  Gebiet  des  innersten  Seelenlebens 
nachgewiesen  und  gepflegt  hat.  Andererseits  muss  hier  gezeigt  wer- 
den, dass  er,  indem  er  die  Souveränetät  des  Glaubens  gegenüber 
allem  Naturhaften  geltend  machte,  doch  die  altkatholische  Grund- 
lage der  theologischen  Denkweise  nicht  überwunden  hat,  ferner,  dass 
er  die  Ueberordnung  des  Religiösen  über  dem  Moralischen,  des 
persönlichen  Glaubensstandes  über  dem  Kirchlichen,  nicht  sicher  ge- 
funden hat,  endlich  dass  er  —  wie  überhaupt,  so  auch  in  der  reli- 
giösen Stimmung  —  belastet  geblieben  ist  von  dem  Schutt  der  kirch- 
lichen Uebedieferung  (Cap.  3). 

4.  Augustin  kommt  sodann  als  Lehrer  der  Kirche  in  Betracht. 
Die  Verbhidung  dreier  grosser  Gedankenkreise,  die  er  neu  ausgebaut 
und  in  die  innigste  Verbindung  gesetzt  hat,  sicherte  ihm  neben  dem 
unvergleichlichen  Eindruck  seiner  unerschöpflichen  Persönlichkeit  eine 
dauernde  Wirkung.     Er   hat   erstens  einen  geschlossenen  Kreis  von 
Gedanken  ausgebaut,   der  durch  die  Begriffe  „Gott,  die  Seele,  die 
Gottentfernung,  die  unwiderstehliche  Gnade,   der  Gotteshunger,    die 
Unruhe  in  der  Welt  und  die  Ruhe  in  Gott,  die  Sehgkeit"  bezeich- 
net  ist,   einen    Kreis,   in  welchem  man  mit  leichter  Mühe  das  Zu- 
sammenwirken neuplatonischer   und   mönchisch- christlicher  Elemente 
nachweisen  kann,  der  aber  grösstentheils  doch  so  rein  und  einfach  ist, 
dass  er  sich  als  die  Grundform  monotheistischer  Frömmigkeit  über- 
haupt fassen  lässt.   Er  hat  zweitens  einen  Kreis  von  Gedanken  aus- 
geprägt, in  welchem  die  Sünde,  die  Gnade  durch  Christum,  die  Gnade 
überhaupt,  der  Glaube,  die  Liebe  und  die  Hoffnung  die  Hauptpunkte 
bilden:  einen  durch  vulgär  katholische  Elemente  modificirten  Pauli- 
nismus.   Er  hat  drittens  einen  Kreis   von  Gedanken   ausgebaut,   in 
welchem  die  katholische  Kirche  als  Autorität,  Gnadenanstalt,  Sacra- . 
mentsverwalterin ,    ferner    als  Mittel    und  Ziel  aller  Veranstaltungen 
Gottes  betrachtet  wird.    Ueberall  hat  er  hier  neben  einer  Fülle  von 
Gedanken  eine   Fülle  von  Schematen   (nicht   Formeln)  ausgebildet, 
die  eigentliche  Dogmatik  neu  gestaltet  und  überhaupt  das  zuerst  an- 
geregt, was  als  Propädeutik  zur  Dogmatik  seit  der  Zeit  der  Schola- 
stiker eine  so  unermessliche  Bedeutung   für   die  Theologie   und   die 
Wissenschaft  erlangt  hat. 

5.    Dagegen    hat    sich    Augustin    in    Bezug    auf  ihis    Dogma 


Die  Bedeutung  Augustin's  in  der  Dogmengeschichte.  5 

durchaus  als  Epigone  gefühlt  und    sich  ganz  unter  die  kirchliche 
Ueberheferung    gestellt.    Die    energische  Kraft  kirchlichen  Wirkens 
(wie  sie  z.  B.  Athanasius  aufweist)  und  der  Trieb,  das,  was  ihn  be- 
seelte, in  fester  Formulirung  der  Kirche  aufzuzwingen,  hat  ihm 
gefehlt.    In  Folge  hiervon  stellt  sich  das  Ergebniss  seines  Lebens- 
werkes für  die  Kirche  also  dar :    er  hat  1)  die  altkirchliche  Ueber- 
heferung als  Autorität  und  Rechtsgesetz   fester  im  Abendland  ein- 
gebürgert;    er    hat   2)  die    alte   religiöse   Stimmung   vertieft,   be- 
ziehungsweise verchristlicht  •,   er   hat  3)   im  kirchlichen  Denken  und 
Leben  an  die  Stelle  des  alten  Dogmas^  und  des  Cultus  eine  Heils- 
ordnung nebst  zugehöriger  Sacramentslehre  gerückt  und  den  Grrund- 
gedanken    seines    Christenthums ,    dass    die    Gnade   Gottes   Anfang, 
Mitte  und  Ende  sei,   in  die  Gemüther  und  Köpfe  eingeführt;    aber 
er  hat  den  Ausgleich  dieses  Gedankens  mit  dem  vulgär  Katholischen 
selbst  gesucht  und   in  Formeln  zum  Ausdruck   gebracht,    die,    weil 
sie  nicht  fest  und  bestimmt  waren,  auch  noch  weitere  Concessionen 
an  das  Hergebrachte  zuliessen.    Er  hat  mit  einem  Wort  den  neuen 
und  höheren  rehgiösen  Stil,    nach  welchem    er  die  Theologie  auf- 
erbaute, nicht  rein  durchgeführt.    So  konnte  sich  daneben  sowohl  das 
alte  griechische,  auf  die  Vergottung  abgezweckte  Dogma  als  die  alte 
römische  Auffassung  der  Religion  als  eines  Rechtsverhältnisses  be- 
haupten.   Augustin  hat  gerade  in  dem  Besten,  was  er  der 
Kirche   geschenkt   hat,    Anregungen  und   Aufgaben   ge- 
bracht, nicht  aber  ein  festes  Capital.    Daneben  hat  er  eine 
Fülle  von  Ideen,  Anschauungen  und  Erkenntnissen  der  Zukunft  über- 
geben, die,  bei  ihm  selbst  ungenügend  vermittelt,  grosse  Spannungen, 
lebendige  Bewegungen,  schhesshch  heftige  Kämpfe  erzeugt  haben. 

6.  Wie  am  Anfang  der  Geschichte  der  lateinischen  Kirche  Cy- 
prian  dem  Tertullian  gefolgt  ist  und  den  Charakter  des  antiken 
lateinischen  Christenthums  ausgeprägt  hat,  so  ist  auf  Augustin 
Gregor  der  Grosse  gefolgt  und  hat  den  mittelalterlichen  Charak- 
ter des  lateinischen  Christenthums  zum  Ausdruck  gebracht,  der  unter 
augustinischen  Formeln  doch  im  Grossen  und  im  Einzelnen  vielfach  von 
Augustin  abweicht.  Dogma  bleibt  im  Mittelalter  fast  durchweg  der 
Complex  trinitarischer  und   christologischer   Lehren,    der   mit  dem 

*  Das  alte  Dogma  ist  somit  im  Ab(3ndland  seil  Augustiu  Baumaterial.  Es 
ist  —  wenigstens  in  der  wichtigsten  Hinsicht  —  seiner  alten  Abzwcckung  entnom- 
men und  dient  neuen  Zwecken.  Die  für  einen  Tempel  behauenen  und  einst  zu  einem 
Torni)ol  /usammengerügten  Steine  dienen  j(!t/t  dorn  Bau  eines  Domes.  Oder  viel- 
leicht ist  das  Hild  /w(!ckniäsHig(!r,  dass  der  alte  Tem[)el,  zum  Dom  erweitert  und 
wunderlich  umgebaut,  innerhalb  des  Domes  noch  immer  erkennbar  ist, 


()  Geschichtliche  Orieiitirung. 

Symbol  überliefert  wurde.  Aber  daneben  besass  bereits  eine  unüber- 
sebbare  Reihe  von  theologischen  Gedanken,  Kirchenordnungen  und 
kirchhchen  Rechtssatzungen  ein  quasi- dogmatisches  Ansehen.  Dennoch 
konnte  in  acuten  Fällen  nur  der  als  Ketzer  ausgewiesen  werden, 
dem  man  den  Unglauben  an  einen  der  12  Artikel  des  Symbols  oder 
die  Uebereinstimmung  mit  den  Lehren  bereits  abgewiesener  Häretiker 
(Pelagianer,  Donatisten  u.  s.  w.)  nachzuweisen  vermochte.  So  blieb 
es  bis  zur  Retbrmationszeit,  wenn  auch  die  Lehren  von  der  Kirche 
(dem  Papste)  und  den  Sacramenten  (dem  kirchlichen  Busssacrament 
und  der  Transsubstantiationslehre)  ein  fast  dogmatisches  Ansehen  — 
freilich  nur  durch  künstliche  Verbindung  mit  dem  Symbol  —  bean- 
spru  eilten. 

7.  Die  Verfestigung  des  Kirchen-  und  Dogmensystems  zu  einer 
Rechtsordnung,  dem  Geiste  des  abendländischen  Christenthums 
entsprechend,  wurde  durch  die  politisclie  Geschichte  der  Kirche  in 
der  Zeit  der  Völkerwanderung  nahezu  perfect.  Die  Germanen,  welche 
in  den  Kreis  der  Kirche  eintraten  und  sich  tbeils  mit  den  Lateinern 
verschmolzen,  theils  selbständig  —  aber  von  Rom  geleitet  —  blieben, 
empfingen  das  Christentimm  in  kirchlicher  Gestalt  als  ein  völlig 
Fertiges.  Auf  rein  germanischem  Boden  —  die  chauvinistische  Behaup- 
tung einer  Prädisposition  der  Deutschen  für  das  Christenthum  lasse 
ich  bei  Seite  ^  —  hat  daher  Jahrhunderte  hindurch  eine  selbständige 
theologische  Bewegung  nicht  stattgefunden.  Es  giebt  im  Mittelalter 
kein  germanisches  Christenthum,  wie  es  ein  jüdisches,  grie- 
chisches und  lateinisches  gegeben  hat  '^.  Mögen  auch  die  Deutschen 
versucht  haben,  sich  inniger  mit  dem  lateinischen  Christenthum  ver- 
traut zu  machen,  als  z.  B.  die  Slaven  mit  dem  griechischen  —  man 
erinnere  sich  des  Hehand's  u.  s.  w.  —  ^,  so  fehlt  doch  jede  Selb- 
ständigkeit in  der  klaren  Aneignung  desselben  bis  zu  der  Zeit,  da 
sich  die  Bettelorden  in  Deutschland  einbürgerten,  ja  eigentlich  bis 
zur  Reformationszeit.  Klagen  über  die  Bedrückungen  der  Päpste  oder 
über  das  äussere  Ceremonienwerk  darf  man  hier  nicht  einmischen. 
Auch  die  Klagenden  waren  römische  Christen,  und  die  nie  fehlen- 
den Sectirer  huldigten  nicht  einem  „deutschen"  Christenthum,  son- 


*  Noch  Seeberg,  Dogmeugesch.  des  Mittelalters  S.  3  hat  sie  wiederholt. 

'^  Auch  die  Einflüsse  des  Germanischen  auf  die  (Testaltung  einiger  mittelalter- 
licher Theologumena,  die  maninneuesterZcithat  nachweisen  wollen,  sind  mindestens 
zweifelhaft  (gegen  Cremer,  Die  AVurzeln  des  Anselm'schen  Satisfactiousbegrirts, 
in  den  Theol.  Stud.  u.  Kritik.  1880  S.  7ft".  und  Seeberg,  a.  a.  0.  S.  123). 

^  Der  schlichten  Frömmigkeit  kam  es  hin  und  her  zu  statten,  dass  sie  au  dem 
ßau  der  Kirche  nicht  mitgezimmert  hatte. 


Die  germanischen  und  romanischen  Völker.  7 

dern  einer  ebenfalls  importirten  Kirchengestalt.  Wenn  es  in  Deutsch- 
land bis  zum  13.  Jahrhundert  keine  selbständige  Theologie  und 
Wissenschaft  gegeben  hat,  so  gab  es  noch  viel  weniger  eine  dogmen- 
geschichtliche  Bewegung  ^  Sobald  aber  die  Deutschen  selb- 
ständig —  in  Deutschland  und  in  England  —  in  die  innere  kirch- 
liche Bewegung  eingreifen,  bereiten  sie,  freilich  auf  Augustin  ge- 
stützt, die  Eeforination  vor.  Anders  steht  es  auf  romanischem 
Boden.  Auf  Italien  darf  man  allerdings  nicht  blicken;  denn  dieses 
Land  der  Päpste  hat  seine  alte  Eigenart,  die  Indifferenz  gegen  alle 
Theologie  als  Theologie,  stets  behauptet.  Apokalyptische,  socialistische 
und  revolutionäre  Bewegungen  haben  dort  nicht  gefehlt;  Hippokrates 
und  Justinian  wurden  studirt;  aber  die  Ideale  der  Denker  haben 
Itahen  niemals  erregt,  und  um  ein  Dogma,  wenn  es  sonst  nichts 
war  als  ein  Dogma,  hat  man  sich  dort  nie  gekümmert.  Auch  Spanien 
trat  sehr  bald  aus  der  Bewegung  der  Geister  heraus,  in  die  es 
übrigens  niemals  mit  Kraft  eingetreten  war.  Es  hatte  acht  Jahr- 
hunderte hindurch  eine  ungeheure  praktische  Aufgabe  zu  vollziehen, 
die  Christenheit  vor  dem  Islam  zu  schützen:  in  diesem  Kampf  hat 
es  das  Gesetz  der  katholischen  Eehgion  in  eine  militärische  Disciplin 
umgewandelt.  Die  spanische  Dogmengeschichte  ist  seit  den  Tagen 
des  Bischofs  Ehpandus  ein  leeres  Blatt.  So  bleibt  nur  Frankreich. 
Sofern  das  Mittelalter  bis  zum  1  3.  Jahrhunder  t  über- 
haupt eine  Dogmenge  schichte  gehabt  hat,  ist  siegröss- 
tentheils  fränkisch  resp.  französisch-.  Gallien  war  schon 
im  4.  und  5.  Jahrhundert  unter  den  lateinischen  Ländern  das  Land 
der  Bildung.  Unter  den  Stürmen  der  Völkerwanderung  hat  sich  die 
Cultur  in  Südgallien  am  längsten  erhalten  und  nach  einer  kurzen 
Epoche  der  Barbarei,  in  welcher  die  Cultur  überall  auf  dem  Con- 
tinent  auszusterben  und  England  die  Führung  zu  erhalten  schien, 
trat  Frankreich  unter  den  Karolingern  —  allerdings  das  durch 
Bonifatius  mit  Rom  verbundene  Frankreich  —  wieder  an  die  Spitze. 
An  dieser  ist  es  —  seinen  Schwerpunkt  nun  aber  im  Norden  habend, 
im  Lande  zwischen  Seine  und  Rhein  —  geblieben.  Sein  Paris 
stand  Jahrhundertc  lang  neben  Rom,   wie   einst   Alexandrien    und 

'  Nitzscb,  Deutsche  G(!sch.  Jl,  S.  15:  „Der  deutschen  Kirche  waren  (bis  zur 
Mitte  des  11.  .Jahrh.)  die  Aufgaben  der  (lutsvcrwaltung  wichtiger  als  die  dogmati- 
schen und  politischen  Debatten  der  benachbarten  französischen  Hierarchie."  S.  auch 
Döllinger,  Akad.  Vorträge  Bd.  II,  1.  Vortrag  Anfang. 

'  S.  die  zutreffende  Ansicht  des  Jordanu«  von  Osiial)riick  (um  1285),  die 
Römer  hätten  das  8acerdf>tiuni,  die  Deutschen  das  imperium,  die  Franzosen  das 
Studium  erhalten  (Lorenz,  Oeschichtsquellen  2.  Aufl.  2.  Bd.  S.  29(5). 


8  Geschichtliche  Orieutirung. 

Karthago  neben  Rom  {gestanden  haben  K  Die  Krone  des  Imperators 
ging  auf  die  Deutschen  über;  der  wahre  Weltherrscher  sass  in  Rom; 
aber  das  „Studium"  —  in  jedem  Sinne  des  Worts  —  bUeb  den 
Franzosen.  Streng  genommen  liat  es  freiHch  auch  in  Frankreich  im 
Mittelalter  keine  Dogmengeschichte  gegeben.  Dächten  wir  uns,  die 
Reformation  wäre  nicht  eingetreten,  so  würde  man  eine  mittelalterliche 
Dogmengeschichte  im  Abendland  so  wenig  gcAvahren  wie  im  Morgen- 
land; denn  die  theologischen  und  kirchlichen  Bewegungen 
des  Mittelalters,  die  sich  selbst  keineswegs  als  neue 
dogmatische  geben,  sind  nur  desshalb  in  die  Dogmen- 
geschichte aufzunehmen,  weil  sie  in  die  tri  dentinischen 
Dogmen  einerseits,  in  die  Symbole  der  Reformations- 
kirchen  und  in  den  socinianischen  Rationalismus  anderer- 
seits münden.  Das  ganze  Mittelalter  stellt  sich  innerhalb  der 
Dogmengeschichte  lediglich  als  ein  Uebergangszeitalter  dar  —  die 
Periode  der  Auseinandersetzung  der  Kirche  mit  Augustin  und  mit 
allen  den  zahlreichen  von  ilmi  gegebenen  Impulsen.  Diese  Periode 
h'cit  so  lange  gedauert,  weil  1)  Jahrhunderte  vergehen  mussten,  bis 
Augustin  ebenbürtige  Schüler  fand  und  man  im  Stande  war,  das  aus 
dem  Alterthum  überlieferte  Gefüge  der  kirchlichen  und  theologischen 
Ordnimgen  auch  nur  zu  verstehen,  weil  2)  der  römische  Genius 
der  abendländischen  Kirche  sich  zu  dem  augustinischen  z.  Th.  disparat 
verhielt,  die  Yermittelung  also  eine  ungeheuere  Aufgabe  war,  und 
weil  3)  in  dem  Moment,  in  welchem  man  es  vermochte,  sich  selbstän- 
dig mit  der  Kirchenlehre  und  mit  Augustin  zu  beschäftigen,  eine 
neue  Autorität  auftrat,  die  in  vieler  Hinsicht  dem  Geiste  der  Kirche 
congenialer  war,  Augustin's  gewaltiger  Rivale'-^  —  Aristoteles. 
Der  römische  Genius,  die  aus  der  Endzeit  der  Antike  stammende, 
in  den  barbarischen  Zeiten  verstärkte  Superstition,  Augustin,  Aristo- 
teles —  das  sind  die  vier  Mächte,  die  im  Mittelalter  in  der  „Dogmen- 
geschichte" um  das  Verständniss  des  Evangeliums  gerungen  haben. 

8.  Das  Mittelalter  hat  keine  dogmatische  Entscheidungen  erlebt 
wie  die  zu  Nicäa  oder  Chalcedon.  Nach  der  Verurtheilung  der  Pela- 
gianer  und  Semipelagianer ,  Monotheleten  und  Adoptianer ,  ist  der 
dogmatische  Kreis  abgeschlossen.    Die  Actionen    in    dem   karo- 


*  S.  über  die  Bedeutung  des  uordöstlichen  Frankreichs  Sohm  i.  d.  Ztscln-. 
d.  Savigny-Stiftung.  Germanistische  Abth.  I.  1,  S.  3  ff .  und  Schrürs,  Hiukmar, 
S,  3  f.   Ueber  Rom  und  Paris  s.  Reuter,  Gesch.  d.  Aufkl.  I,  S.  181. 

-  Die  höhnische  Bezeichnung  des  Augustin  als  „Aristoteles  Poenorum'*  —  so 
hat  ihn  Julian  von  Eclanum,  Aug.  Op.  imperf.  III,  199,  genannt  —  war  eine  Weis- 
sagung auf  ilie  Zukunft, 


Methode  der  mittelalterlichen  Dogmengeschichte.  9 

lingischen  Zeitalter  gegen  die  Bilder,  gegen  Ratramnus  und  Gottschalk 
sind  im  Grunde  von  geringem  Belang,  und  gegen  alle  späteren  Ketzer, 
welche  die  mittelalterliche  Kirche  so  zahlreich  beunruhigten,  kämpfte 
man  mit  alten  Waffen  und  hatte  in  der  That  neue  nicht  nöthig.  Die 
Aufgabe  des  Dogmenhistorikers  ist  daher  hier  eine  sehr  schwierige. 
Um  zu  wissen,  was  er  darstellen  soll,  um  dem  alten  Dogma,  wie  es 
fortwirkte,  ebenso  gerecht  zu  werden,  wie  dem  neuen  quasi-dog- 
matischen  Christenthum ,  in  dem  man  lebte,  muss  er  seinen  Blick 
fest  auf  den  Anfang  (Augustin)  und  auf  den  Ausgang,  das  16.  Jahr- 
hundert, richten.  Nichts  gehört  in  die  Dogmengeschichte,  was  nicht 
der  Erklärung  dieses  Ausgangs  —  und  zwar  nur  nach  seiner  dogma- 
tischen Seite  —  dient,  und  auch  dieses  darf  nur  soweit  dargelegt 
werden,  als  es  die  Fassung  neuer  Lehren  oder  die  officielle  Neube- 
arbeitung der  alten  Dogmen  vorbereitet  hat.  Sehe  ich  recht,  so  sind  es 
drei  Linien,  denen  die  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  ist.  Erstlich 
ist  die  Geschichte  der  Frömmigkeit  ins  Auge  zu  fassen,  sofern 
in  ihr  auf  dem  Grunde  des  Augustinismus  oder  neben  demselben 
neue  Stimmungen  ausgeprägt  worden  sind;  denn  die  anders  ge- 
stimmte Frömmigkeit  hat  schHesslich  auch  zu  anderen  dogmatischen 
Formulirungen  geführt.  Die  Geschichte  der  Frömmigkeit  im  Mittel- 
alter aber  ist  die  Geschichte  des  Mönchthums  ^  Wir  werden  da- 
her vermuthen  dürfen,  dass,  wenn  das  Mönchthum  im  Abendland 
wirklich  eine  Geschichte  und  nicht  nur  unendliche  Wiederholungen 
erlebt  hat,  diese  für  die  Dogmengeschichte  nicht  gleichgiltig  sein 
können.  In  der  That  wird  sich  zeigen,  dass  Bernhard  und  Fran- 
ciskus  auch  Väter  der  Lehre  geworden  sind.  Man  darf  schon  hier 
darauf  hinweisen,  dass  Augustin,  mindestens  scheinbar,  eine  Lücke 
in  seiner  durcli  seine  Frömmigkeit  beherrschten  Theologie  aufweist: 
er  hat  über  das  Werk  Christi  im  Zusammenhang  seiner  Glaubens- 
lehre wenig  auszusagen  vermocht,  und  seine  passionirte  GottesHebe 
ist  mit  dem  Eindruck  des  Todes  Christi  und  mit  dem  „AVcrke" 
Christi  in  der  Theorie  nicht  deutlich  verbunden.  Welch'  eine  üm- 
stimmung  und  Erwärmung  des  Augustinismus  musste  sich  ergeben, 
wenn  diese  passionirte  Liebe  zum  Ewigen  und  Heihgen  ihr  Object 
nun  in  dem  (Tckreuzigten  fand,  wenn  sie  alle  Züge  des  Geschlage- 
nen, Verwundeten  und  Sterbenden  ins  Himmlische  verklärte  und  zu- 
gleich auf  die  sündige  Seele  bezog,  wenn  sie  nun  über  die  unendhchen 
..Verdienste"  ihres  Heilandes  zu  sinnen  begann,  weil  ihr  der  tiefste 


*  H.  Ritschi,  (ircHch.  de« Pietismus  Bd.  1,  S.  7  ii'.  und  meinen  Vortrag  über 
das  Mönchthum  3.  Aufl. 


lO  Geschichtliche  Orientirung. 

Gedanke  Mufgegangeii  war,  dass  das  Leiden  des  Unschuldigen  das 
Heil  in  der  Geschichte  ist!  Was  hier  an  dem  „gekreuzigten"  (Bern- 
hard) und  dem  „armen"  (Franziskus)  Heiland  neu  geschaut  und  er- 
leht  wurde  \  konnte  nicht  ohne  Folge  für  das  Dogma  bleiben.  Man 
kann  es  kurz  sagen  —  durch  die  mittelalterhchen  Virtuosen  der  Re- 
ligion und  die  mittelalterlichen  Theologen  ist  schliesslich  im  triden- 
tinischen  und  im  altlutherischen  Dogma  auf  neue  Weise  der  strafte 
Zusannnenhang  zwischen  Gott,  dem  „AVerke"  Christi  und  dem  Heils- 
gut wiederhergestellt  worden,  den  die  griechische  Kirche  besessen 
hat  und  besitzt,  den  aber  Augustin  gelockert  hat,  weil  es  seine 
grosse  Aufgabe  gewesen  ist,  zu  zeigen,  wer  Gott  sei  und  welches 
Heil  die  Seele  bedarf.  Zweitens  wird  die  Sacramentslehre  in 
Betracht  zu  ziehen  sein  ;  denn  so  grosse  Anregungen  Augustin  hier 
auch  gegeben  hat,  so  unfertig  ist  doch  Alles  gewesen,  was  er  der 
Kirche  überliefert  hat.  Diese  aber  hat  als  Anstalt  und  Erziehungs- 
schule vor  Allem  die  Sacramente  nöthig  gehabt,  und  sofern  sie  sich 
an  Augustin  anschloss,  hat  sie  gerade  seine  Sacramentslehre  und 
die  damit  zusammenhängende  Auft'assung  von  der  stufenweisen  Ge- 
rech tmachung  aufgegriften.  Es  wird  zu  zeigen  sein,  wie  die  Kirche 
diese  bis  zum  16.  Jahrhundert  ausgebaut,  sich  selbst  in  den  Sacra- 
menten  ideahsirt  und  sie  zu  ihren  eigentlichen  Machtmitteln  ausgebildet 
hat.  Drittens  wird  eine  Linie  zu  verfolgen  sein,  die  durch  die  Namen 
Augustin  und  Ari  stoteles  (lides  und  ratio,  auctoritas  und  ratio, 
intelhgentia  und  ratio)  bezeichnet  ist.  Sie  vollständig  zu  erforschen, 
hiesse  die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  überhaupt 
schreiben.  Sie  ist  desshalb  hier  nur  soweit  ins  Auge  zu  fassen,  als 
in  ihr  sich  diejenige  mannigfaltige  Formgebung  des  theologischen 
Denkens  und  die  Grundansichten  gebildet  haben,  welche  in  die 
Formulirung  und  damit  auch  in  den  Gehalt  der  Lehrbildungen  des 
16.  Jahrhunderts  übergegangen  sind  und  schliesslich  dem  Dogma  im 
ursprünglichen  Sinn  des  Worts  nahezu  ein  Ende  bereitet  haben. 
Unter  dem  Titel  „Augustin  und  Aristoteles"  hat  man  aber  auch  den 
Gegensatz  der  Lehre  von  dem  unfreien  Willen  und  der  gratia  gratis 
data  einerseits  und  der  Lehre  vom  freien  Willen  und  dem  Verdienst 
andererseits  zu  stellen.  Die  letztere  hat  innerhalb  des  Katholicismus 
den  Augustinismus  zersetzt. 

Ein  Dogma  von  der  Kirche  lässt  sich  im  Mittelalter  bis  zum 


^  Bernhard  hat  den  Grund  dazu  gelegt,  das  ueuplatonische  Exercitiuiu  der 
Contemplation  des  Alls  und  der  Gottheit  in  die  methodische  Betrachtung  des 
Leidens  Christi  umzusetzen :  „Dilcctus  meus,  inquit  sponsa,  candidus  et  rubiouu- 
dus.    In  hoc  uübis  et  candct  veritas  et  rubet  Caritas.'' 


Methode  der  mittelalterlichen  Dogmengeschichte.  1 1 

Ende  des  13.  Jahrhunderts  nicht  verfolgen,  aber  dies  nur  desshalb 
nicht,  weil  die  Kirche  die  Grundlage  und  der  stille  Coefficient  aller 
geistigen  und  theologischen  Bewegung  gewesen  ist  ^  Die  Darstellung 
hat  diese  ihre  Bedeutung  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  dabei  das 
Wachsthum  der  päpstlichen  Gewalt  fest  ins  Auge  zu  fassen;  denn 
im  16.  Jahrhundert  wurde  über  das  Recht  des  Papstes  gekämpft. 
An  diesem  Punkt  spaltete  sich  die  abendländische  Kirche.  Ferner 
aber  ist  die  mittelalterliche  Bewegung,  in  dem  Masse  als  die  Kirche 
und  die  Sacramente  sich  vordrängten  und  doch  der  Trieb  nach  selb- 
ständigem Glauben  fortwirkte'^,  auch  auf  die  Frage  der  persön- 
lichen Glaubensgew issheit  geführt  worden,  nachdem  Augustin 
die  Frage  des  persönlichen  Christenstandes  in  den  Mittelpunkt 
gerückt,  aber  durch  unsichere  Verweisungen  auf  die  Kbche  und  auf 
medicinisch  wirkende  Gnadenmittel  verwkrt  hatte.  Auch  an  diesem 
Punkt  spaltete  sich  die  abendländische  Kirche  (Rechtfertigung)  ^. 
Somit  wird  eine  dogmengeschichtliche  Darstellung  für  das  Mittelalter 
nur  dann  vollständig  sein,  wenn  sie  zu  zeigen  vermag,  wie  die  Fragen 
nach  der  Gewalt  der  Kirche  (des  Papstes,  der  Bedeutung  der  Messe 
und  der  Sacramente)  und  nach  der  Rechtfertigung  in  den  Vordergrund 
rückten,  und  wie  an  diesen  Fragen  das  alte  Dogma  zwar  nicht  äusserlich, 
aber  innerlich  zu  Grunde  gegangen  ist.  Im  tridentinischen  Katholicis- 
mus  wurde  es  nun  völhg  mitsammt  seinen  neuen  Bestandtheilen  eine 
Rechtsordnung;  im  Protestantismus  wurde  es  nur  noch  beibehalten, 
sofern  es  sich,  verglichen  mit  dem  göttlichen  Wort,  als  Ausdruck  des 
EvangeHums  selbst,  als  Band  mit  der  geschichtlichen  Vergangenheit, 
resp.  auch  als  Grundlage  der  persönlichen  Heilsgewissheit  darstellte, 
lieber  die  Periodeneintheilung  kann  man  nicht  zweifelhaft  sein. 

*  Die  zu  allen  Zeiten  vorhandene  und  bereits  im  13.  Jahrhundert  starke  Oppo- 
sition gegen  die  Priesterkirche  hat  bis  zum  14.  Jahrhundert  keine  bleibenden 
Spuren  zurückgelassen.  Erst  in  diesem  Jahrhundert  beginnen  auf  dem  Boden  des 
Kathol  ici  smus  Bewegungen,  die  zu  Neubildungen  des  Kirchenbegriffs  führten 
und  die  Kirche  nöthigten,  ihren  eigenen  Begriff  festzustellen. 

^  Im  Mittelalter  ist  jeder  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der  Kirchenautorität 
und  -gewalt  begleitet  gewesen  von  dem  sich  steigernden  Eindruck,  die  Kirche  sei 
verderbt.  Dieser  Eindruck  hat  dann  zum  Verdachte,  sie  sei  Babel  geworden,  und 
zur  Verzweiflung  an  der  Besserung  der  Kirche  geführt. 

*  Die  Spaltuijg  führte  an  diesem  wichtigsten  Punkte  über  Augustin  hinaus;  denn 
im  Mittelalter  ist—  die  Frage  nach  dem  Glaubensgrunde  und  der  Glaubensgewiss- 
heit  betreffend  —  der  Augustin  der  Confessionen  und  der  Prädestinationslehre  gegen 
Augustiii,  den  Apologeten  der  katholischen  Kirche,  ausgespielt  worden.  Luther 
aber  hat  diesen  wie  jenen  verlassen  und  ist  einer  Betrachtung  gefolgt,  die  bei 
Augustin  und  im  Mittelalter  höchstens  in  einer  verborgenen  Unterströnmng  nach- 
gewiesen werden  kann. 


1 2  Das  abendläudische  Christenthum  vor  Augustin. 

Nach  einer  Einleitimg  über  das  abendUinclische  (Christenthum  und  die 
abendländische  Theologie  vor  Augustin  ist  der  Augustinismus  darzu- 
stellen. Sodann  sind  die  Epochen  1)  der  semipelagianischen  Kämpfe 
und  (^regor's  1.,  2)  der  karolingischen  Renaissance,  3)  der  cluniacen- 
sisch  bernhardinischen  Zeit  (11.  und  12.  Jahrhundert),  4)  der  Zeit 
der  Bettelorden  sowie  der  sog.  Vorreformatoren,  d.  h.  des  erneuten 
Augustinismus  (13. — 15.  , Jahrhundert),  zu  behandeln.  Erst  seit  dem 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  ist  das  Mittelalter  auf  seinem  Höhe- 
punkte, ist  nun  dem  Stoffe  geistig  gewachsen,  den  es  aus  der  alten 
Kirche  erhalten  hat,  und  entwickelt  alle  individuellen  Kräfte  und  An- 
schauungen. Damit  beginnen  aber  sofort  die  Krisen,  die  zur  Renais- 
sance und  dem  Humanismus,  zur  Reformation,  zum  Socinianismus 
und  zum  tridentinischen  Katholicismus  geführt  haben.  Daher  ist  es  in 
der  Dogmengeschichte  nicht  möglich,  innerhalb  des  13. — 15.  Jahr- 
hunderts zwei  Perioden  abzugrenzen;  denn  Scholastik  und  Mystik,  die 
Ausbildung  der  autoritativen  (nominalistischen)  Dogmatik  und  die  An- 
sätze zu  Neubildungen  liegen  in  einander.  Reformation  und  Contra- 
reformation haben  eine  Wurzel  gemeinsam. 

Zweites  Capitel:  Das  abendländische  Christenthum  und  die 
abendländischen  Theologen  vor  Augustin. 

Der  Eigenart  des  abendländischen  Christenthums  ist  in  den  früheren 
Bänden  schon  mehrfach  gedacht  worden.  Jetzt  ist  es  angezeigt,  bevor 
wir  auf  A  u  g  u  s  t  i  n  und  die  durch  ihn  bestimmte  Kirche  eingehen,  in 
einem  Ueberblick  uns  das  Christenthum  zu  vergegenwärtigen,  in  welches 
er  eingetreten  ist  und  dem  er,  indem  er  es  eigenthümlich  zusammen- 
fasste  und  an  ilrna  bildete,  eine  erstaunliche  Dauer  und  neue  lebendige 
Kräfte  verliehen  hat.  Die  Kirche,  welche  das  Christenthum  in  das 
Mittelalter  übergeführt  hat,  war  die  römische.  Sie  könnte  jedoch 
fast  mit  demselben  Rechte  die  augustinisch- gregorianische  * 
genannt  werden,  mit  dem  die  Kirche  der  augsburgischen  Confession 
die  lutherische  heisst. 

Steigt  man  aber  von  Augustin  aufw^ärts  in  der  Geschichte  der 
lateinischen  Kirche  bis  zu  den  uns  zugänglichen  Anfängen,  so  sieht 
man  sich  einem  Manne  gegenübergestellt,  in  welchem  sich  die  Eigen- 
art und  die  Zukunft  dieser  Kirche  bereits  ankündigt  —  Tertullian. 
TertuUian  und  Augustin  sind  die  Väter  der  lateinischen  Kirche  in 
einem  so  eminenten  Sinn,  dass,  gemessen  an  ihnen,  das  Morgenland 


'  Nach  Gregor  I. 


Tertullian  als  Begründer  des  abendländischen  Christenthums.  13 

Kirchenväter  überhaupt  nicht  besessen  hat^    Der  Einzige,  der  mit 
ihnen  rivaUsiren  kann,  Origenes,  hat  doch  in  einer  beschränkteren 
Sphäre  gewirkt.    Sein  Christenthum  war  im  Grunde  nicht  kirchlich, 
sondern  esoterisch,  so   eminent  kirchhch  sein  Handeln  gewesen  ist. 
Seine  Entwickelung  und  der  Inhalt  seines  persönlichen  Lebens  sind 
für  das  Ganze  fast  bedeutungslos  gewesen;  er  lebte  in  seinen  Büchern 
und  in  den  Theologen  fort.    Allein  Tertullian  und  Augustin  —  der 
Erste  freilich  als  gebrochene  Grösse,  erträglich  der  Folgezeit  nur  in 
der  Nivellirung  Cyprian's,  und  auch  der  Andere  in  steigendem  Masse 
seiner  Kirche  unbequem  und  heimlich  von  ihr  bekämpft  —  sind  mit 
ihrer  Persönlichkeit,  mit  der  Eigenart  ihres  christlichen  Denkens  und 
Empfindens  in  die  Geschichte  der  abendländisch-katholischen  Kirche 
übergegangen.    Die  Si^annungen  und   unaufgelösten  Dissonanzen,   in 
denen  sie  sich  abgearbeitet  haben,  haben  sie  der  Zukunft  ebenso  über- 
liefert wie  die  Accorde,   die  sie  anschlugen,  und  die  Probleme,   die 
sie  in  ihrem  eigenen  Innern  nicht  zu  bezwingen  vermochten,  sind  die 
Themata  weltgeschichtlicher  Geisteskämpfe  geworden  ^.  Man  kann  sich 
die  Ueberlegenheit  des  abendländischen  Christenthums  über  das  morgen- 
ländische an  vielen  Stücken  klar  machen,  man  kann  auch  eine  ganze 
Reihe  von  Ursachen  für  diese  Ueberlegenheit  angeben  *,  aber  eine  der 
vornehmsten   ist  in  der  Thatsache  gegeben,    dass  die  Morgenländer 
nur  durch  eine  einförmige  Reihe  von  Theologen  und  Mönchen  bestimmt 
worden  sind,    die  Abendländer  durch  Tertullian  und  Augustin. 
Das  römische  Christenthum,  wie  es  um  180  noch  als  ein  wesent- 
lich griechisches  geformt  war,   aber  sich  doch  schon  in  bedeutender 
Eigenthümlichkeit  ausgeprägt  hatte  ^,  hatte  den  grossen  Afrikaner  für 
sich  gewonnen  \   Es  hat  ihm  auch  schon  lateinische  Uebersetzungen 
bibUscher  Bücher  überUefert;  aber  auf  diesem  Grunde  hat  Tertullian 
mit  gedanken-  und  sprachbildender  Kraft  gearbeitet,  weil  er  es  ver- 


*  Sehr  richtig  Möhler  fPatrologie  S.  737)  vom  Standpunkt  des  Katholiken: 
„Oft  vergisst  man,  überrascht  für  einen  Augenblick,  dass  man  in  Tertullian  einen 
Schriftsteller  vorn  Eingang  des  3.  .Talirhunderts  voi-  sich  ha])e;  so  heimisch  klingt's, 
was  er  oft  in  einer  uns  sehr  geläufigen  Ausdi-ucksweise  über  schwierige  Fragen  der 
Dogmatik,  Moral  und  selbst  den  kirchlichen  Ritus  vorträgt. 

'^  Schliesslich  hat  man  sich  freilich  Ix'i  der  (Jonservirung  der  Widersprüche 
lif-nihigt,  sie  als  Schulj)robl(!m(!  behandelnd,  ohne  iiichi'  einen  Ausweg  zu  suchen; 
denn  die  Zeit  macht  auch  contradictorische  Widcrspriicthe  erträglich,  ja  heiligt  sic^ 
gewissermassen. 

*  S.  (Ifii  T.  Clemensbrief,  auch  den  Tractat  ü])er  die  Spieler  und  die  Zeugnisse 
des  Iguatius,  Dionysius  von  Korinth  u.  A.  übfrdie  alte  römische  Kirche. 

*  De  praescr.  30:  „Si  italiac^  adiaces  ha)j(rs  Homani ,  unde  nobis  auctoritas 
quoque  praesto  est." 


14  I^fts  abendländischo  Cliristontlium  vor  Au^ustin. 

stand,  sich  in  den  neuen  rilauben  einzulelnni  und  in  ihm  seine  ganze 
rndividualität  zum  Ausdruck  zu  bringen  '. 

Er  knüpfte  dabei  an  alle  Elemente  an,  die  ihm  die  üeberheferung 
zutrug.  Zunächst  im  (Christlichen  sowohl  an  den  alten  enthusiastischen 
und  rigoristischen  Glauben,  wie  an  den  neuen  antihäretischen.  Er 
wollte  beides  vertreten  und  in  seinem  souveränen  Hechte  darthun, 
die  strenge  lex  der  alten,  auf  den  eschatologischen  Hofl'nungen  ge- 
gründeten disciplina  mit  ihrer  ungebundenen  pneunuitischen  Dogmatik 
und  die  strenge  lex  der  neuen  regula  fidei,  die  doch  uralt  schien, 
weil  die  Häretiker  unzweifelhaft  Neuerer  waren.  Er  wollte  ein  Jünger 
der  Propheten  und  ein  gehorsamer  Sohn  der  bischöflichen  Lehrer  sein. 
Indem  er  sich  fruchtlos  abarbeitete,  beides  zu  vereinigen-,  hat  er 
beide  Mächte  der  Kirche  des  Abendlands  als  Erbschaft  zurückgelassen. 
Wenn  die  Geschichte  der  abendländischen  Kirche  bis  zum  16.  Jahr- 
hundert den  AViderstreit  orthodox-klerikaler  und  enthusiastischer,  bibli- 
cistischer  und  i)neumatischer  Elemente  aufweist,  wenn  das  Mönchthum 
hier  immerfort  in  Gefahr  gerathen  ist,  in  die  Apokalyptik  und  den 
Enthusiasmus  überzuspringen  und  der  Bischofs-  und  Weltkirche  Oppo- 
sition zu  machen,  so  ist  das  in  Tertullian  vorgebildet. 

Ein  weiteres  Element,  welches  hier  in  Betracht  kommt,  ist  das 
juristische.  Man  weiss,  dass  die  Jurisprudenz  und  das  juristische 
Denken  in  der  mittelalterlichen  Philosophie,  Theologie  und  Moral  den 
Principat  geführt  haben  ^.  Auf  das  „Gesetz"  hatten  zwar  schon  die 
nachapostolischen  griechischen  Christen  das  Christenthum  hinaus- 
gespielt, und  die  römische  Gemeinde  mag  diese  Betrachtung  mit 
besonderer  Energie  gepflegt  haben*;   aber  an  und  für  sich  ist  diese 


^  Ueber  das  Kirchenlatein  s,  Koffmane's  vieles  Werthvolle  enthaltende 
Arbeit  „Gesch.  des  Kirchenlateins  1879—1881". 

2  S.  darüber  die  Ausführungen  im  1.  Bd.  S.  328  ff.  367  ff.  383  f.  540  f. 

°  S.  V.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  und  Lit.  d.  kanonischen  Rechts  Bd.  I 
S.  92-103.  Bd.  II  S.  512  f.  Derselbe,  Gedanken  über  Aufgabe  und  Reform  d. 
Jurist.  Studiums,  1881:  „Die  Rechtswissenschaft  wurde  seit  dem  12.  Jahrhundert 
thatsächlich  in  Kirche  und  Staat  der  leitende  Factor."  Dass  es  noch  heute  in  der 
katholischen  Kirche  nicht  anders  ist,  mag  statt  vieler  Worte  ein  Zeugniss  D Öl- 
ung er 's  bekräftigen.  In  Anlass  eines  Gedenkworts  auf  Phillips  (Akadem.  Vor- 
träge, 2.  Bd.  S.  185  f.)  sagt  er:  „Mir  ist  im  häufigen  Verkehr  mit  den  l)eiden  enge 
verbundenen  Convertiten,  Jarcke  und  Phillips,  erst  klar  geworden,  wie  gerade  die 
juristische  Bildung  und  Denkweise,  die  doch  selbst  bei  Germanisten,  wie  Phillips, 
nicht  von  altdeutschen,  sondern  von  römischen  Rechtsideen  beherrscht  ist,  eine 
Auffassung  der  christlichen  Religion  im  ultranuuitan-papistischen  Sinn  nahe  U^vt 
und  begünstigt". 

**  Ueber  die  Bezeichnung  der  hl.  Schrift  als  „lex"  im  Abendland  s.  Zahn. 
Gesch.  d.  neutestamentlichen  Kanons  I,  1  S.  95  f. 


Das  Christenthum  und  die  Theologie  Tertullian's.  15 

Formel  so  vieldeutig,  dass  sie  fast  neutral  ist.  Jedoch  durch  Tertul- 
lian,  seinem  früheren  Berufe  nach  Jurist,  erhielten  alle  christHchen 
Formen  ein  rechtliches  Gepräge.  Er  hat  nicht  nur  die  Kunst- 
sprache der  Juristen  in  die  Kirchensprache  des  Abendlands  über- 
geführt, sondern  auch  alle  Beziehungen  des  Einzelnen  und  der  Ge- 
meinde zur  Gottheit  und  umgekehrt,  alle  Pflichten  und  Rechte,  den 
sittlichen  Imperativ  sowohl  wie  die  Thaten  Gottes  und  Christi,  ja 
ihr  gegenseitiges  Verhältniss,  einer  rechtlichen  Betrachtung  unter- 
zogen. Er,  der  leidenschaftliche  und  phantasievolle,  scheint  nicht  eher 
innerhch  beruhigt,  als  bis  er  das  Schema  eines  Rechtsverhältnisses  ge- 
funden hat,  das  er  als  unverbrüchliche  Autorität  proclamiren  kann, 
und  er  fühlt  sich  nicht  eher  sicher,  als  bis  er  innere  Nöthigungen  als 
äussere  Forderungen,  überschwängliche  Verheissungen  als  stipulirte 
Belohnungen  nachgewiesen  hat.  Dabei  ist  aber  fast  überall  das  Schema 
des  Privat  rechts  angewendet.  Gott  erscheint  als  der  mächtige 
Partner,  der  eifersüchtig  über  sein  Recht  wacht.  Durch  Tertullian  ist 
diese  Tendenz  in  die  abendländische  Kirche,  die  für  dieselbe  als 
römische  disponirt  war,  übergegangen;  sie  hat  sich  dann  in  bedenk- 
lichster Weise  dort  ausgewirkt.  Mag  auch  manches  Werthvolle  so 
conservirt  worden  sein  —  auch  dem  Verständniss  gewisser  paulinischer 
Gedanken,  freilich  nicht  der  werthvollsten,  kam  das  juristische  Denken 
zu  Hülfe  — ,  im  Ganzen  ist  doch  die  religiöse  Betrachtung  damit  in 
ein  falsches  Bett  geleitet  (die  Ideen  der  satisfactio  und  des  meritum 
werden  die  wichtigsten)  und  die  Entfremdung  des  abendländischen 
Ohristenthums  von  dem  ursprünglichen  und  dem  morgenländischen 
befördert  worden  K 

Mit  dem  juristisclien  Element  hängt  ein  anderes^ enge  zusammen, 
das  syllogistisch-dialektisclie.  Man  hat  TertuUian  als  specu- 
lativen  Theologen  gefeiert,  aber  mit  Unrecht.  Speculation  war  nicht 
seine  Sache;  man  erkennt  das  sehr  deutlich,  wenn  man  sich  sein  Ver- 
hältniss  zu  Irenäus  vergegenwärtigt.  Wie  vieles  hat  er  von  diesem 
Vorgänger  übernommen,  und  wie  sorgfältig  ist  er  dabei  den  tiefsten 
Speculationcn  desselben  aus  dem  Wege  gegangen!  Tertullian  ist 
Sophist  im  guten  und  im  schlimmen  Sinn  des  Worts.  Die  aristote- 
lische und  stoische  Dialektik  ist  sein  Element;  er  ist  in  seinen  Syl- 
h)gismen  ein  philosojiliirender  Advocat.  Au(;li  liierin  aber  ist  er  der 
Vorgänger  seiner  Kirche,  deren  Theologen  stets  mehr  raisonnirt  als 
philosophirt  haben.  Die  AVeise,  wie  er  zwischen  auctoritas  und  ratio 
abwechselt,   wie    er   sie  verbindet,   wie   er   aus   ihnen  Gedankenzüge 

'  Man  iJt])f;r]('fr('.  •/..  B.  einen  Satz,  vvi(^  den  Cvf)riaii'K,  de-  unit.  15:  „iusiitia  ojjus 
ent,  ut  jirornefcri  ()nis  possit  dfuin  iudicr'in." 


16  l)a8  abendläudische  Christenthum  vor  Au^ustin. 

herausspinnt,  die  formalistische  Behandhing  der  Probleme,  die  eine 
materiale  ersetzen  soll,  die  Ziel  und  Zweck  schliesslich  aus  den  Augen 
verliert  und  der  Täuschung  anheimfällt,  die  Sicherheit  des  Schlusses 
verbürge  die  Sicherheit  der  Prämissen  —  diese  aus  der  mittelalter- 
lichen Scholastik  nur  zu  wohl  bekannte  Methode  hat  schon  in  Ter- 
tullian  iliren  Anfänger  ^    In  der  klassischen  Zeit  der  morgenländischen 


*  Eine  Reihe  rechtlicher  Schemata,  die  TertulHaii  für  die  Dogmatik  und  Ethik 
.ire])ildet  hat,  sind  Bd.  1  S.  511  f.  524  f.,  Bd.  2  S.  286  If.  307  f.  aufoowicsen.  Neben 
der  Speculation  über  substantia,  persona  und  status  sind  es  namentlicli  die  Begrifl'e 
offende re,  satisfacere,  promcreri,  acceptare,  rependere  etc., diebeiilnn 
eine  grosse  Rolle  spielen.  Mit  der  rechtlichen  Betrachtung  der  Probleme  hängt  die 
abstracte  Verweisung  auf  die  Autorität  aufs  engste  zusammen ;  denn  einem  Gesetze  ge- 
horcht man  nicht,  weil  man  es  für  gut  und  richtig  befindet,  sondern  weil  es  Gesetz  ist. 
Diese  Haltung  Tertullian's,  zu  der  das  dialektische  Verfahren  und  das  Abwechseln 
zwischen  auctoritas  und  ratio  tritt,  ruft  an  vielen  Stellen  den  Eindruck  hervor,  als 
spräche  ein  mittelalterlicher  Katholik  zu  uns.  Für  jenes  Abwechseln  ist  namentlich 
die  Schrift  de  Corona  charakteristisch,  aber  s.  auch  adv.  Marc.  I,  23  f.  Derselbe 
Theologe,  der  de  paenit.  4  schreibt:  „Nos  jiro  nostris  angustiis  unum  inculcamus, 
bonum  atque  Optimum  esse  quod  deus  praecipit.  Audaciam  existimo  de  bono  divini 
praecepti  disputare.  Neque  enim  quia  bonum  est,  idcirco  auscultare  debemus,  sed 
quia  deus  praecepit.  Ad  exhibitionem  obsequii  prior  est  maiestas  divinae  potestatis, 
prior  est  auctoritas  iniperantis  (j[uam  utilitas  servientis"  (vergl.  Scorp,  2.  3;  de  fuga  4; 
de  cor.  2),  schreibt  de  paen.  1 :  „res  dei  ratio,  quia  deus  nihil  non  ratione  providit, 
nihil  non  ratione  tractari  intelligique  voluit."  Ueberhaupt  ist  die  Schrift  de  paenit. 
besonders  geeignet,  in  die  tertullianische  Denkweise  einzuführen.  Ich  werde  im 
Folgenden  das  AVichtigste  hervorheben  und  aus  anderen  Schriften  Tertullian's  Pa- 
rallelen l)eibringen.  Bemerkt  sei  zuvor,  dass  die  Schrift  schon  die  drei  Stücke  vera 
poenitentia  (deflere,  metus  dei),  confessio  und  satisfactio  hervorhebt  und  dann  die 
venia  seitens  des  offensus  deus  folgen  lässt. 

C.  2  bereits  begegnet  der  Ausdruck  „meritapaeuitentiae".  Ebendort  heisst  es: 
„ratio  salutis  c  er  tarn  form  am  tenet,  ue  bonis  umquam  factis  cogitatisve  quasi  vio- 
lenta  aliqua  manus  iniciatur.  Deus  enim  reprobationem  bonorum  ratam  non 
habens,  utpote  suorum,  quorum  cum  auctor  et  defensor  sit  necesse  est,  proinde  et 
acceptator,  si  acceptator  etiam  remunerator  .  .  .  .  bonum  factum  deum  habet 
debitorem,  sicuti  et  malum,  quia  iudex  omnis  remunerator  est  causae." 
(de  orat.  7:  „paenitentia  demonstratur  acceptabilis  deo",  auch  „commendatior" 
kommt  vor).  C.  3:  „admissus  ad  dominica  praecepta"  (der  Unterschied  von 
praecepta  und  consilia  dominica  ist  Tertulliau  geläufig,  s.  ad  uxor.  II,  1;  de 
coron.  4;  adv.  Marc.  II,  17.  Adv.  Marc.  I,  29  sagt  Tertullian,  man  dürfe  die  Ehe 
nicht  ganz  verwerfen,  weil  es  sonst  keine  verdienstliche  Heiligkeit  gebe ;  in  adv. 
Marc.  I,  23  ist  der  Unterschied  von  „debita"  und  „indebita  bonitas"  gemacht)  „ex. 
ipsis  statim  eruditur,  id  peccato  deputandum,  a  quo  deus  arceat."  C.  3:  „voluntas 
facti  origo  est" ;  es  folgt  eine  Untersuchung  über  velle ,  concupiscere ,  perficere. 
C.5:  „Ita  qui  per  delictorurApaeniteiitiaminstituerat  domiuo  satisfacere,  diabolo 
per  aliae  paenitentiae  paenitentiam  satisfaciet,  eritque  tanto  magis  perosus  deo, 
quanto  aemulo  eius  acceptus"  (s.  de  orat.  11 :  „fratri  satisfacere'",  18:  „diseiplinae 
satisfacere",  23:   „satisfacinuis  deo  doiniiu)  nostro'";  de  w'niu.  3,  de  pud.  9.   13,  ilo 


Das  Christenthum  und  die  Theologie  Tertullian's.  17 

Theologie  hat  man  nicht  bei  der  auctoritas  und  ratio  Halt  gemacht : 
man  suchte  der  auctoritas  die  inneren  überzeugenden  Momente  abzu- 

pat.  10.  13  etc.  etc.:  „peccator  patri  satisfacit",  nämlich  durch  seine  Bussübungen, 
s.  depud.  13:  „hie  iam  carnis  interitum  in  officium  paenitentiae  interpretantur,quod 
videatur  ieiuniis  et  sordibus  et  incuria  omni  et  dedita  opera  malae  tractationis 
carnem  exterminando  satis  deo  facere).   In  c.  5  wird  in  ganz  katholischer  Weise 
durchgeführt,  dass  der  timor  die  Grundform  des  religiösen  Verhältnisses  ist.  Hier, 
wie  an  unzähhgen  anderen  Stellen,  bewegt  der  „deus  ofifensus"  die  Seele  Tertullian's 
(s.  de  pat.  5 :  „hinc  deus  irasci  exorsus,  unde  offendere  homo  inductus").  Die  Furcht 
beherrscht  die  ganze  Busse  (de  iDaenit.  6:  „metus  est  instrumentum  paenitentiae"). 
Ueberhaupt  sind  „offendere  deum"  und  „satisfacere  deo"  die  eigentlichen  terniini 
technici,  s.  de  paen.  7 :  „offendisti,  sed  reconciliari  adhuc   potes ;  habes  cui  satis- 
facias  et  quidem  volentem."    C.  10 :  „intolerandum  scilicet  pudori,  domino  offenso 
satisfacere."    C.  11:  „castigationem  victus  atque  cultus  offenso  domino  praestare." 
Neben  satisfacere  steht  „deum  iratum,  indignatum  mitigare,  placare,  reconciliare." 
C.  6:  „omnes  salutis  in  promerendo  deo  petitores  sumus."  Zu  diesem  „promereri 
deum"  vgl.  Scorp.  6:  „quomodo  multae  mansiones  apud  patrem,  si  non  pro  varietate 
meritorum. . .  .porroet  sifidei  propterea  congruebat  sublimitati  et  claritatis  aliqua 
prolatio,   tale  quid  esse  oportuerat  illud   emolumeuti,   quod  magno  constaret 
labore,  cruciatu,  tormento,  morte  ...eadempretia  quae  et  merces."  Deorat.2: 
„meritum  fidei",  3:  „nos  angelorum,  si  meruimus,  candidati",  4:  „merita  cuiusque", 
de  paenit.  6:  „catechumenus  mereri  cupit  baptismum,  timet  adhuc  delinquere,  ne 
non  mereretur  accipere",  de  pat.  4:  „artificium  promerendi  obsequium  est,  obsequii 
vero  discifjlina  morigera  subiectio  est",  de  virg.  vel.  13:  deus  iustus  est  ad  remu- 
neranda  quae  soli  sibi  fiunt,"  de  exhort.  1 :  „nemo  indulgentia  dei  utendo  prome- 
retur,  sed  voluntati  obsequendo",  2:   „deus  quae  vult  praecipit  et  accepto  facit  et 
aetemitatis  mercede  dispungit",  de  pud.  10:  „paenitentiam  deo  immolare  ....  magis 
merebitur  fructum  paenitentiae  qui  nondum  ea  usus  est  quam  qui  iam  et  abusus  est," 
de  ieiun.  3:  „ratio  promerendi  deum"  [ieiunium  iratum  deum  homini  reconciliat,  c.  7], 
13:  „ultro  officium  facere  deo."    Wie  geläufig  und  wichtig  ist  überhaupt  dem  Ter- 
tullian  der  Gedanke,  Gott  einen  Dienst,  einen  Gefallen  zu  thun  oder  ihm  ein  Schau- 
spiel zu  bereiten!  Als  heidnischen  Gedanken  bezeichnet  er  zwar  Apolog.  11  den 
Satz:  „conlatio  divinitatis  meritorum  remunerandorum  fuit  ratio";  aber  er  kommt 
ihm  doch  selbst  nahe;  so  heisst  es  de  exhortat.  10:  „per  continentiam  negotiaberis 
magna m  substantiam  sanctitatis,  parsimonia  carnis  spiritum  acquircs."  Den 
Satz  der  „Laxen." :  „Christus  non  vicem  passionis  sitit"  weist  er  Scorp.  15  streng 
zurück;  er  selbst  sagt  de  pat.  16:   „rependamus  Christi  patientiam,  quam  pro 
nobis  ipse  dej)endit."   De  paenit.  6:  „quam  ])orro  ineptum,  quam  paenitentiam  non 
adimplere,  ei  veniam  deliotorum  sustinereV  Ifoc  est  pretium  non  exhibere, 
ad  rnercem  manurn  emitterc.  Hoceuiin  prctio  dominus  veniani  addicereiustituit; 
hac paenitentiae  compensatione  redimf^idam  i)ropouit  impunitatem"  (s. Scorp. 
6:  „nulli  comi>en8atio  invidiosa  est,  in  qua  aut  gratiae  aut  iuiuriae  communis  est 
ratio.")   In  c.  fJ  braucht  Tertullian   „imjjutare",  und  dieses  Wort  ist  überhaupt  bei 
ihm  neben  „reputarc"  nicht  ganz  selten;  in  c.  7  steht  „indulgentia"  (indulgcre),  und 
auch  diese  Begriffe  begegnen  liäufiger,  ebenso  „restituere"  (c.  7.  12:   „restitutio 
peccatoris").    De  pat.  8:  „tantum  relevat  confessio  delictorum,  quantum  dissi- 
mulatio   exaggf;rat ;   conf(;s8io    enirn   satisfactionis    consilium   est."      Da- 
zu c.  9:  „hui US  igitur  paenitentiae  secundae  et  unius  quanto  in  arto  negotium  est, 

llarnack,  Dogrnenjijeschichte  Hl,  2 

« 


18  r)as  al)Piull{in{li8eht>  Cliristoiitlium  vor  Auofiistin. 

gewinnen,  und  man  verstand  unter  ratio  die  von  der  Anschauung  der 
Sache  bestimmte  Vernunft.    Im  Abeiidkind  haben  auctoritas  und  ratio 


tanto  operosior  pi'übatio  (das  niuthet  schon  j^unz  luittelaltcrlich  an),  ut  uon 
sola  conscientia  praeferatur,  sed  ali(juo  etiani  acta  adiniuistretur.  Is  actus,  qui 
magia  Graeco  vocabulo  exprimitur  et  freriuentatur,  exoniologesis  est,  qua  delictum 
domino  uostrocontitemur,  nun  (piideni  ut  ii(naro,  sod  (juatenus  satisfactio  con- 
fesaioue  disponitur,  coufessiono  paenitentia  nascitur,  paenitentia  deus 
niitigatur."  Von  dieser  Exhoniologt'so,  dem  unter  Tliränen  sich  vollziehenden 
ßekeuntniss,  heisst  es  dann:  „comniendat  paenitentiam  deo  („commendare"  in 
diesem  Sinne  ist  häutig,  s.  z.  B.  da  virg.  vel.  14  und  de  pat.  13:  „patientia  corporis 
[Bussübungen]  precationes  commeudat,  deprecationes  altirmat;  haec  aures  Christi 
aperit,  clementiam  elicit")  et  temporali  al'ilictatione  aeterna  supplicia 
n  o  n  d  i  c  a  m  f  r  u  s  t  r  a  t  u  r  s  e  d  e  x  p  u  n  g  i  t. "  Auch  die  Vorstellung,  dass  in  der  Buss- 
ceremouie  die  Kirche  völlig  Christum  selbst  vertritt,  ist  bestimmt  bei  TertuUian  aus- 
geprägt, s.c.  10:  „in  uno  etaltero  ecclesiaest,  ecclesia  vero  Christus.  Ergo  cumte 
ad  t'ratrum  genua  protendis,  Christumcontrectas,Christumexoras."  Wie  er 
die  Verzeihung  im  Grunde  einzig  auf  die  „cessatio  delicti"  basirt,  zeigt  de  pudic.  10: 
„etsi  venia  est  paeniteutiae  fructus,  hanc  quoque  consistere  non  licet  sine  cessatione 
deliciti.  Ita  cessatio  delicti  radix  est  veniae,  ut  venia  sitpaenitentiae 
fructus."  Dazu  c.  2 :  „omne  delictum  aut  venia  dispungit  aut  jDoena,  venia  ex 
castigatione,  poena  ex  damnatione" ;  allein  in  der  „castigatio"  steckt  die  „satisfactio". 
De  pudic.  1  wird  der  bekannte  laxe  Erlass  des  Calixt  „liberalitas"  (venia)  genannt, 
d.h.  „Ablass".  N^och  sei  an  einige  Schemata  erinnert,  die  hier  einschlagen.  So 
das  häufig  gebrauchte  Schema  von  der  „militia  Christi"  und  dem  Fahneneid  (sacra- 
nientum).  So  das  höchst  charakteristische  Abwechseln  zwischen  „gratia"  und 
„voluntas  humana" ;  am  deutlichsten  de  exhort.  2 :  „non  est  bonae  et  solidae  fidei  sie 
omnia  ad  voluntatem  dei  referre  et  ita  adulari  unum  quemque  dicendo  nihil  fieri 
sine  nutu  eins,  ut  non  intellegamus,  esse  aliquid  in  nobis  ipsis  ...  Non  debemus 
quod  uostro  expositum  est  arbitrio  in  domini  referre  voluntatem"  ;  ad  uxor.  I,  8 : 
„quaedam  enim  sunt  divinae  liberalitatis,  quaedam  uostrae  operationis."  Ferner 
der  merkwürdige  Versuch  zwei  Willen,  einen  offenbaren  und  einen  verborgenen,  in 
Gott  zu  unterscheiden  und  diese  mit  den  praecepta  und  consilia  zu  identificiren, 
um  dann  freilich  schliesslich  den  „verborgenen",  resp.  „höhereu"  allein  gelten  zu 
lassen,  de  exhort.  2  f. :  cum  solum  sit  in  nobis  velle,  et  in  hoc  probatur  nostra  erga 
deum  mens,  an  ea  velimus  qüae  cum  voluntate  ipsius  faciunt,  alte  et  impresse  reco- 
gitandam  esse  dico  dei  voluntatem,  quid  etiam  in  occulto  velit.  Quae  enim  in  maui- 
festo  scimus  omnes."  Nun  folgt  eine  Ausführung  über  die  beiden  Willen  in  Gott, 
den  höheren,  verborgenen,  eigentlichen  und  den  niederen:  „deus  ostendens  quid 
magis  velit,  minorem  voluntatem  maiore  delevit.  Quantoque  notitiae  tuae  utram- 
que  proposuit,  tanto  definiit,  id  te  sectari  debere  quod  declaravit  se  magis  velle. 
Ergo  si  ideo  declaravit,  ut  id  secteris  (]uod  magis  vult,  sine  dubio,  nisi  ita  facis, 
contra  voluntatem  eins  sapis,  sapiendo  contra  potiorem  eins  voluntatem,  magistpie 
offendis  quam  promereris ,  quod  vult  quidem  faciendo  et  quod  mavult  respuendo. 
Ex  parte  delinquis;  ex  parte,  si  non  delhuiuis,  non  tamen  promereris.  Non  porro 
et  promereri  nolle  delincjuere  est?  Secundum  igitur  nuitrinionium,  si  est  ex  illa 
dei  voluntate  quae  indulgentia  vocatur  etc.  etc."  Andererseits  s.  ilie 
scharfe  Unterscheidung  von  Sünden  der  Unwissenheit  („natürliche  Sünden")  imd 
Sünden  der  „conscientia  et  voluntas,  ubi  et  culpa  sapit  et  gratia",  de  pud.  10. 


Das  Christentimm  und  die  Theologie  Tertullian's.  19 

(Verstand)  unvermittelt  sehr  lange  neben  einander  bestanden  (s.  die 
frühmittelalterlichen  Theologen  vonCassian  ab),  und  die  durch  Augustin 
und  die  Mystiker  eingeführte  Speculation  ist  schliesslich  wieder  elimi- 
nirt  worden,  wie  der  Sieg  des  Nominalismus  beweist.  Der  stoische, 
resp.  „aristotelische"  Rationalismus,  verbunden  mit  der  Anerkennung 
der  empirischen  Autorität  unter  der  Hülle  augustinischer  religiöser 
Formeln,  ist  das  Charakteristische  der  römisch-kathohschen  Dogmatik 
und  Moral  geblieben  K 

Allein  die  abendländische  Denkweise  besass  daneben  doch  ein 
Element,  in  welchem  sie  der  morgenländischen  bedeutend  überlegen 
war,  die  psychologische  Betrachtung.  Welche  Bedeutung  in  dieser 
Hinsicht  Augustin  zukommt,  ist  in  neuerer  Zeit  besser  als  früher 
erkannt  worden,  und  in  Bezug  auf  den  Antheil  der  Scholastik  an  der 
Ausbildung  der  modernen  Psychologie  dürfen  wir  besseren  Erkennt- 
nissen entgegensehen  ^.  Bei  Augustin  selbst  ist  der  stoische  Batio- 
nahsmus  stark  in  den  Hintergrund  gedrängt  durch  das  höchste  Be- 
streben, die  Psychologie  des  Moralischen  und  Unmoralischen,  des 
Frommen  und  Unfrommen  auf  Grund  wirklicher  Beobachtung  fest- 
zustellen. Seine  Grösse  als  Mann  der  theologischen  Wissenschaft 
liegt  wesentlich  in  dem  psychologischen  Element.  Aber  auch  schon 
bei  Tertullian  kündigt  sich  das  an.  Als  Moralist  folgt  er  freilich, 
soweit  er  Philosoph  ist,  dem  Dogmatismus  der  Stoa*  aber  die  stoische 
Physik  vermochte  zu  einer  empirischen  Psychologie  überzuleiten.  In 
dieser  Hinsicht  ist  TertuUian's  grosse  Schrift  „de  anima"  eine  höchst 
bedeutende  Leistung.  Sie  enthält  Keime  von  Einsichten  und  Bestre- 
bungen, die  nachmals  sich  entftütet  haben,  und  auch  ein  anderer  Abend- 
länder vor  Augustin,  Arnobius,  hat  in  der  psychologischen  Auffassung 
der  Probleme  Besseres  geleistet,  als  die  grossen  Theologen  des  Morgen- 
landes^. Vor  Augustin  ist  diese  Richtung  der  abendländischen  Theologie 
allerdings  schwach  geblieben,  weil  der  Eklekticismus  und  Moralismus, 

'  Auch  Augustin  hat  an  unzähligen  Stellen  seit  den  Schriften  de  ordiue  (s. 
JI,  26:  ad  discendum  necessarie  du])licit(!r  ducimur,  auctoritate  atque  ratione)  und 
de  Vera  religione  (45 :  anirnae  medicina  distril>uitur  in  auctoritatem  atque  rationera) 
die  Ijeideii  liegriHV;  v(!rwerthet. 

'^  S.  Kahl,  Die  Lehre  vom  Primat  des  Willens  ]jei  Augustiu,  Duas  Scotus  und 
Descart(!S  1880,  how'w.  dut  Arbeiten  von  Sieljcck,  vgl.  desselben  Abhandlung: 
„Die  Anfängf!  der  neueren  Psychologie  in  der  Scliohistik"  in  d,  Ztschr.  f.  Philos.  u. 
Philosoph.  Kritik.  Neue  P'olge.  (nj.Pfl.  S.  101  fV.  u.  Dilthey's,  Eitil.  in  d.üeistes- 
wisH.  Hd.  I. 

*  S.  Franko,  Die  Psychologif;  und  Erkenntnisslehre  des  Arnobius  1878,  wo 
der  Empirismus  und  Kriticismus  dieses  freilich  eklektischen  Theologen  richtig  her- 
vorgeholif'Ti  ist. 

2* 


20  ^^'^^  abpiulläiiclisclie  (.'hristcMitlunii  vor  Au^ustiii. 

wie  sie  namentlich  Cicero  in  Curs  gesetzt  hatte,  eben  durch  die  Lee- 
türe des  Cicero  die  Oberhand  behielten  ^ 

Noch  ein  Element  ist  schliesshch  zu  nennen,  welches  die  Aus- 
prägungen des  abendländischen  Christenthums  von  den  morgenländi- 
schen unterscheidet,  welches  aber  schwer  in  ein  Wort  zu  fassen  ist. 
Man  hat  vielfach  von  der  praktischeren  Haltung  jenes  gesprochen. 
Allein  auch  im  Morgenland  wird  das  Christenthum  so  „praktisch" 
ausgeprägt  worden  sein,  wie  es  die  Morgenländer  bedurften.  Was 
hier  gemeint  ist,  hängt  mit  dem  Fehlen  des  speculativen  Zuges  im 
Abendland  zusammen.  Ihm  ist  es  zuzuschreiben,  dass  das  Abendland 
nicht  vor  Allem  die  Vergottung  und  desshalb  die  Askese  im  Auge 
gehabt  hat,  sondern  das  wirkliche  Leben  bestimmter  berücksichtigte, 
desshalb  aber  auch  dem  Evangelium  das  in  höherem  Masse  abgewann, 
was  dieses  Leben  zu  normiren  und  zu  corrigiren  vermochte.  So  er- 
scheint uns  das  abendländische  Christenthum  von  Anfang  an  sowohl 
volksthümlicher,  biblischer  als  auch  kirchlicher.  Es  mag  sein,  dass  an 
diesem  Eindruck  unsere  Abstammung  von  diesem  Christenthum  den 
grössten  Antheil  hat,  und  dass  wir  ihn  daher  einem  Griechen  niemals  zu 
übermitteln  vermögen  ^ ;  aber  unleugbar  ist  doch,  dass,  wie  die  lateini- 
sche Kirchensprache  vom  Ursprung  her  volksthümlicher  als  die  griechi- 
sche ist,  die  stets  etwas  hieratisches  behalten  hat,  so  es  auch  den 
Abendländern  in  höherem  Masse  gelungen  ist,  die  Worte  des  Evan- 
gehums  in  Wirksamkeit  zu  setzen.  Für  beides  ist  wiederum  schon 
auf  TertuUian  zu  verweisen.  Es  ist  ihm  vergönnt  gewesen,  was  wenigen 
christlichen  Schriftstellern  vergönnt  ist,  für  Theologen  und  Nicht- 
theologen  anziehend  zu  schreiben.  Sein  volksthümlich  erfrischter  Stil 
muss  höchst  wirksam  gewesen  sein.  Andererseits  vermochte  er  in 
Schriften  wie  de  patientia,  de  oratione,  de  paenitentia  oder  de  ido- 
lolatria  dem  Evangelium  einen  concreten  und  schlichten  Ausdruck  zu 
geben,  und  auch  in  vielen  seiner  gelehrten  und  polemischen  Schriften, 
die  von  Paradoxien,  Antithesen,  rhetorischen  Figm-en,  frostigen  Sen- 
tenzen und  wilden  Uebertreibungen  angefüllt  sind,  wird  man  die  reine 
und  treffende  Anwendung  evangelischer  Sprüche  nicht  vermissen,  über- 


*  Man  vergleiche  namentlich  Minucius  Felix  und  Lactantius. 

2  Umgekehrt  ist  es  wohl  verständlich,  dass,  wer  von  den  Idealen  des  klassi- 
schen Alterthums  herkommt  und  diese  in  sich  aufgenommen  hat,  an  Mäimeru  wie 
Clemens  Alex.,  Origenes  und  Gregor  von  Nazianz  mehr  Gefallen  finden  wird,  als  au 
TertuUian  und  Augustin,  Allein  diese  Sympathie  wird  weniger  dem  Oliristlichen 
jener  Gelehrten  gelten.  Durch  den  Ausdruck  des  religiösen  Gemüthslebens  der 
Griechen  werden  wir  unmittelbar  nicht  mehr  bewegt,  während  uns  Aussprüche  Ter- 
tullian's  und  Augustin's  ins  Herz  treften. 


Das  Christ enthum  und  die  Theologie  Tertullian's.  21' 

raschend  nur  durch  ihre  Einfachheit  und  dort^  wo  der  Gedanke  einen 
höheren  Schwung  nimmt^  nicht  selten  bereits  an  Augustin  erinnernd  '. 
Das  Christenthum  und  die  Theologie  Tertulhan's^  deren  Elemente 
wir  hier  zu  charakterisiren  versucht  haben,  standen  doch  vor  Allem 
unter  dem  Zeichen  der  urchristlichen  Hoffnung  und  der  urchristlichen 
Moral.  Was  er  selbst  als  sein  Innerstes  empfand,  war  in  diesen  be- 
schlossen. Beide  Momente  finden  sich  wieder  in  einem  grossen  Theil 
der  lateinischen  Litteratur  des  3.  und  4.  Jahrhunderts  (erste  Hälfte), 
die  zum  Theil  unter  dem  Namen  des  Cyprian  steht  und  noch  wenig 
erforscht  ist,  zum  Theil  bekannten  Männern  angehört.  Von  antignosti- 
scher  Dogmatik  sind  hier  kaum  Spuren  zu  finden;  dagegen  ist  die 
Apokalyptik  höchst  lebendig  ausgebildet  und  die  Moral,  häufig  in 
stoischer  Färbung,  streng  gefasst  ^.    Die  ganze  reiche  Schrift  st  eller  ei 

^  Nicht  nur  ist  Tertullian  der  Unterschied  von  „natura"  und  „gratia"  (z.  B. 
de  anima  21),  resp.  von  „gratia"  und  „virtus"  geläufig,  nicht  nur  hat  er  —  in  den 
späteren  Schriften  —  auf  das  Fortwirken  der  Sünde  Adams  und  die  Uebertragung 
des  Todes  grosses  Gewicht  gelegt  (s.  de  exhort.  2;  adv.  Marc.  I,  22;  de  pud.  6.  9; 
de  ieiun.  3.4:  „mors  cum  ipso  genere  transducta",  „primordiale  delictum  expiare", 
vgl.  den  Ausdruck  „vitium  originis"),  sondern  es  finden  sich  auch  viele  einzelne 
Gedanken  und  Sätze  bei  Tertullian,  die  an  Augustin  erinnern.  De  orat.  4 :  „summa 
est  voluntatis  dei  salus  eorum,  quos  adoptavit".    De  pat.  1 :  „bonorum  quorundam 
intolerabilis  magnitudo  est,  ut  ad  capienda  et  praestanda  ea  sola  gratia  divinae  in- 
spirationis  operetur.   Nam  quod  maxime  bonum,  id  maxime  penes  deum,  nee  alius 
id,  quam  qui  possidet,  dispensat,  ut  cuique  dignatur."  De  paenit.  2  :  „bonorum  unus 
est  titulus  salus  hominis,  criminum  pristinorum  abolitione  pracmissa."    De  pat.  12: 
„dilectio  summum  fidei  sacramentum,  Christiani  nominis  thesaurus."    De  orat.  4: 
Um  Gottes  Willen  zu  erfüllen  „opus  est  dei  voluntate  .  .  .  Christus  erat  voluntas  et 
potestas  patris,"  5:  „quidquid  nobis  optamus,  in  illum  auguramur,  et  illi  deputamus, 
quod  ab  illo  exspectamus."  9 :  „deus  solus  docere  potuit,  quomodo  se  vellet  orari." 
De  paenit.  2 :  „quod  homini  proficit,  deo  servit."    4 :  „rape  occasionem  inopinatae 
felicitatis,  ut  ille  tu,  nihil  (juondam  penes  deum  nisi  stilla  situlae  et  areae  pulvis  et 
vasculum  figuli,  arbor  exinde  fias  illa  quae  penes  aquas  seritur  etc."    4:  „obsequii 
ratio  in  bimilitudine  aüimorum  constituta  est."    De  orat.  7  :  „debitum  in  scripturis 
delicti  figura  est."  De  bapt.  6:  „exempto  reatu  eximitur  et  poena."    De  pud.  22: 
„quis  alienam  mortem  sua  solvit  nisi  solus  dei  filius."    Den  Satz  „peccando  prome- 
remur"  (de  pud.  10)  hat  Tertullian  seinen  kirchlichen  Gegnern  imputirt.  Die  reli- 
giösen Elemente  in  Tertullian's  Denkweise  scheinen  —  abgesehen  von  den  neu- 
testamentlichen  Schriften  —   auch  durch  die  Lectürc  der  Schriften  Seneca's 
bestimmt  zu  sein.    In  diesen  ist  die  stoische  Moral  durch  eine  wirklich  religiöse  Em- 
pfindung und  Betrachtung  vertieft  und  zum  Theil  ül)erwunden,  so  dass  von  hieraus 
der  l lebergang  zu  dem  paulinischen  Christenthum  möglich  war.   Seneca  hat  aber 
auf  die  Abendländer  überhaupt  eingewirkt,  s.  Minucius  Felix  und  Hieron.,  de  vir. 
inl.  12. 

'''  Vgl.  die  Charakteristik  des  Christenthums  des  Connnodian,  Arnobius,  Lac- 
lantius  Bd.  1  S,  HH8  ff.  D(!m  Novatian  ist  von  Seiten  der  (iegner  der  Stoicismus 
/um   Vorwurf  gemacht  worden.    Mehrere  der  unter  Cyprian's  Namen  stehenden 


22  Das  abendländische  Christenthum  vor  Augustin. 

lind  (loginatische  Beiniiliiuig  des  Hii)polyt  scheint  für  das  Abendland 
von  Anfang  an  und  völlig  verloren  gewesen  zu  sein. 

Aber  auch  Tertullian  hat  sich  durch  seinen  Montanismus  schliess- 
lich um  die  directe  Wirksamkeit  in  der  Kirche  gebracht.  Das,  was  er 
erarbeitet  hat,  ging  auf  Cyprian  über  und  ist  von  diesem,  freilich  mit 
starken  Verkürzungen  und  Abschwächungen,  in  Curs  gesetzt  worden. 
Cyprian  wurde  für  die  Z e i t  v o n  260  bis  A  m b r  o  s i u s ,  ja 
eigentlich  bis  August  in  und  Hieronymus,  der  lateinische 
Kirchenschriftsteller  %a.z  s^o^'^v.  Alle  die  bekannten  und  un- 
bekannten lateinischen  Schreiber  neben  und  nach  ihm  haben  nur  eine 
beschränkte  Wirkung  gehabt :  Cyprian  hat  die  folgenden  120  Jahre  der 
abendländischen  Kirche  als  erbaulicher  und  normativer  Schriftsteller 
beherrscht  wie  ein  Souverän.  Seine  Autorität  stand  dicht  neben  der 
der  hl.  Schriften,  und  sie  dauerte  noch  zu  Augustinus  Zeit  fort  ^ 

Einen  eigenen  theologischen  Gedanken  hat  Cyprian  kaum  gehabt ; 
denn  auch  die  Schrift  „de  unitate  ecclesiae"  ruht  auf  Gesichtspunkten, 
die  theils  den  älteren  katholischen  Vätern  entnommen,  theils  von  der 
römischen  Kirche,  in  der  sie  heimisch  waren,  entlehnt  sind.  In  der 
höchst  massgebenden  Schrift  „de  opere  et  eleemosynis"  sind  die  ter- 
tullianischen  Gedanken  von  dem  Verdienst  und  der  Satisfaction  streng 
ausgebildet  und  fast  ohne  Rücksicht  auf  die  Gnade  Gottes  in  Christo  der 
Busspraxis  zu  Grunde  gelegt.  Das  ist  vielleicht  überhaupt  die  höchste 
Bedeutung  Cyprian's,  dass  er,  durch  die  Folgen  des  decianischen  Stur- 
mes bestimmt,  das,  was  nachmals  Busssacrament  genannt  worden  ist, 
begründet  hat  —  freilich  mehr  von  den  Verhältnissen  geschoben  als  sie 


Schriften  sind  sehr  alt  und  für  die  Kenntniss  des  alten  lateinischen  Christenthums 
wichtig.  Ich  habe  das  an  dem  Tractat  de  aleatoribus  dargethan  (Texte  und  Unters. 
V,  1)',  aber  man  lese  auch  die  Schrift  „de  duobus  montibus",  um  ein  Bild  von  der 
theologischen  Einfalt  und  dem  Archaistischen  dieser  Lateiner  zu  gewinnen.  Und 
doch  ist  dem  Verfasser  der  genannten  Abhandlung  die  Formulirung  gelungen  (c.  9) : 
„Lex  Christianorum  cnix  est  sancta  Christi  filii  dei  vivi."  Am  lehrreichsten  sind 
die  Instructionen  Commodian's.  Charakteristisch  ist  für  diese  ganze  Litteratur  der 
grosse  Einfluss  des  Hirten  des  Hermas  und  demgemäss  auch  die  Richtung  des  Inter- 
esses auf  die  Kirche.  Fort  und  fort  beschäftigten  sich  auch  die  ungebildeten 
Schriftsteller  mit  ihr;  s.  das  karthag,  Symbol:  „credo  remissionem  peccatorum  per 
sanctam  ecclesiam." 

^  S.  einen  kurzen  Nachweis  hierfür  in  meinen  Texten  und  Unters.  V,  1  S.  2. 
Für  die  Bekanntschaft  auch  des  Orients  mit  Cypri.iu  hat  Pitra  in  den  Analecta 
Sacra  neues  Material  beigebracht.  Die  unvergleichliche  Autorität  Cyprian's  im 
Occident  wird  vornehmlich  durch  Lucifer,  Prüden tius,  Optatus,  Pacian,  Hierouynms, 
Augiistin  und  das  Mo  mm  sc  n 'sehe  Verzcichniss  der  hl.  Schriften  bezeugt.  Der 
Stuhl  von  Karthago  hiess  in  der  Folgezeit  „cathedra  Cypriani",  wie  der  Stuhl  von 
Rom  „cathedra  Petri".  Optat.  I,  10. 


Cyprian  und  das  von  ihm  bestimmte  Christenthum.  23 

beherrschend  und  dazu  römischen  Einflüssen  nachgebend,  die  schon  seit 
Calixt  in  dieser  Richtung  wirkten.  Die  Herrschaft  der  Hierarchie  in 
der  Kirche  auf  den  Gebieten  des  Sacraments,  des  Opfers  und  der  Dis- 
ciphn  hat  er  festgestellt,  den  EpiskopaUsmus  besiegelt,  die  Auffassungen 
von  einem  Rechtsverhältniss  des  Menschen  zu  Gott,  von  dem  Gnaden- 
mittel der  Busswerke,  von  den  satisfactorischen  Sühnleistungen  des 
Christen  eingebürgert,  auch  schon  die  klerikale  Sprache  geschaffen  mit 
ihrer  feierlichen  Würde,  dem  kaltblütigen  Zorn  und  dem  Missbrauch 
biblischer  Worte  zur  Deutung  und  Kritik  der  Zeitverhältnisse  —  eine 
Umbildung  des  tertullianischen  Sprachgeistes.  Das  Interesse,  welches 
Tertulhan  an  der  antignostischen  Theologie  genommen  hat,  hat  Cyprian 
keineswegs  geerbt.  Er  ist,  wie  alle  grossen  Kirchenfürsten,  Theologe, 
nur  soweit  er  Katechet  ist.  Um  so  fester  hält  er  an  dem  Symbolum 
und  weiss  in  wenigen  Worten  seinen  unzweifelhaften  Inhalt  anzugeben 
und  es  auch  gegen  verwandte  Richtungen,  wde  die  desNovatian,  geschickt 
zu  kehren. 

Das  hatte  man  von  Rom  gelernt,  wo  man  schon  seit  dem  Ende  des 
2,  Jahrhunderts  gegenüber  den  bunten  Lehrmeinungen  einwandernder 
morgenländischer  Christen  das  „apostolische"  Symbolum  mit  Virtuosität 
und  Tact  handhabte.  Die  römischen  Bischöfe  des  3.  Jahrhunderts 
haben  sich  nicht  auf  dogmatische  Dispute  eingelassen;  die  beiden  ein- 
zigen, die  es  versuchten  und  der  Kirche  unzweifelhaft  grosse  Dienste 
geleistet  haben,  Hippolyt  und  Novatian,  haben  sich  die  Sympathien  des 
Klerus  und  der  Majorität  nicht  erhalten  können.  Man  lebte  als  Christ 
im  Abendland  nicht  im  Dogma,  sondern  man  war  der  kurzen  „lex"  ge- 
horsam, die  das  Symbol  darstellte  *,  imponirte  dem  Morgenland  durch 
die  Sicherheit,  in  der  man,  wenn  es  nöthig  war,  in  dogmatischen  Fragen 
Stellung  nahm ,  einem  eigenen ,  von  Tertullian  gebildeten  und  von 
Novatian  ausgeführten  Schema  in  der  Trinitätslehre  und  der  Christo- 
logie  folgend'^,  und  arbeitete  daneben  an  der  Befestigung  des  Kirchen- 


*  Welche  Verdrehungen  man  sich  erlaubte,  um  den  Christen  als  an  die  „lex" 
gebunden  darzustellen,  zeigt  z.B.  die  Ausführung  in  der  pseudocyprianischen  Schrift 
de  XII  abusiris  saeculi  e.  12:  „dum  Christus  finis  est  legis,  (jui  sine  lege  sunt,  sine 
Christo  sunt;  igitur  ]K)pulus  sine  lege  ))()f)nhis  sine  Christo  est."  Dom  gegenüber  sind 
Erkenntnisse  wie  die,  welche  Tertullian  beiläufig  (de  spcct.  2)  ausspricht,  dass  der 
natürliche  Mensch  „deum  non  novit  nisi  naturali  iure,  non  ctiam  familiari"  ohne 
Wirkung  geblieben. 

-  S.  darübor  P>d.  I  S.  51 1  f.  5413  f.  und  im  IT.  Bd.  an  verschiedenen  Sterilen;  vgl. 
Reuter,  Auguslin.  Studien  S.  J53— 2.'J0.  Da  die  Einsicht  in  den  straffen  Zusam- 
menhang des  H(;ilsguts  (öcfiV/.pota)  und  der  Menschwerdung  dem  Abendland  nie 
ganz  aufgegangen  ist,  so  ist  ein  rationalistisches  Element  in  Bezug  auf  die  Person 
Christi,  welches  sich  dann  im  Pelagianismus  völlig  enthüllt  hat,  hier  stets  vorhanden 


24  Das  abendländische  Christenthum  vor  Au^ustin. 

Wesens,  an  der  Ausbilclung  einer  erfüllbaren  kircliliclien  Sittenregel, 
sowie  an  der  Disciplinirung  nnd  Erziehung  der  Gemeinde  durch  den 
Gottesdienst  und  die  Bussordnungen  K  Wie  man  hier  Strenge  und 
Milde  zu  paaren  verstand,  die  Christenheit  gegen  die  Welt  abgrenzte, 
aber  ein  Leben  in  der  AVeit  ermöglichte  und  selbst  den  gröbsten  Sün- 
dern noch  nachging,  zeigen  die  Kanones  von  Elvira.  Ein  geschlossenes, 
fast  militärisch  organisirtes  Kirchenwesen  war  die  Folge.  An  seiner 
Spitze  stand  der  römische  Bischof,  der  trotz  des  in  abstracto  gleichen 
Rechtes  aller  Bischöfe  doch  eine  einzigartige  Stellung  einnahm,  nicht 
nur  als  Repräsentant,  sondern  auch  als  wirksamer  Vertreter  der  kirch- 
lichen Einheit,  die  jedoch  durch  den  Novatianismus,  dann  durch  den 
Donatisnms,  schwer  erschüttert  wurde. 

Als  Konstantin  der  Kirche  Duldung  und  Privilegien  verlieh  und 
den  freiesten  Verkehr  der  Landeskirchen  ermöglichte,  war  Rom  bereits 
wieder  eine  lateinische  Stadt,  die  römische  Gemeinde  eine  völlig  lateinische 
geworden,  und  auch  sonst  im  Abendland  war  das  einst  so  mächtige 
griechische  Element  zurückgetreten.  Man  wusste  es  allerdings  dort 
nicht  anders,  als  dass  man  mit  dem  Morgenland  eine  Kirche  bilde*, 
man  war  auch  wirklich  in  den  Grundgedanken  der  Lelu-e  von  Gott,  von 
Christus  und  vom  ewigen  Heil  mit  der  Richtung  des  Morgenlandes, 
welche  Athanasius  vertrat,  einig.  Aber  die  Interessen  gingen  doch  viel- 
fach auseinander  und  factisch  verstand  man  sich  wenig  mehr,  zumal 
seitdem  im  Morgenland  die  kappadocisclie  Orthodoxie  zum  Siege  kam. 
Die  Schwächung  der  Centralgewalt  hatte  seit  der  Mitte  des  3.  Jahr- 
hunderts alle  Provinzen  wieder  sich  selbst  zurückgegeben  imd  damit 
das  Nationalitätsprincip  entbunden,  welches  überall  zu  einer  völligen 
Reaction  des  Particularismus  gefühi-t  hätte,  wenn  nicht  einzelne  ki-aft- 
voUe  Regenten,  die  Völkerwanderungen  und  die  Kirche  diesem  einen 
Damm  entgegengesetzt  hätten,  der  sich  freilich  im  Morgenland  schliess- 
lich als  zu  schwach  erwies. 

Die  grossen  dogmatischen  Kämpfe  waren  es,  welche  die  Landes- 
kirchen nöthigten,  über  ihre  eigenen  Grenzen  zu  blicken.  Aber  die 
Theilnahme  des  Westens  für  den  Osten  —  in  umgekehrter  Richtung 
hat  sich  nie  ein  lebendiges  Literesse  entwickelt"-^  —  ist  keine  allgemeine 

gewesen.  Das  Abendland  hat  sein  eigenes  Schema  in  Bezug  auf  Christus  erst  vol- 
lendet, nachdem  es  die  in  derBussdiscipliu  gewonneneu  Auftassimgen  auf  das  Werk 
Christi  übertragen  hatte.   Das  ist  aber  sehr  allmählich  geschehen. 

*  Sehr  lehrreich  sind  auch  hier  die  Instructionen  Commodian's. 

"^  Eine  Ausnahme  von  kurzer  Dauer  bildet  das  Interesse  der  Antiochener  für 
das  abendländische  Schema  der  Christologic  im  eutychianischen  Streit;  s.  die  Brief- 
sammlung des  Theodoret  und  seinen  Eranistes,  sowie  die  AWu-ke  Thood(.>r's  von 
]N|opsueste. 


Das  4.  Jahrhundert.   Das  Abendland  vom  Moroenland  beeinflusst.  25 

und  natürliche  mehr  gewesen.  Sie  ist  in  der  Regel  aus  zeitweiligen  Nö- 
thigungen  oder  aus  herrschsüchtigen  Absichten  entsprungen.  Dennoch 
ist  sie  von  unsägUcher  Bedeutung  für  die  abendländische  Theologie  ge- 
worden ;  denn  auf  Grund  der  Beziehungen  mit  dem  Orient,  in  welche 
der  arianische  Kampf  die  abendländische  Kirche  brachte,  sind  abend- 
ländische Christen  dazu  geführt  worden,  sich  zwei  grosse  Erscheinungen 
der  morgenländischen  Kirche  näher  zu  betrachten,  die  wissenschaft- 
liche (origenistis  che)  Theologie  und  das  Mönchthum. 

Es  mag  nun  gleich  hier  gesagt  sein,  dass  die  so  entstandene  Be- 
rührung und  Beeinflussung  sclüiesslich  den  Geist  und  die  Richtung  der 
abendländischen  Kirche  im  Tiefsten  nicht  verändert  haben.  Sofern 
eine  dauernde  Veränderung  im  5.  Jahi'hundert  eingetreten  ist,  ist  sie 
nicht  von  hier  abzuleiten.  Aber  als  Einschlag  kann  das  Capital 
und  der  Impuls,  den  man  vom  Orient  erhielt,  nicht  hoch  genug  ge- 
weiihet  werden.  Man  braucht  nur  die  Schrift  st  ellerei  der  von  den 
Griechen  nicht  beeinflussten  lateinischen  Theologen  ^  mit  der  des  Hila- 
rius,  Victorinus  Rhetor,  Ambrosius,  Hieronymus,  Rufln  und  der  von 
ihnen  abhängigen  Schriftsteller  zu  vergleichen,  um  den  ungeheuren  Ab- 
stand zu  erkennen.  Die  exegetisch-speculative  Wissenschaft 
der  Griechen  wurde  in  das  Abendland  importirt,  dazu  das  Mönch- 
thum und  das  Ideal  gottinniger  Yirginität  als  die  praktische  Anwen- 
dung dieser  „Wissenschaft". 

Für  beides  war  das  Abendland  nicht  disponirt,  und  da  Verän- 
denmgen  der  Regeln  für  das  praktische  Leben  sich  immer  am  schwersten 
durchsetzen,  kostete  die  Einbürgerung  des  Mönchthums  erbitterte 
Kämpfe^.  Aber  bei  den  geistigen  Führern  des  Abendlandes  setzte 
sich  das  Ideal  der  Yirginität  in  dem  Sinne  desLiebesbundes  mit  Christus 
sehr  bald  durch  (schon  früher  Cypr.  de  hab.  virg.  22:  „virginibus 
nee  maritus  dominus,  dominus  vester  ac  caput  Christus  est  ad  instar 
et  vicem  masculi")-^  und  gewann  durch  Ambrosius  dieselbe  Bedeu- 
tung für  das  Abendland,  die  es  für  das  Morgenland  durch  die  Aus- 
legungen des  Hohenliedes  (Origenes)  und  durch  Methodius  gewonnen 
hatte.  Ja,  erst  im  Abendlandc  wurde  das  Ideal  so  zu  sagen  individuali- 
sirt  und  erzeugte  eine  Fülle  von  Formen,  in  denen  es  sich  mit  der 


'  Z.  B.  des  Lucifcr,  soweit  er  den  (iricchen  nicht  einfach  naclisj)richt;  s.  über 
seine  „Theologie**  die  Monographie  Krüger 's  1886. 

■^  S.  Jovinian  und  Yigilantius,  sowie  die  Kämpfe  des  Mönchthums  in  Spanien 
nnd  (tallien  (vgl.  die  Werke  des  Sulpicius  Scverus). 

■'  Früher  hiess  es  von  der  Kirche  (Cypr.,  de  unit.  H) :  ^sponsa  Christi,  unins 
cnbiculi  sanctitatem  casto  pudr)re  (nistodit."  Später  wurde  dieser  unschöne (Tcdankc 
auf  die  einzelne  Seele  übertragen  und  damit  der  erotische  Spiritualismus  erzeugt. 


26  üas  abendläudische  Christenthuin  vor  Augustin. 

passioiiirten  (>hristusliebc  vermählte  oder  diese  hervorrieft  Die  theo- 
logische Wissenschalt  dei*  (irieclieii  Hess  sich  nicht  einbürgern,  selbst 
wenn  der  Moment  minder  ungünstig  gewesen  wäre  —  gerieth  ihr 
Ansehen  ja  doch  gerade  damals  im  Orient  selbst  ins  Schwanken,  nach- 
dem die  Kappadocier  auf  kurze  Zeit  Glauben  und  Wissen  versöhnt 
zu  haben  schienen.  AVo  man  sich  einmal  gewöhnt  hat,  einen  Complex 
von  Gedanken  als  unverbrüchliches  Gesetz,  als  llechtsordnung,  anzu- 
sehen, da  ist  es  nicht  mehr  möglich,  für  ihn  dauernd  die  innere 
Theilnahme  zu  erwecken,  welche  an  den  Gebieten  haftet,  in  denen  das 
geistige  Leben  sich  abspielt,  und  wenn  es  wirklich  gelingt,  ihm  eine 
gesicherte  Stellung  zu  verschaÖen,  so  ninunt  doch  seine  Behandlung 
einen  anderen  Charakter  an:  man  ist  ihm  gegenül)er  unfrei.  In  der 
That  ist  das  Abendland  dem  eigentlichen  Dogma  gegenüber  stets  un- 
freier gewesen  als  das  Morgenland  in  der  klassischen  Zeit  der  kirch- 
lichen Theologie.  Man  dachte  im  Abendland  über  und  hin  und  her 
wider  das  Dogma;  aber  in  demselben  dachte  man  wenig. 

Allein  —  wie  gross  ist  doch  das  Capital,  welches  die  Griechen- 
schüler, vorzüglich  Hilarius,  Ambrosius  und  Hieronymus,  dem  Abend- 
land aus  dem  Orient  gerettet  haben  ^  zu  einer  Zeit,  da  die  griechische 
Sonne  den  Westen  bereits  nicht  mehr  erwärmte!  In  dem,  was  sie  an 
philosophischen,  historischen  und  theologischen  Elementen  in  das  Abend- 
land übergeführt  haben,  liegt  auch  eine  der  Wurzeln  Augustin' s. 
Er  hat  von  dem  Schüler  der  Kappadocier,  Ambrosius,  exegetisch- 
speculative  AVissenschaft  gelernt  und  sich  nur  mit  ihrer  Hülfe  aus 
dem  Manichäismus  befreit.  Er  hat  sich  in  der  neuplatonischen  Philo- 
sophie der  Griechen  heimisch  gemacht,  und  hier  sind  ihm  die  AVerke 
eines  anderen  Griechenscliülers,  des  V  i  c  t  o  r i  n  u  s  R  h  e  t  o  r ,  zu  Hülfe 

*  S.  die  Ausführungen  Bd.  II  S.  9ft'.  Den  lateinischen  Schriftstellern  am  Ende 
des  4.  Jahrhunderts  ist  die  Vorstellung  des  IMethodius  ganz  geläufig,  dass  in  jedem 
Christen  Christus  geboren  werden  muss,  und  dass  man  sich  nur  so  das  Erlösungs- 
werk aneignen  kann.  So  singt  Prudentius:  „Virginitas  et  prompta  fides  Christum 
bibit  alvo  cordis  et  intactis  condit  paritura  latebris."  Ambrosius,  Exposit.  in  ev. 
sec.  Luc.  1.  II  c.  26 :  „Yides  non  dubitasse  Mariam,  sed  credidisse  et  ideo  fructum 
fidei  consecutam  .  .  .  Sed  et  vos  beati,  qui  audistis  et  credidistis-,  quaecunque  enim 
crediderit  anima  et  concipit  et  generat  dei  verbum  et  opera  eins  agnoscit.  Sit  in 
singulis  Mariae  anima,  ut  magnificet  dominum ;  sit  in  singulis  spiritus  Mariae,  ut 
exultet  in  deo.  Si  secundum  carnem  una  mater  est  Christi,  secundum  fidem 
tarnen  omni  um  fructus  est  Christus.  Onmis  enim  anima  accipit  dei  verbum, 
si  tamen  inmiaculata  et  immunis  a  vitiis  iutemerato  castimoniam  pudore  custodiat." 

^  Von  dem  älteren  Vermittler  griechischer  Exegese,  Victorin  von  Pettau,  ist 
abzusehen,  da  bei  ihm  trotz  aller  Abhängigkeit  von  Origenes  der  lateinische  Geist 
die  Oberhand  hatte  und  auch  seine  Wirksamkeit  eine  beschränkte  gewesen  zu  sein 
scheint. 


Aiigustin  von  der  gräcisirten  abendländischen  Theologie  bestimmt.         27 

gekommen.  Er  hat  staunend  die  Kunde  von  dem  ägyptischen 
Mönchthum  aufgenommen,  und  der  Eindruck  desselben  ist  für  ihn  von 
entscheidender  Bedeutung  geworden.  Diese  Einflüsse  sind  zu  erwägen, 
wenn  man  über  die  Bedingungen  ins  Klare  kommen  will,  unter  denen 
eine  solche  Erscheinung,  wie  sie  uns  Augustin  bietet,  möglich  gewesen 
ist  K  Andererseits  aber  steht  Augustin  in  Continuität  mit  der  genuinen 
abendländischen  Linie,  die  durch  TertuUian,  Cyprian,  Optatus,  Pacian, 
Prudentius  imd  auch  durch  Ambrosius  repräsentirt  ist.  Höchst  eigen- 
thümlich  ist  sein  Verhältniss  zur  stoisch  -  christlichen  Popularphilo- 
sophie  abendländischer  Lehrer.  Wir  werden  sehen,  dass  ein  Rest  der- 
selben auch  bei  ihm  übrig  geblieben  ist.  Aber  im  Wesentlichen  liegt 
seine  kirchen-  und  dogmengeschichtliche  Bedeutung  eben  darin,  dass 
er  dem  Abendland  an  Stelle  der  stoisch- christlichen  popu- 
lärenMoral,  wie  sie  sich  imPelagianismus  zusammenfasste, 
eine  religiöse,  specifisch- christliche  Ethik  gegeben  und 
diese  so  mächtig  der  Kirche  eingeprägt  hat,  dass  wenig- 
stens ihre  Formeln  bis  heute  im  ganzen  Gebiet  der 
abendländischen  Christenheit  die  Herrschaft  behaupten. 
Indem  er  aber  den  stoischen  MoraUsmus  abgethan  hat,  hat  er  auch 
das  seltsame  Complement  desselben,  die  realistische  Eschatologie,  bei 
Seite  gedrängt,  in  welcher  die  alten  lateinischen  Christen  ihr  Christen- 
thum  in  specifischer  Weise  zum  Ausdruck  gebracht  hatten. 


Ambrosius  ist  der  Lnperator  unter  den  abendländischen  Bischöfen, 
und  er  ist  zugleicli  der  griechisch  gebildete  Exeget  und  Theologe. 
In  beiden  Eigenschaften  hat  er  auf  Augustin  eingewirkt,  der  zu  ihm 
emporsah,  wie  Luther  zu  Staupitz^.    In  letzterer  Hinsicht  kommt 


*  Von  HicronjTTius  darf  man  abschen-,  er  hat  für  Augustin  keine  Bedeutung 
gehabt  oder  doch  keine  andere  als  die,  dass  er  ihn  in  der  conservativen  Haltung 
bestärkte.  Das  bezieht  sich  freilich  nicht  auf  das  gelehrte  Wissen  des  Hicronymus, 
welches  dem  Augustin  unheimlich  und  sogar  verdächtig  gewesen  ist.  Die  Gelehr- 
samkeit des  Hicronymus  ist  ein  grosses  Capital  der  mittelalterlichen  Kirche  gewor- 
den; aber  die  vulgäre  Dogrnatik  der  Kirche  hat  Hicronymus  nicht  bestimmt,  sondern 
bestärkt,  während  seine  asketischen  Schriften  das  Mönchthum  eingebürgert  und 
ihm  zum  Thcil  höchst  bedenkliche  Ideale  vorgehalten  haben.  Nach  der  Zeit 
Augustinus  sind  die  Einflüsse  vom  Orient  her  nur  noch  sehr  spärlich  gewesen;  doch 
ist  an  .Junilius  und  Cassiodorius  zu  erinnern. 

^  S.  die  testimonia  Augustin's  über  Ambrosius  in  der  Ballerinischen  Ausgabe 
der  Werke  des  Letzteren.  Contra  .Jul.  I,  4,  10:  „Audi  excellentem  dei  dispensa- 
torem,  quem  vencror  ut  patrem;  in  Christo  Jesu  enim  per  evangelium  me  genuit  et 
CO  Christi  ministro  lavacrum  rcgcncrationis  accepi.  Beatum  loquor  Ambrosium 
cuius  pro  catholica  fide  gratiam,  constantiam,  labores,  pericula  sive  operibus  sivc 
scrmonibus  et  ipsc  sum  cxpertus  et  mecum  non  dulntat  orbis  pracdicarc  Romanus." 


28  Pas  abendländische  Christentlium  vor  Auffiistin. 

er  hier  zunächst  in  Betracht.  Seine  Erziehung,  sein  ])ischöflicher  Stuhl 
in  Maihmd,  der  arianische  und  apolHnaristische  Kampf,  in  den  er 
eintreten  musste,  wiesen  ihn  auf  die  griechische  theologische  Litteratur. 
Philo,  H  i  p  p  o  1  y  t ,  ( )  r  i  g  e  n  e  s  und  B  a  s  i  1  i  u  s  sind  von  ihm  Heissig 
gelesen,  excerpirt  und  lateinisch  verarheitet  worden'.  Mit  Basilius 
verband  ihn  nicht  nur  die  ähnliche  Situation,  sondern  vor  Allem  Ueber- 
einstimmung  des  Charakters  und  der  Haltung.  Er  ist  sein  eigentlicher 
Ijehrmeister  gewesen,  und  während  dem  Basilius  in  Alexandrien  und 
Rom  Misstrauen  begegnete,  hat  ilni  And)rosius  hoch  geehrt  und  seine 
Orthodoxie  voll  anerkannt.  Welche  Bedeutung  diese  Haltung  des 
mailändischen  Bischofs  für  die  Beendigung  des  arianischen  Streites 
und  für  die  Versöhnung  der  römisch-alexandrinischen  Ortliodoxie  mit 
der  kappadocischen  gehabt  hat,  ist  früher  dargestellt  worden  ^.  Man 
hat  nun  zwar  neuerdings  unwidersprechlich  gezeigt,  dass  Ambrosius 
in  der  Christologie  trotz  seiner  Abhängigkeit  von  den  Griechen  das 
abendländische  Schema  bewahrt  und  Aveiter  ausgebildet  hat^.  Ter- 
tulHan,  Novatian  (direct  oder  indirect)  und  Hilarius  haben  auf  ihn 
eingewirkt.  Allein  andererseits  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  er  doch 
stärker  als  Augustin  die  nicänische  Entscheidung  als  Fundament  her- 
vorhebt^ und  in  seiner  Zwei-Substanzenlehre  durch  die  Kappadocier, 
die  im  Kampf  gegen  Apollinaris  unfreiwillig  ihr  nahe  geführt  wurden, 
bestärkt  worden  ist.  Ferner  behandelt  er  den  Logos  in  Jesus  Christus 
so  sehr  als  das  Subject,  die  Menschensubstanz  als  Form  und  Stoff,  dass 
auch  hier  der  griechische  Einfluss  (wie  bei  dem  ebenfalls  von  den 
Griechen  abhängigen  Hilarius)  nicht  zu  verkennen  ist;  denn  seine 
eigene  Auffassung  vom  Werke  Christi  streitet  mit  dieser  Verkümmerung 
in  der  Betrachtung  der  menschlichen  Natur.  Aber  auf  dem  specilisch- 
dogmatischen  Gebiet  liegt  überhaupt  nicht  der  wichtigste  Einfluss  des 

Op.  imperf.  c.  Julian.  I,  2:  „Quem  vero  iudicem  poteris  Ambrosio  reperire  melio- 
rem  ?  De  quo  magist  er  tuus  Pelagius  ait,  quod  eins  fidem  et  purissimum  in  scrip- 
turis  sensum  ne  inimicus  quidem  ausus  est  reprehendere."  Die  AVorte  des  Pelagius 
selbst  in  de  gratia  Christi  et  lib.  arb.  43  (47):  „Beatus  Ambrosius  episcopus,  in 
cuius  praecipue  libris  R  o  m  a  n  a  elucet  fides,  qui  scriptorum  inter  Latinos  flos  qui- 
dam  sjjeciosus  enituit,  cuius  fidem  et  purissimum  in  scripturis  sensum  ne  inimicus 
quidem  ausus  est  reprehendere"  (s.  c.  Jul.  I,  30).  Den  Ruhm  des  Ambrosius  ver- 
kündet auch  Rufin  und  nimmt  ihn  gegen  Hieronymus  in  Schutz,  der  als  neidischer 
Augur  die  Plagiate  des  Ambrosius  an  den  Griechen  bemängelt  hat,  während  er  selbst 
der  viel  Schuldigere  ist,  da  er  sich  stets  als  Original  aufspielte. 

*  S.  die  ausführlichen  Nachweise  bei  Förster,  Ambrosius  S.  1)9  H". 

2  S.  Bd.  n  S.  269  ff". 

»  S.  Reuter,  August.  Studien  S.  207—227. 

■*  S.  Ambros.  de  fid.  I  prol.  u.  a.  St,  bei  Reuter,  a.  a.  O.  S.  185,  über  Au- 
gustin's  neutrale  Stellung  s.  ebeudort  S.  185  f. 


Die  Bedeutung  des  Ambrosius.  29 

Orients  auf  Ambrosius.  Er  liegt  in  der  Reception  der  allegorisch- 
wissenschaftlichen  Methode  der  Exegese  und  vieler  einzelner  Schemata 
und  Lehren.  Zwar  hat  Ambrosius  gegenüber  Philo  und  Origenes  seine 
Vorbehalte  gemacht;  er  hat  die  Consequenzen  der  origenistischen 
Theologie  nicht  anerkannt  ^ ;  er  war  überhaupt  im  energischen  specula- 
tiven  Denken  viel  zu  flüchtig  und  oberflächhch,  um  sich  von  den  Griechen 
mehr  anzueignen  als  Fragmente  *,  aber  er  sowohl  wie  der  schwerfälhgere 
aber  gi-ündlichere  Hilarius  haben  doch  im  Abendland  die  „Dürftig- 
keit" einer  buchstäbelnden  und  in  der  praktischen  Anwendung  völlig 
planlosen  Exegese  überwunden  und  ihren  Landsleuten  eine  Fülle  von 
Ideen,  angeschlossen  an  den  Wortlaut  der  hl.  Schriften,  überliefert. 
E-ufin  und  in  seiner  ersten  Zeit  auch  Hieronymus  vollendeten  das 
Werk.  Der  Manichäismus  wäre  im  Abendland  schwerlich  überwunden 
worden,  wenn  ilmi  nicht  die  theosophische  Exegese,  die  „bibhsche 
Alchemie"  der  Griechen  entgegengestellt  worden  wäre,  und  das  grosse 
Thema  der  Virginität  wurde  mit  neuen  Zungen  gepriesen,  seitdem  die 
von  Origenes  in  seinem  Commentar  zum  Hohenliede  gelehrte  Verbin- 
dung der  Seele  mit  dem  Bräutigam  Christus  den  Abendländern  auf- 
gegangen war^.  Die  Einheit  der  kirchlichen  Stimmung  in  Ost  und 
West,  soweit  sie  überhaupt  erreichbar,  war  um  390  in  den  höchsten 
Regionen  der  Theologen  hergestellt.  Allein  der  Kampf  gegen  Origenes, 
der  bald  mit  verstärktem  Hass  ausbrach,  hatte  unter  anderen  trau- 
rigen Folgen  auch  sofort  das  Ergebniss,  dass  das  Abendland  nichts 
weiter  mehr  von  dem  grossen  Theologen  lernen  wollte.  Strenge  S3^ste- 
matik  in  der  allegorisch-wissenschaftlichen  Exegese  hat  das  Abendland 
nie  erreicht. 

Durch  Hilarius  ^,  Ambrosius,  Hieronymus  und  Ruiin  sind  die  hei- 
ligen Gescliichten  des  AT. 's  auch  für  das  A])endland  in  pneumatische 

*  Nicht  wc.n'un'.  Stellen  wären  hier-  ans  den  Werken  des  Ambrosius  anzufühi'en. 
MitTact  und  ohne  Ketzerriehterei  lehnt  Ambrosius  bedenkliche  Sätze  des  Origenes  ab, 
sich  selbst  stets  an  das  (Temeiuchristliche  haltend.  In  weniger  wichtigen  Fragen  ist 
der  Einfluss  des  Origenes  (Plato's)  unverkennbar;  so  in  der  Seelenlehre  und  der 
Auffassung  von  der  Hölle.  Am  stärksten  (irseheint  mir  der  griechische  EiuÜuss  in 
der  Lelire  von  der  relativen  Nothwcndigkeit  und  der  Zweckmässigkeit  des  Bösen 
(„amplius  nobis  profuit  culpa  (juam  nocuit").  Desshalb  vermag  i(;h  in  ihr  nicht  eine 
dem  Ambrosius  eigenthümliehe  kühne  Theorie  vom  Bösen  zu  erkennen,  wie  Deutsch 
(Des  Ambrosius  Lehre  von  der  Sünd(;  u.  s.  w.  1807  S.  8.)  und  Förster  (a.  a.  O. 
S.  i'di).  142.  300).  Nur  die  teleologische  Betrachtung  unter  df>m  (Icsichtsjninkt  der 
reicheren  Wiederh(;rst<',llung  ist  vielleicht  neu. 

''  Ambros.,  de  Isaac  et  anima. 

"  Ueb(!r  Hilarius'  für  die  (Tcschichte  der  Theologie  epochemachendes  Exil  im 
Orient  und  sein  Verhäitniss  zu  Origen«'S  s.  Rj'inkejis,  Hilarius  S.  128.270.281  IT. 
Augustin  hat  ihn  in  hohen  Ehren  gehalten. 


30  Das  abendländische  Christentlium  vor  Au^ustin. 

Geschichten  umgewandelt  worden  ^  Bei  dieser  Umsetzung  erhielten 
die  Abendländer  eine  Menge  einzelner  neuplatonisch-mystischer  Ge- 
danken, aber  der  Einblick  in  das  Ganze  blieb  ihnen  verborgen.  Ein 
anderer  Abendländer,  der  Khetor  Victor inus,  dieser  „doctissimus 
senex  et  omuiuni  libendiuin  doctriiiarmn  peritissimus  quique  philo- 
soj)hüruni  tarn  multa  et  legerat  et  diiudicaverat,  doctor  tot  nobiliuni 
senatorum,  qui  etiam  ob  insigiie  praeclari  magisterii  statuam  in  Romano 
foromerueratetacceperat",  hat  seine  Landsleute  durch  llebersetzungen 
und  eigene  Arbeiten  in  den  Neui)latonisnuis  eingeführt-.  Das  war 
geschehen,  bevor  er  Christ  wurde.  In  hohem  Alter  zum  Christenthum 
übergetreten,  hat  Victorinus,  der  nun  auch  ein  fruchtbarer  kirchlicher 
Schriftsteller  wurde,  mit  dem  Neuplatonismus  keineswegs  gebrochen. 
An  ihm  hat  sich  Augustin  in  der  entscheidenden  Epoche  seines  Lebens 
gebildet,  und  obgleich  er  griechisch  genug  verstand,  um  neuplatonische 
Schriften  zu  lesen,  so  ist  er  doch  ganz  wesentlich  durch  Victorinus 
in  dieselben  eingeführt  worden.  Vor  Allem  hat  er  hier  die  Verbindung 
neuplatonischer  Speculation  mit  dem  kirchlichen  Christenthum  und 
die  Bestreitung  des  Manichäismus  von  diesem  Boden  aus  kennen  ge- 
lernt. Was  Beides  für  ihn  bedeutete,  braucht  nicht  ausgeführt  zu 
werden.  Indem  der  Neuplatonismus  für  Augustin  ein  entscheidendes 
Element  seiner  religiösen  und  philosophischen  Denkweise  wurde,  wurde 
er  es  für  das  gesammte  Abendland.  Die  Religionsphilosophie  der 
Griechen  ist  dem  geistigen  Capitale  des  Abendlandes  einverleibt  wor- 
den, zusammen  mit   ihren   asketisch-mönchischen  Antrieben^.    Aber, 


^  In  der  Erklärung  des  NT.'s  hielt  Ambrosius  trener  am  Buchstaben  fest,  der 
abendländischen  Tradition  folgend  und  die  Geschenke  der  Griechen  ablehnend. 
„Longe  minor  in  novo  quam  in  veteri  testamento"  nennt  Ambrosius  den  Origenes 
(ep.  75).  Aber  in  dem  AT.  haben  erst  die  Griechen  die  Abendländer  heimisch 
gemacht. 

^  S.  Aug.  Confess.  VIII,  2.  Dort  auch  die  Geschichte  der  Bekehrung  Victorin's. 

^  Der  Neuplatonismus  und  mit  ihm  die  griechische  Speculation  überhaupt  ist 
—  wenn  man  von  den  Fragmenten  absieht,  welche  durch  die  Uebersetzungen  der 
Werke  des  Origenes  und  durch  die  Plagiate  an  den  Kappadociern  in  das  Abendland 
gelangt  sind  —  in  drei  aufeinander  folgenden  Schenkungen  demselben  mitgetheilt 
worden,  1)  durch  Victorin-Augustin  im  4.  und  5.  Jahrhundert,  2)  durch  Boethius 
im  6.  Jahrhundert,  3)  durch  den  Import  der  Werke  des  Pseudoareopagiten  im 
9.  Jahrhundert.  Von  Boethius  rühmt  Cassiodorius  (Var.  epp.  1,  45),  dass  erPytha- 
goras,  Ptolemäus,  Nicomachus,  Euklid,  Platonem  theolognm,  Aristotelem  logicun», 
Archimedes  und  andere  Griechen  den  Lateinern  durch  Uebersetzungen  vermittelt 
habe.  Dass  Boethius  Christ  gewesen  ist,  und  dass  er  auch  die  vielfach  bezweifelten 
Schriften  De  sancta  trinitate,  Utrum  pater  et  filius  et  Spiritus  s.  de  diviuitate  sub- 
stantialiter  praedicentur,  Quomodo  substantiae  in  eo  quod  siut  bonae  sint,  cum  uon 
sint  substantialia  bona,  De  lide  catholica.  Contra  Eutychen  etNestorium  geschrieben 


Die  Bedeutung  des  Victormus.  31 

wenn  nicht  Alles  trügt,  hat  Augustin  von  Victorinus  her  auch  den  An- 
trieb empfangen^  sich  in  die  religiöse  Denkweise  des  Paulus  einzuleben; 
denn  aus  den  Werken  des  greisen  Rhetor  geht  hervor,  dass  er  die 
charakteristischen  G-edanken  des  Paulus  sich  angeeignet  hat,  und 
Augustin  hat  nachweisbar  von  dem  Moment  an  den  paulinischen  Briefen 
ein  hingebendes  Studium  gewidmet,  wo  er  mit  dem  Neuplatonismus 
genauer  bekannt  geworden  ist.  Victorinus  hat  sehr  dunkel  geschrieben, 
und  seine  Werke  haben  von  Anfang  an  eine  geringe  Verbreitung  ge- 
funden. Allein  es  ist  nicht  der  einzige  Fall  in  der  Geschichte,  dass 
die  ganze  Bedeutung  eines  tüchtigen  Schriftstellers  darin  aufgegangen 
ist,  ein  em  grösseren  Nachfolger  gedient  zu  haben.  Ein  grosser  epoche- 
machender Mann  ist  wie  ein  Strom  —  die  kleineren  Bäche,  die  viel- 
leicht tiefer  im  Lande  entsprungen  sind,  gehen  in  ihm  unter,  nachdem 
sie  ihn  gespeist,  aber  die  Richtung  seines  Laufes  nicht  verändert  haben. 
Nicht  nur  Victorinus  *,   sondern  schliesslich   auch  selbst  Ambrosius, 


hat,  scheint  mir  jetzt  (Usener,  Anecdoton  Holderi  1877)  erwiesen  zu  sein.  Aber 
nicht  durch  seine  christlichen  »Schriften  hat  er  auf  die  Folgezeit  eingewirkt,  sondern 
durch  seine  von  Aristoteles  ganz  abhängigen  Tractate  „De  consolatione  philo- 
sophiae",  die  eben  desshalb  auch  ein  Heide  geschrieben  haben  könnte,  sowie  durch 
seine  Conimentare  zu  Aristoteles.  Er  wurde  geradezu  der  Philosoph  des  frühen 
Mittelalters  neben  Aristoteles,  den  man  freilich  schlecht  genug  kannte.  Ueber  das 
System  des  Boethius  s.  die  Monographie  von  Nitzsch  1860.  Es  erinnert  in  vielen 
Gedanken  anSeneca  undProclus  (eine  Untersuchung  über  sein  Verhältniss  zu  Victo- 
rinus wäre  erwünscht).  „In  dem  System  bildet  ein  durch  gewisse  aristotelische 
Gedanken  modificirter  Piatonismus  die  Grundlage ;  ausserdem  ist  ein  aus  dem  rö- 
mischen Charakter,  aus  dem  persönlichen  Charakter  des  Pliilosophen  und  aus  der 
Leetüre  römischer  Philosophen  stammender  stoischer  Zug  nicht  zu  verkennen.  Das 
Christenthum  ist  in  diesem  Eklekticismus  so  gut  wie  gar  nicht  zur  Geltung  gekom- 
men. Aus  diesem  Grunde  muss  man  von  dem  Versuche  abstehen,  dem  System  des 
Boethius  unter  denjenigen  Systemen  einen  Platz  anzuweisen,  welche  eine  Vermitte- 
lung  oder  Verschmelzung  des  Christenthums  mit  dem  Piatonismus  darstellen  oder 
anstreben  (z.  B.  Synesius,  Pseudo-Dionysius)" ;  vgl.  Nitzsch,  a.  a.  O.  S.  84  f.  An 
der  Thatsache,  dass  dieser  Mann,  der  angesichts  des  Todes  sich  mit  den  Gedanken 
der  heidnischen  Philosophen  tröstete,  Tractate  über  das  kirchliche  Centraldogma 
geschrieben  hat,  kann  man  am  besten  studiren,  dass  das  Dogma  von  Christus  eine 
Seite  ])ot,  an  welcher  es  da/u  anleitete,  Clnistum  selbst  zu  vergessen. 

^  Es  ist  ein  Verdienst  von  (Jli.  (iore  in  seinem  Artikel  „Victorinus"  (Diction. 
of  Christ.  Biogr.  IV  p.  1129—1138),  die  Eigenart  der  Theologi(;  des  Victorinus  und 
ihre  Bedeutung  für  Augustin  dargestellt  zu  haben.  Mit  lieclit  benieikt  Goi'e:  „His 
theology  isNeo-Platonistin  tone  ...  he  applicMl  nianyj)rineiples(;f  Uk;  IMotiniauphilo- 
Hophy  to  the  elucidation  of  the  Christian  mystories.  His  importance  in  this  respect 
has  been  entirely  overlooked  in  the  history  of  theology.  He  preceded  the  Pseudo- 
Dionysius.  He,  aniicipated  a  great  deal  tliat  apjjcars  in  Seolus  Erigena."  In  der 
Thatistman  beim  Sln'liiini  derWerke  des  Victorinus  (M  igne  T.  VllJ  p. 991)  1310) 
erstaunt,  in  ihm  einen  v(jllkonimeneu  christlichen    Neuplatoniker  und  einen  Augu- 


32  I^iis  abeiullämlische  Chrifitentluini  vor  Auorustin. 

Optatus,  Cyprian  und  Tertullian  sind  in  Augustin  untergegangen ;  aber 
sie  haben  ihn  zu  dem  stolzen  Strome  gemacht,  in  dessen  Wellen  sich 

stinus  ante  Augustinum  zu  finden.  Die  Schriften  ad  Justinun»  Manichaeum,  de  gene- 
i-atione  verbi  divini,  das  grosse  Werk  gegen  die  Arianer  imitlien  wie  augustiuisclie 
Selirit'teii  an.  Nur  tritt  das  Heuj)lat()nisehe  Element  viel  unbefangener  hervor  als 
bei  Augustiu,  der  mit  demselben  gi-rungen  hat.  Setzt  man  in  der  Six'culation  des 
Victorinus  statt  „deus"  das  Wort  „natura"  ein,  so  hat  man  das  complete  System 
des  Scotus  Erigena.  Aber  selbst  diese  Vertauschung  ist  nicht  nüthig;  denn  nur  als 
leichte  Hülle  liegt  l)ei  Victorinus  die  kirchliche  Terminologie  über  der  neu])latoni- 
sehen  IdentitUtslehre.  flott  ist  an  sich  „motus"  (nicht  mutatio):  „moveri  ipsum  quod 
est  esse";  aber  ohne  den  Sohn  gedacht  ist  er  6  jrrj  <i'>v  (Speculation  über  den  vier- 
fachen Sinn  des  jj.-}]  eivat,  wie  bei  den  späteren  Mystikern).  Der  Sohn  ist  6  tov. 
Deutlich  tritt  in  der  Speculation  über  das  VerhUltniss  von  Vater  und  Sohn  hervor, 
dass  der  conse(iuente  (pautheistische)  Neuplatouismus  der  Lehre  von  der  Homousie 
günstig  ist.  Der  Vater,  weil  die  Gottheit  moveri  ist,  befindet  sich  in  einer  „semper 
generans  generatio".  So  tritt  der  Sohn  aus  ihm  hervor,  „re  non  tempore  posterior." 
Der  Sohn  ist  die  „potentia  actuosa"  •,  indem  der  Vater  ihn  zeugt,  „ipse  se  ipsum 
conterminavit".  Der  Sohn  ist  also  das  ewige  Object  des  göttlichen  AVillens  und  der 
göttlichen  Selbsterkenntniss;  er  ist  die  Form  und  Begrenzung  Gottes,  des  Vaters 
eigene  Essenz;  indem  der  Vater  den  Sohn  erkennt,  erkennt  er  sich  selbst  („alteritas 
nata").  „In  isto  sine  intellectu  temporis,  tempore  .  . .  est  alteritas  nata,  cito  in 
identitatem  revenit;"  daher  die  vollkommenste  Einheit  und  absolute  Consub- 
stanzialität,  wenn  auch  der  Sohn  subordinirt  ist.  Den  Geist  hat  Victorinus  zuerst  als 
die  copula  der  Gottheit  bezeichnet  (s.  Augustin) ;  er  ist  es,  der  den  vollkommenen 
Zirkel  der  Gottheit  erfüllt:  „omnes  in  alternis  exsistentes  et  semper  simul  ojjlooüoio'. 
divina  affectioue,  secundum  actionem  (tantummodo)  subsistentiam  propriam  haben- 
tes."  Das  wird  in  Speculationen  ausgeführt,  welche  die  Themata  des  grossen  Werks 
Augustin's  de  trinitate  sind.  Die  Dreizahl  ist  schliesslich  auch  nur  scheinbar:  „ante 
unum  quod  est  in  numero,  plane  simplex".  „Ipse  quod  est  esse,  subsistit  tripliciter". 
Tritthier  schon  für  jedes  scharfe  Auge  deutlich  hervor,  dass  der  „Sohn"  als  „potentia 
actuosa"  die  Weltidee  ist,  so  ist  das  im  Weiteren  völlig  deutlich.  Alle  Dinge  sind 
potentiell  in  Gott,  actuell  im  Sohn;  denn  „filius  festinat  in  actionem".  Die  Welt 
unterscheidet  sich  yon  Gott  wie  das  Viele  von  dem  Einen,  d.  h.  die  Welt  ist  sub 
specie  aeternitatis  der  sich  entfaltende  und  zur  Einheit  zurückkehrende  Gott.  Das 
Fremde,  AVidergöttliche  an  der  AVeit  ist  lediglich  das  Nicht-Seiende,  die  Materie. 
Das  ist  Alles  wie  bei  Proclus,  und  desshalb  wird  auch  zwar  das  AVort  „creare"  bei- 
behalten, aber  factisch  in  eine  Emanation  umgesetzt.  Es  wird  die  Unterscheidung 
von  deus  ipse  und  quae  a  deo  festgehalten ;  aber  in  AVahrheit  tritt  die  AVeit  unter 
den  Gesichtspunkt  der  sich  auswirkenden  Gottheit.  Ad  Justinum  4:  „Aliter  quideni 
quod  ipse  est,  aliter  quae  ab  ipso.  Quod  ipse  est  unum  est  totumque  est  tpiidiiuid 
ipse  est;  quod  vero  ab  ipso  est,  innumerum  est.  Et  haec  sunt,  quibus  refletur  omne 
quod  uno  toto  clauditur  et  ambitur.  Verum  quod  varia  sunt  quae  ab  ipso  sunt,  qui 
a  se  est  et  unum  est,  variis  cum  convenit  dominare.  Et  ut  onniipotens  apparet, 
contrariorum  etiam  origo  ipse  debuit  inveuiri."  Von  diesen  „varia"  heisst  es  aber, 
dass  „insubstantiata  sunt  omnia  ovta  in  Jesu,  hoc  est,  ev  ttbXoY««.  Er  ist  die  Einheit 
der  Natur,  also  elementum,  receptaculum,  habitaculum,  habitator,  locus  uaturae.  Er 
ist  das  „unum  totum",  in  dem  sich  das  Universum  als  eine  Einheit  darstellt.  Und 
nun  folgt  der  als  „Schöpfung"  bezeichnete  Emanatiousproeess,  bei  ilessen  Schilde- 


I 


Die  Bedeutung  des  Victorinus  für  Augustin.  33 

die  Ufer  spiegeln,  auf  dessen  Rücken  die  Schiffe  schwimmen  und  der 
einen  ganzen  Welttheil  segnend  durchzieht. 

Denn  nicht  nur  die  Arbeit  jener  griechischen  Lateiner,  sondern 
auch  die  Linie  der  Vertreter  der  genuinen  abendländischen  Theologie 
und  Ecclesiastik  mündet  in  Augustin  ^ 


rung  die  christlichen  und  die  ueuplatonischen  Stufen  verwerthet  sind:  „deus,  Jesus, 
Spiritus,  voDc,  anima  (als  Weltseele),  angeli  et  deinde  corporalia  omnia  submini- 
strata."  Auch  die  Erlösung  durch  Christus  und  die  Rückkehr  aller  "Wesen,  sofern 
sie  a  deo  sind,  ad  deum  ist  neuplatonisch  gedacht,  wie  denn  auch  die  Lehre  von  der 
Präexistenz  der  Seelen  und  dem  vorzeitlichen  Fall  derselben  sich  findet.  Dielncarna- 
tion  ist  zugestanden,  allein  doch  spiritualisirt,  sofern  neben  der  Vorstellung  von  der 
Annahme  eines  Menschen,  die  sich  einmal  findet,  doch  die  andere  die  herrschende  ist, 
dass  Christusais  mit  der  Menschheit  in  ihrer  Totalität  behaftet  erscheint:  „universalis 
caro,  universalis  anima;  in  isto  omnia  universalia  erant"  (adv.  Arian.  III,  3).  „Quia 
corpus  ille  catholicum  ad  omnem  hominem  habuit,  omne  quod  passus  est  catholicum 
fecit;  id  est  ut  omnis  caro  in  ipso  cruxifixa  sit"  (ad  Philipp,  p.  1196.  1221;  adv. 
Arian.  III,  3).  Das  Interessanteste,  weil  für  Augustin  Wichtigste  aber  ist,  1)  dass 
Victorinus  die  Prädestination slehre  stark  zum  Ausdruck  bringt  — nur  dem 
Manichäismus  gegenüber  sieht  er  sich  gezwungen,  die  AVillensfreiheit  aufrecht  zu 
erhalten  — ,  und  2)  dass  er,  besonders  in  den  Commentaren,  auf  die  Rechtferti- 
gung durch  den  Glauben  allein  im  Gegensatz  zu  allem  Moralismus  den 
höchsten  AVerth  legt.  Für  beides  hatte  ihm  der  Neuplatonismus  einVerständniss  er- 
worben, resp.  ihn  zu  einem  gewissen  Verständniss  disponirt;  wissen  wir  doch  auch 
sonst,  dass  heidnische  Neuplatoniker  sich  zu  Johannes  und  Paulus,  nicht  aber  zu  den 
Synoptikern  oder  Jacobus  gezogen  fühlten.  So  schreibt  Victorinus:  „non  omnia  restau- 
rantur  sed  quae  in  Christo  sunt"  (p.  1245),  „quaesalvari  possent"  (p.  1274),  „universos 
sed  quisequerentur"  (p.  1221).  IngcheimnissvollerWeise  ist  eben  Christus  die  gläubige 
Menschheit  (Kirche)  und  die  gläubige  Menschheit  die  Menschheit  ül)erhaupt.  Alles 
entwickelt  sich  in  strenger  Noth wendigkeit;  daher  ist  Victorinus  Prädestinatianer, 
Die  Stellen,  in  denen  sich  Victorinus  streng  paulinisch  und  so  zu  sagen  antipelagianisch 
ausdrückt,  hat  Gore  p.ll37  zusammengestellt;  s.ad  Gal.3,  22;  adPhilipp.3,  9:  „non 
meam  iustitiam"  —  tunc  enim  mea  est  vel  nostra,  cum  moribus  nostris  iustitiam  dei 
mereri  nos  putamus  perfectam  per  mores.  At  non,  inquit,  hanc  habens  iustitiam, 
sed  quam?  Tllam  ex  fide.  Non  illam  quae  ex  lege;  vae  in  operibus  est  et  carnali  dis- 
ciplina,  sed  hanc  quae  ex  deo  procedit  „iustitia  ex  fide";  ad  Phil.  4,  9;  ad  Ephes. 
2,  5:  „non  nostri  laboris  est,  (piod  saepe  moneo,  ut  nos  salvemus;  sed  sola  fides  in 
Christum  noljis  salus  est  .  .  .  nostrum  ])ene  iam  nihil  est  nisi  solum  eredere  qui 
superavit  omnia.  Hoc  est  enim  ])lena  salvatio,  Christum  haec  vicisse.  Fidem  in 
Christo  habere,  j)lenani  fidem,  nullus  la})or  est,  nulhi  difficultas,  animi  tantum  voluntas 
est  ,  .  .  iustitia  non  tantum  valet  quantum  fides  ;"  ad  Ephes.  1,  11 ;  3,  7 ;  ad  Phil. 
2,  13:  „fjuia  ipsum  velle  a  deo  iif)))is  o)»cia1ur,  fit  ut  ex  deo  et  Operationen!  et 
voluntatem  halieamuH." 

'  IlelKM-  die  (ieHcliiohtc  «Icr  Kirchenbusso  im  ()ri<'nt  im  4.  Jahrhundert  ist 
nf)ch  wenig  bfkarint ;  aber  dass  imCJccident  der  Stoss  miijd«M-  heftig  wirkte,  den  alle 
öffentliclif!  kiiehliclie  Disciplin  durch  die  schnelh;  Ausbreitung  des  Christenthums 
seit  Konstantin  empfing,  glaube  ich  beliaupten  zu  dürfen.  Hier  war  das  Vertrauen 
auf  die  Kirche  grösser,  die  Verbindung  von  „sancta  ecolenia"  und  „remissio  pecca- 
Harnack,  Dop^ncngf-üthichi f  III.  3 


34  r)fi8  abendländische  Christentluim  vor  Augustin. 

Augustin  hat  vor  Allem  die  Werke  Cyi:)rian's  sehr  gründlich 
studirt  und  sich  in  denselben  heimisch  gemacht.  Cyprian  ist  auch 
ihm  der  „Heilige",  der  Kirchenvater  >car'  £^oyy]v,  und  seine  Beurtheilung 
iTer  Häresie  und  der  Einheit  der  Kirche  ist  von  der  Cyprian's  ab- 
hängig. Aber  als  Bischof  unangetastet  auf  der  Grundlage  stehend, 
die  (/yprian  geschaft'en  hat,  hat  es  Augustin  nicht  nöthig  gehabt,  den 
Episkoi)alismus  so  schroff  zum  Ausdruck  zu  bringen  wie  jener,  und 
mit  der  Aufhebung  eines  Schismas  sich  beschäftigend,  welches  von  dem 
novatianischen  verschieden  war,  hat  er  über  die  Natur  der  Schismen 
anders  urtheilen  gelernt  als  der  Bischof,  den  er  wie  einen  Heros  ver- 
ehrte '.  Beiläufige  Bemerkungen  zeigen  übrigens,  dass  sich  Augustin 
mit  der  Litteratur  der  novatianischen  Controverse  vertraut  gemacht 
und  aus  ihr  für  seinen  Kirchenbegriff  gelernt  hat.  Einiges,  w^as  er 
citirt,  besitzen  wir  nicht  mehr  (so  das  Werk  des  Beticius  gegen  die 
Novatianer)  ^.  Was  uns  aus  dieser  Litteratur  erhalten  ist  (Pseudo- 
Cyprian,  Pacianus  c.  Novat.),  beweist,  dass  die  abendländische  Kirche 


torum"  straffer  („credo  remissionem  peccatorum  per  sanctam  ecclesiam :  Symbol. 
Carthag,"),  die  Empfindung  der  Sünde  als  Schuld,  welche  durch  öffentliches  Be- 
kenntniss  und  satisfactio  zu  sühnen  sei,  lebendiger.  Woher  das  gekommen  ist,  ist 
schwer  zu  sagen.  Man  hat  im  Orient,  wie  es  scheint,  den  Wirkungen  des  Cultus  als 
Gesammtinstitution  und  andererseits  der  stillen  Selbsterziehung  durch  Gebet  und 
Askese  grösseres  Gewicht  beigelegt,  während  man  im  Occident  mehr  die  Empfin- 
dung hatte,  in  religiösen  Rechtsverhältnissen  zu  stehen,  in  denen  man  der  Kirche 
verantwortlich  sei,  aber  auch  von  ihr  sacramentale  und  precatorische  Hülfeleistung 
in  individueller  Anwendung  zu  erwarten  habe.  Das  Individuum  und  die 
Kirche  standen  sich  somit  im  Abendland  näher,  als  im  Morgenland.  Desshalb  be- 
hauptete die  kirchliche  Busse  dort  eine  viel  grössere  Bedeutung  als  hier.  Man  kann 
diese  Bedeutung  an  den  AVerken  der  Afrikaner  einerseits,  des  Anibrosius  anderer- 
seits studiren.  Sie  haben  sonst  wenig  mit  einander  gemeinsam;  aber  in  der  Be- 
trachtung der  Busse  stimmen  sie  zusammen  (s.  Ambros.,  de  paenitentia).  Die  Buss- 
praxis hat  nun  bekanntlich  im  Abendland  in  steigendem  INIasse  Einfluss  auf  alle 
Verhältnisse  des  Kirchenwesens  und  der  Theologie  gewonnen,  so  dass  man  schliess- 
lich den  ganzen  al)endländischen  Katholicismus  des  INIittelalters  und  der  Neuzeit 
von  hier  aus  zu  construiren  vermag  und  die  feinen  Wirkungen  der  Busstheorie  bis 
in  die  entferntesten  Dogmen  verfolgen  kann.  Den  entscheidenden  Aufschwung  in 
dieser  Entwickelung  bezeichnet  aber  wiederum  Augustin.  Bei  ihm  beginnt  derPro- 
cess,  durch  den  das,  was  längst  in  der  Kirche  lebte,  in  die  Theorie  erhoben  wurde. 
Freilich  hat  Augustin  wenig  Formeln  geschaffen  und  sogar  nicht  einmal  von  einem 
Sacrament  der  Busse  gesprochen;  aber  theils  hat  er  deutlich  genug  die  Sache  zum 
Ausdruck  gebracht,  theils  hat  er,  wo  er  die  Conseciuenzen  der  Busspraxis  für  die 
Theorie  selbst  noch  nicht  gezogen  hat,  so  auffallende  Lücken  gelassen  (s.  die 
Christologie),  dass  dieselben  durch  geräuschlose  Bemühungen,  als  könnte  es  nicht 
anders  sein,  in  der  Folgezeit  geschlossen  wurden. 

»  S.  Reuter,  August.  Studien  S.  232  If.  355. 

'^  Lib.  I  f,  Julian.  3.  Op.  iniperf.  c.  Jul.  T,  55.     Hieron.  ilc  vir.  inl.  82. 


II 


Der  Donatismus,  35 

durch  den  Gegensatz  gegen  die  Novatianer  im  Laufe  des  4.  Jahr- 
hunderts fort  und  fort  solHcitirt  worden  ist,  über  das  Wesen  der  Kirche 
nachzudenken  ^ 

Aber  auch  in  den  donatis  tischen  Kampf  ist  Augustin  als  ein 
Mann  der  zweiten,  ja  der  dritten  Generation  eingetreten  und  genoss 
daher  den  grossen  Vortheil,  über  ein  bereits  gesammeltes  Capital  von 
Anschauungen  und  Ideen  zu  verfügen.  Hier  hat  ihm  vor  Allem  Op- 
t  a  t  u  s  vorgearbeitet  ^ . 

Die  Entstehungsgeschichte  des  Donatismus  gehört  nicht  liierher ; 
denn  die  Ursprünge  des  Streites  wurzeln  nicht  in  einer  dogmatischen 
Controverse  ^.  Cäcilian's  Vorgehen  gegen  die  übertriebene  Märtjrer- 
verehrung;  welche  die  Ordnung  in  der  Kirche  störte  und  die  Kirche  in 
Gefahr  iDrachte,  gab  den  ersten  Anlass.  Mit  den  unzufriedenen  und 
aufsässigen  Enthusiasten,  bei  denen  Cäcilian  schon  als  Diakon  miss- 
liebig  gewesen  war,  scheinen  Kleriker  gemeinsame  Sache  gemacht  zu 
haben,  welche  eine  starke  bischöfliche  Gewalt  nicht  wünschten.  Jeden- 
falls ist  ein  principielles  Moment  nicht  sofort  in  dem  Streit  aufgetaucht. 
Aber  bald  stellte  es  sich  ein,  und  zwar  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass 
man  Cyprian  ^vider  Cyprian  ausspielte^.  Die  donatistische  Partei  — 
zugleich,  wie  es  scheint,  die  afrikanische  Nationalpartei  —  fand  in  der 
cyprianischen  Auffassung,  dass  der  Bischof  nur  Bischof  sei  unter  Vor- 
aussetzung einer  gewissen  christlich  sittlichen  Qualität,  sowie  in  dessen 
Vertheidigung  der  Ketzertaufe  einen  Halt,  während  die  Gegenpartei, 
ebenfalls  in  der  Consequenz  cyprianischer  Gedanken,  den  Amts- 
cliarakter  des  Episkopats  und  die  o  bj  ec  tive  Wirksamkeit  des  Sacra- 
ments  so  geltend  machte,  dass  die  persönliche  Qualität  des  Amtsträgers 
resp.  des  Spenders  gleichgiltig  wurde  ^.   Es  mag  sein,  dass  jene  IMär- 


*  Aus  Pacian's  op.  T  ad  Scmpron.  stammt  dor  l)orülimto  Satz:  „Christiamis 
mihi  nomen  est,  catholicus  cognomen." 

^  Aug.  adv. Farmen.  I,  3:  „vcneraliilis  memoriae  Milevitanus  episcopus  eatho- 
licae  communioiiis  Optatus."  Fulgontius  stellt  den  Optatus  neben  Ambrosius  und 
Augustin. 

"  S.  Deutseh,  Drei  Actenstüeke  z.  Gesch.  des  Donatismus.  1875.  S.  40  f. 
V öl ter,  Der  Ursprung  des  Donatismus.  1882.  Harnae  k,  Theol  Lit.-Ztg.  1884 
Xr.  4;  anders  Reuter,  a.  a,  O.  8.  234 (T.,  dessen  Widerspruch  indessen  z.  Tli.  auf 
einem  Missverständniss  meiner  Ansicht  beruht,  Seeck,  Ztschr.  für  K.-(-iresch.  X,  4. 

-•  8.  hd.  I  8.  372  ff. 

^  Diese  Afrikaner  geben  somit  die  Haltung  in  der  Kctzcrtauffragc  auf,  welche 
Cyprian  eingenommen  hatte-,  s.  den  8.  Kan.  von  Arles  (J.  316):  „De  Afris,  quod 
proj)rialege  sua  utuntur,  ut  reba])tizont,  placuit,  ut  si  ad  ecclesiam  aliquis  de  haeresi 
venerii,  interrogent  cum  symbohnn;  et  si  ])erviderint  cum  in  jjatre  et  filio  et 
Bpiritu  sancto  esse  l)aptizatum,  manus  ei  tantum  imponatur  ut  accipiat  spiritum 
«anctum,   Quod  «i  interrogatus  non  responderit  haue  trinitatem,  baptizetur."    Kan. 

3* 


36  l^iT'S  al)on(lliiiulischo  Ohristonthnm  vor  Augustin. 

tyrer  und  Keliquien  verehrenden  Enthusiasten  in  Karthago  von  Anfang 
an  eine  Hinneigung  zu  der  Auffassung  besassen,  die  (Jyprian  einst  gegen 
(kUxt  und  seine  Nachfolger  festgehalten  liatte,  dass  sie  somit  ein  Mass 
von  activer,  persönlicher  Heiligkeit  für  die  Bischöfe  verlangten,  welches 
innerhalb  der  grossen  Kirche  und  unter  den  verwüstenden  Stürmen  der 
letzten  Verfolgung  nicht  mehr  aufrecht  zu  erhalten  war;  allein  nach- 
weisbar ist  es  nicht.  Dagegen  ist  es  unwidersprechlich,  dass  sich  seit 
der  Synode  von  Arles  die  Oontroverse  so  zugespitzt  hat,  dass  sie  als 
das  letzte  Glied  in  der  Reihe  der  grossen  Erscheinungen  (Enkratiten, 
Montanisten,  Anhänger  Hii)polyt's,  Novatianer)  aufgefasst  werden  muss, 
in  denen  sich  die  Christenheit  wider  die  VerweltHchung  sträubte,  die 
ihr  dadurch  auferlegt  wurde,  dass  das  Attribut  der  Heiligkeit  und  so- 
mit die  AVahrheit  der  Kirche  von  den  Personen  auf  die  Instituti- 
onen (Amt  und  Mysterien)  rückte  \  weil  man  sonst  an  der  Christlich- 


13:  „De  his,  qui  scripturas  s,  tradidisse  dicuntur  vel  vasa  dominica  vel  nomina 
tVatruni  suorum,  placuit  nobis,  ut  quicum([ue  eorum  ex  actis  publicis  fuerit  deteotus, 
uon  verbis  iiudis,  ab  ordine  cleri  amoveatur.  Nani  si  iideni  aliquos  ordinasse  fuerint 
deprehensi  et  hi  quos  ordinaverunt  rationales  (tüchtig?  fähig?)  subsistunt,  non 
illis  obsit  ordinatio"  (das  ist  der  entscheidende  Satz;  auch  eine  Ordination 
durch  einen  Traditor  soll  giltig  sein). 

'  Aelmliche  Krisen  wie  die  donatistischo  sind  auch  anderswo,  so  in  Rom  und 
Alexandrien  —  am  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  vorgekommen;  aber  wir  sind  ganz 
ungenügend  über  sie  unterrichtet ;  s.  Lipsius,  Chronologie  der  römischen  Bischöfe 
S.  250ff.,  wo  die  damasianischen  Epitaphe  auf  Marcellus  und  Ensebius  abgedruckt 
sind,  und  die  Stelle  im  liber  praedest.  c.  16  über  Herakleon  (der  in  AVahrheit 
Heraklius  ist)  mit  Recht  verglichen  ist,  Heraklius  scheint  die  Ansicht  von  der 
„Objectivität"  und  Kraft  der  Sacramente  (.T.T,  307 — 309)  bereits  so  übertrieben  zu 
haben,  dass  er  alle  Sünden  der  Getauften  für  „lässliche"  erklärte  und  eine  schwere 
öftentliche  Busse  für  unnöthig  hielt.  Daher  heisst  es  von  ihm  „Christus  in  pace 
negavit"  und  „vetuit  lapsos  peccata  dolere"  ;  genauer  im  lib.  praedest. :  „baptizatum 
hominem  sive  iustum  sive  peccatorem  loco  sancti  computari  docebat  nihilque 
obesse  baptizatis  peccata  memorabat,  diceus,  sicut  non  in  se  recipit  natura  ignis 
gelu,  i t a  b a p  t i z  a t u s  non  in  s e  recipit  p e c c a t u m.  Sicut  enim  ignis  resolvit 
aspectu  suo  nives  quantaecunque  iuxta  siut,  sie  semel  baptizatus  non  recipit  pecca- 
torum  reatum,  etiam  quantavis  fuerint  operibus  eins  peccata  permixta."  Hier 
kann  man  wahrlich  die  Continuität  des  abendländischen  Christenthums  studiren !  AVie 
oft  ist  dieser  Gedanke  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  und  zwar  gerade  auch  auf 
evangelischem  Boden  aufgetaucht.  Bezeichnet  er  doch  geradezu  das  „verborgene 
Gift",  welches  von  der  heilsamen  Arznei  des  evangelischen  Trostes  so  schwer  zu 
unterscheiden  ist.  Es  ist  aber  sehr  beachtenswert!!,  dass  zuerst  in  Rom  diese  Wen 
düng  in  der  Vorstellung  über  die  gimstige  Lage  des  Christen  nachweisbar  ist.  Die 
Entwickelungen  sind  dort,  wie  auch  Calixt's  Massnahmen  zeigen,  stets  um  weitesten 
fortgeschritten  gewesen.  Doch  ist  diese,  nachdem  sich  ein  Schisma  in  der  Gemeinde 
erhoben  hatte,  abgelelmt  worden,  und  das  ist  wohl  verständlich  ;  denn  abgesehen 
von  der  verwüstenden  Leichtfertigkeit,  die  sich  bei  dieser  Betrachtung  eingestellt 


Der  Donatismus.  37 

keit  der  Kirche  als  Katholik  hatte  verzweifeln  müssen.  Die  Donatisten 
leugneten  die  Giltigkeit  einer  von  einem  Traditor  gespendeten  Ordi- 
nation und  desshalb  auch  die  Giltigkeit  der  Sacramente,  die  ein  von 
einem  Traditor  geweihter  Bischof  vollzog.  Als  letzter  Rest  aus 
einer  einst  viel  ernsteren  Auffassung  wird  hier  ein  Mini- 
mum persönlicher  Würdigkeit  nur  des  Klerikers  verlangt 
und  in  den  Begriff  der  Kirche  selbst  aufgenommen:  sie  ist 
nicht  mehr  die  christhche^  wenn  dieses  Minimum  fehlt,  wenn  nicht  der 
Kleriker  —  vom  Laien  ist  nicht  mehr  die  Bede  —  frei  ist  von  jeder 
götzendienerischen  Befleckung.  Gegenüber  dem  Mass  von  Ueberein- 
stimmung,  welches  z^^dschen  Katholiken  und  Donatisten  herrschte,  er- 
scheint die  Sonderthese  der  Letzteren  w^ie  ein  Eigensinn,  und  gewiss 
hat  sich  auch  viel  Rechthaberei,  persönliche  Unzufriedenheit  und  Un- 
fügsamkeit  hinter  derselben  verborgen.  Allein  die  principielle  Seite 
darf  doch  hier  so  wenig  übersehen  werden  wie  bei  dem  Novatianismus. 
Immer  wiederholt  sich  in  der  Geschichte  geistiger  Kämpfe  die  Legende 
von  den  sibylhnischen  Büchern.  Der  Rest,  den  man  der  Verbrennung 
entzogen  hat,  steht  so  hoch  im  Preise  wie  die  ganze  Sammlung.  Und 
welchen  Preis  hat  die  Kirche  gezahlt,  um  sich  den  Mahnungen  der 
Separatisten  zu  entziehen!  Die  novatianische  Krisis  (nach  der  decia- 
nischen  Verfolgung)  hat  ihr  das  Busssacrament  abgelockt  und  damit 
überhaupt  den  Anstoss  gegeben,  an  die  Stelle  des  sündentilgenden 
Sacraments  ein  System  von  Sacramenten  zu  setzen  (die  formelle  Fest- 
stellung des  neuen  Sacraments  Hess  freilich  noch  lange  auf  sich  warten). 
Die  donatistische  Krisis  (nach  der  diocletianischen  Verfolgung)  hat 
sie  gelehrt,  die  Ordination  im  Sinne  der  Ertheilung  eines  character  in- 
delebilis  zu  würdigen  und  die  „Objectivitiit"  der  Sacramente  streng  zu 
fassen  oder  —  um  einen  deutlicheren  Ausdruck  zu  brauchen  —  die 


hätte,  welch'  eine  Bedeutung  konnte  dem  riie^t erstände  veibleiben,  wenn  jeder 
Getaufte  ohne  weiteres,  wenn  er  nur  wollte,  sich  auch  nach  der  schwersten  Sünde 
als  ein  Glied  der  Gemeinde  fühlen  undbethätigen  durfte?  Dass  Heraklius  auf  Grund 
der  paulinischon  Erkenntniss  von  der  Taufe  und  vom  Glauben,  der  Christum  er- 
greift, seine  kirchliche  Haltung  ausgebildet  hat,  ist  nicht  sehr  wahrscheinlich.  "Wäre 
es  so  zu  verstehen,  so  wäre  (!r  J^utherus  ante  Luthcruin;  es  ist  wohl  daran  zu  denken, 
dass  er  in  der  Taufe  einen  Gharakter  in  magischer  Wcdse  mitgetheilt  sah,  wie  man 
sich  das  von  gewissen  heidnischen  Mysterien  vorstellte.  —  In  der  nieletianischen 
Sjoaltung  in  Aegyi)tcn  wirkte  die  V(;rschiedenh('it  d(*-r  (irundsiit/e  über  die  Wicider- 
aufnahnie  der  Gelallenen  mit  einer  Oj)i)osition  gegen  die  monarchische  Stellung  des 
alexandrinischcn  J^ischofs  zusammen.  Der  Streit,  der  somit  an  den  donatistischen 
erinnert  (vgl.  ISrelctius  und  die  späteren  Donatisten;  doch  ist  die  Einschränkung 
der  ganzen  Fnigr;  auf  di(!  Bisch  öfe  dein  Donatismus  eigenihünilich),  wurde  bald 
ein  kirchenpolitischer  und  j)ersönlicher •,  s.  Walch,  Ketzeihistorie  Bd.  IV  und 
M öl  1  er  in  Herzog's  R.-E.  DC  S.  534  IV. 


38  Das  abendläudische  Christentimm  vor  Au»ustin. 

Kirche  primär  als  ein  Institut  anzusehen,  dessen  Heiligkeit  und  Wahr- 
heit unverlierbar  ist,  mag  es  mit  den  Gliedern  der  Kirche  noch  so  traurig 
bestellt  sein. 

In  diesem  Gedanken  ist  der  Katholici  smus  erst  vol- 
lendet. Von  hier  aus  erklärt  sich  seine  spätere  Geschichte  bis  heute, 
soweit  sie  nicht  Geschichte  der  Frömmigkeit,  sondern  der  Kirche,  der 
Hierarchie,  der  Sacramentsmagie  und  der  tides  iniplicita  ist.  Aber  nur 
im  Abendland  ist  der  Gedanke  zu  reflectirter,  scharfer  Ausprägung  ge- 
kommen. Im  IVforgenland  ist  er,  weil  er  unvermeidlich  war,  auch  durch- 
gedrungen, aber  so  zu  sagen  als  ein  Unbewusstes.  Das  war  kein  Vor- 
theil;  denn  eben  weil  man  ihn  im  Abendland  scharf  durchdacht  hat, 
besann  man  sich  auch  immer  wieder  auf  Cautelen  oder  auf  eine  Fassung, 
in  der  man  ihn  mit  dem  lebendigen  Glauben  und  mit  den  Forderungen 
eines  heiligen  Lebens  zu  versöhnen  vermochte.  Schon  Augustin,  der 
ihn  bestinnnt  und  reich  ausgeprägt  hat,  hat  darnach  getrachtet,  das 
christliche  Gewissen  mit  ihm  zu  versöhnen.  Aber  er  war  nicht  der 
Erste,  der  ihn  vorgetragen  hat;  er  hat  ihn  vielmehr  schon  überliefert  er- 
halten. Der  erste  Vertreter  der  neuen  Auffassung,  den  wir  kennen  und 
den  auch  Augustin  gekannt  hat,  war  Optatus. 

Die  Schrift  des  Optatus  de  schismate  Donatistarum  ist  im  Interesse 
der  Versöhnung  geschrieben  und  desshalb  so  freundlich  und  entgegen- 
kommend wie  möglich  gehalten.  Dadurch  sind  freilich  heftige  Angriffe 
im  Einzelnen  und  namentlich  höchst  beleidigende  allegorische  Deutungen 
von  Schriftstellen  nicht  ausgeschlossen  ^  Aber  der  Verfasser  erinnert 
sich  immer  wieder  daran,  dass  seine  Gegner  im  Grunde  christliche  Brüder 
seien  (IV,  1.  2),  die  sich  von  der  Kirche  in  Hochmuth  getrennt  hätten 
und  nur  das  nicht  anerkennen  w^ollen,  w^as  man  ihnen  mit  Freuden  ent- 
gegenträgt, die  kircliliclie  Gemeinschaft.  Gleich  im  Anfange  der  übri- 
gens schlecht  disponirten,  weil  auf  eine  Schrift  des  Donatisten  Parme- 
nian  Punkt  für  Punkt  replicirenden  Schrift  w^eist  Optatus  (I,  10  sq.)  — 
von  Cyprian  abw^eichend  —  den  principiellen  Unterschied 
zwischen  Häretikern  und  Schismatikern  auf  und  hält  diesen  Unterschied, 
den  schon  Irenäus  gemacht  hat,  bis  zum  Ende  seiner  Darstellung 
streng  fest  •^.  Die  Häretiker  sind  „desertores  vel  falsatores  symboli'- 
(I,  10.  12;  II,  8),  also  keine  Christen;  die  Donatisten  sind  aufrührerische 
Christen.  Da  die  Delinition  gilt  (I,  11):  „Catholicam  (seil,  ecclesiam) 
facit  simplex  et  verus  intellectus  in  lege  (seil,  duobus  testamentis),  sin- 
gulare ac  verissinium  sacramentum  et  unitas  animorum",  so  fehlt  den 

*  Auch  hat  Optatus  theils  Fälschungen  benutzt,  theils  selbst,  wie  es  scheint, 
gelogen:  8.  See ck,  a.  a.  O.  S.  549 — 567. 

'^  Parmeniau  leugnete  diesen  Unterschied. 


Die  Bedeutung  des  Optatus.  39 

Donatisten  nur  das  letzte  Stück,  um  wahrhaft  kathohsche  Christen  zu 
sein.  Die  Häretiker  haben  „varia  et  falsa  baptismata",  kein  legitimes 
Schlüsselamt ,  keinen  wahren  Gottesdienst ;  „vobis  vero  schismaticis 
quamvis  in  catholica  non  sitis,  haec  negari  non  possunt  \  quia  nobiscum 
Vera  et  communa  sacramenta  traxistis"  (I,  12).  Daher  heisst  es  auch 
III,  9  :  „Nobis  et  vobis  ecclesiastica  una  est  conversatio,  et  si  hominum 
litigant  mentes,  non  litigant  sacramenta.  Denique  possumus  et  nos  di- 
cere:  pares  credimus  et  uno  sigillo  signati  sumus,  nee  aliter  baptizati 
quam  vos*,  nee  aliter  ordinati  quam  vos.  Testamentum  divinum  legimus 
pariter:  unum  deum  rogamus.  Oratio  dominica  apud  nos  et  apud  vos 
una  est,  sed  scissura  facta  partibus  hiuc  atque  inde  pendentibus  sartura 
fuerat  necessaria."  Und  sehr  geistreich  (III,  10)  auf  Grund  einer  Stelle 
im  Ezechiel:  „Ihr  baut  nicht  ein  schützendes  Haus,  wie  die  katho- 
lische Kirche  es  ist,  sondern  lediglich  eine  Mau  er;  paries  nee  lapidem 
angularem  sustinet  et  ianuam  sine  causa  habet  nee  inclusa  custodit, 
pluvia  undatur,  tempestatibus  caeditur  nee  potest  arcere  latronem. 
Paries  de  domo  est,  sed  domus  non  est.  Et  pars  vestra  quasi  eccle- 
sia  est,  sed  catholica  non  est."  Y,  1:  „Pro  utrisque  illud  est,  quod 
et  nobis  et  vobis  commune  est :  ideo  et  vobis,  quia  ex  nobis  exis- 
tis  (das  ist  der  berühmte  Satz,  der  auch  heute  noch  in  der  katholischen 
Kirche  gilt).  Deni(|ue  et  apud  vos  et  apud  nos  una  est  ecclesiastica 
conversatio,  communes  lectiones,  eadem  fides,  ipsa  fidei  sacramenta, 
eadem  mysteria."  Allerdings  ist  auch  nach  Optatus  schliesslicli  der  Be- 
sitz der  Schismatiker  ein  fruchtloser,  weil  ihr  Verbrechen  ein  besonders 
gravirendes  ist.  Sie  sind  eben  doch  nur  eine  „quasi  ecclesia".  Denn 
Merkmal  der  einen  wahren  und  heiligen  Kirche  ist  1)  nicht  die  Heilig- 
keit der  Personen,  sondern  ledighch  der  Besitz  der  Sacramente  (II,  1 : 
„Ecclesia  una  est,  cuius  sanctitas  de  sacramentis  colligitur, 
non  de  superbia  personarum  ponderatur.  Haec  apud  omnes 
haereticos  et  schismaticos  esse  non  potest;  restat  ut  unoloco  sit"),  und 
ist  2)  die  räumhclie  Kathohcität  nacli  der  Vcrheissung:  Ich  will  Dir 
die  Heiden  zum  Erbe  geben  und  der  AVclt  Enden  zum  Eigenthum 
(II,  1:  „Ubi  ergo  proprietas  catliolici  nomiiiis,  cum  inde  dicta  sit  catho- 
lica, quod  sit  rational)ilis  et  ubique  diffusa"  V) '-.    Das  erste  Merkmal 

*  Das  liättc  Cyi)rian  nie  zii^rc-standoii,  der  violmchr  dem  Novatianismus  uach- 
wics  (ep.  09),  das8  er  wie  die  anderen  Häresien  das  Syndjol  verlet/e,  indem  er  das 
Stück  „rernissio  pcccatorum"  nicht  voll  gelten  lasse,  und  der  alle  nicht  innerhalb 
der  katholisclicn  Kirche  Getauften  wiederzutaufen  bc^fald.  Cyprian  hatte  die  Con- 
serjuen/-  des  katholischen  Dogmas  von  der  Kirche  für  sich;  aber  da  diese  Oonse- 
fjucDZ  der  Ausbreitung  und  Machtentfaltung  der  Kirche  schädlich  war,  wies  man  sie 
mit  richtigem  lustinct  in  Rom,  und  8i)äter  auch  in  Afrika,  ab. 

■^  Vgl.  1.  c. :  „Ecclesiam  tu,  frater  Parmenianc,  ajmd  vos  solos  esse  dixisti;  nisi 


40  Das  abendländische  Christenthum  vor  Augustin. 

kommt  in  seiner  negativen  und  exclusiven  Redeiitiing  bei  Optatus  noch 
nicht  zur  Klarheit,  ja  man  könnte  ihm  hier  leicht  einen  Selbstwiderspruch 
nachweisen;  um  so  wichtigen*  ist  ihm  das  zweite  ',  da  die  Donatisten  nur 
in  Afrika  (und  durch  einige  Auswanderer  in  llom)  Boden  getasst  haben. 
In  beiden  hat  er  Augustin's  Lehre  von  der  Kirche  und  den  Sacramenten 
vorbereitet,  in  der  der  Gedanke  des  Optatus  allerdings  vergeistigt  ist. 
Wie  die  „sanctitas  sacramentorum"  zu  verstehen  ist,  das  liat  Optatus 
selbst  am  Taufsacrament  (V,  1 — 8)  gezeigt.  Zur  Taufe  gehören  drei 
Stücke:  die  handelnde  hl.  Trinität  („confertur  a  trinitate"),  der  Gläu- 
bige („fides  c reden tis")  und  der  Spender.  Diese  drei  Stücke  sind 
aber  nicht  gleichwerthig ;  vielmehr  gehören  nur  die  beiden  ersten  zum 
dogmatischen  Begriff  der  Taufe  („duas  enim  video  necessarias  et  unam 
quasi  necessariam")  ^;  denn  die  Taufenden  sind  nicht  „domini'^,  son- 
dern „operarii  vel  ministri  baptismi".  Sie  sind  nur  dienende  und 
wechselnde  Organe,  tragen  also  zum  Begriff  und  Effect  der  Taufe  nichts 
bei;  denn:  „dei  est  mundare  per  sacramentum".  Ist  aber  das  Sacra- 
ment  unabhängig  von  dem,  der  es  zufällig  spendet,  weil  die  Hand- 
lung sich  ledighch  die  immer  gleiche  Trinität  und  den  immer  gleichen 
Glauben  voraussetzt  ^,  so  kann  es  durch  den  Spender  in  seinem  Wesen 
nicht  alterirt  werden  (V,  4:  „sacramenta  per  sc  esse  sancta,  non  per 


forte  quia  vobis  specialem  sauctitatcm  de  superbia  vindicarc  contenditis,  ut, 
iibi  vultis,  ibi  sit  ecclesia,  et  non  sit,  ubi  non  vultis.  Ergo  ut  in  particula  Africac,  in 
angulo  parvae  regionis,  apiid  vos  esse  possit,  apnd  nos  in  alia  parte  Africae  non 
erit  ?" 

*  Im  Zusammenhang  mit  der  räumlichen  Katholici tat  der  Kirche  behan- 
delt Optatus  stets  das  Prädicat  der  Einheit  der  Kirche.  Hier  ist  er  von  Cyprian 
abhängig;  s.  ausser  den  Ausführungen  im  2.  Buch  auch  die  im  7.:  „ex  persona 
beatissimi  Petri  forma  unitatis  retineudae  vel  faoiendae  descripta  recitatur" ;  s.  c.  o : 
„malum  est  contra  interdictum  aliquid  facere ;  sed  peius  est,  unitatem  non  habere, 
cum  possis  .  .  ."  „Bono  unitatis  sepelienda  esse  peccata  hinc  iutellegi  datur,  quod 
b.  Paulus  apostolus  dicat,  caritatcm  posse  obstruere  multitudinem  peccatorum"' 
(hier  also  die  Identificiruug  von  unitas  und  Caritas)  ....  „Haec  omnia  Paulus  vi- 
derat  in  apostolis  ceteris,  qui  bono  unitatis  per  caritatem  nolueruut  a  communione 
Petri  recedere,  eins  seil,  qui  negaverat  Christum.  Quod  si  maior  esset  amor  iuno- 
centiae,  (piam  utilitas  pacis  unitatis,  dicerent  se  nun  debere  conmiunicare  Petro,  (pii 
negaverat  magistrum."  Das  ist  ein  gefährlicher  Grundgedanke  des  Katholicisnuis 
auch  heute  noch. 

'^  Man  beachte,  dass  sich  die  in  der  späteren  Dogmatik  des  Katholicisnuis 
so  bedeutungsvollen,  mit  „ quasi **  zusammengesetzten  Termini  schon  bei  Optatus 
finden. 

*  Hier  steht  sogar  folgender  Satz  (V,  7):  „Ne  quis  putaret,  in  solis  apostolis 
aut  episcopis  spem  suam  esse  ponendam,  sie  Paulus  ait:  »Quid  est  enim  Paulus  vel 
quid  Apollo?  Utique  ministri  eins,  in  quem  credidistis.  Est  ergo  in  universis  ser- 
vientibus  non  dominium,  sed  ministcrium." 


Die  Bedeutung  des  Optatus.  41 

homines").  Das  ist  der  berühmte  Satz  von  der  Objectivität  der  Sacra- 
mente,  der  für  die  Ausbildung  der  abendländischen  Kirchendogmatik 
so  fundamental  geworden  ist,  obgleich  er  in  der  römischen  Kirche 
nie  völlig  rein  durchgeführt  werden  konnte,  weil  er  sonst  die  Präro- 
gativen des  Klerus  vernichtet  hätte.  Es  ist  aber  zu  beachten,  dass 
Optatus  die  sanctitas  sacramentorum  nur  für  die  fides  credentis  wirk- 
sam werden  lässt  und  sich  in  dieser  Hinsicht  über  die  ausschliess- 
liche Bedeutung  des  Glaubens  gegenüber  allen  Tugenden  vöUig  klar 
ist.  Auch  hier  hat  er  durch  die  Hervorhebung  der  Souveränetät  der 
fides  die  zukünftige  Theologie  des  Abendlandes  vorbereitet '.  Um  so 
anstössiger  ist  es,  dass  doch  auch  dem  Optatus  die  ganze  Reflexion 
dazu  dient,  die  Ansprüche  an  das  Leben  der  Glieder  der  Kirche 
herabsetzen  zu  können.  Die  katholische  Lehre  von  den  Sacramenten 
hat,  das  sieht  man  deutlich,  ihre  Wurzeln  in  dem  Interesse,  die  Heilig- 
keit und  so  die  Wahrheit  der  Kirche  trotz  der  ünheihgkeit  der  kirch- 
lichen Christen  aufzuweisen.  Bei  diesem  Bestreben  gerieth  man 
aber  merkwürdigerweise  auf  eine  evangelische  Spur.  Man 
erinnerte  sich,  da  man  die  active  sanctitas  nicht  aufzuweisen  vermochte, 
des  Glaubens  und  seiner  Bedeutung.  Eine  grosse  Krisis,  eine  Ver- 
legenheit, in  der  sich  die  kathohsche  Kirche  mit  ihrer  Lehre  von 
der  Taufe,  der  Tugend  und  dem  Heil  angesichts  der  factischen  Zu- 
stände befand,  hat  sie  auf  die  promissio  dei  und  auf  die  fides  auf- 
merksam gemacht.  So  i st  die  segensreichste,  fol genschwerste 
Umbildung,  welche  das  abendländische  Christenthum  vor 
Luther  erlebt  hat,  aus  einer  Zwangslage  und  aus  der  Noth 
entstanden.  Aber  sie  wäre  nie  zum  Durchbruch  gekommen,  wenn 
sie  sich  nicht  durch  die  inneren  Erlebnisse,  die  ein  katholischer  Christ, 
Augustin,  erfahren,  aus  einer  abgenöthigten  Theorie  in  ein  freudiges 
und  gewisses  Bekeimtniss  verwandelt  hätte. 

Durch  Parmenian  ist  Optatus  veranlasst  worden,  gewisse  „dotes" 


'  Hier  finden  sich  uanientlich  in  V,  7.  8  sehr  bcdeutcüde,  Augustin  anticipi- 
rende  Ausführungen.  „Ad  gratiani  dei  i)ertinc't  (jui  credit,  non  ille,  pro  cuius  volun- 
tate,  ut  dicilis,  sanctitas  vcstra  succedit.'*- -  „Xonien  trinitatis  est,  (juod  sanctificat, 
non  opus  (operantis)."  —  „Restat  iam  de  credentis  nierito  alicjuid  dicere,  cmius 
est  fides,  quam  filius  dei  et  sauctitati  suac  anteposuit  et  majestati ;  non  enim  po- 
testis  sanctiores  esse,  quam  Cliristus  est."  Folgt  die  Gescliiclitc  vom  kananäischen 
Weib  mit  der  merkwürdigen  Nutzanwendung:  „et  ut  osteiuleret  lilius  dei,  so  va- 
casse,  f'idem  tantummodo  op  erat  am  esse:  vade,  inquit,  mulier  in  pace> 
'idcs  tua  te  salvavit."  Ebenso  wird  an  den  Cileschichten  des  Hauptmanns  von  Ka- 
pernaum  und  des  Ijlutflüssigen  Weibes  die  iides  hervorgehoben,  die  Alles  bewirkt 
habe.  „Nee  mulier  petiit,  nee  Christus  jjromisit,  sed  fides  tantum  quantum  prae- 
sumpftit,  exegit." 


42  I^as  abeuilläiidif-che  Christentbum  vor  Aiigustin. 

der  Kirche  aufzuzählen,  cl.  h.  die  wesentlichen  Stücke  ihres  Besitzes. 
Parnienian  hatte  sechs  gezählt,  Optatus  zählt  fünl":  1)  cathedra,  2)  an- 
gelus,  3)  si)iritus,  4)  fons,  5)  sigilhini  (symholuni).  Die  Aufzählung 
ist  eine  so  ungeschickte,  dass  man  die  Anpassung  an  die  Formel  des 
Gegners  nur  hedauern  kann.  Aher  wir  erfahren  wenigstens  auf  diese 
Weise,  dass  die  cyprianische  ideale  Anschauung  von  der  in  der  ca- 
thedra Petri  repräsentirten  Einheit  des  Episkopats  in  Afrika  recipirt 
und  arglos  cultivirt  worden  ist.  „Olaves  solus  Petrus  accepit"  (I,  10.  12). 
„Negare  non  potes,  scire  te  in  urbe  Roma  Petro  primum  cathedram 
episcopalem  esse  collatam,  in  qua  sederit  onniium  apostolorum  caput 
Petrus,  unde  et  Cephas  ai)pellatus  est,  i)i  qua  una  cathedra  unitas 
ab  Omnibus  servaretur,  ne  ceteri  apostoli  singulas  sibi  quisque  defen- 
derent,  ut  iam  schismaticus  et  peccator  esset,  qui  contra  singularem 
cathedram  alteram  collocaret"  (II,  2).  Der  Zusammenhang  mit  der 
cathedra  Petri  ist  nicht  nur  für  Optatus,  sondern  auch  für  seinen 
Gegner  (II,  4)  von  entscheidender  Bedeutung,  der  sich  desshalb  dar- 
auf berufen  hat,  dass  auch  die  Donatisten  in  Rom  einen  Bischof  be- 
sässen.  Optatus  betont  übrigens  bei  der  Besprechung  des  zweiten 
Stücks  (angelus  =  rechtmässiger  Bischof  der  Localgemeinde,  Avährend 
die  cathedra  die  ökumenische  Einheit  verbürgt)  den  Zusammenhang 
der  katholisch-afrikanischen  Kirchen  mit  den  orientalischen  und  vor 
Allem  mit  der  septiformis  ecclesia  Asiae  (Apoc.  2,  3)  fast  ebenso 
stark,  wie  den  mit  der  römischen  Kirche  (II,  6 ;  VI,  3).  Seine  Aus- 
führungen über  Spiritus  \  fons,  sigillum  sind  ohne  besonderes  Interesse 
(II,  7 — 9).  Dagegen  ist  es  wichtig,  dass  er  die  Betrachtung  der  do- 
tes  ecclesiae  (II,  10)  ausdrücklich  zurückstellt  hinter  die  Constatirung 
der  sancta  membra  ac  viscera  ecclesiae,  von  welchen  Parnienian 
geschwiegen  hatte.  Diese  bestehen  in  den  Sacramenten  und  in  den 
Namen  der  Trhiität  („cui  concurrit  tides  credentium  et  professio"). 
Damit  lenkt  er  in  die  ihm  natürliche  und  bedeutungsvolle  Betrachtungs- 
weise zurück  ■^. 

^  Der  Donatist  hatte  gesagt  (II,  5) :  „Nam  iu  illa  (cathülica)  ecclesia  quis  Spi- 
ritus esse  potest,  nisi  qui  pariat  filios  geheunac?''  Das  ist  das  echte  Bekenutuiss  der 
Separatisten. 

"^  Zur  Charakteristik  des  abeudländischeu  Christeuthunis  vor  Augustin  seien 
Jiier  einige  Einzelheiten  aus  dem  Werk  des  Optatus  hervorgehoben.  Er  nennt  die 
beiden  Testamente  regelmässig  „lex"  ;  er  beurtheilt  alle  dogmatischen  Erschei- 
nungen nach  dem  symbolum  apostolicum,  in  welchem  er  die  Trinitätslehre  tiudet, 
die  er  für  das  Hauptbekenntniss  hält,  ohne  dessludb  das  Nicäuum  zu  erwähnen ;  ei' 
bekennt  „i)er  carnem  Christi  deo  reconciliatus  est  mundus''  (I,  10);  er  erklärt 
(VI,  1):  „quid  est  altare,  nisi  sedes  et  corporis  et  sanguinis  Christi,  cuins  illic  per 
certamomenta  corpus  et  sanguis  habitabat?"    Er  spricht  vom  reatus  peeeati 


Optatus.    Die  Bedeutung  des  Ambrosius.  43 

Hat  Optatus  die  Lehren  Aiigiistin's  über  die  Sacramente,  den 
Glauben  und  die  Kirche  vorbereitet,  so  Ambrosius  die  über  die  Sünde^ 
die  Gnade  und  den  Glauben.  Wir  haben  ihn  oben  in  seiner  Bedeutung 
als  Griechenschüler  für  Augustin  zu  würdigen  versucht*,  hier  haben 
wir  ihn  als  Abendländer  zu  betrachtend  Allem  zuvor  ist  aber 
der  Bischof;  nicht  der  Theologe  ins  Auge  zu  fassen.  An  dem  könig- 
hchen  Priester  ist  dem  Augustin  die  Autorität  und  Majestät  der 
kathohschen  Kirche  aufgegangen.  Nur  ein  römischer  Bischof  — 
sass  er  auch  nicht  auf  dem  römischen  Stuhl  —  konnte  ihn  die  lehren, 
und  vielleicht  wäre  das  grosse  Werk  de  civitate  dei  nie  geschrieben 
worden,  ohne  den  Eindruck,  den  Augustin  von  Ambrosius  davon  ge- 
tragen hat;  denn  grosse  gescliichtliche  Conceptionen  entstehen  ent- 
weder aus  dem  hinreissenden  Eindruck  grosser  Persönlichkeiten  oder 
aus  politischer  Thatkraft ;  diese  aber  hat  Augustin  niemals  besessen. 
An  Ambrosius  dagegen,  dem  priesterlichen  Keichskanzler,  muss  ihm 
das  Imperium  der  katholisclien  Kirche  aufgegangen  sein  '^,  und  die 
Erfahrungen  der  Verworrenheit  und  Schwäche  der  staatlichen  Gewalt 
am  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  vollendeten  diesen  Eindruck.  Daneben 
kommen  die  Predigten  des  Ambrosius  in  Betracht  ^.  Sind  sie  auch 
nach  der  einen  Seite  ganz  von  griechischen  Mustern  abhängig,  so 
zeigen  sie  doch  andererseits  in  ihrer  praktischen  Haltung  den  Geist 
des  Abendlandes.  Das  „docere,  ilecterc,  movere",  welches  Augustin 
vom  Prediger  verlangt,  ist  wie  aus  den  Predigten  des  Ambrosius  abs- 
trahirt.   Trotz  der  AV  eltflucht  und  der  Yirginität,  die  auch  er  haupt- 


und  vom  meritum  fidci ;  die  Unterscheidung  von  praccepta  und  consilia  hat  er 
(VI,  4)  in  seiner  Erklärung  des  Gleichnisses  vom  barmherzigen  Samariter  bestimmt 
ausgesprochen.  Der  Wirth  im  Gleichniss  sei  Paulus,  die  beiden  Denare  die  beiden 
Testamente,  die  weitere  vielleicht  noch  uöthigc  Summe  seien  die  consilia.  Den 
Stand  des  soteriologischen  Dogmas  in  seiner  Zeit  hat  er  durch  die  Ausführung 
(II,  20)  bezeichnet :  „Est  Christiani  hominis,  quod  bonum  est  velle  et  in  eo  quod 
bene  voluerit,  currere ;  sed  homini  non  est  datum  pcrficere,  ut  post  spatia,  quac 
debet  homo  implerc,  restet  aliquid  deo,  ubi  dcficienti  succurrat,  quia  ipse  solus  est 
porfectio  et  i)erfectus  solus  dei  filius  Christus;  caetcri  omnes  sem  i-perfccti 
sumus,"  Hier  erkennt  man  die  grosse  Aufgabe,  die  Auguslin's  wartete.  Aber  auch 
in  kirchenpolitischer  Beziehung  verräth  sich  Optatus  als  ein  Epigone  der  konstan- 
tinischen Zeit,  nicht  als  ein  Vorläufer  der  augustinischen,  s.  seine  These  gegenüber 
der  Staatsfeindlichkeit  der  Donatisten  (HI,  3) :  „Non  respublica  est  in  ecclcsia,  sed 
ecclesia  in  rcpiiblica  est,  id  est  in  imjjcrio  Romano." 

'  In  dieser  Beziehung  nimmt  Am])ro8ius  eine  isolirte  Stellung  ein-,  so  ist  es 
z.  B.  charakteristisch,  dass  er  Cyprian's  Werke  nicht  gelesen  zu  haben  scheint. 

^  Ich  drücke  mich  absieht  lieh  so  aus;  denn  in  Wörtern  hat  Ambrosius  nienuils 
die  empirische,  hierarchische  Kirche  in  den  Vordergrund  geschoben. 

"  S,  die  Nach  Weisungen  von  Förster,  a.  a.  O.  S.  218  ff. 


44  Da^s  abcudländiRche  Christentbiim  vor  Augustin. 

sächlich  predigt,  ist  er  docli  iiiniier  wieder  jiuf  alle  concreten  Ver- 
hältnisse der  Zeit  und  iiwi'  die  sittlichen  Bedürfnisse  der  Gemeinde 
eingegangen  '.  So  stellt  sich  in  Anihrosius  die  innige  Verkniij)fung 
des  weltlUichtigen  Ideals  mit  dem  kräftigen  Dringen  auf  positive  Sitt- 
lichkeit dar,  eine  Verknüpfung,  die  der  mittelalterlich-ahendländischen 
Kirche  nie  verloren  gegangen  ist,  so  sehr  auch  das  contemplative 
Leben  dem  thätigen  übergeordnet  wurde. 

In  Ambrosius'  Ijehre  von  der  Sünde  und  Gnade  kreuzen  sich  drei 
verschiedene  Betrachtungswiüsen.  Erstlich  ist  er  von  der  speculativen, 
das  Böse  als  ein  Nichtseiendes,  aber  zugleich  als  ein  Nothwendiges 
betrachtenden  Auffassung  der  Griechen  abhängig  gewesen'-^;  zweitens 
zeigt  er  sehr  starke  Einflüsse  seitens  der  stoisch- ciceronianischen  Po- 
pularmoral  ^,  die  bei  gebildeten  abendländischen  Christen  sehr  ver- 
breitet war  und  im  Pelagianisnnis  durch  Verbindung  mit  der  mön- 
chischen IMoral  die  für  die  Dogmatik  des  Abendlandes  entscheidende 
Krisis  heraufgeführt  hat;  drittens  endlich  hat  er  jene  tertullianische 
Betrachtung  von  dem  radicalen  Bösen  und  dem  Schuld  Charakter 
der  Sünde  kräftig  weiter  geführt,  welche  durch  i^ugustin  zur  funda- 
mentalen erhoben  worden  ist.  Das  Böse  ist  radical  und  wur- 
zelt doch  nicht  in  der  Sinnlichkeit,  sondern  in  der 
„superbia  animi";  es  entspringt  aus  der  Freiheit  und  ist 
doch  eine  sich  in  der  Menschheit  fortpflanzende  Macht. 
Das,  w^as  die  Griechen  als  ein  mehr  oder  weniger  zufälliges  Product 
der  Umstände  ansahen,  den  allgemeinen  sündigen  Zustand,  hat 
Ambrosius  als  entscheidende  Thatsache  zum  Ausgangspunkt  seines 
Denkens  gemacht  und  bestimmter  als  irgend  ein  Lehrer  vor  ihm 
—  den  Ambrosiaster  ausgenommen  ~  auf  den  Fall  Adams  zurück- 
geführt*. Es  finden  sich  in  dieser  Hinsicht  bei  ihm  Stellen,  die  den  be- 

^  S.  aus  älterer  Zeit  die.  Instriictiüiien  Commodian's.  Ambrosius  ist  kein 
solcher  Patron  des  Mönchthums  wie  Hieronynius. 

''  S.  oben  S.  29. 

^  S.  Ewald,  Der  Einfluss  der  stoisch-ciceroniauischen  Moral  auf  die  Darstel- 
lung der  Ethik  bei  Ambrosius.  1881.  Die  Schrift  de  oi'liciis  zeigt  bei  aller  äusser- 
lichen  Einstimmigkeit  doch  nur  ein  starkes  Schwanken  zwischen  der  Tugend  als  dem 
höchsten  Gut  (in  stoischem  Sinn)  und  dem  ewigen  Leben,  welch'  letzteres  übrigens 
nicht  in  christlichem  Sinn  gefasst  ist.  Sowohl  der  antike  Moralismus  als  selbst  der 
eudämonistische  Zug  der  alten  IMoralphilosophie  regieren  das  Buch,  in  welchem 
schliesslich  der  „wahre  AVeise"  doch  am  deutlichsten  hervortritt.  Unter  solchen 
Umständen  ist  die  Unterscheidung  von  praecepta  und  consilia,  an  sich  der  evan- 
gelischen Moral  so  gefährlich,  ein  Vorzug-,  denn  in  der  Form  der  consilia  treten 
specitisch  christliche  Tugenden  hervor. 

'  Auch  Hilarius  redet  vom  vitium  originis. 


Ambro  sius.  45 

rühmten  augustinisclien  in  nichts  nachstehen  '.  Allein  so  wichtig  die 
Wendung  ist,  dass  nicht  mehr  primär  auf  die  Folgen  der  Sünde,  auch 
nicht  auf  den  einzelnen  sündigen  Act,  sondern  auf  den  sündigen  Z  u- 
stand  reflectirt  wird,  den  keine  Tugend  zu  heben  vermag,  so  ist  docli 
eben  nur  hierin  der  von  Ambrosius  gemachte  Fortschritt  zu  erkennen. 
In  religiöser  Hinsicht  ist  ein  solcher  bei  Ambrosius  nicht  zu  finden ; 
denn  seine  Lehre  von  dem  traducianischen  Charakter  und  der  Tenacität 
der  Sünde  ist  keineswegs  mit  dem  erhöhten  Gottes-  und  Heilsbewusst- 
sein  in  Zusammenhang  gebracht.  Ambrosius  hat  das  Böse  noch 
nicht  unter  die  entscheidende  religiöse  Beleuchtung  gestellt. 
Darum  tastete  er  doch  nur  an  dem  Schuldcharakter  der  Sünde  herum, 
ohne  ihn  zu  treffen*,  darum  kann  er  doch  wieder  die  Schwäche  des 
Fleisches  als  einen  wesentlichen  Factor  betonen;  darum  vermag  er  die 
These  aufrecht  zu  erhalten,  dass  der  Mensch  aus  sich  selbst  fähig  sei, 
das  Gute  zu  wollen;  darum  ist  seine  Sündenlehre  für  uns  ein  unerträg- 
liches Gemenge  von  Widersprüchen.  Allein  dessen  ungeachtet  muss  man 
den  Fortschritt,  dass  Ambrosius  den  radicalen  sündigen  Zustand  be- 
trachtet, sehr  hoch  anschlagen.  Er  ist  ohne  Zw^eifel  für  Augustin  von 
Bedeutung  gewesen.  ITnd  dazu  kommt  weiter,  dass  er  in  einer  sehr 
lebendigen  Weise  vom  Glauben  zu  reden  vermocht  und  ihn  als 
Lebensgemeinschaft  mit  Gott,  resp.  mit  Christus  gefasst  hat. 
Der  religiöse  Individualismus,  der  bei  Augustin  leuchtet,  schimmert 
schon  l)ei  Ambrosius:  „Tntret  in  animam  tuam  Christus,  inhabitet 
in  mentibus  tuis  Jesus  .  .  .  Quid  mihi  prodest  tantorum  conscio 
peccatorum,  si  dominus  veniat,  nisi  veniat  in  meam  animam,  redeat 
in  meam  mentem,  nisi  vivat  in  me  Christus"  -.   Und  so  bestimmt  er  an 


'  S.  Deut  seil,  Des  ATnl)rosins  Loliro  von  der  Sündo.  und  Süiidentilgung-. 
1867.  Förster,  a.  a.  O.  S.  140  fl".  Alle  INIenselion  sind  Sünder,  auch  Maria.  Das 
„haereditarium  vinculuni"  der  Sünde  umzieht  Alle.  „Fuit  Adam,  et  in  illo  fuimus 
omnes  ;  periit  Adam,  et  in  illo  omnes  perierunt."  Nicht  eine  Erbkrankheit  ist  allein 
gemeint,  sondern  auch  eine  fortwirkende  Schuld.  „Quicun<iue  natus  est  sub  peeeato, 
quem  ipsH  noxiae  conditionis  luicrcditas  adstriiixit  ad  culi»am."  Freilich  eine  Tm- 
putationslelirr-  findet  sich  bei  Ambrosius  noch  nicht;  denn  nach  seiner  Auflassung 
ist  die  Menschheit  in  Adam  eine  Einheit,  in  der  einepee(,'at)ix  successio,  eine  fort- 
gehende Entfaltung  der  Sünde  Adams  stattfindet.  Also  ist  eine  Tm])utation  nicht 
nothvvendig.  Ambrosiastei*  hat  den  (ledanken  des  Ambrosius  (/u  Rom.  5,  12) 
ebenfalls  ausgej)rägt:  „manifestunj  itaque  est,  in  Adam  omnes  peccasse  (^uasi  in 
massa;  ipse  enim  perpeccatum  corruptus,  quos  genuit,  omnes  nati  sunt  sub  peccato. 
Ex  eo  igitur  cuncti  peccatores,  ([uia  ex  eo  ipso  sunins  omnes."  Im  Abendland  gab 
es  für  diesen  Cicdanken  seit  Tej-fuliiiin  eine  Tradition,  s.  Cyi)rian,  ej).  H4,  5;  de 
Oper«'  1,  und  Commodian,  Instru('t.  f,  .''5. 

'  In  ps,  119  exp.  TV,  20;  in  Iaic  enarr.  X,  7;  in  ps.  80  ex]).  03.  Die  Stellen 
sind  von  Förster  zusammengestellt.    S.  aucli  I)o<.ineiioc'H(;l:.  II  S.  12. 


46  Pas  abendländische  Christentlium  vor  Augustin. 

vielen  Stellen  das  Verdienst  der  Werke,  die  Liebe,  als .  Erlösungs- 
mittel  bezeichnet,  so  kräftig  schwingt  er  sich  andererseits  in  einigen 
Ik'trachtungen  zu  der  Höhe  auf,  dass  Gott  allein  in  uns  den  Sinn 
für  das  Gute  weckt  und  wir  uns  allein  der  Gnade  Gottes  in  Christus 
getrösten  dürfen  K  Die  paulinischcn  Briefe  stehen  dem  Ambrosius 
im  Vordergrund  ^,  und  aus  ihnen  hat  er  gelernt,  dass  der  Glaube  als 
Zuversicht  zu  Gott  eine  Macht  für  sich  ist  und  nicht  einfach  in  den 
Bereich  des  Fürwahrhaltens  fällt.  Soviel  Fremdes  er  auch  noch 
einmischt,  so  oft  er  den  Glauben  doch  wiederum  als  Act  des  Ge- 
horsams auf  eine  äussere  Autorität  hin  fasst  —  er  weiss  doch  vom 
Glauben  anders  zu  reden  als  seine  Vorgänger.  Der  Glaube  ist  ihm 
die  fundamentale  That  des  christlichen  Lebens,  nicht  nur  als  Auto- 
ritätsglaube („iides  praevenit  rationem")  ^,  sondern  als  Glaube,  der 
die  Erlösung  durch  Christus  ergreift  und  rechtfertigt,  weil 
er  der  Grund  der  vollkommenen  Werke  ist  und  weil  vor  Gott  nur 
Gnade  und  Glaube  gilt.  „Et  illud  mihi  prodest,  quod  non  iustificamur 
ex  operibus  legis.  Non  habeo  igitur  unde  gloriari  in  operibus  nieis 
possim,  non  habeo,  unde  nie  iactem;  et  ideo  gloriabor  in  Christo. 
Non  gloriabor  quia  iustus  sum,  sed  gloriabor  quia  redemptus  sum. 
Gloriabor  non  quia  vacuus  peccatis  sum,  sed  quia  mihi  remissa  sunt 
peccata.  Non  gloriabor  quia  profui,  ncque  quia  mihi  profuit  quis- 
quam,  sed  quia  pro  me  Christi  sanguis  effusus  est"  *.  Das  ist  Augusti- 
nismus vor  Augustin,  ja  mehr  als  Augusthiismus ! '* 

Li  der  dogmatischen  Arbeit  der  abendländischen  Theologen  des 
4.  Jahrhunderts  tritt  jener  Geist  des  abendländischen  Christeuthums 
einigermassen  zurück,  der  in  der  Schrift  Cyprian's  de  opere  et  elee- 

*  In  ps.  119  <?xp.  XX,  14:  „Nemo  sibi  arroget,  nemo  de  meritis,  nemo  de  po- 
testate  se  iactet,  sed  omnes  speremus  per  dominum  Jesum  misericordiam  invenire 
—  quae  enim  spes  alia  peccatoribus?" 

^  Das  Fragezeichen  bei  Reuter,  August.  Studien  S.  493,  ist  aus  übertriebener 
Vorsicht  entsprungen.  Auch  der  Gegensatz  von  natura  und  gratia,  der  überall  eine 
seiner  Wurzeln  im  Pauliuismus  hat,  kündigt  sich  bei  Ambrosius  bestimmt  an;  s.  de 
off.  I,  7,  24,  auch  die  Rede  auf  den  Tod  seines  Bruders. 

^De  Abrah.I,  3,  21. 

*  De  Jacob  et  vita  beata  I,  6,  21;  andere  Stellen  bei  Förster  S.  160 ff.  303 tV. 
^  Eine  ausführliche  Darstellung  miisste  hier  noch  auf  viele  abendländische 

Schriftsteller  eingehen,  so  auf  Prudentius  (s.  die  INIouographien  von  Brockhaus 
1872  und  R Osler  1886),  Zeno,  Ambrosiaster,  Paulin  von  Nola  u.  s.  w.;  allein  das 
(rebotene  mag  zur  Bestimmung  der  Richtungen,  in  denen  sich  das  abeudländisehe 
Christenthum  bewegte,  genügen.  In  Bezug  auf  llilarius  hat  jüngst  Förster  (Stud. 
u.  Krit.  1888  S.  64511.)  gezeigt,  dass  auch  er,  trotz  seiner  Abhiiugigkeit  \ou  den 
Griechen,  das  praktisch-ethische  Interesse  der  Abendländer  nicht  verleugnet. 


i 


Resultate  der  voraugustinisclien  Entwickelung.  47 

mosynis  seine  kräftigste  Ausprägung  erfahren  hat.  Allein  er  tritt  eben 
nur  zurück^  bleibt  aber  doch  der  herrschende.  Was  der  Vorzug  des 
abendländischen  Christenthums  vor  dem  morgenländischen  ist;  der 
lebendigere  Gottesbegriff,  das  starke  Gefühl  der  Verant- 
wortung gegenüber  Gott  als  dem  Richter,  das  durch  keine 
Naturspeculation  gehemmte  oder  aufgelöste  Bewusstsein 
von  Gott  als  der  sittlichen  Macht,  das  erscheint  durch  die 
juristische  Vergeltungs-  und  die  pseudosittliche  Verdienstlehre 
aufs  schlimmste  deteriorirt.  Dem  gegenüber  war  das  Einströmen  der 
neuplatonischen  Mystik  von  hoher  Bedeutung*^  denn  es  war  so  ein 
Gegengewicht  gegen  eine  Auffassung  geschaffen,  welche  die  Religion 
in  eine  Reihe  von  Rechtsgeschäften  aufzulösen  drohte.  Allein  das 
stärkste  Gegengewicht  lag  in  der  Lehre  vom  Glauben  und  von  der 
Gnade,  wie  sie  Augustin  verkündet  hat.  Indessen  wird  sich  zeigen, 
dass  Augustin  seine  neue  Auffassung  so  vorgetragen  hat,  dass  sie  das 
herrschende  Schema  nicht  zersprengte,  sondern  vielmehr  in  dasselbe 
eingeordnet  werden  konnte  —  vielleicht  der  grösste  Sieg,  der  je  in 
der  Religionsgeschichte  von  einer  berechnenden  Moral  über  die  Reli- 
gion erstritten  worden  ist! 

Die  Auffassung  der  Religion  als  eines  Rechtsverhältnisses,  welches 
sich  in  den  Schematen  lex,  delictum,  satisfactio,  poena,  meritum,  prae- 
mium  etc.  bewegt,  ist  von  Augustin  nicht  durchbrochen,  vielmehr  ist 
die  gratia,  rechtlich  und  dinglich  ausgeprägt,  in  das  Verhältniss  ein- 
gestellt worden,  so  jedoch,  dass  es  dem  Einzelnen  möglich  blieb,  das 
ganze  Verhältniss  von  der  gratia  aus  zu  construiren.  —  — 

In  den  bisherigen  Ausführungen  ist  der  Versuch  gemacht,  die 
verschiedenen  Linien  im  Abendland  aufzuweisen,  die  in  Augustin  zu- 
sammentreffen. Folgendes  sei  zum  Schluss  noch  besonders  hervor- 
gehoben : 

1)  Neben  der  hl.  Schrift  stand  im  Abendland  das  Sym])oli]m,  die 
apostolische  „lex",  auf  einer  unerreicl)1)aren  Höhe,  und  da  diese  lex  im 
Gegensatz  zu  demMarcionitismus,  Salx'llianismus,  Arianismus  und  Ai)ol- 
linarismus  ohne  wesentliclie  Scliwankungon  und  ohne  Raisonnement  als 
Bekenntniss  zu  der  Einheit  Gottes  in  drei  Personen,  sowie  zu  der  E  in  - 
h ei t  Christi  in  zwei  Substanzen  gefasst  wurde,  so  scheint  die  abend- 
ländische Kirche  eine  hoheSiclierheit  in  Ansehung  des  trinitarischen  und 
christologischcn  Problems  besessen  zu  haben.  Allein  mit  dieser  Sicher- 
heit contrastirtdie  vielfach  zu  l)elegendcTliatsache,  dass  unter  der  Hülle 
des  offjcielleii  Hekcnntnisses  im  Abendland  \v(;it  nuOir  Christologisch- 
liäretisches  im  Umlauf  war  und  fcstgehaltcai  wurde,  als  in  den  Kirchen 
des  Morgenlandes,   und  dnss  sjjcciell   die  rhi-istologische  Formel,  so- 


48  T)ft^  abendländische  Cliristenthum  vor  Aupfustin. 

weit  sie  nicht  ganz  unbekannt  war,  für  die  Laien  und  viele  Kleriker 
lediglich  ein  Nounienon  gewesen  ist  K  Diese  Thatsache  wird  ferner 
dadurch  bestärkt,  dass  sich  das  Nachdenken  der  abendländischen 
Theologen,  soweit  sie  niclit  in  die  niorgenländischen  Streitigkeiten 
direct  hineingezogen  wurden,  gar  nicht  auf  die  in  jener  „lex" 
enthaltenen  Sätze  richtete,  sondern  auf  ganz  andere 
Fragen.  Nicht  erst  Augustin  liat  „Auslegungen  des  Syndjols"  ge- 
schrieben, in  welchen  völHg  andere  Fragen  behandelt  wurden,  als  man 
nach  der  Vorlage  erwarten  niüsste,  sondern  schon  die  abendländischen 
Theologen  von  Cyprian  an  zeigen,  dass  sie  als  Cln'isten  und  als 
Kirchenmänner  in  einem  Complex  von  Ideen  und  Fragen  leben,  der 
mit  den  von  den  Antignostikern  und  den  Alexandrinern  behandelten 
Problemen  und  mit  dem  Dogma  wenig  zu  thun  hat. 

2)  Im  Zusammenhang  mit  der  Ausbildung  der  Bussdisciplin  auf 
Grund  der  opera  und  merita  (im  Sinne  von  Satisfactionen)  und  ent- 
sprechend dem  juristischen  Geiste,  der  der  abendländischen  theologi- 
schen Speculation  eigenthiimlich  ist,  beginnt  hier  das  sündentilgende 
Werk  Christi  in  den  Vordergrund  zu  treten.  Nicht  sowohl  die  In- 
carnation  —  diese  ist  Voraussetzung  —  als  der  Tod  Christi  wird 
als  das  punctum  saliens  betrachtet  ^,  und  er  wird  bereits  nach  allen 
denkbaren  Richtungen  hin  als  Opfertod,  als  Versöhnung,  als  Erkaufung, 
als  stellvertretende  Leistung  des  Kreuzestodes  behandelt,  zugleich  wird 
schon  von  Ambrosius  das  Verhältniss  (rcconciliatio,  redemptio,  satis- 


^  Icli  bin  darauf  schon  Bd.  I  (2.  Aufl.)  S.  632  f.  kurz  eingegangen.  Augustin 
(Confess.  VlI,  19)  glaubte  ))is  zur  Zeit  seiner  Bekehrung,  die  katliob'sche  Kirchen- 
lehre von  Christus  sei  ungefähr  mit  der  Photin's  identisch;  sein  Freund  Alj^pius 
dagegen  meinte,  die  Kirche  spreche  Christus  die  menschliche  Seele  ab.  Aus  des 
Hilarius'  Werk  de  trinitate  erkennt  man,  wie  viele  christologische  Auffassungen  in 
den  abendländischen  Gemeinden  im  Umlauf  waren,  darunter  auch  die  „quod  in  eo 
ex  virgine  creando  efficax  Dei  sapientia  et  virtus  exstitei'it,  et  in  nativitate  eins  divi- 
nae  prudentiae  et  potestatis  opus  intellegatur,  sitque  in  eo  efficientia  potius  quam  na- 
tura sapientiae".  Optatus  muss  (I,  8)  an  Parmenian  rügen,  dass  derselbe  das  Fleisch 
Christi  sündig  genannt  und  behauptet  habe,  es  sei  durch  die  Taufe  gereinigt 
worden.  Der  Gedanke  des  Hippolyt  (Philos.  X,  33) :  ?-.  Y«p  o  ^so<;  O-sov  o?  'rjO-^X-rjo? 
^toiYjaa'.,  I^uvaxo  •  £/£'.?  toö  \6-(oti  ib  Tzo.paZei'^ii.a,  zieht  sich  trotz  der  Zweinaturenlehre 
und  der  Aufnahme  griechischer  S])eculationen  als  verborgener  Faden  durch  die 
christologischen  Aussagen  des  Abendlandes,  Wir  werden  sehen,  dass  auch  bei  Am 
brosius  und  Augustiu  ein  versteckter,  aber  mit  Absicht  conservirier  Rest  der  alten 
adoptianischen  Auflassung  zu  finden  ist.  (Wie  derselbe  zu  beurtheilen,  darüber  s. 
oben  sub  2.)  —  Die  Einflüsse  der  manichäischen  Christologie  auf  viele  untergeord- 
nete Geister  in  den  abendländischen  Kirchen  mögen  hier  auf  sich  beruhen. 

'^  Pseudo-Cyprian,  de  duplici  martyrio  IG:  „Domini  mors  poteutior  on\\  (|uaiu 
vita." 


Resultate  der  voraugustinischen  Entwickelung.  49 

factio,  immolatiO;  meritum)  zur  Sünde  als  Schuld  (reatus)  erörtert. 
Unter  solchen  Umständen  fiel  der  Accent  auf  die  menschliche  Natur 
Christi :  der  Oj^fernde  und  das  Opfer  ist  der  Mittler  als  Mensch,  der 
seinen  Werth  durch  die  göttliche  Natur  erhält,  freilich  ebensowohl  durch 
die  acceptatio  seitens  der  Gottheit.  Somit  besass  das  Abendland  ein 
eigenes  christologisches  Schema,  in  welchem  zwar  die  Formel  von  den 
zwei  Naturen  den  Ausgangspunkt  bildete,  welches  aber  in  der  Richtung 
verfolgt  wurde,  dass  der  Mittler  als  der  Mensch  erschien, 
dessen  freie  Leistung  vermöge  der  besonderen  Veranstal- 
tungGottes  einen  unendlichen  Werth  besitzt^  (Optat.  I,  10: 
„mundus  reconciliatus  deo  per  carnem  Christi").  Von  hier  aus  ist  es 
verständlich,  dass  sich  Augustin  in  nicht  wenigen  Ausführungen  in 
einen  freilich  verdeckten  AViderspruch  zur  Lehre  von  der  göttlichen 
Natur  Christi  setzt,  indem  er  die  Vorzüge  des  geschichtlichen  Christus 
so  erörtert,  als  sei  jene  Natur  gar  nicht  vorhanden,  sondern  als  sei 
Christus  Alles  aus  Gnaden  gegeben  worden-.  Von  hier  aus  erklärt  es 
sich  ferner,  dass  nachmals  im  Abendland  immer  wieder  der  gemilderte 
Adoptianismus  aufgetaucht  ist  ^^  der  vom  Standpunkt  der  consequenten 
griechischen  Christologie  aus  die  schlimmste  Häresie  ist,  weil  er  das 
ganze  Gefüge  dieser  Christologie  sprengt  und  ihre  Abz weckung  ver- 
wirrt. Endlich  erklärt  es  sich  auch  von  hier,  dass  nachmals  abend- 
ländische Christen,  zumal  solche,  welche  die  mystisch-mönchische  Praxis 
des  Umgangs  mit  dem  keuschen  Bräutigam  Christus  gelernt  hatten, 
die  christologische  Anschauung  wesentlich  auf  das  „Ecce  homo"  re- 
ducirt  haben.  Die  Lebendigkeit  und  erschütternde  Kraft,  welche  dieses 
Bild  für  sie  besass  und  sie  über  Leiden  und  Schmerzen  erhob,  kann 
darüber  nicht  täuschen,  dass  hier  die  kirchliche  Christologie  nur  noch 
als  Formel  beibehalten  ist.  Allein,  dass  der  alte  abendländische  An- 
satz zur  Grundlage  einer  Betrachtung  geworden  ist,  welche  es  der 
Phantasie  und  Stimmung  liberliess,  die  Bedeutung  der  Person  Christi 
festzustellen,  darf  nicht  als  nothwendige  Folgerung  aus  ihm  bezeichnet 
werden.  Vielmelir  entspricht  dieser  Ansatz  ((Christus  steht  unter  der 
Gnade  des  Vatei's,  führt  aus,  was  ihm  der  Vater  gegeben,  und  wird 
vom  Vater  erhöht)  den  deutlichsten  Stellen  des  NT. 's  und  ist  der  ein- 


»  Das  Nähern  s.  Bd.  II  S.  177  fr.  Ritsclil ,  Lolin^  v.  d.  Rechtfertigung  u.  Ver- 
söhnung. 2.  Aufl.  T  S.  38,  III  S.  362.  (ilesoh.  des  Pietisrn.  III  S.  426  If. 

'^  S.  /..  H.  (iie  Tfiorkwürdigen  Ausfulirungon  ad  Laurentium  c.  36  sq.  Die  gött- 
liche Natur  wird  freilich  als  im  Hintergrund«'  ruhend  betrachtet;  uUein  in  den 
V^ordergrund  trift  an  .lesus  (Jhristus  dej-  „einzelne"  Menneh,  der  olnie  vorangegan- 
genes Verdienst  aus  (ilnaden  in  die  (lottheit  aufgenommen  wird. 

'  S.  die  Nachweisungen  in  Bach 's  Dogmengescii.  des  Mittelalters  Bd.  II. 
Harnack,  Do(fmf;n(?PScliic)it''  IH.  ä 


50  Das  ahendländisclie  Christoutlium  vor  Augustin. 

zige  Schlitz  gegenüber  den  superstitiüsen,  das  Evangelium  entleerenden 
Vorstellungen  der  Griechen.  —  Allein  nicht  die  verschiedenen  Ver- 
suche des  Mittelalters,  das  Werk  Christi  abzuschätzen,  sondern  viel- 
mehr die  ganze  Tendenz,  das  Christenthum  als  Religion  der  Ver- 
söhnung zu  verstellen,  ist  von  entscheidendem  Werth;  denn  in  dieser 
Tendenz  spricht  sich  die  Furcht  vor  dem  richtenden  Gott  in 
charakteristischer  Weise  aus,  die  im  Morgenland  hinter  den  mystischen 
Speculationen  zurückgetreten  ist  ^ 

3.  Ein  scharfes  Auge  gewahrt,  dass  die  soteriologische  Frage 
—  wie  wird  und  bleibt  der  Mensch  seiner  Sünden  ledig  und  gelangt 
zum  ewigen  Leben?  —  im  4.  Jahrhundert  die  Nachdenkenden  in  der 
abendländischen  Kirche  bereits  lebliaft  beschäftigt  hat  und  zwar  so, 
dass  (im  Unterschied  vom  Morgenland)  die  religiöse  und  sitt- 
liche Seite  des  Problems  nicht  mehr  getrennt  erscheinen. 
Allein  zu  einer  scharfen  Fragestellung  ist  es  vor  dem  pelagianischen 
Kampf  noch  nicht  gekommen,  da  die  Controversen  mit  Heraklius  und 
Jovinian  keine  nachhaltige  Bewegung  zur  Folge  hatten.  Die  Ansichten 
gingen  noch,  zum  Theil  bei  ein  und  demselben  Schriftsteller,  bunt 
durcheinander.  Sehe  ich  recht,  so  lassen  sich  für  die  Zeit  um  400 
fünf  verschiedene  Auffassungen  unterscheiden:  1)  die  manichäische, 
die  im  Finstern  schlich,  aber  sich  grosser  Verbreitung,  selbst  im 
Klerus,  erfreute ;  nach  ihr  ist  das  Böse  eine  reale,  physische  Macht 
und  wird  durch  die  ebenso  physische  Macht  des  Guten,  die  an  Natur- 
potenzen  und  an  Christus  geknüpft  ist,  in  dem  Einzelnen  über- 
wunden'-; 2)  die  neuplatonisch-alexandrinische;  nach  ihr  ist 
das  Böse  das  Nichtseiende,  das  noch  nicht  Gewordene,  die  noth- 
wendige  Folie  des  Guten,  der  Schatten  des  Lichts,  das  dem  „Vielen" 
im  Gegensatz  zum  „Einen"  anhaftende  Transitorische,  und  die  Erlösung 
ist  die  Rückkehr  zum  Einen,  zum  Seienden,  zu  Gott,  die  Gottinnig- 
keit in  der  Liebe;  Christus  ist  für  solche  Rückkehr  Kraft  und  Krücke; 
denn  „Kräfte  und  Krücken  kommen  aus  einer  Hand"  ^;  3)  die  ra- 
tionalistisch-stoische; nach  ihr  ist  das  höchste  Gut  die  Tugend; 
die  Sünde  ist  die  böse  Einzelthat,  die  dem  freien  AVillen  entspringt; 
die  Erlösung  ist  die  Zusammenfassung  des  Willens  und  die  energische 
Richtung  desselben  auf  das  Gute ;  auch  hier  ist  das  Historische  und 


'  S.  Bd.  II  S.  67. 

^  kS.  über  die  Verbreitung  d(^s  Manicliaisinns  im  Abeiulland  Bd.  I  S.  737  fV. 
Er  ist  dort  immer  cliristlicher  und  daher  gelährlicher  oewordeii.  lieber  sein»»  Hr- 
deutung  für  Augustin  s.  unten.  v' 

'^  S.  die  Auffassungen  des  Ambrosius,  Victorinus,  Augustinus. 


Resultate  der  voraugustinischen  Entwickelung.  51 

Christologisclie  im  Grunde  nur  Krücke  ^  Alle  diese  drei  Auffassungen 
legen  auf  die  Askese  das  höchste  Gewicht*,  4)  die  sacramentale^ 
laxe;  wir  können  sie  bei  Heraklius  ^  und  Jovinian  ^  constatiren;  nach 
ihr  hat  der  mit  rechtem  Glauben  Getaufte  die  Bürgschaft  der  Selig- 
keit; die  Sünde  kann  ihm  nicht  schaden;  kein  reatus  peccati  kann 
ihn  treffen.  Näher  stellt  sich  Jovinian's  Lehre  also  dar:  a)  die,  wel- 
che mit  vollem  Glauben  in  der  Taufe  wiedergeboren  sind,  können 
vom  Teufel  nicht  zu  Fall  gebracht  werden,  b)  alle  Getauften  haben 
dieselbe  Seligkeit  zu  erwarten ;  die  Heiligung  vermehrt  nicht  die  Selig- 
keit, sondern  bewahrt  sie  nur :  „sicut  sine  aliqua  differentia  graduum 
Christus  in  nobis  est,  ita  et  nos  in  Christo  sine  gradibus  sumus"; 
c)  Ehelosigkeit,  Speis eenthaltung  und  Martyrium  haben  vor  Gott  keinen 
höheren  Werth  als  Eheführung,  dankbarer  Speisengenussu.s.w.  Wüssten 
wir  ge\\ass,  dass  Jovinian  bei  dieser  Betrachtung  dem  Glauben  die 
entscheidende  Bedeutung  beigelegt  hat,  so  könnte  man  ihn,  wie  es 
neuerdings  geschehen  ist,  als  einen  „Protestanten  seiner  Zeit",  als 
„den  tiefsten,  originellsten,  durch  Entschiedenheit  ausgezeichnetsten" 
unter  den  evangelischen  Wahrheitszeugen  des  Alterthums  bezeichnen 
und  ihn  mit  Yigilantius  *  in  den  protestantischen  Heiligenkalender 
einstellen.  Allein  wenn  auch  Manches  dafür  spricht,  dass  Jovinian 
im  paulinischen  Sinne  sich  gegen  die  AVerke  aufgelehnt  hat,  so  ist  es 
doch  unwahrscheinlich,  dass  im  4.  Jahrhundert  ein  radicaler  Protest 
gegen  die  mönchische  Heiligung  des  Lebens  aufgetaucht  ist,  der  nicht 
zu  seiner  Kelirseite  magische  und  laxe  Vorstellungen  gehabt  hat. 
Desshalb  urthcilt  man,  solange  nicht  Jovinian's  Schrift  vorliegt,  vor- 
sichtiger, wenn  man  in  seiner  Lehre  eine  Fortsetzung  der  Ansichten 
sieht,  welche  die  Laxen  nach  den  Verfolgungen  des  Decius  und  Dio- 
cletian  proclamirt  haben,  und  die  dann,  nachdem  man  sich  eingehender 
mit  den  paulinischen  Briefen  l)eschäftigt  hatte,  eine  biblische  Begrün- 
dung bekommen  haben  mögen  '*.    Immerhin  aber  ist  eine  solche  Er- 


*  S.  die  al^erHlländisclion  Poj)ulari)liiloso))lu'ii  im  Stile  Ciccro's,  aber  aucli  Am- 
l^rosius'  de  officiis. 

2  S.  oben  S.  30. 

"  Wir  sind  durcli  Anihrosius,  Hieronymu«,  Auoustiii  und  Siricius  über  iliii 
unterriclitet. 

'*  S.  ü}>er  defiscai  oharaktervolles  Auftreten  f(ogeii  die  Auswüclise  der  Super- 
stition und  Möncberei  die  erbäruilictlic  Sclii-ilt  des  Hieronymus  advers.  Vigilantiuni, 
die  an  (lemeinlieit  nur  duroli  die;  I)ücli(!r  gegen  Jovinian  des8el])en  Scliriftstellers 
ijl)f*rtronen  wird. 

''  hin  ist.  selion  olxm  (S.41  j  du riiuC  aufmerksam  gemacht  worden,  dass  im  j»b(>nd- 
Inndisolien  Katbob'cismus  n;ieli  den  \'(  i  lolgungsstürmen  aus  derNotb  eine  (Jruideji- 
und   SaeramentHJelire  entstanden  ist.    Der  Widerwille  gegen  das  Mönchtbuni   in 

4* 


52  T)a8  abendländische  Christenthum  vor  Augustin. 

scheiniing,  wie  .rovinian  sie  uns  bietet^  höchst  merkwürdig;  sie  steht 
doch  in  Verwandtschaft  mit  Augustin  und  der  augustinischen  Lehre 
von  dem  GLauben  und  den  (Inadenmittchi,  und  sie  ist  desshalb  auch 
der  fünften  Anscluiuung  nahe  verwandt,  die  wir  hier  noch  zu  er- 
wähnen  haben.    IVfan    kann  sie  kurzweg  die  (Inadenlehre   nennen. 


Rom,  Gallien  und  Spanien  hat  gewiss  hier  verstärkend  gewirkt,  und  so  sind  „evan- 
gelische" Elemente  aufgetaucht,  die  vielleicht  bei  Einigen  (vielleicht  auch  bei  Jo- 
vinian)  wirklich  mehr  gewesen  sind  als  l)losse  Auskuuftsnüttel.  Indem  man  die 
Askese  als  Manichäismus  einerseits,  als  Werkgerechtigkeit  andererseits  beurtheilte, 
ergab  sich  nicht  nur  eine  Verstärkung  der  magischen  Autfassung  von  den  Sacra- 
menten,  sondern  man  wurde  auch  auf  die  Betrachtung  von  Clnade  und  Glauben 
gewiesen.  Hier  ist  aber  auch  daran  zu  erinnern,  dass  von  den  Tagen  des  Hermas 
ab  im  Abendland  eine  Richtung  zu  bekämpfen  gewesen  ist,  die  sich  allein  auf  den 
Glauben  berufen  und  es  in  decidirter  "Weise  ausgesprochen  hat,  dass  die  AVerke  zur 
Seligkeit  nicht  nöthig  seien.  Eine  Geschichte  dieser  Richtung,  die  z.  B.  auch  unter 
den  „Laxen"  in  Karthago  zur  Zeit  Tertullian's  und  Cyprian's  vorhanden  gewesen 
ist  und  dann  wieder  deutlich  in  den  Werken  Augustin's  uns  entgegentritt  (wo  sie 
bekämpft  wird),  ist  bisher  nicht  geschrieben  worden,  obgleich  der  Protestantismus 
allen  Grund  hätte,  sich  diese  Richtung  näher  anzusehen  und  zu  untersuchen,  welchen 
Antheil  an  ihr  die  sittliche  Laxheit  und  welchen  etwa  der  bewusste  paulinische 
Heilsglaube  gehabt  hat.  Das  Material,  zumal  wenn  man  Männer  wie  Heraklius, 
Jovinian  u.  s.  w.  hinzunimmt,  ist  sehr  bedeutend.  Vor  Allem  aber  kommen  mehrere 
Briefe  Augustin's,  Enchir.  67,  und  sein  Tractat  „de  fide  et  operibus"  in  Betracht. 
Hier  werden  die  Ansichten  von  Laien  ausführlich  widerlegt,  welche  sich  l)rieflich 
an  Augustin  gewendet  hatten.  Sie  vertraten  die  Meinung,  man  könne  nicht  ohne 
den  Glauben,  wohl  aber  ohne  die  Werke  zum  ewigen  Leben  gelangen,  und  mau 
solle  Jeden,  auch  den  gröbsten  Sünder,  nach  der  Unterweisung  in  der  Glaubenslehre 
taufen,  die  Aenderung  des  Lebens  erst  dem  Getauften  überlassend.  Diese  Leute 
haben,  wie  die  Gegenschrift  Augustin's  lehrt,  einen  sehr  ausführlichen  Schriftbeweis 
(vgl.  auch  den  Schriftbeweis  der  „Laxen"  in  Karthago  zur  Zeit  Tertullian's)  nicht 
ohne  Scharfsinn  geführt  (c.  6 — 13)  und  sich  namentlich  auf  die  paulinische  Lehre 
berufen.  Ihnen  gegenüber  spielt  daher  Augustin  die  katholischen  Briefe,  vor  Allem 
den  Jacobusbrief  (c.  14  ff.)  aus.  Er  bekennt  dabei  offen,  welche  Schwierigkeiten 
ihm  nicht  wenige  paulinische  Stellen  (der  Satz  von  der  Seligkeit  (mc.  8ia  Kopoc.  ist 
ihm  besonders  peinlich)  machen.  Dass  seine  Gegner  nicht  Evangelische,  sondern 
Laxe  sind,  zeigt  ihre  Meinung,  alle  Sünden  könnten  durch  Almosen  gut  gemacht 
werden.  Dass  sie  nicht  ohne  Zusammenhang  mit  den  Laxen  zur  Zeit  Calixt's  waren, 
zeigt  ihre  Berufuno-  auf  die  Arche  Noah.  um  jede  ernste  Kirchenzucht  zu  hindern. 
Aber  als  Schlimmstes  bezeichnet  es  Augustin,  dass  sie  wähnen,  man  dürfe  Älen- 
sehen,  die  ruchlos  und  schändlich  leben  und  in  einem  solchen  Leben  verharren,  das 
Heil  und  das  ewige  Leben  versprechen,  wenn  sie  nur  an  Christus  glauben 
und  seine  S  a  c  r  a  m  e  u  t  e  e  m  p  f a  n  g  e  n.  Dem  gegenüber  hat  er  in  seiner  Gegen- 
schrift die  katholische  Justificationslchre  besonders  nachdrücklich  entwickelt.  Daher 
bildet  der  Tractat  „de  fide  et  operibus"  das  Gegenstück  zu  dorn  kurz  voi-her  ab- 
gefassten Tractat  „de  spiritu  et  littera",  in  welchem  die  evangelischen  Elemente  iler 
Glaubensüberzeugung  Augustin's  stark  hervortreten,  was  bekanntlich  Melauchthon 
wohl  bemerkt  hat. 


I 


Resultate  der  voraugustinischen  Entwickelung.  53 

Wir  haben  ihre  kräftigen  Spuren  bei  Victorinus,  Optatus  und  Ambro - 
sius  nachgewiesen;  nach  ihr  ist  das  Böse  als  die  inhärente  Adams- 
sünde nur  durch  die  göttUche  Gnade  in  Christus  zu  tilgen;  diese 
Gnade  wirkt  den  Glauben,  der  sich  in  der  thätigen  Liebe  vollendet. 
Hier  sind  Natur  und  Gnade,  Unglaube  und  Glaube  die  Gegensätze, 
und  das  Werk  des  geschichtlichen  Christus  steht  im  Mittelpunkt. 
Dennoch  aber  schliesst  diese  Betrachtung  die  Askese  nicht  aus,  son- 
dern bedarf  ihrer,  da  nur  der  sich  in  der  Heiligung,  d.  h.  in  der 
Weltentsagung  bethätigende  Glaube  der  rechte  ist.  So  wird  hier  ein 
Mittelweg  gesucht  zwischen  Jovinian  einerseits  und  der  manichäischen 
und  priscilhanischen  Askese  andererseits  ^. 

Diese  verschiedenen  Auffassungen  kreuzten  sich  und  gingen  wirr 
durcheinander.  Der  Sieg  der  einen  oder  anderen  musste  über  die 
Zukunft  des  Christenthums  im  Abendland  entscheiden. 

4.  Vom  novatianischen,  Ketzertauf-  und  donatis tischen  Streit  her 
war  im  Abendland  das  Interesse  an  der  Frage  nach  dem  Yerhältniss 
der  Gnade  und  Gnadenmittel  zur  Kirche  erwacht.  Dieses  Interesse 
an  der  Kiiche  wurde  aber  noch  dadurch  verstärkt,  dass  diese  sich 
beim  Verfall  des  weströmischen  Reiches,  ferner  gegenüber  den  Resten 
einer  noch  immer  mächtigen  heidnischen  Partei  in  Rom  und  endlich 
gegenüber  den  neuen  arianisch-germanischen  Staatenbildungen  kräftiger 
von  dem  Staate  abhob  als  im  Morgenland. 


Man  erwartet  vielleicht,  hier  zum  Schluss  die  verschiedenen  Landes- 
kirchen des  Abendlandes  in  ihrer  Eigenart  um  das  Jahr  400  charak- 
terisirt  zu  linden;  allein  in  dogmenhistorischer  Hinsicht  lässt  sich 
wenig  sagen.  Scharf  ausgeprägt  ist  die  Eigenart  der  nordafrikanischen 
Kirche,  lieber  der  Kirche  Spaniens,  Galliens  und  Brittanniens  lagert 
für  uns  ein  Dunkel,  in  welchem  nur  der  Kami)f  mit  dem  sich  ein- 
bürgernden Mönchthum  beleuchtet  ist.  Der  Kampf  mit  dem  Priscil- 
lianismus  in  Spanien,  die  Angriffe  auf  Martin  von  Tours  in  Galhen, 
andererseits  auch  Vigilantius  gehören  hierher.  Dass  Südgallien  um 
360  (s.  das  Zeuguiss  .Julian's)  und  400  (s.  Sulp.  Severus,  Chron.  init.) 
sich  durch  seine  Bihlung  und  den  Sinn  für  das  Aesthetische  und 
Rhetorische  auszeichnete,  ist  nicht  unwichtig  zu  bemerken.  Rom  wurde 
erst  im  5.  Jaliihundert  eine  christliche  Stadt;  allein  schon  zu  Liberius' 
und  Damasus'  Zeit  war  der  römische  Bischof  der  vornehmste  Römer. 
Das  was  Damasus,  dieser  unheilige,  a])er  kluge  Mann,  gegenüber  dem 

'  Die  rathscilial'tc  Erscheinung  des  Priscilliauisnius  ist  durcJi  die  Aiirtindung 
der  Jlornilieii  Priscilliau'ö  nicht  viel  deutlicher  geworden. 


54      r^ie  weltgeschichtl.  Stellung:  Aiipfustiu's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

Staat  und  dem  Orient  gewonnen,  haben  seine  energischen  Nachfolger 
nicht  mehr  preisgegeben;  sie  haben  sich  auch  kräftig  in  die  Verliillt- 
nisse  der  Provin/ialkirchen  einzumischen  versucht.  Treu  an  ihrem 
l^ekenntnisse  festhaltend,  war  die  römische  Kirche  nicht  mir  durch 
ihre  Lage,  sondern  auch  durch  ihre  Eigenart  das  verbindende  Mittel- 
glied zwischen  dem  Morgenland  und  Abendland  (und  wiederum  zwischen 
dem  Süden  und  dem  Norden  des  Abendlandes),  den  mönchischen  Ten- 
denzen des  ersteren  und  den  kirchenpolitischen  und  sacramentalen  des 
letzteren.  Auch  hat  sie  seit  Liberius'  Zeiten  jene  religiöse  Politik 
gegenüber  dem  Heidenthum  betrieben  und  verbreitet,  „durchweiche 
die  katholische  Kirche  die  Mittel  gewann,  die  heidnischen  und  trotz 
des  Bekenntnisses  auch  heidnisch  bleibenden  Massen  des  Volks  nicht 
nur  zu  gewhmen,  sondern  auch  zu  befriedigen"  (Usener,  Relig. 
Unters.  I  S.  293):  sie  hat  „das  Heidenthum  dadurch  unschädlich 
gemacht,  dass  sie  ihm,  d.  h.  der  Fülle  des  Heidnisch-Kultischen,  ihren 
Segen  gab".  Aber  jene  weitherzige  Kampfesweise  gegen  das  Heiden- 
thum, von  der  num  mit  Recht  gesprochen  und  die  uns  Usener 
(a.  a.  O.)  in  so  gelehrter  und  aufklärender  Weise  vorzuführen  be- 
gonnen hat,  barg  doch  die  grössten  Gefahren  in  sich.  Unter  solchen 
Umständen  war  es  für  die  damalige  Gegenwart  und  für  die  Zukunft 
der  Kirche  der  höchste  Gewinn,  dass  eben  während  der  Process  der 
Ethnisirung  in  vollem  Gange  war,  Augustin,  in  Nordafrika,  Rom  und 
Mailand  gleich  heimisch,  auftrat  und  die  Kirche  daran  erinnerte,  was 
christlicher  Glaube  sei. 

Drittes  Capitel:  Die  weltgescMchtliclie  Stellung*  Augustinus 
als  Reformator  der  christliclien  Frömmigkeit'. 

..Yirtutes  ita  crescent  et  perficientur,  ut  te  ad  vitam  vere  beatam, 
quae  nonnisi  aeterna  est,  sine  ulla  dubitatione  perducant:  ubi  iam 
nee  prudenter  discernantur  a   bonis  mala,   quae   non   erunt,   nee 


'  Aus  der  unermesslichenLitteratur  über  Augustin  sei  Folgendes  genannt  (unter 
besonderer  Berücksichtigung  des  pelagianisclien  Streites):  Die  kritischen  Unter- 
suchungen der  Eenedictiner  in  ihren  Ausgaben  der  Opp.  Aug/s  und  die  Contro- 
versen  über  die  Gnadenlehre  Aug.'s  im  16.  bis  18.  Jahrhundert;  die  Arbeiten 
von  Petavius,  Noris  (hist.  Pelag.),  Tillemont,  Grarnier,  Mansi,  Hefele; 
Bindemann,  Der  hl.  Aug.  3  Bde.  1844 — 69;  Böhringer,  Aur.  Aug.  2.  Autl. 
1877.  78;  Reuter,  August.  Studien  1887  (die  beste  neuere  Arbeit);  A.  Dorne r, 
Aug.,  sein  theol.  System  und  seine  relig. -philos.  Anschauung  1873.  Umfassende 
Ausführungen  bei  Ritter,  Baur,  Nitzsch,  Thomasius,  Schwane,  Huber 
(Philos.  der  KW.),  Jul.  Müller  (L.  v.  d.  Sünde),  Dorner,  Eutwicklgesch.  d. 
L.  v.  d.  Person  Christi),  Möller  (in  Herzog's  R.-Encykl.),  Prantl  (CTesch.  d.  TiO^ik), 
Siebeck  (Gesch.  d.  Psychologie),  Zeller.  —  Bornemauu,  Aug.'s  Bekenntnisse 


Litteratur  zu  Augustin.  55 

fortiter  tolerentiir  adversa,  quia  non  ibi  erit  nisi  quod  amemuS;  non 
etiam  quod  toleremiis,   nee  temperanter  libido  frenetiir,   ubi  nulla 

1888;  Harnack,  Aug.'s  Confessionen  1888;  0 verbeck,  Aug.  u,  Hieronymus 
i.  d.  Histor.  Ztschr.  N.  F.  Bd.  VI;  Feucrlein,  TJeb.  d.  Stellung  Aug.'s  in  der 
Kirchen-  und  Culturgesch.  Histor.  Ztschr.  XXII  S.  270  ff.  (s.  Reuter,  a.  a.  0. 
S.  479  flf.);  Ritschi,  lieber  die  Methode  der  ältesten  D.-G.,  i.  d.  Jahrbb.  f. 
deutsche  Theol.  1871  (ders.,  Rechtfert.  u.  Versöhn.  Bd.  I,  Gesch.  des  Pietismus 
Bd.  I);  Kattenbusch,  Studien  z.  SymboHk,  in  d.  Stud.  u.Krit.  1878;  Rcinkens, 
Geschichtsphilos.  d.  hl.  Aug.  1866;  Gang  auf,  Metaphys.  Psychologie  d.  hl.  Aug. 
1852;  Bestmann,  Qua  ratione  Aug.  notiones  philosophiae  graecae  etc.  1877; 
Loesche,  De  Aug.  Platonizante  1880:  Ferraz,  Psychologie  de  S.  Aug.  1862; 
Nourisson,  La philosophie  de  S.  Aug.  2.  Aufl.  1866;  Storz,  Die  Philosophie  des 
hl.  Aug.  1882;  Scipio,  Des  Aurel.  Aug.  Metaphysik  u.  s.  w.  1886;  Sieb  eck, 
Die  Anfänge  der  neueren  Psychologie  i.  d.  Ztschr.  f.  Philos.  1888  S.  161  ff.;  Kahl, 
Der  Primat  des  Willens  bei  Aug.  1886;  Schütz,  August,  non  esse  ontologum  1867; 
van  Endert,  Gottesbeweis  i.  d.  p atrist.  Zeit.  1869;  Clauren,  Aug.  s.  script. 
Interpret.  1822;  Gang  auf,  Des  hl.  Aug.  Lehre  von  Gott  dem  Dreieinigen  1865; 
Nitzsch,  Aug.'s  Lehre  v.  Wunder  1865.  Walch,  De  pelagianismo  ante  Pelagium 
1783;  ders.,  hist.  doctrinae  de  peccato  orig.  1783;  Hörn,  Comm.  de  sentent. 
patrum  ...  de  pecc.  originalil801 ;  D  uncker,  Pecc.orig.et  act.  1886;  Krabinger, 
Der  angebliche  Pelagianismus  d.  voraugust.  VV.:  Tüb.  Quartalschr.  1853;  Kuhn, 
Der  vorgebl.  Pelagianismus  d.  voraugust.  VV.,ebendort;  Walch,  Ketzerhistorie  Bd. 
IV  u.  V;  Wiggers,  Praginat.  Darstell,  des  Augustinismus  u.  Pelagianism.  2  Bde. 
1831.  33  (die  Fortsetzung  über  den  Semipelagianismus  i.  d.  Ztschr.  f.  d.  histor. 
Theol.  1854  ff.);  Jacobi,  Die  Lehre  des  Pelagius  1842;  Lentzen,  de  Pelagia- 
norum  doctrinae  principiis.  1833;  Jul.  Müller,  Der  Pelagianismus  i.  d.  deutschen 
Ztschr.  f.  christl.  Wissensch.  1854  Xr.  40 f. ;  Wörter,  Der  Pelagianismus  1866; 
Kl  äsen.  Die  innere  Entw.  des  Pelagianism,  1882;  Geffcken,  Histor.  Semipelag. 
1826;  Wiggers,  de  Joanne  Cass.  1824.  25;  AVörter,  Prosper  v.  Aquitanien  über 
Gnade  und  Freiheit  1867;  Lander  er,  Das  Verhältniss  v.  Gnade  u.  Freiheit  i.  d. 
Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  Bd.  II  1857;  Luthardt,  Die  L.  v.  freien  AVillen  u.  s. 
Verh.  z.  Gnade  1863;  Kihn,  Theodor  v.  Mopsveste  1880;  Rit  schi,  Expos,  doctr. 
8.  Aug.  de  crcat.,  peccato,  gratia  1843;  Ehlers,  Aug.  de  origine  mali  doctriua 
1857;  Nirschl,  Ursp.  u.  AVesen  des  Bösen  nach  Aug.  1854;  Hanima,  Die  L.  des 
hl.  Aug.  über  die  Concupiscenz  i.  d.  Tüb.  Quartalschr.  1873;  Voigt,  Comment.  de 
theoria  August.,  Pelag.,  Semipelag.  et  Synergist.  1829;  Dicckhoff,  Aug.'s  L.  v.  d. 
Gnade  i.  d.  Mecklenb.  Theol.  Ztschr.  I.  1860;  Welker,  Aug.  de iustificatione doctr. ; 
Ernst,  Die  Werke  der  Ungläubigen  nach  Aug.  J871;  Beck,  Prädest.-Lehre  i.  d. 
Stud.  u,  Krit.  1847  II;  H.  Schmidt,  Origenes  u.  Aug.  als  Apologeten  i.  d.  Jahrbb. 
f.  deutsche  Theol.  Bd.  VIII;  Bigg,  The  Christian  Platonists  of  Alexandria  1886. 
—  Uebcr  Aug.'s  L.  v.  d.  Taufe  s.  Reuter,  Kliefo  th  (Liturg.  A))handl.)  u.  Hö  f- 
ling.  AVilden,  Die  L.  d.  hl.  Aug.  v.  Opfer  d.  Eucharistie  1864;  G  inzel,  L.  d.  hl. 
Aug.  v.  d.  Kirche,  i.  d.  Tüb.  Theol.  Quartalschr.  1849;  Köstlin,  Die  kathol. 
Auffass.  V.  d.  Kirche  u.  s.  w.,  i.  d.  deutschen  Zeitschrift  f.  christl.  Wissensch.  1856 
\r.  14;  H.  Sclitnidt,  Aug.'s  L.  v.  d.  Kirche,  i.  d.  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  1861 
(ders..  Die  Kirclic  1884);  Seeberg,  Begriff  d.  christl.  Kirche  L  Th.  1885; 
Roux,  Di8H.  de  Aug.  adversario  Donatistarum.  1838;  Ribbeck,  Donatus  und 
Augu«tinUH  1858. 


56      Die  weltgeschichtl.  Stelluug  Augustin 's  als  Reformator  der  Fiömmiokeit. 

eins  incitamenta  sentiemus,  nee  iuste  subveiiiatiir  ope  indigentibus, 
ubi  inopein  atqiie  indigiium  iioii  habt;biinus.  IJiia  ibi  virtiis  erit, 
et  idipsum  erit  virtus  praemiunique  vir t litis,  qiiod  dicit  in 
sanctis  eloquiis  bomo  qui  boc  amat:  Mibi  autem  adbaerere  deo, 
bonum  est.  Haec  ibi  erit  plena  et  sempiterna  sapientia  eademque 
veraciter  vita  iain  beata.  Perventio  quippe  est  ad  aeternum 
ac  summnni  boniini,  cui  adbaerere  in  aeternum  est  finis 
nostri  boni.  Dicatur  baec  et  prudentia,  qiiia  prospectissime  ad- 
baerebit  bono  (piod  non  amittatur,  et  fortitudo,  quia  firmissime 
adbaerebit  bono  unde  non  avellatiir,  et  teniperantia,  quia  castis- 
sime  adbaerebit  bono,  ubi  non  corruinpatur,  et  iustitia,  ({uia  rectis- 
sime  adbaerebit  bono,  cui  nierito  subiciatur.  Quam  quam  et  in  bac 
vita  virtus  non  est  nisi  diligere  quod  diligendum  est.  Quid 
autem  eHgamus  quod  praecipue  dibgamus,  nisi  quo  nibil  mebus  in- 
veninnis?  Hoc  deus  est,  cui  si  diUgendo  abquid  vel  praeponimus  vel 
aequamus,  nos  ipsos  dibgere  nescimus.  Tanto  enim  nobis  mebus  est, 
quanto  magis  in  illum  imiis,  quo  nibil  mebus  est.  Imus  autem 
non  ambubindo,  sed  amando.  Ad  eum  non  pedibus  ire  bcet,  sed 
moribus.  Mores  autem  nostri,  non  ex  eo  quod  quisque  novit,  sed  ex 
eo  quod  dibgit,  diiudicari  solent.  Nee  faciunt  bonos  vel  malos 
mores,  nisi  boni  vel  mali  amores.  Pravitate  ergo  nostra  a  recti- 
tudine  dei  longe  fuimus.  Unde  rectum  amando  corrigimur,  ut  recto 
recti  adbaerere  possimus"  K 

In  diesen  Worten  offenbart  sieb  die  Seele  Augustinus;  sie  be- 
zeicbnen  dessbalb  aucli  seine  dogmengescbicbtlicbe  Grösse.  Wenn 
man,  wie  wir  im  vorigen  Capitel  versucbt  baben,  die  verscbiedenen 
Linien  verfolgt  und  convergiren  lässt,  auf  denen  sieb  das  abend- 
ländiscbe  Cbristentbuin  im  4.  und  5.  Jabrbundert  entwickelt  bat,  so 
kann  man  ein  Gebilde  eonstruiren,  welebes  dem  „Augustinismus^' 
nabe  kommt;  ja  man  kann  ibn  aucb  als  ein  Prodiict  der  Notb  ableiten 
aus  den  inneren  und  äusseren  Zuständen,  in  denen  sieb  die  Kircbe 
und  die  Tbeologie  damals  befanden.  Aber  man  vermag  nimmermebr 
den  Mann  zu  erreicben,  der  binter  diesem  Gebilde  stellt  und  ibm 
Kraft  und  Leben  verlieben  bat.  Ebenso  kann  man  —  es  ist  eine 
lobnende  Aufgabe  —  versucben,  aus  dem  Bildungsgang  Augustinus 
seine  cbristlicbe  Weltanscbauung  verständlicb  zu  niacben  und  zu  zeigen, 
wie  kein  Stadium  seines  Lebensganges  (der  beidniscbe  Vater,  die  cbrist- 
bcb-fromme  Mutter,  Cicero's  Hortensius,  der  Manicbäisnnis,  der  Aristo- 
telismus,  der  Neuplatonismus  mit  seiner  Mystik  und  Skepsis,  der  Ein- 

^  August.,  €»j).  155  c.  12.  13. 


Allgemeine  Charakteristik.  57 

druck  des  Ambrosius  und  des  Mönchthums)  ohne  Wirkung  für  ihn 
gebheben  ist  ^  Allein  auch  von  hier  aus  vermag  man  schhesslich  nicht, 
der  Eigenart  dieses  Mannes  völlig  gerecht  zu  ^verden.  Diese  ist  sein 
Geheimniss  und  seine  Grösse,  und  man  verwundet  sie  vielleicht  schon 
durch  jede  Analyse:  er  kannte  sein  Herz  als  das  schlimmste 
und  den  lebendigen  Gott  als  das  höchste  Gut;  er  lebte  in 
der  Gottesliebe,  und  er  besass  eine  hinreissende  Fähig- 
keit, innere  Beobachtungen  auszusprechen.  Indem  er  das 
that,  lehrte  er  die  Welt,  dass  der  höchste  und  süsseste  Genuss  in 
dem  Gefühl  gesucht  werden  soll,  das  aus  bezwungenem  Seelenschmerz, 
aus  der  Liebe  Gottes  als  des  Brunnquells  des  Guten  und  desshalb 
aus  der  Gewissheit  der  Gnade  entspringt.  Die  Theologen  vor  ihm 
hatten  geträumt,  dass  der  Mensch  ein  Anderes  werden  müsse,  um 
sehg  sein  zu  können;  er  lehrte,  dass  der  Mensch  ein  Anderer  werden 
kann,  wenn  er  sich  von  Gott  finden  lässt  und  aus  der  Zerstreuung 
heraus  sich  selbst  und  seinen  Gott  findet. 

Er  zei'störte  das  Wahnbild  der  antiken  populären  Psychologie 
und  Moral-,  er  gab  dem  Intellectualismus  des  Alterthums  den  Ab- 
schied; aber  er  liess  ihn  neu  Wiederaufleben  in  dem  frommen  Denken 
des  Mannes,  der  in  dem  lebendigen  Gott  das  wahre  Sein  und  das 
höchste  Gut  gefunden  hat.  Er  zuerst  schied  die  beiden  Gebiete,  deren 
Verbindung  man  lange  und  ohne  Erfolg  zu  lockern  versucht  hatte, 
die  Natur  und  die  Gnade;  aber  er  band  damit  die  Religion  und 
die  Sittlichkeit  zusammen  und  gab  der  Idee  des  Guten  einen  neuen 
Inhalt.  Er  zuerst  mass  den  Spielraum  und  die  Kraft  des  Gemüths 
und  des  Willens  aus  und  leitete  von  hier  ab,  was  die  Moralisten  und 
Religionsphilosophen  vor  ihm  verstanden  zu  haben  wähnten,  aber  nie 
verstanden  hatten;  er  steckte  dem  ziellosen  Streben  der  Askese  ein 
festes  Ziel :  die  Vervollkommnung  in  der  Gottesliebe,  die  Unterdrückung 
der  Eigensucht,  die  Demuth.  Er  lehrte  den  Schrecken  über  die 
Tiefe  der  Sünde  und  Schuld,  die  er  aufdeckte,  zusammen  zu  empfinden 
mit  dem  sehgen  (^efühl  eines  immerfort  getrösteten  Elends  und  einer 
nie  versiegenden  Gnade.  Er  erst  vollendete  den  christhchen  Pessi- 
mismus, dessen  Vertreter  sich  bisher  im  Grunde  eine  höchst  opti- 
mistische Betrachtung  des  Menschenwesens  rescrvirt  hatten.  Aber 
indem  er  als  die  Triebfeder  alles  menschlichen  Handelns  das  radicale 
f^öse  nachwies,  predigte  er  zugleich  von  der  Wi(Mlcrgeburt  des  Willens, 
durch  welclie  der  Mensch  sich  in  dem  seligen  Lesben  heimisch  mache. 
Er  überbrückte  für  die  Empfindung  und  Vorstellung  die  Kluft  nicht, 

*  Vgl.  rnciücu  Vortrag  „Augustirrs  Conrcssioiicii''  1888.  8.  auch  den  Auf- 
satz von  G.  Boissier  in  der  Rcv.  des  deux  moud.  1.  Jan.  1888. 


58      l^iö  weltgeficliichtl.  Stollmig  Aupfustiu's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

welche  die  christliche  lleberlieferiing  zwischen  dem  Diesseits  und  Jen- 
seits nachwies;  aber  er  zeugte  von  der  Sehgkeit  des  Menschen,  der 
in  Gott  seine  Ruhe  gefunden,  in  so  ergreitender  Weise,  dass  dem 
Jenseits  nur  ein  unbeschreibliches  „Schauen^'  vorbehalten  bliel).  Aber 
über  das  Alles  und  in  dem  Allem  —  er  hielt  jeder  Seele  ihre  Herr- 
hchkeit  und  ihre  Verantwortlichkeit  vor:  Gott  und  die  Seele,  die 
Seele  und  ihr  Gott.  Er  führte  die  Religion  —  ein  durch  positive 
Gedanken  und  das  Vertrauen  auf  Christus  beherrschtes,  verklärtes 
und  gestaltetes  ALönchthum  —  aus  der  Gemeinde-  und  Kultusform 
heraus  und  in  die  Herzen  der  Einzelnen  als  Gabe  und  Aufgabe  hinein; 
er  kündigte  von  der  ungefärbten  Demuth,  die  nur  auf  Ruinen  —  dem 
Stiu'z  der  Selbstgerechtigkeit  —  erblüht;  er  erkannte  aber  in  eben 
dieser  Demuth  den  Freibrief  der  Seele,  und  selbst  wo  er  die  Auto- 
rität der  Kirche  in  gebieterischer  AVeise  in  AVirksamkeit  setzt,  ge- 
schieht es  schliesslich  nur,  um  der  einzelnen  Seele  jene  Gewissheit  zu 
geben,  die  sie  durch  keine  Anstrengung  und  keine  individuelle  Be- 
gnadigung zu  erreichen  vermag.  Darum  ist  er  nicht  nur  ein  Pädagog 
und  Lehrer,  sondern  ein  Vater  der  Kirche  geworden.  Er  war  ein 
Baum,  gepflanzt  an  den  AVasserbächen,  dessen  Blätter  nicht  verwelken 
und  auf  dessen  Zweigen  die  Vögel  des  Himmels  wohnen.  Seine 
Stimme  ist  durch  die  Jahrhunderte  der  Kirche  erschollen,  und  er  hat 
der  Christenheit  das  AVort  gepredigt:  „AVohl  den  Menschen,  die  Dich 
für  ihre  Stärke  halten,  die  von  Herzen  Dir  uachwandeln." 


Dass  für  eine  solche  Persönlichkeit  Alles,  was  sie  in  der  Ueber- 
lieferung  vorfand,  nur  Stoff  und  Mittel  sein  konnte,  dass  sie  es 
nur  aufnahm,  um  es  in  der  ihr  entsprechenden  AVeise  zu  verarbeiten, 
bedarf  keiner  Bestätigung.  In  dieser  Hinsicht  ist  Augustin  den  grossen 
Alexandrinern  verwandt,  und  es  lassen  sich  Zeugnisse  in  Fülle  für 
diese  Verwandtschaft  beibringen,  die  sowohl  durch  die  gleiche  lioch- 
gemuthete  Stimmung  als  durch  die  Abhängigkeit  von  der  neuplato- 
nischen Philosophie  dort  und  hier  bedingt  ist.  Allein  der  Unterschied 
ist  bei  aller  Gemeinsamkeit  doch  höchst  bedeutend.  Er  liegt  nicht 
nur  darin,  dass  jene  um  das  Jahr  200  lebten,  Augustin  ein  Mitglied 
der  theodosianischen  Reichskirche  war,  auch  nicht  nur  darin,  dass 
Augustin  durch  den  Manichäismus  hindurchgegangen  ist,  sondern  in 
viel  höherem  Grade  darin,  dass  Augustin  trotz  seines  Neuplatonismus 
über  das  AVesen  der  christlichen  Rehgion  anders  dachte  als  sie  und 
ebenso  von  dem  AVesen  und  der  Autorität  der  Kirche  andere  A'^or- 
stellungen  besass. 


Augustin's  neue  christliche  Selbstbeurtheilung.  59 

I.  Er  dachte  an  die  Sünde,  wenn  er  über  Gott  und  Christus 
nachsann,  und  er  hatte  den  lebendigen  Gott,  der  uns  geschaffen 
und  erlöst  hat,  im  Sinn,  wenn  er  über  das  Böse  nachdachte:  die 
Festigkeit,  mit  welcher  er  diese  Factoren  auf  einander  bezog,  ist  das 
Neue,  welches  ihn  vor  allen  seinen  Vorgängern  auszeichnet.  Aber 
nicht  minder  neu  ist  die  Energie,  mit  welcher  er  die  Begriffe  deus, 
Christus,  verbum  dei,  sacramenta,  ecclesia  catholica  für  die  prak- 
tischeFrömmigkeit  zusammenschloss,  das  Lebendigste  und  Freieste, 
den  Besitz  Gottes,  einpresste  in  ein  gleichsam  dingliches  Gut,  welches 
einer  Anstalt,  der  Kirche,  übergeben  sei.  Wie  er  demgemäss  die 
Stimmung  erzeugt  hat,  die  christliche  Frömmigkeit  sei  getrösteter 
Sündenschmerz,  so  hat  er  andererseits  jenes  Ineinander  von  freiest  er, 
eigenster  Hingabe  an  das  Göttliche  und  stetiger  gehorsamer  Unter- 
ordnung unter  die  Kirche  als  Gnadenmittelanstalt  geschaffen,  welches 
den  abendländischen  Katholicismus  charakterisirt. 

Demnach  ist  er  in  erster  Linie  auch  für  die  Dogmengeschichte 
nicht  als  Theologe  zu  würdigen,  sondern  als  Reformator  der  christ- 
lichen Frömmigkeit.  Das  Charakteristische  der  alten  christhchen 
Frömmigkeit  war  das  Sclnvanken  zwischen  Hoffnung  und  Furcht  ^ 
Man  wusste,  dass  Jesus  die  Sünder  annimmt;  aber  nun  war  man 
angenommen  durch  die  Taufe.  Die  Gottesthat  war  gleichsam  er- 
schöpft^. Die  ganze  Dogmatik  (Trinität,  Christologie  u.  s.  w.)  hatte 
ihre  praktische  Spitze  und  damit  ihr  Ende  in  dem  bloss  rückwirken- 
den Gut,  welches  man  in  der  Taufe  erhielt.  AVas  jetzt?  man  fürchtete 
den  Richter  und  man  hoffte  in  unsicherer  Weise  auf  eine  noch  vor- 
handene Gnade.  Die  Furcht  vor  dem  Richter  trieb  zu  Fasten,  Al- 
mosen und  Gebet,  und  die  unsichere  Hoffnung  tastete  nach  neuen 
Gnadenmitteln.  Man  schwankte  zwischen  der  Zuversicht  auf  die  eigenen 
Kräfte  und  der  Hoffnung  auf  die  Unerschöpflichkeit  der  Gnade  Christi. 
Aber  besass  man  niclit  den  Glauben?  Man  hatte  ihn,  schätzte  ihn 
als  ein  hohes  Gut;  aber  man  schätzte  ihn  als  Bedingung,  als  die 
unumgängliche  Eintrittskarte.  Um  wirklich  einzutreten,  dazu  waren 
noch  ganz  andere  Bedingungen  zu  erfüllen.  Die  Frömmigkeit, 
wenn  sie  sich  auf  die  Aufgabe  der  Gegenwart  besann, 
lebte  nicht  im  Glauben.  Die  psychologische  Form  der  Frömmig- 


'  Irii  Folgenden  ist  nur  die  (jr  u  nd  s  tini  miing  charakterisirt.  Dass  sie  in 
Einzelnen  evangelischer  ausgeprägt  gewesen  ist,  soll  nicht  verneint  werden. 

"^  Nach  dem  in  Bd.  I  und  II  Ausgcjfiihrtcn  und  in  dem  2.  Capitel  dieses  Bandes 
Angedeuteten,  brauche  ich  es  nicht  nuilir  zu  belegen,  dass  für  die  alte  Kirche  sich 
die  Gnade  (lottes  in  Christo  in  den  Zuwendungen,  die  man  in  der  Taufe  erhielt, 
erschöpfte. 


60      Die  vvelt|(eschichtl.  Stellunji-  Auguntin's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

kfit  war  die  Unruhe,  d.  li.  die  Furcht  und  die  Hoffnung'.  Man 
vertraute  dem  freien  Willen;  aber  was  sollte  man  thun,  wenn  er  in 
AV^irkliehkeit  eine  Niederlage  nach  der  anderen  bereitete?  Man  sollte 
bereuen  und  es  besser  machen.  Man  war  darüber  nicht  im  Zweifel, 
dass  die  Keue  dort  überall  ausreiche,  wo  es  sich  um  Sünden  „gegen 
den  Nächsten''  handelte,  und  wo  man  den  Schaden  wieder  gut  machen 
konnte.  Die  Reue  und  das  Wiedergutmachen  hatten  den  weitesten 
Spielraum  gegenüber  der  Sünde.  Die  Sünde  ist  böse  That;  die  mit 
Reue  verbundene  gute  That  macht  sie  wett.  Der  Nächste  kann  uns 
vergeben,  was  wir  an  ihm  gesündigt,  und  die  Sünde  besteht  nicht  mehr; 
die  Kirche  kann  vergeben,  was  ihren  Bestand  berührt  hat,  und  die 
Schuld  ist  getilgt.  Aber  der  Getaufte  sündigt  auch  „wider  Gott". 
Mag  die  Kirche  den  Kreis  der  Sünden,  bei  denen  sie  die  Verletzte, 
die  Richterin  und  die  Inhaberin  des  Begnadigungsrechts  ist,  noch 
so  weit  ausdehnen  —  es  giebt  Sünden  wider  Gott  und  es  giebt  Ver- 
fehlungen, die  nicht  wieder  gut  zu  machen  sind.  Wer  vermag  Mord 
und  Ehebruch,  wer  ein  verfehltes  Leben  des  Getauften  rückgängig 
zu  machen?  Vielleicht  steht  es  doch  auch  mit  diesen  Sünden  nicht 
so  schlimm;  vielleicht  rechnet  sie  Gott  den  Getauften  überhaupt 
nicht  an  —  doch  das  wäre  ein  epikureischer  Irrthum  ;  vielleicht 
bricht  sich  die  Macht  der  Kirche  selbst  nicht  an  dem  Felsen  voll- 
zogener Thatsachen;  vielleicht  giebt  es  neben  der  Taufe  doch  noch 
andere  Gnadenmittel.  Aber  wer  vermag  das  zu  wissen?  Die 
Kirche  schuf  eine  Art  von  Sacrament  der  Busse  im  3.  und  4.  Jahr- 
hundert; allein  sie  sagte  nicht  deutlich,  wessen  man  sich  zu  diesem 
Sacrament  versehen  könne.  Versöhnt  es  mit  der  Gemeinde  oder  mit 
Gott;  tilgt  es  Sünde,  Schuld  und  Strafen;  ist  es  wirksam  durch  die 
Busswerke  des  Büssenden  oder  durch  die  Macht  der  Gnade?-  Ist  es 
nothwendig?  Giebt  es  denn  einen  sündigen  Zustand,  der  fortdauert, 
wenn  die  Gesinnung  sich  geändert  hat,  wenn  der  Wille  wieder  mit 
allen  Kräften  nach  dem  Guten  strebt?  Giebt  es  überhaupt  eine  Schuld? 
Steht  nicht  Alles,  was  der  Mensch  seiner  Anlage  gemäss  thun  kann, 
in  dem  ewigen  Wechsel,  der  durch  böse  und  gute  Thaten,  durch  Er- 


^  Man  lese  die  ergreifenden  Geständnisse  vom  2.  Clemensbrief  ab,  den  Hirten 
des  Hernias,  Tertullian,  die  Bekenntnisse  der  Mönche  und  der  grossen  Theologen 
des  4.  Jahrhunderts,  denen  die  Verhältnisse  es  verwehrten,  Mönche  zu  werden. 

^  {Sehr  richtig  Rothe,  Kirchengesch.  11.  S.  33:  „Im  Stillen  misstraute  man 
doch  unvermeidlich  der  vorausgesetzten  rein  übernatürlichen,  mithin  magisclien 
Gnadenwirksamkeit  (.Tottes,  und  darum  traf  man  natürlich  seine  Einrichtung  auf  die 
Eventualität  hin,  dass  doch  am  Ende  Alles  von  den  Menschen  allein  möchte 
gethan  werden  müssen." 


J 


Die  vorausfustinische  und  die  auguatinische  Frömmigkeit.  Q\ 

kenntniss,  Reue  und  Streben  bezeichnet  ist?  Wissen  und  Thun 
entscheiden.  Der  Mensch  von  heute,  der  das  Grute  thut,  hat  mit  dem 
Menschen,  wie  er  gestern  war,  als  er  das  Böse  that,  nichts  mehr  ge- 
mein. Aber  die  Sünden  wider  Gott  schlagen  doch  in  den  Nacken. 
Woher  kommt  die  Furcht,  die  dauernde  Furcht?  Die  Kirche  macht 
ihre  Thore  weit  und  weiter ;  sie  vergiebt  Sünde,  alle  Sünde ;  aber  die 
Ernsthaften  fliehen  in  die  Wüste.  Sie  versuchen  es  dort  nicht  anders, 
als  sie  es  in  der  Welt  versucht  haben,  und  die  Stimmung  bleibt  die- 
selbe —  Hoöhung  und  Furcht.  Es  giebt  keinen  Trost,  dem  nicht^ 
ein  dreifacher  Schrecken  gegenüberstünde.  —  Das  ist  die  Stimmung  der 
alten  Christen  gewesen  von  dem  Tage  an,  wo  wir  sie  im  weiten  Rahmen 
des  römischen  Reiches  zuerst  beobachten  können,  bis  zu  der  Epoche 
hin,  deren  Anbruch  uns  hier  beschäftigt.  Die  „evangelischen"  Vor- 
stellungen, die  man  sich  von  der  Art  ihrer  Frömmigkeit  macht,  sind 
gar  nicht  am  Platze.  Die  beiden  unruhigsten  Elemente,  die  eine  Menschen- 
brust bewegen  können,  haben  jene  Christen  beherrscht,  Hoffnung  und 
Furcht.  Diese  Elemente  haben  die  AVeit  erschüttert  und  die  Kirche 
gebaut.  Wohl  hatte  man  einen  Glauben  und  schuf  sich  eine  Dog- 
matik-  aber  sie  beruhigten  noch  nicht  über  das  Leben  des  Tages, 
über  das  Leben  überhaupt.  Sie  beflügelten  die  Hoffnung,  aber  sie 
tilgten  die  Furcht  nicht  aus.  Sie  sagten  nichts  darüber,  was  die  Sünden 
seien,  mit  denen  der  Christ  täglich  kämpft,  und  was  Christus  für 
diese  Sünden  gethan  habe.  Sie  ü])erliesson  diese  Fragen  den  Ge- 
wissen der  Einzelnen,  und  die  Antworten  der  kirchlichen  Praxis  waren 
nicht  Antworten,  die  das  Gemüth  beruhigten.  Die  ganze  Dogmatik 
mündete  sicher  nur  in  den  Zuwendungen  der  Taufe  aus.  AVer  aus 
dieser  aufstieg,  musste  nun  seinen  AVeg  allein  gehen.  AVenn  er  ernst- 
haft nachsann,  konnte  es  ilim  nicht  zweifelliaft  sein,  dass  die  Kirche 
ihm  nur  noch  Krücken  zu  reiclien  vermochte. 

„An  Dir  allein  habe  ich  gesündigt",  „Du,  Herr,  hast  uns  auf 
Dich  hin  geschaffen,  und  unser  Herz  ist  unruliig,  l)is  es  Ruhe  findet 
in  Dir",  „da  quod  iubes,  et  iu])e  quod  vis"  ' ;  „der  durch  den  Glauben 
(xerechte  wird  leben"  ;  „eo  quod  quisque  novit,  non  fruitur,  nisi  et  id 
diligit,  neque  fjuisquam  in  eo  quod  percipit  permanet  nisi  dilectione"^. 
Das  sind  die  neuen  Töne,  die  Augustin  angeschlagen  liat,  das  ist  der 
gewaltige  Accord,  den  er  aus  dei*  hl.  Sclirift,  aus  den  tiefsten  Betrach- 


'  De.  pcce.  mf'c.  ei  remiss.  IT,  5,  dri  spiriiu  et  lit.  22,  s,  (Jonfessioneii  X,  40 
und  (If-;  dono  [utrHcvcr.  53.  Dif  Saelie  schon  Soliloq.  T,  5:  ,..Tu))(',  ((uaesr)  aicpie 
impera  fjiiid(|uid  vis,  nr-d  '-',iti;i  <t  aperi  aures  mean."  Enchir.  117  „Fides  impetrat, 
quod  lex  irni)erat." 

'De  fide  et  synd).  19. 


62      r)ie  weltgeschichtl.  Stellung  Augustin's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

tungen  des  menschliclien  Wesens  und  aus  der  Specuhition  über  die 
ersten  und  letzten  Dinge  herausgehört  hat.  An  dem  Geiste^  der  Gottes 
hulig  ist,  ist  Alles  eitel  Sünde;  nur  dass  er  ist,  ist  noch  gut  an 
ihm.  Die  Sünde  ist  die  Sphäre  und  die  Form  des  inneren  Lebens 
jedes  natürliclien  IVrcnschen.  Dass  ein  grosser  Ahlall  dorn  heutigen 
Zustamle  des  Menschengeschlechts  zu  (jlruiule  liegt,  war  hi  allen  theo- 
logischen Systemen  von  Paulus  bis  Origenes  und  weiter  behauptet 
worden.  Aber  erst  Augustin  hat  diesen  Abfall,  als  in  jedem  natürlichen 
Menschen  noch  jetzt  bestehend  und  ihn  verdammend,  allem  religiösen 
Empfinden  und  allem  theologischen  Denken  zu  Grunde  gelegt.  Für 
die  Apologeten  war  der  Abfall  ein  unsicheres  Datum  gewesen,  für 
(3rigenes  ein  vorzeitliches  Yerhängniss.  Für  Augustin  war  er  die 
lebendigste  Thatsache  der  Gegenwart,  die,  von  dem  Anfang  her  fort- 
wirkend, das  Leben  des  Einzelnen  und  des  ganzen  Geschlechts  be- 
stimmte. Ferner,  alle  Sünde  ist  Sünde  an  Gott;  denn  der  ge- 
schaffene Geist  hat  nur  ein  dauerndes  Verhältniss,  das  Verhältniss 
zu  Gott.  Die  Sünde  ist  das  Selbst-sein-wollen,  das  stolze  Trachten 
des  Herzens  (superbia);  darum  ist  ihre  Form  die  Begierde  und  die 
Unruhe.  In  dieser  Unruhe  offenbart  sich  die  niemals  gestillte  Lust 
und  die  Furcht.  Die  Furcht  ist  das  Böse.  Aber  in  dieser  Unruhe 
offenbart  sich  auch  das  unverlierbare  Gute  des  aus  Gottes  Hand  her- 
vorgegangenen Geistes:  „Felices  esse  volumus  et  infelices  esse  nolumus, 
sed  nee  velle  possumus"  ^  Wir  müssen  nach  Gütern  streben,  nach 
der  Seligkeit.  Aber  es  giebt  nur  ein  Gut,  eine  Seligkeit  und  eine 
Ruhe:  „Mihi  adhaerere  deo  bonum  est".  Hierin  ist  Alles  beschlossen. 
Nur  im  Elemente  Gottes  lebt  die  Seele.  „Quis  mihi  dabit  acquies- 
cere  in  te?  Quis  mihi  dabit  ut  venias  in  cor  meum  et  inebries  illud, 
ut  obliviscar  mala  mea  et  unum  bonum  meum  amplectar  te?  Quid 
mihi  es?  Miserere,  ut  loquar.  Quid  tibi  sum  ipse,  ut  amari  te  iubeas 
a  me,  et  nisi  faciam  irascaris  mihi  et  mineris  ingentes  miserias?  .  .  . 
Die  mihi  per  miserationes  tuas,  domine  deus  mens,  quid  sis  mihi. 
Die  animae  meae:  Salus  tua  ego  sum.  Sic  die,  ut  audiam.  Ecce 
aures  cordis  mei  ante  te,  domine;  aperi  eas,  et  die  animae  meae: 
Salus  tua  ego  sum.  Curram  post  vocem  hanc  et  apprehendam  te. 
Noli  abscondere  a  me  faciem  tuam;  moriar  ne  moriar,  ut  eam  videam. 
Angusta  est  domus  animae  meae  quo  venias  ad  eam;  dilatetur  abs  te. 
Ruinosa  est;  refice  eam.    Habet  quae  offendant  oculos  tuos;  fateor  et 


^  De  Trinit.  XIIT,  4.  De  civit.  clei  XT,  26:  „Tarn  porro  nemo  est  qiii  esso  se 
nolit,  quam  nemo  est  qui  non  esse  beatus  velit.  Quo  modo  euim  potest  beatus  esso, 
si  nihü  sit?" 


Augustin  über  Sünde,  Gnade  und  Liebe.  63 

scio;  sed  quis  mundabit  eam?  aut  cui  alteri  praeter  te  clamabo?"  K 
Der  Gott,  der  uns  erschaffen,  hat  uns  durch  Jesus  Christus  erlöst. 
Das  heisst  aber  nichts  anderes,  als  dass  er  uns  wieder  in  die  Gemein- 
schaft mit  sich  selbst  führt.  Das  geschieht  durch  die  Gnade  und  die 
Liebe  und  wiederum  durch  den  Glauben  und  die  Liebe.  Durch  die 
Gnade,  die  uns  ergreift  und  ex  nolentibus  volentes  macht,  die  uns  ein 
unbegreiflich  neues  Wesen  giebt,  indem  sie  uns  neu  gebiert,  und  durch 
die  Liebe,  w^elche  den  schwachen  Geist  stärkt  und  ihn  mit  Kräften 
des  Guten  erfüllt.  Durch  den  Glauben,  der  sich  an  das  AVort  „quod 
scriptum  est  et  apostolicae  disciplinae  robustissima  auctoritate  firma- 
tum"  hält:  „der  durch  den  Glauben  Gerechte  wird  leben",  und  durch 
die  Liebe,  die  in  Demuth  auf  alles  Eigene  verzichtet  und  Lust  hat 
an  Gott  und  seinem  Gesetz.  Glaube  und  Liebe  stammen  von  Gott; 
denn  sie  sind  das  Mittel,  durch  welche  sich  der  lebendige  Gott  uns 
zu  eigen  giebt.  Als  ein  immerwährendes  Geschenk  und  als  ein  hei- 
liges Geheimniss  betrachtet  die  Seele  diese  Güter,  in  denen  sie  Alles 
erlangt  hat,  was  Gott  verlangt;  denn  ein  mit  Glaube  und  Liebe  aus- 
gerüstetes Herz  erfüllt  die  Gerechtigkeit,  die  vor  Gott  gilt.  Der  Friede 
Gottes  ist  ausgegossen  über  die  Seele,  die  den  lebendigen  Gott  zum 
Freunde  hat ;  sie  ist  aufgestiegen  aus  der  Unruhe  zur  Ruhe,  aus  dem 
Suchen  zum  Finden,  aus  der  falschen  Freiheit  zur  freien  Nothwendig- 
keit,  aus  der  Furcht  zur  Liebe;  denn  die  vollkommene  Liebe  treibt 
die  Furcht  aus.  Sie  kann  keinen  Moment  vergessen,  dass  sie  in  Welt 
und  Sünde  verstrickt  ist,  solange  sie  in  dieser  Welt  lebt;  aber  sie 
denkt  keinen  Moment  über  die  Sünde  nach,  ohne  nicht  des  lebendigen 
Gottes  zu  gedenken,  der  iln^e  Stärke  ist.  Durch  Glaube,  Demuth 
und  Liebe  überwundenes  Sündenelend  —  das  ist  die  christliche  Fröm- 
migkeit. In  dieser  Stimmung  soll  der  Christ  leben.  Er  soll  fort- 
während den  Schmerz  empfinden,  den  die  Sünde  bereitet,  die  Los- 
lösung von  Gott;  aber  er  soll  sich  zugleicli  dessen  getrösten,  dass 
die  Gnade  Gottes  ilm  (jrgriffen  liat,  dass  der  Herr  Himmels  und  der 
Erde  seine  Liebe  ausgegossen  hat  in  das  Herz,  und  dass  diese  Liebe 
ebenso  mächtig  nach  wie  in  der  Taufe  wirkt'-.  So  hat  Augustin  an 
die  Stelle  der  überkommenen  Empfindungen  des  Getauften  —  Furclit 
und  Hoffnung  ~  die  Elemente  der  Unrulic,  vielmehr  die  Elemente 
der  Ruhe,  Glaube  und  Liebe,  gesetzt ;  au  die  Stelle  eines  unsicheren 
und  schwankenden  Begriffs  der  Sünde  (He  Erkenntniss  ihrer  Maclit 
und  ihres  Schreckens,  an  die  Stelle  eines  nocli  unsichereren  Begriffs 

'  ConfesH.  I,  5. 
Kiiichir.  64:  „Excepto  ])a|)tisniati8  munore  ipsa  ctiam  vita  cetera,  quautalibei 

l)i;i<|)rill<!it  ror-ciiiKlifüic  iii'if il ijic,  Miiu-  pffcniorinn  i'fiiiisRioiic  non  iM^ifiii'". 


64      r)ie  weltpreschichtl.  Stellung  Auja^ustin's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

der  Gnade  die  Erkenntniss  ihrer  Allgewalt.  Die  Hoffnung  hat  er  nicht 
gestrichen,  vielmehr  aufs  kräftigste  die  alte  Stinnnung  hewahrt,  dass 
dieses  Tjeben  nicht  werth  ist  der  Herrlichkeit,  die  an  uns  soll  offen- 
bart werden.  Aber  indem  er  die  Rnlu^  empfunden  und  gepredigt 
hat,  welche  der  Glaube  und  die  Liebe  verleihen,  liat  er  die  stürmische 
uml  fanatische  Gewalt  der  HofFiumg  in  eine  sanfte  und  sichere  Ge- 
wissheit umgewandelt '. 

Ich  habe  hier  den  Augustin  wiedergeg(iben,  wie  er  uns  vornehm- 
lich in  den  Oonfessionen  entgegentritt.  T3ieses  Buch  gewährt  den  Vor- 
theil,  dass  die  Darstellung  in  demsel])en  durch  keine  particularen 
Absichten  bestimmt  ist.  Das  Ausgeführte  ist  keineswegs  vollständig ; 
man  müsste  ihm  mehr  als  eine  (Jautele  hinzufügen,  um  völlig  gerecht 
zu  sein-.  Ferner  hat  die  Ausführung  absichtlich  nur  die  Grundlinien 
ins  Auge  gefasst  und  auch  nur  die  eine  Richtung  ausgeprägt,  in 
welcher  die  epochemachende  Bedeutung  Augustin's  hervortritt.  Allein 
dass  sie  die  entscheidendste  ist,  darüber  kann  kein  Zw^eifel  bestehen. 
Wenn  wir  abendländisclie  Christen  es  nicht  anders  wissen,  als  dass 
sich  die  Religion  zwischen  den  Polen  Sünde  und  Gnade  (Natur  und 
Gnade)  bewegt,  wenn  wir  die  Sittlichkeit  dem  Glauben  unterordnen, 
sofern  wir  den  Gedanken  einer  selbständigen,  dem  Religiösen  gegen- 
über indifferenten  Sittlichkeit  ablehnen,  wenn  wir  glauben,  viel  acht- 
samer auf  das  Wesen  der  Sünde  sein  zu  müssen,  als  auf  ihre  Er- 
scheinungsformen (die  Wurzeln  ins  Auge  fassen,  nicht  die  Abstufungen 
und  Thaten),  wenn  uns  die  generelle  Sündhaftigkeit  als  Voraussetzung 
der  Religion  feststeht,  wenn  wir  von  den  eigenen  Kräften  nichts  er- 
warten, wenn  wir  in  dem  Gedanken  der  Gnade  Gottes  und  des  Glaubens 
alle  Heilmittel  zusammenfassen,  wenn  an  die  Stelle  der  Predigt  von 
der  Furcht,  der  Reue  und  der  Hoffnung  die  Predigt  vom  Glauben 
und  von  der  Göttesliebe  getreten  ist^,  ^venn  wir  endlich  zwischen  Gesetz 
und  Evangelium,  zwischen  Gaben  und  Aufgaben,  die  Gott  giebt,  unter- 


^  Inwiefern  durcli  die  Aufnahme  vnloär- katholischer  Elemente  in  seiner 
Frömmigkeit  Augustin  doch  die  Unsicherheit  und  Unruhe  nicht  überwunden  hat, 
davon  wird  später  die  Rede  sein. 

^  Die  wichtigste  Cautele  —  dass  Augustin  seine  neue  Emphndungs-  und  Be- 
trachtungsweise der  alten  angepasst  hat  —  wird  später  zur  Sprache  konunen;  sie 
ist  in  dem  Ausgeführten  nur  leise  angedeutet. 

*  Ich  brauche  wohl  nicht  dasMissverständniss  abzuwehren,  als  wäre  dei(Tla.nbe 
für  die  voraugustinische  und  griechische  Kirche  nicht  von  finulamentaler  Bedeutung 
gewesen.  Hier  handelt  es  sich  darum,  in  welcher  Stimnuuig  der  Christ  war.  Der 
voraugustinische  Christ  beurtheilte  den  (xlaubeu  als  selbstverständliche  Voraus- 
setzung der  Gerechtigkeit,  die  er  selbstthätig  zu  erwerben  habe. 


Die  neugestimmte  Frömmigkeit.  65 

scheiden  —  so  empfinden  wir  mit  den  Empfindungen  Augustinus,  denken 
in  seinen  Gedanken,  reden  in  seinen  Worten  ^ 

AVer  könnte  leugnen,  dass  sich  die  Religion  in  dieser  Weise 
zu  empfinden  und  zu  denken  tiefer  erschlossen  hat,  dass  die  Krank- 
heit sicherer  erkannt  und  die  Heilung  zuverlässiger  nachgewiesen  ist? 
Wer  könnte  den  Gewinn  verkennen,  wo  das  lebendige  Gemüth,  das 
Bedürfniss  der  Seele,  der  lebendige  Gott,  der  Friede,  der  in  der 
Stimmung  des  Vertrauens  und  der  Liebe  liegt,  entdeckt  sind?  Wer 
könnte  —  auch  wenn  er  nur  als  uninteressirter  „Culturhistoriker" 
diese  Erscheinungen  studiren  wollte  —  sich  dem  Eindruck  entziehen, 
dass  hier  ein  Fortschritt  mindestens  in  der  psychologischen  Erkenntniss 
gemacht  ist,  der  nicht  mehr  verloren  gehen  kann?  In  der  That  —  die 
Geschichte  scheint  zu  lehren,  dass  das  Gewonnene  innerhalb  der  christ- 
lichen Kirche  nicht  mehr  untergehen  kann,  ja  sie  bezeugt,  wie  es 
scheint,  noch  mehr:  dass  hier  eine  Grenze  erreicht  ist,  über  welche 
hinaus  die  Stimmung  der  Frömmigkeit  sich  nicht  weiter  zu  entwickeln 
vermag.  Wir  mögen  Umschau  halten  unter  allen  den  Männern  und 
Frauen  im  Abendland  seit  Augustinus  Zeiten,  welche  die  Geschichte 
als  hervorragende  Christen  der  Stimmung  wegen  bezeichnet  hat,  die 
sie  beherrschte  —  es  ist  immer  dieselbe  Art :  das  ausgeprägte  Sünden- 
bewusstsein,  der  volle  Verzicht  auf  die  eigene  Kraft,  die  Zuversicht 
auf  die  Gnade,  auf  den  persönlichen  Gott,  der  in  der  humilitas  Christi 
als  der  Barmherzige  ergriffen  wird.  Zahlreich  sind  freilich  noch  die 
Spielarten  dieser  Stimmung  —  wir  kommen  später  auf  sie  zu  reden  —  *, 
aber  der  Grundtypus  ist  derselbe.  Und  diese  Stimmung  wird  in  der 
Predigt  und  im  Unterricht  von  wahrhaft  frommen  Katholiken  und 
EvangeUschen  gelehrt;  zu  ihr  werden  die  jugendlichen  Christen  er- 
zogen ;  ihr  entsprechend  wird  die  Dogmatik  ausgeprägt.  So  ergreifend 

'  Man  wende  nicht  ein,  das  sei  die  Lehre  der  Schrift.  Erstlich  hat  die  Schrift 
keine  einheitliclu;  Lehre  ;  zweitens  deckt  sich  sel))st  der  Ciredankenkreis  des  Paulus, 
dem  der  augustinische  hier  am  nächsten  kommt,  doch  nicht  vollständig  mit  diesem. 
Aber  anzuerkennen  ist  allerdiogs,  dass  die  augustinische  Reformation  ganz  wesent- 
lich eine  paulinischc  Reaction  gewesen  ist  gegenüber  der  herrschenden  Fröm- 
inigkeit.  Augustin  erscheint  gewissermasscn  als  zweiter  Marcion ;  s.  Bd.  I  S.  116, 
Reuter,  August.  Studien  S.  492:  „Man  kann  vielleicht  sagen,  der  Paulinismus, 
welchen  die  werdende  katholische  Kirche  sich  nur  halb  zum  Verstandniss  gebracht, 
welchen  Marcion  in  excentrischer  Einseitigkeit  zu  erschliessen  versucht,  welche 
jene  in  (Opposition  gegen  diesen  nahezu  abgewiesen  hatte ,  sei  von  unserem 
Kirchenvater  zum  zweiten  Male  in  der  Art  ausgebeutet,  dass  manches  bisher  vulgär 
Katholische  umgestimmt  worden."  Es  folgt  eine  Parallele  zwischen  Augustin  und 
Marcion.  Die  Trias,  „(Jlaube,  Lielx^,  Ifolfnung",  ist  paulinisch  und  findet  sich  fast 
bei  allen  Kirchenvätern;  aber  erst  Augustin  hat  sie,  wijjder  fruchtbar  gemacht 
(vielleicht  hat  er  hier  von  .fovinian  gelernt). 

liarnacU,  Ixiipaengcschiclit''  III.  5 


ßfi      Die  weltßfeschichtl.  Stellung  Augiistiu's  als  Reformator  der  Frömmiorkeit. 

wirkt  sie  noch  immer,  selbst  wo  sie  nur  als  das  Erlobniss  Anderer 
vorgetragen  wird,  dass  sie  der  nicht  vergessen  kann,  der  einmal  von 
ihr  berührt  w^orden  ist:  sie  begleitet  ihn  als  Schatten  am  Tage  und 
als  Liclit  in  der  Nacht;  wer  wiilnit,  sie  längst  abgestossen  zu  haben, 
dem  taucht  sie  plötzlich  wieder  auf.  Wohl  ist  ihr  seit  den  Tagen 
Leibniz's  und  der  Aufklärung  ein  gewaltiger  Gegner  erwachsen,  ein 
Feind,  der  sie  sogar  während  eines  Jaln-hunderts  bezwungen  zu  haben 
schien,  der  die  christliche  Religion,  soweit  er  sie  überhaupt  gelten 
Hess,  wieder  auf  thatkräftiges  Handeln  zurückführte  und  ihr  die  FoHe 
eines  freudigen  Optimismus  gab,  eine  Denkweise,  die  den  lebendigen 
Gott  in  die  Ferne  rückte  und  das  Rehgiöse  dem  Sittlichen  unter- 
ordnete —  aber  dieser  Gegner  erlag  in  unserem  Jahrhundert,  wenig- 
stens innerhalb  der  Kirchen,  der  Gewalt  der  alten  Stimmung.  Ob 
dieser  Sieg  Augustin's  die  Gewähr  der  Dauer  hat,  vermöchte  nur  ein 
Prophet  zu  sagen.  Gewiss  ist  nur,  dass  die  Constellation  von  Um- 
ständen im  Kampfe  dem  Sieger  günstig  gewesen  ist. 

Kirchlicherseits  herrscht  darüber  kein  Zweifel,  dass  die  au- 
gustinische  Empfindung  und  Denkweise  die  allein  im  Christenthum 
berechtigte  ist,  dass  sie  die  christliche  selbst  ist;  denn  der  Gedanke 
der  Erlösung  (durch  Gott  selbst)  im  Sinne  der  Wiedergeburt 
beherrscht  Alles.  Allein  man  muss  doch  stutzig  werden,  wenn  man 
erwägt,  dass  sie  aus  den  sichersten  Worten  Jesu  keineswegs  einfacli 
abgeleitet  werden  kann,  und  dass  die  alte  und  die  griechische  Kirche 
sie  so  nicht  kennen.  Man  muss  ferner  bedenklich  w^erden,  wenn  man 
ihre  Folgen  erwägt;  denn  diese  legen  nicht  nur  günstiges  Zeugniss 
für  sie  ab.  Ein  quietistis  ches,  fast  möchte  ich  sagen  nar- 
kotisches Element  ist  in  ihr  enthalten  oder  gesellt  sich  ihr  doch 
unvermerkt  bei.  Es  liegt  in  ihr  Etwas  verborgen,  was  die  lebendigen 
Kräfte  zu  lähmen,  die  Anspannung  des  Willens  zu  hemmen  scheint, 
und  an  die  Stelle  der  That  Gefühle  setzt.  Ist  es  ungefährlich, 
ein  allgemeines  Sündenbewusstsein  an  die  Stelle  deuthcher  böser 
Neigungen,  herzloser  Worte  und  schimpflicher  Handlungen  zu  setzen  ? 
Ist  es  unbedenklich,  sich  auf  eine  stetig  wirkende  Gnade  zu  ver- 
lassen, wo  es  gilt,  vollkommen  und  heilig  zu  sein  wie  Gott?  Wer- 
den alle  Kräfte  des  Willens  dort  wirklich  entbunden,  wo  die  Seele 
in  der  stetigen  Stimmung  der  „Confessionen"  lebt?  Sind  die  Furcht 
und  die  Hoffnung  wirklich  Momente,  die  durch  den  Glauben  und 
die  Liebe  abgelöst  werden  müssen?  Vielleicht  ist  es  richtig,  alh^ 
diese  Fragen  im  Sinne  der  hier  betrachteten  Denkweise  zu  beant- 
worten; aber  auch  dann  noch  bleibt  ein  Bedenken  übrig.  Ist  es 
zweckmässig,  auf  allen  Stufen  innerer  Entwickelung  —  von  den  vor- 


Kritik  der  neugestimmten  Frömmigkeit.  67 

schiedenen  Temperamenten  der  Menschen  abgesehen  —  dieses  Ideal 
als  Ziel  vorzustellen?  Hier  mindestens  ka,nn  die  Antwort  nicht 
zweifelhaft  sein.  Was  dem  Geförderten,  der  durch  eine  reiche  Er- 
fahrung hindurchgegangen,  das  Letzte  ist,  zu  dem  er  gelangt,  das 
wird  für  den  sich  Entwickelnden  ein  Raffinement.  Eine  raffi- 
nirte  Frömmigkeit  und  Moral  ist  aber  stets  schädlich ;  denn  sie  setzt 
nicht  mehr  an  dem  Punkte  der  Pflicht  und  des  Gewissens  ein.  Sie 
täuscht  über  das  Bedürfniss  und  über  die  Befriedigung  desselben. 
Und  da  sie  Kraft  genug  hat,  um  zu  fasciniren,  und  auch  von  einem 
wenig  geförderten  Verständniss  als  Doctrin  begriffen  werden  kann,  um 
dann,  einmal  begriffen,  nicht  wieder  zu  verschwinden,  so  vermag  sie 
der  Moral  und  desshalb  auch  der  Frömmigkeit  gefährlich  zu  werden. 
Denn  im  Grunde  hat  auf  beiden  Gebieten  nur  das  einen  Werth,  was 
die  Thatkraft  zum  Guten  erhöht-,  alles  Andere  ist  ein  giftiger  Nebel. 
Vielleicht  giebt  es,  wenn  man  es  recht  erwägt,  überhaupt  keine  allein 
berechtigte  Empfindung  und  Stimmung  im  Religiösen  und  keine  allein 
berechtigte  Theorie  der  Factoren  des  religiösen  Processes.  Wie  der 
Mensch  des  Schlafes  und  des  Wachens  bedarf,  so  muss  er  auch,  um 
sein  sitthches  und  religiöses  Leben  gesund  zu  erhalten,  abwechseln 
zwischen  der  Stimmung  seiner  Freiheit  und  Kraft  und  seiner  Ge- 
bundenheit und  Ohnmacht,  zwischen  dem  Gefühl  der  vollen  sittlichen 
Verantworthchkeit  und  der  Gewissheit,  ein  begnadigtes  Gotteskind 
zu  sein.  Oder  giebt  es  ein  Mittel,  die  Empfindungs-  und  Denkweise 
Augustin's  so  zu  fassen,  dass  sie  den  Glauben  zu  dem  stärksten 
Hebel  sittlicher  Kraft  zu  gestalten  vermag?  Liegen  die  Be~ 
denken,  die  sich  gegen  die  Art  seiner  Frömmigkeit 
erheben,  vielleicht  gerade  darin,  dass  er  diese  Art 
noch  nicht  kräftig  und  rein  genug  entwickelt  hat? 

Diese  Frage  wird  später  ihre  Antwort  finden.  Hier  sollte  darauf 
hingewiesen  Averden,  dass  die  Verbreitung  der  religiösen  Eigenheit 
Augustin's  nicht  in  jeder  Hinsicht  segensreich  gewesen  ist.  Sie  war 
seine  Grösse;  sie  hat  ihn  in  die  wunderbare  Bahn  geleitet,  die  er 
beschritten  hat;  sie  hat  ihn  dazu  geführt,  die  Erlösung  nicht  mehr 
als  einen  einmahgen  Eingriff  in  den  Gang  des  Menschenlebens  (durch 
die  Taufe)  zu  fassen,  sondern  als  das  Element,  in  welchem  die  Seele 
lebt  (daher  auch  die  Tauf  gnade  als  stetig  fortwirkende  Kraft).  P^igen- 
heiten  liegen  über  dem  Gel)iet  von  Trrthümern  und  Wahrheiten; 
sie  können  ii-rthümlich  nach  Aussen,  wahrhaft  nach  Innen  sein.  Sie 
können  eben  desshalb  als  Inf  lue  nzen  auch  schädHch  werden,  denn 
„indem  sie  Fremdes  über  eine  Masse  heranführen,  so  fragt  es  sich, 
wie  diese  ankommenden  Eigenheiten  sich  mit  den  einheimischen  ver- 

5* 


68      Die  weltgeschichtl.  SteUuut(  Augustiu'«  als  Reformator  der  Frömmio^keit. 

tragen,  und  ob  sie  nicht  eben  durch  Verniiscliung  einen  krankhaften 
Zustand  hervorbringen"  '.  Dennoch  kann  darüber  kein  Zweifel  sein, 
dass  Augustin  der  überlieferten  religiösen  Stnnuumg  eine  Correctur 
eingefügt  hat,  wie  sie  einschneidender  nicht  gedacht  werden  kann, 
und  auch  der,  der  nicht  im  Stande  ist,  sie  uneingeschränkt  zu 
preisen,  wird  ihren  Segen  nicht  verkleinern  wollen  ^. 

11.  Niemand  war  weiter  davon  entfernt,  die  kirchliche  Ueber- 
lieferung  corrigiren  zu  wollen,  als  Augustin.  Wenn  er  in  so  nach- 
drückhcher  AVeise  das  gethan  hat,  so  bewegte  ihn  selbst  doch  nur 
die  Empfindung,  sich  dadurch  immer  tiefer  in  den  Kirchenglaubcn 
einzuleben.  Durch  den  Skepticismus  zur  Wahrheit  der  katholischen 
Kirche  hindurchgedrungen,  betrachtete  er  diese  als  den  Fels  seines 
Glaubens.  Man  würde  ihn  missverstehen,  wollte  man  diese  Thatsache 
escamotiren.  Er  stellt  uns  vielmehr  die  Aufgabe,  darüber  nachzu- 
sinnen, wie  es  möglich  ist,  dass  die  lebendigste  Frömmigkeit  einen 
doppelten  Grund  ihrer  Gewissheit  haben  kann,  das  innere  Erlebniss 
und  die  äussere,  ja  äusserlichste  Beglaubigung.  Es  lässt  sich  hier  sogar 
noch  mehr  sagen:  erst  Augustin  hat  die  Autorität  der 
Kirche  in  eine  religiöse  Grösse  verwandelt;  erst  er  hat 
die  fromme  Betrachtung,  die  Gottes-  und  Selbstbeurtheilung  so  ausge- 
prägt, dass  der  Fromme  neben  der  Sünde  und  der  Gnade  stets 
auch  die  Autorität  der  Kirche  findet  ^.  Zwar  haben  schon  Paulus 
und  nachapostolische  Lehrer,  vor  Allem  Tertullian,  die  Kirche  in 
das  religiöse  Yerhältniss  selbst  eingeführt  *  •,  allein  sie  dachten  dabei 
nicht  an  die  Autorität  derselben. 

AVenn  man  die  eigenthümliche  Art  der  christlichen  Frömmig- 
keit  Augustin's  als   Grundlage    seiner  Bedeutung   für  die  Kirchen- 

^  Vgl.  Goethe  in  der  wunderbaren  Reflexion  über  Lorenz  Sterne,  Werke 
(Hempel'sche  Ausgabe)  Bd.  29  S.  749  f. 

2  "Was  Augustin  über  die  Kirche  ausgeführt  hat,  rechne  ich  weder  zu  seinen 
Grrossthaten,  noch  kann  ich  es  für  die  das  Sachhche  bestimmende  Centrahdee  halten. 

*  Zutreffend  Reuter  (a.  a.  0.  S.  494):  „Gar  manche  Momente  der  bisherigen 
traditionellen  auctoritativen  Doctrin  sind  durch  ihn  in  wirklich  religiöse  Grössen 
verwandelt;  er  hat  in  den  Kreisen,  in  denen,  auf  die  er  wirkte,  eine  Umstimnuing 
des  religiösen  Bewusstseins  bewirkt,  ohne  doch  die  Katholicität  desselben  gefähr- 
den zu  wollen."  Vgl.  auch  S.  102  (71 — 98):  „Vieles  vulgär-Katholische  ist  durch 
Augustin  umgestimmt,  aber  längst  nicht  alles." 

■*  S.  De  bapt.  6:  „Cum  autem  sub  tribus  et  testatio  fldei  et  sponsio  salutis 
pignerentur,  uecessario  adicitur  ecclesiae  mentio,  quoniam  ubi  tres,  id  est  pater  et 
fihus  et  Spiritus  sanctus,  ibi  ecclesia,  quae  trium  corpus  est."  De  orat  2 :  „Pater  . . . 
filius  .  .  .  ne  mater  quidam  ecclesia  praeteritur.  Si  quidem  in  filio  et  patre  matei- 
recognoscitur,  de  qua  constat  et  patris  et  lllii  nomeu."  De  monog.  7:  „vivit  enini 
unicus  pater  noster  et  mater  ecclesia."    üeberall  liegt  hier  das  Symbol  zu  Grunde. 


Die  Frömmigkeit  als  Kirchlicbkeit  bei  Augustin.  69 

und  Dogmengescliichte  ins  Auge  fassen  will,  so  darf  man  nicht  nur 
seine  Sünden-  und  Gnadenlehre  in  ihrer  entscheidenden  Tendenz  be- 
trachten, sondern  muss  es  auch  würdigen,  wie  er  überlieferte  Ele- 
mente aufgenommen  und  eigenthümlich  umgebildet  hat.  Denn  von 
hier  aus  hat  seine  Frömmigkeit,  d.  h.  seine  Gottes-  und  seine  Sünden- 
und  Gnadenempfindung,  die  Gestalt  gewonnen,  welche  uns  als  die 
specifisch  katholische  geläufig  ist.  Neben  dem  (1)  schon  genannten 
Element  der  Autorität  der  Kirche  sind  es,  wenn  ich  recht  sehe, 
noch  drei:  2)  die  Vertauschung  des  persönlichen  Ver- 
hältnisses zu  Gott  mit  einer  s  a  er  amental  en  Gnaden- 
mittheiiung,  3)  die  Unsicherheit  über  das  Wesen 
des  Glaubens  und  der  Sündenvergebung,  4)  die 
Unsicherheit  über  die  Bedeutung  des  gegenwärtigen 
Lebens.  Auch  in  der  Art,  wie  er  in  diesen  Dingen  empfunden 
und  geschrieben  hat,  hat  er  neue  Stimmungen  erzeugt ;  aber  sie  er- 
scheinen doch  nur  als  Modificationen  der  alten  oder  vielmehr  —  er 
hat  die  alten  hier  erst  zur  Klarheit  über  sich  selber  gebracht, 
resp.  aus  todten  Stoffen,  die  sie  mitführten,  bereichert.  Das  hat 
dann  auf  die  Grundstimmung  —  die  Sünden-  und  Gnadenempfindung 
—  sehr  energisch  eingewirkt  und  ihr  erst  die  Gestalt  gegeben,  die 
es  ihr  ermöglichte,  sich  der  Gemüther  zu  bemächtigen,  ohne  eine 
Revolution  zu  erzeugen  oder  einen  gewaltsamen  Bruch  mit  Ueberliefer- 
tem  herbeizuführen. 

Nur  in  den  Grundzügen  sei  im  Folgenden  von  diesen  vier  Ele- 
menten die  Rede  ^ : 


^  Dass  Augustin  mit  der  Vergangenheit  der  Kirche  in  allem  Uebrigen  aufs 
engste  verbunden  gewesen  ist  (Schrift,  Lehrbekenntniss  u.  s.  w.),  braucht  nicht  erst 
gesagt  zu  werden.  Daneben  theilte  er  auch  die  Auffassung  von  der  kirchlichen 
Wissenschaft  in  ihrem  Vcrhältniss  zum  Glauben  mit  seineu  Zeitgenossen  und  hatte 
in  vielen  Stücken  ebenso  naive  Vorstellungen  von  den  Grenzen  und  dem  Spielraum 
des  Wissens  wie  sie.  Besass  er  auch  die  Fähigkeit  psychologischer  Beobachtung  in 
viel  höherem  Grade  als  seine  Vorgänger,  so  hat  er  doch  die  absolute  Denkweise 
beibehalten  und  bei  aller  skeptischen  Zurückhaltung,  die  er  in  einzelnen  Fragen 
geüljt  hat,  doch  jenes  kosmoh^gisch-cthisch-mythologisch-rationalistischc  Conglo- 
merat  weiter  ausgebildet,  welches  damals  Wissenschaft  hiess.  Ebenso  war  er  in 
allen  Vorurtheilen  der  damaligen  Exegese  befangen.  Dazu  kommt  endlich,  dass  er, 
f)bgleich  minder  leichtgläubig  als  seine  Zeitgenossen,  doch  wie  Origeues  in  den  Vor- 
urtheilen, der  Wundersucht  und  dem  Aberglauben  des  Zeitalters  steckte.  Seine 
Werke,  nüchtern  im  Vergleich  mit  vielen  anderen  Elaboraten  der  Epoche,  sind 
(loch  auch  von  Wundergeschichten  angefüllt:  ein  Sklave,  der  durch  Gebet  in  drei 
Tagen  ohne  menschliche  Hülfe  lesen  lernt,  (lottcjsurtheile,  wunderthätigc  Ge- 
beine u.  8.  w.  Ja  er  hat  das  Absurde  erst  kirchlich  unentbehrlich  gemacht.  Seit 
Augustin  giebt  es  ganz  absurde  kirchliche  Lehren,  welche  preiszugeben  doch  nicht 


70      r^ie  weltgeschichtl.  Stellung  Augustin's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

1.  Die  Autorität  der  Kirche  hat  Augiistin  aus  zwei  Gründen  als 
religiöse  Grösse  eingeführt.  Wie  der  Erlösungsgedanke,  so  scheint 
die  Bedeutung  der  Kirche  })ei  oherflächlicher  Betrachtung  in  der  Auf- 
fassung der  altkatholischen  und  griechischen  Väter  so  souverän  und 
fest  ausgeprägt  zu  sein,  dass  eine  Steigerung  unmöglich  ist.  Sieht  man 
aber  näher  zu,  so  ist  die  Erlösung  als  eimnaliger  Eingrill"  vorgestellt, 
und  die  Bedeutung  der  Kirche  erschöpft  sich  darin,  dass  sie  zwar  die 
Voraussetzung  des  christlichen  Lebens  und  die  Verb ür gerin  der  christ- 
lichen AVahrheit  ist,  aber  in  die  einzelnen  Acte,  in  denen  das  religiös- 
sittliche Leben  innerlich  verläuft,  nicht  eingreift.  Auch  hier  gilt  das 
Roth  e' sehe  Wort,  dass  man  im  Stillen  „seine  Einrichtung  auf  die 
Eventualität  hin  traf,  dass  doch  am  Ende  Alles  von  den  Menschen 
allein  möchte  gethan  werden  müssen".  Dieser  „Einrichtung"  lag  seit 
den  Tagen  der  Apologeten  die  optimistische  Auffassung  von  der 
unverlierbaren  Güte  der  menschlichen  Natur  und  von  der  Beweisbar- 
keit (Klarheit  und  Verständlichkeit)  der  christlichen  Religion  zu  Grunde : 
der  Verlauf  des  spontanen  sittlichen  Lebens  wird  schliesslich  weder 
durch  die  Lehre  von  der  Erlösung  noch  durch  die  Lehre  von  der 
Kirche  modilicirt. 

In  beiden  Beziehungen  hatte  Augustin  ganz  andere  Erfahrungen 
gemacht.  Der  Kampf  gegen  sich  selber  hatte  ihn  von  der  Schlechtig- 
keit der  menschlichen  Natur  überzeugt,  und  durch  den  Manichäis- 
mus  war  er  über  die  Grundlagen  und  die  Wahrheit  des 
Christ  liehen  Glaubens  völlig  zweifelhaft  geworden*.  Seine 
Zuversicht  zur  Rationalität  der  christlichen  Wahrheit  war  aufs  tiefste 
erschüttert,  und  sie  ist  ihm  niemals  wiederhergestellt  wor- 
den, d.  h.  als  denkendes  Individuum  hat  er  niemals  wieder  die 
subjective  Gewissheit  gewonnen,  dass  die  christliche  Wahrheit  —  als 
solche  muss  Alles  betrachtet  werden,  was  in  den  beiden  Testamenten 
steht  —  klar,  widerspruchslos  und  beweisbar  sei  ^.    Als  er  sich  daher 


ohne  Gefahr  ist,  weil  sie  Gewissenhaftigkeit,  Strenge  in  der  Selbstbeurtheiluug  und 
Zartheit  des  Gemüthes  hervorgerufen  haben  oder  doch  diesen  Tugenden  ein  Halt 
geworden  sind,  wie  derStab  deuRanken  (s.  z.B.  Augustinus  Erbsündenlehre).  Aber 
wie  alles  Absurde  haben  sie  auch  blinden  Fanatismus  und  furchtbare  Verzweiflung 
erweckt. 

»S.  Reuter,  a.a.  0.  S.  490f. 

'^  Die  einzelnen  Ansätze  zu  dieser  Auffassung,  die  sich  auch  bei  ihm  finden, 
sind  stets  mit  derselben  Neutralisiruug  des  Geschichtlichen  verbunden,  welche  die 
Apologeten  zeigen.  Hier  kann  nicht  näher  auf  diese  Unterströmung  bei  ihm  einge- 
gangen werden.  Wichtig  aber  ist  es,  sich  die  Hauptströmung  klar  zu  nuicheu,  dass 
nämlich  die  Gebildeten  die  Zuversicht  zu  der  Rationalität  des  katholischen  Glaubens 
keineswegs  besassen.  DicAngrifle  der  Heiden  und  Manichaer  hatten  sie  erschüttert. 


I 


Die  Autorität  der  Kirche  für  den  Glauben.  7 1 

der  katholischen  Kirche  in  die  Arme  warf,  that  er  das  mit  dem  vollen 
Bewusstsein,  er  bedürfe  ihrer  Autorität,  um  nicht  im  Skepticismus 
oder  Nihihsmus  zu  versinkend  Z.  B.  die  Anstösse  am  AT.  vermag 
nur  die  Autorität  der  Kirche  zu  beseitigen.  Die  tausend  Zweifel, 
welche  die  Gotteslehre  und  namentlich  die  Christologie  erregt,  vermag 
nur  die  Kirche  zu  beschwichtigen.  In  ersterer  Hinsicht  hilft  allerdings 
die  allegorische  Erklärung  über  die  Anstösse  hinweg;  aber  die  alle- 
gorische Interpretation  (gegenüber  der  buchstäblichen,  -welche  Alles 
auflöst)  legitimirt  sich  nicht  selbst;  die  Kirche  allein  giebt  ihr  das 
Recht  der  Anwendung.  Die  Kirche  tritt  für  die  Wahrheit 
des  Glaubens  ein,  wo  das  Individuum  dieselbe  nicht  zu 
erkennen  vermag:  das  ist  der  neue  Gedanke,  dessen  offene  Aus- 
sprache ebenso  den  Skepticismus  des  Denkers  beweist  wie  die  Wahr- 
heitsHebe  des  Menschen.  Er  wollte  sich  selbst  nichts  vormachen; 
er  woUte  nicht  zum  Sophisten  seines  Glaubens  werden.  Offen  hat  er 
es  proclamirt :  ich  glaube  in  vielen  Stücken  nur  auf  die  Autorität  der 
Kirche  hin ;  ja  ich  glaube  selbst  dem  EvangeHum  nur  auf  die  Autorität 
der  Kirche  hin^.  Damit  hatte  die  Kirche  eine  ungeheure  Bedeutung 
erlangt,  die  Bedeutung,  welche  ihr  fortab  im  abendländischen  Katholicis- 
mus  bleiben  sollte :  auf  sie,  eine  zunächst  unfassbare  Grösse  —  denn 
was  und  wo  ist  die  Kirche?  —  wurde  ein  grosses  Stück  der  Verant- 


Man  spricht,  theils  mit  Selbstgefälligkeit,  theils  mit  Schmerz,  von  den  „modernen" 
Zweifeln  an  dem  kirchlichen  Glauben.  Allein  diese  Zweifel  sind  so  wenig  modern, 
dass  vielmehr  die  Schöj^fung  der  augustinisch-mittelalterlichen  Kirchenautorität  ihr 
Werk  ist.  Dass  das  Kirchenthum  so  mächtig,  ja  eine  dogmatische  Grösse  geworden 
ist,  verdankt  es  im  2.  und  3.  Jahrhundert  der  mangelnden  Sittlichkeit  der  Christen, 
im  4.  und  5.  dem  mangelnden  Glauben.  Der  Unterschied  zwischen  Justin  und 
Augustin  ist  hier  viel  grösser  als  der  Unterschied  zwischen  Augustin  und  einem 
Christen  des  16.  oder  19.  Jahrhunderts. 

^  S.  die  mittleren  Bücher  der  Confessionen,  z.B.  VI,  11 :  „scripturae  sanctae, 
quas  ecclesiae  catholicae  commendat  auctoritas."  VI,  7:  „libris  tuis,  quos  tanta  in 
Omnibus  fere  gcntibus  auctoritate  fundasti  ....  Non  audiendos  esse,  si  qui  forte 
mihi  dicerent :  unde  scis  illos  libros  unius  veri  et  veracissimi  dei  spiritu  esse  humano 
generi  ministratos?  idipsura  enim  maxime  credendum  erat."  VI,  8:  Ideoque 
cum  essemus  infirmi  ad  inveniendam  liquida  ratione  veritatem,  et  ob  hoc  nobis  opus 
esset  auctoiitatc  sanctarum  litterarum,  iam  crcdere  coeperam  nullo  modo  te  fuisse 
tributurum  tarn  excellentem  illi  scripturae  per  omncs  iam  tcrras  auctoritatem,  nisi 
et  per  ipsam  tibi  credi  et  per  ipsam  te  (juaeri  voluisses.  Jam  enim  absurditatem 
quae  me  in  illis  litteris  solebat  offendere,  cum  multa  ex  eis  probabiliter  exposita 
audissem,  ad  sacramentorum  aliitudinem  referebam."  S.  auch  die  Schrift  de  utilit. 
credendi  und  überhaupt  die  Schriften  gegen  den  Mauichäinmus. 

'^  Contra  ep.  Manichaei  6:  „ego  vero  evangelio  non  crederem,  nisi  me  catho- 
licae (ecclesiae)  commoveret  auctoritas."  Unzählig  viele  Parallelstellen,  namentlich 
in  den  antimanichäischeu  Schriften,  aber  auch  sonst,  sind  vorhanden. 


72      I^it'  weltgeschlchtl.  StelUmg  Augustiir«  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

wortiing  abgewälzt,  welclio  bisher  der  Eiiizehic  zu  tragen  hatte.  So 
ist  fortab  die  Kirche  in  jedem  Ghiubensact  mit  dabei.  Damit  ist  aber 
eine  ungeheure  Umwälzung  in  dem  Verhältniss  zur  fides,  quae  creditur, 
herbeigeführt.  Die  Glaubensacte  sind  zugleicli  Acte  des 
Gehorsam  s.  Die  Schwierigkeiten,  welche  die  Alexandriner  durch 
das  Mittel  der  Unterscheidung  der  exoterischen  und  der  esoterischen 
Religion  beseitigt  haben,  sind  anerkannt ;  aber  diese  Unterscheidung 
selbst  ist  verworfen.  An  ihre  Stelle  >vird  nun  offen  das  proclamirt, 
was  im  Geheimen  längst  schon  —  namentlich  im  Abendland  (die 
Schrift  und  das  Dogma  als  lex  s.  Cap.  1)  —  die  Auskunft  von  Tausen- 
den gewesen  war:  der  partielle  Verzicht  auf  den  selbständigen  Glauben, 
die  Ersetzung  desselben  durch  den  Gehorsam.  Dass  damit  ein  grosser 
Bestand  der  Dogmen,  resp.  des  Schriftinhalts,  für  das  gläubige  Sub- 
ject  in  die  Ferne  rückt,  dass  eine  ganz  andere  Beziehung  auf  die- 
selben eintritt,  dass  mit  einem  Wort  die  Lehren  der  Schrift  und  der 
Kirche  eine  andere  Bedeutung  gewinnen,  leuchtet  ein.  Augustin 
ist  der  Vater  der  Auffassung  von  der  fides  implicita,  in- 
dem er  dem  einzelnen  Gläubigen  die  Kjrche  hinzufügt,  mit  der  er 
zusammen  glaubt  und  die  für  ihn  glaubt,  sofern  sie  ihm  ein  psycho- 
logisches Element  des  Glaubens  in  manchen  Stücken  ersetzt,  nämlich 
die  innere  Ueberzeugung.  Indem  Augustin  diese  Auffassung  offen  ver- 
kündet hat,  die,  wie  gesagt,  schon  im  Finstern  schlich,  hat  er  einer- 
seits den  individuellen  Glauben  entlastet  und  ihn  energischer  auf  die 
Gebiete  gewiesen,  in  welche  er  ohne  Anstösse  sich  heimisch  machen 
kann,  andererseits  aber  alle  die  üblen  Folgen  heraufgeführt,  die  aus 
dem  Autoritätsglauben  entspringend 

Indessen  dieses  Eintreten  für  den  Autoritätsglauben  hatte  bei 
Augustin  doch  noch  eine  andere  Wurzel  als  den  Skepticismus.  Ueber- 
lieferung  und  Gnade  hängen  durch  geheime  Fäden  zusammen.  „Der 
Thau,  drin  ich  gesund  mich  bade,  ist  Ueberlieferung,  ist  Gnade",  hat 
ein  Genius  bekannt,  der  niemals  skeptisch  und  daher  niemals  autoritäts- 
süchtig gewesen  ist.  Augustin  ist  auch  als  Psychologe  und  als  lebendig 
glaubender  Christ  zur  Ueberlieferung,  und  damit  zur  Kirche,  geführt 
worden.  Indem  er  mit  dem  Moralismus  brach,'  brach  er  auch  mit 
dem  Individualismus  und  Atomismus  der  alten  Schule.  Der  massa 
perditionis  stand  für  ihn  die  gratia  als  geschichtlich  wirkende 


^Reuter,  der  die  Bedeutung  der  Idee  der  Kirche  bei  Augustin  keineswegs 
überschätzt,  erklärt  (S.  499) :  „Durch  Augustin  ist  die  Idee  der  Kirche  in  eiuer 
Weise,  die  dem  Orient  fremd  geblieben,  die  Centralmaclit  in  der  religiösen  Stim- 
mung, in  dem  kirchlichen  Handeln  des  Abendlandes  geworden."  Die  „Centralmaclit** 
ist  fast  zu  viel  gesagt  (s.  Tlieol.  Lit.-Ztg.  1887  Nr.  15). 


Die  Autorität  der  Kirche  für  deu  Glauben.  73 

Macht  gegenüber.  Ich  will  mich  hier  noch  nicht  in  seinen  Kirchen- 
begriff verlieren  —  gewiss  ist,  class  er  eine  lebhafte  Empfindung  dafür 
besass,  dass  alle  grossen  Güter,  ja  der  Verkehr  mit  Gott  selbst,  an 
geschichtliche  Ueberheferung  gebunden  ist,  und  offenbar  ist,  dass  der 
religiöse  Individuahsmus,  wie  er  ihn  ausbildete,  als  Parallele  eine  Auf- 
fassung vertrug,  nach  welcher  der  Einzelne  getragen  wird  von  anderen 
Personen  und  von  Kräften  des  Guten,  die  er  durch  eine  sichtbare 
Vermittelung  erhält.  In  der  Idee  der  Kirche  fasste  Augustin  diese 
richtige  geschichtliche  Auffassung  zusammen.  Sie  war  ihm  der  Organis- 
mus und  —  für  den  Einzelnen  —  der  Mutterschoss  der  Gnade,  ferner  die 
Gemeinschaft  der  Gerechtigkeit  und  Liebe,  und  er  hat  diese  Bedeu- 
tung der  Kirche  innerhalb  seiner  persönlichsten  Frömmigkeit  viel  leb- 
hafter empfunden  als  irgend  Jemand  vor  ihm. 

Aber  der  Skeptiker,  welcher  die  Autorität  der  Kirche  bedarf, 
und  der  lebendig  fühlende  und  sicher  beobachtende  Christ,  der  die 
kirchliche  Gemeinschaft  in  ihrem  Werthe.  erkennt  und  schätzt,  fallen 
doch  nicht  auseinander.  Noch  hat  es  in  der  AVeit  keinen  starken 
religiösen  Glauben  gegeben,  der  nicht  an  irgend  einem  entscheiden- 
den Punkt  sich  auf  eine  äussere  Autorität  berufen  hätte.  Nur 
in  den  blassen  Ausführungen  der  Religionsphilosophen  oder  in  den 
polemischen  Entwürfen  protestantischer  Theologen  wird  ein  Glaube 
construirt,  der  seine  Gewissheit  ledighch  den  eigenen  inneren  Momen- 
ten entnimmt.  Diese  sind  unzweifelhaft  die  Kraft  seines  Daseins  und 
seiner  Erhaltung.  Aber  sind  nicht  Bedingungen  nöthig,  unter  denen 
diese  Kraft  wirksam  wird  ?  Jesus  Christus  hat  sich  auf  die  Autorität 
des  AT. 's,  die  alten  Christen  haben  sich  auf  den  Weissagungsbeweis, 
Augustin  hat  sich  auf  die  Kirche,  selbst  Luther  hat  sich  auf  das  ge- 
schriebene Wort  Gottes  berufen.  Es  ist  nur  eine  akademische  Specu- 
lation,  welche  die  äussere  Autorität  hier  eliminiren  zu  können  meint  *, 
das  Leben  und  die  Geschichte  weisen  daraufhin,  dass  kein  Glaube  über- 
zeugungs-  und  zeugungskräftig  ist,  der  nicht  den  Gehorsam  gegen  eine 
äussere  Autorität  in  sich  schliesst  und  im  Stande  ist,  sie  zu  erzwingen. 
Es  kann  sich  lediglich  darum  handeln,  die  richtige  Autorität  zu  be- 
stimmen und  das  zutreffende  Verhältniss  zwischen  äusserer  und  innerer 
Autorität  zu  finden.  Wäre  es  anders,  so  wären  wir  nicht  schwache, 
liülflose  Wesen.  Man  kann  vom  Adel  der  menschlichen  Anlage  nicht 
hoch  genug  denken;  aber  so  hoch  ist  diese  Anlage  nicht,  dass  der 
Mensch  die  Summe  aller  der  idealen  Elemente,  die  das  innere  Leben 
ausmachen,  sich  so  anzueignen  vermag,  dass  sie  mit  dem  Gemüthe 
zusammenwa(;lisen  oder  zum  Product  desselben  werden.  Vor  Allem 
kann  der  Gottesgedanke,    der  Gedanke   der  Liebe  Gottes,   nie  eine 


7  4      Pit!  weltgeschichtl.  Stellung  A  ugustiirs  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

unerscliiitterliche  Gewissheit  erhalten,  ohne  dass  er  getragen  wird  von 
einer  äusseren  Autorität.  Es  ist  keine  falsche  religiöse  Beohachtung, 
dass  das  unruhige  Suchen  der  Seele  erst  aufhört,  wenn  ihr  eine  Au- 
torität aufgegangen  ist,  deren  Geltung  für  sie  unahhängig  ist  von  dem 
Grade  der  Stärke,  mit  welcher  sie  die  innere  Berechtigung  dieser 
Autorität  emptindet. 

Das  Alles  hat  Augustin  erkannt  und  ausgesprochen.  Darum  ist 
durch  ihn  „die  traditionelle,  lediglich  auctoritative  Doctrin"  von  der 
Kirche  in  eine  Auffassung  verwandelt  worden,  nach  welcher  die  Kirche 
eine  religiöse  Grösse  ist.  Damit  ist  aber  die  Eigenthümlichkeit  der 
Frömmigkeit  selbst  neu  bestimmt  K 

2.  Aus  den  Confessionen  Augustin's,  aber  auch  aus  anderen  seiner 
Schriften,  leuchtet  die  Erkenntniss  hervor,  Religion  ist  der  Be- 
sitz des  lebendigen  Gottes,  ein  persönliches  Verhältniss  zwi- 
schen der  Seele  und  Gott.  Dass  nichts  anderes  der  Seele  Ruhe  und 
Frieden  zu  geben  vermag  als  Gott  selbst,  das  ist  der  Grundton  der 
Bekenntnisse  Augustin's  —  „die  animaemeae:  salus  tua  ego  sum". 
Seine  Grösse  in  der  Geschichte  der  Frömmigkeit  liegt  in  dieser  Er- 
kenntniss, wie  sie  sich  an  Rom.  8,  31 — 39  anschliesst,  beschlossen. 
Auch  hierin  ist  er  mit  den  grossen  Alexandrinern,  namentlich  mit 
Clemens,  zu  vergleichen.  Aber  wie  Augustin  nicht  nur  auf  dem  Wege 
einer  mühsamen  Speculation  zu  dieser  Erkenntniss  gekommen  ist,  so 
tritt  sie  bei  ihm  auch  viel  gewaltiger  und  reiner  auf  als  bei  den 
Alexandrinern  ^. 

^  Nur  für  ein  oberflächliches  Auge  scheinen  die  orientalischen  Christen  stärker 
an  der  Kirche  zu  hängen,  als  die  abendländischen.  Dort  hat  der  geschichtliche  Gang 
der  Dinge  Kircheuthum  und  Nationalität  zusammengeschweisst  und  die  innere  Ent- 
wickelung  den  Kultus  der  Kirche  ziu*  Hauptsache  gemacht.  Allein  welche  andere 
Rolle  spielt  die  Kirche  in  der  persönlichen  Frömmigkeit  als  die,  dass  sie  der 
Schauplatz  des  christlichen  Lebens,  die  Lehrerin  und  die  Verwalterin  der  Mysterien 
ist  ?  Das  Alles  sind  im  Grunde  Voraussetzungen;  im  Abendland  dagegen  hat 
sich  die  Kirche  in  alle  Verhältnisse  und  Beziehungen  des  frommen  Gemüthes  zu 
Gott  und  Christus  eingeschoben,  soweit  die  augustinische  Ueberlieferung  gilt. 

^  Allerdings  hat  auch  sein  Neuplatonismus  an  jener  Ei'kenntniss  Antheil  — 
man  lese  aufmerksam  Confess.  1.  VII  u.  VIII  sowie  die  Schriften  und  Briefe,  die 
Augustin  gleich  nach  seiner  Bekehrung  verfasst  hat  —  ;  aber  in  viel  höherem  Grade 
ist  er  durch  die  innere  Erfahrung  und  durch  die  Leetüre  des  Pauhis  und  der  Psal- 
men zu  ihr  geführt  worden.  Die  Frömmigkeit  der  Psalmisteu  ist  in  ihm  wieder 
lebendig  geworden  (s.  vor  Allem  Confess.  IX,  8—12).  Auch  seine  Sprache  hat  er 
an  ihnen  gebildet.  Bei  Clemens  Alex,  dagegen  und  Origenes  waltet  die  (neuplato- 
nische) Speculation  vor.  Selbst  bei  den  herrlichsten  Ausführungen  dieser  Männer, 
in  denen  die  Gewalt  der  Empfindung  deutlich  hervortritt,  kann  man  den  AVog  der 
Speculation  nicht  vergessen,  auf  welchem  sie  zum  Besitz  Gottes  gelangt  zu  soiu 
meinen. 


Gott  und  die  Gnadenmittel  bei  Augustin.  75 

Allein  die  sichere  Anwendung  des  Einfachsten  in  der  Dogmatik 
ist  immer  das  Schwierigste.  Augustin  sah  sich  einer  Ueberlieferung 
gegenübergestellt,  nach  welcher  Gott  durch  Gesetze  und  durch 
Gnadenmittheilungen  mit  den  Menschen  verkehrt;  ja  die  herr- 
schende Ueberlieferung  w^ar  fortwährend  in  Gefahr,  diese  auf  jene 
zu  reduciren.  Dem  gegenüber  war  es  schon  ein  gewaltiger  Fortschritt, 
den  Unterschied  von  Gesetz  und  Evangelium,  von  Gebot  und  Gnade 
wieder  einzuschärfen.  Man  gewahrt  nun,  dass  sich  Augustin  in  seinen 
dogmatisch -polemischen  Schriften  ganz  wesentlich  hierauf  be- 
schränkt hat,  d.  h.  er  ist  nicht  im  Stande  gewesen,  die  lebendige  Ein- 
sicht, dass  Gott  selbst,  wie  er  in  Christus  erschienen  ist,  das  Gut  der 
Seele  ist,  in  die  dogmatische  Theorie  überzuführen.  Das  alte  Schema, 
dass  Gott,  wie  ein  gütiger  Richter  durch  Begnadigungs- 
acte  oder  wie  ein  Arzt  durch  Medicamente  demMenschen 
zu  Hülfe  kommt,  hat  er  wesentlich  bestehen  gelassen,  resp. 
er  hat  es  aus  der  Unsicherheit  zur  vollen  Gewissheit  erhoben:  Gott 
wirkt  immerfort  durch  geheimnissvolle  allmächtige  Gnadenmittheilung, 
d.  h.  durch  Gnadenkräfte '.  So  behält  die  Gnade  (gratia  per  Christum) 
auch  bei  ihm  einen  dinglichen  Charakter,  und  er  hat  im  Kampfe 
gegen  Donatisten  und  Pelagianer  diese  Betrachtung  der  Gnade  im 
Zusammenhang  mit  den  Lehren  von  der  Kirche  und  den  Sacramenten 
vollends  ausgebildet.  In  seiner  persönlichen  Empfindung  und  Selbst- 
beurtheilung  hat  er  das  mit  der  Gewissheit,  dass  es  sich  um  den  Besitz 
Gottes  handelt,  zu  vermitteln  verstanden.  Allein  als  Lehrer  der 
Frömmigkeit  ist  ihm  das  nicht  gelungen;  ja  man  kann  sagen,  eben 
weil  erst  er  auf  die  gratia  per  Christum  allen  Nachdruck  gelegt,  diese 
Gnade  aber  als  Gnadenstücke  gefasst  hat,  so  ist  erst  durch  ihn  mit 
der  Einsicht  von  der  Bedeutung  der  Gnade  als  Anfang,  Mitte  und 
Ende  auch  der  Irrwahn  des  dinglichen  Charakters  derselben  ein- 
gebürgert worden.  AVas  er  über  die  Gnade  als  sacramentale,  kirch- 
liche Mittheihmg  ausgeführt  hat,  das  konnte  seine  Zeit,  wenn  auch  müh- 
sam, verstehen.  Sie  konnte  es  auf  ihr  Niveau  herabziehen.  Das 
magische  Element,  wclclies  dieser  Auffassung  anklebte,  die  äusserlichc 
Festigkeit,  welche  der  Begriff  der  G  nade  innerhalb  der  Sacramente  erhielt. 


^  Der  letzte  Grund  dieser  lictrachtung  bei  Augustiu  ist  natürlich  dieser,  dass 
er  das  altkatholische  Schema,  als  handle  es  sich  letztlicli  im  Christenthum  um  die 
physische  und  moralische  Umbildung  der  menschlichen  Natur  zu  unsterblichem 
Leben,  doch  niclit  ganz  ausgetilgt  hat.  Er  hat  einen  grossen  Schritt  vorwärts 
gethan;  aber  er  ist  doch  nicht  im  Stande  gewesen,  dem  pauliuischen  (Jedanken, 
dass  es  sich  allein  um  Sündenvergebung  und  Gotteskiudschaft  handelt,  einen  klaren 
Ausdnick  zu  verleihen  und  die  ganze  Dogmatik  nach  ihm  zu  gestalten. 


7 ♦)      Die  weltgc'schic5htl.  Siollung  Augusiiu's  als  Reformutor  tler  Frömmigkeit. 

die  scheinbare  Klarheit  der  Betrachtung,  die  Möglichkeit,  theologische 
lior  echn  iiiigen  mit  Sünde  und  Gnade  anzustellen  —  alle  diese 
Momente  an  der  augustinischen  Gnadenlehre  sind  begierig  aufgegriffen 
worden.  So  hat  er  es,  indem  er  die  Gnade  zum  Fundament  und 
Mittelpunkt  aller  christlich-theologischen  Betrachtung  machte,  durch 
die  Art  seiner  Fassung  verschuldet,  dass  der  lebendige  Gott  und  die 
Person  Ghristi  in  dem  Bewusstsein  der  Kirche,  die  er  bestimmt  hat, 
doch  zurücktraten.  ]\Iit  der  Hinterlassenschaft,  dem  Erwerb,  dem 
Verdienst  Christi,  hat  es  der  Gläubige  zu  thun,  aber  nicht  mit  Christus 
selbst.  Die  Liebe  Gottes  wird  in  Stücken  der  Seele  eingeflösst;  aber  dass 
dieDogmatik  so  lange  unvollkommen  ist,  ja  einHemmniss  der  Religion 
bildet,  als  nicht  der  Satz :  „inquietum  est  cor  nostrum,  donec  requies- 
cat  in  te"  auch  in  ihr  zu  seinem  souveränen  Rechte  gelangt  ist,  das 
hat  Augustin  nicht  erkannt.  Die  gewaltige  Erschütterung,  die  er  selbst 
erlebt  hat,  die  Krisis,  in  der  es  sich  lediglich  darum  handelte,  ob  er 
Gott  als  seinen  Gott  linden  werde  oder  nicht,  hat  er  höchst  unvoll- 
konnnen  in  seiner  dogmatischen  Theorie  (der  späteren  Zeit)  zum  Aus- 
druck gebracht.  Er  hat  den  neuen  AVein  in  alte  Schläuche  gegossen 
und  es  so  mitverschuldet,  dass  jene  katholische  Gnadenlehre  entstan- 
den ist,  die  vielleicht  das  abschreckendste  Stück  der  katholischen  Dog- 
matikist;  denn  „corruptio  optinii  pessima".  AVenn  jüngst  ein  römisch- 
katholischer  Dogmatiker  die  Gnadenlehre  ein  „dornenvolles  Gebiet" 
genannt  hat,  so  niüsste  diese  Bezeichnung  allein  jedem  einfach  empfin- 
denden Christen  genügen,  um  zu  erkennen,  dass  die  ganze  Behandlung 
dieses  Hauptstücks  seit  den  Tagen  Augustin's  auf  einen  Irrweg  ge- 
rathen  ist.  Kann  es  denn  ein  traurigeres  Eingeständniss  geben,  als 
dies,  dass  die  Betrachtung  dessen,  was  Gott  der  Seele  in  Christus 
schenkt,  in  lauter  Dornen  führt  ?  Und  kann  ein  grösserer  Contrast 
gedacht  werden  als  der,  welcher  zwischen  den  Sprüchen  Jesu  Christi 
und  der  katholischen  Gnadenlehre  besteht?  Aber  der  Protestantismus, 
wie  er  factisch  ausgeprägt  ist,  darf  sich  nicht  rühmen,  diese  verderb- 
liche katholische  Lehre  überwunden  zu  haben.  AVie  er  auf  der  augusti- 
nischen Gnadenlehre  im  guten  Sinn  des  AVorts  ruht  und  sich  dadurch 
als  abendländisches  Christenthum  von  dem  morgenländischen  unter- 
scheidet, so  trägt  er  auch  den  grössten  Tlieil  der  Last  dieser  Lehre 
noch  mit  sich  und  unterliegt  daher  denselben  Gefahren  wie  der  Kathoh- 
cismus  —  durch  die  Gnade  und  die  Sacramente  sich  den  persön- 
lichen Christus  zu  verdecken,  den  lebendigen  Gott  eben  durch  die 
Gnade  sich  zu  verzäunen,  Gnadenreclmungen  aufzustellen,  die  aus  dem 
Heiligsten  und  Freiesten  ein  Conto  machen  und  die  Seele  entweder 
abstumpfen  oder  in  der  Unruhe  lassen. 


Gott  und  die  Gnadenmittel  bei  Augustin.  77 

Aber  wie  Augustin  für  seine  Person  gewusst  hat,  wovon  seine 
Seele  lebte,  und  wie  er  es  verstanden  hat,  davon  in  lebendiger  Eede, 
ja  in  einigen  Ausführungen  auch  lehrhaft,  zu  zeugen,  so  hat  er  auch 
nach  dieser  Seite  auf  die  Folgezeit  mächtig  eingewirkt.  Er  ist  nicht 
nur  der  Vater  der  katholischen  Gnadenlehre,  sondern  auch  jener 
Mystik  geworden,  die  bis  zum  Tridentinum,  ja  bis  zum  jansenistischen 
Streit  Bürgerrecht  innerhalb  der  katholischen  Kirche  besessen  hat. 
Er  hat  an  mehr  als  hundert  Stellen  seiner  Werke,  er  hat  vor  Allem 
durch  seine  christliche  Persönlichkeit  den  Antrieb  gegeben,  ein  Leben 
mit  Gott  zu  gewinnen,  innerhalb  welches  man  in  der  Gnade  den  per- 
sönlichen Gott  selbst  ergreift.  Man  darf  hier  auch  an  seine  Prä- 
destinationslehre erinnern.  Sie  hat  unstreitig  eine  ihrer  Wurzeln  an 
dem  Gedanken  der  Souveränetät  des  persönlichen  Verhältnisses  zu 
Gott.  So  ist  sie  auch  überall  verstanden  worden,  wo  sie  in  der  Folge- 
zeit das  Mittel  gewesen  ist,  sich  den  verderblichen  Folgen  der  kirch- 
lichen Gnaden-  und  Sacramentslehre  zu  entziehen.  Aber  allerdings 
lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  Augustin,  wo  er  seine  bedenkliche 
Gnadenlehre  zurückschiebt,  dann  auch  sofort  in  Gefahr  gerathen  ist, 
die  Bedeutung  Christi  überhaupt  zu  neutralisiren.  Christi  Werk  be- 
zieht sich  und  erschöpft  sich  nach  Augustin  in  der  Sündenvergebung. 
Aber  das,  was  der  Christ  zur  Seligkeit  nothwendig  hat,  erschöpft  sich, 
wie  wir  in  dem  gleich  Folgenden  sehen  werden,  keineswegs  in  der 
Sündenvergebung.  Daher  ist  die  Gnadenlehre  relativ  unabhängig  von 
dem  geschichtlichen  Christus.  Diese  Gefahr,  die  positive  Gnade  ohne 
Beziehung  auf  Christus  zu  fassen,  oder  sie  mit  Christus  nur  in  der 
Form  ästhetischer  Betrachtungen  in  Beziehung  zu  setzen,  hat  fort- 
gewirkt. Erst  Luther,  der  vom  Augustinismus  ausgegangen  ist,  hat 
sie  überwunden,  sofern  er,  wenn  er  sich  auf  Gott  bezog,  überhaupt 
nur  an  den  Gott  dachte,  wie  er  ihn  in  Christus  kannte.  Daran  war 
Augustin  durch  seine  lleligionsphilosopliie  und  auch  durch  seinen  Bibli- 
cismus  verliindert,  die  sich  beide  mit  selbständigen  Ansprüchen  bei  ihm 
geltend  machten.  So  ist  es  gekommen,  dass  er  die  Frömmigkeit  der 
abendländischen  Christen  sowohl  durch  eine  Gnadenlehre  bestimmt  hat, 
die  den  niederen  Antrieben  derselben  entgcjgeiikam,  als  durch  eine  Ver- 
kündigung der  Unmittelbarkeit  des  religiösen  Verliältnisscs,  welche  der 
Bedeutung  Christi  als  des  Spiegels  des  väterlichen  Herzens  Gottes  und 
als  des  bleibenden  Mittlers  nicht  gerecht  wurde.  Hier  wie  dort  hat  er 
Elemente  ausgeprägt  und  lebendig  gemacht,  die  in  der  überlieferten  Lehre 
nur  als  todt(j  Stoffe  oder  als  verkümmerte  Keime  vorhanden  waren. 

!J.  Augustin  theilte  mit  der  ganzen  Christenheit  seiner  Zeit  den 
(iedanken   als    den  entscheidenden,  dass  einst  vor   dem  Kichterstuhl 


78      Tiie  weltgescliiclitl.  Stellunpf  Aug:u8tiirH  als  Reformator  der  Frömmig'keit. 

Ohristi  „ein  Jeder  em])fanj]jen  wird,  darnach  er  geliandelt  hat", 
und  Niemand  wird  die  Cluisthchkeit  dieses  Gedankens  in  Zweifel  ziehen. 
Allein  Augustin  ging  noch  einen  Schritt  weiter  und  recipirte  auch 
die  von  TertuUian  und  (yyprian  her  in  der  Kirche  geläufige  Vorstellung 
der  merita.  Er  wusste  es  niclit  anders,  als  dass  hei  der  schliess- 
lichen  Entscheidung  nur  merita  in  Betracht  kommen  können.  Mit 
seiner  Gnadenlehre  aher  vermittelte  er  diesen  Satz  dadurch,  dass  er 
lehrte,  Gott  kröne  seine  munera,  indem  er  unsere  merita  kröne  K  Hier- 
mit schien  beiden  Erwägungen  entsprochen  zu  sein,  und  die  Sicher- 
heit, mit  welcher  sich  diese  Auffassung  in  der  Kirche  durchsetzte, 
scheint  dafür  zu  bürgen,  dass  die  richtige  Betrachtung  nun  getroffen 
sei.  Allein  erstlich  fragt  es  sich,  ob  niclit  die  Amphibolie  jener  Ver- 
mittelung  zu  ihrer  Einbürgerung  beigetragen  hat-,  zweitens  muss  es 
auffallen,  dass  über  den  Glauben  in  dem  Satze  völhg  geschwiegen 
ist.  Wir  stehen  hier  wiederum  an  einem  Punkte,  wo  Augustin  bei 
seiner  Keformation  der  herrschenden  Frömmigkeit  dieser  einen  sehr 
bedeutenden  Tribut  bezahlt  hat.  Unzweifelhaft  hat  er  die  Bedeutung 
und  Kraft  des  Glaubens  in  ergreifender  und  neuer  Weise  zum  Aus- 
druck gebracht.  Wer  nicht  auf  die  Formeln  achtet,  sondern  auf  den 
Geist,  wird  überall  in  den  Werken  Augustin's  einen  Strom  pauhnischen 
Glaubens  finden.  Vor  ihm  haben  nur  seine  Lehrer  Victorinus  und 
Ambrosius  in  einigen  Ausführungen  ähnlich  gesprochen.  Stellen,  in 
denen  Augustin  den  Glauben  als  das  Element,  in  welchem  die  Seele 
lebt,  als  Anfang,  Mitte  und  Ende  der  Frömmigkeit  gepriesen  hat, 
lassen  sich  zahlreich  anführen.  Allein  innerhalb  der  dogmatischen 
Reflexion  hat  Augustin  höchst  unsicher,  ja  in  der  Begel  nicht  anders 
als  seine  Vorgänger  vom  Glauben  geredet.  Verschiedene  Momente 
trafen  hier  zusammen.  Erstens  war  es  einfach  die  Macht  der  Ueber- 
lieferung,  die  ihn  in  dem  Glauben  nicht  mehr  als  einen  Act  der 
Initiation  erkennen  Hess.  Zweitens  haben  ihn  Schriftstellen  zu  der 
Annahme    angeleitet,   dass  schliesslich  vor   Gott   doch    noch   etwas 


^  S.  z.  B.  Confess.  IX,  34 :  „Qiiisqiiis  tibi  euumerat  vera  merita  sua,  quid  tibi 
enumerat  nisi  munera  tua."  Ep.  194  n.  19  :  „cum  deus  coronat  merita  uostra,  nihil 
aliud  coronat  quam  merita  sua."  De  gratia  et  lib.  arb.  15:  „Dona  sua  coronat  deus, 
non  merita  tua  .  .  .  si  ergo  dei  dona  sunt  bona  merita  tua,  non  deus  coronat  merita 
tua  tamquam  merita  tua,  sed  tamquam  dona  sua."  De  gestis  Pelag.  35:  „Redditur 
quidem  meritis  tuis  Corona  sua,  sed  dei  dona  sunt  merita  tua."  De  trinit.  XIII,  14 : 
„Et  ea  quae  dicuntur  merita  nostra,  dona  sunt  eins  etc."  XV,  21 :  „Quid  aniniani 
faciet  beatam,  nisi  meritum  suum  et  praemium  domini  sui?  Sed  et  meritum  eins 
gratia  est  illius,  cuius  praemium  erit  beatitudo  eius."  De  praedest.  sanct.  10.  Eben 
desshalb  bleibt  der  Grundsatz  bestehen,  dass  die  Gnade  nicht  secundum  merita 
nostra  verliehen  wird. 


II 


Glaube,  Sündenvergebung  und  Verdienst.  79 

anderes  in  Betracht  kommen  müsse  als  der  Glaube,  nämlich  das  habi- 
tuelle Gutsein  (Gerechtigkeit).  Drittens  endlich  hat  er  die  Be- 
deutung der  Sündenvergebung  eingeschränkt.  Das  Letztere  ist  bei 
ihm  das  Paradoxeste  und  doch  hier  das  Wichtigste.  Er,  für  den  die 
Gewissheit,  einen  Gott  zu  besitzen,  das  Höchste  gewesen  ist,  und  der 
seiner  ganzen  Zeit  zugerufen  hat:  „Nondum  considerasti,  quanti 
ponderis  sit  peccatum",  hat  sich  nie  die  strenge  Beziehung  vergegen- 
wärtigt, die  zwischen  dem  Glauben  und  der  Sündenvergebung  be- 
steht, und  er  hat  sich  nie  klar  machen  können,  dass  die  Gewissheit 
der  Sündenvergebung  Leben  und  Seligkeit  ist.  An  diesem  Punkte 
tritt  plötzHch  das  MoraHsche  mit  souveräner  Gewalt  in  die  religiöse 
Reflexion  ein.  Es  ist,  als  ob  sich  Augustin  hier  den  quietistischen 
Folgen  seiner  Doctrin  (s.  oben)  habe  entziehen  wollen  und  in  dem 
Unvermögen,  aus  dem  Glauben  an  die  Sündenvergebung  die  Kräfte 
des  Guten  abzuleiten,  von  dem  Glauben  zu  den  Werken  abgesprungen 
sei.  Oder  hinderten  ihn  die  religionsj)hilosophischen  und  kosmo- 
logischen  Beste,  die  seiner  Theorie  von  der  Beligion  noch  anhaften, 
an  der  reinen  Erkenntniss,  dass  die  Behgion  in  dem  Glauben  an  die 
Sündenvergebung  beschlossen  ist  ?  ^  Oder  ist  diese  Erkenntniss  selbst 
vielmehr  eine  irrige,  undurchführbare,  die  Kraft  der  sittlichen  An- 
spannung lähmende?  Diese  Fragen  sollen  hier  nicht  untersucht  werden. 
Thatsache  ist,  dass,  weil  Augustin  die  Sündenvergebung  als  etwas 
Vorläufiges  betrachtete,  er  auch  den  Glauben  als  ein  Vorläufiges 
fasste.  Sieht  man  genau  zu,  so  ist  ihm  innerhalb  der  dogmatischen 
Theorie  die  Sünde  nicht  Schuld,  sondern  Schaden  und  Krankheit. 
Derselbe  Mann,  der  nach  einem  dauernden  Verhältniss  mit  Gott 
gerungen  und  es  gefunden  hat,  ist  nicht  im  Stande  gewesen,  das,  was 
er  erfahren,  als  Lehre  richtig  wiederzugeben  und  auszusprechen.  Er 
lenkt  in  die  herkömmliche  morahstische  Betrachtung  ein,  sofern  er 
in  der  Gnadenlehre  nicht  an  die  Feindschaft  wider  Gott,  sondern  an 
die  Seuche  der  Sünde  denkt,  nicht  an  die  Kindschaft,  sondern  an 
die  Herstellung  eines  solchen  Zustandes,  in  welchem  der  kranke 
Mensch  befähigt  wird,  gut  d.  h.  sündlos  zu  werden.  Darum  ist  der 
Glaube  nur  etwas  Vorläufiges,  und  daher  ist  es  so  schwer,  Augustin's 
Auffassung  von  der  Sündonvcrgebung  zu  bestimmen.  Sie  scheint 
doch  ganz  wesentlich  identisch  gewesen  zu  sein  mit  der  äusserlichen 
magischen  Vorstellung  seiner  Vorgänger,  nur  dass  er  die  Vergebung 
sicherer  als  eine  That  Gottes  fasste,   deren   sich  auch  der  Getaufte 

*  In  seinem  177.  Briefe  z.  U,  (ad  Innocont.  e.  4)  erklärt  er  es  fiusdrücklich  für 
einen  Irrihun»,  wenn  man  sage,  die  gratia  sei  das  liberum  arbitrium  oder  die  re- 
missio  peeeaf  oru  in. 


80      Die  weltjj^eschichtl.  Stellung  Augustin's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

fort  und  fort  getrosten  dürfe.  Allein  er  dachte  über  sie  selten  so  nach, 
dass  er  die  (iewissheit  über  sie  als  etwas  betrachtete,  wodurch  die 
Seele  Kraft  und  Flügel  empfängt.  Er  Wieb  wesentlich  bei  dem  Ein- 
druck stehen,  dass  etwas  durch  sie  thatsächlich  weggeräumt  sei, 
freilich  das  Schwerste,  die  Sünde.  Aber  die  Unvollziehbarkeit  dieser 
Vorstellung  wird  immer  einen  geheimen  Zweifel  übrig  lassen.  Augustin 
bewegt  sich  daher  trotz  seiner  neuen  Empfindung  vollkommen  in  dem 
alten  Schema,  wenn  er  die  Sündenvergebung  zu  ergänzen  und  zu  über- 
thürmen  suchte  und  sich  nach  einem  Positiven  umsah,  was  nun  neben 
der  negativen  Wirkung  einzutreten  habe.  Er  findet  es  in  der  Liebe. 
Nicht  in  dem  Glauben,  sondern  nur  in  der  Liebe  vermag  er  die 
Kraft  zu  erkennen,  die  das  Innere  eines  Menschen  wirklich  ändert, 
die  ihm  ein  neues  Verhalten  giebt.  Nun  ist  es  ihm  aber  auch 
trotz  der  entgegenstehenden  empirischen  Bedenken  nicht  zweifelhaft, 
dass  Liebe  eingegossen  werden  kann  wie  eine  Medicin.  Dessen  ge- 
wiss, dass  Gott  allein  Alles  wirkt,  überträgt  er  die  Vorstellung,  die 
bei  dem  Glauben  (Vertrauen)  zutreffend  ist  —  dass  er  aufliört,  er 
selbst  zu  sein,  wo  er  sich  anders  empfindet  als  ein  opYavov  XvjTCTtxöv  — , 
auf  die  Liebe,  als  könne  dieselbe  auch  ebenso  einfach  als  munus  dei 
per  Christum  betrachtet  werden.  Die  Folge  dieser  Betrachtungen  ist, 
dass  Augustin  einen  stufenweise  fortschreitenden  Heiligungs- 
pro c  e  s  s  für  die  zutreffendste  Beschreibung  des  Verhältnisses  der 
frommen  Seele  zu  Gott  gehalten  hat.  Hier  glaubte  er  alle  berechtigten 
Erwägungen  unterbringen  zu  können,  die  grundlegende  Bedeutung 
des  Glaubens,  die  Fassung  der  (sacramentalen)  Gnade  als  Anfang, 
Mitte  und  Ende,  das  Beclürfniss  nach  positiven  Kräften,  die  im  Stande 
sind,  die  Zustände  im  Menschen  zu  ändern,  die  Einsicht,  dass  nur 
der  Gerechte  selig  werden  könne  und  dass  gerecht  Niemand  sei, 
dessen  AVerke  nicht  vollkommen  seien,  d.  h.  die  Nothwendigkeit  von 
Verdiensten  u.  s.  w.  Er  glaubte  einen  Ausgleich  gefunden  zu  haben 
zwischen  den  Ansprüchen  der  Keligion  und  der  Sittliclikeit,  der  Gnade 
und  der  Verdienste,  der  Lehre  vom  Glauben  und  der  Eschatologie. 
Die  allmächtige  Liebe  wurde  ihm  das  Princip,  welches  Alles  bindet, 
Alles  trägt.  Glaube,  Liebe,  Verdienst  waren  ihm  die  Stufenfolge  des 
Weges  zur  Seligkeit,  und  diese  Betrachtung  hat  er  der  katholischen 
Kirche  der  Folgezeit  und  ihrer  Frömmigkeit  bis  heute  eingeprägt. 
Es  ist  das  alte  Schema  des  Processes  der  zur  Seligkeit  führenden 
Heiligung,  aber  so  umgebildet,  dass  die  Gnade  auf  allen  Stufen  wirkt. 
So  trettlich  und  —  für  manche  Entwickelungsstufen  —  zweckmässig 
diese  Auffassung  erscheint,  so  lässt  sich  doch  nicht  verkennen,  dass 
Augustin  in  ihr  hinter  seiner  eigenen  Erfahrung  zurückgeblieben  ist, 


n 


Rechtfertigung  und  Verdienste.  81 

und  dass  er  wider  seinen  Willen  das  Religiöse  dem  moralisch  Guten 
doch  untergeordnet  hat  i  denn  diese  Unterordnung  ist  keineswegs  durch 
die  Gleichung  ,.nostra  merita,  dei  munera"  ausgeschlossen.  Wo  merita 
eine  Rolle  spielen^  da  ist  verkannt,  dass  es  ein  Yerhältniss  zu  Gott 
giebt,  welches  sich  unter  Schwachheit  und  Sünde  ebenso  behauptet, 
wie  mitten  im  Elend  und  im  Tode  ^ 

Das  hat  auch  Augustin  geahnt,  und  er  hat  der  Kirche,  welcher 
er  seine  Lehre  vom  Glauben,  von  der  Liebe  und  dem  Verdienst  über- 
liefert hat;  desshalb  auch  die  Keime  einer  Auffassung  mitgetheilt, 
welche  jener  Lehre  tödtlich  sein  mussten.  Sie  liegen  nicht  nur  in 
seiner  Prädestinationslehre  beschlossen,  sondern  mindestens  ebenso- 
sehr in  jeder  Stelle  seiner  Schriften,  wo  er  das  ßekenntniss  zum  Aus- 
druck bringt:  „Mihi  adhaerere  deo  bonum  est".  In  diesem  Bekennt- 
niss  fällt  das  rehgiöse  Gut  und  das  sittHch  Gute  zusammen  und  ist 
auf  den  Quellpunkt  zurückgeführt,  auf  Gott.  Aber  auch  abgesehen 
hiervon:  seine  Erkenntniss  von  der  Liebe  —  „et  in  hac  vita  virtus  non 
est  nisi  dihgere  quod  diligendum  est ;  faciunt  boni  amores  bonos  mores" 
—  ist  so  zutreffend  und  gewaltig  gewesen,  dass  jede  Kritik  wie  vor- 
witzige Kleinmeisterei  erscheint.  Dennoch  wird  man  sie  vom  Stand- 
punkt des  Evangeliums  üben  müssen.  Es  ist  schon  oben  bemerkt 
worden,  dass  Augustin's  Gnadenlehre  als  Lehre  von  der  eingeflössten 
Liebe  neutral  ist  gegenüber  dem  Werk  des  geschichtlichen  Christus. 
Desshalb  hat  er  auch  eine  doppelte  Christologie,  einerseits  ist  Christus 
Gott,  unus  ex  trinitate,  andererseits  der  erwählte  Mensch^  der  eben- 
so unter  der  Gnade  stand  wie  wir.  Alles  das  geht  letztlich 
darauf  zurück,  dass  er  die  Bedeutung  der  Sündenvergebung  und  des 
Zöllnerglaubens  unterschätzte,  dass  seine  Frömmigkeit  noch  nicht  ein- 
fach genug  war''^. 

4.  Schhesshch  ist  darauf  hinzuweisen ,  dass  Augustin  als  Re- 
formator der  christlichen  PVömmigkeit  den  Charakter   derselben   als 


*  Nicht  minder  aber  ist  die  letzte  und  höchste  Frage  nach  der  Heilsgewissheit 
noch  verkannt. 

^  Der  Vorzug  der  augustinisclif^n  Heiligungsauffassung  scheint  eingeräumt 
werden  zu  müssen,  dass  or  durch  sie  das  (juictistische  Moment,  welches  als  Gefahr 
seiner  Gnaderdehre  anhaftet,  corrigirt  hat.  Allein  bei  genauerem  Zusehen  ergiebt 
sich,  dass  er  bei  der  Liebe  nicht  sicher  an  sittliche  Bcthätigimg  im  Dienst  des 
Nächsten  denkt,  sondern  an  Gefühle,  res}),  an  solche  Liebeswerke,  die  ihren  Werth 
mindestens  el^ensosehr  an  dem  Reflexiven  ha])en,  wie  an  dvr  Hülfelcistung.  Auch 
hier  ist  er  über  die  Linie  der  altkatholischen  Christen,  Cyprian's  und  Ambrosius', 
in  sehr  vielen  Ausführungen  nicht  hinausgekommen:  vermittelst  der  Caritas  sorgt 
rnan  am  l)esfen  für  sich  selber  und  wird  (iott  gefällig,  indem  man  sich  des  Welt- 
lichen entäussert. 

Harnack,  Dogmengeschichtc  III.  (j 


82      Pie  weltgeschichtl.  Stellung  Augu«tm's  als  Reformator  der  Frömmigkeit. 

Vorbereitung  auf  das  Jenseits  nicht  angetastet  hat.  Hier  hätte  er 
auch  nichts  ändern  können,  ohne  die  christHche  Rehgion  selbst  zu 
verwunden ;  denn  es  ist  eine  lUusion  einiger  Protestanten,  man  könne 
das  (>hristenthum  ni  eine  Hehgion  des  Diesseits  verwandeln.  Augustin 
lebte  in  der  zukünftigen  Welt  ebenso  wie  Justin  und  Irenäus.  Er 
ist  in  eschatologischen  Betrachtungen  unerschöpllicli,  und  wenn  er, 
wie  sich  später  zeigen  wird,  einige  ältere  Vorstellungen  beseitigt 
hat,  so  ist  das  für  die  ganze  liichtung  seiner  Frömmigkeit  nicht 
massgebend.  Er  hat  die  pessimistische  Betrachtung  d  i  e  s  e  s  Lebens, 
dieser  vita  mortalis  und  mors  vitalis,  durch  seine  Lehre  von  der 
Sünde  nur  noch  gesteigert:  „Welcher  Strom  der  Beredsamkeit  ge- 
nügte je,  die  Drangsale  dieses  Lebens  zu  schildern,  dieses  Elend  zu 
beschreiben,  das  gleichsam  eine  Hölle  in  diesem  Leben  ist  ?  Wahr- 
lich, nicht  lachend,  sondern  weinend  kommt  das  neugeborene  Kind 
an  dieses  sterbliche  Licht  und  weissagt  durch  seine  Thränen  auf  ge- 
wisse Weise,  auch  ohne  sein  Wissen,  zu  wie  grossen  liebeln  es  aus- 
ging .  .  .  Ein  schweres  Joch  lastet  über  allen  Adamskindern  von 
dem  Tage  ihrer  Geburt  an  bis  zum  Tage  ihres  Begräbnisses,  wo  sie  zur 
gemeinschaftlichen  Mutter  Aller  zurückkehren  .  .  .  Und  das  Schwerste 
dabei  ist,  dass  wir  erkennen  müssen,  wie  eben  durch  die  so  schwere 
Sünde,  im  Paradiese  begangen,  dieses  Leben  uns  zur  Strafe  ge- 
worden" ^  Ebenso  w^ie  er  die  pessimistische  Betrachtung  dieses  Lebens 
festgehalten  hat,  hat  er  auch  die  Seligkeit  beschrieben  als  den  Zustand 
vollkommener  Erkenntniss  Gottes.  So  schon  in  einer  seiner  frühesten 
Schriften  de  vita  beata,  und  dabei  ist  er  wesentlich  geblieben. 

Aber  eben  die  Einsicht,  dass  das  Elend  nicht  ein  blosses  Ver- 
hängniss,  sondern  ein  verschuldetes  ist,  und  die  Zuversicht,  dass  die 
Gnade  schon  hier  auf  Erden  den  Menschen  frei  und  sehg  machen 
kann,  übten  ein  gewisses  Gegengewicht.  Allerdings  nennt  er  das 
gegenwärtige  Leben  des  Christen  nicht  „Freude  der  Seligkeit", 
sondern  „Trost  des  Elends"  und  erklärt,  es  sei  eine  höchst  falsche 
Seligkeit,  welche  die  schmieden,  welche  hier  anders  selig  sein  wollen 
als  in  Hoffnung  2.     Aber  er  spricht  doch  an    nicht  wenigen  Stellen 

*  S.  auch  die  ergTeifende  Schilderung  de  civit.  XIX,  4. 

^  In  den  Soliloquien,  einer  seiner  frühesten  Schriften,  hat  er  der  Seele,  die 
hienieden  Gott  erkennt,  die  Seligkeit  zugesprochen.  Allein  in  den  Retractationen 
I,  4  sagt  er  ausdrücklich:  „Nee  illud  mihi  placet,  quod  in  ista  vita  deo  intellecto 
iam  beatam  esse  animam  (in  Soliloquiis)  dixi,  nisi  forte  spe."  Ueberhaupt  hat 
Augustin  in  späterer  Zeit  Manches  von  dem  desavouirt,  was  er  in  den  gleich  nach 
seiner  Bekehrung  geschriebenen  Schriften  ausgeführt  hat;  ja  selbst  in  den  Confes- 
sionen,  in  denen  er  doch  geneigt  ist,  seine  Bekehrung  als  eine  momentane  zu  schil- 
dern, hat  er  in  einem  schwerwiegenden  Satze  gestanden,  wie  unvollkonnnen  noch 


Diesseitiges  und  jenseitiges  Leben.  83 

von  der  Freude  an  Gott,  die  schon  hier  SeUgkeit  schafft.  Nachge- 
gangen ist  er  dieser  Empfindung  selten.  Eben  desshalb  hat  er  dieses 
Leben  in  sich  zwecklos  gefunden,  und  es  sind  nur  einzelne  An- 
deutungen, namentlich  in  dem  Werk  de  civitate  dei^  in  welchen  er 
zu  zeigen  versucht,  dass  im  Diesseits  auch  ein  regnum  Christi  ge- 
baut wird,  und  dass  die  Gerechten,  qui  ex  fide  vivunt,  das  Reich 
Christi  sind  und  eine  Aufgabe  für  die  Gegenwart  haben  (s.  auch  de 
trinit.  I,  16  und  21).  Im  Allgemeinen  hat  er  die  altchristhche 
eschatologische  Stimmung  in  jeder  Hinsicht  fortgepflanzt  und  dem 
Mönchthum  die  Stätte  bereitet.  Wenn  die  Entwickelung  der  katho- 
lischen Kirche  in  ihrer  Richtung  auf  die  machtvolle  Beherrschung 
des  Diesseits  von  ihm  angeregt  zu  sein  scheint,  so  haben  die  äusseren 
Verhältnisse  und  die  durch  sie  herbeigeführte  Interpretation  des 
Werkes  „de  civitate  dei"  dazu  viel  mehr  beigetragen,  als  absicht- 
liche Impulse,  die  er  gegeben  K  Wo  sich  aber  im  Katholicismus 
in  der  Folgezeit  ein  starkes  Gefühl  für  die  Seligkeit,  die  der  Christ 
schon  im  Diesseits  empfinden  kann,  entwickelt  hat,  da  hat  sie  stets 
einen  mystisch  -  ekstatischen  Charakter  angenommen.  Dies  ist  ein 
deutlicher  Beweis  dafür,  dass  in  jedem  Fall  von  diesem  Leben  abge- 
sehen worden  ist;  denn  die  mystische  Seligkeitsempfindung,  wie  sie 
auch  Augustin  gekannt  hat,  steht,  vermöge  eines  Excesses,  eigentlich 
schon  im  Jenseits. 


In  dem  Vorstehenden  ist  der  Versuch  gemacht,  zu  zeigen,  wie 
beschaffen  die  Frömmigkeit  gewesen  ist,  in  der  Augustin  lebte  und 
die  er  der  Folgezeit  überhefert  hat.  Sie  richtig  zu  fassen,  ist  ausser- 
ordentlich schwierig;  denn  Erlebtes  und  Ueberliefertes  sind  in  ihr 
in  wundersamster  Weise  verkettet.   Aber  man  kann  ihn  als  Lehrer 


seine  christliche  Denkweise  damals  gewesen  ist  (IX,  7:  „Ibi  fin  Cassiciacum]  quid 
egerim  in  litteris,  iam  quidem  scrvientibus  tibi,  scd  adliuc  superbiae  scholam 
tanquam  in  pausationc  anh  elantibus,  testantur  libri  disputati  cum  prae- 
sentibus  [libr.  c.  Aeadem.  —  de  beata  vita  —  de  ordine]  et  cum  ipso  me  solo  [Soli- 
lo(juia]  coram  te;  quae  autem  cum  absentc  Nebridio,  testantur  epistolae").  Allein 
die  Beurtheilung  muss  hier  eine  doppelte  sein :  das  früher  Geschriebene  war  aller- 
dings in  mancher  Hinsicht  unvollkommener,  minder  kirchlich,  neuplatonischer;  aber 
es  war  andererseits  unmittelbarer,  persönlicher,  von  Autorität  und  kirchlich-katho- 
lischen Kücksiehten  minder  bestimmt.  Darin  war  er  jedoch  schon  fest,  dass  er  von 
einer  Seligkeit  des  Forschens  und  Suchens  nichts  wissen  wollte,  sondern  im  Besitz 
die  Seligkeit  sah  (adv.  Acad.  1.  J). 

'  lieber  Augustin's  pessimistische  und  eschatologische  Stimmung,  über  seine 
Betrachtung  des  weltlichen  und  des  gJUHtlichen  Lebens  sowie  über  die  Ansätze  zur 
(Jeberwindung  der  vulgär-katholischen  Auflassung  s.  Reuter,  a.  a.  O.  Studie  VI. 
Wir  kommen  später  auf  diese  Themata  noch  einmal  kurz  zurück. 

6* 


8-1:  nie  weltgeschichtliclie  Stellung^  Auoriistin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

der  Kirche  nicht  verstehen,  wenn  man  ilni  nicht  zuvor  als  Refor- 
mator der  Frünnnigkeit  gewürdigt  hat;  deini  seine  Theorien  liaben 
ausser  in  der  Schritt  und  der  Ueberheferung  ihre  starken  Wurzeln 
in  der  Krönnnigkeit,  die  ihn  beseelte;  sie  sind  z.  Th.  nichts  anderes 
als  theoretisch  gedeutete  Stinnnungen.  in  diesen  Stinmmngen  aber 
sanunelten  sich  um  die  mächtige  Erfahrung  der  Bekehrung  von  der 
Unfreiheit  zur  Freiheit  in  Gott  alle  die  mannigfaltigen  religiösen  Er- 
fahrungen und  sitthchen  Reflexionen  der  alten  Welt :  die  Psalmen 
und  Paulus,  Plato  und  die  Neuplatoniker,  die  Moralisten,  Tertullian 
und  Ambrosius  —  man  findet  Alles  in  Augustin  wieder,  und  man  findet 
neben  der  neuen  psychologischen  Betrachtung,  die  er  als  Schüler  der 
Neuplatoniker  ausgebildet  hat,  alle  die  kindlichen  Reflexionen  und 
absoluten  Theorien  wieder,  welche  jene  Männer  befolgt  haben. 

Viertes  Capitel:  Die  weltgescMchtliclie  Stellung  Aiigiistin's 

als  Lehrer  der  Kirche. 

Die  alte  Kirche  vor  Augustin  besass  nur  ein  einziges  grosses 
dogmatisches  Schema,  das  christologis  che.  Augustin  hat  dasselbe 
auch  gekannt  und  verwerthet;  aber  indem  er  es  in  einen  grösseren 
und  lebendigeren  Kreis  einstellte,  hat  er  es  um  seinen  ursprüng- 
lichen Sinn  und  Zweck  gebracht.  Man  hat  von  Sokrates  gesagt, 
er  habe  die  Philosophie  vom  Himmel  herabgeführt  —  man  darf 
auch  von  Augustin  behaupten,  dass  er  die  Dogmatik  vom  Himmel 
heruntergeholt  habe,  sofern  er  sie  aus  der  Speculation  über  Endlich 
und  Unendlich,  Gott,  Logos  und  Creatur,  Sterblich  und  UnsterbHch 
herausführte  und  in  den  Zusammenhang  der  Fragen  nach  dem  sittlich 
Guten,  der  Freiheit,  der  Sünde  und  der  Seligkeit  stellte.  Das  Gute 
wurde  ihm  der  Angelpunkt  für  die  Betrachtung  der 
Güter:  das  sittlich  Gute  und  das  Heilsgut  sollten  nicht  mehr 
bloss  in  Correspondenz  stehen,  sondern  sich  decken  (ipsa  virtus  et 
praemium  virtutis).  Darf  man  ein  Bild  brauchen,  so  kann  man  sagen : 
Augustin  hat  die  beiden  Centren  der  vulgär-katholischen  Theologie, 
die  umschaifende  Kraft  der  Erlösung  und  das  freie  Tugendstreben,  in 
ein  Centrum  gezogen,  aus  der  Ellipse  einen  Kreis  gemacht  —  Gott, 
dessen  Gnade  den  Willen  befreit  und  zum  Thun  des  Guten  be- 
fähigt. Hierin  liegt  seine  Bedeutung  in  der  christlichen  Religions- 
geschichte beschlossen;  aber  er  hat  das  Neue  nicht  conseipient 
geltend  gemacht,  sondern  das  Alte  in  dasselbe  eingebaut,  ja  in  dem 
neuen  Dome,  den  er  errichtet  hat,  bildete  der  alte  Bau  gleichsam 
das  Allerheiligste,  welches  man  selten  betritt. 


Angustin  und  das  Symbol.  85 

Will  man  feststellen;  was  ein  altkirchlicher  Theologe  als  Lehrer 
der  Kirche  geleistet  hat,  so  muss  man  seine  Auslegungen  des 
Symbols  ins  Auge  fassen.  Von  Augustin  besitzen  wir  mehrere 
Auslegungen.  Es  ist  höchst  lehrreich^  die  älteste  (de  iide  et  sym- 
bolo  ann.  393)  und  eine  der  letzten  (de  fide,  spe  et  caritate  ann. 
421  oder  später)  mit  einander  zu  vergleichen.  In  jener  ist  Augustin 
ganz  wesentlich  noch  der  altkirchliche  Theologe.  Die  Fragen,  die 
er  behandelt;  sind  diejenigen,  welche  in  beiden  Hälften  der  Kirche 
damals  am  Symbol  behandelt  wurden,  und  welche  der  Wortlaut  des 
Symbols  nahe  legt.  Auch  die  Art;  wie  er  sie  bespricht,  unterscheidet 
sich  wenig  von  dem  Herkömmhchen.  Endlich  ist  auch  die  Polemik 
die  übHche :  die  Arianer,  Manichäer;  Apollinaristen;  Pneumatomachen 
stehen  im  Vordergrund ;  namentlich  die  Letzteren  werden  sehr  aus- 
führlich widerlegt.  Andererseits  kündigt  sich  die  Eigenart  Augustin's 
in  dieser  Auslegung  doch  schon  an  ^  So  vor  Allem  seine  Wahr- 
heitsliebe und  Offenheit  in  den  Abschnitten  über  den  hl.  Geist, 
seine  skeptische  Zurückhaltung  und  seine  gehorsame  Unterordnung 
unter  die  Ueberheferung  der  Kirche  *,  ferner  in  der  Christologie  sein 
eigenthümliches  Schema;  sowohl  der  „Christus  homine  indutus", 
als  die  starke  Betonung  der  humilitas  Christi  im  Gegensatz  zur 
superbia,  vgl.  ferner  Sätze  wie  die  (c.  6):  „secundum  id;  quod 
unigenitus  est,  non  habet  fratres;  secundum  id  autem  quod  primo- 
genitus  est,  fratres  vocare  dignatus  est  omnes  qui  post  eins  et  per 


'  Die  Grundlage  der  religiösen  Eigenart  Augustin's  lässt  sich  am  besten  an  den 
Schriften  studiren,  die  am  wenigsten  gelesen  werden,  nämlich  an  den  Tractaten  und 
Briefen,  welche  er  gleich  nach  seiner  Bekehrung  geschrieben  hat,  und  die  eine  höchst 
nothwendige  Ergänzung  seiner  Confessionen  bilden  (s.  oben  S.  82  Anmerk.  2).  In 
diesen  Schriften  ist  er  noch  gar  nicht  kirchlich- dogmatisch  interessirt,  sondern  lebt 
ganz  und  gar  in  der  Aufgabe,  sich  in  der  Auseinandersetzung  mit  dem  Neuplatonismus 
die  neue  Stufe  religionsphilosophischerBctrachtung  und  innererErfahrung  deutlich 
zu  machen,  auf  welcher  er  endlich  Ruhe  gefunden  hat  (s.De  vita  beata,  Adv.Academ., 
Soliloquia,  De  ordine  und  die  Briefe  an  Nebridius).  Die  Stimmung,  die  er  hier  zum 
Ausdruck  bringt,  hat  ihn  nie  wieder  verlassen ;  a])er  erst  in  der  Folgezeit  hat  er  ihr 
den  dogmatischen  Unterbau  gegeben.  In  Folge  hiervon  hat  er  jene  Schriften  und 
den  inneren  Zustand,  in  welchem  er  sich  in  den  ersten  Jahren  nach  seiner  Bekehrung 
befand,  selbst  nicht  mehr  richtig  gewürdigt,  wie  schon  die  Confessionen  und  ebenso 
die  Retractationen  beweisen.  Aber  der  Grundton  jencsr  Erstlingsschriften:  „Ruhe 
im  Besitz  Gottes"  im  Unterschied  von  der  Unruhe  und  Unscligkcit  eines  nie  zum 
Ziele  kommenden  Suchens  undForschens,  und  die  wesentlich  neu])lat()nische  Fassung 
der  höchsten  Prol>leme  (s.  z.B.  de  ordine  II,  1 1  fl. :  „mala  in  ordinem  redacta  faciunt 
dccorcm  universi" ;  dasselbe  Urtheil  über  das  Böse  noch  de  civit.  XI,  18)  sind  ihm 
niemals  verloren  gegangen.  Doch  kann  inru^rhalb  der  Dogmengeschichtc  auf  jeno 
Schrilten  nicht  näher  eingegangen  werden. 


86  i^it'  weltgeschichtlichü  Stelluug  Augußtiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

eins  prinuituin  in  dei  gratiam  renascuntiir  per  adoptionem  tiliorum", 
oder  (c.  11):  „parva  erat  pro  nobis  doinini  nostri  humilitas  in 
nascendo ;  accessit  etiam  iit  mori  i)rü  niortalibus  dignaretur",  oder 
(c.  19):  „divinarum  scripturarum  tractatores  spiritum  sanctum  donum 
dei  esse  praedicant,  iit  deiini  credamus  non  se  ipso  inferius 
donum  dare",  oder  (ibid.):  „eo  quod  qiiisque  novit  non  fruitur, 
nisi  et  id  diligat  .  .  .  neque  quisquam  in  eo  quod  percipit  perma- 
net  nisi  dilectione".  Allein  wäre  Augustin  vor  dem  Kampf  mit 
den  Donatisten  und  Pelagianern  gestorben,  so  wäre  er  scliwerlicb 
der  Dogmatiker  geworden,  der  den  ganzen  Aufriss  der  Lehre 
geändert  bat;  denn  erst  dieser  Kampf  hat  ihn  genöthigt,  das,  was 
er  längst  besass,  denkend  zu  überschauen,  aufs  kräftigste  geltend  zu 
machen  und  auch  in  den  kirclilichen  Unterricht  hineinzutragen.  Aber 
da  ihm  der  Gedanke  niemals  gekommen  ist,  die  alte  Lehrüber- 
lieferung, wie  sie  sich  an  das  Symbol  anschloss,  könne  unzureichend 
sein  \  da  er  noch  weniger  je  daran  gedacht  hat,  das  Symbol  selbst 
füi*  ungenügend  zu  erklären,  so  war  es  ihm  selbstverständhch,  dass 
er  Alles,  was  er  als  Glaubenslehre  darzulegen  hatte,  an  jenes  Be- 
kenntniss  anschloss.  So  ist  der  eigenthümliche  Aufriss  der  Lehre 
entstanden,  der  im  Abendland  in  dem  Mittelalter  fortgewirkt  hat, 
ja  auch  der  reformatorischen  Lehrfassung  zu  Grunde  liegt  —  eine 
Verbindung  der  altkatholischen  Theologie  und  des  altkatholischen 
Schemas   mit   dem  neuen  Grundgedanken    der  Gnadenlehre,    einge- 

1  Das  hat  er  allerdings  bemerkt  und  bei  seiner  Wahiheitsliebe  offen  aus- 
gesprochen, dass  die  kirchlichen  Schriftsteller  durchweg  die  Gnade  Gottes  unge- 
nügend zum  Ausdruck  gebracht  haben  5  allein  er  hat  sich  damit  beruhigt,  dass  die 
Kirche  in  iln-en  Gebeten  und  Institutionen  stets  die  Gnade  gebührend  hervor- 
gehoben habe;  s.  de  praedest.  sanct.  27 :  „Quid  opus  est,  ut  eorum  scrutemur  opus- 
cula,  qui  prius  quam  ista  haeresis  (Pelagianorum)  oriretur,  non  habuerunt  necessi- 
tatem  in  hac  difficili  ad  solvendum  quaestione  versari?  quod  procul  dubio  facerent, 
si  respondere  talibus  cogerentur.  Unde  factum  est,  ut  de  gratia  dei  quid  sentireut, 
breviter  quibusdam  scriptorum  suorum  locis  et  transeunter  adtingerent,  immora- 
rentur  vero  in  eis,  quae  adversus  inimicos  ecclesiae  disputabant,  et  in  exhortationi- 
bus  ad  quasque  virtutes,  quibus  deo  vivo  et  vero  pro  adipiscenda  vita  aeterna  et 
Vera  felicitate  serv^tur.  Frequentationibus  autem  orationum  simpliciter  apparebat 
dei  gratia  quid  valeret ;  non  enim  poscerentur  de  deo  quae  praecipit  fieri,  nisi  ab 
illo  donaretur  ut  fierent.''  Er  selbst  hatte  ja  in  seinem  Kampfe  gegen  die  Mani- 
chäer  die  Erfahrung  gemacht,  dass  die  Vertheidigung  der  Wahrheit  sich  nach  der 
Art  des  Angriffs  zu  richten  habe.  Als  man  ihm  seitens  der  Gegner  das  vorrückte, 
was  er  einst  über  den  freien  "Willen  gegen  die  Manichäer  geschrieben  hatte,  hat  er 
sich  sowohl  auf  das  Recht  fortschreitender  Erkenutuiss  als  auf  die  Pflicht,  nach  Rechts 
wie  nach  Links  Widerstand  zu  leisten,  berufen.  So  sah  er  denn  auch  in  den  frühereu 
Kirchenlehrern  die  Vertheidiger  der  kirchlichen  Wahrheit  gegenüber  dem  Fatalis- 
nuis,  Gnosticismus  und  IManichäismus  und  erklärte  sich  daraus  ihre  Haltung. 


Die  neue  Lehre  in  das  Symbol  gepresst.    Die  hl.  Schrift.  87 

presst  in  den  Rahmen  des  Symbols.  Dass  hierdurch  eine  Stil- 
mischung entstanden  ist,  welche  der  Durchsichtigkeit  und  Klarheit 
der  Lehre  nicht  förderlich  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Allein  nicht 
nur  die  mangelnde  Klarheit  ist  zu  beklagen,  sondern  auch  eine 
CompHcirtheit  der  Stoffe,  die  in  noch  höherem  Masse,  als  dies  in  der 
altkathohschen  Kurche  der  Fall  war,  die  Forderung  einer  straffen, 
einheitlichen  Fassung  der  Glaubenslehre  abstumpfen  musste.  Man 
kann  vielleicht  mit  Recht  behaupten,  dass  die  Kirche  im  Alterthum 
neben  Augustin  keinen  zweiten  Lehrer  besessen  hat,  der  es  sich  so 
sehr  hat  angelegen  sein  lassen,  die  theologischen  Probleme  durch- 
zudenken und  eine  Einheit  der  Glaubenslehre  zu  gewinnen.  Allein 
die  Verhältnisse,  unter  denen  er  gestanden  hat,  haben  dazu  gefithrt, 
dass  gerade  er  die  Glaubenslehre  verwirren  und  in  neue  "Widersprüche 
führen  musste  ^    Es  kommen  hier  folgende  Momente  in  Betracht : 

L  Als  abendländischer  Theologe  wusste  er  sich  an  das  Symbol 
gebunden ;  allein  kein  abendländischer  Theologe  vor  ihm  hat  so  in 
der  Schrift  gelebt  und  soviel  aus  der  Schrift  geschöpft  wie  er.  Die 
alte,  damals  freihch  noch  nicht  ins  Bewusstsein  getretene  Spannung 
zwischen  Symbol  und  Schrift^  ist  mithin  durch  ihn  verschärft  wor- 
den. Die  Unklarheit  darüber,  wie  sich  Schrift  und  Symbol  ver- 
halten, hat  er  gesteigert,  so  ausserordentlich  viel  er  auch  dafür  ge- 
than  hat,  die  Kirche  in  der  Schrift  heimisch  zu  machen  ^.  Der 
Bibhcismus  der  Folgezeit,  der  später  im  Abendland  gegen  die  Kirche 
aggressiv  geworden  ist,  geht  ebenso  auf  Augustin  zurück,  wie  sich 
die  entschlossene  Austilgung  von  Schriftgedanken  durch  Berufung 
auf  die  Autorität  der  Kirchenlehre  auf  ihn  berufen  darf^.  Fragt  man 

*  Dass  dadurch  das  Dogma,  d.  h.  die  altkirchliche  Trinitätslehrc  und  Christo- 
logie,  eindrucksloser  werden  musste,  versteht  sich  von  selbst.  AVas  Reuter  (a.  a.  0. 
S.495)  dagegen  eingewendet  hat,  beruht  auf  einem  unbegreiflichen  Missverständniss. 

^  S.  hier  und  zum  Folgenden  die  Ausführungen  Bd.  II  S.  79  ff.  84  ff. 

^  Die  Versuche,  ihr  Verhältniss  zu  bestimmen,  z.B.  in  dem  1,  Buch  der  Schrift 
de  doctrina  christiana  sind  gänzUch  unklar,  ja  kaum  fassbar.  Die  „Sachen"  in  der 
Schrift  sollen  die  Sätze  der  Glaubcnsregel  sein ;  aber  doch  ist  jeder  Satz  der  Schrift 
ein  Stück  des  Glaubens. 

*  Augustin  ist  seit  seiner  Bekehrung  unerschütterlich  der  Ansicht  gewesen, 
dass  in  der  Schrift  nichts  stehe,  was  der  Xirchenlehrc  widerspricht ;  nicht  ebenso 
aicher  war  es  ihm,  dass  man  die  Schrift  nach  der  Autorität  der  Uebcrlieferung  aus- 
zulegen habe.  Aber  welche  VüWe  „gefährlicher"  Gedanken  hätte  dieser  reiche  und 
scharfe  Geist  aus  der  Schrift  entwickelt  in  dem  Moment,  in  welchem  er  seinen  Ver- 
stand von  den  Fesseln  des  Gehorsams  befreit  hätte!  Die  Einsicht,  dass  nicht  weniger 
als  Alles  zweifelhaft  würde  und  an  die  Stelle  einer  einstimmigen  Lehre  tausend 
Widersprüche  träten,  hat  ihn  gewiss  mitbestimmt,  an  den  Eisenstäben  seines  Ge- 
fängnisses nicht  zu  rütteln.  Er  fühlte,  er  würde  sich  nicht  befreien  können,  sondern 


88  I^ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustinus  als  Lehrer  der  Kirche. 

nach  dem  geschichtlichen  Recht  der  Vorreformatoreii  und  Reforma- 
toren im  Abendland,  sich  auf  die  Schrift  allein  zu  stellen,  so  muss 
man  Augustin  nennen  \  fragt  man  nach  dem  Recht,  solche  Theologen 
niederzuschlagen,  so  darf  man  ebenfalls  auf  Augustin  verweisen, 
kann  aber  hier  allerdings  bis  auf  die  Autorität  Tertullian's  (de 
praescr.  haer.)  zurückgreifen. 

2.  Augustin  ist  einerseits  davon  überzeugt,  dass  Alles  in  der 
Schrift  für  den  Glauben  werthvoll  ist,  und  dass  jeder  Gedanke  schon 
dadurch  kirchlich  und  theologisch  gerechtfertigt  ist,  dass  er  als  bib- 
lischer nachgewiesen  ist  (s.  seine  Prädestinationslehre  und  andere 
Lehren,  die  ihm  zunächst  schon  desshalb  sicher  waren,  weil  sie  in  der 
Bibel  stehen).  Hierdurch  ist  jede  Einheitlichkeit  der  Lehre  aufgehoben  '. 
Allein  andererseits  weiss  Augustin  sehr  wohl,  dass  die  Religion  eine 
praktische  Sache  ist,  dass  es  in  ihr  lediglich  auf  den  Glauben,  die 
Liebe  und  die  Hoffnung  ankonmit,  resp.  auf  die  Liebe  allein,  und 
dass  desshalb  nur  das  einen  Werth  hat,  was  diese  befördert.  Ja  er 
ist  hier  noch  einen  bedeutenden  Schritt  w^eiter  gegangen  und  hat  sich 
den  alexandrinischen  Theologen  genähert:  er  hat  schHesslich  die  Schrift 
nur  als  ein  Mittel  betrachtet,  welches  in  Wegfall  kommt,  wenn  die 
Höhe,  der  Aufschwung  in  der  Liebe,  erreicht  ist,  und  er  hat  sich 
sogar  der  Auffassung  genähert,  dass  auch  die  Thatsachen  der  irdi- 
schen Offenbarung  Christi  Stufen  sind,  die  der  Gläubige,  dessen  Herz 
von  Liebe  erfüllt  ist,  überschreitet  ^.  Dies  Letztere  —  es  hängt  mit 
seiner  individuahstischen,  durch  den  geschichtlichen  Christus  wenig 
bestimmten  Gotteslehre  zusammen  —  wird  unten  zur  Sprache  kom- 
men. Hier  genügt  es,  den  Widerspruch  scharf  zu  formuliren,  dass 
die  Schrift  einerseits  Quelle  sein  soll  und  andererseits  Mitte P;  ja 
ein  Mittel,  welches  zuletzt  wie  eine  Krücke  wegfällt^.    An  den  letzten 


von  den  Trümmern  des  zusammenbrechenden  Gebäudes  begraben  werden.  Daher 
der  de  nat.  et  grat.  22  declarirte  Grundsatz,  man  habe  sich  erst  dem,  was  in  der 
Schrift  steht,  zu  unterwerfen  und  dann  erst  zu  fragen  „quomodo  id  fieri  potuerit". 
Welcher  Unterschied  von  Origenes! 

1  S.  Bd.  I  S.  558  n.  3. 

^  De  doctr.  christ.  I,  34 :  eine  höchst  merkwürdige  Ausführung,  die  m.  AV. 
in  den  Schriften  Augustinus  sehr  wenige  deutliche  Parallelen  besitzt,  aber  den 
Hintergrund  seiner  Entwickelungen  bildet. 

'  S.  die  Ausführungen  in  der  Schrift  de  doctr.  christiana,  abgedruckt  im 
U.  Bande  dieses  Lehrbuchs  S.  80  n.  2. 

*  De  doctr.  christ.  35 — 40,  namentlich  c.  39  :  „Daher  braucht  ein  Mensch,  der 
sich  auf  Glaube,  Hoönung  und  Liebe  stützt  und  dieselben  unerschütterlich  fest- 
hält, die  Schrift  nur  zur  Belehrung  Anderer."  Auch  die  Schrift  bietet  nur  Stück- 
werk ;  man  vermag  aber  schon  in  diesem  Leben  zu  einem  so  Vollendeten  aufzu- 
steigen, dass  man  des  Stückwerks  nicht  mehr  bedarf. 


Heilsglaube  und  Biblicismus.    Intellectualismus.  89 

Satz  haben  sich  die  Mystiker  und  Schwarmgeister  des  Abendlandes 
gehalten,  indem  sie  das  innere  Licht  und  die  innere  Offenbarung  wider 
die  geschriebene  ausgespielt  haben.  Nun  hat  Augustin  allerdings  in 
der  ausgezeichneten  Vorrede  zu  seinem  Werk  de  doctrina  christiana, 
wie  in  einer  prophetischen  Erleuchtung,  alle  schwarmgeistische  Inspi- 
ration, die  entweder  die  Schrift  gar  nicht  mehr  nöthig  zu  haben  wähnt 
oder  die  philologisch-historische  Interpretation,  sich  auf  den  Geist 
berufend,  für  unnütz  erklärt,  abgewiesen.  Allein  durch  seine  These, 
dass  es  eine  Stufe  giebt,  auf  der  man  die  Schrift  überschritten  hat, 
hat  er  der  Schwarmgeisterei  doch  die  Thür  geöffnet.  Aber  vor  Allem 
hat  er  durch  die  Unklarheit,  welche  er  über  die  Bedeutung  des  Schrift- 
buchstabens bestehen  Hess,  die  verhängnissvolle  Situation  geschaffen, 
in  welcher  die  Glaubenslehre  und  Theologie  der  abendländischen 
Kirchen  noch  heute  steht.  Sie  weiss  es  einerseits,  dass  es  in  der 
Schrift,  sofern  sie  dem  Glauben  gegeben  ist,  lediglich  auf  die  „Sachen" 
ankommt.  Sie  kann  sich  aber  doch  andererseits  von  dem  Vorurtheil 
nicht  befreien,  dass  jede  einzelne  Schriftstelle  eine  göttliche  und  absolute 
Weisung,  eine  „Offenbarung"  enthält.  Die  protestantischen  Kirchen 
sind  hier  um  keinen  Schritt  über  Augustin  hinausgegangen;  ja  Luther 
selbst,  wenn  man  seine  „Vorreden"  zum  Neuen  Testament  z.  B.  mit 
seiner  Haltung  im  Abendmahlsstreit  vergleicht,  ist  in  demselben  Wider- 
spruch stecken  geblieben,  der  Augustin's  Lehrbildung  belastet  hat. 

3.  Augustin  hat,  wie  kein  Kirchenvater  vor  ihm,  das  praktische 
Element  in  den  Vordergrund  gerückt :  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung 
zu  erzeugen,  dazu  allein  ist  die  Religion  gegeben,  und  in  diesen  von 
Gott  geschenkten  Tugenden,  resp.  hi  der  Liebe,  liegt  die  Seligkeit 
selbst  beschlossen.  Allein  die  reformatorische  Tliat,  die  in  der  Ilnter- 
ordimng  aller  Stoffe  unter  diese  Zweckbeziehung  ihren  Ausdruck  er- 
hielt, ist  von  ihm  doch  nicht  rein  durchgeführt  worden.  Indem  er 
das  altkatholische  Schema  beil)ehielt,  blieben  doch  Erkenntniss  und 
unsterbliches  Leben  (a'f  i>apaia)  die  obersten  Gedanken ;  indem  er  der 
neuplatonischen  Metaphysik  folgte,  kam  er  von  der  akosmistischen 
Betrachtung  nicht  los,  die  alles  Erscheinende  als  vergänglich,  alles 
Vergängliche  als  ein  Gleichniss  betrachtete  und  zuletzt  nur  die  Majestät 
der  verborgenen  Gottheit  übrig  behielt;  indem  er  das  gegenwärtige 
Fjeben  missachtete,  musste  er  auch  den  (xlauben  und  alles  Gegen- 
wärtige gering  schätzen.  Somit  ist  seine  Theologie,  selbst  in  ihren 
h'tztcn  Zi(;len,  nicht  durch  einen  Gedanken  beistimmt,  und  er  hat 
OS  demgemäss  nicht  vermocht,  seine  Gnaden-  und  Sündenlehre  wirk- 
lich rein  durchzuführen.  Wie  der  Intelkictualismus  der  Antike,  aller- 
dings in  8ublimirter  Gestalt,  von  ihm  nicht  ganz  aufgehoben  worden 


90  Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

ist,  80  sind  seine  tiefsten  Glaubensaussagen  von  philosophischen  Er- 
wägungen bogleitet,  resp.  mit  ihnen  verfiochten.  Ol't  hat  ein  und  derselbe 
Satz  ehie  doppelte  Wurzel,  eine  neuplatonische  und  eine  christliche 
(paulinische),  und  denigemäss  einen  dopi)elten  Sinn,  einen  kosmologi- 
schen  und  einen  religiösen.  Philosophie,  Heilsglaube  und  kirchliche 
LleberUeferung  streiten  sich  um  den  Principat  in  seiner  Glaubenslehre, 
und  da  zu  diesen  drei  Elementen  noch  der  Bibhcismus  tritt,  so  ist 
die  Einheitlichkeit  der  Denkweise  überall  gestört. 

4.  Aber  abgesehen  von  der  Zweckbeziehung  liegen  auch  in  der 
Ausführung  nicht  nur  Widersprüche  im  Einzelnen  vor,  sondern  Gegen- 
sätze der  Beurtheilung.  Ln  Kampfe  mit  dem  Manichäismus  und 
Donatismus  hat  Augustin  eine  Lehre  von  der  Freiheit,  der  Kirche 
und  den  Gnadenmitteln  entworfen,  die  mit  seiner  Erfahrung  von  der 
Sünde  und  Gnade  wenig  gemein  hat  und  mit  der  theologischen  Aus- 
bildung dieser  Erfahrung  (Lehre  von  der  prädestinatianischen  Gnade) 
einfach  streitet.  Man  kann  geradezu  eine  doppelte  Theologie  Augustin's 
entwerfen,  eine  Ecclesiastik  und  eine  Gnadenlehre,  und  in  beiden  das 
Ganze  zur  Darstellung  bringen. 

5.  Aber  auch  innerhalb  der  Ecclesiastik  und  der  Gnadenlehre 
begegnen  widerstreitende  Gedankenzüge*,  denn  in  der  Ersteren  streitet 
ein  hierarchisch-sacramentales  Grundelement  mit  einer  von  den  Apolo- 
geten herstammenden  liberalen,  universalistischen  Betrachtung,  und  in 
der  Gnadenlehre  sind  offenbar  zwei  verschiedene  Auffassungen  mit 
einander  verbunden,  nämlich  der  Gedanke  der  gratia  per  (propter) 
Christum  und  der  Gedanke  der  unabhängig  von  Christus  aus  dem 
Grundwesen  Gottes  als  des  summum  bonum  und  summum  esse  messen- 
den gratia.  Der  letztere  Widerspruch  ist  für  Augustin's  Theologie 
selbst  und  für  die  Haltung  der  abendländischen  Theologie  nach  ihm 
von  grösster  Bedeutung  geworden.  Bekanntlich  hat  das  Abendland 
sich  niemals  das  morgenländische  straffe  Schema  der  Christologie  als 
Ausdruck  des  Heilsglaubens  innerlich  angeeignet.  Aber  durch  Augustin 
ist  das  Verhältniss  der  Zweinaturenlehre  (resp.  der  Lehre  von  der 
Menschwerdung)  zur  Lehre  vom  Heil  noch  mehr  gelockert  worden. 
Es  wird  sich  zeigen,  dass  er  im  Grunde  viel  stärker  die  franciskanische 
Stimmung  gegenüber  Christus  vorbereitet  hat  als  die  anselmsche  Satis- 
factionstheorie,  und  dass  er  überhaupt  als  Christologe  (im  strengen 
Sinn  des  Worts)  der  Folgezeit  viel  mehr  Lücken  hinterlassen  hat  als 
positiven  Stoff.  Aber  zu  diesem  Gegensatz  einer  gratia  per  Christum 
und  sine  Christo  kommt  schliesslich  noch  in  der  Sündenlehre  Augusthrs 
ein  starkes  manichäisch-gnostisches  Element ;  denn  Augustin  hat  den 
Manichäismus  niemals  völlig  überwunden. 


Widersprüche.     Kein  eindeutiges  System.  91 

Aus  dem  bisher  Ausgeführten  —  und  nur  das  Wichtigste  ist 
genannt  —  folgt,  dass  von  einem  System  Augustin's  nicht  die  Rede 
sein  kann,  wie  er  denn  auch  kein  Werk  verfasst  hat,  welches  sich  mit 
Origenes'  Tuspl  ap/wv  vergleichen  Hesse.  Da  er  nicht,  wie  dieser,  muthig 
das  Recht  eines  esoterischen  Christenthums  proclamirt,  vielmehr  als 
Christ  und  als  Kirchenmann  stets  gezögert  hat,  den  befreienden  Schritt 
zu  thun*,  so  steht  Alles  bei  ihm  auf  einer  Fläche  und  steht  dess- 
halb  im  Streit^.  Allein  „nicht  was  Einer  weiss  und  sagt,  entscheidet, 
sondern  was  Einer  liebt"  —  er  liebte  Gott,  er  liebte  seine  Kirche 
und  er  war  wahrhaftig.  Diese  Haltung  leuchtet  aus  allen  seinen 
Schriften  hervor,  mag  nun  der  Neuplatoniker,  der  frühere  Manichäer, 
der  paulinische  Christ,  der  kathoHsche  Bischof  oder  der  Biblicist  aus 
ihm  reden,  und  sie  verleiht  allen  seinen  Ausführungen  eine  Einheit- 
hchkeit,  die  nicht  an  den  Lehren  nachgewiesen,  wohl  aber  deutlich 
empfunden  werden  kann.  Desshalb  haben  auch  die  verschiedenen  Rich- 
tungen, die  von  ihm  ausgegangen  sind  oder  die  von  ihm  gelernt  haben, 
stets  den  ganzen  Mann  empfunden  und  sich  an  ihm  gestärkt.  Er 
wäre  nicht  der  Lehrer  der  Zukunft  geworden,  wenn  er  nicht  als 
christliche  Persönlichkeit  vor  ihr  gestanden  hätte,  die  jeglichem  AVort, 
mochte  es  nun  in  diese  oder  in  jene  Richtung  führen,  Kraft  und  Ge- 
wicht verHeh.  Als  Prediger  des  Glaubens,  der  Liebe  und  der  Gnaden- 
ordnung hat  er  die  katholische  Frömmigkeit  bis  heute  beherrscht; 
durch  seine  Grundstimmung:  „Mihi  adhaerere  deo  bonum  est",  sowie 
durch  seine  Unterscheidung  von  Gesetz  und  Evangelium,  Buchstabe 
und  Geist,  und  durch  seine  Predigt,  dass  Gott  in  uns  den  Glauben 
und  den  guten  Willen  schaffe,  hat  er  die  evangelische  Reformation 
hervorgerufen  ^ ;  durch  seine  Lehre  von  der  Autorität  und  den  Gnaden- 
mitteln der  Kirche  hat  er  den  Bau  des  römischen  Kathohcismus 
weitergeführt,  ja  die  liierarcliisch-sacramentale  Anstalt  erst  geschaffen; 
durch  seinen  Bibhcismus  hat  er  die  sog.  vorreformatorischen  Richtungen 
erweckt  und  die  Kritik  an  allen  ausserbiblischen  kirchlichen  Tradi- 
tionen vorbereitet;  durch  die  Kraft  seiner  Speculation,  die  Schärfe 
seines  Verstandes,  die  Feinheit  seiner  Beobachtung  und  Erfahrung  hat 
er  die  Scholastik  in  allen  ihren  Richtungen,  cinschhcsslich  der  nomi- 


*  Ansätze  zu  demselben  finden  sich  überall ;  aber  es  bleibt  bei  Ansätzen. 

■^  Es  ist  ein  Hauptverdienst  lleuter's,  die  Unmöglichkeit  nachgewiesen  zu 
haben,  ein  System  Augustin's  zu  coustruiren  und  die  WidcrH})rüche,  die  sich  bei 
ihm  finden,  zu  beseitigen. 

'  S.  die  Zeugnisse  der  Reformatoren  und  ihrer  Bekenntnissschriften  für 
Augustin;  doch  ist  ihnen  der  noch  bestehende  Unterschied  nicht  verborgen  ge- 
blieben. 


92  t)it^  weltgeschichtliche  Stelluuj^-  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

nalistischen,iin(l  daher  auch  die  moderne  Rrkenntnisstheorie  und  Psycho- 
logie angeregt,  ja  mit  erzeugt;  durch  seinen  Neuplatonismus  und 
prädestinatianischen  Enthusiasmus  hat  er  die  Mystik  sowohl  als  die 
antiklerikale  Opposition  des  Mittelalters  hervorgerufen';  durch  die 
Fassung  seiiu\s  Kirchen-  und  Seligkeitsideals  hat  er  die  vulgär-katho- 
lische Stimnunig,  die  mönchische,  hestiirkt,  sie  aber  in  der  Kirche 
heimisch  gemacht  und  sie  dadurch  dazu  erweckt  und  beßihigt,  die  der 
Kirche  gegenüberstehende  Welt  zu  überwinden  und  zu  beherr- 
schen; durch  die  einzigartige  Fähigkeit  endUch,  sich  selbst  darzustellen, 
den  Reichthum  seines  Geistes  auszusprechen  und  jedem  Wort  ein  in- 
dividuelles Gepräge  zu  geben,  durch  die  Gabe  der  Individualisirung 
und  Selbstbeobachtung  hat  er  zum  Emporkommen  der  Renaissance  und 
des  modernen  Geistes  mitgewirkt. 

Das  Alles  sind  nicht  willkürliche  Combinationen,  sondern  ge- 
schichtliche Thatsachen^:  überall  lassen  sich  die  Verbindungsfäden, 
die  zu  ihm  zurückführen,  deutHch  nachweisen.  Wo  aber  ist  dann  ein 
Mann  in  der  Geschichte  des  Abendlandes,  der  sich  an  Bedeutung 
und  Einfluss  mit  ihm  vergleichen  Hesse?  Ohne  viel  zu  handeln  — 
Augustin  war  Bischof  einer  Mittelstadt  und  hat  weder  Neigung  noch 
Talent  zur  Rolle  eines  kirchenpolitischen  Führers  oder  eines  prakti- 
schen Reformers  besessen  —  hat  er  durch  die  Kraft  seiner  Ideen 
gewirkt  und  sein  Leben  über  die  folgenden  Jahrhunderte  ausgeschüttet. 


Man  ist  versucht,  die  Bedeutung  Augustinus  als  Lehrer  der  Kirche 
so  zu  schildern,  dass  man  die  verschiedenen  Richtungen,  in  denen 
sich  seine  Denkweise  bewegte,  reinlich  sondert  und  den  Neuplatoniker, 
den  PauHner,  den  früheren  Manichäer,  den  katholischen  Bischof  für 
sich  zur  Darstellung  bringt^.  Allein  es  ist  zu  befürchten,  dass  man 
ihm  durch  solche  Sonderung  Gewalt  anthut.  Sicherer  und  im  Rahmen 
einer  Dogmengescliichte  zweckmässiger  ist  es,  an  der  äusseren  Ein- 
heit festzuhalten,  die  er  selbst  seinen  Gedanken  gegeben  hat.  Da 
bietet  sich  sein  Enchiridion  ad  Laurentium,  die  ausgereifte  Erklärung 


^  Auch  die  antigregorianische  Partei  im  Blittelalter  hat  sich  vielfach  auf 
Augustin  berufen.  Man  konnte  bei  ihm  willkonimeue  Sätze  über  die  Bedeutung  des 
Imperiums,  über  die  Verbesserungsläliigkeit  von  Concilieu,  überhaupt  antihierar- 
chische Stellen  finden. 

2  Vgl.  Reut  er,  Studie  VII. 

^  Drei  verschiedene  Niveau's  der  theologischen  Gedanken  Augustinus  sind  un- 
verkennbar, das  neuplatonisch-mystische  [ohne  (Inadenmittel,  »dnie  Kirche,  ja  in 
gewissem  Sinn  selbst  ohne  Christus],  das  christologisch-soteriologische  und  das  Ni- 
veau der  Autorität  und  der  Sacramente  der  Kirche.  Daneben  sind  rationalistische 
und  manichäische  Elemente  zu  berücksichtigen. 


Universelle  Bedeutung  als  Lehrer.   Methodisches,  93 

des  Symbols,  als  bester  Führer  an.  Diese  Schrift  soll  am  Schlüsse 
dieses  Capitels  vorgeführt  werden,  nachdem  die  Vorfragen  behandelt 
sind,  die  für  Augustin  von  höchster  Bedeutung  waren,  und  nachdem 
die  Kämpfe,  in  denen  er  ausgereift  ist,  ihre  Beleuchtung  erfahren 
haben.  Wir  werden  auf  diese  Weise  das  deutlichste  Bild  davon  er- 
halten, was  Augustin  der  Kirche  seiner  Zeit  geleistet  und  welche 
Umstimmung  er  hervorgerufen  hat.  Die  augustinische  Theologie  zu 
centraHsiren,  ist  eine  sehr  reizvolle  Aufgabe,  aber  sicherer  ist  es,  sich 
mit  dem  bescheidenen  Ergebnisse  zu  begnügen,  sie,  soweit  sie  kirch- 
lich wirksam  geworden  ist,  kennen  zu  lernen.  Eine  Schwierigkeit, 
die  gar  nicht  zu  heben  ist  und  sich  in  der  Folgezeit  immer  mehr 
steigert,  begegnet  uns  gleich  im  Anfang:  welcher  Bestand  aus 
den  zahllosen  Ausführungen  Augustin's  ist  ihm  selbst 
Dogma  gewesen  und  in  der  Folgezeit  Dogma  geworden? 
Augustin  hat,  indem  er  das  Dogma  ausserordentlich  erweitert  hat, 
doch  zugleich  den  Begriff  desselben  theils  erweicht,  theils  —  in  Bezug 
auf  die  alte  Ueberlieferung  —  specifisch  verhärtet.  Die  Frage  nach 
dem  Umfang  der  Dogmen  ist  in  dem  Abendland  seit  dem  donatistischen 
und  pelagianischen  Streit  weder  beantwortet,  noch  je  scharf  gestellt 
worden,  d.  h.  man  empfand  keine  Nöthigung,  neben  den  ausdrück- 
Hchen  Abweisungen  der  Pelagianer,  Donatisten  etc.  auch  ebenso  aus- 
drückliche positive  Sätze  aufzustellen.  Die  Nöthigung  empfand  man 
aber  nicht,  weil  man  weder  das  Selbstbewusstsein  noch  den  Muth  zu 
kirchhchem  Handeln  in  grossem  Stile  besass.  Man  fühlte  sich  durch- 
aus als  Epigone  einer  vergangenen  Zeit,  welche  die  angeblich  aus- 
reichende Ueberlieferung  geschaffen  hat.  Dieses  Gefühl,  welches  sich 
im  Mittelalter  noch  gesteigert  hat,  haben  die  Päpste  —  lediglich  sie 
—  allmähhch  überwunden.  Erst  im  Tridentinum,  geringe  Ausnahmen 
abgereclmet,  sind  wieder  Dogmen  geschaffen  worden.  Bis  dahin  sind 
nur  die  in  den  Symbolen  enthaltenen  Lehren  Dogmen.  Neben  ihnen 
stehen  die  Ketzerkataloge,  aus  denen  man  indirect  Dogmen  folgern 
kann.  Dieser  Zustand  der  Dinge  gebietet  uns,  die  Lehren  Augustin's 
möglichst  vollständig  darzustellen,  soweit  das  im  Rahmen  eines  Lehr- 
buchs gestattet  ist.  Manches  niuss  hier  aus  den  Werken  Augustin's 
hervorgehoben  werden,  was  in  s(»iner  eigenen  Zeit  unfn]cht])ar  geblieben 
ist,  aber  in  den  folgenden  .Jalirhuiidcrten  den  (Jang  der  Lehrentwicke- 
lung kräftig  bestimmt  hat  und  in  den  Dogmen  des  Tiidentinums  zu 
'i^ago  getreten  ist'. 

'  Das«  für  Aijf(ustin  im  (irundo  nur  dci-  Tnlialt  d(!H  Synil)ols  Do^'ma  gewesen 
ist,  ('.rkcrnii  auch  HomIcv  S.  495  C.  an.  Man  liat  sich  aber  \i'u'.r  daran  zu  erinnern, 
dav.B  man  aus  dem  Symhol  di(!  ausf(erü}u't('ste  Trinitätslehre  und  Christologie  ent- 


94  r)i^  weltgeschichtliche  Stellun<j^  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Wir  werden  im  Folgenden  so  verfahren,  dass  wir  1)  Augustinus 
Grundansicht,  seine  Tjehren  von  den  ersten  und  letzten  Dingen,  schil- 
dern ' ;  denn  diese  Leliren  standen  ihm  fest,  als  er  katholischer  Christ 
wurde,  2)  und  3)  seine  Kämpfe  mit  den  Donatisten  und  Pelagianern 
darstellen,  in  denen  sich  seine  Glauhensauffassung  (Kirche  und  Gnad(i) 
vertieft  und  entfjxltet  hat,  4)  seine  kirchhche  Glaubenslehre  an  der  Hand 
des  Enchiridions  ad  Laurentium  ausführen. 

1.  Augustinus  Lehren  von  den  ersten  und  letzten  Dingen  ^ 

Man  hat  von  F  i  e  s  o  1  e  gesagt,  er  habe  seine  Bilder  an  die  Wände 
gebetet.  Man  kann  von  Augustin  behaupten,  dass  seine  tiefsten  Ge- 
danken über  die  ersten  und  letzten  Dinge  sich  aus  den  Gebeten  ent- 
bunden haben;  denn  alle  diese  Dinge  waren  ihm  beschlossen  in  Gott. 
Wenn  dasselbe  von  unzähligen  Mystikern  bis  zu  den  stillen  Gemeinden 
der  Madame  de  G u y o n  und  Tersteegen's  gesagt  werden  kann,  so 
gilt  es  von  ihnen,  weil  sie  Schüler  Augustinus  waren.  Aber  er  hat  wie 
kein  Anderer  die  Fälligkeit  besessen,  die  Speculation  über  Gott  mit 
einer  Innenschau  zu  verbinden,  die  nicht  an  einigen  überlieferten  Kate- 
gorien ihr  Genüge  fand,  sondern  die  Gemüthszustände  und  den  Be- 
wusstseinsinhalt  analysirte.  Jeder  Fortschritt  in  dieser  Analyse  wurde 
ihm  zugleich  ein  Fortschritt  in  der  Gotteserkenntniss  und  umgekehrt ; 
die  concentrirte  Sammlung  im  Gebet  führte  ihn  zur  reinsten  Beobachtung 
und  diese  wairde  ihm  wiederum  zum  Gebet.  Kein  Philosoph  vor  ihm 
und  nach  ihm  hat  in  so  leuchtender  Weise  den  tiefen  Satz  bewahrheitet, 
dass  die  Furcht  des  Herrn  der  Weisheit  Anfang  ist.  Die  Sphäre  seines 

wickelte,  und  dass  in  den  Worten  desselben  „saneta  ecclesia"  und  „remissio  pecca- 
torum"  Themata  lagen,  aus  denen  man  ebenfalls  weitläufige  Dogmen  gestalten,  resp. 
Ketzer  überführen  konnte.  Schon  Cyprian  hat  die  Novatianer  aus  dem  Symbol 
widerlegt,  und  Augustin  hat  es  wider  die  Pelagianer  ausgebeutet.  —  Eine  besondere 
Schwierigkeit  für  die  Behandlung  Augustinus  in  der  Dogmengeschichte  besteht  ferner 
noch  darin,  dass  er  unzählige  theologische  Schemata  geschaffen  hat,  aber  keine 
dogmatischen  Formeln.  Er  war  zu  reich,  zu  ernst  und  zu  wahrhaftig,  um  Stich- 
worte auszugeben. 

*  Augustin  ist  der  erste  Dogmatiker  gewesen,  der  das  Bedürfniss  gefühlt  hat. 
sich  über  die  Fragen  deutlich  Rechenschaft  zu  geben,  die  wir  heute  in  den  „Pro- 
legomena  zur  Dogmatik"  zu  behandeln  pflegen.  Allerdings  haben  auch  die  Alexan- 
driner dies  versucht-,  aber  Formales  undMateriales,  Ursprüngliches  und  Abgeleitetes 
liegen  bei  ihnen  viel  mehr  in  einander.  Auch  dringen  sie  nicht  bis  zu  den  letzten 
psychologischen  und  erkenntnisstheoretischen  Problemen  vor.  Enchir  4:  „quid 
primum,  quid  ultimum  teneatur,  quae  totius  definitionis  summa  sit,  quod  certum  pro- 
priumque  fidei  catholicae  fimdamentum."    (Fragen  des  Laurentius). 

*  Augustin  hat  gelehrt,  dass  man  nur  durch  ernste  unablässige  Arbeit  an  sich 
selber  ein  festes  Verhältniss  zu  den  höchsten  Fragen  gewinnen  kann.  Darin  vor 
Allem  besteht  seine  Grösse. 


Theologie  und  Psychologie.  95 

Denkens  und  Lebens  war  Gottseligkeit.  „Hominis  sapientia  pietas 
est"  (Encliir.  2;  de  civ.  dei  XIV,  28).  So  ist  Augustin  das  psycho- 
logische Genie  der  patristischen  Periode,  weil  er  das  theologische 
Genie  ^  gewesen  ist.  Nicht  unbewandert  in  den  Gebieten  objectiver 
Welterkenntniss,  hat  er  doch  diese  entschlossener  bei  Seite  liegen 
lassen  als  seine  neuplatonischen  Lehrer,  denen  er  viel  verdankt,  die  er 
aber  weit  übertroffen  hat.  „Die  Inhalte  des  inneren  Lebens  hegen  als 
ein  Bereich  eigenartiger  Erkenntnissobjecte  ausser  und  neben  der  sinn- 
lichen Erfahrung  deuthch  vor  Augustin's  Blicke,  und  er  ist  auf  Grund 
reicher  eigener  Innensicht  überzeugt,  dass  in  diesem  ebensogut  Wissen 
und  Aufschlüsse  auf  Grund  inneren  Erlebens  zu  gewinnen  sind,  wie 
durch  äussere  Beobachtung  in  der  umgebenden  Natur."  Augustin  hat 
die  Entwickelung  der  antiken  Philosophie  zu  Ende  geführt,  indem  er 
den  Process,  der  aus  dem  naiv-Objectiven  zu  dem  subjectiv-Objectiven 
führte,  zum  Abschluss  gebracht  hat  ^.  Was  längst  gesucht  wurde  — 
das  Innenleben  zum  Ausgangspunkt  des  Denkens  über  die  Welt  zu 
machen  — ,  das  hat  er  gefunden  ^.  Und  indem  er  sich  dabei  nicht  leeren 
Träumereien  hingab,  sondern  mit  einer  wahrhaft  „physiologischen 
Psychologie"  alle  Zustände  des  Innenlebens  von  den  elementaren  Vor- 
gängen an  bis  zu  den  sublimsten  Stimmungen  durchforschte,  ist  er,  weil 
das  Gegenbild  des  Aristoteles,  so  der  wahre  Aristoteles  einer  neuen 
Wissenschaft  geworden  *,  die  es  freilich  vergessen  zu  haben  scheint,  dass 

*  Vgl.  zum  Folgenden  Sieb  eck,  i.  d.  Ztschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik  1888 
S.  170  ff. 

^  S.  meine  Ausführungen  über  den  Neuplatonismus  Bd.  I  S.  719  ff. 

'  Bei  den  Neuplatonikern  war  die  Methode  noch  sehr  unsicher,  und  dies 
hängt  u.  A.  mit  ihrem  Polytheismus  zusammen.  Es  ist  leicht  zu  zeigen,  dass 
Augustin  so  viel  weiter  als  sie  in  der  Psychologie  gekommen  ist,  weil  er  Monotheist 
war.  Eine  Untersuchung  über  die  Bedeutung  des  Monotheismus  für  die  Psychologie 
fehlt  m.  W.  leider  noch  immer. 

'*  S.  die  vorzügliche  Parallele  zwischen  beiden  bei  Sieb  eck,  a.  a.  O.  S.  188  f.: 
„Unter  den  bedeutenden  Persönlichkeiten  des  Alterthums  dürften  kaum  zwei  so 
entgegengesetzte  Charaktere  zu  finden  sein,  wie  Aristoteles  und  Augustin. 
Dort  der  ruhig-klare  und  doch  von  energischer  Wärme  des  Denkens  bewegte 
Griecho,  der  das  hellenische  Ijobensideal  des  (Tcbildeten,  die  Befriedigung  in  dem 
gleichmässig  und  stetig  fortgehenden  Denkerleben,  auf  seinen  reinsten  wissenschaft- 
lichen Ausdruck  bringt,  die  Tiefen  und  Bedürfnisse  des  Gemüthes  nur  so  weit  ins 
Auge  fassend,  als  sie  sich  an  der  Oberfläche,  in  dem  äusseren  Wesen  und  Gehaben 
der  Affecte  kund  geben,  und  dieses  ganze  Gcsbiet  nicht  eigentlich  um  derKenntniss 
des  Herzens  willen  behandelnd,  sondern  nur  zu  den  Zwecken  der  Rhetorik.  Die 
seelische  Innenwelt  kommt  hier  überhaupt  nur  insoweit  zur  Darstellung  und  Würdi- 
gung, als  sie  sich  b(;thätigt,  in  der  Wcciliselwirkung  mit  der  äusseren,  und  so  wie  sie 
durch  deren  Mitwirkung  bestimmt  erscheint.  Denn  das  umfassende  und  abschlies- 
sende Problem  bei  Aristoteles  ist  die  wissenschaftliche  Erfassung  und  Gestaltung 


96  Dio  weltgeschiclitliclie  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

sie  als  Erkenntnisstheorie  und  innere  Beobachtung  aus  dem  mono- 
theistischen Ghuiben  und  dem  Gebetsleben  entsprungen  ist.  Alles  das, 

iler  äusseren  Welt  in  Natur  und  Gemeinschaftsleben,  üanz  entgegengesetzter  Rich- 
tung und  Stimmung  ist  Augustin.  Das  Aeussere  hat  für  ihn  nur  Bedeutung  und 
Werth  in  der  Art,  wie  es  im  Kcflex  des  Inneren  erscheint.  Die  Probleme  nicht  der 
Natur  und  des  Staates  und  der  weltlichen  Ethik,  sondern  die  der  innersten Geistes- 
imd  Herzensbedürfnisse,  der  Liel)e  und  des  Glaubens,  der  Hoffnung  und  des  Ge- 
wissens regieren  Alles.  Nicht  das  Verliältniss  des  Inneren  zum  Acusseren,  sondern 
das  des  Inneren  zum  Innersten,  zum  Fühlen  und  Schauen  Gottes  im  Herzen,  sind  die 
eigentlichen  Objecte  und  die  treibenden  Kräfte  seiner  Speculation.  Auch  die  Kräfte 
des  Verstandes  werden  einer  neuen  Betrachtung  unterworfen  in  Ansehung  des  Ein- 
flusses, dem  sie  von  Seiten  des  Gemüthes  und  des  Willens  unterliegen,  und  ver- 
lieren in  Folge  dessen  ihren  Anspruch  auf  Alleinherrschaft  im  wissenschaftlichen 
Denken.  Die  kühle  Analysirung  des  Acusseren  bei  Aristoteles,  welche  auch  die 
Seelenzustände  nach  Art  eines  äusserlich  vorliegenden  Objectes  zerlegt  und  unter- 
scheidet, verschwindet  bei  Augustin  vor  dem  unmittelbaren  Erleben  und  Empfinden 
von  Zuständen  und  Vorgängen  des  Herzenslebens,  die  aber  darum,  weil  er  sie  mit 
wärmstem  persönlichem  An theile  darstellt,  hinsichtlich  der  Schärfe  der  analytischen 
Zergliederung  das  aristotelische  Talent  keineswegs  vermissen  lassen.  Während 
Aristoteles  alles  persönlich  individuell  Gefärbte  in  seinen  Ansichten  vermeidet  und 
überall  die  Sache  selbst  reden  zu  lassen  bemüht  ist,  spricht  Augustin,  auch  wo  er 
Untersuchungen  von  allgemeinster  Bedeutung  vorführt,  immer  wie  lediglich  von 
sich,  dem  Individuum,  dem  seine  persönlichen  Empfindungen  und  Gefühle  die  Haupt- 
sache sind;  zum  Voraus  bereits  ist  er  dessen  sicher,  dass  sie  einen  weiter  tragenden 
Inhalt  haben  müssen,  da  Gefühl  und  Wollen  sich  als  gleichartige  Potenzen  in  jedem 
menschlichen  Herzen  finden.  Fragen  der  Ethik,  welche  Aristoteles  ans  dem  Ver- 
hältnisse von  Mensch  zu  Mensch  behandelt,  erscheinen  bei  Augustin  in  dem  Lichte 
der  Beziehungen  zwischen  dem  eigenen  Herzen  und  dem  von  diesem  gewussten  und 
gefühlten  Gott.  Den  obersten  Entscheid  giebt  bei  jenem  die  klare  Erkenntniss  des 
Acusseren  durch  die  Vernunft,  bei  diesem  die  Unwiderstehlichkeit  des  Inneren,  der 
Gefühlsüberzeugung,  diesichhier — was  in  dieser  Vollkommenheit  Wenigen  gegeben 
ist  —  mit  dem  durchdringenden  Lichte  des  Verstandes  verschmolzen  hat  .  .  .  Die 
Bedürfnisse  des  inneren  Lebens  kennt  Aristoteles  nur  insofern  und  insoweit,  als 
sie  das  von  kräftigem  Streben  und  philosophischem  Gleichmuthe  getragene  Leben 
in  und  mit  der  Gemeinschaft  zu  entwackeln  im  Stande  sind.  Es  ist  bei  ihm,  als  ob  es 
vor  klarem  Denken  und  ruhig  kräftigentWirken  kein  Leiden  und  Unglück  für  die 
Gemeinschaft  oder  für  den  Einzelnen  geben  könnte.  Die  tieferen  Quellen  der  Un- 
befriedigiing,  des  Seelenleidens,  der  unerfüllten  Gemüthsbedürfnisse  bleiben  bei 
seiner  Forschung  im  Dunkeln.  Augustin's  Bedeutung  aber  beginnt  eben  da,  wo  es 
gilt,  die  Unruhe  des  gläubigen  oder  des  suchenden  Gemüths  auf  ihre  Wurzeln  zu- 
rückzuführen und  der  inneren  Thatsachen  gewiss  zu  werden,  in  denen  das  Herz 
zur  Ruhe  kommen  kann.  Auch  die  alten  Probleme,  die  er  auf  Grund  seiner  reichen 
wissenschaftlichen  Bildung  im  ganzen  Umfang  und  Inhalt  übersieht  und  durchschaut, 
erscheinen  ihm  von  da  aus  in  neuer  Beleuchtung.  Darum  weiss  er  Alles,  was  aus 
dem  Hellenismus  zu  ihm  herübergekommen  ist,  zu  erfassen  und  zugleich  zu  vertiefen. 
Für  Aristoteles  ist  Problem  alles  dasjenige,  was  in  der  Aussen-  und  Innenwelt  der 
Verstand  sieht  und  analysiren  kann;  für  Augustiu  in  erster  Linie  das,  was  das 
Gemüths-  und  Willensleben  ihm  zu  dem  bisher  Erkannten  als  neue  Thatsache  auf- 


\ 


Augustin  und  die  Antike.  97 

was  wir  antik-klassische  Stimmung,  klassische  Lebens-  und  Weltauf- 
fassung nennen,  hat  er  abgethan.  Mit  den  letzten  Eesten  ihrer  Heiter- 
keit und  naiven  Objectivität  hat  er  die  alte  Wirklichkeit  selbst  für  lange 
Zeit  begraben  und  den  Weg  zu  einer  neuen  Wirklichkeit  gewiesen.  Aber 
unter  Schmerzen  ist  sie  in  ihm  geboren,  und  den  Zug  des  Schmerzlichen 
hat  sie  behalten.  Muhammed,  der  Barbar^  schlug  im  Namen  Allah's,  der 
ihn  überwältigt  hatte,  die  hellenistische  Welt,  die  er  nicht  kannte,  in  Trüm- 
mer. AugustiU;  der  Schüler  der  Hellenen,  vollzog  im  Abendland  die  längst 
vorbereitete  Auflösung  dieser  Welt  im  Namen  des  Gottes ,  den  er  als 
das  einzig  Wirkhche  erkannt  hatte  ^;  aber  er  baute  eine  neue  Welt  in 


zwingt.  Der  Boden,  von  dem  aus  die  Fragen  sich  erheben,  ist  dort  das  ruhige  theo- 
retische Bewusstsein,  hier  dagegen  das  von  der  Unruhe  der  Gottesliebe  und  des 
Sündenbewusstseins  aufgeregte  G  e wissen.  Hiermit  aber  hat  sich  auch  das  wissen- 
schafthche  Interesse  einer  ganz  neuen  Seite  der  Wirklichkeit  zugewendet.  Kein 
Wunder,  dass  fortan  die  Allgenugsamkeit  des  zergliedernden  und  abstrahirenden 
Verstandes  in  ihrer  Alleinherrschaft  beschränkt  wird.  Der  Verstand  soll  jetzt  nicht 
mehr  die  Probleme  schaffen,  sondern  sie  aus  den  Tiefen  der  Gen^üthswelt  her  em- 
pfangen, um  dann  erst  zu  sehen,  was  er  aus  ihnen  machen  kann.  Er  soll  sich  auch 
nicht  mehr  seiner  Herrschaft  über  den  Willen,  sondern  vielmehr  der  Beeinflussung 
bewusst  werden,  der  er  selbst  von  dorther  unterliegt.  Den  Hauptgegenstand  seiner 
Betrachtung  soll  nicht  mehr  die  äussere  Welt  oder  die  nach  Analogie  und  Methode 
derselben  behandelte  innere  bilden,  sondern  der  Kern  der  Persönlichkeit,  das 
Gewissen  in  seinem  Zusammenhang  mit  Gemüth  und  Willen.  Erst  von  hier  aus 
mag  er  auch  zu  den  bisherigen  Einsichten  über  Innen-  und  Aussenleben  zurück- 
kehren, um  sie  neu  verstehen  zu  lernen.  Für  Aristoteles,  den  Hellenen,  ist  das 
Seelenleben  nur  soweit  interessant,  als  es  sich  nach  Aussen  kehrt,  und  dazu  dient, 
die  Welt  theoretisch  und  praktisch  zu  umspannen;  für  Augustin,  den  ersten 
modernen  Menschen  (derselbe  Ausdruck  auch  bei  Seil,  Aus  der  Gesch.  des 
Christenthums  1888  S.  43;  ich  habe  ihn  schon  seit  Jahren  gebraucht),  hat  die  Be- 
trachtung desselben  nur  Werth,  sofern  aus  ihr  sich  die  Innerlichkeit  des  persön- 
lichen Lebens  als  etwas  von  der  Aussenwelt  im  Grunde  Unabhängiges  begreifen 
lässt."  Aristoteles  und  Augustin  sind  die  beiden  Rivalen,  die  iji  der  Wissenschaft 
und  in  der  Stimmung  der  folgenden  Jahrhunderte  mit  einander  streiten,  beide  frei- 
lich in  der  Regel  deteriorirt,  Aristr)teles  zu  öden  Distinctionen  und  Begriffen  und 
zu  einem  handfesten  Dogmatismus,  Augustin  zu  einer  in  allen  denkbaren  Medien 
schwiiiimendenMystik,diedas  Sieuorder  sicheren  inneren  Beobachtung  verloren  hat. 
Schon  in  den  Pelagianern  trat  Augustin  dem  aristoteliscli(!n Rationalismus  energisch 
entgegen,  und  sein  Kamj)f  mit  ihnen  hat  sich  in  der  Folgezeit  zehnfach  wiederholt. 
Innerhalb  der  Religionsgeschichte  ist  es  ein  Kampf  einer  im  Grunde  irreligiösen, 
theologisch  etifjnettirten  Moral  mit  der  Religion;  denn  der  Aristotelismus  ist  auch 
in  seiner  klassischen  Gestalt  niligionslose  Moral. 

*  Im  Grunde  sind  alle  christlichen  hellenistischen  Denker  vor  Augustin  noch 
feine  Polytheisteji  oder  richtiger:  das  polytheistische  Element  ist  bei  ihnen  nicht 
vollständig  ausgetilgt,  sofern  sie  ein  Stück  Naturreligion  conservirt  haben.  Am 
deutlichsten  ist  das  bei  der  Descendenz  des  Origenes. 

iiarna':k,  lJojfni'?tif»eHchichte  liJ.  "jr 


98  I^ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustinus  als  Lehrer  der  Kirche. 

seinem  Tunern  auf*.  Indessen,  weil  Alles  sich  hier  durch  eine  langsame 
Umbildung  vollzogen  hat  und  dazu  am  Nordostrande  des  Mittelmeeres 
die  alte  hellenistische  Welt  zum  Theil  bestehen  blieb,  so  ist  nichts  wirk- 
lich völlig  untergegangen.  An  dem  Faden,  an  welchem  ein  Jahrtausend 
bis  zu  Augustin  gesponnen,  vermochte  man  rückwärts  zu  schreiten,  und 
das  positive  Capitjd,  welches  der  Neuplatonismus  und  Augustin  von  der 
Vergangenheit  her  em])fangen  und  in  negative  Werthe  umgesetzt  hatten, 
konnte  sich  auch  wieder  mit  positiver  Kraft  geltend  machen.  Aber  Et- 
was war  allerdings  verloren  gegangen  —  man  findet  es  im  folgenden 
Jahrtausend  üist  nur  noch  bei  den  theologisch  und  philosophisch  Un- 
gebildeten, nicht  bei  den  Denkern  —  die  heitere  Freude  an  der  Welt  der 
Erscheinung,  an  dem  deutlichen  Erfassen  derselben  und  an  ruhig  kräf- 
tigem Wirken  '.  AVenn  sich  Beides  vereinigen  liesse  in  der  Wissen- 
schaft und  in  der  Stimmung,  die  Frömmigkeit,  Innerlichkeit  und  Innen- 
schau Augustin's  mit  der  Weltaufgeschlossenheit,  dem  ruhigen  kräftigen 
Wirken  und  der  klaren  Heiterkeit  der  Antike,  dann  wäre  wohl  das 
Höchste  erreicht!  Man  sagt  uns,  diese  Verbindung  sei  ein  Phantom,  ja 
ein  absurder  Gedanke.  Aber  verehren  wir  nicht  die  grossen  Geister, 
die  uns  seit  Luther  geschenkt  worden  sind,  eben  desshalb,  weil  sie  es 
versucht  haben,  dieses  „Phantasiebild"  zu  verwirklichen?  Hat  nicht 
Goethe  in  der  Epoche  seiner  Vollendung  dies  Ideal  für  das  seinige 
erklärt  und  es  in  sich  darzustellen  versucht?  Liegt  nicht  die  Be- 
deutung des  evangelisch- reformatorischen  Christenthums,  wenn 
es  wirklich  etwas  Anderes  ist  als  Katholicismus,  in  diesem  Ideal  be- 
schlossen? 

„Deum  et  animam  scire  cupio.  Nihilne  plus?  Nihil  omnino'*  ^  — 
in  diesen  Worten  hat  Augustin  kurz  das  Ziel  senies  inneren  Lebens 
formulirt.  Das  war  die  Wahrheit^,  nach  welcher  „das  Mark  seiner 
Seele  seufzte".  In  der  Gotteserkenntniss  lag  ihm  alle  Wahrheit  be- 
schlossen.  Die  Gewässheit,  dass  ein  Gott  sei,  und  dass  er  das  summum 


»  Weh !  Weh  !  Wir  tragen 

Du  hast  sie  zerstört,  Die  Trümmer  ins  Nichts  hiuiiher 

Die  schöne  Welt,  Und  klagen 

Mit  mächtiger  Faust;  TTeher  die  verlorene  Schöne.  — 

Sie  stürzt,  sie  zerfällt!  Prächtiger  haue  sie  wieder, 

Ein  Halhgott  hat  sie  zerschlagen!  In  deinem  Busen  haue  sie  auf! 

■''  Man  vgl.  selbst  noch  die  Stimmung  des  Petrarca  u.  anderer  Humanisten. 
^  Süliloq.  I,  7.    In  der  Kenntniss  Gottes  lag  für  ihn  auch  die  des  Kosnms;  s. 
S  c  i  p  i  o ,  Metaphysik  S.  14  l\. 

*  Das  Spiel  mit  Hülsen  und  Schalen  war  Augustin  ein  Ureiiel  und  Kkel:  er 
lechzte  nach  Sachen,  luicli  der  Erkenntn^ss  der  wirklidnMi  IVIächte. 


I 


Gott  und  die  Seele.  99 

bonum  sei  *,  stand  ihm,  nach  einer  kurzen  Periode  schwerer  Zweifel, 
felsenfest  - ;  aber  wer  er  sei,  wie  er  zu  finden  sei,  das  war  ihm  die  grosse 
Frage.  Da  ist  er  zuerst  durch  den  Neuplatonismus  aus  der  Nacht  der 
Unsicherheit  —  der  manichäische  Grottesbegriff  hatte  sich  ihm  als  falsch 
erwiesen^  da  Gott  hier  nicht  absolut  und  allmächtig  war  —  gerissen 
w^orden.  Der  Neuplatonismus  zeigte  ihm  einen  Weg,  aus  der  Flucht  der 
Erscheinungen  und  dem  räthselhaften  und  quälenden  Spiel  des  Vergäng- 
lichen zu  dem  festen  ßuhepunkt  zu  gelangen,  den  er  suchte,  und  diesen 
in  dem  absoluten  und  geistigen  Gott  (Confess.  YII,  26:  „incoiporea 
veritas")  zu  finden.  Augustin  hat  diesen  Weg  des  Aufstiegs  von  der 
Körperwelt  durch  immer  höhere  und  dauerndere  Sphären  betreten  und 
auch  die  ekstatische  Stimmung  im  Excess  des  Gefühls  erlebt  ^.  Allein 
viel  energischer  wandte  er  sich  gleichzeitig  der  Betrachtung  zu ,  für 
welche  die  Neuplatoniker  ihm  nur  Winke  zu  geben  vermocht  hatten  — 
der  inneren  Erfahrung  und  der  psychologischen  Analyse.  Aus  dem 
Skepticismus  rettete  ihn  die  Einsicht,  dass,  w^enn  der  äusseren  Erfah- 
rung auch  Alles  zweifelhaft  geworden  sei,  die  Thatsachen  des  inneren 
Lebens  bestehen  bleiben  und  eine  Erklärung  erheischen,  die  zur  Gewiss- 
heit zurückführt.  Es  giebt  kein  Uebel,  aber  wir  fürchten  uns,  und  diese 
Furcht  ist  gewiss  ein  liebelt    Es  giebt  kein  sichtbares  Object  des  Glau- 


'  Augustin  ist  Manichäer  geworden,  weil  er  darüber  nicht  hinwegkam,  nach 
der  katholischen  Lehre  werde  (rott  zum  Urlieber  der  Sünde  gemacht. 

^  Confess.  VIT,  16:  „Audivi  (ver])a  Ego  sum  qui  sum)  sicut  auditurincorde, 
et  non  erat  prorsus  unde  dubitarem;  faciliusque  dubitarem  vivere  me,  quam  non 
esse  veritatem."    VI,  5. 

"  Andeutungen  Confess.  VIT,  13 — 16.  23.  Hier  ist  dasintelleotuelleExercitium 
von  der  Betrachtung  der  mutabilia  zu  dem  incomnmtabile  geschiklert.  „Et  pcr- 
venit  cogitatio  ad  id  quod  est,  inictu  trepidantis  aspectus.  Tunc  vero  iii- 
visibilia  tua,  per  ea  quae  facta  sunt,  intellecta  conspexi  (dies  wird  jetzt  sein  Grund- 
spruch); sed  aciem  figere  non  valui:  et  re])ercussa  infirmitate  redditus  solitis, 
non  mecuniferc'bam  nisi  amantem  meinoriam  et  (juasi  olfactu  desiderantem  (ganz  wie 
bei  Plotin)  quae  comedere  noridum  possem."  VIIT,  1.  Aber  aucli  nocli  in  dem  be- 
rühmten Gespräch  (IX,  23 — 25)  mit  der  Mutter  in  Ostia  wird  eigentlicli  ein  regel- 
rechtes neuplatonisches  Exercitium  geschildert,  das  mit  der  Ekstase  („attigimus 
veritatem  modice  toto  i(;tu  cordio")  endet,  Sj)iiter  begegnet  dergleichen  l)ei  Augu- 
stin liöchst  selten-,  dagegen  zeigen  die  anÜMianichliisclien  Schriften  noch  manche 
Anklänge  („se  rapere  in  deum"  „ra])i  in  deum"  „volitare"  „amplexus  dei").  Mit 
Hecht  sagt  Reuter  (S.  472),  das  seifin  ungewöhnliche,  nur  ausnahmsweise  vor- 
kommende Aussagen.  Allein  er  nuiss  die  Stellen  in  den  Confessionen  aus  dem  Ge- 
däcliiniss  verloren  haben,  wenn  er  hinzufügt,  dass  AnweiHungen  über  die  Methode, 
welche  man  zu  befolgen  habe,  nicht  gegeben  würden. 

■*  (/onfess.  VIT,  7:  „IJbi  ergo  nuilum  et  unde  et  qua  huc  irrepsit?  (^uae  radix 
eius  et  <juo  senien  eins?  An  omnino  non  est?  ('ur  ergo  timemus  et  cavemus  (juod 
non  est?  Aut  si  inaniter  timemus,  certe  vel  timor  ipse  malum  est    .  .  et  tanto  gravius 

7  + 


100        r)ie  woltgesehiclitliche  StelUmpf  Aiiofustiirs  als  Lehrer  der  Kirche. 

bens,  aber  den  Glauben  sehen  wir  in  uns  ^  So  traten  ihm  —  erkenn  t- 
nisstheo retisch  —  deus  und  anima  in  die  ninigste  Verbindung,  und 
diese  Verbindung  verstärkte  für  ihn  die  Vorstelhing  von  ihrem  meta- 
physischen Zusammenhang.  Fortab  war  ihm  die  Erforschung  des 
Seelenlebens  ein  theologisches  Bedürfniss.  Keine  Untersuchung  er- 
schien ihm  hier  gleichgiltig;  aus  jeder  suchte  er  G  otteserkenntniss 
zu  schöpfen.  Das  Fvwö-i  asauiöv  wurde  ihm  der  AVeg  zu  Gott.  Welche 
Fülle  von  psychologischen  Entdeckungen  er  gemacht  hat'-^,  davon  kann 
hier  nicht  gehandelt  werden.  Aber  in  seinem  eigentlichen  Element  war 
er  erst  bei  der  Erforschung  der  praktischen  Seite  des  Seelenlebens. 
Die  populäre  Vorstellung,  über  welche  doch  auch  die  Philosophen  nicht 
weit  herausgekommen  waren,  war  die,  der  Mensch  sei  ein  vernünftiges 
Wesen,  welches  durch  Sinnlichkeit  niedergehalten  werde,  aber  einen 
freien,  jeden  Moment  zum  Guten  fälligen  Willen  besitze  —  eine  sehr 
äusserliche,  dualistische  Betrachtung.  Augustin  beobachtete  den  wirk- 
lichen Menschen.  Erfand,  dass  die  Grundform  des  Seelenlebens  in 
dem  Streben  nach  Lust  liegt  ^  (cupido,  amor);  aus  dieser  Form 
kann  Niemand  heraustreten.  Sie  ist  identisch  mit  dem  Streben  nach 
Gütern,  nach  dem  Genuss.  Als  Erstreben  des  Angenehmen  ist  sie 
libido,  cupiditas  und  vollendet  sich  in  der  Freude;  als  Widerstreben 
gegen  das  Unangenehme  ist  sie  ira,  timor  und  vollendet  sich  in  der 
tristitia.  Alle  Triebe  sind  nur  Entfaltungen  dieser  Grundform ;  bald 
erscheinen  sie  mehr  als  ein  Afficirtsein,  bald  mehr  als  Activität,  und 
sie  gelten  ebenso  für  das  Gebiet  des  geistigen,  wie  für  das 
Gebiet  des  sinnlichen  Lebens*.  Der  Wille  hängt  nach  Augustin 
aufs  engste  mit  diesem  Leben  der  Triebe  zusammen,  so  dass  die  Triebe 
sogar  als  Inhalt  des  Willens  aufgefasst  werden  können,  aber  er  ist  doch 


malum,  quanto  non  est  quod  timeamus.  Tdcirco  aut  estmalumquod  timemus, 
aiit  hoc  malum  est  quia  timemus." 

^  De  trinit.  XIII,  3:  „Cum  propterea  credere  iubeamur,  quia  id  quod  credere 
jubemur,  videre  non  possumus,  ipsam  tarnen  fidem,  quando  inest  in  nobis,  videmus 
in  nobis." 

^  In  Bezug  auf  das  Gredächtniss,  die  Association  der  Vorstellungen,  die  synthe- 
tische Thätigkeit  des  spontanen  Denkens,  die  Idealität  der  Kategorien,  die  apriori- 
schen Functionen,  die  „urtheilendeu"  Zahlen,  die  „Synthesis  der  Reproduction  in 
der  Einbildung"  u.  s.  w.  Freilich  ist  Alles  von  ihm  nur  gestreift;  es  blitzt  gleich- 
sam in  seineu  Werken  nur  auf;  s.  Sieb  eck,  a.  a.  O.  S.  179.  In  der  Speculatiou  über 
die  Trinität  hat  er  seine  Betrachtungen  über  dasSelbstbewusstsein  angewendet. 

^  Er  meinte  damit  das  berechtigte  Streben  nach  Selbstbehauptung,  nach  Sei  n, 
welches  er  allem  Organischen,  ja  sogar  dem  Unorganischen  beilegte,  s.  de  civ. 
dei  XI,  28. 

*  Das  ist  der  wichtierste  Fortschritt  der  Erkenntniss. 


J 


Die  neue  Psychologie.  101 

von  ihnen  zu  unterscheiden;  denn  der  "Wille  ist  nicht  an  den  Naturzu- 
sammenhang gebunden ;  er  ist  eine  über  der  sinnlichen  Natur  stehende 
Kraft  ^  Er  ist  frei,  sofern  er  formell  die  Fähigkeit  besitzt,  den  ver- 
schiedenen Neigungen  zu  folgen  oder  zu  widerstreben;  aber  er  ist  in 
concreto  nie  frei,  d.  h.  nie  wirkhches  Hberum  arbitrium,  sondern  stets 
bedingt  durch  das  Gefüge  der  bestehenden  Neigungen,  die  ihn  als  Mo- 
tive bestimmen.  Die  theoretische  Wahlfreiheit  mid  somit  zur  wirkUchen 
Freiheit  nur  dann,  wenn  die  cupiditas  (amor)  boni  das  herrschende  Mo- 
tiv für  den  Willen  geworden  ist  —  mit  anderen  Worten:  nurvondem 
guten  Willen  gilt,  dass  er  frei  ist;  AVillensfreiheit  und  sittliche 
Gutheit  fallen  zusammen.  Aber  eben  hieraus  folgt,  dass  der  wahrhaft 
freie  Wille  seine  Freiheit  nicht  in  der  Willkür  hat,  sondern  in  dem  Ge- 
bundensein an  das  Motiv  des  Guten  („beata  necessitas  boni").  Diese 
Gebundenheit  ist  Freiheit,  weil  sie  den  Willen  der  Herrschaft  der  Triebe 
(der  niederen  Güter)  entzieht,  und  weil  sie  die  Bestimmung  und 
Anlage  des  Menschen,  sich  mit  wahrhaftem  Sein  und  Leben 
zu  erfüllen,  verwirkhcht.  In  der  Gebundenheit  an  das  Gute  realisirt 
sich  der  höhere  appetitus,  der  wahrhafte  Selbsterhaltungstrieb,  während 
er  durch  Befriedigung  „in  der  Zerstreuung"  den  Menschen  „stückweise 
zum  Zerfallen  bringt".  Aus  der  von  Augustin  behaupteten  Unfähigkeit 
des  individuellen  spontanen  Willens  zum  Guten  folgt  aber  nicht,  dass 
der  böse  Wille,  weil  unfrei,  auch  ohne  Verantwortung  ist ;  denn  da  dem 
Willen  die  Fähigkeit  zugesprochen  wird,  auf  den  amor  boni  einzugehen, 
so  ist  er  der  Unterlassung  (des  Defectes)  wegen  schuldig. 

Von  hier  aus  baute  nun  Augustin,  die  Ergebnisse  der  neuplato- 
nischen kosmologischen  Speculation  mit  dieser  Analyse  verknüpfend, 
die  Metaphysik  oder  richtiger  die  Gottes  lehre  auf.  Aber  da  er  in 
derselben  Epoche,  in  welcher  er  diesen  Betrachtungen  nachging,  sich 
der  mönchisch-katholischen  Askese  zuwandte  und  zugleich  sich  in  die 
Psalmen  (und  die  Paulusbriefe)  vertiefte,  so  wirkte  die  schlichte  Grösse 
des  lebendigen  Gottesbegriffs  mit  gewaltiger  Kraft  in  die  Speculationen 
hinein  und  zwang  die  verschiedenen  und  zum  Theil  künstlich  gewonnenen 
Elemente  der  Gotteslehre  "^  immer  wieder  in  das  einfachste  Bekenntniss 


'  S.Sieb  eck,  a.  a.  O.  S.  181  f.;  Hamma  i.  d.  Tiib.  Thcol.  Quartalschr.Bd.55 
S.  427  fr.  458;  Kahl,  Primat  des  Willens  S.  1  f.  Unzweifelhaft  wurzelt  Aug.'s  Psy- 
chologie des  Willens  im  Indeterminismus;  aber  in  der  concreten  Betrachtung  wird  er 
Detcnriinißt. 

'  Sic  haben  übrigens  sämmtlich  einen  praktischen  Zweck,  d.  h.  sie  entsprechen 
riner  bestimmten  Form  der  frommen  Betrachtung  des  ({(Jttlichen  und  einem  be- 
stimmten Verhalten  ihm  gegenüber  (einer  bestimmten  Selbstbeurtheilung).  Die 
Einzelheiten  der  GottcBlehre  s.  bei  Dorncr,  Augustin  S.  5 — 112. 


102        Die  weltgescliichtliche  Stellung  Augustiii's  als  Lehrer  der  Kirche. 

zusjimmen :    „Der  Herr  Himmels  und  der  Erde  ist  die  Liebe ;  er  ist 
mein  Heil ;  vor  wem  sollte  mir  grauen?^' 

Durch  die  neuphitonisclie  Speculation  des  Aufsteigens  gelangte 
Augustin  zu  dem  höchsten,  unveränderlichen,  beharrlichen  Sein  \  der 
incorporea  veritas,  spiritalis  substantia,  incommutabilis  et  vera  veri- 
tatis  aeternitas,  der  lux  incommutabilis  ■^.  Von  liier  aus  erhielt  für 
Augustin  Alles,  was  nicht  Gott  ist,  einschUesslich  der  eigenen  Seele, 
eine  doppelte  Beleuchtung.  Einerseits  erscliien  es  als  das  absolut  Ver- 
gängliche, darum  als  das  Nichtseiende ;  denn  dort  ist  kein  wahres 
Sein,  wo  auch  das  Nichtsein  ist;  also  ist  Gott  allein  (Gott  die 
einzige  Substanz).  Andererseits  erschien  es,  sofern  es  ein  relatives 
Sein  hat,  gut,  ja  sehr  gut,  als  eine  Auswirkung  des  göttlichen  Seins 
(das  Viele  als  die  ausstrahlende  und  wieder  zurückkehrende  Ausge- 
staltung des  Einen).  Hier  wird  Augustin  nicht  müde,  das  pulchrum  et 
aptum  der  Schöpfung  zu  empfinden,  das  Universum  als  ein  geordnetes 
Kunstwerk  zu  betrachten,  in  welchem  die  Abstufungen  ebenso  bewun- 
derungswürdig sind,  wie  die  Contraste.  Das  Individuelle  und  das 
üeble  ist  hier  aufgehoben  in  den  Begriff  der  Schönheit;  ja  Gott  selbst 
ist  die  ewige,  die  alte  und  die  neue,  die  einzige  Schönheit.  Selbst  das 
Höllenfeuer,  die  Verdammung  der  Sünder,  ist  als  Act  in  der  ordinatio 
malorum  ein  nicht  zu  missender  Theil  des  Kunstwerkes  ^.    Aber  frei- 


*  Coufess.  VII,  16  konnte  er  nun  die  triumphirende  Frage  aufwerfen :  „Num- 
quid  nihil  est  veritas,  quoniam  ueque  per  finita,  neque  per  infinita  locoruni  spatia 
difftisaest?" 

^  Nicht  das  gewöhnliche  Licht;  „non  hoc  illa  erat;  sed  aliud,  aliud  valde  ab 
istis  Omnibus.  Xec  ita  erat  supra  mentem  meam  sicut  oleum  super  aquam,  uec  sicut 
coelum  super  terram,  sed  superior,  quia  ipse  fecit  me,  et  ego  inferior,  quia  factus 
sum  ab  ea.  Qui  novit  veritatem  novit  eam,  et  qui  novit  eam,  novit  aeteruitatem. 
Caritas  novit  eam.  0  aeterna  veritas,  et  vera  Caritas,  et  cara  aeternitas !  tu  es  deus 
meus;  tibi  suspiro  die  ac  nocte"  (Confess.  VII,  16).  Dazu  die  grandios  wiedcr- 
gegebeue  Betrachtung  IX,  23 — 25  De  trin.  IV,  1.  Unter  Sein  versteht  Augustiu 
nicht  ein  inhaltsloses  Existireu,  sondern  lebensvolles  Sein,  und  niemals  ist  es  ihm 
zweifelhaft  geworden,  dass  Sein  besser  ist  als  Nichtsein.  De  civit.  dei  XI,  26:  „Et 
sumus  et  nos  esse  novimus  et  id  esse  ac  nosse  diligimus."  Die  Trias  „esse,  scire, 
amare"  ist  ihm  die  höchste;  an  die  Möglichkeit,  in  buddhistisch-schopenhauerischer 
AVeise  das  Nichtsein  zu  verklären,  hat  er  nie  gedacht. 

'  Auf  die  Kosmologie  Augustinus  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden 
(s.  die  Arbeiten  von  Gangauf  und  S  c  i  p  i  o).  Seine  Betrachtungen  über  das  Leben 
und  die  Stufenfolge  des  Organischen  und  Unorganischen  („ordo,  species,  nu)dus'*) 
sind  für  die  spätere  Philosophie  und  Theologie  von  hoher  Bedeutuug  geworden  und 
haben  namentlich  in  der  mittelalterlichen  Mystik  foi-tgewirkt.  Ebenso  hat  dort  tue 
Betrachtung  fortgewirkt,  welche  Böse  und  Gut  als  nothwendige  Elemente  des 
Kunstwerks  der  Welt  betrachtet.  Doch  überwog  stets  —  wie  bei  Augustin  —  die 
Vorstellung  von  der  privativen  Bedeutung  des  Bösen. 


Der  philosophische  GottesbegrifF.  103 

lieh  das  ganze  Kunstwerk  ist  im  Grunde  —  nichts;  ein  Gleichniss,  aber 
ach  I  ein  Gleichniss  nur  der  unendHchen  Fülle  des  Einen,  der  da  allein 
ist.  Wie  ernst  es  Augustin  mit  diesem  akosmistischen  Pantheismus, 
der  doch  in  den  kosmischen  Monismus  umzuschlagen  droht,  genommen 
hat,  wie  er  ihn  niemals  ganz  aufgegeben  hat,  zeigt  eben  der  Ausdruck 
„pulchritudo"  für  Gott  ^,  zeigt  seine  Prädestinationslehre,  die  hier  eine 
ihrer  Wurzeln  hat,  zeigt  endlich  der  auch  noch  in  den  spätesten  Schrif- 
ten hier  und  dort  durchbrechende  ästhetische  Optimismus  der  Welt- 
betrachtung ''^  und  die  Unsicherheit  über  den  Begriff  der  Schöpfung  ^. 
Allein  schon  die  Thatsache,  dass  Augustin  in  der  Regel  von  einer  ganz 
anderen  Stimmung  beherrscht  wird,  bürgt  dafür,  dass  das  hier  ge- 
wonnene Element  nur  eine  Grundirung  gewesen  ist,  auf  welche  er 
neue  Farben  aufgetragen  hat.  Er  wäre  nicht  der  Reformator  der 
christlichen  Frömmigkeit  gewesen,  wenn  er  nur  jenen  neuplatonischen 
Gottesbegriff,  der  doch  schhesslich  auf  frommem  Naturgefühl  beruht, 
sei  es  auch  in  den  hinreissendsten  Tönen  ^,  gefeiert  hätte.  Die  neuen 
Elemente  ergaben  sich  ihm  zunächst  aus  der  oben  kurz  angedeuteten 
psychologischen  Analyse.  Er  fand  in  dem  Menschen  den  Trieb  nach 
Glück,  nach  Gütern,  nach  dem  Sein  als  die  Grundform  des  Daseins, 
und  er  konnte  diesen  Trieb  vortrefflich  mit  seiner  neuplatonischen 
Doctrin  ausgleichen.  Er  fand  weiter  sogar  den  Trieb  nach  einem 
immer  höheren  Glück  und  nach  immer  höheren  Gütern,  eine  unverwüst- 
liche edle  Concupiscenz,  und  auch  dieser  Befund  stimmte  mit  jener 

*  Dieser  Ausdruck  ist  iu  allen  Schriften  häufig.  Auch  Aussagen  wie  „vita 
vitae  meae"  u.  ä.  haben  zunächst  einen  akosmistischen  Sinn,  sind  aber  freilich  von 
Augustin  auch  mit  einem  tieferen  Sinn  erfüllt  gedacht. 

'^  Die  optimistische  Freude  am  Leben  im  Sinne  des  wahren  Lebens  hat 
Augustin  nie  eingebüsst,  wie  das  Werk  de  civit.  dei  beweist;  aber  in  dem  Contrast 
der  Stimmungen  in  Bezug  auf  die  AVeltbetrachtung  —  ästhetische  Freude  am  Kos- 
mos und  Schmerz  über  die  durch  Sünde  verkehrte  Welt  —  gewann  die  letztere  die 
Oberhand.  Das  Dasein  an  sich  ist  Augustin  nie  zur  Qual  geworden,  sondern  jenes 
Dasein,  das  sich  selbst  zum  Niclitsein  verdammt,  indem  es  sich  zum  Zerfall  bringt. 

'  Wo  sich  Augustiu  die  Frage  der  Schöi)fung  so  stellt:  „Wie  verhalt  sich  die 
Einheit  des  Seins  zur  Vielheit  der  Erscheinung",  da  ist  der  Schöpfungsbegriff' stets 
im  Grunde  eliminirt.  Diese  Art  der  Fragestellung  hat  er  aber  nie  ganz  aufgegeben  ; 
denn  im  Grunde  haben  die  Dinge  ihre  Scn)ständigkeit  nur  an  ihrer  Erscheinung, 
während  sie,  sofern  sie  sind,  der  Erkenutnissgrund  für  die  Existenz  (lottes  sind. 
Allein  daneben  hat  Augustin  doch  die  creatio  ex  nihilo  („omnes  naturae  ex  deo,  non 
de  deo",  de  uat.  bou.  c.  Mauich.  1)  kräftig  geltend  gemacht;  s.  die  Anmerkung  auf 
Seite  108. 

*  Die  hat  er  gefunden  und  liundeite  JNIystiker  nach  ihm  begeistert.  Dass  diese 
contemplative  Betrachtung  des  Seins,  des  Nichtseins  und  der  Harmonie  des  sich  zur 
Erscheinung  entfaltenden  Seins  auch  eine  Sphäre  der  Frömmigkeit  ist,  sollte  man 
nicht  leugnen. 


104        r^ie  welt^eßcbichtliche  Stellung  Augußtin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Doctrin.  Die  lTm*uhe,  der  Hunger  und  Durst  nach  Gott,  der  Abscheu 
und  Ekel  vor  den  genossenen  niederen  Gütern  ist  nicht  zu  ersticken ; 
denn  die  Seele,  sofern  sie  ist,  ist  ja  ex  deo  et  ad  deum.  Aber  nun 
fand  er  etwas  Furchtbares:  dass  der  Wille  das  factisch  nicht 
will,  was  er  will  oder  doch  zu  wollen  scheint.  Nein,  es  ist 
kein  Schein,  es  ist  die  fiirchterlichste  Paradoxie :  wir  wollen  zu  Gott 
und  wir  können  nicht,  das  heisst,  wir  wollen  nicht  K   Mit  dem  ganzen 

'  Die  tiefste  Schilderung  dieses  Zustandcs  Coufcss.  VIII,  17 — 26;  Augustin 
nennt  ihn  ein  „moustrum"  (monströse  Erscheinung).  Er  löst  das  aufgedeckte  Pro- 
blem, soweit  es  zu  lösen  ist,  nicht  durch  den  Appell  an  den  unfreien  Willen,  also  nicht 
durch  das  „non  possumus",  sondern  als  ludeterminist  durch  die  Reflexion  „non  ex 
toto  volumus,  non  ergo  ex  toto  [uobis]  imperamus"  (21).  „Ich  fürchtete,  dass  Du 
mich  bald  erhören  möchtest  und  mich  bald  heilen  von  der  Krankheit  der  Lust, 
deren  Befriedigung  ich  mehr  wünschte  als  ihre  Austilgung  .  .  .  Und  ich  war  in  dem 
Wahn  gewesen,  desshalb  verschöbe  ich  es  von  Tag  zu  Tag,  Dir  allein  nachzufolgen, 
weil  noch  kein  sicheres  Ziel  meines  Strebeus  aufgegangen  sei.  Und  nun  war  der  Tag 
da,  und  die  Stimme  meines  Gewissens  mahnte  mich:  »Sagtest  Du  nicht,  nur  weil  die 
Wahrheit  Dir  noch  ungewiss  sei,  wolltest  Du  die  eitle  Bürde  nicht  von  Dir  werfen? 
Siehe  jetzt  ist  Dir  die  Wahrheit  doch  gewiss,  aber  (Du  willst  doch  nicht). v< 
.  .  .  Der  Weg  mit  Gott  sich  zu  verbünden  und  auch  die  Erreichung  des  Ziels  fällt 
zusammen  mit  dem  Willen,  dies  Ziel  zu  erreichen,  freilich  nur  mit  dem 
festen  und  reinen  Willen  ....  Und  so  Manches  pflegte  ich  während  jenes  inneren 
Gährens  und  Zögerns  in  meinem  leiblichen  Dasein  auszuführen,  was  nur  auf  Grund 
bestimmter  AVillcnsentschlüsse  geschieht  und  unmöglich  wird,  sobald  die  ent- 
sprechenden Gliedmassen  entweder  fehlen  oder  gefesselt  oder  ermattet  oder  er- 
schlafil  oder  irgendwie  behindert  sind.  Wenn  ich  z.  B.  ein  Haar  mir  ausriss,  mich 
vor  die  Stirne  schlug  oder  mit  gefalteten  Händen  das  Knie  rmfasste,  so  that  ich 
das,  weil  ich  es  wollte.  Es  wäre  aber  auch  möglich  gewesen,  dass  ich  es  gewollt 
und  doch  nicht  gethan  hätte,  wenn  nämlich  die  Beweglichkeit  der  Glieder  mich  im 
Stiche  gelassen  hätte.  So  Manches  führte  ich  also  aus  auf  einem  Gebiete,  wo 
Wollen  und  Können  durchaus  nicht  identisch  war.  Dagegen  führte  ich 
nicht  aus,  was  mir  ein  ungleich  grösseres  Wohlgefallen  bereitete  und  mir  auch  mög- 
lich war,  sobald  ich  nur  wirklich  ernsthaft  wollte;  weil  ich,  sobald  ich  es 
gewollt  hätte,  es  auch  wirklich  schon  im  Willen  mir  augeeignet 
hätte.  Denn  auf  diesem  Gebiet  ist  Fähigkeit  und  AVille  identisch, 
und  der  wii'kliche  Willensentschluss  ist  auch  schon  die  Aus- 
führung. Und  doch  kam  es  bei  mir  nicht  bis  zur  Ausführung;  und  mit  grösserer 
Leichtigkeit  gehorchte  mein  Leib  der  leisesten  Willensmeinung  meiner  Seele,  die 
Glieder  auf  jeglichen  AVink  zu  bewegen,  als  die  Seele  sich  selber  Gehorsam 
leistete,  wo  es  doch  nur  galt,  ihr  vorhandenes  grosses  Wollen  ledig- 
lich im  Willen  selbst  zu  verwirklichen!  Wie  ist  eine  so  ungeheuerhche 
Erscheinung  möglich  und  was  ist  ihr  Grund?  Die  Seele  giobt  dem  Leib  einen  Be- 
fehl, und  er  gehorcht  sogleich ;  die  Seele  giebt  sich  selbst  einen  Befehl  und  stösst 
auf  Widerstand!  Die  Seele  giebt  den  Befehl  zur  Bewegung  der  Hand,  und  die  Aus- 
führung geschieht  mit  solcher  Leichtigkeit,  dass  man  kaum  Befehl  und  Ausführung 
unterscheiden  kann,  und  doch  ist  die  Seele  Seele,  die  Hand  aber  ein  Glied  des 
Leibes.  Die  Seele  giebt  den  Befehl  zu  einem  Willeusact  der  Seele  selbst;  es  ist  ihr 


Der  böse  Wille.   Gott  als  das  Gute  und  als  die  Liebe.  105 

Gewicht  der  Verantwortung  empfand  Augustin  diesen  Zustand; 
sie  wurde  ihm  niemals  durch  die  Betrachtung  gemildert,  dass  der  Wille, 
sofern  er  nicht  zu  Gott  wolle ,  zum  Nichts  wolle,  also  eigentlich  sich  selber 
durch  Eigenwillen  „bis  zu  dem  Punkte  aufhebe,  wo  er  nicht  mehr  ist"  ; 
sie  wurde  ihm  auch  nicht  durch  die  correlate  Erwägung  gemildert,  dass 
der  individuelle  Wille,  von  seinen  Trieben  beherrscht,  der  unfreie 
sei.  Vielmehr  leuchtete  ihm  aus  dem  furchtbaren  Gefühl  der  Verantwor- 
tung Gott  als  das  Gute  und  das  den  Willen  als  Motiv  bestimmende 
eigensüchtige  Triebleben  als  das  Böse  hervor.  Hier  erst  bekam  das 
„summum  bonum"  seinen  tieferen  Sinn  —  es  war  nicht  mehr  bloss  der 
beharrende  Ruhepunkt  für  den  unruhigen  Denker  oder  der  berauschende 
Lebensgenuss  für  den  lebenssüchtigen  Sterblichen:  es  wurde  zum  Aus- 
druck des  Sein- Sollenden  ^,  zum  Ausdruck  dessen,  was  das  beherr- 
schende Grundmotiv  des  Willens  werden  soll,  was  dem  Willen  seine 
Freiheit  und  damit  erst  seine  Kraft  über  der  Sphäre  des  Naturhaften 
verleihen,  was  die  unverwüstliche  Neigung  des  Menschen  zum  Guten 
von  der  misera  necessitas  peccandi  befreien,  also  diese  eingeborene 
Neigung  erst  verwirklichen  soll  —  zum  Ausdruck  des  Guten.  Und  so 
fielen  ihm  vom  Begriff  des  Guten  selbst  alle  Eintragungen  des  Intellects 
und  alle  eudämonistischen  Hüllen  und  Binden  ab.  In  dieser  ihn  über- 
wältigenden Betrachtung  war  es  nichts  Anderes  als  d  er  gute  Wille, 
der  in  das  Leben  aufgenommene  sitthche  Imperativ,  sich  von  eigen- 
süchtiger Lust  zu  lösen.  Aber  gleichzeitig  machte  er  die  Erfahrung,  die 
selbst  er  nicht  zu  analysiren  vermochte  und  die  kein  Denkender  zu  analy- 
siren  sich  unterfangen  wird,  dass  dieses  Gute  ihn  als  Liebe  ergriffen 
und  aus  dem  Jammer  des  monströsen  Widerspruchs  des  Daseins  heraus- 


eigener Befehl,  und  sie  führt  ihn  doch  nicht  aus.  Wie  ist  eine  so  ungeheuerliche 
Erscheinung  möglich  und  was  ist  ihr  Grund?  Die  Seele  giebt,  sage  ich,  den  Befehl 
zu  einem  Willcnsact,  sie,  deren  ganzes  Befehlen  lediglich  in  Wollen  be- 
steht, und  doch  wird  ihr  Befehl  nicht  ausgeführt.  Sednouextotovult;  nou 
ergo  ex  toto  imperat.  Nam  in  tantum  imperat,  in  quantuni  vult,  et  in  tantum 
non  fit  quod  imperat,  in  quantum  non  vult.  Quoniam  voluntas  iinperat  ut  sit  volun- 
tas,  nee  alia  sed  ipsa.  Non  i  taq  u  c  p  lena  imperat,  ideo  non  est  (juod  im- 
perat. Nam  si  plena  esset,  nee  imi)eraret  ut  esset,  <juia  iam  esset. 
Non  igitur  monstrum  partim  volle,  i)artim  noile,  sed  aegritudo  animi  est,  quia  non 
totus  assurgit,  veritate  sublcvatus,  consuetudine  pracgravatus.  Et  ideo  sunt  duae 
voluntates,  «juia  una  earum  tota  non  est,  et  hoc  adest  altei-i  ({uod  dcest  alteri." 

*  „Was  soll  sein?  wie  lässt  sich  das  Innere  nicht  durch  Betrachtung,  sondern 
durch  dieThat  herausstellen?'*  (Sc  i  f)  i  o  ,  Metaphysik  des  Aug.  S.  7).  -—  Diese  Frage 
hat  erst  Augustin  scharf  gestellt.  „Die  Antike  fasste  das  gesammte  Leben  man 
mochte  sagen  in  naiver  Weise  vom  Standpunkt  der  Wissenschaft  auf:  das 
Geistige  erscheint  noch  natürlich  und  die  Tugend  als  Naturkraft." 


106        Die  weltgeschichtliche  Stelhmg-  Aiigustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

gerissen  habe^  Damit  erhielt  der  Gottesbegriff  einen  ganz  neuen  Inhalt : 
das  (Jute,  welehes  das  vermag,  ist  das  Allmächtige.  In 
dem  einen  Act  der  Befreiung  ist  die  Identität  des  allmächtigen  Seins 
und  des  Guten  gegeben:  das  summ  um  ov  ist  das  als  all- 
mächtige Liebe  auf  den  Willen  wirkende  heilige  Gute. 
So  hat  es  Augustin  empfunden,  und  so  hat  er  es  beschrieben.  Ein  Strom 
von  Gottesgedanken  entfesselte  sich  nun  in  ihm,  zum  Theil  die  alten 
Worte,  aber  mit  nun  erst  empfundenem  Inhalt,  wunderbar  verbunden 
mit  dem  Ausdruck  der  philosophischen  G  otteserkenntniss,  aber  sie  be- 
herrschend und  umbildend :  das  sumnuim  esse  ist  der  höchste  Gute ; 
er  ist  P  6  r  s  0  n  ;  der  ontologische  Defect  des  creatürlichen  Seins  wird 
zu  dem  moralischen  Defect  der  Gottlosigkeit  des  Willens;  das  Böse  ist 
hier  wie  dort  das  Negative  -;  aber  dort  ist  es  die  privatio  substantiae, 
hier  ist  es  die  „privatio  boni"  im  Sinne  des  aus  der  Freiheit  stammen- 
den Defectes.  Das  Gute  bleibt  zwar  das  göttliche  Sein  als  Fülle  des 
Lebens  ;  aber  für  den  Menschen  ist  es  beschlossen  in  der  aus  dem 
göttlichen  Sein  und  der  göttlichen  Liebe  fliessenden  „gemeinen  Moral", 
d.  h.  er  vermag  es  sich  nicht  anders  anzueignen  als  in  dem  Willen,  der 

*  Das  freilich  kouutc  von  Augustin  noch  deutlich  gemacht  werden,  warum  die 
Form,  in  der  das  Gute  sich  rettend  der  Seele  bemächtigt,  die  Einflössung  der 
Liebe  sein  müsse.  Solange  die  Seele  mitsammt  ihrem  Willen  einem  Sollen  gegen- 
übersteht und  sich  dieses  Sollen  befiehlt,  hat  sie  sich  das  Gute  noch  nicht  völlig 
angeeignet;  „nam  si  plena  esset,  nee  imperaret  ut  esset,  quia  iam  esset"  (Confess. 
VIII,  21).  Also  dass  sie  sich  das  Sollen  gelten  lässt,  schafft  noch  kein  kräftiges 
Wollen  ex  toto.  Sie  muss  mithin  das  Sollen  so  lieben,  dass  sie  sich  nicht  mehr  zu 
befehlen  braucht;  ja  es  muss  ihre  einzige  Liebe  sein;  dann  erst  ist  sie  plena  in 
voluntate  bona.  Der  „abyssus  corruptionis  uostrae"  wird  erst  wirklich  aus- 
geschöpft, wenn  wir  durch  die  Liebe  totum  illud,  quod  volcbanms',  nolunius  et  totum 
illud,  quod  deus  vult,  volumus  (Confess.  IX,  1). 

^  Confess.  VII,  18 :  „Malum  si  substantia  esset,  bonum  esset.  Aut  enim  esset 
incorruptibilis  substantia,  magnum  utique  bonum ;  aut  substantia  corruptibilis  esset, 
quae  nisi  bona  esset,  corrumpi  non  posset."  Da  aber  das  Böse  somit  stets  an  einer 
guten  Substanz  ist  (genauer:  aus  dem  bösen  Willen  der  guten  Substanz  entspringt), 
so  ist  es  das  schlechthin  Unerklärliche ;  s.  z.  B.  de  civit.  dei  XII,  7 :  „Nemo  igitur 
quaerat  efficientem  causam  malae  voluntatis ;  non  enim  est  efticiens  sed  deficieus 
(d.  h.  das  Streben  zum  Nichts,  zur  Aufhebung  des  Lebens  ist  der  Inhalt  dos  bösen 
Willens),  quia  nee  illa  effectio  sed  defectio.  Deficere  namque  ab  eo,  quod  suninic 
est,  ad  id,  quod  minus  est,  hoc  est  incipere  habere  voluntatem  malam.  Causas  porro 
defectioüum  istarum,  cum  efficientes  non  sint,  ut  dixi,  sed  deficientes,  volle  iuve- 
nire  tale  est,  ac  si  quisquam  velit  viderc  tenebras  vol  audire  silontium,  quod  tamon 
utrumque  nobis  notum  est,  neque  illud  nisi  per  oculos,  neque  hoc  nisi  per  auros,  non 
sane  in  specie,  sed  in  specioi  privatione.  Nemo  ergo  ex  me  scire  quaerat,  quod  mo 
nescire  scio,  nisi  forte  ut  nescire  discat,  quod  sciri  non  posso  sciendum  est.  Ea  quippo 
quae  non  in  specie,  sed  in  eius  privatione  sciuntur,  si  dici  aut  iutellogi  potest,  (\uo- 
dammodo  nesciendo  sciuntur,  ut  sciondo  uesciautur.'* 


Gott  als  das  Gute  und  als  die  Liebe.  107 

mit  Lust  sein  altes  Wesen  fahren  lässt  und  das  liebt,  was  über  allem 
Sinnlichen  und  Eigensüchtigen  ruht.  Nichts  ist  gut  als  ein  guter 
Wille:  diesen  Satz  hat  Augustin  aufs  engste  verknüpft  mit  dem  an- 
deren: nichts  ist  gut  als  Gott,  und  der  Mittelbegriff  wurde  ihm  die 
Liebe.  Denn  das  ist  nun  das  Letzte  und  Höchste  in  seiner  Erkennt- 
niss,  dass  sich  ihm  der  Gedanke  „omnis  substantia  a  deo"  mit  dem  an- 
deren zusammenschliesst  „omne  bonum  a  deo".  Die  Vorstellung  der 
Alleinwirksamkeit  Gottes  gleitet  in  die  andere  über,  dass  Gott,  eben 
als  Gott  und  als  Quelle  alles  Seins,  auch  der  einzige  Urheber  und  die 
einzige  Quelle  des  Guten  ist  in  der  Form  der  sich  mittli eilenden  Liebe  ^ 
Es  ist  für  Gott  ebenso  wesentlich,  dass  er  sich  in  Liebe 
mittheilende  gratia  ist,  wie  dass  er  causa  causatrix  non 
causata  ist.  Anthropologisch  ausgedrückt:  das  Gute  macht  den 
Menschen  nicht  selbständig  Gott  gegenüber  —  dies  war  die  alte  Vor- 
stellung — ,  sondern  in  dem  Guten  kommt  die  immer  bestehende  natür- 
liche Abhängigkeit  alles  Geschaffenen  von  Gott  als  gewollte,  die 
Existenz  des  creatürlichen  Geistes  sicherstellende  Abhängigkeit  zum 
Ausdruck.  Dieser  ist  nur,  sofern  er  sich  selbst  aufgiebt,  lebt  nur,  sofern 
er  stirbt,  ist  nur  frei,  sofern  er  sich  ganz  und  gar  von  Gott  bestimmen 
lässt,  ist  nur  gut,  sofern  er  Gott  will.  Das  sind  die  grossen  Paradoxien, 
die  er  der  „monströsen"  Paradoxie,  von  der  wir  oben  gesprochen,  ent- 
gegensetzt. Aber  nicht  verkennen  lässt  sich  dabei,  dass  die  metaphy- 
sische Grundirung  in  der  ethischen  Betrachtung  überall  noch  durch- 
schimmert-, sie  zeigt  sich  erstens  in  dem  asketischen  Zuge,  der  dem  Be- 
griff des  Guten  trotz  der  einfachen  Fassung  (Freude  an  Gott)  anhaftet, 
zweitens  in  der  Unsicherheit  über  den  Begriff  der  Liebe,  in  den  sich  ein 
intellectuelles  Element  doch  einmischt,  drittens  in  der  Fassung  der  gratia, 
die  nicht  selten  als  die  gleichsam  naturhafte  Seinsweise  Gottes  erscheint. 
Noch  deutlicher  tritt  das  Ineinander  der  metaphysischen  und 
ethischen   Betrachtung,    dieses   wunderbare   Oscilliren,    Zittern   und 


*  Von  der  Liebe  sagt  Augustin  (de  civ.  XI,  28),  dass  man  nicht  nur  ihre  Ob- 
jccte  liebe,  sondern  dass  man  die  Liebe  liel)e.  „Amor  amatur,  et  hinc  probamus, 
quod  in  hominibus,  qui  reetius  amantur,  ipse  magis  amatur."  Diese  Beobachtung 
leitete  ihn  dazu  über,  überall  in  der  Liebe  Gott  zu  scheu.  Wie  in  allem  8ein  Gott 
ist,  so  ist  er  auch  in  der  Liebe ;  ja  dass  er  im  Sein  und  in  der  Liebe  ist,  ist  im  tief- 
sten Grunde  identisch.  Darum  ist  die  Liebe  Anfang,  Mitte  und  Ende.  Sie  ist  das 
letzte  (Jbjcct  des  theologischen  Denkens  und  die  (i rundform  des  geistlichen  wahr- 
haftigen Lebens:  „Caritas  inchoata  itichoata  iustitia  est;  Caritas  provecta  provecta 
iustitia  est;  Caritas  magna  magna  iustitia  est;  Caritas  ]K;riecta  perfecta  iustitia  est" 
(de  uat.  et  grat.  84).  Aber  sofern  im  Leben  überhaui)t  vohmtas  =  Caritas  ist  (de 
trin.XV,  HH:  „(|iiid  est  aliud  Caritas  (jiiam  voluntasV"),  erscheint  hier  wiederum 
der  tiefe  Zusammeniiang  zwischen  Ethik  und  Psychologie. 


108        l^i*'  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Schwiinkeu  der  Einpßiiduiig  und  Contemplation  zwischen  dem  Intellec- 
tiiellen  und  dem,  was  auf  dem  Grunde  der  Seele  lebt  und  erlebt  wird, 
in  der  Anweisung  für  den  Verkehr  mit  Gott  hervor  ^  Einerseits  gilt 
es  Gott  zu  geniessen;  ja  er  ist  die  einzige  „res",  die  genossen  werden 
darf,  die  übrigen  dürfen  nur  gebraucht  werden.  Geniessen  aber  heisst 
„alicui  rei  amore  inhaerere  propter  se  ipsam'".  Gott  soll  stetig  ge- 
nossen werden  —  den  Neuplatonikern  wird  zum  Vorwurf  gemacht,  dass 
sie  es  dazu  nicht  bringen  ^.  Dieses  Geniessen  hängt  mit  dem  Gedanken 
der  „Schönheit"  Gottes  und  wiederum  mit  der  Empfindung  der  Allein- 
heit und  Unaussagbarkeit  Gottes  aufs  engste  zusammen*.  Anderer- 
seits aber  schiebt  Augustin  den  Gedanken,  dass  Gott  substantia  (res) 
ist,  für  den  Lebensverkehr  doch  zurück.   Er  ist  Person,  und  in  dem 

*  Dass  Augustin  überhaupt  im  Stande  gewesen  ist,  die  neuplatonisch-onto- 
logische  Spcculation  mit  den  Ergebnissen  der  inneren  Betrachtung  des  praktischen 
Seelenlebens  zu  verknüpfen,  liegt  neben  Anderem  vornehmlich  darin,  dass  er  sich 
bei  jener  so  völlig  frei  davon  erhalten  hat,  ritualistische  Elemente  aufzunehmen  und 
der  Speculation  Stoff  aus  dem  Kultus  und  der  Religion  zweiter  Ordnung  zuzuführen. 
Mag  ihn  auch  anfänglich  die  Stufe  der  inneren  Eutwickelung  (ausserhalb  der 
Kirche),  auf  der  er  sich  befand,  von  selbst  davor  bewahrt  haben,  jene  giftigen  Stoffe 
aufzunehmen,  so  ist  es  doch  ein  leuchtendes,  bisher  nie  gewürdigtes  Moment  seiner 
Grösse  gewesen,  dass  er  sich  stets  von  der  Kultusmystik  frei  erhalten  hat.  Damit 
hat  er  nicht  nur  seinen  Schülern  in  der  Mystik,  sondern  der  ganzen  abendländischen 
Kirche  einen  unschätzbaren  Dienst  geleistet. 

^  De  doctr.  christ.  I,  3  sq. 

^  S.  Confess.  VIT,  24 :  „et  quaerebam  viam  comparandi  roboris  quod  esset 
idoneum  ad  fruendum  te  etc."  26 :  „certus  (juidem  in  istis  erani,  nimis  tarnen  iufirmus 
ad  fruendum  te." 

^  Augustin  hat  den  alten  platonischen  Satz  von  der  Unmöglichkeit  zu  be- 
stimmen, was  Gott  sei,  häufig  wiederholt,  und  zwar  nicht  immer  mit  dem  Gefühl 
der  Unbefriedigung  darüber,  sondern  als  Ausdruck  der  romantischen  Befriedigung 
(„ineffabilis  simplex  natura";  „facilius  dicimus  quid  non  sit,  quam  quod  sit").  Zur 
relativen  Klärung  der  negativen  Bestimmungen  und  der  Eigenschaften  und  Acci- 
denzen  hat  er  übrigens  viel  beigetragen  und  die  scholastische  Terminologie  ge- 
schaffen ;  s.  bes.  de  trinit.  XV.  Er  ist  der  Vater  der  abendländischen  theologischen 
Dialektik;  aber  auch  der  Entdecker  der  Dialektik  des  frommen  Bewusstseins.  Das 
Interesse,  die  einzelnen  Eigenschaften  Gottes  sämmtlich  als  identisch  zu  fassen,  d.  h. 
das  Interesse  an  der  Einfachheit  Gottes  (Gott  ist  Essenz,  nicht  Substanz ;  denn 
diese  ist  nicht  ohne  Accidens  zu  denken;  s.  de  trin.  VII,  10),  welches  so  weit  geht, 
dass  auch  habere  und  esse  in  Gott  zusammenfallen  soll  (de  civ.  XI,  10:  „ideo  simplex 
dicitur,  quoniam  quod  habet  hoc  est"),  stammt  aus  dem  antimanichäischen  Kampf. 
Um  jede  corruptibilitas  von  Gott  abzuwehren,  wird  jede  Art  von  Zusammensetzung 
geleugnet.  Aber  nun  nmsstc  Augustin  doch  eine  Unterscheidung  in  Gott  machon, 
um  den  göttlichen  Weltplan  von  Gott  vmterscheiden  zu  können  und  nicht  völlig  iu 
den  Pantheismus  zu  gerathen  (dieser  ist  an  vielen  Stellen  in  der  Schrift  de  trinit . 
ausgeprägt,  s.  z.  B.  IV,  o:  „(^uia  unum  verbum  dei  est,  per  quod  facta  sunt  omnia, 
quod  est  incommutabilis  veritas,  ibi  principaUter  atque  incommutabiliter  sunt  oni- 


il 


Gott  als  Person.  109 

„amore  inhaerere"  fällt  der  Nachdruck  dann  auf  den  amor,  der  auf  der 
fides  ruht  und  die  spes  einschhesst.  „Fide,  spe,  caritate  colendum 
deum"  ^  So  mächtig  ist  Augustin  von  der  freilich  niemals  klar  formu- 
lirten  Empfindung  erfüllt,  Gott  sei  Person,  der  man  vertrauen  und 

nia  simul,  et  omnia  vita  sunt  et  omnia  unum  sunt").  Allein,  da  er  immer  wieder 
darauf  zurückkommt,  Sein  und  Weisesein  und  Grutsein  seien  in  Gott  identisch,  so 
erreicht  er  nicht,  was  er  erreichen  will.  Diese  Schwierigkeit  potenzirt  sich  noch 
für  ihn,  wo  er  die  Speculation  über  das  "Wesen  Gottes  mit  der  Speculation  über  die 
Trinität  verbindet  (Dorn er  S.  22  ff.).  Bei  der  Lehre  vom  Weltplan  Gottes  tritt 
die  Schwierigkeit  am  deutlichsten  hervor.  Immer  wieder  droht  die  Welt  in  dem 
Sohne  als  Einheit  zu  versinken  und  ihre  Unterschiedenheit  zu  verlieren  (unrichtig 
ist  es  aber,  umgekehrt  zu  sagen,  die  intelligible  Welt  sei  für  Augustin  mit  dem  Sohn 
identisch,  oder  sei  der  Sohn).  In  der  Lehre  von  der  Schöpfung  setzt  sich  das 
Schwanken  fort.  Aber  Dorner  (S.  40 f.)  ist  im  Unrecht,  wenn  er  sagt:  „Davon  hat 
Augustin  noch  keine  Vorstellung,  dass  der  Begriff  der  Causalität,  klar  gedacht, 
genüge,  um  den  Unterschied  zwischen  Gott  und  der  Welt  zu  begründen."  Davon 
hat  Augustin  allerdings  keine  Vorstellung,  aber  die  Naivetät  liegt  diesmal  nicht  bei 
ihm,  sondern  bei  Dorner.  Der  Begriff  der  Causalität,  „klar  gedacht",  kann  nie- 
mals eine  Unterscheidung  begründen,  sondern  nur  eine  Umformung.  Soll  er  doch 
die  erstere  zum  Ausdruck  bringen,  so  muss  in  die  Ursache  mehr  hineingelegt  werden 
als  in  die  Wirkung,  d.  h,  sie  muss  mit  Eigenschaften  und  Kräften  ausgestattet 
werden,  die  in  das  causatum  nicht  übergehen.  Damit  aber  ist  bereits  ausgedrückt, 
dass  das  Schema  von  Ursache  und  Wirkung  ungeeignet  ist,  die  Unterscheidung  zu 
begründen.  Augustin  hat  freilich  davon  keine  klare  Vorstellung  gehabt;  aber  dass 
es  mit  der  blossen  Causalität  nichts  ist,  hat  er  gefühlt.  Sein  Ausweg  ist  nun  der 
gewesen,  dass  er  das  „nihil"  zu  Hülfe  gerufen,  die  Negation :  Gott  wirkt  im 
Nichts.  Dieses  „Nichts"  ist  die  Ursache  davon,  dass  die  Welt  nicht  eine  reine 
Transformation  oder  Entfaltung  Gottes  ist,  sondern  als  inferiores,  resp,  schillerndes 
Product  erscheint,  welches,  weil  es  divina  operatio  ist,  ist  (aber  ohne  Selbständig- 
keit gegenüber  Gott),  und  welches,  sofern  es  selbständig  ist,  nicht  ist,  sondern 
nur  erscheint,  da  es  seine  Selbständigkeit  an  dem  nihil  hat.  Der  Satz  „mundus  de 
nihilo  a  deo  factus"  —  der  Grundsatz  augustinischer  Kosmologie  —  ist  im  letzten 
Grunde  dualistisch  zu  verstehen  ;  aber  der  Dualismus  ist  dadurch  verdeckt,  dass  das 
zweite  Princip  die  Negation  ist  und  sich  daher  stets  nur  in  dem  Privativen  (der 
Veränderlichkeit,  der  Vergänglichkeit)  offenbart.  Allein  zuletzt  kann  doch  auch 
der  rein  negative  Charakter  des  zweiten  Princips  nicht  rein  festgehalten  werden  (mit 
der  Materie  hat  es  Augustin  allerdings  niemals  identificirt) ;  es  soll  die  absolute 
Ohnmacht  sein,  allein  in  der  Verbindung  mit  der  göttlichen  Wirksamkeit  wird  es 
doch  zum  widerstrebenden  Factor,  und  wie  widerstrebt  es  in  der  Sünde!  Die  für 
Augustin  fatalste  Frage  wäre  also  diese:  „Wer  hat  das  Nichts  geschaffen?" 
In  der  That  scheitert  an  dieser  Frage  dUt  ganze  Construction.  So  absurd  sie  klingt, 
so  berechtigt  ist  sie.  Augustin  kann  die  ne])en  der  operatio  divina  vorhandene 
determinirende  Negation  nicht  erklären;  denn  es  ist  keine  Erklärung,  zu  sagen,  sie 
sei  ja  gar  nicht  vorhanden,  da  sie  lediglich  negative  Wirkungen  habe.  Doch  ist 
überall  die  bald  akosmistisch,  bald  dualistisch  erscheinende  Theorie  bei  Augustin, 
sei  es  durch  den  Ausdruck  weisen  Nichtwissens,  sei  es  durch  den  Glauben  an  Gott 
als  den  Vater,  corrigirt. 
'  Enchirid.  3. 


1 10        Die  weltgfeschiohtliohe  Stellunor  Augustin's  als  Lehror  der  Kirche. 

die  man  lieben  müsse  ^  dass  diese  Gewissheit  sogar  eine  verborgene 
Richtlinie  in  seinen  trinitarischon  Spoculationen  gewesen  ist  '.  Fides, 
sj)es  und  Caritas  haben  dann  aber  mit  dem  „frei"  im  eigentlichen  Sinn 
des  Worts  nichts  mehr  zu  thiin.  Sie  sind  Geschenke  Gottes  und  con- 
stituiren  ein  geistiges  Verhältniss  zu  Gott,  aus  welchem  das  bonum 
velle  und  die  iustitia  entspringt.  Aber  freilicli  -  -  sobald  Augustin  aus 
dem  diesseitigen  Lel)en  in  das  ewige  Leben  blickt,  erscheint  der  Habitus 
des  Glaubens,  der  Liebe  und  der  Hoffnung  doch  wie  ein  Vorläufiges : 
„Cum  autem  initio  fidei  quae  per  dilectionem  operatur  imbuta  mens 
fuerit,  tendit  bene  vivendo  etiam  ad  speciem  pervenire,  ubi  est  sanctis 
et  perfectis  cordibus  nota  ineffabilis  pulchritudo,  cuius  plena 
visio  est  summa  felicitas.  Hoc  est  nimirum  quod  requiris,  „quid 
primum,  quid  ultimum  teneatur",  inchoari  fide,  perfici  specie" 
(Enchir.  5-,  s.  de  doctr.  II,  34  sq.).  So  gewiss  hier  die  neuplatonische 
Stimmung  durchschlägt,  so  gewiss  ist  hier  doch  mehr  als  ein  blosser  „Rest 
der  mystischen  Naturreligion" ;  denn  jenes  Gefühl,  das  „hinauf  und  vor- 
wärts dringt"  aus  dem  Glauben  an  das,  was  man  nicht  schaut,  zu  dem 
Schauen  dessen,  was  man  glaubt,  ist  nicht  nur  der  eingeborene  Keim 
der  Religion,   sondern  auch  iln^e  bleibende  Spannung  ^.    Das  aus  der 

*  8.  Bd.  n  dieses  Lehrbuchs  S.  295  ff.  Ich  gehe  hier  nicht  mehr  auf  die  Tri- 
uitätslehre  ein,  erinnere  aber  daran,  dass  der  Ausdruck  „tres  personae"  dem  Augustin 
sehr  fatal  gewesen  ist,  und  dass  alle  seine  neuen  Bemühungen  um  die  Trinität  von 
der  kosmisch-hyperkosmischen  Pluralität  zu  solchen  Vorstellungen  fühi-en,  nach 
welchen  die  Dreiheit  als  Ausdruck  innerer  geistiger  Selbstbewegung  in  dem  einen 
Gott  aufzufassen  ist. 

^  Hier  sei  die  neuerlich  mehrfach  behandelte  Frage  nach  dem  Primat  des 
Willens  bei  Augustin  kurz  berührt.  Kahl  hat  denselben  behauptet.  Allein  Sieb  eck 
hat  ihn  (a.  a.  0.  S.  183  f.)  mit  Grund  abgelehnt  (s.  auch  meine  Anzeige  des  Kalil- 
schen  Buches  in  der  ThLZ.  1886  Nr.  25),  und  Kalil  selbst  muss  einräumen :  „dass 
auf  der  letzten  Stufe  des  Erkennens  der  neuplatonische  Intellectualismus,  der  das 
Wollen  vor  dem  Denken  verflüelitigt,  die  Consequenzen  des  Standpunkts  Augustin's 
mehrfach  durchbrochen  hat."  Aber  die  letzte  Stufe  entscheidet  eben.  Andererseits 
hat  Kahl  ganz  Recht,  wenn  er  die  Bedeutung  des  Willens  bei  Augustin  so  hoch 
werthet.  Der  Kern  unseres  Wesens  liegt  nach  Augustin  unstreitig  im  Willen;  daher 
—  damit  die  veritas,  das  scire  deum  et  animam,  die  Oberherrschaft  erlangen  und 
gleichsam  die  einzige  Function  des  IVIonschen  werden  könne  —  muss  der  Wille  für 
dieselbe  gewonnen  werden.  Das  geschieht  durch  die  Gnade  Gottes,  welche  die 
Seele  zum  Wollen  und  Lieben  der  geistigen  Wahrheit,  d.  h.  Gottes  führt.  Nun  erst 
ist  die  Möglichkeit  geschaffen,  dass  der  Principat  des  Intellects  eintritt.  Also  ist 
die  Befreiung  des  Willens  schliesslich  die  Ablösung  des  Primats 
des  Willens  durch  den  Primat  des  Intellects  (vgl.  z.  i>.  die  Stelle  Oonfess. 
IX,  24 :  „regio  ubertatis  indeficientis,  ubi  pascis  Israel  in  aeternum  veritatis  pabulo, 
et  ubi  vita  sapientia  est";  aber  für  das  Diesseits  gilt:  „sapientiahomiuis  pietas"); 
über  sofern  der  Primat  des  Intellects  sich  gai*  nicht  behaupten  könnte  oline  ilen 
amor  essendi  et  sciendi,  bleibt  der  AVille  der  Coefticieut  des  Intellects  auch  in  der 


Das  doppelte  Weltbild.   Einfluss  der  Kirchenlehre.  1 1 1 

inneren  Anschauung  und  dem  Gefühl  der  Yerantworthchkeit  entworfene 
Weltbild,  welches  mit  dem  der  kosmologisch  metaphysischen  Speculation 
verknüpft  ist,  führt  aber  schliesslich  zu  einer  ganz  anderen  Stimmung 
als  dieses.  Der  ästhetisch  begründete  Optimismus  verfliegt  vor  dem 
„Monstrum"  der  Menschheit,  die  krank  am  Willen  *,  das,  was  sie  im 
Grunde  will,  nicht  will,  nicht  thut  und  in  den  Abgrund  des  Verderbens 
stürzt.  Es  sind  nur  wenige  Einzelne,  die  sich  von  der  Gnade  retten 
lassen.  Die  Masse  ist  eine  massa  perditionis,  welche  der  Tod  weidet. 
„Vae  tibi  flumen  moris  himiani!  quis  resistet  tibi?  quamdiu  non 
siccaberis  ?  quosque  volves  Evae  fihos  in  mare  magnum  et  formidolosum, 
quod  vix  transeuntqui  hgnum  [ecclesiam]  conscenderint?"-  Das  Elend 
der  Erde  ist  unsäglich ;  w^as  sich  in  ihr  mit  selbständigem  Leben  bewegt, 
ist  sich  selbst  zur  Strafe;  denn  der  ordinator  peccatorum  hat  es  so  ge- 
ordnet, dass  jede  Sünde  ihr  Gericht  in  sich  selbst  trägt,  dass  jeder  un- 
geordnete Geist  sich  selbst  zur  Strafe  ist  ^'. 

Aber  in  das  Gefüge  von  Gedanken,  das  aus  der  Naturspeculation 
und  der  inneren  Erfahrung  sich  dem  frommen  Denker  ergeben  hat 
(natura  und  gratia),  hat  von  Anfang  an  die  geschichtlich-christhche 
Ueberheferung  eingewirkt.  Von  Jugend  auf  christlich-katholisch  erzogen, 


höchsten  Sphäre.  Das  ist  in  Kürze  Augustinus  Ansicht  vom  Verhältniss  des  Willens 
und  des  Tntellects.  Sie  erklärt  es,  dass  schliesslich  im  Mittelalter  die  Rückkehr  zu 
Auoustin  die  volle  Ueberordnung^  des  Willens  ül)er  den  Intellect  herbeigeführt  hat; 
denn  Augustin  hat  es  selbst  so  dargestellt,  dass  kein  innerer  Zustand  und  keine 
Denkthätigkeit  ohne  den  Willen  ist.  Dann  aber  musste  schliesslich  auch  Augustin's 
Meinung,  dass  die  visio  dei  das  höchste  Ziel  sei,  fallen.  Es  musste  ein  Ziel  nach- 
gewiesen werden,  welches  der  sicheren  Beo])achtung  entsj^rach,  dass  der  Mensch 
Wille  sei  (s.  Duns  Scotus). 

*  S.  de  civit.  dei  XIV,  3  sq.;  nicht  der  Lei!)  (die  Sinnlichkeit)  ist  die  letzte 
Ursache  der  Sünde. 

«  Confess.  T,  25. 

^  Wunderbar  contrastirt  bei  Augustin  die  tiefe,  pessimistische  Betrachtung 
der  Welt  mit  der  theoretisch  streng  festgehaltenen  Vorstellung,  dass  AlleS  unter 
der  gleichen  unveränderlichen  Thätigkeit  Gottes  geschieht.  Welch'  eine  Differenz 
zwischen  dem  Ansatz  des  Exempfls  und  drrn  Ergebnis«!  Und  um  diese  Differenz 
auszugleiclHin,  verweist  uns  der  Mf^taphysiker  auf  das  —  Nichts!  So  sicher  wird 
der  Weltlauf  als  im  Ganzen  und  im  Einzelnen  von  (lott  causirt  angesehen,  ja  in  die 
llnverändorlichkeit  Gottes  selbst  gleichsam  hineingenommen,  dass  selbst  das 
Wunder  nur  als  ein  Ereigniss  wider  die  uns  bekannte  Natur  aufgefasst  wird  (Genes, 
ad  lit.  VI,  13;  vgl,  de  civ.  X,12;  XXT,  1 — 8;  Nichts  geschieht  contra  naturani;  die 
Welt  selbst  ist  das  grösste,  ja  das  einzige  Wunder;  s.  Nitzsch,  Aug. 's  Lehre  v. 
Wunder  1805;  Dorn  er  S.  71  f.),  und  dennoch  gestaltet  sich  Alles  zu  einer  grossen 
Tragödie!  In  dem  Nichts  steckt  doch  noch  ein  Stück  Manichäisnnjs  bei  Augustin; 
aber  in  seiner  lebendigen  W(!lLlietrachtung  ist  es  nicht  das  „Nichts",  welches  eine 
Rolle  spielt,  sondern  die  Sünde  der  bösen  Lust,  dos  Eigenwillens. 


112        r)ie  vvoltgeschinhtliche  Stellunpf  Augfustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

hat  er  selbst  bekannt,  dass  ilm  niemals  irgend  etwas  befriedigt  habe, 
was  nicht  den  Namen  Christi  trug  ^  AVie  ein  rother  Faden  zieht  sich 
durch  die  Schilderung  seiner  Wanderjahre  in  der  Irre  das  Band,  wel- 
ches ihn  mit  Christus  verbindet.  Mit  unübertrefflicher  Peinlieit  hat  er 
ohne  viele  Worte,  ja  in  keuscher  Zurückhaltung,  in  den  Oonfessionen 
an  das  nie  in  ihm  erloscliene  Verhiiltniss  /u  Christus  erinnert,  bis  er  es 
in  VI  r,  24  f.  kräftig  markiren  darf.  Man  kann  nicht  zweifeln,  dass  auch 
seine  scheinbar  gegen  die  cliristlich-kirchliche  üeberheferung  indifti- 
renten  Ausführungen  über  den  persönlichen  lebendigen  Gott,  über  die 
Unterscheidung  von  Gott  und  Welt,  über  Gott  als  den  Schöpfer,  über 
die  Gnade  als  das  allmächtige  Princip  doch  schon  von  jener  Ueber- 
lieferung  bestimmt  sind,  und  man  muss  daran  erinnern,  dass  seine 
intensive  Beschäftigung  mit  Paulus  und  den  Psalmen  sofort  begonnen 
hat,  nachdem  er  mit  dem  Manichäismus  gebrochen  hatte  und  durch  den 
Neuplatonismus  über  Gott  als  spiritalis  substantia  sicher  geworden 
war.  Audi  die  scheinbar  rein  philosophischen  Ausführungen  in  den 
ältesten  Schriften  sind  schon  von  der  christliclien  Gewissheit  beherrscht, 
dass  Gott,  die  Welt  und  das  Ich  zu  unterscheiden  sind,  und  dass 
innerhalb  der  mystischen  Speculation  für  diese  Unterscheidung  Raum 
zu  schaffen  ist.  Ferner  sind  alle  Ansätze,  das  eiserne  Schema  der  Un- 
veränderliclikeit  Gottes  (in  seiner  Weltwirksamkeit)  zu  durchbrechen, 
aus  dem  Eindruck,  den  die  christHche  Geschichte  auf  Augustin  ge- 
macht, zu  erklären. 

Indessen  kann  es  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  zu  zeigen,  wie 
allmählich  Christus  und  die  Kirche  eine  feste,  fundamentale  Stellung  in 
seiner  Denkweise  erhalten  haben.  Was  er  dem  Laurentius  im  Enchi- 
ridion  (5)  geantwortet  hat:  „certum  propriumque  fidei  catholicae  funda- 
mentum  Christus  est",  das  hätte  er  schon  viele  Jahre  früher  ebenso  ge- 
sagt, ja  schon  um  387,  wenn  auch  seine  Vorstellungen  von  Christus 
damals  noch  unsichere  waren  ^.  Christus,  der  Weg,  die  K r  af t 
und  die  Autorität:  darin  legte  sich  ihm  die  Bedeutung  Christi  aus- 
einander. Es  ist  sehr  beachtenswerth,  dass  er  in  den  Confessionen 
VII,  24  sq.  und  sonst,  wo  er  die  christliche  Religion  in  die  Frage  nach 
den  ersten  und  letzten  Dingen  hineinzieht,  nicht  allgemeine  Theorien  über 
die  Offenbarung  bringt,  sondern  sofort  Christus  und  die  Kirche  in  den 
Mittelpunkt  rückt -^    Die  beiden   entscheidenden  Sätze,  auf  die  es  ihm 


iConfess.  ni,  8;  V,  25;  etc. 

'■*  S.  die  Geständnisse  Confess.  VIT,  25. 

*  Natürlich  fehlen  bei  ihm  allgemeine  Untersuchungen  über  das  Wesen  der 
Offenbarung  überhaupt,  über  ihr  Verhältniss  zur  ratio,  über  die  Stufen  der  Often- 
barung  (Sündenstrafe,  Gesetz,  Prophetie)  u.  s.  w.  nicht,  aber  sie  hängen  nii'ht  fest 


Die  Bedeutung  Christi.  113 

ankommt,  sind :  nur  die  katholische  Kirche  versetzt  in  die  Gemeinschaft 
mit  Christus,  und  nur  durch  die  Gemeinschaft  mit  Christus  haben  wir 


mit  seiner  Dogmatik  zusammen;  sie  sind  abhängig  von  den  Anlässen,  die  sie  her- 
vorgerufen, und  sie  sind  nicht  klar  durchdacht.  Immerhin  finden  sich  aber  in  ihnen 
so  viele  Elemente,  die  sie  mit  den  griechischen  Speculationen  verknüpfen,  und 
wiederum  andere,  welche  in  späterer  Zeit  (s.  Abälard)  kräftig  gewirkt  haben,  dass 
ein  paar  Andeutungen  nöthig  sind  (vgl.  Schmidt,  Origenes  u.  Aug.  als  Apologeten 
i.  d.  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  Vni;  Böhringer,  S.  204  ff.  Reuter,  S.  90  f. 
350  fi\  460).  AVie  überall,  so  bewegt  sich  auch  hier  Augustin  in  einem  Problem, 
dessen  Factoren  letztlich  einen  Ausgleich  nicht  dulden.  Einerseits  hat  er  die  Hoch- 
schätzung der  ratio,  der  selbständigen  Erkenntniss,  in  welcher  Sein  und  Leben 
eingeschlossen  sind,  nie  aufgegeben.  Ursprünglich  (erste  Periode  nach  386)  hat  er, 
obgleich  er  schon  die  Bedeutung  der  auctoritas  eingesehen  hatte,  der  ratio  wie  Ori- 
genes das  Ziel  gesteckt,  die  auctoritas  zu  überwinden,  die  nur  zeitlich  vorangehen 
muss  (de  ord.  IT,  26.  27).  „Die  ratio  ist  ihm  das  Organ,  in  dem  sich  Gott  dem  Men- 
schen offenbart  und  in  dem  der  Mensch  Gott  vernimmt."  In  der  Folgezeit  ist 
dieser  Gedanke  nie  aufgegeben  worden-,  aber  er  ist  limitirt,  und  zwar  durch 
die  Unterscheidung  der  subjectiven  und  objectiven  Vernunft,  durch  die  steigende 
Erkenntniss,  wie  stark  die  menschliche  Vernunft  durch  den  Willen  bestimmt  sei, 
durch  die  Annahme,  eine  Folge  der  Erbsünde  sei  die  ignorantia,  endlich  durch  die 
Einsicht,  dass  das  Wissen  vom  Glauben  stets  hienieden  ein  unsicheres  sein  werde, 
dass  aber  die  Seele  nach  dem  eigentlichen  Wissen,  d.  h.  nach  dem  absoluten  und 
absolut  sicheren,  verlangt.  Nur  die  letztere  Erkenntniss  hebt  die  ratio  als  Organ 
der  Gotteserkenntniss,  als  die  Führerin  zur  vita  beata,  auf;  die  anderen  Limitationen 
sind  eben  nur  Limitationen.  Und  wie  fest  trotz  derselben  in  Augustin  zu  allen 
Zeiten  die  Schätzung  der  ratio  gestanden  hat,  das  beweisen  jene  frappirenden 
Ausführungen,  die  sich  in  den  frühesten  und  spätesten  Schriften  finden,  über  die 
christliche  Religion  als  die  Enthüllung  der  einen  wahren  Religion, 
d  i  e  i  m  m  e  r  b  e  s  t  a  n  d  e  n  h  a  t.  Ist  doch  das  ganze  Werk  de  civitate  dei  auf  diesen 
Gedanken  aufgebaut  (die  Erscheinung  Cliristi  schafft  nicht  erst  die  civitas  dei),  der 
freilich  noch  neben  dem  Rationalismus  zwei  weitere  Wurzeln  hat,  nämlich  die  Vor- 
stellung von  der  schlechthinigen  Unveränderlichkeit  Gottes  und  die  Absicht,  das 
Christenthum  und  seinen  Gott  gegenüber  den  neuplatonisclien  und  heidnischen  An- 
griffen zu  vertheidigen  (die  zwei  ersten  Wurzeln  g(;hen  schliesslich  auf  eine  einzige 
zurück,  wie  leicht  zu  zeigen.  Ganz  anderer  Art  ist  der  apologetische  Gedanke. 
Das  Christenthum  soll  so  alt  als  die  Welt  sein,  damit  der  Vorwurf,  es  sei  spät  ge- 
kommen, dahinfalle.  Hier  wird  der  ganz  disparate  Gedanke  eingemischt,  die  vor- 
christlichen Christen  hätten  an  die  zukünftige  Erscheinung  Christi  geglau])t.  Reuter 
hat  in  zutreffr-nder  Weise  S.  90  ff.  dargekigt,  wie  gerade  auch  die  ])articularistische 
Prädestinationslehre  an  der  humanistisch-universalistischen  Conception  betheiligt 
ist;  er  hat  ausserdem  in  höchst  dankenswerther  Weise  die  zahlreichen  Stellen  zu- 
sammengetragen, in  denen  j('ne  Conce))tion  ausgc^führt  ist):  auch  vor  der  Erschei- 
nung Christi  war  die  civitas  dei  vorhanden;  zu  ihr  gehilrten  Heiden  und  Juden; 
das  Christenthum  ist  so  alt  als  die  Welt;  es  ist  die  natürliche  Religion,  welche  von 
Anfang  an  unter  verschiedenen  Formen  und  Namen  existirt  hat;  durch  Christus 
erhielt  sie  den  Namen  christliche  Religion;  „res  ipsa  (|uae  nunc  Christiana  religio 
nuncupatur,  ('.rat  aj)ud  anticiuos,  nee  defuit  ab  initio  generis  humani,  quousque  ipse 
Christus  venit  in  carne,  unde  vera  religio,  quae  iam  erat,  coepit  api)ellari  Christiana" 
Harnack,  Dogmongeschichte  in.  o 


114        r)ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Theil  an  der  gratia  Gottes,  d.h.  die  speculative  Vorstellung  von 
der  Idee  des  Guten   und   seiner  realen   Wirksamkeit  als 


(Retraet.  I,  12,  3);  s.  bes.  ep.  102  und  de  civit.  XVIII,  47,  wo  der  disparate  Ge- 
danke eingeflüchten  ist,  den  Heiden,  die  zum  himmlischen  Jerusalem  in  ältester  Zeit 
gehört  haben,  sei  der  unus  niediator  oflenbart  gewesen.  Letzteres  ist  aber  keines- 
wegs überall  eingeÜochten ;  vielmehr  ist  bis  zum  Ende  seines  Lebens  in  Augustin 
trotz  und  wegen  seiner  Lehre  von  der  particularen  prädestinatianischen  Gnade  die 
Unterströmung  geblieben,  dass  er,  Gott  und  freie  Erkenntniss  zusammenordnend, 
hinter  dem  Kirchensystem  eine  freie  Wissenschaft  anerkannt  und  demgemäss  auch 
Gott  und  Welt  als  die  ruhenden  Objecto  der  Erkenntniss  gefasst  hat.  Hierbei 
verschwindet  ihm  aber  —  wie  dem  Origenes  —  sofort  Christus.  Der  letzte  Grund 
dafür  liegt  darin ,  dass  Augustin  bei  allem  Fortschritt  in  der  Erkenntniss  d  e  n 
Fortschritt  zur  Geschichte  doch  nicht  gemacht  hat.  Der  grosse 
Psychologe  ist  noch  blind  dafür  gewesen,  was  geschichtliche  Entwickelung  ist,  was 
die  Person  in  der  Geschichte  leistet,  und  was  die  Geschichte  der  Menscliheit  ge- 
leistet hat.  Er  hat  nur  zwei  Methoden  der  Betrachtung  zur  Hand  —  entweder  my- 
thologische Geschichtsbetrachtung  oder  rationalistische  Neutralisirung.  Derselbe 
Mann,  der  es  so  klar  empfunden  und  so  hinreissend  bezeugt  hat,  dass  in  der  Um- 
stimmung  des  Willens  die  Befreiung  liegt,  wenn  er  eine  Kraft  empfängt,  die  ihn 
ans  Gute  bindet,  ist  doch  als  Denker  nicht  im  Stande  gewesen,  die  Consequenzen 
dieser  Erfahrung  klar  zu  ziehen.  Aber  die  sollen  ihn  nicht  schelten,  die  sich  von 
der  Llusion  nicht  zu  befreien  vermooren,  als  müsse  dem  Menschen  irgfendwie  ein 
absolutes  AVissen  mögHch  sein;  denn  das  Trachten  nach  solchem  Wissen  ist  die 
letzte  Ursache  des  Unvermögens,  die  Geschichte  als  Geschichte  zu  verstehen.  Wer 
nur  in  einem  absoluten  Wissen  selig  ist,  der  wdrd  entweder  blind  gegen  die  Ge- 
schichte oder  sie  wird  ihm  zum  Haupt  der  Meduse.  Doch  der  Rationalismus  ist 
nur  die  Unterströmung,  die  freilich  hie  und  da  mit  Macht  an  die  Oberfläche  dringt. 
Sicherer  und  stetiger  hat  Augustin  seinen  Hunger  nach  dem  Absoluten,  den  er  von 
dem  Trachten  nach  Kraft  und  Stärke  (Gott  und  das  Gute)  nicht  zu  unterscheiden 
vermochte,  an  der  Offenbarung  gestillt.  Es  sind  dieselben  Gefühle,  die  auch  Faust 
bewegt  haben:  „Wir  sehnen  uns  nach  Offenbarung."  Hier  ist  es  nun  sehr  charak- 
teristisch, dass  Augustin  in  Bezug  auf  den  Offenbarungsbegrifi'  nichts  deutlicher 
durchgeführt  hat  als  den  Gedanken,  dass  die  Offenbarung  unbedingte  Autorität 
sei.  Wie  er  ihre  Nothwendigkeit,  ihr  Wesen  u.  s.  w.  sonst  beurtheilt,  kann  man  bei 
Seite  lassen.  Das  Entscheidende  ist  für  ihn,  dass  die  Offenbarung  sich  nicht 
bloss  durch  ihren  inneren  Gehalt  empfiehlt.  Also  die  äussere  Beglau- 
bigung ist  die  Hauptsache.  Augustin  hat  diese  (namentlich  im  Werk  de  civit.)  viel 
sorgfältiger  und  vielseitiger  erörtert  als  die  früheren  Apologeten,  um  das  Recht  der 
Forderung  zu  begründen,  dass  man  sich  dem  Inhalt  der  Offenbarung  ein- 
fach unterwerfe.  Auctoritas  und  fides  gehören  zusammen;  ja  sie  stehen  in  einem 
nahezu  ausschliesslichen  Verhältniss  (s.  de  util.  cred.  25  sq.).  Freilich  finden 
sich  zu  allen  Zeiten  bei  Augustin  Ausführungen  darüber,  dass  die  Autorität  die 
Milchspeise  ist,  und  dass  andererseits  die  Forderung  des  Autoritätsglaubens  in  reli- 
giösen Dingen  nichts  Aussergewöhnliches  ist,  vielmehr  alle  Lebensverhältnisse 
tieferer  Art  auf  diesem  Glauben  beruhen.  Aber  das  sind  Alles  nur  Beschwichti- 
gungen. Der  Mensch  braucht  die  Autorität  als  Zucht  des  Geistes  uml 
als  Untergrund  der  von  anderswo  nicht  zu  erbringenden  Gewissheit. 
Das  ist  Augustin  besonders  gegenüber  den  Häretikern  (INraniohäern)  klar  oeworden. 


Die  Bedeutung  Christi.  115 

Liebe  wird  ihm  erst  gewiss  durch  die  autoritative  Ver- 
kündigung der  Kirche  und  durch  die  Anschauung  Christi. 
Durch  die  Anschauung  Christi.  Hier  tritt  ein  neues  Element 
ein.  Augustin  bezeugt  unzähHge  Male  das  alte  abendländische  Schema 
von  der  utraque  natura,  dem  verbum  et  homo  una  persona  (die  seltenen, 
ungenauen  Ausdrücke  „permixtio"  „mixtura"  z.  B.  ep.  137,  11.  12 
dürfen  unbeachtet  bleiben),  der  forma  dei  und  forma  servi,  und  er  hat 
viel  dazu  beigetragen,  dieses  Schema  mit  seiner  reinlichen  Yertheilung 
dessen,  was  der  Mensch  und  was  der  Grott  gethan  hat,  im  Abendland 
zu  bekräftigen.  Allein  schon  die  ungewöhnHche  Energie,  mit  der  er 
den  Apolhnarismus  ablehnt  (von  den  ältesten  Schriften  an  bis  zu  den 


Die  Heiden  vermochte  er  bis  zu  einem  gewissen  Grade  aus  der  Vernunft  zu  wider- 
legen, die  Häretiker  nicht.  Aber  auch  abgesehen  davon  —  da  sich  ihm  die  Kraft, 
die  den  Willen  an  Gott  bindet,  als  die  felsenfeste  Ueberzeugung  von  dem  darstellte, 
was  man  nicht  sieht,  so  war  es  ihm  gewiss,  dass  auch  der  „Starke"  ohne  den  Glau- 
ben an  die  Autorität  nicht  auskomme.  Der  Stufengang  vom  Glauben  zum  Wissen, 
den  er  wohl  kennt  („Jeder,  welcher  erkennt,  glaubt  auch,  wiewohl  nicht  Jeder, 
welcher  glaubt,  erkennt"),  ist  doch  ein  Stufengang,  bei  welchem  der  Glaube  stets 
mitschreitet.  Das  „fides  praecedit  rationem",  welches  er  so  oft  variirt  hat  (s.  z.  B. 
ep.  120,  2  sq.:  „fides  praecedit  rationem"  oder  paradox:  „rationabiliter  visum  est, 
ut  fides  praecedat  rationem"),  bedeutet  keine  Aufhebung  der  fides  auf  den  späteren 
Stufen,  oder  vielmehr  —  hier  gilt  das  Sic  et  Non!  —  Augustin  ist  sich  über  das 
Verhältniss  von  Glauben  und  Wissen  nie  klar  geworden ;  er  hat  dieses  Problem  der 
Zukunft  übergeben.  Er  traute  einerseits  der  ratio ;  aber  andererseits  traute  er  ihr 
nicht,  sondern  nur  Gott  und  seinem  in  der  Erfahrung  waltenden  Genius.  Die  Glau- 
bensautorität war  ihm  in  der  Schrift  und  in  der  Kirche  gegeben.  Aber  auch 
hier  hat  er  nur  die  Stimmung  des  Gehorsams  festgehalten  und  überliefert,  wäh- 
rend seine  theoretischen  Ausführungen  mit  lauter  Widersprüchen  und  Unsicher- 
heiten behaftet  sind;  denn  weder  hat  er  die  Sufficienz,  Infallibilität  und  Indepen- 
denz  der  Schrift  durchgeführt,  noch  hat  er  die  Infallibilität  der  Kirche  nachgewiesen, 
noch  hat  er  das  Verhältniss  von  Schrift  und  Kirche  bestimmt  —  bald  ist  die  Schrift 
eine  Instanz,  welche  ihre  Autorität  an  der  Kirche  hat,  l)ald  soll  die  Kirchenlehre 
und  alle  consuetudo  an  der  Schrift  gemessen  werden  (die  Schrift  ist  die  einzige 
Quelle  der  doctrina  christiana),  bald  gelten  Kirche  und  Schrift  als  eine  Einheit: 
an  der  einen  Stelle  scheint  die  Kirche  im  Concil  ihren  sicheren  Ausdruck  zu  finden, 
an  der  anfleren  wird  die  Pcrfectibilität  auch  der  Concilien  behauptet.  „Die  Idee  der 
Ir]rallil>ihtät  der  Kirche  gehört  zu  Augustin's  vulgär-katholischen,  in  seinem  katho- 
lischen Glauben  wurzelnden  Grundvoraussetzungen.  Sie  ist  von  ihm  nirgends  un- 
mittelbar, nirgends  ausdrücklich  dargelegt,  dogmatisch  erörtert.  Darum  konnte  er 
niclit  das  Bedürfnis«  haben,  über  die  legitime  Form  der  allerhöchsten  Repräsen- 
tation der  (der  Voraussetzung  nach)  infalliblen  Kirche  eine  erschöpfende,  präcise 
Doctrin  auseinanderzusetzen.  Die  Unsicherheit  und  Unklarheit  hier  haben  vielleicht 
(vielmehr:  unstreitig)  ihre  Wurzeln  in  den  Schwankungen  seines  Denkens  über 
Autorität  und  Vernunft,  Glauljen  und  Wissen"  (s.  Reuter,  S.  345 — 358;  Böh- 
r  i  n  g  e  r  S.  2 1 7     250 ;  D  o  )•  n  e  r  S.  233-244 ;  ferner  oben  S.  «8,  S.  70  ff.  u.  Bd.  TT 

S.  84  fr.j. 

8* 


1 1  f)        Die  vveltgcschichtlicho  Stellung  AujOfustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

spätesten),  zeigt,  dass  sein  liöchstes  Interesse  der  mensch- 
lichen Seele  Jesu  gehört.  Die  Stellen,  an  denen  er  das  Bekennt- 
niss :  „das  AVort  ward  Fleisch",  so  versteht  wie  (Jyrill,  sind  höchst  selten, 
und  die  Lehre  von  der  Vergottung  der  allgemeinen  Menschennatur 
durch  die  fncarnation  hat  an  ihm  keinen  oder  doch  nur  einen  höchst 
unsicheren  Vertreter  (einschlagende  Stellen  fehlen  nicht  ganz,  sind  aber 
sehr  selten).  Vielmehr  deutet  er  die  Incarnation  des  verbum  nach 
einer  anderen  Richtung  und  beschreibt  sie  demgemäss  ganz  anders  als 
die  Griechen  (doch  berührt  er  sich  mit  Origenes).  Ausgehend  von  der 
ihm  feststehenden  speculativen  Erwägung,  dass  immer  die  ganze  Trini- 
tät  wirkt,  und  dass  ihr  Wirken  ein  schlechthin  unveränderliches  ist,  ist 
ihm  auch  die  Incarnation  ein  "Werk  der  ganzen  Trinität.  Diese  hat  die 
Erscheinung  bewirkt,  welche  den  Sohn  bedeuten  soll  (de  trin.  an  vielen 
Stellen).  Das  verbum  steht  im  Grunde  zum  Sohn  in  keiner  näheren 
Beziehung  als  die  ganze  Trinität.  Aber  da  diese  auf  Jesus  nicht  an- 
ders einwirken  kann,  als  sie  immer  wirkt,  so  ist  die  Einzigkeit  und 
Kraft  der  Person  Jesu  Christi  aus  der  Empfänglichkeit 
abzuleiten,  die  der  Mensch  Jesus  der  operatio  divina  ent- 
gegengebracht hat,  mit  anderen  Worten:  von  der  menschlichen 
Person  (Seele)  aus  construirt  Augustin  den  Gottmenschen.  Die  mensch- 
liche Person  hat  das  verbum  in  ihren  Geist  aufgenommen;  die  mensch- 
liche Seele  ist,  weil  medians,  auch  das  Centrum  des  Gottmenschen. 
Also  ist  das  Verbum  nicht  Fleisch  geworden,  so  dass  in  irgend  einem 
Sinn  eine  Wandelung  eingetreten  wäre,  sondern  in  den  Menschengeist 
Jesu  hat  die  divina  operatio  trinitatis  so  einwirken  können,  dass  das 
verbum  in  ihm  dauernd  gehaftet  und  sich  mit  ihm  zu  einer  Person  ver- 
bunden hat  K  Diese  Empfänglichkeit  Jesu  ist  wie  alle  Empfanghchkeit 
durch  die  Gnadenwahl  bestimmt  gewesen ;  sie  ist  munus  dei,  unbegreif- 
liche Gnadenthat  Gottes ;  ja  es  ist  dieselbe  Gnade  Gottes,  die  den  Men- 
schen Jesus  zur  Einheit  der  Person  mit  dem  verbum  geführt  und  sünd- 
los gemacht  hat,  welche  uns  die  Sünden  vergiebt.  Die  Incarnation 
erscheint  so  lediglich  als  eine  Parallele  zu  der  gratia,  die  uns  ex 
nolentibus  zu  volentes  macht  und  von  jeder  geschichtlichen  Thatsache 
unabhängig  ist '-. 


*  Das  oftmals  von  Augustin  gebrauchte  Bikl,  das  verl)uni  habe  sich  so  mit 
dem  Menschen  Jesus  verbunden,  wie  in  uns  die  Seele  mit  dem  Körper  verbunden 
ist,  ist  ganz  ungeschickt.  Augustin  hat  es  aus  dem  Alterthum  iiliernonnnen,  oliiu» 
sich  klar  zu  machen,  dass  es  im  Grunde  mit  seiner  eigenen  AutVassuug  streitet, 

-  Enchir.  36:  „Hie  omnino  granditer  et  evidenter  dei  gratia  connnendatur. 
Quid  enim  natura  humana  in  homiue  Christi  meruit,  ut  in  unitatem  personae  uuici 
filii  dei  singulariter  esset  assumpta?   Quae  bona  voluntas,  cuius  boui  propositi  stu- 


Die  Ohristologie.  117 

Aber  so  ist  es  doch  nicht  gemeint.  Tritt  freilich  auch  hier  wieder 
hervor,  dass  im  letzten  Grunde  der  Gedanke  der  pradestinatianischen 
Gnade  dem  Gedanken  der  Gnade  Gottes  in  Christo  übergeordnet  und 
von  ihm  unabhängig  ist  \  so  hat  Augustin  doch  keineswegs  sich  immer 
in  der  Vorstellung  „des  letzten  Grundes"  bewegt.  Vielmehr  kommt 
uns  die  Incarnation  zu  gut;  das  uns  gespendete  Heil  ist  für  uns  „qui 
sumus  membra  eins"  '*,  von  ihr  abhängig.   Aber  inwiefern?   Wo  Augu- 

dium,  quae  bona  opera  praecesserunt,  quibus  mereretur  iste  homo  una  fieri  persona 
cum  deo  ?  Numquid  antea  fuit  homo,  et  hoc  ei  singulare  beneficium  praestitum  est, 
cum  singulariter  promereretur  deum?  Nempe  ex  quo  homo  esse  coepit,  non  aliud 
coepit  esse  homo  quam  dei  filius:  et  hoc  unicus,  et  propter  deum  verbum,  quod 
illo  suscepto  caro  factum  est,  utique  deus  .  .  .  Unde  naturae  humanae  tanta  gloria, 
nullis  praecedentibus  meritis  sine  dubitatione  gratuita,  nisi  quia  magna  hie  et  sola 
dei  gratia  fideliter  et  sobrie  considerantibus  evidenter  ostenditur,  ut  intellegant 
homines  per  eandem  gratiam  se  iustificari  apeccatis,  per  quam  fac- 
tum est  ut  homo  Christus  nullum  habere  posset  peccatum?"  40:  „Natus 
Christus  insinuat  nobis  gratiam  dei,  qua  homo  nullis  praecedentibus  meritis  in  ipso 
exordio  naturae  suae  quo  esse  coepit,  verbo  deo  copularetur  in  tantam  personae  uni- 
tatem,  ut  idem  ipse  esset  filius  dei  qui  filius  hominis  etc."  De  dono  persev.  67.  Op.  im- 
perf.  I,  138:  „Qua  gratia  homo  Jesus  ab  initio  factus  est  bonus,  eadem  gratia  ho- 
mines qui  sunt  membra  cius  ex  malis  fiunt  boni."  De  praedest.  30:  „Est  etiam 
praeclarissimum  lumen  praedestinationis  et  gratiae  ipse  salvator,  ipse  mediator  dei 
et  hominum  homo  Christus  Jesus,  qui  ut  hoc  esset,  quibus  tandem  suis  vel  operum 
vel  fidei  praecedentibus  meritis  natura  humana  quae  in  illo  est  comparavit?  . . .  Sin- 
gulariter nostra  natura  in  Jesu  nullis  suis  praecedentibus  meritis  accepit  admiranda 
(seil,  die  Verbindung  mit  der  Gottheit).  Respondeat  hie  homo  deo,  si  audet,  et 
dicat:  Cur  non  et  ego?  Et  si  audierit:  0  homo,  tu  quis  es  qui  respondeas  deo  etc." 
De  corrept.  et  grat.  30 :  „Deus  naturani  nostram  id  est  animam  rationalem  carnem- 
que  hominis  Christi  suscepit,  susceptioue  singulariter  mirabili  vel  mirabiliter  singu- 
lari,  ut  nullis  iustitiae  suae  praecedentibus  meritis  filius  dei  sie  esset  ab  initio  quo 
esse  homo  coepisset,  ut  ipse  et  verbum,  quod  sine  initio  est,  una  persona  esset."  De 
pecc.  mer.  II,  27.  Confess.  VII,  25  sagt  Augustin:  „Ego  autem  aliquanto  posterius 
didicisse  rne  fateor,  in  eo  quod  verbum  caro  factum  est,  (piomodo  catholica  veritas 
a  Photini  falsitate  dirimatur."  Unsere  obige  Darstellung  wird  aber  gezeigt  haben, 
dass  er  es  nie  ganz  gelernt  hat.  Seine  Christologie  hat  zu  allen  Zeiten  einen  tiefen 
Zug  der  Verwandtschaft  mit  der  PauKs  von  Samosata  und  Photin's  behalten  (nur 
alles  Verdienst  des  Menschen  Jesus  ist  ausgeschlossen),  weil  er  wusste,  dass  sein 
Glaube  den  Menschen  Jesus  nicht  missen  konnte,  und  weil  er  die  pseudotheologischc 
Speculatiou  über  das  verbum  durch  die  evangelische  bei  sich  verdrängt  hat,  das 
verbum  sei  der  Inhalt  der  Seele  Christi  geworden. 

*  Daher  auch  schon  bei  Augustin  die  Unsicherheit,  ob  die  Incarnation  noth- 
wcndig  gewesen  sei.  De  frinit.  XIII,  13  beantwortet  er  die  vcrhängnissvolle  Frage, 
ob  für  Gott  nicht  ein  anderer  Weg  möglich  gewesen  sei,  so,  dass  er  diese  Möglich- 
keit offen  lässt,  den  gewählten  Weg  aber  als  bonus,  divinae  dignitati  congruus  und 
convenicntior  Ijezeichnet.  Damit  hat  er  dem  Mittelalter  eine  gctährliche  Perspective 
eröffnet. 

'"^  Op.  iinperf.  1.  c. 


118        Diö  weltgeschichtlicho  Stellung  Augnstin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

stin  als  Kirchenniann  spricht,  denkt  er  an  die  Sacramente,  die  Kräfte 
des  Glaubens,  der  Sündenvergebung  und  der  Liebe,  welche  die  der 
Kirche  übergebene  Hinterlassenschaft  des  Gottmenschen  sind  (siehe 
unten).  Allein  wo  er  die  lebendige  christhche  Frömmigkeit  aussagt,  die 
ihn  trägt,  da  hat  er  drei  ganz  bestimmte  Anschauungen,  an  denen 
er  es  sich  klar  macht,  dass  Christus,  der  Gottmensch,  der  Fels  seines 
Glaubens  ist  ^  Die  Incarnation  ist  der  grosse  Liebesbeweis  Gottes 
gegen  uns'^;  die  hier  bewährte  Demuth  Gottes  und  Christi  bricht  un- 
seren Stolz  und  lehrt  uns,  dass  „omne  bonum  in  humilitate  perficitur"; 
in  Christus  ist  die  ewige  AVahrli ei t  uns  fassbar:  im  Staube  Hegend  kön- 
nen wir  den  Gott  ergreifen,  der  uns  dadurch  erlöst,  dass  er  sich  in 
unserer  Niedrigkeit  offenbart. 

Hier  ist  es  überall  der  lebendige  Eindruck  der  Person  Christi  * 
selbst,  und  zwar  tritt  als  das  Deutlichste  und  Wichtigste  an  ihr 
hervor,    was  auch  Paulus  so  wichtig  gewesen  ist    —    die  Demuth*. 


*  Die  Vorstellung,  Christus  sei  nur  der  Lehrer,  die  er  vor  seiner  Bekehrung 
gehegt,  weist  er  bestimmt  zurück;  s.  z.  B.  Confess.  VII,  25:  „Tantum  sentiebam  de 
domino  Christo  meo,  quantum  de  excellentis  sapientiae  viro,  cui  nullus  posset  ae- 
quari ;  praesertim  quia  mirabiliter  natus  ex  virgine  ad  exemplum  contemnendorum 
temporalium  pro  adipiscenda  immortalitate  divina  pro  nobis  cura  tantam  auctori- 
tatem  magisterii  meruisse  videbatur." 

'^  De  trin.  XIII,  13:  „Quid  tarn  necessarium  fuit  ad  erigendam  spem  nostram, 
quam  ut  demonstraretur  nobis,  quanti  nos  penderet  deus  quantumque  di- 
ligeret?"    Das  geschieht  durch  die  Menschwerdung. 

^  Auf  das  „"Werk"  Christi  soll  später  eingegangen  werden ;  denn  man  kann  die 
Vorstellungen  darüber  nicht  zu  den  grundlegenden  bei  Augustin  rechnen.  Theils 
sind  sie  wechselnde  (Erlösung  vom  Teufel,  Opfer,  Tilgung  der  Erbsünde  durch  den 
Tod),  theils  sind  sie  von  der  specifischen  Vorstellung  der  Erbsünde  abhängig.  Wo 
er  sich  in  den  Ausfülirungen  lebendiger  Frömmigkeit  ergeht,  hat  er  überhaupt 
keine  Theorie  vom  Werk  Christi. 

^  Das  klarste  und  um  des  geschichtlichen  Zusammenhanges  willen  entschei- 
dendste Zeugniss  ist  Confess.  VII,  24 — 27,  wo  er  sich,  indem  er  sagt,  was  ihm 
Christus  geworden  ist,  zugleich  darüber  Rechenschaft  giebt,  warum  derNeuplatonis- 
mus  nicht  ausreicht:  Was  die  Neuplatoniker  erkennen,  wusste  er,  aber  „quaerebam 
viam  comparandi  roboris  quod  esset  idoneum  ad  fruendum  te,  nee  inveniebam 
donec  amplecterer  mediatorem  dei  et  hominum,  hominem  Christum  Jesum  vocantem 
et  dicentem :  Ego  sum  via  et  veritas  et  vita,  et  cibum,  cui  capiendo  invalidus  eram, 
miscentem  cami ;  quoniam  verbum  caro  factum  est,  utinfantiaenostraelactes- 
ceret  sapientia  tua,  per  quam  creasti  omnia.  Non  enim  tenebam  dominum 
meum Jesum,  humilis  humilem,  nee  cuius  rei  magistra  esset  eius  iufir- 
mitas  noveram.  Verbum  enim  tuum  acterna  veritas  .  .  .  subditos  erigit  ad  so 
ipsam:  in  inferioribus  autem  aedificavit  sibi  humilem  domum  de  limo  nostro,  per 
quam  subdendos  deprimeret  a  seipis  et  ad  se  traiceret,  sanans  tumo- 
rem  et  nutriens  amorem,  ne  fiduci  a  sui  progrederentur  longius,  sed  potius 
iufirmarentur  videutes   ante  pedes   suos   iufirmam   divinitatoni   ox 


Die  Wirkung  Christi.  119 

Das  Bild  der  Demuth  in  der  Hoheit  —  das  ist  es,  was 
Augustin  bezwungen  hat:  der  Stolz  ist  die  Sünde,  und  die 
Demuth  ist  die  Sphäre  und  die  Kraft  des  Gruten.  Von 
hier  aus  hat  er  die  neue  Stimmung  gelernt  und  der  Kjrche  einge- 
pflanzt, die  Ehrfurcht  vor  der  Demuth.  Die  Wendung,  die 
er  damit  der  Christologie  gegeben  hat,  hat  im  Mittelalter  fortge- 
wirkt und  sich  in  Strahlenbüscheln  von  verschiedenem  Glänze  und 
verschiedener  Stärke  auseinandergelegt,  obgleich,  durch  den  adoptia- 
nischen  Streit  veranlasst,  die  griechische  Christologie  seit  dem  9.  Jahr- 
hundert wieder  kräftig  einströmte  und  die  Frömmigkeit  verhinderte, 
ihre  Erkenntniss  auch  im  D  o  g  m  a  zu  deuthchem  Ausdruck  zu 
bringen.     Wir  verstehen  es  jetzt   auch,    warum  Augustin    auf   den 


participatione  tunicae  pelliceae  nostrae,  et  lassi  prosternerentur  in 
eam,  illa  autem  surgens  lavareteos."  Im  Folgenden  erklärt  er  nun,  er  sei 
aus  den  neuplatonischen  Schriften  völlig  klar  über  das  "Wesen  Gottes  geworden, 
aber:  „garriebam  plane  quasi  peritus,  et  nisi  in  Christo  salvatore  nostro  vi  am 
tuam  quaererem,  non  peritus,  sed  periturus  essem."  Ich  wollte  weise  sein,  auf- 
gebläht von  "Wissen,  „übi  enim  erat  illa  aedificans  Caritas  a  fundamento 
humilitatis,  quod  est  Christus  Jesus?"  Diese  in  der  Demuth  wurzelnde 
Liebe  konnten  jene  Schriften  nicht  lehren.  Erst  aus  der  Bibel  lernte  ich:  „quid 
interesset  inter  praesumptionem  et  confessionem,  inter  videntes  quo 
eundum  sit  nee  videntes  qua,  etviam  ducentem  adbeatificampatriam, 
non  tantum  cernendam,  sed  et  habitandam."  Nun  las  ich  den  Paulus.  „Et 
apparuit  mihi  una  facies  eloquiorum  castorum.  Et  coepi  et  inveni  quidquid  illac  verum 
legeram,  hac  cum  commendatione  gratiae  tuae  dici,  ut  qui  videt  non  sie 
glorietur  quasi  non  acceperit,  non  solum  id  quod  videt,  sed  etiam  ut  videat,  et  nt  te 
non  solum  admoncatur  ut  videat,  sed  etiam  sanetur  ut  teneat,  et  qui  de 
longinquoviderenon  potest,  vi  am  tamenambulet,  qua  veniat  et  videat 
et  teneat".  Denn  wenn  der  Mensch  sich  auch  an  dem  Gesetze  Gottes  nach  dem 
inneren  Menschen  erfreut,  was  macht  er  mit  dem  anderen  Gesetz  in  seinen  Glie- 
dern? .  .  .  Was  soll  der  elende  Mensch  beginnen?  AVer  wird  ihn  befreien  aus  dem 
Leibe  dieses  Todes?  AVer  anders  als  Deine  Gnade  durch  unseren  Herrn  Jesum 
Christum,  durch  den  die  Handschrift  ausgelöscht  ist,  die  wider  uns  war.  „Hoc  illac 
littcrae  non  habent.  Non  habent  illae  paginae  vultum  pietatis  huius,  lacrimas 
confessionis,  sacrificiumtuum,  spiritum  contribulatum  .  . .  Nemo  ibi  cantat:  Nonne 
deo  subdita  crit  anima  mea.  AIj  ipso  cnim  salutare  meum.  Nemo  ibi 
audit  vocantem:  Venite  ad  me,  omnes  qui  lab  Gratis.  Dcdignautur  ab  eo 
discere  quoniam  mitis  est  et  humilis  corde.  Abscondisti  enim  haec  a 
sapientibus  et  prudenti})us,  et  revelasti  ca  parvulis."  „Ja  es  ist  etwas  Anderes,  vom 
waldigen  Bergesgipfol  das  Land  des  Friedens  zu  schauen,  aber  den  AVeg  dorthin 
nicht  zu  finden,  und  etwas  Anderes,  den  AVeg  dorthin  in  Beständigkeit  zu  wandeln." 
Man  vgl.  damit  die  ausführliche  Kritik  des  Piatonismus  im  10.  Buch  de  civit.  dei, 
bes.  c.  24  u.  32,  wo  Christus  als  „universalis  animae  libcrandac  via"  hingestellt, 
übrigens  seine  Bedeutung  viel  vulgär-katholischer  entwickelt  wird  als  in  den  Con- 
fcHsionen.  In  c.  1  ff.  ist  sogar  ein  Ansatz  da/u,  die  Engel  und  die  Heiligen  als  liimm- 
lische  Hierarchie,  wie  die  Griechen  thun,  zu  fassen. 


1 20        Die  weltgescliichtlicbe  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

„homo''  in  Christus  solchen  AV^erth  legte.  Es  wiir  nicht  nur  eine 
(/onsequenz  seiner  Theologie^  die  hier  wirkte  (s.  oben),  sondern  es 
war  noch  in  viel  höherem  Grade  die  fromme  Anschauung  Christi, 
welche  diese  Fassung  verlangte.  Die  Demuth  Christi  konnte  er  sich 
an  der  Incarnation  nicht  sicher  klar  machen  ;  denn  sie  stammt  aus 
der  allgemeinen  operatio  diviiui,  der  prädestinatianischen  Gnade  und 
der  Emi)fänglichkeit  Jesu  ;  aber  die  Demuth  ist  der  stetige  habitus 
der  gottmenschlichen  Persönlichkeit.  Damit  ist  das  wahre  Wesen 
Jesu  Christi  wirklich  erkannt:  „robur  in  infirmitate  perficitur."  Dass 
Niedrigkeit,  Leiden,  Schmach,  Elend  und  Tod  Mittel  der  Heiligung 
sind,  ja  dass  die  selbstlose  und  daher  stets  leidende  Liebe  das  ein- 
zige Mittel  der  Heiligung  ist  („ich  heilige  mich  für  sie"),  dass  das 
Grosse  und  Gute  immer  in  Niedrigkeit  einhergeht  und  durch  die 
Macht  dieses  Contrastes  den  Stolz  überwältigt,  dass  die  Demuth 
allein  ein  Auge  hat,  das  Göttliche  zu  sehen,  dass  jede  Stimmung 
im  Guten  das  Gefühl,  begnadigt  zu  sein,  zum  Begleiter  hat  —  das 
ist  die  Christologie  Augustin's  in  ihrem  letzten  Kern.  Er  hat  diese 
Christologie  noch  nicht  ins  Aesthetische  gezogen,  noch  nicht  die 
Phantasie  angewiesen,  sich  mit  den  einzelnen  Bildern  der  Niedrig- 
keit zu  beschäftigen;  nein,  sie  liegt  bei  ilnn  noch  ganz  in  der  klaren 
Höhe  des  ethischen  Gedankens,  der  keuschen  Ehrfurcht  vor  dem 
Inhalt  des  Gesammtlebens  Christi,  in  welchem  sich  die  Hoheit  in 
der  Demuth  verwirklicht  hat.  „Die  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter 
uns  ist,  ist  ein  Letztes,  wozu  die  Menschheit  gelangen  konnte  und 
musste.  Aber  was  gehörte  dazu,  die  Erde  nicht  allein  unter  sich 
liegen  zu  lassen  und  sich  auf  einen  höheren  Geburtsort  zu  berufen, 
sondern  auch  Niedrigkeit  und  Armuth,  Spott  und  Verachtung,  Schmach 
und  Elend,  Leiden  und  Tod  als  göttlich  anzuerkennen,  ja  selbst 
Sünde  und  Verbrechen  nicht  als  Hindernisse,  sondern  als  Förder- 
nisse des  HeiHgen  zu  verehren"  —  diese  AVorte  könnte  Augustin 
geschrieben  haben;  denn  keine  Vorstellung  ist  bei  ihm  im  Hinblick 
auf  Christus  stärker  ausgeprägt,  als  dass  Christus  das  geadelt  hat, 
wovor  uns  schauerte  (Schmach,  Schmerzen,  Leid,  Tod)  und  das 
entwerthet  hat,  wornach  wir  begehrten  (nämlich  Hecht  zu  be- 
kommen, angesehen  zu  sein,  zu  geniessen).  „Alles  das  hat  er  durch 
Entbehrung  verächtlich  gemacht,  wornach  wir  getrachtet  und  desshalb 
schlecht  gelebt  haben.  Alles  das  hat  er  durch  Leiden  unwirksam 
gemacht,  was  wir  geflohen  haben.  Keine  einzige  Sünde  kann  be- 
gangen werden,  wenn  nicht  begehrt  wird,  was  er  verachtete,  oder  nicht 
geflohen  wird,  was  er  ertrug." 

Aber  es   ist  Augustin  nicht   gelungen,    diese  Anschauung    von 


Die  Wirkung  Christi.    Die  letzten  Ziele.  121 

der  Person  Christi  in  dogmatische  Formeln  zu  bringen.  Kann  man 
den  Strahl  der  Sonne  in  ein  Getäss  bannen?  Die  alten  Formeln 
standen  ihm  fest  als  Element  der  Tradition,  als  Ausdruck  der  Ein- 
zigartigkeit Christi ;  aber  das  wahre  Fundament  der  Kirche  war  ihm 
Christus  desshalb,  weil  er  wusste,  dass  der  Eindruck  dieser  Person 
seinen  Stolz  gebrochen  und  ihm  die  Kraft  gegeben  hatte,  Gott  zu 
finden  in  dem  Niedrigen  und  zu  erfassen  in  Demuth.  So  war  ihm 
der  lebendige  Christus  die  Wahrheit  und  der  Weg  geworden  zur 
Seligkeit  ^  und  der  von  der  Kirche  gepredigte  die  Autorität  '^. 

Aber  welches  ist  die  beatifica  patria,  die  vita  beata,  zu  welcher 
Christus  der  Weg  und  die  Kraft  ist?  Es  ist  schon  oben  (S.  81  f.) 
hiervon  die  Rede  gewesen,  und  es  seien  hier  nur  noch  einige  Punkte 
erwähnt. 

Das  selige  Leben  ist  der  ewige  Friede,  die  stetige  Anschauung 
Gottes  im  Jenseits  ^.  Das  Erkennen  bleibt  das  Ziel  des  Menschen ; 
auch  der  Begriff  der  fruitio  dei  oder  der  andere  der  pax  caelestis 
führt  von  ihm  nicht  sicher  ab^.  Das  Erkennen  steht  aber  dem 
Handeln  gegenüber,  und  das  Jenseits  ist  etwas  völlig  anderes  als 
das  Diesseits.  Hieraus  folgt,  dass  Augustin  die  vulgär-katholische 
Stimmung  festgehalten  hat,  die  den  Menschen  ganz  und  gar  im  Dies- 
seits auf  die  Hoffnung,  die  Askese  und  das  feiernde  Schauen  ver- 
weist-,   denn   wenn   auch   das  im  Diesseits  nie  zu  erreichen  ist,  was 

'  Augustin  bezeugt  also,  dass,  damit  die  Wahrheit,  die  erkannt  ist,  auch  ge- 
liebt und  gelobt  werde,  eine  Person  nöthig  ist,  die  uns  führt  und  zwar  auf  dem 
Wege  der  Demuth  führt.  Das  ist  es,  was  er  in  den  Confessionen  bekannt  hat.  Die 
Wahrheit  selbst  war  ihm  durch  die  Neu])latouiker  klar  gemacht  worden;  aber  sein 
inneres  Eigenthum  war  sie  nicht  geworden.  Augustin  kennt  nur  die  eine  Person, 
Christus,  die  im  Stande  ist,  die  Wahrheit  so  einzuprägen,  dass  sie  geliebt  und  ge- 
lobt wird,  und  sie  allein  kann  das,  weil  sie  die  üttenbaruiig  des  verbum  dei  in 
humilitate  ist.  Wenn  die  Christenheit  einst  fest  und  klar  zu  dieser  „Christologie" 
gelaugt  sein  wird,  wird  sie  nicht  mehr  darnach  verlangen,  sich  vom  .loch  der 
Christolügien  zu  befreien. 

'^  Dies  ist  bei  Augustin  in  wundersamer  Weise  verkettet.  Der  Skepticisnms  des 
Denkers  in  genere  und  die  innerlich  nie  überwundenen  Zweifel  an  der  katliolischen 
Lehre  in  sijecie  verlangten,  dass  der  Christus  der  Kirche  indiscntable  Autoiittit  sei. 
Dazu  kommt  dann  noch  im  Zusammenhang  niit  der  gratia  inlusa  der  Christus  der 
Sacramente.  Ich  gehe  auf  den  Christus  der  Autorität  nicht  näher  ein,  weil  er  mit 
der  Autorität  der  Kirche  selbst  zusanmienfällt  und  von  dieser  schon  gehandelt  ist. 

'  De  civ.  dei  XIX,  13:  „Pax  caelestis  civitatis  ordinatisf;ima  et  concordissima 
societas  fruendi  deo  et  invicem  in  deo."  Eucliir.  29:  „(yontemplaiio  eins  artificis, 
qui  vocat  ea  quae  non  sunt  tauKjuam  ea  (juae  sunt,  atrjue  in  mensura  et  numero  et 
pondere  cuncta  disj)onit,"  s.  63. 

"*  Doch  liegt  in  der  Auffassung  der  Seligkeit  als  pax  allerdings  ein  Ansatz 
dazu,  primär  an  den  Willen  zu  denken. 


122        Die  weltgeschichtliche  Stelhiiig  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

(las  Jenseits  bringen  wird,  so  niiiss  doch  das  Leben  hier  nach  dem 
Zustande  geregelt  werden,  den  man  dort  geniessen  will.  Daher  ist 
Angustin  auch  so  entschieden  für  das  Mönchthum  und  gegen  .lovinian 
autgetreten ;  daher  hat  er  die  Welt  beurtheilt  wie  die  altkathohschen 
Väter ;  daher  hat  er  die  Unterscheidung  von  praecepta  und  consiha 
evangelica  ebenso  hoch  gehalten  wie  sie;  daher  hat  er  auch  in  den 
höchsten  Gütern  (munera  dei),  die  wir  hier  geniessen  können,  nie 
die  Sache  selbst  gesehen,  sondern  immer  nur  ein  Unterpfand  und 
Gleichniss ;  denn,  in  das  Vergängliche  hineingestellt,  sind  sie  selbst 
vergänglich  *,  daher  hat  er  endlich  sogar  an  die  irdische  Kirche  nicht 
gedacht,  wenn  er  sich  die  ersten  und  letzten  Dinge  klar  machte ; 
denn  nur  Gott,  stetig  geschaut  und  genossen,  ist  das  höchste  Gut; 
auch  das  Eeich  Gottes,  sofern  es  irdisch  ist,  ist  vergängHch. 

Allein  in  der  Form  von  Unterströmungen  ist  doch  auch  hier 
viel  Neues  aufgetaucht,  und  das  Alte  ist  mannigfach  modificirt, 
Einiges  auch  nahezu  beseitigt  worden.  Leicht  ist  es  daher,  zahlreiche 
Dissonanzen  in  Hinsicht  auf  die  Fassung  des  Zieles  bei  Augustin 
nachzuweisen;  allein  wer  liier  nicht  als  unverantwortlicher  Kritiker 
oder  als  unbetheihgter  Logiker  urtheilt,  wird  eingestehen,  dass  er  es 
nicht  besser  weiss  als  Augustin,  und  dass  auch  er  nicht  darüber  hin- 
auskommt, zwischen  den  Gesichtspunkten  abzuwechseln.  Im  Einzelnen 
seien  folgende  Punkte  hervorgehoben : 

1.  Augustin  hat  das  Schwanken  darüber  abgethan,  ob  nicht 
etwa  die  Tugend  das  höchste  Gut  sei;  er  hat  die  Tugenden  auf  die 
Abhängigkeit  von  Gott  (auf  die  Gnade)  reducirt;  s.  ep.  155,  12  sq.*. 
Freilich  hat  er  den  Gedanken  auf  einer  neuen  höheren  Stufe 
(die  durch  die  Gnade  hervorgerufenen  merita,  die  iustitia  caritate 
perfecta)  doch  wieder  zugelassen.  Immerhin  aber  ist  die  Stimmung 
eine  andere  geworden. 

2.  Augustin  hat  die  griechische  Anleitung,  sich  in  systematischer 
Mystik  für  das  Jenseits  einzuüben  und  den  Kultus  als  Mittel  der 
Anticipation  der  Vergottung  zu  betrachten  und  zu  behandeln,  nicht 
übernommen.  Er  hat  die  magisch-physischen  Elemente  der  Rehgions- 
lehre  bei  Seite  gelassen  und  die  Vorstellungen  vom  Jenseits  dadurch 
vergeistigt.  Das  geisthch-asketische  Leben  soll  ein  geistiges  und 
ethisches  sein.  Es  fehlen  zwar  bei  ihm  Aeusserungen  nicht 
ganz,  dass  das  ewige  Leben  visionär-ekstatisch  im  Diesseits  erfahren 
werden    kann;    allein    er    denkt    bei  ihnen  vornehmhch  an  bibhsche 

^  Das  ganze  19.  Buch  des  Werkes  de  civit.  dei  —  es  ist  vielleicht  überhaupt 
das  wichtigste  —  kommt  hier  in  Betracht.  C.  4  wird  ausdrücklich  abgelehnt,  dass 
die  Tugeud  das  höchste  Gut  sei. 


Die  letzten  Ziele.  123 

Personen  (Paulus)  und  hat  im  Laufe  seiner  christlichen  Entwickelung 
die  ganze  Vorstellung  immer  mehr  zurückgestellt. 

3.  Augustin  hat  durch  seine  tiefe  Erkenntniss  des  Willens 
und  durch  die  Einsicht^  wie  sehr  derselbe  auch  das  Erkennen  be- 
herrscht, den  Satz  gefunden,  dass  das  Gute  und  das  Gut,  also  auch 
die  Seligkeit,  in  der  Abhängigkeit  des  Willens  von  Gott  zusammen- 
fallen. Damit  ist  der  Intellectualismus  durchbrochen  und  auch  im 
Diesseits  ein  Gut  nachgewiesen,  welches  nicht  überboten  werden 
kann.  „Mihi  adhaerere  deo  bonum  est."  Dieses  „adhaerere"  schafft 
der  hl.  Geist,  und  er  giebt  damit  Liebe  und  Seligkeit  ins  Herz  ^ 
Vor  dieser  empfundenen  Sehgkeit  schwindet  der  Gegensatz  von  Zeit 
und  Ewigkeit,  Leben  und  Tod  2. 

4.  Von  hier  aus  ergaben  sich  ihm  eine  Reihe  von  Einsichten, 
welche  die  vulgäre  Stimmung  mächtig  beeinflussen  mussten: 

a)  Von  den  drei  Stücken,  durch  welche  man  Gott  anhängt  — 
Glaube,  Liebe,  Hoffnung — bleibt  die  Liebe  auch  in  der  Ewigkeit. 
Also  verbindet  die  unveränderliche  lobpreisende  Liebe  das  Diesseits 
mit  dem  Jenseits. 

b)  Damit  ist  aber  auch  der  Quietismus  des  Erkennens  modi- 
ficirt.   Das  Schauen  soll  nichts  Anderes  sein  als  Lieben;  ein  Element 


^  S.  de  spiritu  et  lit.  5  (die  Stelle  folgt  S.  126). 

^  Dass  es  Augustin  von  hier  aus  niöglich  gewesen  ist,  das  empfundene  Selig- 
keitsgefühl auch  zu  einer  Kraft  für  die  Durchdringung  der  Verhältnisse  im  Dies- 
seits werden  zu  lassen,  zeigt  die  Stelle  de  civit.  dei  XIX,  14,  die  m.  W.  freilich 
fast  einzigartig  ist.  „Et  quoniam  (Christianus)  quamdiu  est  in  isto  mortali  corpore, 
percgrinatur  a  domino,  ambulat  per  fidem  non  per  speciem ;  ac  per  hoc  omnem  pacem 
vel  corporis  vel  animae  vel  simul  corporis  et  animae  refert  ad  illam  pacem,  quae 
homini  mortali  est  cum  immortah  deo,  ut  ei  sit  ordinata  in  fide  sub  aetema  lege 
oboedientia.  lam  vero  quia  duo  praecipua  praecepta,  hoc  est  dilectionem  dei  et 
dilectionem  proximi,  docet  magister  deus  .  .  .  consequcns  est,  ut  etiam  proximo  ad 
diligendum  deum  consulat,  quem  iubetur  sicut  se  ipsum  diligere  (sie  uxori,  sie  flliis, 
sie  domesticis,  sie  ceteris  quibus  potuerit  hominibus),  et  ad  hoc  sibi  a  proximo,  si 
forte  indiget,  consuli  velit;  ac  per  hoc  erit  pacatus,  quantum  in  ipso  est,  omni 
homini  pace  hominum,  id  est  ordinata  concordia,  euius  hie  ordo  est,  primum  ut 
null)  noccat,  deinde  ut  etiam  prosit  cui  potuerit.  Primitus  ergo  inest  ei  suorum 
cura;  ad  eos  quippe  habet  opportuniorem  faciliorcmque  aditum  consulendi,  vel 
naturae  ordine  vel  ipsius  societatis  humanae.  Unde  apostolus  dicit:  „Quisquis  autcm 
suis  et  maxirae  domesticis  non  providet,  fidcrri  denogat  et  est  infideli  detcrior".  Hiuc 
itaque  etiam  pax  domestica  oritur,  id  est  ordinata  imperandi  oboediendicjuc  con- 
cordia  cohabitantium.  Imperant  euim,  qui  consulunt;  sicut  vir  uxori,  parentes  filiis, 
domini  servis  .  .  .  Sed  in  domo  iusti  viventis  ex  fide  et  adhuc  ab  illa  caelcsti  civitato 
peregrinantis  etiam  (jui  imperant  serviuni  eis,  (|uibus  videntur  imperare.  Neque 
cnim  dominandi  cupiditate imperant,  sed  officio  consulendi,  ncc  principandi8uj)erbia, 
sed  providendi  misericordia." 


124        I^ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

des  Ausgk'iclis  aller  Spannungen  in  Gemütli  und  Willen  wird  in  den 
Regritt"  der  Seligkeit  hineingenommen,  und  wenn  auch  die  contem- 
platio  rationalis  der  actio  rationiüis  stets  übergeordnet  bleibt,  so  wird 
doch  der  thätigen  und  wirkenden  Liebe  ein  hoher  Wertli  beigelegt '. 
c)  Nun  erhielt  zwar  nicht  die  irdische  Welt,  wohl  aber  die  ir- 
dische Kirche  und  die  diesseitigen  particularen  Güter  (innerhalb  der 
Kirche)  eine  höhere  Bedeutung.  Der  Gedanke  der  civitas  dei  auf 
Erden,  längst  von  Anderen  Ibrmulirt,  wurde  doch,  wie  wir  im  nächsten 
Abschnitt  sehen  werden,  erst  von  Augustin  in  das  Gebiet  des  reli- 
giösen Denkens  erhoben.  Er  schaute  gleichsam  vor  dem  AUer- 
heihgsten,  den  ersten  und  letzten  Dingen,  ein  Heiliges  mit  seinen 
ihm  von  Gott  gegebenen  Gütern,  die  irdische  Kirche.  Er  sah, 
dass  es  sich  lohnte,  ja  dass  es  heilige  Pflicht  war,  dieses  Heilige  zu 
pflegen,  es  in  der  Welt  einzubürgern,  es  den  weltlichen  Verbindungen 
überzuordnen,  alle  irdischen  Güter  ihm  zu  weihen,  um  sie  als  be- 
rechtigte Güter  von  ihm  zurück  zu  empfangen.  Er  hat  so,  wenn  der 
kühne  Ausdruck  gestattet  ist,  auch  eine  Religion  zweiter  Ordnung 
geschaffen,  freilich  den  Impulsen  der  abendländischen  Ueberlieferung 
folgend.  Aber  diese  Rehgion  zweiter  Ordnung  war  nicht,  wie  bei  den 
Griechen,  ein  formloses  kultisch-superstitiöses  Gebilde,  sondern  war 
Lehre  von  der  irdischen  Kirche  in  ihrem  Verhältniss  zur  Welt  als 
thätige ,  sittlich  wirkende ,  die  Gesellschaft  umbildende  und  be- 
herrschende Macht,  als  Organismus  der  Sacramente,  des  Guten  und 
der  Gerechtigkeit,  in  w^elchem  Christus  wirkt.  Ecclesiastik  und  Theo- 
logie sollten  aufs  innigste  verbunden  sein,  jene  dieser  dienen,  jene  die 
Martha,  diese  die  Maria  "^  Sie  w^alten  zu  demselben  Zwecke,  und  die 
iustitia  caritate  perfecta  ist  das  Element,  in  dem  beide  leben  ^. 

*  Das  Moment  der  „pax"  gewinnt  einen  höheren,  selbständigen  Werth  gegen- 
über der  Erkenntniss  (s.  oben).  Das  zeigt  sich  auch  darin,  dass  der  definitive  Zu- 
stand der  Unseligen  (de  civit.  dei  XIX,  28)  nicht  als  Unwissenheit  beschrieben 
wird,  sondern  als  stetiger  Krieg:  „Quod  bellum  gravius  et  amarius  cogitari 
potest,  quam  übi  voluntas  sie  adversa  est  passioni  et  passio  voluntati,  ut  nullius 
earum  victoria  tales  inimicitiac  finiantur,  et  ubi  sicconfligit  cum  ipsa  natura  corporis 
vis  doloris,  ut  neutrum  alteri  cedat?  Hie  [iu  terra]  enim  quando  contingit  iste  cou- 
flictus,  aut  dolor  vincit  et  scnsum  mors  adimit,  aut  natura  vincit  et  dolorem  sanitas 
tollit.  Ibi  autem  et  dolor  permanet  ut  affligat,  et  natura  perdurat  ut  sentiat ;  quia 
utrumque  ideo  nou  deficit,  ne  poena  deficiat."  Allerdings  waltet  in  Bezug  auf  die 
SeHgen  (s.  das  XXII.  Buch)  die  Vorstellung  doch  inmier  wieder  vor,  dass  ihre 
Seligkeit  das  Schauen  (rOttes  sein  werde. 

■^  Augustin  hat  de  trin.  I,  20  diesen  Vergleich  von  der  diesseitigen  und  jen- 
seitigen Kirche  gebraucht  5  man  darf  ihn  auch  auf  das  Verhältniss  seiner  Lehre  von 
der  Kirche  und  von  Grott  anwenden. 

^  Die  grosse  Conceptiou,  die  Kitschi  in  seiner  Abliandlung  über  die  IMetliode 


Die  letzten  Ziele.     Schlussbetrachtung.  125 

fl)  Für  den  Einzelnen  bleibt  freilich  das  asketische  Leben  das 
Ideal ;  aber  Augustin  hat  doch  auch  innerhalb  des  Mönchthums  die 
vulgäre  Stimmung  dadurch  modificirt,  dass  er  bei  aller  Hochschätzung 
der  äusseren  Werke  (Armuth,  Virginität  u.  s.  w.)  nie  vergessen  hat, 
dass  es  auf  fides,  Caritas  und  spes  allein  ankommt,  und  dass  desshalb 
der  Werth  dessen,  der  diese  Tugenden  besitzt,  nicht  mehr  nach 
äusseren  Leistungen  bestimmt  werden  darf.  Augustin  hat  ferner  besser 
wie  irgend  ein  Anderer  gewusst,  dass  die  äusseren  Leistungen  mit  gott- 
losem Herzen  geleistet  werden  können  (nicht  nur  von  häretischen 
Mönchen,  wo  es  sich  von  selbst  versteht,  sondern  auch  von  katholischen, 
ep.  78,  9),  und  er  hat  die  Asketen  in  die  engste  Verbindung  mit  der 
Kirche  gebracht  und  sie  zu  thätiger  Arbeit  angehalten.  Auch  hier  zeigt 
es  sich,  dass  er  das  öde  Schema,  die  SeHgkeit  sei  contemplatio  ratio- 
nahs  und  nichts  Anderes,  durchbrochen  hat. 


Das  ist  in  Kürze  Augustin's  Lehre  von  den  ersten  und  letzten 
Dingen  sammt  den  Fingerzeigen  auf  das  Gebiet,  welches  nicht  unmittel- 
bar zu  jenen  Dingen  gehört,  aber  doch  mittelbar:  auf  die  Ausstattung 
und  die  Aufgaben  der  diesseitigen  Kirche.  „Lehre"  von  den  ersten 
und  letzten  Dingen  ist  im  Grunde  ein  unrichtiger  Ausdruck ;  denn  — 
und  das  ist  das  Höchste,  was  schliesslich  hier  zu  sagen  ist  —  um 
„Lehre"  handelte  es  sich  ihm  nicht,  sondern  um  die  treue  Wiedergabe 
von  Erfahrungen.  Die  einschneidendste  Modificirung  des  über- 
heferten  dogmatischen  Christenthums  durch  Augustin  liegt  darin,  dass 
er  erkannt  hat,  „dass  das  Christenthum  zuhöchst  ein  Anderes  sei  als 
Alles,  was  „Lehre"  heisst"  (Reuter  S.  494).  Das  Gesetz  ist  Lehre ; 
das  Evangelium  ist  Kraft.  Das  Gesetz  schafft  Aufklärung,  das  Evan- 
gelium Frieden.    Das  hat  Augustin  klar  erkannt,  und  somit  die  Religion 


der  ältesten  Do^engesch.  (.Tahrb.  f.  deutsche  Theol.  1871)  vorgetragen  hat,  dass 
der  Areoxiagite  im  Orient  und  Augustin  im  Occident  Parallelen  seien,  dass  jener 
eine  kultische  Ecolesiastik,  dieser  eine  Ecclesiastik  der  sittlich on  Aufgaben  des 
Christenthums  für  die  Welt  begründet  habe,  dass  l)eide  somit  in  gleicher  Richtung, 
aber  mit  ganz  verschiedenen  Mitteln  die  alte  Stimmung  (als  nackte  Holfnung  auf 
das  .Tenseits)  modificirt  haben —  diese  Conception  ist  wesentlich  richtig,  wenn  man 
dabei  nur  streng  im  Auge  behält,  dass  das  überlieferte  vulgär-katholische  Schema 
von  Beiden  nicht  bis  zu  seiner  Spitze  modificirt  worden  ist,  und  dass  Beide  Impulsen 
gefolgt  sind,  welche  seh  on  vor  ihrer  Zeit  in  ihren  Kirchen  wirksam  ge - 
wesen  sind.  Dir;  Lehre  von  der  Kirche  war  nicht  Augustin's  „Centralidee",  son- 
dern er  hat  das,  was  jedem  Katholiken  gewiss  war,  zu  deutlicherem,  theilweise  sogai' 
erst  zum  deutliehen  Bewusstsein  erlK)ben  und,  durch  eine  Reihe  sehr  verschiedener 
Anstösse  bewegt,  schliesslich  eine  P^cclesiastik  jiroducirt,  deren  selbständiger  Werih 
ihm  selbst  nif  klar  j/eworden  ist. 


126        ^^^  weltgescliiclitlichc  Stellung  Augiistin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

in  (lio  Sphäre  lebendiger  innerer  Erfahrung  hineingestellt  und  dem  Zu- 
sammenhang von  Wissen  und  befolgen  entnommen.  Er  hat  freilich  seine 
neue  Erkeimtniss  dann  wieder  auf  das  Niveau  des  Alten  gestellt ;  denn  er 
war  katholischer  Christ;  aber  die  Verkettung  mit  der  Vergangenheit, 
welche  jedem  wirkungskräftigen  Reformator  eigen  ist,  darf  uns  nicht 
abhalten,  sein  EigenthUmliches  ans  Licht  zu  stellen.  Wer  immer  nur 
den  „ganzen"  Augustin  und  den  „ganzen"  Luther  gelten  lassen  will, 
der  stellt  in  Verdacht,  dass  er  sich  dem  „wahren"  Augustin  und  dem 
„w^ahren"  Luther  entziehen  will;  denn  welches  Menschen  Eigenart  und 
Stärke  ist  in  der  Breite  alles  dessen,  was  er  gesagt  und  gehandelt  hat, 
ausgeprägt?  Ein  paar  herrliche  Stellen  aus  Augustin  sollen  zum  Schluss 
belegen,  dass  er  die  christliche  Religion  dem  entzogen  hat,  was  „Lehre" 
oder  „Dogma"  lieisst :  Solil.  I,  5 :  „Nihil  aliud  liabeo  quam  voluntatem-, 
nihil  aliud  scio  nisi  fluxa  et  caduca  spernenda  esse,  certa  et  aeterna 
recpürenda  .  .  .  si  fide  te  inveniunt,  qui  ad  te  refugiunt,  fidem  da; 
si  virtute,  virtutem;  si  scientia,  scientiam.  Auge  in  me  fidem,  äuge 
spem,  äuge  caritatem."  De  spiritu  et  lit.  5 :  „Nos  autem  dicimus 
humanam  voluntatem  sie  divinitus  adiuvari  ad  faciendam  iustitiam,  ut 
praeter  quod  creatus  est  homo  cum  libero  arbitrio  voluntatis,  praeter- 
que  doctrinam  qua  ei  praecipitur  quemadmodum  vivere  debeat,  acci- 
piat  spiritum  sanctum,  quo  fiat  in  animo  eins  delectatio 
dilectioque  summi  illius  atque  incommutabilis  boni 
quo d  deus  est,  etiam  nunc  cum  adliuc  per  fidem  ambulatur, 
nondum  per  speciem:  ut  hac  sibi  velut  arra  data  gratuiti  muneris 
inardescat  inhaerere  creatori  atque  inflammetur  accedere  ad  participa- 
tionem  illius  veri  luminis,  ut  ex  illo  ei  bene  sit,  a  quo  habet  ut  sit.  Nam 
neque  liberum  arbitrium  quidquam  nisi  ad  peccandum  valet,  si  lateat 
veritatis  via,  et  cum  id  quod  agendum  et  quo  nitendum  est  coeperit  non 
latere,  nisi  etiam  delectet  et  ametur,  non  agitur,  non  suscipitur,  non 
bene  vivitur.  Ut  autem  diligatur,  Caritas  dei  diffunditur  in  cordibus 
nostris,  non  per  arbitrium  liberum  quod  surgit  ex  nobis,  sed  per  spiri- 
tum sanctum  qui  datus  est  nobis."  L.  c.  22 :  Quod  operum  lex  minando 
imperat,  hoc  fidei  lex  credendo  impetrat.  Ipsa  est  illa  sapientia 
quae  pietas  VC  catur,  qua  colitur  pater  luminum ,  a  quo  est  omne 
datum  Optimum  et  omne  donum  perfectum . .  .  Lege  operum  dicit  deus : 
Fac  quod  iubeo*,  lege  fidei  dicitur  deo:  Da  quod  iubes  .  . .  Non  spiritum 
huius  mundi  accepimus,  ait  constantissimus  gratiae  praedicator,  sed 
spiritum  qui  ex  deo  est,  ut  sciamus  quae  a  deo  donata  sunt  nobis. 
Quis  est  autem  Spiritus  mundi  huius,  nisi  superbiae  spiritus?  .  .  .  nee 
alio  spiritu  dicipiuntur  etiam  illi  (pü  ignorantes  dei  iustitiam  et  suam 
iustitiam  volentes  constituere,   iustitiae  dei  non  sunt  subiecti.    Unde 


Der  donatistische  Kampf.  '  127 

mihi  vicletur  magis  esse  ficlei  filius,  qui  novit  a  quo 
speret  quod  nondum  habet,  quam  qui  sibi  tribuit  id 
quo d  habet.  ColHgimus  non  iustificari  hominem  Httera,  sed  spiritu, 
non  factorum  meritis,  sed  gratuita  gratia." 

2.  Der  donatistische  Kampf.  Das  Werk  de  civitate  dei.  Die  Lehre 
von  der  Kirche  und  den  Gnadenmitteln. 

Noch  war  Augustin  mit  dem  Kampfe  gegen  die  Manichäer  be- 
schäftigt, in  welchem  er  die  Autorität  der  katholischen  Kirche  so 
scharf  betont  hat  ^ ,  als  ihn  seine  kirchliche  Stellung  (Presbyter  392, 
Bischof  396  in  Hippo)  zwang,  den  Kampf  mit  den  Donatisten  aufzu- 
nehmen. In  Hippo  bildeten  sie  den  grösseren  Theil  der  Bevölkerung, 
und  so  gross  war  der  Hass,  dass  sie  nicht  einmal  Brod  für  die  Katho- 
liken backen  wollten.  Von  393 — 411  hat  Augustin  gekämpft  und  eine 
Reihe  zum  Theil  sehr  umfangreicher  Schriften  gegen  die  Donatisten  ge- 
schrieben ^.  Der  Verlauf  des  Streites  auf  den  Synoden  und  durch  die 
Eingriffe  der  Staatsgewalt  muss  hier  als  bekannt  vorausgesetzt  wer- 
den ^.  Derselbe  spielte  sich  auf  dem  von  Cyprian  geschaffenen  Boden 
ab.  Seine  Autorität  stand  den  Gegnern  fest.  Also  entwickelten  sich  in 
dem  Streit  innere  Gegensätze,  die  in  Cyprian's  Theorie  noch  ge- 
schlummert hatten.  Schon  durch  Optatus  (s.  oben  S.  38  ff.)  war  die  neu- 
modische katholische  Theorie  eindrucksvoll  dargelegt  worden.  Augustin 
bheb  es  vorbehalten,  sie  weiterzuführen  und  auszubauen.  Allein  —  wie 
es  in  solchen  Fragen  zu  geschehen  pflegt  —  jede  neu  gewonnene  Po- 
sition eröffnet  stets  den  Ausblick  auf  neue  Fragen  und  schafft  für  eine 


*  Die  Manichäer  gaben  sich  im  Streit  des  Tages  als  die  Männer  der  „freien 
Forschung"  („docendi  fontcm  apcrire  gloriantur"  de  utilit.  21).  Wie  weit  sie  es 
waren,  kann  hier  auf  sich  beruhen ;  Augustin  hat  den  Brucli  mit  ihnen  in  seinem 
Gewissen  als  Bruch  mit  der  freien  Forschung  empfunden.  Daher  die  gleich  be- 
ginnenden Bemühungen,  das  Verhältniss  von  ratio  und  auctoritas  zu  bestimmen  und 
von  ersterer  zu  retten,  was  noch  zu  retten  war. 

'^  Psalmus  c.  partem  Donati  —  C  Parmeniani  epist.  ad  Tichonium  1.  IIT  — 
De  bapt.  c.  Donatistas  1.  VII  —  C.  litteras  Petiliani  1.  III  —  Ep.  ad  Catholicos 
c.  Donatistas  —  C.  Cresconium  1.  IV  —  De  unico  bapt.  c.  Petilianum  —  Breviculus 
Collationis  c.  Donatistis — Post  coUationem  ad  Donatistas.  —  Aus  späterer  Zeit  noch: 
8onT)0  ad  Caesarecnsis  ecdesiao  philjem —  De  gcstis  cum  Emorito  —  C.  Gaudentium 
Donatistam  ejjiscopum  1.  II.  Eine  Fälschung  des  ])erüchtigt('u  Hieronynius  Viguerius 
ist  der  Sermo  de  Rusticiano. 

•"  Mindestens  seit  dem  Jahr  407  ist  Augustin  für  die  gewaltsame  Unterdrückung 
der  Donatisten  durch  d(!n  „christlichen"  Staat  im  Interesse  der  „Liebeszucht"  ein- 
getreten. Das  Gespräch  vom  Jahr  411  war  (iine  traurige  Koiriödie.  Reste  der 
Donatisten  finden  sich  noch  zu  Gregor's  I.  Zeit,  der  die  Staatsgewalt  aufs  neue 
wider  sie  aufgerufen  hat. 


128        I^if^  weltgeschichtliche  Stellunßf  Auonstin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Lösung  eine  Fülle  von  Pro])lemen.  So  hat  fiuch  Augustin  mehr  Probleme 
zurückgehissen  als  geh'ist. 

Um  die  hierarcliische  Verfassung  der  Kirche  handelte  es  sich  in 
dem  Streit  unmittolhar  niclit  mehr.  Der  EpiskopaHsmus  stand  fest. 
Die  (Kompetenz  der  Kirche  stand  zur  Frage  und  damit  iln- Wesen,  ihre 
Bedeutung,  ihr  Umfang.  Dass  lotzthcli  doch  wieder  die  Verfassung  der 
Kirche  dadurch  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden  nuisste,  w^ar  noth- 
wendig ;  denn  eine  hierarchisch  verfasste  Kirche  hat  eben  an  der  Hier- 
archie ihren  empfindlichsten  Theil. 

Die  Spaltung  an  sich  war  das  Uebelste.  Aber  um  sie  zu 
beseitigen,  musste  man  auf  ihren  Grund  gehen  und  zeigen,  dass  man 
sich  von  der  katholischen  Kirche  gar  nicht  trennen  könne, 
dass  sowohl  die  Einheit  als  die  Wahr heit  der  Kirche  un- 
verwüstlich seien.  Die  donatistische  Hauptthese  lautete :  die  em- 
pirische Kirche  ist  nur  dann  die  wahre,  wenn  die,  welche  die  Kirche 
fortpflanzen,  die  Priester,  „rein"  sind;  denn  Niemand  könne  etwas 
fortpflanzen,  was  er  selbst  nicht  besitzt  ^  Die  wahre  Kirche  braucht 
also  reine  Priester;  sie  muss  daher  Traditorenw^eihen  für  ungiltig  er- 
klären, und  sie  kann  die  Wirksamkeit  von  Taufen  nicht  anerkennen, 
die  von  Unreinen  (Häretikern  oder  Todsündern)  gespendet  sind;  sie 
muss  endlich  überhaupt  das  offenbar  Befleckte  und  Unwürdige  aus- 
schliessen.  Hieraus  folgte  der  Bruch  mit  solchen  christlichen  Ge- 
meinschaften, die  diese  Tiegel  nicht  streng  beobachteten,  und  die  Praxis 
der  Wiedertaufe  -.  Die  Separation  ist  geboten,  einerlei,  wie  gross 
oder  wie  klein  der  Umfang  der  Kirche  dann  wird.  Zu  dieser  These 
trat  in  der  Verfolgungszeit  durch  den  Staat  die  andere,  dass  die 
verfolgte  Kirche  die  wahre  sei,  und  dass  der  Staat  mit  der  Kirche 
nichts  zu  thun  habe. 

Was  Augustin,  auf  Cyprian  und  Optatus  gestützt,  aber  den  Ersteren 
zum  Theil  —  wenn  auch  schonend  —  desavouirend,  dem  gegenüber  aus- 
geführt hat,  geht  weit  über  die  blosse  Widerlegung  der  Separatisten 
hinaus.  Er  schuf  die  Anfänge  einer  Lehre  von  der  Kirche  und  den 
Gnadenmitteln,  von  der  Kirche  als  der  Heils  an  st  alt,  dem  Organis- 
mus des  Guten  d.  h.  der  Gotteskräfte,  in  der  Welt.   Der  donatistische 

^  C.  litt.  Petil.  I,  3:  „Qui  fidem  a  perfido  sumpserit  noii  fidem  percipit,  sed 
reatum."  I,  2:  „Conscientia  dantis  adtenditur,  qni  ahluat  accipientis.'*  Andere 
donatistische  Sätze  lauteten  (1.  c.)  :  „Onmis  res  origiue  et  radice  cousistit,  et  si  caput 
uon  hahet  aliquid,  nihil  est."  .,Nec  quidquam  hene  regenerat,  nisi  bono  semine  (honi 
sacerdotis)  regeneretur."  „Quae  potest  esse  ])erversitas,  ut  (pii  suis  oriminibus  reus 
est,  aliuni  faciat  innocentem?" 

''^  Im  Sinne  der  Donatisten  war  es  natürlich  keine  Wiedertaute  (1.  c):  „non 
repetimus  quod  iam  erat,  sed  damus  quod  non  erat." 


I 


Die  Kirche  als  Lehrautorität.  129 

Kampf  war  für  ihn  auch  nicht  der  einzige  Anlass,  diese  Lehre  zu  ent- 
wickeln. Der  Streit  mit  den  Manichäern  hatte  bereits  vorher  das 
Lnteresse  auf  die  Autorität  der  Kirche  gelenkt  und  Augustin  ver- 
anlasst, diese  schärfer  ins  Auge  zu  fassen,  als  seine  Vorgänger  (s. 
oben  S.  70 ff.);  die  freilich  mit  ihm  in  der  praktischen  Haltung  der 
Kirche  gegenüber  ganz  einig  waren.  Der  pelagianische  Kampf,  die 
Weltlage  und  die  Yertheidigung  des  Christenthums  gegenüber  heid- 
nischen Angriffen  wirkten  weiter  höchst  bedeutungsvoll  auf  die  Con- 
ceptionen  von  der  Kirche  ein.  So  hat  Augustin  die  katholische 
Lehre  von  der  katholischen  Kirche  auf  Erden  geschaffen,  und  wir 
versuchen  im  Folgenden,  eine  einheitliche  Darstellung  von  derselben 
zu  geben,  soweit  dies  möglich  ist.  Letztlich  war  und  blieb  die  ir- 
dische Kirche  lediglich  nichts  Anderes  als  ein  Mittel  für  das  ewige 
Heil  des  Einzelnen,  und  darum  sollte  auch  die  Lehre  von  der  Kirche 
—  der  Ausdruck  ist  eigentlich  ungenau;  denn  der  Katholicismus 
kennt  hier  keine  „Lehren",  sondern  beschreibt  einen  gottgewirkten 
Thatbestand  —  nichts  Anderes  sein  als  eine  Hülf sichre.  Allein 
wenn  die  Dogmatik  überall  in  Gefahr  geräth ,  durch  ihre  Mittel  und 
Hülfsgedanken  das,  worauf  es  ankommt,  zu  verdunkeln,  so  ist  hier 
die  Gefahr  brennend  geworden.  Erscheint  nicht  im  Katholicismus 
die  Lehre  vom  Heil  durch  die  „Hülfslehre",  die  Lehre  von  der 
Kirche,  nahezu  vernichtet? 


Gnade  und  Autorität  —  diese   beiden  Mächte   hatten  nach 
Augustinus  Selbstbeurtheilung  seine  Bekehrung  bewirkt.  Die  Autorität 
war  die  Kirche.     Was   die  Kirche  sei,   wusste  Jedermann  —  die 
empirische,  sichtbare  Kirche,  die  seit  den  Tagen  Konstantin's  trium- 
phirte.     Eine  „Begriffsbestimmung"  der  Kirche  war  daher  unnöthig. 
Darauf  kam  es  an,  zu  zeigen,  warum  man  Autorität  nöthig  habe  und 
warum    sie   die  Autorität   sei.     Der   schwache   Verstand   bedarf  der 
Offenbarung,  die  die  Wahrheit  dem  Einzelnen  bringt,  bevor  er  selbst 
im  Stande  ist,  sie  zu  finden ;  diese  Offenbarung  ist  in  der  Kirche  be- 
schlossen.   Dass  die  Kirche  Lehrautorität  sei,  ist  lange  Zeit  fast 
das  einzige  Interesse  Augustin's  an  der  Kirche  gewesen.   Für  diesen 
Satz  hat   er  Beweise    subjectiver  Nöthigung    und  objoctiv(^r  Art  ge- 
bracht; jedoch    die   Stringenz   und  Sicherheit   in    der  Darlegung  nie 
erreicht,  die  er  als  Katholik  einfacJi  emj)rand;  denn  wer  kaini  nach- 
weisen, dass  eine  äussere  Autorität  Autorität  sein  mussV*     Das 
Wichtigste   war,   dass   die  Kirche  sich  sell)st  als  Lehrautorität  gab. 
Man  war  ja  nur  Mitglied  der  Kirche,  sofern  man  sich  ihrer  Autori- 
tät unterwarf.   Eine  andere  Art,  zu  ihr  zu  gehören,  gab  es  überhaupt 

H  a  r  n  a  0  Ji ,  Dof^Hngc.ndh'wMc,  in.  9 


130        r^ie  weltgeschichtliche  Stelhinp^  Aupfustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

nicht.  Umgekehrt  schien  sich  sogar  ihre  Bedeutung  bei  flüchtigem 
Naclulenken  auf  die  Lehrautorität  völhg  zu  beschränken.  Man  steht 
in  dem  richtigen  Verhältniss  zu  Gott  und  Christus,  besitzt  und  er- 
wartet die  hinimhschen  Güter,  indem  man  die  Lehr anw eis ungen 
befolgt,  welche  die  Kirche  giebt. 

Diesem  „flüchtigen  Nachdenken"  hat  Augustin  gehuldigt,  bis  ihn 
der  kirchhche  Beruf  und  der  donatistische  Streit  zu  umfassenderen 
Erwägungen  führten.  Zu  seiner  Lehre  von  der  prädestinatianischen 
Gnade  ist  Augustin  ohne  äusseren  Anlass  durch  selbständiges  Sich- 
vertiefen in  das  Wesen  der  Bekehrung  und  Frömmigkeit  gekommen. 
Die  Ausbildung  seiner  Lehren  von  der  Kirche  ist,  soweit  sie  die  vul- 
gär-kathohschen  Gedanken  ausbaut,  durchweg  abhängig  von  den 
äusseren  Verhältnissen,  in  die  er  sich  gestellt  sah.  Aber  er  selbst 
empfand  hier  nichts  als  „Lehre",  sondern  als  die  Darstellung  eines 
allen  Katholiken  von  jeher  geltenden  Thatbestandes,  über  den  man 
sich  klar  werden  muss,  dem  man  aber  nichts  abziehen  oder  zusetzen 
kann.  Zu  der  Bedeutung  der  Kirche  als  Lehrautorität  trat  auch 
für  ihn  ihre  Bedeutung  als  heihges,  die  Gnade  vermittelndes  Institut. 
Ueber  Letzteres  hat  er  besonders  nachgedacht;  aber  viel  lebhafter 
stand,  nachdem  er  seine  Lehre  von  der  Gnade  gewonnen,  die  Kirche 
vor  ihm,  die  eine  communio  sanctorum,  resp.  eine  Stätte  des  Glaube, 
Liebe,  Hoffnung  wirkenden  Geistes  ist.  Fassen  wir  seine  wichtigsten 
Sätze  zusammen: 

I  L  Die  kathohsche  Kirche,  w^elche  der  hl.  Geist  zusammen- 
hält, wie  er  auch  das  Einheitsband  in  der  Trinität  ist,  hat  ihr  wich- 
tigstes Merkmal  an  der  Einheit,  und  zwar  sowohl  an  der  Einheit  des 
Glaubens,  der  Liebe  und  der  Hoffiiung,  als  an  der  Einheit  in  der 
Katholicität. 

2.  Diese  Einheit  inmitten  der  Zerspaltung  der  Menschen  ist  das 
grösste  Wunder,  der  Bew^eis  dafür,  dass  die  Kirche  nicht  ein  Werk 
der  Menschen,  sondern  des  hl.  Geistes  ist. 

3.  Noch  deuthcher  folgt  dies  aus  der  Erwägung,  dass  die  Ein- 
heit die  Liebe  zu  ihrer  Voraussetzung  hat.  Die  Liebe  ist  aber  die 
eigentliche  Sphäre  der  Thätigkeit  des  Geistes  oder  richtiger:  alle 
Liebe  hat  ihre  Quelle  an  dem  hl.  Geist  *;  denn  Glaube  und  Hotihung 
können  bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständig  erworben  werden 
(also  auch  ausserhalb  der  Kirche  sein),  aber  die  Liebe  fliesst  nur  aus 
dem  hl.  Geiste.     Die  Kirche  ist  also,  weil  die  Einheit,  der  Liebes- 


*  Die  Gnade  ist  die  Liebe  und  die  Liebe  ist  die  Gnade :   „Caritas  est  gratia 
testamenti  novi." 


Die  Einheit  der  Kirche.  131 

bimd,  in  welchem  allein  die  Sünden  gereinigt  werden  können;  denn 
der  Geist  wirkt  nur  „in  unitatis  vinculo  caritate".  Iluht  also  die 
Einheit  der  Kirche  primär  auf  dem  Glauben,  so  ruht  sie  doch  wesent- 
lich allein  auf  dem  Walten  des  Liebesgeistes,  der  den  Glauben  zu 
seiner  Voraussetzung  hat  ^ 

4.  Die  Einheit  der  Kirche,  in  der  hl.  Schrift  durch  viele  Sym- 
bole und  Bilder  versinnlicht,  hat  ihre  stärkste  Gewähr  an  der  That- 
sache,  dass  Christus  die  Kirche  zu  seiner  Braut  und  zu  seinem  Leibe 
gemacht  hat.  Dieses  Yerhältniss  ist  ein  so  enges,  dass  man  die 
Kirche  geradezu  auch  „Christus"  nennen  kann^;  denn  sie  ist  eine 
reale  Einheit  mit  Christus.  Die  in  der  Kirche  sind,  sind  somit  „in 
membris  Christi";  das  Mittel  und  Band  dieser  Copulation  ist  wieder- 
um nichts  Anderes  als  die  Caritas,  genauer  die  Caritas  unitatis. 

5.  Die  Häretiker,  d.  h.  die,  welche  einem  selbstgewählten  Glau- 
ben folgen,  können  nicht  in  der  Kirche  sein,  weil  sie  bereits  die  Vor- 
aussetzung, die  Einheit  des  Glaubens,  zerstören  würden,  die  Kirche 
aber  nicht  eine  Gesellschaft  ist  wie  der  Staat,  der  allerlei  Philosophen 
in  seiner  Mitte  duldet.  Die  ausgeschiedenen  Häretilvcr  dienen  der 
Kirche  zum  Besten,  wie  Alles  denen,  die  Gott  lieben,  zum  Besten 
dienen  muss;  denn  sie  üben  sie  in  der  Geduld  (durch  die  Ver- 
folgungen), in  der  Weisheit  (durch  die  falschen  Behauptungen)  und 
in  der  Feindesliebe,  die  sich  einerseits  in  der  rettenden  Wohl- 
thätigkeit,  andererseits  in  der  schreckenden  Zucht  zu  bewähren  hat*^ 

6.  Die  Schismatiker,  d.  h.  die,  welche  den  rechten  Glauben  haben, 
gehören  aber  auch  nicht  zur  Kirche;  denn  indem  sie  die  unitas  ver- 
lassen —  die  superbia  treibt  sie  dabei,  wie  die  Häretiker  — ,  zeigen 
sie,   dass  sie   die  Caritas  nicht  besitzen,    also  ausserhalb  der  Wirk- 

^  C.  Crescon.  I,  34:  „Non  autem  existimo  quemquam  ita  desipere,  ut  credat 
ad  ecclesiae  pertinere  unitatem  eum  qui  non  habet  caritatein.  Sicut  ergo  deus  unus 
colitur  ignoranter  etiam  extra  ecclesiam  nee  idco  non  est  ipse,  et  fides  una  hal)etur 
sine  caritate  etiam  extra  ecclesiam,  nee  ideo  non  est  ipsa,  ita  et  unus  baptismus  etc." 
Gott  und  der  Glaube  sind  auch  extra  ecclesiam,  aber  nicht  »pie«.  Die  einschlagen- 
den Stellen  sind  so  zahlreich,  dass  es  ein  falsches  Bild  geben  würde,  einzelne  anzu- 
führen. Die  hier  vorliegende  Auffassung  ist  das  Herzstück  der  augustinischen  Lehre 
von  der  Kirche :  hl.  Geist,  Liebe,  Einheit,  Kirche  stehen  in  einem  ausschliesslichen 
Zusammenhang:  „Caritas  christiana  nisi  in  unitate  ecclesiae  non  potest  custodiri,  et 
si  baptismum  et  fidem  teneatis"  (c.  Pet.  litt.  II,  172). 

'  De  Unit.  eccl.  7:  „totus  Christus  caput  et  corpus  est."  De  civit.  XXT,  25.  De 
pecc.  mer.  I,  59:  „Homines  sancti  et  fideles  fiunt  cum  homine  Christo  unus  Christus, 
ut  Omnibus  per  ejus  hanc  gratiam  societatemque  adscendentibus  ii)se  unus  Christus 
adscendat  in  caelun»,  (|ui  de  caelo  dcscendit."  »Sermo  354,  1 :  „Praedicat  Christus 
Christum." 

»De  civit.  dei  XYIU,  51,  1. 

9* 


1  32        1^'''  vvj^ltgfeschichthche  Stellimg  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

sanikoit  des  hl.  Geistes  stehen.   Mithin  ist  nur  die  katlioHsclie  Kirclie 
die  Kirche. 

7.  Hiertius  er<^ieht  sich,  dass  „salus"  ausserhalh  der  Kirclie  nicht 
zu  finden  ist;  denn  da  die  Liehe  an  die  sichthare  Kirche  gebunden 
ist,  so  ermangeln  auch  die  heroischen  Thaten  des  Glaubens  und  d(^r 
Glaube  selbst  des  heilbringenden  Charakters,  der  nur  dui'ch  Liebe 
zu  Stande  kommt  K  Es  können  also  (s.  später)  wohl  ausserhalb 
der  Kirche  die  Mittel  der  Heiligung  vorhanden  sein,  es  kann  ein 
gewisser  Glaube  vorhanden  sein,  es  können  Wunderkräfte  da  sein; 
aber  sie  können  nicht  den  Effect  haben  und  den  Nutzen  bringen,  welchen 
sie  zu  bringen  bestimmt  sind. 

8.  Das  zweite  Merkmal  der  Kirche  ist  die  Heiligkeit.  Diese 
besteht  darin,  dass  die  Kirche  durch  ihre  Verbindung  mit  Christus 
und  die  Wirksamkeit  des  Geistes  heilig  ist,  die  Mittel  (Wort  und 
Sacramente)  besitzt,  um  ihre  einzelnen  Glieder  heilig  zu  machen,  d.  h. 
in  der  Liebe  zu  vollenden,  und  dieses  Ziel  auch  wirklich  erreicht. 
Dass  ihr  das  nicht  bei  Allen  gelingt  (erst  im  Jenseits  wird  sie  ohne 
Flecken  und  Runzeln  sein),  die  in  ihrer  Mitte  sind  ^,  ja  dass  sie 
die  Sünde  in  den  AVenigsten  gänzlich  vernichten  kann,  raubt  ihr 
nichts  an  ihrer  Heihgkeit.  Sogar  ein  Ueberwiegen  der  mali  et  hypo- 
critae  über  die  Zahl  der  boni  et  spiritales  ^  nimmt  der  Kirche  nichts 
von  derselben ;  denn  es  gäbe  überhaupt  keine  Kirche,  wenn  die  dona- 
tistische  These  richtig  wäre,  dass  unheilige  GHeder  die  Existenz  der 
Kirche  aufhöben.  Die  Donatisten  müssen  selbst  ihre  Behauptung  in 
ganz  wilDiürUcher  Weise  beschränken,  um  nicht  ilie  Kirche  zu  ver- 
nichten ^ 

9.  Obgleich  das  Unkraut  nicht  auszurotten  ist,  da  die  Menschen 
nicht  allwissend  sind  und  das  Diesseits  nicht  der  Ort  der  Vollendung 
ist,  so  übt  die  Kirche  doch  Zucht  und  unter  Umständen  selbst  die 
Excommunication,  aber  dies  nicht  eigenthch  desshalb,  um  ihre  Heilig- 


*  Ep.  173,6:  „Foris  ab  ecclesia  constitutus  et  separatus  a  compagine  unitatis 
et  vinculo  caritatis  aeterno  supplicio  pimiveris,  etiam  si  pro  Christi  nomine  vi^^.l9 
incenderis." 

^  Hier  werden  die  Bibelstellen  gebraucht,  die  schon  Calixt  und  die  Antinova- 
tianer  angeführt  haben  (Arche  Noah,  Unkraut  im  Weizen  u.  s.  \v.). 

^  Dass  Jene  zahlreicher  als  Diese  sind  (auch  in  der  Kirche),  scheint  Augustiu's 
Meinung  zu  sein.  Jedenfalls  geht  nach  ihm  die  Mehrzahl  der  Menschen  verloren. 
Enchir.  97. 

*  De  bapt.  II,  8:  Hätten  die  Donatisten  Recht,  so  hätte  es  schon  zur  Zeit 
Cyprian's  keine  Kirche  gegeben ;  sie  selbst  wären  also  unheiligen  Ursprungs.  OW 
hält  ihnen  Augustin  auch  entgegen,  wie  viel  grobe  Sünder  sie  in  ihrer  Mitte  haben. 
Die  gröbste  Sünde  bei  ihnen  ist  freilich  —  das  Schisma  (c   litt   ?et.  II,  221). 


4 


Die  Heiligkeit  der  Kirche.  133 

keit  zu  erhalten,  sondern  um  die  Einzelnen  zu  erziehen,  resp.  vor 
Ansteckung  zu  bewahren.  Die  Kirche  kann  aber  auch  toleriren  (c. 
Petil.  J,  25:  „malos  in  unitate  catholica  vel  non  noverunt  vel  pro 
unitate  tolerant  quos  noverunt");  sie  kann  selbst  offenbare  und  grobe 
Sünder  dulden,  wenn  die  Ausübung  ihrer  Strafgewalt  im  einzelnen 
Fall  grössere  Nachtheile  zur  Folge  haben  würde  ^  Dadurch,  dass 
sie  das  Schlechte  nie  billigt  und  stets  über  die  Mittel  der  Heiligung 
verfügt,  ist  sie  selbst  vor  der  Verflechtung  mit  dem  Unheiligen  sicher- 
gestellt ^. 

10.  Aber  freihch  gehört  es  zu  ihrer  HeiUgkeit,  dass  sie  auch 
wirkhch  heihge  Glieder  erzeugt.  Den  Beweis  dafür  kann  sie  liefern, 
sofern  Einige  in  ihr  die  Vollkommenheit  erreicht  haben,  sofern  Wun- 
der und  Zeichen  durch  sie  fort  und  fort  noch  gewirkt  werden,  so- 
fern eine  allgemeine  Hebung  und  HeiHgung  der  Sitten  durch  sie  er- 
zielt ist,  und  sofern  endlich  am  Ende  ihr  gesammter  Bestand  heilig 
sein  wird. 

11.  Noch  deutlicher  freilich  zeigt  sich  ihre  Heiligkeit  darin,  dass 
nur  innerhalb  der  Kirche  persönliche  Heihgkeit  erlangt  werden 
kann  (s.  oben  sub  7)  ^. 

12.  Die  Unheiligen  in  der  Kii'che  gehören  fraglos  zur  Kirche ;  denn 
sie  stehen  in  der  Einheit  unter  der  Wirkung  der  Heihgungsmittel  und 
können  noch  boni  et  spiritales  werden.  Allein  sie  gehören  nicht  zum 
Heihgthum  der  Kirche,  sondern  bilden  einen  weiteren  Kreis  in  ihr 
(„vasa  in  contumeliam  in  domo  dei" ;  sie  sind  nicht  selbst,  wie  die  „vasa 
in  honorem",  die  domus  dei,  sondern  sind  „im  Hause" ;  sie  sind  „in 
communione  sacramentorum",  nicht  im  eigenthchen  Verbände  des  Hau- 
ses, sondern  „congregationi  sanctorum  admixti" ;  sie  sind  desshalb  in 
gewissem  Sinn  nicht  in  der  Kirche,  weil  sie  nicht  die  Kirche  selbst 
sind;  daher  kann  man  auch  die  Kirche  als  „corpus  permLxtum"  be- 
zeichnen)*. Ja  selbst  die  Häretiker  und  Schismatiker,  sofern  sie  kirch- 


*  Der  Gedanke,  im  neuen  Bund  sei  Alles  milder  geworden,  als  im  alten,  findet 
sich  hie  und  da  bei  Augustin. 

''^  C.  litt.  Pet.  III,  4:  „Licet  a  malis  interim  vita,  moribus,  corde  ac  voluntate 
separari  atque  diseedere,  quae  separatio  semper  oportet  custodiatur.  (Jorporalis 
autem  separatio  ad  saeculi  finem  fidenter,  ])atienter,  fortiter  exspectatur." 

"  Sermo  4.  1 1  :  „Ümnes  quotrpiot  f'uerunt  sancti,  ad  ipsam  ccclesiam  per- 
tinout.'* 

*  „Corpus  pciimixtum"  gegen  die  zweite  Regel  dos  Tichonius,  der  von  einem 
zweigetheilten  Leibe  des  Herrn  gesprochen  hatte,  was  Augustin  verwirft.  Hier 
giebt  es  nicht  wenige  Ausführungen  Augustin's,  die  den  (iedanken  nahe  legen,  eine 
in  der  sichtbaren  Kirche  aiü  occulto"  vorhandene  unsichtbare  sei  die  wahre  Kirche 
(de  bapt.  V,  Ö8j. 


1 34        Die  weltgeschichtliche  Stelluug  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

licht)  Heiligungsmittel  sich  angeeignet  haben  (s.  unten),  gehören  zur 
katholischen  Kirche,  da  diese  sich  aus  ihnen  Söhne  zeugt,  ohne  ihnen 
noch  einnnd  die  Taufe  ertheilen  zu  müssen  '.  Der  Charakter  der  Heilig- 
keit der  Kirche  wird  durch  diese  weiteren  Kreise  im  Gebiet  ihres  Um- 
fangs  nicht  modificirt;  denn  sie  bleibt,  auf  ihren  Grund,  ihre  Mittel  und 
ihr  Ziel  gesehen,  immer  dieselbe,  und  auch  die  Heihgkeit  aller  Glieder 
—  Augustin  sieht  von  diesem  Merkmal  nicht  ab  —  wird  einst  vor- 
handen sein. 

13.  Das  dritte  Merkmal  der  Kirche  ist  dieKatholicität.  Es  ist 
dasjenige,  welches  in  Verbindung  mit  der  Einheit  den  eindrucksvollsten 
äusseren  Beweis  und  das  sicherste  Kriterium  ihrer  AVahrhcit  liefert. 
Die  Katholicität  wurde  nämlich  vorausverkündigt  (Verbreitung  über  den 
Erdkreis),  und  sie  hat  sich  verwirklicht,  obgleich  es  als  ein  Wunder  be- 
zeichnet werden  muss,  dass  eine  Gemeinschaft,  die  solchen  Glauben 
und  Gehorsam  verlangt,  und  solche  Geheimnisse  überhefert,  diese  Ver- 
breitung erlangt  hat.  Eben  das  sinnenfällige  Wunder  ist  der  Beweis 
der  Wahrheit.  Die  Donatisten  können  nicht  die  Kirche  sein,  weil  sie 
wesentlich  auf  Afrika  beschränkt  sind.  Die  Kirche  kann  nur  dort  sein, 
wo  sie  sich  durch  die  Verbindung  mit  Rom,  mit  den  alten  orientalischen 
Kirchen,  mit  den  Gemeinden  des  Weltkreises  als  die  katholische  er- 
weist. Der  Einwurf,  dass  die  Sünde  der  Menschen  die  Verbreitung  hin- 
dere, ist  ohne  Gewicht;  denn  das  hätte  geweissagt  werden  müssen.  Es 
ist  aber  das  Gegentheil  geweissagt  und  erfüllt^.  Auch  der  Hinweis,  dass 
manche  Häresien  eine  ökumenische  Verbreitung  erlangt  haben,  ist 
ohne  Belang ;  denn  erstens  sind  fast  alle  Häresien  rational,  zw^eitens 
hat  auch  die  verbreitet ste  Häresie  eine  andere  Häresie  neben  sich  (es 
ist  dies  der  alte  Sophismus,  das  Wesen  der  Häresien  einerseits  als  die 


^  De  bapt.  1, 13 :  Die  Frage  der  Donatisten  lautete,  ob  die  Taufe  nach  Meinung 
der  Katholiken  in  der  donatistischen  Kirche  „Söhne"  erzeuge.  Bejahten  sie  die 
Katholiken,  so  sollte  folgen,  dass  bei  den  Donatisten  Kirche  sei  und,  da  es  nur 
eine  gebe,  die  Kirche;  verneinten  die  Katholiken  die  Frage,  so  zogen  sie  den 
Schluss:  „Cur  ergo  apud  vos  non  renascuntur  per  baptismum,  qui  transeunt  a  nobis 
ad  vos,  cum  apud  nos  fuerint  baptizati,  si  nondum  nati  sunt?"  Darauf  antwortet 
Augustin:  „Quasi  vero  ex  hoc  generet  unde  separata  est,  et  non  ex  hoc  unde  con- 
iuncta  est.  Separata  est  enim  a  vinculo  caritatis  et  pacis,  sed  iuncta  est  in  uno  bap- 
tismate.  Itaque  est  una  ecclesia,  quae  sola  catholica  nominatur;  et 
quidquid  suum  habet  in  communionibus  diversorum  a  sua  unitate  separatis,  p  e  r 
hoc  quod  suum  in  eis  habet,  ipsa  utique  generat,  non  illae." 

^  Ein  Donatist  „historicus  doctus"  hat  freilich  den  empfindlichen  Einwand 
gemacht  (ep.  93,  22):  „Quantum  ad  totius  mundi  pertinet  partes,  modica  pars  est 
in  compensatione  totius  mundi,  in  qua  fides  Christiana  nominatur."  August  in  ver- 
piag  diesen  Einwand  natürlich  nicht  wirklich  zu  entkräfteu. 


Die  Katholicität  und  Apostolicität  der  Kirche.  •  135 

Zersplitterung  aufzufassen,  andererseits  sie  doch  als  eine  solche  Einheit 
vorzustellen,  dass  man  jeder  einzelnen  zum  Vorwurf  macht,  dass  andere 
neben  ihr  stehen),  und  dadurch  offenbart  auch  die  verbreitetste  ihre 
Falschheit. 

14.  Das  vierte  Merkmal  der  Kirche  ist  ihre  Apostolicität.  Es 
tritt  in  der  katholischen  Kirche  zu  Tage  1)  in  dem  Besitz  der  aposto- 
lischen Schriften  ^  und  der  apostoHschen  Lehre,  2)  in  der  Fähigkeit 
dieser  Kirche,  ihre  Existenz  bis  auf  die  Apostelgemeinden  und  die 
Apostel  zurückzuführen  und  ihre  Einheit  (communicatio)  mit  den  von 
den  Aposteln  gestifteten  Gemeinden  aufzuweisen  ^.  Dieser  Nachweis 
ist  vornehmlich  an  der  Kette  der  Bischöfe  zu  führen,  deren  Bedeutung 
übrigens  von  Augustin  nicht  so  stark  betont  wird,  wie  von  Cyprian; 
ja  es  finden  sich  Stellen  bei  Augustin,  in  denen  das  allgemeine  Priester- 
thum,  wie  es  TertuDian  festgehalten  hat,  verkündigt  wird  ^. 

15.  Unter  den  Apostelgemeinden  sind  zwar  auch  die  orientalischen 
sehr  wichtig ;  allein  am  wichtigsten  ist  die  römische  Gemeinde  und  dem- 
gemäss  deren  Bischof.  Petrus  ist  Pepräsentant  der  Apostel,  der  Christen 
überhaupt  (ep.  53,  2:  „totius  ecclesiae  figuramgerens"),  der  schwachen 
Christen,  der  Bischöfe  resp.  des  Lehramts  der  Bischöfe.  Die  Theorie 
des  Cyprian  und  Optatus  von  der  cathedra  Petri,  w^elche  der  römische 
Bischof  habe  und  mit  der  man  im  Einvernehmen  stehen  müsse,  weil  sie 
die  sedes  apostolica  '/ar'  i^oyjjv  sei,  d.  h.  die  Trägerin  der  Lehrautori- 
tät und  der  Kircheneinheit,  hat  Augustin  festgehalten.  Ueber  die  Inr 
falhbilität  des  römischen  Stuhls  hat  er  sich  ebenso  unsicher  und  wider- 
spruchsvoll ausgedrückt  wie  über  die  der  Concilien  und  des  Episkopats. 
Dass  ein  Concil  über  dem  römischen  Bischof  steht,  war  Augustin  nicht 
zweifelhaft  (ep.  43,  19)  ^ 

16.  Die   Irrthumslosigkeit  der  katholischen  Kirche   stand 


*  Dass  diese  bei  Au^stin  ihre  selbständige  Autorität  —  mindestens  in  vieler 
Hinsicht  —  haben,  wurde  schon  bemerkt;  s.  de  doctrin.  christ.  und  ep.  54.  55.  In 
nicht  wenigen  Ausführungen  scheint  es  sogar  so,  als  sei  die  Berufung  auf  die  Kirche 
lediglich  eine  Berufung  auf  die  Kirche,  welche  die  Schrift  besitzt. 

^  Ausser  sämmtlichen  antidonatistischen  Schriften  s.  z.  B.  auch  cp.  43,  21 ; 
44,  3;  49,  2.  3;  51,  5;  53,3. 

"  De  civit.  deiXX,  10:  Unterschied  von  saccrdotes  und  proprio  saccrdotes. 

*  Augustin's  Stellung  zum  römischen  Bischof,  d.  h.  zur  unfcihlbaren  römischen 
Tradition,  tritt  deutlich  zu  Tage  in  seiner  Beurthcilung  des  Zosimus  (Reuter  S.312ff. 
325  ff.)  und  in  dem  höchst  werthvollcn  36.  Brief,  der  die  Schrift  eines  römischen 
Anonymus  behandelt,  welcher  die  römische  Gemeinde  sammt  Petrus  glorificirt 
(c.  21:  „Petrus,  apostolorum  caput,  coeli  ianitor,  ecclesiae  fundamentum")  und 
statutarische  Einrichtungen  der  römischen  Kirclic  für  allgemein  verbindlich  er- 
klärt hatte. 


13f>        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augußtiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Augustin  fest;  denn  sie  ist  eine  nothwendige  Folge  ihrer  auf  der  Apo- 
stolicitiit  ruhenden  Autorität.  Allein  dieses  Prädicat  durchzudenken 
und  an  der  Repräsentation  und  den  Entscheidungen  der  Kirche  streng 
durchzuführen,  dazu  war  Augustin  niemals  veranlasst.  Daher  hat  er 
auch  theils  unbefangen,  theils  nothgedrungen  im  Einzelnen  Manches  zu- 
gestanden, was,  consequent  erfasst,  die  InfallibiHtät  der  Kirche  ver- 
nichtete. 

17.  Ebenso  stand  Augustin  die  Unumgänglichkeit  der  katho- 
lischen Kirche  fest ;  denn  sie  folgt  aus  ihrem  in  der  Einheit  und  Heihg- 
keit  sich  ofl'enbarenden  ausscliliesslichen  Verhältniss  zu  (Christus  und 
zum  hl.  Geist.  Tn  dem  Ausdruck  „ecclesia  mater"  *  (resp.  „corpus 
Christi")  ist  die  Unumgänglichkeit  ausgeprägt  (über  Modihcationen  s. 
später). 

18.  Endlich  stand  Augustin  die  Unv  ergänglichkeit  der  Kirche, 
damit  aber  auch  ihre  U  r  a  n  l'ä  n  gl  i  c  h  k  e  i  t  fest ;  denn  sie  folgt  aus  dem 
ausschliesslichen  Verhältniss  zu  Gott;  doch  wirkten  in  die  Vorstellung 
von  der  Unvergänglichkeit  und  UranfängUchkeit  Gedanken  hinein,  die 
nicht  aus  den  Erwägungen  über  die  empirische  Kirche  geflossen  waren 
(die  „liimmlische"  Kirche  einerseits,  der  „Gottesstaat"  andererseits; 
s.  darüber  unten). 

19.  Die  empirische,  katholische  Kirche  ist  auch  das  „regnum  dei" 
(die  „civitas  dei").  Zwar  sind  diese  Ausdrücke  primär  innerhalb  einer 
Betrachtung  gebraucht,  die  gegen  die  empirische  Kirche  indifferent  ist 
(s.  unten);  allein  da  es  für  Augustin  schliesslich  doch  nur  eine  Kirche 
giebt,  so  gilt  Alles,  was  von  der  Kirche  gilt,  auch  von  der  empirischen 
Kirche.  Zu  allen  Zeiten  hat  er  den  alten,  längst  auf  die  Kirche  an- 
gewendeten Terminus  „Reich  (Stadt)  Gottes  ••  auf  die  katholische  Kirche 
bezogen,  dabei  natürlich  nicht  daran  denkend,  dass  die  Kirche  corpus 
peimixtum  sei,  sondern  verum  '^. 


^  C.  litt.  Pet.  III,  10:  „deum  patrem  et  eius  ecclesiam  matrem  habere."* 
'^  Vielleicht  am  schlagendsten  ist  hier  ep.  36,  17.  Der  anonyme  römische 
Christ  hatte  sich  zum  Beweise,  das  römische  Sabbathfasten-Gebot  sei  apostolisch, 
auf  die  SteUe  berufen :  „Non  est  regnum  dei  esca  et  potus"  und  „regnum  dei'' 
einfach  mit  „ecclesia"  identificirt.  Augustin  weist  diese  Identificirung  nicht 
zurück,  sondern  nur  den  Schluss,  den  der  Anonymus  aus  ihr  zieht.  Hier  ist  aber 
„ecclesia"  offenbar  die  katholische  Kirche.  In  de  trinit.  I,  16.  20.  21  ist  es  Augu- 
stin nicht  zweifelhaft,  dass  das  regnum,  welches  Christus  einst  dem  Vater  übergeben 
wird,  „omnes  iusti  sunt,  in  quibus  nunc  regnat  mediator"  resp.  die  „credentes  et 
viventes  ex  fide;  fideles  quippe  eius  quos  redemit  sanguine  suo  dicti  sunt  regnum 
eius".  Das  ist  die  Kirche;  aber  dabei  ist  selbstverständlich  von  ihren  irdischen 
„Runzeln"  abgesehen,  jedoch  nicht  von  ihrer  Organisation;  s.  in  Fs.  126,  3: 
„Quac  autem  domus  dei  et  ipsa  civitas V  Domus  euini  dei  populus  dei,  quia  domus 


Die  Kirche  und  das  Reich  Gottes.  137 

20.  Aber  Augustin  hat  der  Vorstellung,  die  Kirche  ist  das  Reich 
Gottes,  einen  viel  stärkeren  Halt  gegeben  als  seine  Vorgänger,  und  er 
hat  durch  die  Art,  wie  er  in  seiner  „göttlichen  Komödie",  dem  Werk 
de  civitate  dei,  die  Kirche  dem  Staat  entgegengestellt  hat,  weit  über 
seine  eigene  ausgesprochene  Meinung  hinaus,  die  Ueberzeugung  erweckt, 
dass  die  empirisch-kathohsche  Kirche  sans  phrase  das  Reich  Gottes  sei, 
der  selbständige  Staat  das  Reich  des  Teufels.  Obgleich  nämhch  primär, 
wie  sich  zeigen  wird,  für  Augustin  die  civitas  terrena  die  societas  der 
Gottlosen  und  Verworfenen  (einschhesslich  der  Dämonen),  die  civitas 
dei  die  caelestis  communio  aller  sancti  aller  Zeiten  (die  Engel  mitein- 
geschlossen) ist,  so  stand  es  ihm  doch  fest,  dass  jene  im  Weltstaat,  diese 
in  der  empirischen  Kirche  ihre  geschichtlich-irdische  Ausdrucks-  und 
Erscheinungsform  besitzt;  denn  es  giebt  schlechterdings  nicht  zwei 
Städte,  zwei  Reiche,  zwei  Tempel,  zwei  Häuser  Gottes.  Demgemäss 
ist  das  Reich  Gottes  die  Kirche.  Und  hingerissen  von  der  Autorität  der 
Kirche  und  iln-em  Siege  in  der  Welt,  zugleich  tief  durchdrungen  von 
dem  Verfall  des  römischen  Weltreiches,  welches  seine  innere  und  äussere 
Kraft  offenkundig  nur  noch  an  der  Kirche  hatte,  hat  Augustin  in  der 
gegenwärtigen  Epoche,  d.  h.  in  der  Kirchengescliichte,  das  1000jährige 
Reich  gesehen,  welches  Johannes  verkündigt  hat  (de  civit.  XX).  Damit 
hat  er  den  alten  Chihasmus  der  lateinischen  Kirche  umgestimmt  \  ohne 
ihn  vöUig  beseitigen  zu  können.  Stand  aber  einmal  fest,  dass 
das  1000jährige  Reich  jetzt  vorhanden  sei  (seit  Christi  Er- 
scheinung), so  war  damit  die  Kirche  auf  den  Thron  der  Welt- 
herrschaft erhoben;  denn  dieses  Reich  ist  ein  Reich  der  Herr- 
s  ch  af  t  Christi,  Christus  aber  regiert  gegenwärtig  nur  durch  die  Kirche. 
Augustin  hat  die  hierarchische  Tendenz  seines  Satzes  weder  verfolgt, 
noch  deuthch  erkannt ;  machte  er  sich  doch  die  gegenwärtige  Herrschaft 


dei  templum  dei  .  .  .  omnes  fidclcs,  ({uac  est  domus  dei,  cum  angelis  faciunt  unam 
civitatem.  Habet  custodes.  Christus  custodiebat,  custos  erat.  Et 
episcopi  hoc  faciuut.  Nam  idco  altior  locus  positus  est  episcopis,  ut  ipsi  super- 
intendant  et  tamquam  custodiant  populum." 

*  Wie  weit  er  dariu  gegangeu  ist,  zeigt  die  Beobachtung,  dass  er  im  20.  Buch 
nicht  wenige  Stellen,  die  sich  deutlich  auf  die.  Wiederkunft  Chi-isti  beziehen,  auf  die 
Gegenwart  als  bereits  erfüllt  bezogen  liat;  s.  c.  5:  „Malta  praeterea  (juae  de  ultimo 
iudicio  ita  dici  videntur,  ut  diligenter  considerata  re})eriantur  ambigua  vel  magis 
ad  aliud  pertinentia,  sive  scilicet  ad  eum  salvatoris  adventum,  quo  per 
tütum  hoc  tempus  in  eccicsia  sua  venit,  hoc  est  in  membris  suis, 
particiilatim  atrjue  paulatim,  quoniam  tota  corpus  est  eius,  sive  ad 
excidium  terrenacHierusalcm,  (juia  et  de  illo  cum  loquitur,  plerumcpie  sie  lo(iuitur, 
tanKjuam  de  fine  saeculiatque  illo  die  iudicii  novissimo  et  magno  loquatur."  Doch 
hat  er  auclj  noch  viel  Dramatisch-eschatologisches  bestehen  lassen. 


138        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Christi,  die  er  nachweisen  musste  (XX,  9  13)  daran  klar,  dass  ledig- 
hch  die  „sancti^  mit  Christus  (nicht  etwa  „das  Unkraut")  herrschen, 
dass  somit  nur  die  im  Ileiche  herrsclien,  die  seihst  das  Eeich  sind,  und 
dass  sie  herrschen,  weil  sie  nach  dem,  was  oben  ist,  trachten,  den  Hei- 
ligungskampf kämi)ien,  Geduld  im  Leiden  üben  u.  s.  w.  Allein  durch 
zwei  Ausführungen  hat  er  selbst  das  hierarchische  Verständniss  seines 
Gedankens  direct  vorbereitet,  resp.  geradezu  ausgeprägt.  Die  eine  ist 
ihm  exegetisch  abgenöthigt  worden  ^,  die  andere  ist  ein  Ergebniss  deut- 
licher eigener  Einsicht.  Ersthch  nämlich  musste  er  nachweisen,  dass 
schon  jetzt  Offenb.  Job.  20,  4  sich  erfülle  („die  auf  den  Thronen  Sitzen- 
den richten").  Er  fand  die  Erfüllung  in  den  Vorstehern  der 
Kirche,  welche  den  Binde-  und  Löseschlüssel  verwalten, 
also  im  Klerus  (XX,  9).  Zweitens  hat  er  in  dem,  was  er  zu  Ungunsten 
sowie  zu  Gunsten  des  Staates  absichtlich  ausführt,  die  Herrschaft  der 
Kirche  über  den  Staat  ^  vorbereitet  (1.  XIX  und  schon  vorher  im 
V.  Buch).  Die  civitas  terrena  und  dem  entsprechend  die  Weltreiche 
sind  nämlich  aus  der  Sünde  entsprungen,  der  ehrgeizigen  virtus,  und 
schon  desshalb,  weil  sie  irdischen  Gütern  nachstreben  (zusammengefasst 
in  der  pax  terrena,  durchgeführt  in  allen  irdischen  Verhältnissen),  mögen 
dieselben  auch  imL'dischen  berechtigt  und  heilsam  sein,  sind  sie  sündig 
und  müssen  schliesslich  zu  Grunde  gehen.  Das  Weltreich  ist  doch 
letzthch  ein  latrocinium  magnum  (IV,  4:  „remota  iustitia  quid  sunt 
regna  nisi  magna  latrocinia?"),  welches  in  der  HöUe  im  ewigen  Krieg 
endigt;  die  respublica  Romana  hat  niemals  den  Frieden  gehabt  (XIX, 
21).  Von  hier  aus  ist  der  Gottesstaat  die  einzige  berechtigte  Ver- 
bindung. Aber  Augustin  weiss  doch  die  Sache  noch  anders  zu  wenden. 
Die  Herstellung  der  pax  terrena  (s.  ihre  mannigfaltige  Ausgestaltung 
XIX,  13)  ist  auf  Erden  notliwendig.  Auch  die,  welche  die  pax  cae- 
lestis  als  höchstes  Gut  schätzen,  sind  verpflichtet,  auf  Erden  durch 
Liebe  für  die  pax  terrena  zu  sorgen  (schon  der  jüdische  Staat  war  in 
diesem  Sinn  berechtigt;  s.  die  Beschreibung  IV,  34  und  den  allge- 
meinen Satz  XV,  2 :  „Invenimus  ergo  in  terrena  civitate  duas  formas 
—  hier  ist  unter  terrena  civitas  auch  der  Gottesstaat  zu  verstehen,  so- 
fern er  sich  auf  Erden  abbildet  — ,  unam  suam  praesentiam  demon- 
strantem,  alteram  caelesti  civitati  significandae  sua  praesentia  servien- 
tem").  Das  römische  Reich  ist  ein  christliches  geworden,  und  Augustin 
freut  sich  dess  ^.     Allein  nur  mit  Hülfe  der  iustitia,  die  auf  der  Caritas 


1  S.Reuter,  Studie  III. 

2  Schon  im  35.  Brief  (v.J.  396,  c.  3)  hat  Augustin  geschrieben:  „Dominus  ingo 
suo  in  gremio  ecclesiae  toto  orbe  diffuso  omnia  terrena  regna  subiecit.". 

^  Im  Begriff  des  irdischen  Staates  liegt  also  nicht  unter  allen  Umständen, 


i 


Die  Kirche  und  das  Reich  Gottes.  '  139 

ruht,  kann  der  Staat  die  pax  terrena  gewinnen  und  seinen  Charakter 
als  latrocinium  verlieren.  lustitia  und  Caritas  sind  aber  nur  dort,  wo  die 
Verehrung  des  wahren  Gottes  ist,  in  der  Kirche,  dem  Gottesstaat  ^ 
Also  muss  der  Staat  abhängig  von  dem  Gottesstaat  sein,  resp.  die- 
jenigen,  welche  als  Herrscher  für  die  terrena  pax  der  Gesellschaft  Sorge 
tragen,  sind  dann  berechtigt  und  „feHces",  wenn  sie  „suam  potestatem 
ad  dei  cultum  maxime  dilatandum  maiestati  eins  famulam  faciunt,  si 
plus  amant  illud  regnum,  ubi  non  timent  habere  consortes" 
(V,  24).  Die  Herrscher  müssen  also  nicht  nur  Christen  sein,  sondern 
sie  müssen  der  Kirche  dienen,  um  ihren  eigenen  Zweck  (pax  terrena) 
zu  erreichen ;  denn  ausserhalb  des  Gottesstaates  (der  Liebe  und  Ge- 
rechtigkeit) giebt  es  nicht  virtutes,  sondern  nur  scheinbare  Tugenden, 
d.  h.  glänzende  Laster  (XIX,  25).  Mag  nun  auch  Augustin  hier  und 
anderswo  die  relative  Selbständigkeit  und  das  relative  Recht  des  Staats  ^ 
noch  so  sehr  anerkannt  haben  —  die  These  besteht,  dass  der  Staat  der 
Kirche,  da  sie  Gottesreich  ist,  zu  dienen  hat,  weil  er  als  berechtigter 
ihr  gleichsam  enhypostasirt  ist  ^.  Der  Staat  soll  aber  vornehmlich  der 
Kirche  durch  Zwangsmassregeln  gegen  den  Götzendienst,  die  Häretiker 
und  Schismatiker  dienen;  denn  der  Zwang  ist  in  solchen  Fällen  ange- 
bracht, damit  die  Guten  nicht  verführt,  die  Schwankenden  und  Un- 
wissenden belehrt  und  die  Bösen  bestraft  werden.  Desswegen  folgt 
aber  für  Augustin  keineswegs,  dass  der  Staat  etwas  zu  verfolgen  habe, 
was  man  eine  selbständige  Kirchen-  und  Religionspolitik  nennen 
könnte.  Vielmehr  führt  derselbe  in  Sachen  der  Religion  stets  die  Sache 
der  Kirche,  und  damit  ist  schon  ausgedrückt,  dass  er  die  Belehrungen 
seitens  der  Kirche  zu  empfangen  hat.  So  ist  auch  Augustin  thatsäch- 
lich  verfahren.  In  dem  augustinischen  Gedanken  des  „christlichen  Staats" 
war  ein  cäsaropapistisches  Recht  des  Staats  so  wenig  eingeschlossen, 
dass  es  vielmehr  hier  gar  nicht  aufkommen  konnte.  Auch  wenn  die 
Kirche  um  Milde  für  die  Häretiker  bittet,  gegen  die  sie  selbst  den  Arm 


dass  er  der  Organismus  der  Sünde  sei.  Stellen  über  den  christlichen  Staat,  die 
christlichen  Zeiten,  die  katholischen  Kaiser  bei  Reuter  S.  141. 

^  Freilich  giebt  es  auch  nach  Augustin  eine  irdische  iustitia,  die  gegenüber 
flagitia  und  facinora  ein  hohes  Gut  ist;  auch  er  weiss  den  Werth  relativer  Güter  zu 
schätzen  (Reuter  S,  135  ff")-,  aber  letztlich  zerfliesst  diese  iustitia,  weil  sie  auf  die 
Dauer  nichts  Gutes  stiften  kann,  da  sie  selbst  nicht  aus  „dem  Guten"  geflossen  ist. 

^  Was  vom  Staat  gilt,  gilt  natürlich  ebenso  von  allen  particularen  Gütern, 
Ehe,  Famihe,  Eigenthum  u.  s.  w. 

^  Augustin  denkt  hier  also  anders  als  Optatus  (s.  oben  S.  43)-,  mindestens  ist 
ihm  daneben  eine  zweite  Erwägung  geläufig,  nach  welcher  nicht  die  Kirche  im 
römischen  Reich  ist,  sondern  dieses  Reich  an  der  Kirche.  In  Dingen  der  terrena 
fclicitas  ist  die  Kirche  nach  Augustin  zum  Gehorsam  gegen  den  Staat  verpflichtet. 


140        Die  weltgeschichtliche  Stelkmg  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

des  Sttiiits  angerufen  hjit,  so  ist  damit  das  Strafrecht  des  Staats  in 
Ansehung  der  Kirche;  nicht  seihständig  gestellt:  er  dient  der  Kirche, 
weiui  er  straft,  und  er  willfährt  der  Kirche,  wenn  er  Milde  übt'. 

11  til.  Durch  die  donatistische  Praxis  der  Wiedertaufe  und  der 
Reordination  war  Augustin  genuthigt,  die  Bedeutung  und  Wirksamkeit 
der  Functionen  der  Kirche,  dem  Optatus  folgend,  genauer  ins  Auge  zu 
fassen.  Es  konnte  nicht  ausbleiben,  dass  er  dabei  den  Begriff  der  Kirche 
als  communio  sacramentorum  noch  mehr  in  den  Vordergrund  schieben 
und  zugleich  über  die  Sacramente  —  um  ihre  Objectivität  zu  erweisen 
und  sie  von  Menschen  unabhängig  zu  stellen,  um  sie  dabei  nicht  völlig 
zu  veräusserlichen,  aber  sie  doch  als  ausschhessliches  Eigenthum  der 
Kirche  zu  vindiciren  —  höchst  sophistische  Erwägungen  anstellen 
musste,  die  er  indess  noch  nicht  bis  zu  Ende  durchgeführt  hat. 

22.  Zunächst  war  es  ein  gewaltiger  Fortschritt,  den  nur  ein  so 
innerlicher  Mann  wie  Augustin  machen  konnte ,  dass  er  neben  die 
Sacramente  das  Wort  gestellt  hat.  Die  Formel  ;,AVort  und  Sacra- 
mente" stammt  von  ihm.  Hat  er  auch  die  Bedeutung  des  „Worts" 
noch  nicht  gebührend  geschätzt  und  verfolgt,  so  hat  er  doch  erkannt, 
dass  das  AVort  als  das  Evangelium  allem  heilbringendem  Handeln  der 
Kirche  zu  Grunde  liegt  '^. 

23.  So  eingehend  er  sich  mit  den  Sacramenten  beschäftigt  hat,  so 
wenig  hat  er  eine  Sacraments  lehre  entworfen,  vielmehr  sich  mit  der 
empirischen  Reflexion  über  das  Verfahren  der  Kirche  und  der  Ver- 


*  TJeber  das  Verhältuiss  von  Kirche  imd  Staat  s.  Dorn  er  S.  295 — 312  uud 
die  Erniässigungen,  die  Reuter  iu  der  3.  uud  6.  Studie  für  uöthig  erachtet  hat.  Die 
Inquisitions-  und  Zwangsthcoric  hat  Augustiu  nicht  von  Antaug  an  gebilligt  (c.  ep. 
Man.c.l — 3),  sondern  im  donatistischeu  Streit  sich  von  ihrer  Nothwendigkeit  über- 
zeugt („coge  intrare").  Alle  Zwangsmittel  hielt  er  jetzt  für  berechtigt  ausser  der 
Todesstrafe  (Optatus billigte  auch  diese).  —  AVenn  es  nicht  schwer  ist,  nachzuweisen, 
dass  Augustin  stets  ein  selbständiges  Recht  des  Staates  auf  Gehorsam  anerkannt 
hat,  so  ist  damit  doch  wenig  bewiesen.  Es  mag  ja  sein,  dass  Augustiu  den  Staat 
relativ  höher  geschätzt  hat  als  die  alten  Christen,  die  noch  stärker  eschatologisch 
bestimmt  waren.  Allein  man  darf  nicht  vergessen,  dass  er  dem  Staat  gegenüber 
nicht  nur  die  caelestis  societas,  sondern  die  catholica  ausgespielt  hat. 

■-^Ep.  21,  3:  „sacramentum  et  verbum  dei  populo  min  istrare.'*  Sehr  häu% 
ist  verbum  =  evangelium  =  Christus  und  die  Ursache  der  Wiedergeburt.  C.  litt. 
Pet.  I,  8:  „semen  quo  regeneror  verbum  dei  est."  Die  objective  Wirksamkeit  des 
AVortes  wird  streng  betont,  aber  —  ausserhalb  der  Kirche  nicht  bis  zur  Einflössung 
der  Caritas.  C.  Pet.  III,  67 :  „minister  verbi  et  sacramenti  evangelici,  si  bonus  est, 
consocius  lit  evangelii,  si  autem  malus  est,  non  ideo  dispensator  non  est  evangelii." 
II,  11:  „nascitur  credens  non  ex  ministri  sterilitate,  sed  ex  veritatis  foecuuditate." 
Doch  hat  Luther  mit  Recht  auch  selbst  Augustin  zu  den  neumodischen  Theologen 
gerechnet,  die  vom  Sacrament  viel  und  vom  AVort  wenig  sprechen. 


Wort  und  Sacrament.  141 

theiciigung  desselben  begnügt.  Weder  über  die  Zahl  noch  über  den 
Begriff  der  Sacramente  hat  er  eine  einstimmige  Lehre  entwickelt  ^ 
Sacrament  ist  ihm  jedes  sinnliche  Zeichen^  mit  welchem  ein  heilbringen- 
des AVort  verbunden  ist  (in  Joh.  to.  80,  3 :  „accedit  verbum  ad  elemen- 
tum  et  fit  sacramentum,  etiam  ipsum  tamquam  visibile  verbum). 
Auf  dem  letzteren  und  dem  Glauben  liegt  so  sehr  der  Nachdruck  (in 
Joh.  25;  12:  „crede  et  manducasti"),  dass  das  Zeichen  an  vielen  Stellen, 
ja  in  der  Regel,  nur  als  Bild  bezeichnet  wird.  Allein  diese  Einsicht 
wird  dadurch  modificirt,  dass  an  fast  ebenso  vielen  Stellen  auch  das 
heilbringende  Wort  als  ein  signum  eines  nebenher  gehenden  Unsicht- 
baren gefasst  ^  und  Jedermann  gewarnt  wird,  irgend  etwas  hier  für.  die 
Gewähr  der  Sache  zu  nehmen,  was  sich  sinnlich  vollzieht.  Da  man  nun 
weiter  nicht  weiss,  auf  welche  Zeichen  Augustin  seine  Vorstellungen 
vom  Sacrament  angewendet  wissen  will  —  de  doctr.  christ.  III,  9  spricht 
er  so,  als  handle  es  sich  fast  nur  um  Taufe  und  Abendmahl,  an  anderen 
Stellen  ist  es  anders  — ,  so  schwebt  Alles  im  Dunklen  ^. 

24.  Er  selbst  war  nicht  veranlasst,  in  dieser  Richtung  weiter  nach- 
zudenken. Dagegen  nöthigte  ihn  die  donatistische  These,  dass  die 
Wirksamkeit  des  Sacraments  vom  Spender  abhängig  sei,  und  die  dona- 
tistische Praxis  der  Wiedertaufe  zur  Aufstellung  zweier  Widersprüche : 
1)  Die  Sacramente  sind  allein  in  der  Kirche  wirksam,  aber  sie  sind 
auch  in  ausserkirchli eben  Kreisen  wirksam.  Hätte  er  den  ersten 

'  „Aliud  videtur  aliud  intelligitur"  (8ermo  272)  ist  der  Hauptgedanke  Augustin's, 
den  sjjäter  Ratramnus  so  energisch  geltend  gemacht  hat.  Hahn  (L.  v.  d.  Sacrara. 
S.  11  ff.)  hat  die  verschiedenen  Aeusserungen  Augustin's  über  den  Begriff  des  Sacra- 
ments ausgeführt.  Unter  welche  seltsame  Betrachtung  ihm  unter  Umständen  derBe- 
griff"  „Sacrament"  trat,  lehren  z.  B.  der  36.  und  54.  Brief;  s.  54,  1 :  „Dominus  noster, 
sicut  ipse  in  evangelio  loquitur,  leni  iugo  suo  nos  suhdidit  et  sarcinae  levi;  unde 
sacramentis  numero  pauciasimis,  ohservatione  facillimis,  significatione  praestantis- 
simis  societatem  novi  populi  colligavit."  Es  folgt  Taufe  und  Abendmahl  „et  si  quid 
aliud  in  scripturis  canonicis  commendatur  .  ,  .  lila  autem  (|uae  non  scrii)ta,  sed 
tradita  custodimus,  (juae  (|uidem  toto  terrarum  orbe  servantur,  datur  intelligi  vel 
abipsisapostolis  vel  plenariisconciliis,  quorum  est  in  ecclesiasaluberrimaauctoritaa, 
commendata  atcjuo  statuta  retineri,  sicut  quod  domini  i)assio  et  resurrectio  et 
ascensio  in  caelum  et  adventus  de  caelo  Spiritus  sancti  anniversaria  sollemnitate 
celebrantur,  et  si  quid  aliud  tale  oc(;urrirt.  quod  servatur  al)  universa,  quacumque  se 
diffundit,  ecclesia." 

'^  De  catech.  rud.  .50:  „Sigiiacula  (luidcm  iviiini  divinannn  esse  visibilia,  sed 
res  ipsas  invisibilos  in  eis  hr)norari." 

"Hahn  (S.  12)  giebt  folgende  Definition  als  augustinisch :  „Das  Sacrament 
ist  ein  von  (xott  eingesetztes  körperliches  Zeichen  eines  hl.  Gegenstandes,  den  es 
schon  von  Xatur  durch  eine  gfiwisse  Aehnliehkcil  dnrzustelhMi  geeignet  ist,  durch 
welches  (iott  den  von  demselben  Gebrauch  Machenden  unter  gewissen  Bedingungen 
«eine  Gnade  mittheilt " 


142        r^iö  weltgeschichtliche  Stellung  Augiistiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Satz  preisgegeben^  so  hätte  er  die  Uniimgänglichkeit  der  Kirche  ver- 
leugnet ;  hätte  er  den  zweiten  Satz  geo^ifert,  so  hätte  er  die  Praxis  der 
Wiedertaufe  billigen  müssen.  2)  Die  Sacramente  sind  unabhängig  von 
jeder  menschlichen  Disposition;  die  Sacramente  sind  an  die  sichtbare 
katholische  Kirche  und  an  den  Glauben  gebunden.  Hätte  er  jenes 
preisgegeben,  so  hätte  der  Donatist  Recht,  hätte  er  dieses  in  Abrede 
gestellt,  so  wäre  das  Sacrament  ein  gegen  Christenthum  und  Glaube 
indifferentes  Zauberwerk.  Um  diese  Widersprüche  zu  beseitigen,  musste 
er  Unterscheidungen  suchen.  Er  fand  sie  nicht,  indem  er  etwa 
zwischen  Gnadenanbietung  und  Gnadenverleihung  unterschied,  sondern 
indem  er  eine  doppelte  AVirksamkeit  der  Sacramente  annahm,  1)  eine  un- 
ver^viscllbare  Abstempelung  jedes  Empfängers,  die  überall  dort  ein- 
tritt, wo  das  Sacrament  rite  gespendet  wird,  gleichgiltig  vom  wem  ^,  2)  eine 
Gnadenspendung,  die  nur  im  Verbände  der  katholischen  Kirche 
dem  Gläubigen  zu  Theil  wird.  Hiernach  konnte  er  lehren:  die  Sacra- 
mente gehören  ganz  allein  der  katholischen  Kirche  und  verleihen  nur 
in  ihr  dem  Glauben  die  Gnade ;  aber  sie  können  der  Kirche  entwendet 
werden,  da  sie  „sancta  per  se  ipsa"  primär  eine  Wirkung  ausüben,  die 
lediglich  vom  verbum  und  Signum  abhängt  (die  Aufprägung  eines  un- 
verwischbaren Charakters)  und  nicht  von  einem  menschlichen  Factor  ^. 
Die  Häretiker  haben  sie  gestohlen  und  spenden  sie  giltig  in  ihren  Ge- 
meinschaften. Daher  tauft  die  Kirche  sich  bekehrende  Häretiker 
(Schismatiker)  nicht  wieder,  dessen  gewiss,  dass  in  dem  Moment  der 
gläubigen  Unterordnung  unter  die  katholische  Gemeinschaft  der  Liebe 
dem  auswärts  Getauften  das  Sacrament  nun  „ad  salutem  valet"  ^. 


^  Ep.  173,  3:  „Vos  oves  Christi  estis,  characterem  doTninicum  portatis  in  sa- 
cramento."  De  bapt.  c.  Donat.  IV,  16:  „manifestum  est,  fieri  posse,  ut  in  eis  qui  sunt 
ex  parte  diaboli  sanctum  sit  sacramentum  Christi,  non  §d  salutem,  sed  ad  iudicium 
eorum  .  .  .  signa  nostri  imperatoris  in  eis  cognoscimus  .  .  .  desertores  sunt."  VI,  1 : 
„Oves  dominicum  characterem  a  fallacibus  depraedatoribus  foris  adeptae." 

^  De  bapt.  IV,  16:  „Per  se  ipsum  considerandus  est  baptismus  verbis  evan- 
gelicis,  non  adiuncta  neque  permixta  ulla  perversitate  atque  malitia  sive  accipien- 
tium  sive  tradentium  .  .  .  non  cogitandum,  quis  det  sed  quid  det."  C.  lit.  Pet,  I,  8 
„(Gegen  verschiedene  donatistische  Sätze,  z.  B.  den:  „conscientia  dantis  adtenditur, 
qui  abluat  accipientis"):  Saepe  mihi  ignota  est  humana  conscientia,  sed  certus  sum 
de  Christi  misericordia  .  .  ,  non  est  perfidus  Christus,  a  quo  fidera  percipio,  non 
reatum . . .  origo  mea  Christus  est,  radix  mea  Christus  est . . .  semen  quo  regeneror, 
verbum  dei  est  .  .  .  etiam  si  ille,  per  quam  audio,  quae  mihi  dicit  ipse  non  iaeit  .  . 
me  innocentem  non  facit  nisi  qui  mortuus  est  propter  delicta  nostra  et  resurrexit 
propter  iustificationem  nostram.  Non  enim  in  ministrum,  per  {|uem  baptizor,  credo, 
sed  in  eum,  qui  iustificat  impium." 

"  Hier  ist  die  sehr  oft  in  den  antidonatistischen  Schriften  gemachte  Unter- 
scheidung von  „habere"  und  „utiliter  habere"  zu  betonen;  c.  Cresc.  T,  34:  „Vobis 


Die  Sacramente.  143 

25.  Diese  Theorie,  die  das  Wesen  des  „Charakters"  und  sein  Ver- 
hältniss  zur  Gnadenmittheilung  unklar  lassen  muss  ^  —  die  Rechts- 
zugehörigkeit der  Schismatiker  und  Häretiker  zur  katholischen  Kirche 
scheint  nur  der  wichtigste,  ja  der  einzige  Effect  der  „Objectivität"  der 
Sacramente  ausserhalb  der  Kirche  zu  sein^  —  ist  von  Augustin  nur  an 
der  Taufe  und  Ordination  durchgeführt  worden,  freilich  auch  hier  nicht 
so,  dass  er  alle  aufsteigenden  Probleme  beschwichtigt  und  jene  „Ob- 
jectivität"  wirklich  nachgewiesen  hätte.  Am  Abendmahl  aber  z.  B. 
lässt  sie  sich  überhaupt  nicht  nachweisen.  Denn  da  nach  Augustin  die 
res  sacramenti  die  unsichtbare  Incorporation  in  den  Leib  Christi  ist 
(über  die  Elemente  lehrt  Augustin  symbolisch)  und  das  Abendmahls- 
opfer das  sacrificium  caritatis  seu  pacis,  so  istmit  dem  "Wesen  des 
Abendmahls  die  katholische  Kirche  schon  immer  init- 
gesetzt.  Also  giebt  es  hier  keinen  „Charakter",  der  unabhängig  von 
dieser  Earche  wäre  ^.  Bei  der  Taufe  aber  konnte  er  annehmen,  dass  sie 


(Donatistis)  pacem  nos  annuntiamus,  non  ut,  cum  ad  nos  veneritis,  alterum  baptis- 
inuin  accipiatis,  sed  ut  eum  qui  iam  ajiud  vos  erat  utiliter  liabeatis"  oder  „una 
catholica  ecclesia,  non  in  qua  sola  unus  baptismus  habetur,  sed  in  qua  sola  unus 
baptismus  salubriter  habetur."  De  bapt,  c.  Donat.  IV,  24:  „Qui  in  invidia  intus  et 
malevolentia  sine  caritate  vivunt,  verum  baptisma  possunt  et  accipere  et  tradere. 
(Sed)  Salus,  inquit  Cyprianus,  extra  ecclesiam  non  est.  Quis  negat  ?  Et  ideo  quae- 
cumqueipsiusecclesiae  habentur,  extra  ecclesiam  non  valent  ad  salutem.  Sed  aliud 
est  non  habere,  aliud  non  utiliter  habere." 

'  In  der  katholischen  Kirche  fällt  character  und  Heilswirkung  unter  der  Voraus- 
setzung des  Glaubens  zusammen.  Augustin  lag  es  überhaupt  primär  daran,  dem 
Gläubigen  an  dem  Sacrament  eine  felsenfeste  Gewissheit  der  misericordia  Christi 
zu  geben. 

^  An  Rechtsverhältnissen  lag  es  im  Grunde  dem  Augustin  gar  nicht;  aber  er 
hat  factisch  sehr  viel  dafür  gethan,  die  Dinge  in  diese  Beleuchtung  zu  rücken. 

^  Sermo  57,  7:  „Eucharistia  panis  noster  quotidianus  est;  sed  sie  accipiamus 
ilhim,  ut  non  solum  vcntrc  sed  et  mente  reficiamur.  Virtus  cnim  ipsa,  quae  ibi  in- 
tcHigitur,  unitas  est,  ut  redacti  in  corpus  eins,  cffccti  membra  eins,  simus  (juod  acci- 
piraus."  272:  „panis  est  corpus  Christi  .  .  .  corpus  Christi  si  vis  intelligere,  aposto- 
lum  audi:  vos  estis  corpus  Christi."  Augustin  hält  die  überlieferte  Auffassung,  man 
dürfe  bei  „Leib  Christi"  im  Abendmahl  an  alle  Vorstellungen  denken,  die  mit 
diesem  Wort  verbunden  wurden  (der  Leib  ist  7rv£0|j,aTty.6v,  ist  selbst  Geist,  ist  die 
Kirche  u.  s.  w.)  fest,  bevorzugt  aber  die  letzere  und  lässt,  wie  die  alte  Kirche,  die 
Beziehung  auf  die  Sündenvergebung  zurücktreten.  TJnitas  und  vita  (de  pecc. 
mer.  I,  34)  stehen  im  Vordergrund.  Daher  ist  auch  hier,  ja  hier  mehr  als  bei  irgend 
einem  anderen  signum,  das  Signum  ganz  disparat.  Dieses  „sacramentum  unitatis" 
versichert  den  Giäu})igen  und  giebt  ihnen  das,  was  sie  sind,  unter  der  Bedin- 
gung des  Glaubens  (in  Joh.  26, 1 :  credere  in  cum  hoc  est  manducare  panem  vivum" ; 
de  civit.  XXT,  25).  Nif;mand  hat  stärker  in  Bezug  auf  das  Abendmahl  das  realisti- 
sche Verständniss  abgewehrt  und  darauf  hingewiesen,  dass  das,  was  „visibiliter  cclc- 
bratur,  oportet  invisibiliter  inteiligl"  (in  Th.  98,  \)  fin.).  „Das  Fleisdi  ist  kein  nütze", 


144        I^iP  weltgeschichtliche  StelUing  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

ein  unverlierbares;  durch  nichts  Anderes  zu  ersetzendes, 
unter  Ihnständen  einen  gewissen  Glauben  erzeugendes  Verhältniss 
zum  dreieinigen  Gott  auch  ausserlialb  dei*  Kirclie  begründe,  welches  erst 
innerhalb  derselben  zu  einem  heilbringenden  wird  ' ;  und  bei  der  Ordi- 

uiul  Cliristus  ist  „secundum  corporis  praesentiam"  nicht  auf  Erden.  Nun  könnte  — 
wie  bei  den  (rriecheu  —  trotz  dem  Allen  doch  ])ei  Augustin  hin  und  her  der  Cxe- 
(hmke  vorkommen,  man  müsse  den  sacramentalen  Leib  des  Htiri-n  auch  mit  dem 
realen  identificiren  Allein  ich  hal)e  keine  Stelle  gefunden,  die  sicher  dafür  spricht 
(s.  auch  Dorn  er  S.  267  ff'.).  Man  kann  nur  sagen,  dass  nicht  wenige  Stellen  auf 
den  ersten  Blick  so  verstanden  werden  können  und  bald  so  verstanden  worden  sind. 
Augustin,  der  Spiritualist,  hat  überhaupt  die  dogmatische  Bedeutung  des  Sacra- 
inentes  sehr  abgeschwächt.  Zwar  bezeichnet  er  es,  wie  die  Taufe,  als  heilsnoth- 
wendig;  aber,  da  der  Nachweis,  es  stehe  mit  der  Auferstehung  und  dem  ewigen 
Leben  in  Verbindung,  kaum  irgendwo  geführt  wird,  so  reducirt  sich  die  Nothwen- 
digkeit  auf  die  unitas  und  Caritas,  die  indem  Abendmahl  einen  Ausdruck  neben 
anderen  hat.  Die  hl.  Speise  ist  überhaupt  vielmehr  Declaration  und  Versiche- 
rung, resp.  Bekenntniss  eines  bestehenden  Zustaudes  als  Gabe.  Somit  stimmt 
Augustin  ohne  Zweifel  hier  mit  den  sog.  Vorreformatoren  und  Zwingli  überein. 
Dies  führt  zur  Bedeutung  der  Handlung  als  Opfer  über  („sacrificium  corporis 
Christi").  Von  den  vier  möglichen  Ansichten  (die  Kirche  bringt  sich  selbst  im  Leibe 
Christi  als  Opfer  dar,  der  Opfertod  Christi  wird  symbolisch  in  commemorationem 
eins  vom  Priester  wiederholt,  der  Leib  Christi  wird  real  aufs  neue  vom  Priester 
geopfert,  Christus  selbst  bringt  sich  immerfort  und  überall  als  Priester  dem  Vater 
zum  Opfer  dar)  sind  die  1.,  2.  und  4.  sicher  bei  Augustiu  zu  belegen,  nicht  aber  die 
dritte.  Die  Prärogative  des  Priesters  hält  er  hier  streng  fest;  aber  von  einem  „con- 
ficere  corpus  Christi"  ist  so  wenig  die  Rede  wie  von  Transsubstantiation;  denn  die 
Stelle  (Sermo  234,  2),  auf  welche  sich  die  Katholiken  mit  Vorliebe  berufen  :  „non 
omnis  panis  sed  accipiens  benedictionem  fit  corpus  Christi",  hat  nur  den  Sinn,  dass 
die  res  zum  pauis  —  wie  bei  allen  Sacramenten  —  nun  hinzutritt  und  dasselbe  zum 
Signum  rei  invisibilis  macht;  durch  die  Consecration  wird  das  Brot  zu  etwas,  was 
es  vorher  nicht  war;  die  res  invisibilis  aber  ist  nicht  der  reale  Leib,  sondern  die  In- 
corporation  in  den  Leib  Christi,  welcher  die  Kirche  ist.  Was  die  Unwürdigen  em- 
pfangen —  sie  erhalten  nach  Augustin  auch  das  giltige  Sacrament  — ,  bleibt  freilich 
völlig  dunkel.  Ich  möchte  nicht  mit  Dorn  er  (S.  274)  sagen  „Augustin  kenne  einen 
Genuss  des  realen  (?)  Leibes  und  Blutes  von  Seiten  der  Ungläubigen  nicht". 

*  Der  Nachdruck  ßillt  nun  auf  die  richtige  Verwaltung  der  Taufe  (rite).  Gott 
gehört  das  Sacrament;  daher  kann  es  nicht  durch  Sünde  oder  Häresie  ungiltig  ge- 
macht werden.  Die  Unumgänglichkeit  der  Taufe  fällt  nothgedrungen  auf  den  „cha- 
racter",  und  das  ist  die  verhängnissvollste  Wendung,  weil  hier  der  Glaube  keines- 
wegs sicher  mitgesetzt  ist.  Die  „Punici"  werden  de  pecc.  mer.  I,  34  belobt,  weil  sie 
die  Taufe  einfach  „salus"  nennen;  aber  doch  soll  die  Unumgäuglichkeit  der  Taufe 
primär  gar  nicht  in  ihrer  heilbringenden  Eigenschaft,  sondern  schon  in  dem  oha- 
racter  liegen.  Diese Unimigänglichkeit  wird  nur  durch  die  Bluttaufe  (resp.  denWunsch 
nach  der  Taufe  bei  objectiver  Unmöglichkeit,  sie  zu  erhalten)  beschränkt.  In  der 
correspondireuden  Gedankenreihe  erscheint  die  bei  den  Häretikern  rite  gespendete 
Taufe,  weil  illicite  besessen,  factisch  wirkungslos,  ja  das  Gericht  bringend.  Der 
Euphrat,  der  im  Paradies  und  in  profanen  Ländern  tliesst,  schafft  doch  nur  dort 


Die  Sacramente.  145 

nation  konnte  er  lehren,  dass  sie,  rite  gespendet,  die  Kraft  die  Sacra- 
mente zu  verwalten  unverlierbar  übertrage,  wenn  auch  der  Empfänger, 
falls  er  ausserhalb  der  Kirche  steht,  nur  sich  selbst  zum  Unheil  functio- 
nirt  ^  In  beiden  Fällen  urtheilte  er  so,  erstlich  um  die  Praxis  seiner 


wirkliche  Frucht.  Daher  ist  der  Streit  (Dorn  er  gegen  Schmidt),  ob  nach  Augustin 
das  Sacrament  von  der  katholischen  Kirche  abhängig  sei  oder  nicht,  ein  müssiger. 
Es  ist  von  ihr  unabhängig,  sofern  es  nöthig  ist-,  es  ist  von  ihr  abhängig,  sofern  es 
heilsam  ist.  Doch  scheint  mir  Dorner  (a.  a.  0.  S.  252  f.  und  sonst)  nicht  einen 
augustinischen  Gredanken,  sondern  höchstens  eine  Consequenz  desselben  auszu- 
spielen, wenn  er  behauptet,  Augustin  setze  der  durch  Personen  heiligen  Kirche 
nicht  die  Sacramente.  sondern  die  Heiligkeit  des  Ganzen,  nämlich  der  Kirche, 
entgegen.  Die  Andeutung  aber,  die  er  wiederholt  giebt,  um  die  Schwierigkeiten 
des  augustinischen  Sacramentsbegriffs  zu  heben  —  Augustin  hätte  zwischen  An- 
bietung  und  Verleihung  der  Gnade  unterscheiden  müssen:  schon  die  erstere 
sichere  die  objective  Giltigkeit  — ,  ist  höchst  bedenklich  und  würde  hinter  Augustin 
zurückführen;  denn  dessen  richtige  religiöse  Einsicht  besteht  eben  darin,  dass  die 
gTatia  wirkt  und  nicht  bloss  anbietet.  In  der  Abgrenzung  des  Charakters  und  der 
heilbringenden  Wirksamkeit  der  Taufe  hat  übrigens  Augustin  so  geschwankt,  dass 
er  selbst  eine  momentane  Sündenvergebung  bei  Häretikern  angenommen  hat  (de 
bapt.  I,  19;  III,  18:  „rursus  debita  redeunt  per  haeresis  aut  schismatis  obstinati- 
onem  et  ideo  necessarium  habent  huiusmodi  homines  venire  ad  catholicam  pacem" ; 
denn  in  Joh.  27,  6 :  „pax  ecclesiae  dimittit  peccata  et  ab  ecclesiae  pace  alienatio 
tenet  peccata:  petra  tenet,  petra  dimittit;  columba  tenet,  columba  dimittit;  unitas 
tenet,  unitas  dimittit").  Das  Bedenklichste  bleibt  bei  Augustin's  Lehre  von  der  Taufe 
(innerhalb  der  Kirche),  dass  er  die  magische  Vorstellung  nicht  nur  nicht  abgethan, 
sondern  durch  sein  Interesse  an  der  Kindertaufe  verstärkt  hat.  Zwar  soll  die  Zu- 
sammengehörigkeit von  Taufe  und  Glauben  gelten,  aber  die  Kindertaufe  macht  hier 
einen  Riss.  Die  Unumgänglichkeit  der  Kindertaufe  folgte  für  Augustin  aus  der 
Erbsünde,  keineswegs  aber  auch  aus  der  Tendenz,  die  Seligkeit  Aller  von  der  Kirche 
abhängig  sein  zu  lassen  (so  Dorner  S.  257).  Um  den  Glauben  bei  der  Taufe  zu 
retten,  hat  Augustin  eine  Art  von  stellvertretendem  Glauben  der  Pathen  ange- 
nommen, aber,  wie  es  scheint,  kein  Gewicht  auf  ihn  gelegt,  da  wohl  seine  wahre 
Meinung  die  war,  die  Taufe  ersetze  den  Kindern  den  Glauben.  Indessen  —  die 
ganze  Lehre  von  der  Taufe  ist  bei  Augustin  schliesslich  nur  ein  Vorläufiges.  Die 
Taufe  ist  unumgänglich,  aber  im  Grunde  nichts  weiter  als  das.  Die  Wirksamkeit 
des  hl.  Geistes  im  Innern  des  Menschen  ist  die  Hauptsache,  so  dass,  von  hier  aus 
gesehen,  die  Taufe  eigentlich  überhaupt  keine  Bedeutung  für  die  Seligkeit  hat. 
Allein  diese  Consequenz  liegt  Augustin  doch  fern. 

'  Ueber  die  Ordination  als  Sacrament  hatte  man  bisher  wenig  in  der  Kirche 
nachgedacht.  Die  Donatisten  veranlassten  dazu,  und  wieder  ist  es  Augustin  gewesen, 
der  der  Kirche  eine  hierarchische  Gedankenreihe  geschenkt  hat,  ohne  sich  selbst 
für  ihre  hierarchische  Tendenz  zu  interessiren.  Die  Praxis  war  freilich  schon  längst 
hierarchisch;  aber  erst  durch  die  verhängnissvolle  Zusammenstellung  mit  dem  Sa- 
crament der  Taufe  und  durch  den  Satz,  dass  die  Ordination  eine  moralische  Dispo- 
sition zu  ihrer  Giltigkeit  nicht  verlange  (gegen  Cyprian),  wurde  das  neue  Sacrament 
perfect.  Es  verleiht  nun  einen  unverlierbaren  Charakter,  wird  daher,  auch  wenn  es 
ausserhalb  derKirche  rite  gespendet  ist,  nicht  wiederholt,  und  wie  es  dingliche Heilig- 
H a  r  n  a  ü  k  ,  Do^^mengeBcliiclit«  III.  jq 


14()        Di«  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Kirche  zu  vcrthoidigen  und  die  Donatisten  ins  Unrecht  zu  setzen,  zwei- 
tens um  das  Merkmal  der  Heihgkeit  der  Kirche,  welches  anders  gar 
nicht  mehr  sicher  zu  begründen  war,  an  der  objectiven  Heiligkeit  der 
Sacramente  aufzuweisen,  drittens  um  dem  Gedanken  einen  Ausdruck 
zu  geben,  dass  irgendwo  ein  Element  im  kirchlichen  Handeln  gegeben 
sein  müsse,  an  das  sich  der  Glaube  halten  kann,  das  nicht  vom  Menschen 
getragen  wird,  sondern  welches  den  Glauben  selbst  trägt  und  der  Ge- 
wissheit entspricht,  die  der  Gläubige  auf  die  gratia  setzt.  Augustin's 
Gnadenlehro  ist  an  seiner  Auffassung  der  Sacramente,  genauer  des 
Taufsacraments ,  sehr  stark  betheiligt.  Dagegen  war  er  bei  dieser 
ganzen  Auflassung   keineswegs   hierarchisch   interessirt.     Aber   es 


keit  überträgt,  so  befiihigt  es  auch,  Heiligkeit  fortzupflanzen.  Sacramentum  baptismi 
und  sacramentum  dandi  baptismi  werden  vom  1.  Buch  des  Werkes  de  bapt.  c.  Donat. 
c.  1  an  gemeinsam  behandelt  (§  2:  „sicut  baptizatus,  si  ab  unitate  recesserit,  sacra- 
mentum baptismi  non  amittit,  sie  ctiam  ordinatus,  si  ab  unitate  recesserit,  sacramen- 
tum dandi  baptismi  non  amittit."  C.  ep.  Parm.  II,  28 :  „utrumque  in  catholica  non 
licet  iterari."  Am  deutlichsten  de  bono  coniug.  32:  „Quemadmodum  si  fiat  ordinatio 
cleri  ad  plebem  congregandam,  etiamsi  plebis  congregatio  non  subsequatur,  manet 
tarnen  in  illis  ordinatis  sacramentum  ordinationis,  et  si  aliqua  culpa  quisquam  ab 
officio  removeatur,  sacramento  domini  semcl  imposito  non  carebit,  quamvis  ad  iu- 
dicium  permanente").  Die  Priester  sind  die  allein  berufenen  Verwalter  der  Sacra- 
mente (c.  ep.  Parm.  II,  29  steht  die  merkwürdig  gewundene  Erklärung  über  Laien- 
taufe; selbst  wenn  die  Nothwendigkeit  drängt,  ist  nach  Augustin  doch  die  Taufe 
durch  einen  Laien  ein  veniale  d dictum;  er  hält  es  wenigstens  für  möglich,  dass 
sie  es  ist.  Aber  auch  die  durch  Laien  unnöthig  usurpirte  Taufe  ist  giltig;  wenn 
auch  illicite  datum;  denn  der  „character"  ist  vorhanden.  Doch  warnt  Augustin 
dringend,  dem  Priester  irgendwie  zu  nahe  zu  treten) ;  das  Abendmahl  kann  nur  der 
Priester  vollziehen.  Das  war  althergebracht.  Die  richterlichen  Functionen  der  Priester 
treten  bei  Augustin  (gegenüber  Cyprian)  zurück.  Ein  Busssacrament  in  technischer 
Ausprägung  findet  sich  bei  Augustin  nicht.  Doch  hat  es  factisch  bestanden,  und 
Augustin  hat  ihm  durch  seine  Auffassung,  dass  die  gratia  Christi  nicht  in  der  rück- 
wärts wirkenden,  Taufgnade  erschöpft  sei,  erst  einen  Unterbau  gegeben.  Taufe  und 
Busse  wurden  in  jener  Zeit,  als  wären  sie  die  beiden  Hauptsacramente,  zusammen- 
genannt, ohne  dass  die  letztere  ausdrücklich  als  Sacrament  bezeichnet  worden  wäre, 
s.  das  Glaubensbekenntniss  des  Pelagius  (Hahn  §  133):  „Hominem,  si  post  baptis- 
mum  lapsus  fuerit,  per  paenitentiam  credimus  posse  salvari",  fast  gleichlautend 
Julian  von  Eklanum  (1.  c.  §  135):  „Eum,  qui  post  baptismum  peccaverit,  per  paeni- 
tentiam credimus  posse  salvari",  und  Augustin  (Enchir.  46):  „TVccata,  quae  male 
agendo  postea  committuntur,  possunt  et  paenitendo  sanari,  sicut  etiam  post  bap- 
tismum fieri  videmus" ;  (c.  65) :  „Neque  de  ipsis  criminibus  quamlibet  magnis  re- 
mittendis  in  sancta  ecclesia  dei  misericordia  desperanda  est  agentibus  paenitentiam 
secundum  modum  sui  cuiusque  peccati."  Nicht  von  der  Taufe,  sondern  vom  Handeln 
der  Kirche  nach  der  Taufe  an  ihren  Gliedern  heisst  es  (1.  c.  c.  83):  „Qui  vero  in 
ecclesia  remitti  peccata  non  credens  contemnit  tantam  divini  muueris  largitateni  et 
in  hac  obstinatione  mentis  diem  claudit  extremum,  reus  est  illo  irremissibili  peooato 
in  s})iritum  sanctum." 


Die  Sacramente.     Ergebnisse  für  den  Kirchenbegriff.  147 

konnte  nicht  ausbleiben,  dass  sie  sich  später  wesentlich 
im  hierarchischen  Sinne  auswirkte.  Daneben  aber  gaben  die 
Unterscheidung  von  äusserer  Handlung  und  nebenhergehender  Wirkung, 
das  Werthlegen  auf  das  „Wort",  und  das  Interesse  für  die  (3bjectivität 
des  Sacraments  Anstösse  in  einer  ganz  anderen  Richtung.  Jene  Un- 
terscheidung musste  in  der  Folgezeit  zu  einer  Spiritualisirung  führen, 
welche  die  Sacramente  überhaupt  verflüchtigte  oder  aber  —  wo  man 
auf  ein  sicher  Gegebenes  doch  Werth  legte  und  dabei  die  Souveränetät 
des  Worts  erkannte  —  die  Sacramente  in  dem  „Wort"  concentrirte. 
Beides  ist  eingetreten.  Nicht  nur  die  mittelalterlich-katholische  Sacra- 
mentslehre  geht  auf  Augustin  zurück,  sondern  auch  die  Spiritualisten 
des  Mittelalters,  und  wiederum  verdanken  Luther  und  Calvin  ihm  die 
Fingerzeige  ^ 

Die  bisher  vorgetragene  Anschauung  Augustin's  von  der  sicht- 
baren Kirche  und  den  Gnadenmitteln  ist  in  sich  widerspruchsvoll.  Die 
Identificirung  von  Kirche  und  sichtbarer  katholischer  Kirche  ist  ihm 
nicht  geglückt.  Es  soll  nur  eine  Kirche  geben  und  nur  die  gläubigen 
katholischen  Christen  sollen  zu  ihr  gehören;  aber  die  mali  et  hypocritae 
sind  auch  in  der  KJirche,  ohne  die  Kirche  zu  sein;  ja  selbst  die  Häre- 
tiker sind  gewissermassen  in  der  Kirche,  sofern  sie  an  den  Sacramenten 
Theil  haben.  Aber  ist  dann  die  Kirche  noch  sichtbar?  Ja  —  an  den 
Sacramenten.  Aber  die  an  den  Sacramenten  sichtbare  Kirche  ist  ja  gar 
nicht  die  Braut  und  der  Leib  Cliristi,  die  unumgängliche  Heilsanstalt, 
sondern  nur  die  Kirche,  welche  vom  Liebesgeist  erfüllt  ist,  ist  die  Kirche; 
diese  aber  ist  doch  durch  die  mali  et  hypocritae  verdeckt.  Und  sogar 
auf  das  Sacrament  ist  kein  Verlass ;  denn  ausserhalb  der  katholischen 
Kirche  wirkt  es  sicher  nicht  ad  salutem,  in  dieser  Kirche  aber  wirkt  es 
keineswegs  sicher.  Die  eine  Kirche  ist  corpus  verum  Christi,  corpus 
permixtum,  externa  societas  sacramentorum ;  jedesmal  ist  es  ein  anderer 
Kreis ;  aber  dass  sie  jenes  ist,  ist  ihr  ebenso  wesentlich  und  so  wichtig, 
als  dass  sie  dieses  ist.   Was  heisst  also  „in  ecclesia  esse"  ?   Es  ist  das 

^  Sehr  wichtig  für  die  Folgezeit  ist  eine  Stelle  im  Briefe  Augustin's  ad  Janu- 
arium  (ep.  55  c.  2)  ü])or  das  Wesen  des  Sacraments  geworden :  „Primum  oportet 
noveris  diem  natalem  domini  non  in  sacramento  celebrari,  sed  tantum  in  memoriam 
revocari  quod  natus  sit,  ae  per  hoc  niliil  opus  erat,  nisi  rcvolutum  anni  diem,  quo 
ipsa  res  acta  est,  festa  devotionc  signari.  Sacramcntum  cstautom  in  alitjua 
celebratione,  cum  rei  gestae  commemoratio  ita  fi  t,  ut  ali(|u  id  etiam 
significari  intelligatur,  quod  sancte  accipiend  um  est.  Eo  itaquc  modo 
egimus  pasclia,  ut  non  sohirri  in  meinonaTn  (|uod  gestuni  est,  revocemus,  id  est,  quod 
rriortuuH  ent  (Jhristus  et  resurrexit,  «cd  (itiam  fficra.  (juac  circn  oa  adtosiantnr  ad 
sacramenti  significationcm  non  omittamus." 

10* 


148        Die  weltgeschichtliche  Stellungr  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Verhän^niss  jeder  Speculation  über  die  Begriffe  der  Dinge,  dass  sie 
gegen  Widersprüclie  abstumpft:  jedwedes  kann  jedwedes  sein,  jedes  ist 
Alles  und  Alles  ist  Nichts.  Sie  überrascht  durch  hundert  Gesichts- 
punkte —  das  ist  ihre  Stärke  — ,  um  damit  zu  endigen,  dass  kein  Ge- 
sichtspunkt wirkliche  Giltigkeit  hat. 

Allein  Alles,  was  Augustin  hier  vorgetragen  hat,  zeigt  die  ledig- 
lich bedingte  Giltigkeit  nicht  nur  an  den  imieren  Widersprüchen,  son- 
dern es  ist  überhaupt  nicht,  oder  doch  nur  in  sehr  be- 
schränkter Weise,  der  Ausdruck  der  religiösen  Ueber- 
Zeugung  des  Theologen.  So  empfand  und  so  schrieb  er,  weil  er 
Apologet  der  Praxis  der  Kirche  war,  deren  Autorität  er  für  seinen 
Glauben  bedurfte.  Aber  dieser  Glaube  selbst  ging  doch  ganz  andere 
Wege.  Schon  jene  Widersprüche,  zumTheil  freilich  üb erHefert,  zeigen, 
dass  ein  Element  in  Augustin's  Auffassung  von  der  Kirche  einwirkte, 
welches  sich  gegen  die  „Sichtbarkeit"  sträubte.  Dieses  Element  ist 
aber  selbst  keineswegs  eindeutig,  sondern  es  sind  in  ihm  wiederum  ver- 
schiedenartige, wenn  auch  unter  sich  verknüpfte,  Momente,  beschlossen: 

1.  Die  Kirche  ist  h  im  ml  i  s  ch  ;  sie  ist  als  Braut  und  Leib  Christi 
ganz  wesenthch  eine  caelestis  societas.  Dieser  alt- üb  erlieferte  Gedanke 
steht  Augustin  für  sein  Glaubensleben  im  Vordergrund.  Das,  was 
die  Kirche  ist,  kann  sie  überhaupt  nicht  auf  Erden 
sein;  sie  hat  ihre  Wahrheit,  ihren  Sitz  im  Himmel.  Dort  allein  ist 
der  eigentliche  Kreis  ihrer  Glieder  zu  finden;  hier  auf  Erden  wall- 
fahrtet zeitweilig  ein  kleiner  Bruchtheil  als  FremdHng;  ja  man  darf  so- 
gar sagen:  hier  auf  Erden  ist  nur  das  Abbild  der  himmlischen 
Kirche;  denn  sofern  das  irdische  Bruchstück  „civitas  terrena"  ist,  ist 
es  noch  gar  nicht  das,  was  es  einst  sein  wird.  Es  ist  durch  die  Hoff- 
nung mit  der  himmlischen  Kirche  verbunden.  Wahnsinn  ist  es,  die 
gegenwärtige  Kirche  für  das  Himmelreich  zu  halten ;  s.  de  virgin.  24 : 
„Quid  aliud  istis  restat  nisi  ut  ipsum  regnum  caelorum  ad  hanc  tempo- 
ralem vitam,  in  qua  nunc  sumus,  asserant  pertinere  ?  Cur  enim  non  et 
in  hanc  insaniam  progrediatur  caeca  praesumptio  ?  Et  quid  hac  asser- 
tione  furiosius?  Nam  etsi  regnum  caelorum  aliquando  ecclesia  etiam 
quae  hoc  tempore  est  appellatur,  ad  hoc  utique  sie  appellatur,  quia 
futurae  vitae  sempiternaeque  colligitur  ^ 

2.  Die  Kirche  ist  ur anfänglich,  und  ihre  Glieder  sind  daher  in 
der  sichtbaren  Anstalt  der  katholischen  Kirche  keineswegs  einge- 
schlossen. Hier  tritt  die  Conception  ein,  die  Augustin  in  dem  grossen 
Werk  de  civitate  dei,   an  dem  er  fast  fünfzehn  Jahre  gearbeitet,  aus- 


'  Weitere  Stelleu  liier  auzufiilireu  ist  uimöthig',  so  zahlreich  siml  sie. 


Ergebuisse  tür  den  Kirchenbegriff.  149 

geführt  hat.  Die  civitas  dei,  d.  h.  die  Verbindung,  in  der  der  „amor  dei 
usque  ad  contemptum  sui"  regiert  (XIY,  28)  und  welche  daher  der 
„pax  caelestis"  nachstrebt,  hat  in  der  Engelwelt  ihren  Anfang  ge- 
nommen. Hier  wird  die  obige  Vorstellung  (s.  sub  1)  combinirt:  die 
civitas  dei  ist  das  himmlische  Jerusalem.  Aber  sie  umfasst  alle  Gläu- 
bigen der  Gegenwart,  Vergangenheit  und  Zukunft;  sie  hat  sich  schon 
vor  der  Sintfluth  mit  der  terrena  civitas  vermischt  (s.  über  diese  oben 
S.  136  f.),  hat  eine  Geschichte  auf  Erden  in  sechs  Perioden  (Sintfluth, 
Abraham,  David,  Exil,  Christus,  Wiederkunft  Christi)  und  bleibt  ver- 
mischt mit  dem  Weltstaat  bis  zum  Ende.  Mit  der  transcendentalen 
Auffassung  dieser  Gottesstadt  ist  somit  hier  und  anderswo  —  z.  B. 
ep.  102  quaest.  2,  bes.  §  12  —  jene  universalistisch-diesseitige  ver- 
bunden (s.  oben  S.  113):  das  Christenthum,  so  alt  als  die  Welt,  hat 
überall  und  zu  allen  Zeiten  seine  Bekenner  gehabt,  die  „ohne  Zweifel" 
selig  geworden  sind  ;  denn  das  „Wort"  war  stets  dasselbe  und  hat  immer 
gewirkt  unter  den  verschiedensten  Formen  („prius  occultius,  postea 
manifestius")  bis  zur  Menschwerdung  hin.  Wer  an  dieses  Wort,  wel- 
ches Christus  ist,  glaubte,  wurde  selig  ^ 

3.  Die  Kirche  ist  die  communio  der  an  den  gekreuzigten 
Christus  Glaubenden,  unter  den  Wirkungen  seines  Todes  Stehenden, 
die  desshalb  sancti  et  spiritales  sind.  Zu  dieser  Betrachtung  leitet 
der  Schluss  der  vorigen  über,  indem  das  humanistisch-universalistische 
Element  abgestreift  wird.  Fragt  man,  wo  die  Kirche  ist,  so  antwortet 
Augustin  an  hundert  Stellen,  wo  die  Gemeinschaft  dieser  sancti  und 
spiritales  ist.  Sie  sind  der  Leib  Christi,  das  Haus,  der  Tempel,  die 
Stadt  Gottes.  Die  Gnade  einerseits,  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung 
andererseits  constituiren  also  den  Begriff  der  Kirche.  Oder  kurzweg  : 
„Per  remissionem  peccatorum  stat  ecclesia,  quae  in  terris  est,"  oder 
noch  sicherer:  „In  caritate  stat  ecclesia."  In  unzähligen  Ausführungen 
weiss  Augustin  von  keinem  anderen  Kirchenbegriff  als  von  diesem,  bei 
dem  er  schlechthin  an  eine  geistliche  Gemeinschaft  denkt,  und  er 
verhält  sich  desshalb  indifferent  sowohl  zu  dem  Begriff  der  Kirche  als 
externa  communio  sacramentorum  als  zu  dem  gleich  zu  nennenden 
letzten  Kirchenbegriff  '^. 

4.  Die  Kirche  ist  der  numerus  elcctorum.    Aus  der  Gnaden- 


*  In  (ließcr  Gedankenreihe  tritt  der  histoi-ische  Christus  sehr  zurück;  aber 
in  anderen  ist  es  ganz  anders;  s.  Sermo  116,  6:  „Per  Christum  factus  est  alter 
mundus". 

'^  Man  sieht  hier,  die  Annahme  der  Kirche  als  corpus  permixtum  oder  als 
externa  communio  sacramentorum  ist  nur  ein  Nothbegriff,  s.  die  herrliche  Aus- 
führung de  baptis.  V,  38,  die  freilich  in  die  Prädestinationslehre  übergeht. 


150        I^iö  weltgeschichtliche  Stellung  Augustio's  als  Lehrer  der  Kirche. 

lehre  Augustin's  (s.  den  nächsten  Ahschnitt)  folgt  schHessHch,  dass  die 
Sehgkeit  auf  der  iiiierforschlichen  Yorherhestinnniuig  (Gnadenauswahl) 
Gottes  und  nur  auf  ihr  beruht.  Daher  kann  die  Kirche  nichts  Anderes 
sein  als  die  Zahl  der  Erwählten.  Diese  ist  aber  weder  in  der  externa 
comnumio  der  kathoUschen  Kirche  unbedingt  eingeschlossen  —  denn 
es  gab  electi,  die  nie  katholisch  waren,  und  es  giebt  solche,  die  es  noch 
nicht  sind  — ,  noch  ist  sie  mit  der  communio  sanctorum  (im  Sinne  der 
gläubig  unter  der  Einwirkung  der  Gnadenmittel  Stehenden)  einfach 
identisch;  denn  unter  diesen  können  zur  Zeit  solche  sein,  die  noch  ab- 
fallen und  solche  nicht  sein,  die  schliesslich  selig  werden.  Somit 
sprengt  der  Ge  danke  der  Prädest  in  ation  jeden  Kirchen- 
begriff (nur  der  sub  2  genannte  kann  sich  einigermassen  behaupten) 
und  entwerthet  alle  Veranstaltungen  Gottes,  das  Heilsinstitut  und  die 
Heilsmittel:  der  numerus  electorum  ist  keine  Kirche.  In  der  sicht- 
baren Kirche  und  ausserhalb  derselben,  unter  der  Einwirkung  der 
sacramentalen  G  nade  und  fern  von  ihr  sind  electi  dei  vorhanden ;  unter 
den  Feinden  hat  Gott  seine  Bürger  und  unter  den  zur  Zeit  „Guten"  seine 
Feinde  K  Aber  die  unerbittlichen  Consequenzen  dieser  Auffassung  zu 
ziehen,  hat  Augustin,  der  Katholik,  nicht  gewagt;  er  hat  sich,  wenn  er 
je  auf  sie  geführt  wurde,  damit  begnügt,  die  Begriffe  externa  communio, 
communio  sanctorum,  corpus  Christi,  civitas  dei,  caeleste  regnum, 
numerus  electorum  in  eine  Annäherung  zu  bringen,  die  wie  eine  Identi- 
ficirung  erscheinen  konnte ;  er  hat  der  Ueberzeugung  Ausdruck  ge- 
geben, dass  der  numerus  electorum  doch  ganz  wesentlich  in  der 
empirischen  katholischen  Kirche  stecke  und  man  daher  alle  Güter  der- 
selben fleissig  brauchen  müsse ;  aber  er  lebte  andererseits  ein  zu  indivi- 
duelles Glaubensleben,  um  die  gratia  als  Quelle  des  Glaubens,  der 
Liebe  und  Hoffnung  an  mechanische  Mittel  und  äussere  Anstalten  un- 
auflöslich zu  ketten,  und  er  war  zu  stark  von  dem  Gedanken  der 
Majestät  und  der  Alleinwirksamkeit  Gottes  beherrscht,  als  dass  er  es 
über  sich  gebracht  hätte,  Gott  pünktlich  nachzurechnen,  warum  und 
wie  er  das  thut,  was  er  thut.  Dass  sich  die  Prädestination  vermittelst 
der  Kirche  und  der  Gnadenspendungen  der  Kirche  verwirkliche,  hat 
er  nie  behauptet  ^. 


^  De  bapt.  V,  38:  „Numerus  ille  iustorum,  qui  secundum  propositum  vocati 
sunt,  ipse  est  (ecclesia)  .  .  .  Sunt  etiam  quidam  ex  eo  nuniero  qui  adhuc  nequitor 
vivant  aut  ctiam  in  haeresibus  vcl  in  gentilium  superstitionibus  iaceant,  et  tanien 
etiam  illic  novit  dominus  qui  sunt  eius.  Namque  in  illa  inetlabili  praescientia  dei 
multi  qui  foris  videntur,  intus  sunt,  et  nuüti,  qui  intus  videntur,  foris  sunt."  Inü 
der  Prädestiuationslehre  Augustin's  kommen  wir  hierauf  zurück. 

'^  Hier  ist  Reuter  gegen  Dorn  er  durchaus  im  Recht. 


Augustin's  Lehre  vor  dem  pelagianischen  Kampf.  151 

Die  verschiedenen  „Kirchenbegriffe"  Augustin's  haben  ihre  Ein- 
heit ledighch  in  der  Person  ihres  Urhebers,  dessen  reiches  inneres 
Leben  von  verschiedenen  Stimmungen  beherrscht  war.  Schon  das 
übrigens  bescheidene  Mass  von  Ausgleichsversuchen,  welches  sich  bei 
ihm  selbst  findet,  ist  recht  werthlos.  Zu  theologischen  Kannegiessereien 
aber  führt  das  scholastische  Unternehmen,  durch  neue  luftige  Distinc- 
tionen  die  verschiedenen  Begriffe  zu  vereinigen  oder  einzuschachteln. 
Selbst  Augustin's  Gegner  haben,  wie  es  scheint,  nur  einen  kleinen  Theil 
der  Widersprüche  empfunden.  So  wenig  suchte  man  damals  in  der 
Glaubensauffassung  diejenige  Art  von  Einstimmigkeit,  die  auch  heute 
noch  den  Wenigsten  ein  Bedürfmss  und  jedenfalls  keine  Bedingung  einer 
lauteren  Frömmigkeit  ist.  Vielleicht  die  wichtigste  Folge  der  Kirchen- 
und  Sacramentslehre  Augustin's  ist,  dass  ein  Complex  von  magischen 
Ceremonien  und  Gedanken,  der  ursprünglich  dazu  bestimmt  war,  eine 
auf  der  Lehre  von  der  Willensfreiheit  ruhende  moralistische  Denk- 
weise zu  compensiren,  sich  nun  auch  neben  einer  religiösen  be- 
hauptete. Das  Sacrament  hat  diese  deteriorirt,  aber  es  ist  andererseits 
durch  diese  Verbindung  selbst  erst  reformabel  geworden.  Das  kann 
man  schon  bei  Augustin  selbst  nicht  verkennen,  dass  der  Kirchen- 
begriff, in  welchem  er  lebte,  von  dem  Gedanken  der  Gewissheit  der 
Gnade  und  des  Ernstes  des  Glaubens  und  der  Liebe  beherrscht  ge- 
wesen ist,  und  dass  ebenso  in  der  Gnadenmittellehre  seine  oberste  Ab- 
sicht war,  den  Trost  der  siclieren,  von  Menschen  unabhängigen  Gnade 
Gottes  in  Christo  festzustellen.  In  dem  Masse,  als  es  um  400  über- 
haupt möglich  war,  hat  Augustin  den  Kirchen-  und  Sacramentsbegriff 
der  geistigen  Lehre  von  Gott,  Christus,  dem  Evangelium,  dem  Glauben 
und  der  Liebe  untergeordnet. 

3.  Der  pelagianische  Kampf.  Die  Lehre  von  der  Gnade  und  Sünde. 

Augustin's  Lehre  von  der  Gnade  und  Sünde  hat  sich  unabhängig 
vom  pelagianischen  Streit  gebildet.  Sie  war  wesentlich  fertig,  als  er 
in  diesen  Streit  eintrat;  aber  sie  war  ihm  keineswegs  schon  im  Jahre 
seiner  Bekehrung  in  ihrer  Anwendung  auf  die  einzelnen  Fragen  klar. 
Vielmehr  liat  er  zur  Zeit  des  Kampfes  mit  dem  Manichäismus  (s.  die 
hbri  tres  de  libero  arbitrio)  die  Sel])ständigkeit  der  mensclihchen  Frei- 
heit nach  der  Ueberlieferung  der  Kirchenlehrer  betont  und  von  der  Erb- 
sünde nur  als  Erbül)el  geredet.  Erst  das  geisthche  Amt ,  eine  erneute 
Leetüre  des  Römerbriefes  und  die  Prüfung  seiner  inneren  Entwickelung, 
wie  er  sie  in  den  Confessionen  angestellt,  führten  ihn  zu  den  C  o  n  s  e  - 
quenzen  der  neuplatonisch-christhchen  Ueberzeugung,  dass  alles 
Gute,  also  auch  der  Glaube,  von  Gott  stamme,  und  der  Mensch  nur  in 


162        I^iö  weltgeschichtliche  Stelluug  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

der  Abhängigkeit  von  Gott  gut  und  frei  werde.  Damit  war  eine  Be- 
trachtung gewonnen,  von  der  er  selbst  am  Ende  seines  Lebens  bekannt 
hat,  dass  er  sie  so  nicht  immer  besessen  habe,  und  die  er  desshalb  den 
früheren,  irrthümlichen  Auflassungen  \  an  die  ihn  Freunde  und  Feinde 
manchmal  erinnerten,  entgegensetzte.  Man  kann  sagen,  dass  seine 
Gnadenlehre,  soweit  sie  Gotteslehre  war,  schon  seit  387  fertig  ge- 
wesen ist ;  in  der  Anwendung  aber  auf  den  biblisch  -  geschichtlichen 
Stoff  und  auf  das  Problem  der  Bekehrung  und  Heiligung  (in  der 
Kirche)  war  sie  es  vor  dem  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  noch  nicht. 
Auch  lässt  sich  eine  leise  Nachwirkung  der  vulgär-katholischen  An- 
sicht zu  allen  Zeiten  bei  ihm  aufweisen,  und  dies  um  so  mehr,  als  er 
nicht  im  Stande  war,  die  Consequenzen  seines  Systems,  die  zum  De- 
terminismus geführt  hätten,  sämmtUch  zu  ziehen. 

Dieses  System  hat  den  Pelagianismus  nicht  erst  hervorgerufen. 
Pelagius  hat  zwar  vor  Ausbruch  des  Streites  an  dem  berühmten  Satz 
Augustin's:  „Da  quod  iubes  et  iube  quod  vis"  Anstoss  genommen  und 
gegen  ihn  zu  Rom  polemisirt  ^ ;  allein  seine  Lehre  stand  ihm  schon 
damals  wesentlich  fest.  Die  beiden  grossen  Denkweisen  --  gilt 
die  Tugend  oder  die  Gnade,  die  Moral  oder  die  Religion,  die  ursprüng- 
liche unverlierbare  Anlage  des  Menschen  oder  die  Kraft  Jesu  Christi? 
—  haben  sich  nicht  im  Streit  entwickelt :  sie  haben  im  Laufe 
desselben  an  Klarheit  und  Schärfe  gewonnen^ ;  allein  beide  sind  aus 
den  inneren  Zuständen  der  Kirche,  unabhängig  von  einander,  hervor- 
gebrochen. Wenn  irgendwo,  so  lässt  sich  hier  die  „Logik"  der  Ge- 
schichte beobachten.  Es  hat  vielleicht  keine  zweite  gleich  bedeutsame 
Krisis  in  der  Kirchengeschichte  gegeben,  in  welcher  die  Gegner  so 
klar  und  rein  die  Principien,  um  die  es  sich  handelte,  zum  Ausdruck 
gebracht  haben.  Nur  die  arianische  (vor  dem  Nicänum)  lässt  sich  mit 
ihr  messen  ;  allein  in  dieser  bewegte  sich  der  Streit  in  einem  durch  die 
Ueberlieferung  bereits  abgegrenzten  engen  Gebiete  von  Formeln.  Dem 
pelagianischen  Kampf  und  den  Kämpfenden  haftet  dagegen,  trotz  der 
exegetischen  und  pseudohistorischen  Lasten,  die  auch  hier  auf  den 
Problemen  lagerten,  eine  Frische  an,  die  den  griechischen  Streitigkeiten 

^  De  praed.  7;  de  dono  persev.  55;  c.  Jul.  VI,  39;  s.  auch  die  Retract. 

'"^  De  dono  persev.  53:  „Cum  libros  Confessionum  ediderim  ante  quam  Pela- 
giana  haeresis  exstitisset,  in  eis  certe  dixi  deo  nostro  et  saepe  dixi:  Da  quod  iubes 
et  iube  quod  vis.  Quae  mea  vcrba  Pelagius  Romae,  cum  a  quodam  fratre  et  episcopo 
meo  fuissent  eo  praesente  commemorata,  ferre  non  potuit  et  contradicens  aliquanto 
commotius  paene  cum  eo  qui  illa  commemoraverat  litigavit." 

^  De  doctr.  christ.  III,  46 :  „Haeresis  Pelagiana  multum  nos,  ut  gratiam  dei, 
quae  per  dominum  uostrum  Jesum.  Christum  est,  adversus  cam  del'endorenuis, 
exercuit.'' 


Augustinismus  uud  Pelagianismus.  153 

fehlt  K  Der  wesentlich  litterarische  Charakter  des  Kampfes,  der 
Mangel  an  grossen  Haiiptactionen  gereicht  ihm  nicht  zum  Nachtheil: 
um  so  reiner  tritt  die  Sache  hervor.  Das  Denkwürdigste  aber  ist,  dass 
die  abendländische  Kirche  den  Pelagianismus  so  rasch  und  so  bestimmt 
abgelehnt  hat,  während  er  in  seinen  Formeln  doch  ihre  alte  Lehre  zu 
behaupten  schien.  In  der  grossen  Krisis,  ob  die  Gnade  auf  die  Natur 
oder  das  neue  Leben  auf  die  Gnade  zu  reduciren  sei,  in  der  Krisis, 
wie  die  polaren  Gegensätze  „ creatürliche  Freiheit  und  Gnade"  in 
Eins  zu  ziehen  seien  -,  hat  sich  die  Kjrche  entschlossen  auf  die  Seite 
der  Religion  gestellt.  Sie  wollte  damit  so  wenig,  wie  100  Jahre 
früher  zu  Nicäa,  alle  die  Consequenzen  anerkennen,  welche  aus  dieser 
Position  folgten  —  ja  sie  übersah  sie  nicht  einmal  —  *,  aber  sie  hat 
doch  den  Schritt,  den  sie  einmal  gethan,  als  sich  ihr  der  rationalistische 
Moralismus  deuthch  enthüllte,  niemals  wieder  zurückgenommen,  viel- 
leicht auch  nicht  mehr  zurücknehmen  können. 

Nicht  nur  dass  der  Augustinismus  und  Pelagianismus  gleich- 
zeitig und  unabhängig  in  der  abendländischen  Kirche  hervorgebrochen 
sind,  beweist  die  innere  Logik  der  Dinge,  sondern  auch  das  W  i  e  frap- 
pirt  durch  seine  Folgerichtigkeit.  Dort  ist  es  ein  heissblütiger  Mann, 
der  nach  Kraft  und  Seligkeit  gerungen  hat,  indem  er  nach 
Wahrheit  rang,  dem  die  subhmsten  Gedanken  der  Neuplatoniker, 
die  Psalmen  und  Paulus  das  Räthsel  seines  Innern  gelöst,  und  den  die 
Erfahrung  des  lebendigen  Gottes  überwältigt  hat.    Hier  ist  es  ein 


^  Pelagius  und  seine  Freunde  hatten  stets  das  Bewusstsein,  dass  zwar  um 
höchst  wichtige,  aber  nicht  um  dogmatische  Fragen  gestritten  wurde.  Man  kann 
hier  also  noch  einmal  sehr  deutlich  studircn,  was  in  jener  Zeit  als  Dogma  gegolten 
hat;  s.  de  gestis  Pelag.  16:  Pelagius  leugnet  auf  der  Synode  zu  Diospolis  Sätze  von 
hoher  dogmatischer  Bedeutung  ab,  sie  seien  nicht  die  seinigen ;  auf  die  Zumuthung, 
er  solle  die,  welche  so  lehren,  mit  dem  Anathem  belegen,  erwiedert  er  :  „Anathema- 
tizo  quasi  stultos,  non  quasi  haercticos,  si  quidem  non  est  dogma."  Cälcstius 
sagt  von  der  Erbsünde  (de  pecc.  orig.  3) :  „licet  quaestionis  res  sit  ista,  non  haere- 
sis."  In  dem  in  Rom  übergebenen  libellus  fidei  26  erklärt  derselbe:  „si  quac  vero 
praeter  fidem  quacstiones  natae  sunt  .  .  .  non  ego  quasi  auctor  alicuius  dogmatis 
definita  haec  auctoritate  statui."  Hahn  §  134.  Auch  Papst  Zosimus  hat  zuerst 
(ep.  3,  7)  80  geurtheilt.  Julian  (Op,  imp.  III,  106)  sah  die  Dogmen  in  der  Lehre  von 
der  Trinität,  der  Auferstehung  „multisque  aliis  similibus". 

2  Darin  sind  Augiistinismus  und  Pelagianismus  formell  verwandt  und  der  bis- 
herigen Denkweise  entgegengesetzt,  dass  beiden  Auffassungen  der  Trieb  nach  Ein- 
heit zu  Grunde  liegt.  Man  will  der  Religion  und  Sittlichkeit  auf  den  Grrund 
kommen  und  sich  nicht  mehr  damit  begnügen,  Freiheit  und  Gnade  als  die  von  ein- 
ander unabhängigen,  gleich werthigen  Urdaten  anzuerkennen,  als  wäre  die  Religion 
mit  ihren  (jütern  dem  sittlich  (hiicn  gleichzeitig  über-  und  untergeordnet.  Das 
Entweder-Oder  erhob  sich  mit  Macht. 


154        r)ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Mönch  und  ein  Eunuch  ^ ,  beide  ohne  Spuren  innerer  Kämpfe ,  beide 
begeistert  für  die  Tugend,  beide  erfüllt  von  dein  Gedanken,  die  sittlich 
träge  Christenheit  zur  Anspannung  des  Willens  aufzurufen  und  sie  zur 
mönchischen  Yollkomnienheit  zu  bringen,  beide  mit  den  griechischen 
Vätern  wohl  vertraut,  Beziehungen  zum  Orient  aufsuchend,  in  der  antio- 
chenischen  Exegese  bewandert  '■^,  vor  Allem  aber  jener  stoisch-aristote- 
lischen Popularphilosophie  (Erkenntnisstheorie,  Psychologie,  Ethik  und 
Dialektik)  huldigend,  die  unter  den  gebildeten  Christen  des  Abend- 
landes so  viele  Anhänger  zählte.  Der  dritte  im  Bunde,  Julian  von 
Eklanum,  der  früh  verwittwete  Bischof,  lebhafter  und  ausfahrender  als 
der  zurückhaltende  und  vorsichtige  Pelagius  ^,  gescheuter  als  der  agi- 
tirende  Cälestius,  gebildeter  als  beide,  ein  ungezogenes  dialektisches 
Talent,  mit  einer  unverwüstlichen  Lust  am  Disput  und  einem  knaben- 
haften Eifer,    Begriffe  zu  definiren  und  Syllogismen  zu  bilden,  mehr 


^  Pelagius  ein  freilebender  Mönch,  Cälestius  „naturae  vitio  eunuchus  matris 
utero  editus",  beide  Laien,  Cälestius  auditorialis  scholasticus.  Das  Geburtsland  — 
Pelagius  ein  Britte  (Irländer?  Morgan?)  —  ist  bei  dem  damaligen  Austausch  und 
Verkehr  ziemhch  gleichgiltig.  Cälestius  wurde  in  Rom  von  Pelagius  gewonnen  und 
gab  dann  seine  weltliche  Laufbahn  auf. 

^  Ob  Pelagius  vor  seinem  Auftreten  in  Rom  im  Orient  gewesen,  ist  ungewiss. 
Cälestius  hat  in  Rom  den  Rufin  gehört  und  berichtet,  dieser  habe  vom  „tradux  pec- 
cati"  nichts  wissen  wollen  (de  pecc.  orig.  3).  Schon  Marius  Mercator  hat  den  Pela- 
gianismus  aus  der  Lehre  Theodor's  von  Mopsveste  ableiten  wollen  und  gemeint, 
Rufin  „der  Syrer"  (mit  Rufin  von  Aquileja  identisch?)  habe  ihn  nach  Rom  gebracht. 
Andere  haben  das  wiederholt.  So  problematisch  nun  auch  die  directen  Zusammen- 
hänge am  Anfang  gewesen  sind,  so  gewiss  ist,  1)  dass  der  Pelagianismus  und  Theo- 
dor's Lehre  sich  sehr  nahe  stehen,  2)  dass  Theodor  im  Streit  gegen  die  augustinisch- 
hieronymiauische  Lehre  Partei  ergriffen  hat  (er  hat  ein  Werk  geschrieben  „gegen 
die,  welche  behaupten,  dass  die  Menschen  durch  Natur  und  nicht  durch  eigenes 
Ermessen  sündigen",  s.  Photius  cod.  177),  3)  dass  die  Pelagianer  auf  ihn  als  auf 
einen  Hort  ausschauten  und  Julian  von  Eklanum  zu  ihm  geflohen  ist,  4)  dass  die 
Pelagianer  und  Scmipelagianer  überhaupt  überzeugt  waren,  an  dem  Orient  (auch  an 
der  Kirche  von  Konstantinopel)  einen  Rückhalt  zu  besitzen  und  zum  Theil  in  Kon- 
stantinopel in  die  Schule  gegangen  sind.  Die  eigenthümliche  Lehre  Theodor's  von 
der  Gnade  findet  sich  bei  den  Pelagianern  nicht;  eben  desshalb  hat  auch  Theodor 
nicht  völlig  mit  Julian  gemeinsame  Sache  machen  können  (s.  Kihn,  Theodor  v. 
Mopsv.  S.  42  ff.).  Aber  die  Verwandtschaft  ist  doch  unfraglich.  Es  ist  daher  keines- 
wegs blosse  Consequenzmacherei,  wenn  Cassian  c.  Nestor.  I,  3  sq.  die  Nestorianer 
mit  den  Pelagianern  zusammengestellt  hat  („cognata  haeresis").  Die  Interessen  und 
Methoden  waren  hier  und  dort  dieselben.  Auch  die  Zusammenstellung  mit  Euno- 
mins und  Aetius  ist  zutreffend. 

^  De  pecc.  orig.  13:  „Quid  inter  Pelagium  et  Caelestium  in  hac  quaestione 
distabit,  nisi  quod  ille  apcrtior,  iste  occultior  fuit ;  ille  pertinacior,  iste  mendacii>r, 
vel  certe  ille  liberior,  hie  astutior."  „Caelestius  incredibili  loquacitate.**  Manche 
Anhänger  der  neuen  Lehre  wollten  lieber  „Caelestiani"  heisseu. 


Augustinismus  und  Pelagianismus.  155 

rechthaberisch  als  ernst,  kein  Mönch,  sondern  ein  naturfreudiges  Welt- 
kind, ja  der  erste  und  bis  zum  18.  Jahrhundert  nicht  übertr offene,  un- 
verfrorene Vertreter  eines  selbstzufriedenen  Christ enthums.  Julian 
neben  Pelagius  und  Cälestius  war  nöthig,  sollte  die  moralistische  Denk- 
weise nicht  einseitig  vertreten  sein  —  die  religiöse  brauchte  nur  einen 
Vertreter.  Wahrlich,  kein  Dramatiker  hätte  diese  Typen  der  zwei 
contrastirenden  Lebensanschauungen  besser  erfinden  können,  den 
Augustin  einerseits,  die  beiden  ernsten  Mönche,  Pelagius  und  Cälestius, 
und  den  kecken  Weltbischof  Julian  andererseits  ^ 

Der  Ursprung   des  Pelagianismus   ist  damit  schon  angedeutet. 
Er  ist  der  unter  dem  Einfluss  des  griechischen  Mönch- 


*  Der  Ernst  und  die  „Heiligkeit"  des  Pelagius  sind  vielfach  bezeugt,  vor  Allem 
von  Augustin  selbst  und  Paulin  von  Nola.  Die  Unwahrhaftigkeit  wirft  freilich  einen 
schweren  Schatten  auf  dieselben  •,  aber  es  fehlt  uns  das  Material,  um  sicher  zu  ent- 
scheiden, wie  weit  Pelagius  sich  in  sie  verstrickt,  und  wie  weit  er  in  dem  berechtigten 
Bestreben,  eine  gute  Sache  nicht  durch  die  Theologie  ersticken  zu  lassen,  mit  seiner 
Meinung  zurückgehalten  hat.  Augustin,  der  "Wahrhaftige,  ist  auch  hier  geneigt,  die 
Unwahrhaftigkeiten  des  Gegners  zu  mildern.  Vor  Allem  aber  muss  man  bedenken, 
dass  damals  viel  ungescheuter  öffentlich  von  den  Priestern  und  Theologen  ge- 
logen wurde,  als  ihnen  dies  heute  gestattet  ist.  Die  öffentliche  Meinung  war  viel 
weniger  empfindlich  dagegen,  namentlich  wenn  angeklagte  Theologen  sich  heraus- 
redeten, wie  man  nicht  nur  aus  den  Schriften  des  Hieronymus  ersehen  kann.  Die 
Leute,  welche  so  empört  über  die  Lügen  des  Pelagius  waren,  heuchelten  nicht 
wenig.  Augustin  durfte  empört  sein ;  aber  wie  er  trotz  Allem  besonnen  und  milde 
blieb,  zeigt  die  Schrift  de  gcstis  Pclagii.  Pelagius  und  Cälestius  müssen  zu  jenen 
glücklichen  Menschen  gehört  haben,  die,  von  Natur  kalt,  durch  Erziehung  massig, 
einen  erheblichen  Abstand  zwischen  dem,  was  sie  sollen,  und  dem,  was  sie  thun, 
nie  bemerken.  Julian  war  ein  beweglicher  Charakter,  ein  jugendlicher  Mann  voll 
Selbstvertrauen  (c.  Julian.  II,  30:  „itane  tandem,  iuvenis  confidentissimc,  consolari 
te  debes,  quia  talibus  displices  an  lugere?"),  der  als  Jüngling  zum  römischen  Bischof 
Innocentius  (c.  Julian.  I,  13)  und  zu  Augustin  Beziehungen  gehabt  hatte,  „vir  acer 
ingenio,  in  divinis  scripturis  doctus,  Gracca  et  Latina  lingua  scholasticus  •,  prius 
quam  impictatem  Pclagii  in  sc  apcrirct,  clarus  in  doctoribus  ccclcsiac  fuit"  (Gennad. 
Script,  eccl.  46).  Besonders  waren  seine  Kenntnisse  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie ungewöhnlich.  Früh  Schriftsteller  und  früh  Bischof,  scheint  er,  wie  so 
manche  frühreife  Talente,  auf  d(!r  Stufe  des  gescheut(m  Jünglings  stehen  geblieben 
zu  sein.  Phantasie  und  leidenschaftliclie  Kraft  verkümmerten  und  machten  ihn  zum 
Fanatiker  der  moralistischcn  Theorie.  Immerhin  ist  er  nicht  leicht  zu  nehmen. 
Die  alte  Kirche  hat  wenige  so  muthigc  und  rücksichtslose  Talente  hervorgebracht. 
Seine  Kritik  ist  vielfach  treffend,  immer  scharfsinnig.  Aber  freilich — wenn  man  ihm 
auch  in  allem  Kritischen  Recht  gcgeljcn  hat,  so  Ijchält  man  schliesslich  doch  nur 
Hülsen  in  der  Hand.  Auch  vcrmisst  man  bei  ihm  den  Ernst  des  Sollens,  den  man 
bei  Pelagius  nicht  vergebens  sucht.  Eben  darum  wird  der  erfreuliche  Eindruck 
eines  heit(;ren  Geistes,  der  als  Rächer  der  missachteten  Vernunft  und  der  gebiete- 
rischen Moral  auftritt,  immer  wieder  durch  das  Unbehagen  beeinträchtigt,  eine 
kritische  Iläckselmaschine  schnurren  zu  hören. 


156        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

thiims*  consequent  entwickelte  christliche  Rationalismus, 
wie  er  im  Ahendland,  namentlich  hei  den  (jlehildeteren,  länf^st  verhreitet 
war,  sich  an  der  stoisch  und  aristotelisch  heeinflussten  Popularphilosophie 
nährte-  und  durch  Juhan  eine  Wendung  zum  (stoischen) Naturalismus 
erhielt  ^.  Natura,  liherum  arbitrium,  virtus,  lex,  das  sind  —  streng  de- 
tinirt  und  gegen  den  Gottesbegriff  selbständig  gestellt  —  die  Schlag- 
worte des  Pelagianismus :  die  selbsterworbene  Tugend  ist  das  höchste 
Gut,  welchem  die  Belohnung  folgt.  Religion  und  Sittlichkeit  Hegen  in 
der  Sphäre  des  freien  Geistes  * ;  sie  werden  in  jedem  Moment  selbst- 
tliätig  erworben.  AVie  verbreitet  diese  Denkweise  war,  zeigen  neben 
den  unsicheren  Aeusserungen  auch  solcher  Theologen,  die  es  in  vielen 
Ausführungen  besser  wussten  ^,  vor  Allem  die  Institutionen  des  Lac- 
tantius  ^.  Im  Folgenden  soll  zuerst  der  äussere  Verlauf  des  Streits 
kurz  geschildert,  sodann  die  Denkweise  der  Pelagianer  dargelegt,  end- 
lich Augustin's  Lehre  entwickelt  werden  ^. 


*  Auch  die  antiochenischen  Theologen  waren  bekanntlich  eifrige  Vertreter 
des  Mönchthums. 

^  Den  Satz  des  Cicero:  „virtutem  nemo  unquam  acceptam  deo  retulit",  kann 
man  als  Motto  über  den  Pelagianismus  setzen. 

^  Pelagianismus  und  Augustinismus  sind  auch  darin  formell  verwandt,  dass  in 
beiden  das  alte  dramatisch-eschatologische  Element,  welches  bisher  im  Abendland 
eine  so  grosse  Rolle  gespielt  und  den  Moralismus  compensirt  hatte,  ganz  zurück- 
tritt. Aber  erst  Julian  hat  die  Denkweise  säcularisirt. 

*  Hierin  liegt  ein  drittes  Moment  (s.  S.  153  Anm.  2)  der  formellen  Ver- 
wandtschaft zwischen  Pelagianismus  und  Augustinismus.  Beide  Denkweisen  sind 
nicht  kultisch-mystisch  interessirt;  ihre  Urheber  bemühen  sich  vielmehr,  geistige 
Dinge  geistig  zu  richten,  was  freilich  Augustin  nicht  ganz  gelungen  ist. 

^  S.  das  oben  S.  45  über  Ambrosius  Bemerkte.  Wie  confus  man  war,  zeigt 
vielleicht  am  besten  die  3.  Regel  des  Tichonius  (Aug.,  de  doctr.  christ.  III,  46 : 
„opera  a  deo  dari  merito  fidei,  ipsam  vero  fidem  sie  esse  a  nobis,  ut  nobis  non  sit 
a  deo."  Dennoch  suchte  Augiistin  (c.  Julian.  1.  I)  einen  Traditionsbeweis  für  seine 
Lehre  zu  geben. 

^  Eine  Stelle  (IV,  24  sq.)  hat  im  Streit  eine  Berühmtheit  erlangt:  „oportet 
magistrum  doctoremque  virtutis  homini  simillimum  fieri,  ut  vincendo  peccatum 
doceat  hominem  vincere  posse  peccatum  .  .  .  ut  desideriis  carnis  edomitis  doceret, 
non  necessitatis  esse  peccare,  sed  propositi  ac  voluntatis." 

^  Die  Quellen  sind  die  Schriften  des  Pelagius,  Cälestius  und  Julian  (grössten- 
theils  bei  Hieronymus  und  Augustin),  die  Werke  des  Augustin  (T.  X  u.  c.  20  Briefe, 
unter  denen  ejip.  186.  194  die  wichtigsten),  des  Hierouynuis,  Orosius,  Marius  Mer- 
cator  und  die  einschlagenden  Papstbriefe.  Mansi  T.  IV,  Hefele  Bd.  II.  Sonstige 
Littcratur  s.  oben  S.  55.  Marius  ist  am  Schluss  des  Streites  der  rührigste  (TCguer 
der  Pelagianer  gewesen,  der  im  Orient  ihre  Verurtheilung  durchgesetzt  hat  (s. 
Mignc  T.  48  u.  den  Art.  in  der  Encycl.  of  Christ.  Biogr.). 


Der  pelagianische  Streit.  157 

I.  Pelagius  taucht  für  uns  in  Rom  auf.  In  allen  Jahrhunderten 
sind  in  Italien  Prediger  aufgetreten^  welche  die  leichtlebigen  und  leicht- 
beweglichen Italiener  momentan  zu  erschüttern  verstanden.  Pelagius 
ist  Einer  der  Ersten  in  der  Reihe  gewesen  (de  pecc.  orig.  24  :  „Romae 
diutissime  vixit").  Ergrimmt  über  die  träge  Christenheit;  die  sich  mit 
der  Gebrechlichkeit  des  Fleisches  und  der  Unerfüllbarkeit  der  schweren 
göttlichen  Gebote  entschuldigte,  predigte  er,  dass  Gott  nichts  Unmög- 
liches fordere,  dass  der  Mensch  die  Kraft  besitze,  das  Gute  zu  thun, 
wenn  er  nur  wolle,  und  dass  die  Schwäche  des  Fleisches  nur  ein  Vor- 
wand sei.  „Wenn  ich  über  die  Sittenlehre  und  die  Grundsätze  eines 
heiligen  Lebens  handle,  so  weise  ich  immer  zuerst  die  kraftvolle  Fähig- 
keit der  menschlichen  Natur  nach  und  zeige^  was  sie  leisten  kann,  ne 
tanto  remissior  sit  ad  virtutem  animus  ac  tardior,  quanto  minus  se 
posse  credat  et  dum  quod  inesse  sibi  ignorat  id  se  existimet  non 
habere."  ^  Im  Gegensatz  zu  Jovinian,  dessen  Lehre  in  Rom  nur  die 
Laxheit  befördert  haben  kann,  verkündigte  er  den  Christen  die  mön- 
chischen Forderungen;  denn  um  nichts  Geringeres  handelte  es  sich 
auch  schon  bei  diesem  Prediger  ^.  Von  unzweifelhafter  Orthodoxie  ^, 
auch  als  Exeget  und  Theologe  in  der  litterarisch  so  unfruchtbaren 
Hauptstadt  der  Christenheit  hervorragend  *,  übte  er  eine  energische 
Wirksamkeit  aus,  so  dass  die  Kunde  ihres  Erfolges  nach  Nordafrika 
drang  ^.  Nur  um  das  Praktische  war  es  ihm  zu  thun.  Augenschein- 
lich vermied  er  die  theologische  Polemik  ;  aber  als  die  Confessionen 
Augustin's    ihre   narkotischen   Wirkungen   begannen,   trat    er  ihnen 

^  Pelag.,  ep.  ad  Demetr. 

'  Er  war  vielleicht  nicht  der  Erste;  doch  weiss  man  nicht,  welche  Leute 
Augustin  de  pecc.  orig.  25  („Pelagius  et  Caelestius  huius  perversitatis  auctores  vel 
perhibentur  vel  etiam  probantur,  vel  certe  si  auctores  non  sunt,  sed  hoc  ab  aliis 
didicerunt,  assertores  tarnen  atque  doctores")  und  de  gest.  Pelag.  61  („post  veteres 
haereses  inventa  etiam  modo  haeresis  est,  non  ab  episcopis  seu  presbyteris  vel  qui- 
y)uscunque  clericis,  sed  a  quibusdam  veluti  monachis")  gemeint  hat.  An  der  zweiten 
»Stelle  können  Pelagius  und  Cälestius  selbst  verstanden  werden. 

'  Das  später  eingereichte  Glaubensbekenntniss  (Hahn  §  133)  ist  in  den  dog- 
matischen Partien  klar  und  sicher.  In  der  Trinitätslehre  tritt  die  Einheit  der  Gott- 
heit nicht  so  stark  hervor  wie  bei  Augustin;  Pelagius  stand  eben  auch  hierin  den 
Griechen  näher. 

*  Zu  Rom  hat  Pelagius  den  Brief  an  Paulin  von  Nola,  die  dr'ci  Bücher  de  fidc 
trinitatis,  seine  Eulogia  und  die  Commentarc  zu  den  paulinischen  Briefen,  auf  die 
Augustin  sich  nachmals  bezogen  hat,  geschrieben.  Die  letzteren  sind  uns  unter  den 
Werken  des  Hicronymus  erhalten;  doch  wird  ihre  Integrität  bezweifelt.  Ausserdem 
erwähnt  Augustin  eine  ep.  adConstantium  ep.  (de  grat.  39);  man  weiss  nicht,  wann 
sie  geschrieben  ist. 

^'  De  gestis  Pelag.  46:  „Pelagii  nomen  cinn  magna  oius  laude  cognovi." 


158        I^ip  wpltgoschichtliche  Stellunpf  Augustinus  als  Lehrer  der  Kirche. 

entgegen.  Doch  blieb  das  Thcti  sehe,  die  Betonung  der  Willens- 
treilieit,  ihm  stets  die  Hauptsache.  Dagegen  scheint  sein  Schüler  und 
Freund  Cälestius  ^  von  Anfang  an  die  Erbsünde  (tradux  peccati)  aufs 
Fvorn  genommen  zu  haben.  Die  von  ihm  Gewonnenen  gaben  das  Schhig- 
wort  aus,  dass  der  Zweck  der  Kindertaufe  nicht  die  Sündenvergebung 
sei  ^.  Als  Alarich  in  Jloni  einbrach,  begaben  sich  die  beiden  Prediger 
(über  Sicilien)  nach  Nordafrika.  Es  war  auf  Augustin  abgesehen;  allein 
es  kam  weder  in  Hippo  noch  in  Karthago  zu  einer  näheren  Berührung 
zwischen  ihm  und  Pelagius  ^.  Wahrscheinlich  reiste  dieser  plötzlich  ab, 
als  er  sah,  er  werde  in  Afrika  seine  Zwecke  nicht  erreichen,  sondern 
nur  theologischen  Zank  stiften.  Dagegen  blieb  Cälestius  und  bewarl) 
sich  um  ein  Presbyteramt  in  Karthago.  Allein  schon  im  Jahr  412 
(411)  verklagte  ihn  der  Mailänder  Diakon  Paulinus  (der  spätere  Bio- 
graph des  Ambrosius)  auf  einer  Synode  zu  Karthago  vor  dem  Bischof 
Aurclius  *.  Die  schriftlich  fixirten  Anklagepunkte  lauteten:  „Adam 
mortalem  factum,  qui  sive  peccaret  sive  non  peccaret  moriturus  fuisset 

—  peccatum  Adae  ipsum  solum  laesit,  non  genus  humanum  —  parvuli 
qui  nascuntur  in  eo  statu  sunt,  in  quo  fuit  Adam  ante  praevaricationem 

—  neque  per  mortem  vel  praevaricationem  Adae  omne  genus  hominum 
moritur,  nee  per  resurrectionem  Christi  omne  genus  hominum  resurget 

—  lex  sie  mittit  ad  regnum  coelorum  quomodo  et  evangelium  —  et 
ante  adventum  domini  fuerunt  homines  impeccabiles  i.  e.  sine  peccato  — 
hominem  posse  esse  sine  peccato  et  mandata  dei  facile  custodire,  si 
velit"  '\  In  der  Verhandlung  erklärte  Cälestius,  die  infantes  brauchten 
die  Taufe  und  müssten  getauft  werden ;  da  er  das  behaupte,  sei  seine 
Orthodoxie  erwiesen  *,  der  tradux  peccati  sei  jedoch  eine  offene  Frage, 
„quia  intra  Catholicam  constitutos  plures  audivi  destruere  nee  non  et 
alios  adstruere".  Dennoch  wurde  er  excommunicirt.  In  dem  libellus 
brevissimus,  den  Cälestius  zu  seiner  Yertheidigung  verfasst  hat,  gab  er 
sogar  die  Nothwendigkeit  der  Taufe  zur  Erlösung  für  die  Kinder  zu; 
allein  er  meinte  ein  von  der  vita  aeterna  unterschiedenes  regnum 
coelorum.  Von  Sündenvergebung  bei  der  Kindertaufe  wollte  er  nichts 
wissen  ^.    Unstreitig  ist  er  verurtheilt  worden,  weil  er  den  festen  Zu- 


*  Von  ihm  drei  Schriften  de  monasterio.  „Caelesti  opuscula",  de  gratia  32. 

-  So  hörte  Augustin,  als  er  4H  in  Karthago  war,  s.  tle  pecc.  nier.  ITT,  12. 

^  De  gestis  Pelag.  46. 

"^  Marius  Merc.  Common,  und  Aug.,  de  pecc.  orig.  2  sq.  Es  ist  bemerkens- 
werth,  dass  die  Anklage  von  einem  Schüler  des  Ambrosius  ausgegangen  ist.  Damit 
ist  die  Continuität  der  antipelagianischon  Lehre  erwiesen. 

^  Ueber  die  Ueberlieferung  dieser  Sätze  s.  Kl  äsen,  Pelaoianismus  S.  481'. 

^  De  pecc.  mer.  J,  58.  62. 


Der  pelagianische  Streit.  159 

sammenhang  von  Taufe  und  Sündenvergebung  lockerte;  damit  gleich- 
sam zwei  Taufen  aufrichtete  und  wider  das  Symbol  verstiess.  Er  ging 
nun  nach  Ephesus  ^,  wurde  dort  Presbyter  und  begab  sich  dann  nach 
Konstantinopel. 

Pelagius  war  nach  Palästina  gegangen.  Er  beobachtete  eine  andere 
Taktik  als  der  Freund,  der  der  Sache  durch  die  Maxime  des  „fortiter 
scandalizare"  zu  dienen  hoffte.  Pelagius  wollte  den  Frieden;  er  schrieb 
an  Augustin  einen  schmeichelhaften  Brief,  den  dieser  freundlich  aber 
zurückhaltend  beantwortete  ^.    Er  suchte  sich  an  Hieronymus  anzu- 


^  Dass  er  sich  vorher  in  Sicilien  aufgehalten,  ist  nur  ein  Einfall  Augustin's,  ab- 
geleitet aus  der  Verbreitung  cälestianischer  Irrthümer  daselbst;  s.  die  interessanten 
Briefe  Augustin's  epp.156. 157,  22.  23  sq.  Hier  erkennt  man,  dass  Cälestius  geradezu 
gelehrt  hat:  „divitem  manentem  in  divitiis  suis  regnum  dei  non  posse  ingredi,  nisi 
omnia  sua  vendiderit;  nee  prodesse  eidem  posse,  si  forte  ex  ipsis  divitiis  mandata 
fecerit."  In  der  aus  Sicilien  dem  Augustin  zugekommenen  Schrift  „definitiones 
Caelestii",  deren  Ursprung  allerdings  nicht  sicher  ist,  ist  die  stoische  Methode  der 
Definitionen  bemerkenswerth.  Auch  findet  sich  hier  die  berühmte  Definition  der 
Sünde,  sie  sei  „das,  was  man  lassen  kann"  (umgekehrt  Groethe:  „Was  nennst  Du 
denn  Sünde?  Wie  Jedermann:  wo  ich  finde,  dass  man's  nicht  lassen  kann").  Alles 
Raisonnement  dient  dem  Nachweis,  dass,  da  peccatum  vitari  potest,  der  Mensch 
sündlos  sein  könne  (de  perfect.  iust.  1  sq.).  An  der  eben  genannten  Stelle,  ferner  zu 
Diospolis  (de  gestis  Pelag.  29 — 63),  wird  ein  dem  Titel  nach  unbekanntes  Werk  des 
Cälestius  erwähnt.  Es  sind  uns  nicht  wenige  Sätze  aus  demselben  (1.  c.)  erhalten : 
„Plus  facimus  quam  in  lege  et  evangelio  iussum  est  —  gratiam  dei  et  adiutorium  non 
ad  singulos  actus  dari,  sed  in  libero  arbitrio  esse,  vel  in  lege  ac  doctrina  —  dei 
gratiam  secundum  merita  nostra  dari,  quia  si  peccatoribus  illam  dat,  videtur  esse 
iniquus  —  si  gratia  dei  est,  quando  vincimus  peccata,  ergo  ipsc  est  in  culpa,  quando 
a  peccato  vincimur,  quia  omnino  custodire  nos  aut  non  potuit  aut  noluit  —  unum- 
quemque  hominem  omnes  virtutes  posse  habere  et  gratias  —  filios  dei  non  posse 
vocari  nisi  omni  modo  absque  peccato  fuerint  effecti  —  oblivionem  et  ignorantiam 
non  subiacere  peccato,  quoniam  non  secundum  voluntatem  cveniunt,  sed  secundum 
necessitatem  —  non  esse  liberum  arl)itrium,  si  dei  indigeat  auxilio,  quoniam  in 
propria  voluntate  habet  unusquisque  aut  fasere  aliquid  aut  non  facere  —  victoriam 
nostram  non  ex  dei  esse  adiutorio,  sed  ex  libero  arbitrio  —  si  anima  non  potest 
esse  sine  peccato,  ergo  et  dcus  suljiacet  peccato,  cuius  pars,  hoc  est  anima, 
peccato  obnoxia  est  —  i)aenitentiljus  venia  non  datur  secundum  gratiam  et  miseri- 
cordiam  dei,  sed  secundum  merita  et  laborcm  corum,  qui  per  pacni- 
tentiam  digni  fuerint  misericordia."  INIan  sieht  leicht,  was  freilich  ])isher 
nicht  dcuthch  gesehen  worden  ist,  dass  diese  Schrift  des  Cälestius  zum 
eigentlichen  Anstoss  werden  musste.  Hier  mussten  auch  den  Schwanken- 
den die  Augen  aufgehen.   Wir  kommen  im  Text  auf  diesell)0  zurück. 

^  De  gestis  Pelag.  51.  52.  Die  nachtiäglichc  Deutung,  die  Augustin  einigen 
Conventionellen  Phrasen,  die  er  in  dem  Briefe  gebraucht,  gegeben,  erscheint  uns 
überflüssig  und  peinlich.  Er  schonte  üliHgens  den  Pehigius  auch  in  Karthago  selbst; 
denn  in  der  ersten  grossen  Schrift  gegen  den  Pelagianismus,  de  pecc.  mer.  et  remiss. 
et  de  bapt.  parvulorum  uA  Marcellinum  (412)  —  vorher  hatte  Augustin  nur  durch 


160        I^ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

scliliessen  und  ütt'entlicli  keinen  Anstoss  zu  geben.  Offenbar  war  ibni 
Cälestius  mit  seiner  Agitation  für  die  sündlosen  Kinder  und  gegen  den 
tradux  peccati  unbequem.  Er  wollte  für  etwas  Positives  wirken  —  wie 
(liu'fte  man  da  einen  negativen  Punkt  in  den  Vordergrund  schieben  und 
die  Reformbewegung  durch  lleberstürzung  und  theologische  Erbitterung 
aufhalten?  Wirklich  fand  er  gute  Freunde  ^  Allein  das  freundliche 
Verhiiltniss  zum  Bischof  Johannes  von  Jerusalem  konnte  dem  Hiero- 
nymus  nicht  gefallen.  Dazu  kamen  aus  dem  Occident  —  zahlreiche 
Abendländer  waren  stets  in  Palästina  —  Gerüchte  über  die  bedenk- 
lichen Lehren  des  Pelagius.  Hieronymus,  der  damals  auf  gutem  Fuss 
mit  Augustiii  stand,  brach  mit  Pelagius  -  und  schrieb  gegen  ihn  die 
ep.  ad  Ctesiphontem  (ep.  133)  und  die  dialogi  c.  Pelag.,  Schriften,  die 
das  Musterbild  einer  unverständigen  Polemik  sind  —  „ob  der  Mensch 
ohne  Sünde  sein  könne",  diese  Frage  stand  dem  Hieronymus  im  Vorder- 
grund, und  zugleich  beeilte  er  sich,  Pelagius  mit  dem  „Ketzer"  Origenes 
und  anderen  Häretikern  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Noch  mehr 
aber  schadete  es  dem  Pelagius  ^,  dass  eben  damals  jene  uns  bereits  be- 
kannte Schrift  des  Cälestius  (s.  oben)  bekannt  wurde,  in  welcher  dieser 
als  enfant  terrible  der  Partei  so  rücksichtslos  vorgegangen  war  ^. 


Predigten  und  Unterredungen  zu  wirken  gesucht  —  ist  Pelagius'  Name  noch  nicht  ge- 
nannt. Auch  der  gleichfolgende  Tractat  de  spiritu  et  littera  ist  nicht  gegen  Pelagius 
gerichtet, 

*  Den  Trostbrief  an  die  Wittwe  Livania  (Bruchstücke  bei  Aug.  de  gestis  Pel. 
16.  19,  Hieron.,  Marius,  theilweise  recitirt  in  der  Anklageschrift  zu  Diospolis)  bin 
ich  geneigt  für  eine  Unterschiebung  zu  halten.  Doch  vermag  man  mit  Sicherheit 
nicht  zu  urtheilen.  Die  Möglichkeit  muss  doch  offen  bleiben,  dass  Pelagius  sich  in 
einem  nicht  für  die  Oeffentlichkeit  bestimmten  schmeichelhaften  Schreiben  an  eine 
frömmelnde  Wittwe  so  ausgedrückt  hat.  Freilich  wie  eine  Persiflage  klingen  die 
Worte:  „Ille  ad  deum  digne  elevat  manus,  ille  orationem  bona  conscientia  effundit, 
qui  potest  dicere,  tu  nosti,  domine,  quam  sauctae  et  innocentes  et  mundae  sunt  ab 
omnimolestia  et  iniquitate  etrapina  quas  adte  extendo  manus,  quemadmodum  iusta 
et  munda  labia  et  ab  omni  mendacio  libera,  quibus  offero  tibi  deprecationem,  ut 
mihi  miserearis."    Pharisäer  und  Zöllner  in  einer  Person! 

2  Dieser  hat  sich  nachmals  (c.  Jul.  II,  30)  beklagt,  „quod  Hieronymus  ei  tam- 
quam  aemulo  inviderit."    Das  ist  sehr  glaublich. 

^  Aus  Vorsicht  antwortete  er  dem  Hieronymus  nicht  öffentlich ;  denn  er  wollte 
jeden  Streit  vermeiden.  Jener  stand  ihm  übrigens  im  Grunde  näher  als  dem 
Augustin.  Noch  in  einer  späteren  Streitschrift  behauptete  Hieronymus  nämlich, 
orthodoxe  Lehre  sei  es,  dass  der  Anfang  des  guten  Willens  und  des  Glaubens  von 
uns  komme. 

*  Pelagius  selbst  schrieb  im  Jahr  413  oder  414  seinen  uns  erhaltenen  Brief  an 
die  Nonne  Demetrias,  das  deutlichste  Denkmal  seiner  Lehre ,  und  kurz  vor  der 
Synode  von  Diospolis  das  Buch  de  natura,  in  welchem  Manches  steht,  was  er  auf 
der  Synode  abgeleugnet  hat.  Auch  diesesBuch  war  höchst  wahrscheinlich  nicht  für 


I 


Der  pelapfianische  Streit.  161 

Der  Schüler  Augustin's,  der  spanische  Priester  OrosiuS;  der  mit 
zu  dem  Zweck  zu  Hieronymus  gekommen  war,  um  ihn  auf  das  Gefähr- 
liche des  Pelagianismus  aufmerksam  zu  machen,  setzte  es  schliesslich 
durch,  dass  Johannes  von  Jerusalem  denPclagius  citirte  und  eine  förm- 
liche Relation  über  seine  Angelegenheit  im  Kreise  seiner  Presbyter 
entgegennahm  (415).  Allein  die  Untersuchung  endete  mit  einem  Siege 
des  Angeklagten.  Mit  der  Verweisung  auf  die  Autorität  seines  gefeier- 
ten lichrers,  ferner  auf  die  des  Hieronymus  und  der  Synode  von 
Karthago  hatte  Orosius  kein  Glück,  und  gegenüber  dem  Vorwurf,  er 
habe  gelehrt,  der  Mensch  könne  ohne  Sünde  sein  und  brauche  die  gött- 
liche Hülfe  nicht,  erklärte  Pelagius,  er  lehre,  dass  es  ohne  die  göttliche 
Gnade  nicht  möglich  sei,  sündlos  zu  werden.  Damit  war  Johannes 
völlig  einverstanden.  Da  nun  Orosius  seinerseits  nicht  behaupten 
wollte ,  die  Natur  des  Menschen  sei  von  Gott  böse  geschaffen  ,  so 
sahen  die  Orientalen  nicht  ein,  um  was  hier  eigentlich  gestritten  wurde. 
Die  formlose  und  erschwerte  Verhandlung  —  Orosius  sprach  kein  grie- 
chisch —  wairde  abgebrochen  :  im  Abendland,  hiess  es,  näher  iuEom, 
möge  man  den  Zank  entscheiden  K  Pelagius  hatte  den  ersten  Vorstoss 
abgeschlagen.  Allein  die  Gegner  ruhten  nicht.  Sie  setzten  es  noch  im 
Dec.  415  durch,  dass  Pelagius  vor  eine  palästinensische  Synode  zu  Dios- 
polis  (den  Vorsitz  führte  Eulogius  von  Cäsarea)  gestellt  wurde,  auf  der 
er  seine  Ankläger  indess  nicht  antraf  -.  Er  konnte  sich  sofort  auf  die 
günstigen  Zeugnisse  vieler  Bischöfe  berufen,  die  seine  Bemühungen, 
die  Sittlichkeit  zu  heben,  warm  anerkannt  hatten.  Die  ihm  zugeschrie- 
benen Sätze  über  Natur  und  Gnade  lehnte  er  nicht  ab,  vermochte  ihnen 
aber  eine  so  befriedigende  Auslegung  zu  geben,  dass  die  Richter  seine 
Rechtgläubigkeit  untadelhaft  fanden.  Die  exorbitanten  Sätze  aus  dem 
Brief  an  die  Livania  stellte  er  theils  zurecht,  theils  erkannte  er  sie 
nicht  als  die  seinigen,  und  als  die  Synode  verlangte,  er  solle  sie  aus- 
drücklich verwerfen,  erklärte  er:  .,anathematizo  quasi  stultos,  non 
quasi  haereticos,  si  quidem  non  est  dogma."  Hierauf  die  Synode:  „Nunc 


die  Oeffentlichkeit,  sondern  nur  für  die  Freunde  bestimmt  (^egen  die  Vorwürfe  des 
Hieronymus).  Augustin  widerlegte  es  in  seinem  Tractat  de  natura  et  gratia,  sobald 
er  es  erhalten  hatte  (415).  Pelagius  hatte  in  dem  Buch  eine  dialektische  Begrün- 
dung seiner  Anthropologie  versucht.  Die  auch  noch  im  Jahr  415  von  Augustin  ver- 
fasste  Schrift  de  })erfe(;tione  iustitiae  richtete  sich  gegen  Cälestius. 

'  S.  Orosii  Apolog. 

^  Die  Anklageschrift  war  von  zwei  gallischen  Bischöfen  Heros  und  Lazarus, 
die  aus  ihrem  Vaterland  hatten  flüchten  müssen,  abgefasst.  Sie  war  sehr  umfassend; 
aber  es  war  in  ihr  nicht  streng  zwischen  dem  geschieden,  was  Pelagius  selbst  ge- 
wagt hatte,  und  was  d(!m  Cäh.'stius  angehörte.  Die  beiden  Bischöfe  sind  übrigens 
später  bei  den  Verliandlungen  in  Rom  als  verdächtige  Leute  behandelt  worden. 
Harnack,  Üogmengeschichte  111.  j  j^ 


162        r)ie  weltßfeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

quoniam  propria  voce  anathematizavit  Pelagius  incertum  stultiloquium, 
recte  respondons,  hominem  cum  adiiitorio  dei  et  gratia  posse  esse  sine 
peccato,  respondeat  et  ad  alia  capitula."  Nun  wurden  ihm  die  Sätze  des 
Cälestius  vorgelegt  über  Adam,  Adamssünde,  den  Tod,  die  neugeborenen 
Kinder,  die  Unseligkeit  der  Reiclien,  die  Sündlosigkeit  der  Gottes - 
kinder,  die  Unwesentlichkeit  des  göttlichen  Beistandes  —  kurz  alle  jene 
Sätze,  die  theils  schon  zu  Karthago  verurtlieilt,  theils  später  in  nocli 
schlinnnerer  Form  von  Cälestius  vorgebracht  waren,  Pelagius  war  in 
einer  üblen  Lage.  Er  hasste  allen  theologischen  Streit;  er  wusste, 
dass  die  christliche  Sittlichkeit  dadurch  nur  verlieren  könne ;  er  wollte 
das  Gebiet  des  Dogmatischen  unberührt  lassen  ^  Cälestius  hatte  frei- 
lich nur  gesagt,  was  er  selbst  in  vertrautem  Kreise  als  das  Richtige  be- 
zeichnet hatte;  aber  jener  hatte  es  öffentlich  und  rücksichtslos  ausge- 
sprochen und  —  „der  Ton  macht  die  Musik".  So  hielt  sich  Pelagius 
für  berechtigt,  fast  alle  jene  Ausführungen  abzulehnen  :  „reliqua  vero 
et  secundum  ipsorum  testimonium  a  me  dicta  non  sunt,  pro  quibus 
ego  satisfacere  non  debeo."  Aber  er  fügte  noch  hinzu :  „anathematizo 
illos  qui  sie  tenent  aut  aHquando  tenuerunt."  Damit  hatte  er  sich 
selbst  das  Urtheil  gesprochen ;  es  war  eine  Unwahrheit.  Die  Synode 
rehabilitirte  ihn  vollständig:  „Nunc  quoniam  satisfactum  est  nobis 
prosecutionibus  praesentis  Pelagii  monachi,  qui  quidem  piis  doctrinis 
consentit,  contraria  vero  ecclesiae  fidei  anathematizat,  communionis 
ecclesiasticae  eum  esse  et  catholicae  confitemur"  2. 

Der  Synode  ^  kann  Niemand  einen  Vorwurf  machen :  Pelagius 
hatte  sich  in  der  That  so  ausgedrückt,  wie  sie  selbst  dachte;  den 
Augustinismus  kannte  man  weder  noch  verstand  man  ihn;  die  „haeresis 
Caelestiana''  ^  blieb  gerichtet^. 


^  Die  oben  citirte  Aeusserung:  „non  est  dogma",  ist  höchst  charakteristisch. 
Sie  zeigt,  wie  ängstlich  Pelagius  besorgt  gewesen  ist,  das  Gebiet  des  Dogmatischen  nicht 
zu  erweitern.  Darin  hatte  er  ganz  die  Stimmung,  die  die  Griechen  immer  gehegt 
haben  und  heute  noch  hegen.  Ein  griechischer  Priester  sagte  dem  Verfasser  einmal, 
das  sei  die  grosse  Freiheit  der  griechischen  Kirche  gegenüber  der  abendländischen, 
dass  man  über  Sünde,  Gnade,  Rechtfertigung  u.  s.  w.  sehr  verschiedenen  Ansichten 
folgen  könne,  wenn  man  nur  an  den  „üogTnen"  festhalte.  Pelagius  stemmte  sich 
also  dem  entgegen,  dass  ein  grosses  neues  Gebiet  in  den  Bereich  des  Dogmatischen 
gezogen  wurde.  Er  sah  nur  die  unvermeidlichen  Nachtheile  eines  solchen  Fort- 
schrittes. Von  hier  aus  ist  seine  ganze  Haltung  bis  zu  seinem  Tode  zu  beurtheilen. 

^  De  gestis  Pelag.  44,  aus  welcher  Schrift  auch  das  Vorhergehende  ent- 
nommen ist. 

^  „Synodus  miserabilis"  Hieron.,  ep.  143,  2. 

^  Hieron.,  ep.  143,  1. 

^  In  seinem  AVerk  de  gestis  Pelagii  kritisirt  Augustin  den  Verlauf  der  Synode 
nach  einem  schriftlichen  Bericht  und  zeigt,  dass  Pelagius  die  Unwahrheit  gespn)rluMi. 


Der  pelagianische  Streit.  163 

Pelagius  aber  hat  sich  nun  vor  seinen  eigenen  Anhängern  ver- 
theidigen  müssen.  Während  er  einerseits  beflissen  war,  im  Occident 
den  Eindruck  des  für  ihn  günstigen  Entscheides  wirken  zu  lassen, 
schrieb  er  an  einen  befreundeten  Priester  \  sein  Satz,  „posse  hominem 
sine  peccato  esse  et  dei  mandata  facile^  custodire,  si  velit",  sei  als 
orthodox  anerkannt  worden.  Gleichzeitig  kam  sein  Werk  de  natura 
ans  Tageslicht,  und  dazu  edirce  er  vier  Bücher  de  libero  arbitrio-'^, 
welche  deutlicher  als  die  früheren  seinen  Standpunkt  enthüllten,  in- 
dessen doch  auch  mit  Vorsicht  geschrieben  sind  *. 

Allein  in  Nordafrika  ^  beruhigte  man  sich  nicht  bei  dem  Vorge- 
fallenen. Das  Ansehen  des  Abendlandes  und  die  Orthodoxie  waren  in 
Gefahr.  Im  Jahr  416  tagte  eine  karthaginiensische  und  eine  milevita- 
nische  Synode  (auf  letzterer  auch  Augustin).  Beide  wandten  sich  an 
Innocenz  von  Rom,  an  den  Calestius  schon  längst  appellirt  hatte.  Bald 
nach  den  Schreiben  dieser  beiden  Synoden  (Aug.  epp.  175.  176)  er- 
hielt der  Papst  noch  ein  drittes  von  fünf  afrikanischen  Bischöfen,  unter 
ihnen  Augustin  (ep.  177)^.  Man  fürchtete  augenscheinlich,  Pelagius 
könne  in  Rom  einflussreiche  Freunde  haben  '.  Die  Schreiben  bezogen 
sich  auf  die  vor  fünf  Jahren  geschehene  Verurtheilung  des  Calestius, 
weisen  nach,  dass  die  biblische  Gnadenlehre  und  die  Lehre  von  der 
Taufe  in  Gefahr  sei,  und  verlangen,  wie  auch  immer  Pelagius  sich  aus- 


Dieser,  immer  bestrebt,  Frieden  zu  halten,  hatte  sich  selbst  nach  der  Synode  mit 
einem  eigenen  Bericht  an  Augustin  gewandt  (I.e.  57  sq.),  um  ihn  günstig  zu  stimmen. 
Allein  Augustin  gab  mit  Recht  dem  anderen  Referat  den  Vorzug,  da  Pelagius  in 
seiner  Darstellung  jenes  „anathematizo"  weggelassen  hatte.  Auch  in  der  Schrift  de 
pecc.  orig.  zeigt  Augustin  aus  den  ihm  bekannt  gewordenen  Werken  des  Pelagius, 
dass  derselbe  zu  Diospolis  sich  herausgeredet  habe  und  wirklich  so  denke  wie 
Calestius. —  Man  kann  zur  Entschuldigung  des  Mannes  nur  immer  wieder  anführen, 
dass  er  praktisch  wirken  wollte  und  sich  durch  die  dogmatischen  Fragen  nach  der 
Ery)sünde  u.  s.  w.  gestört  sah. 

'  De  gestis  54  sq. 

^  In  Diospolis  war  von  „facilc"  nicht  die  Rede. 

^  Gegen  dieses  Buch  richten  sich  Augustin's  Tractale  de  gratia  Christi  et  de 
peccato  originali. 

■*  De  pecc.  orig.  20:  „Denicpie  quomodo  respondeat  advertite  et  videte  latel)ras 
ambiguitatis  falsitati  praeparare  refugia,  oflundendo  caliginem  veritati,  ita  ut  etiam 
nos  cum  primum  ea  legimus,  recta  vcl  correcta  proj^emodum  gauderemus.  Sed 
latiores  disputationcs  eius  in  libris,  ubi  se  quantumlibet  operiat,  plerumque  aperire 
corripellitur,  fecerunt  nobis  et  ista  suspecta,  ut  adtentius  intuentes  inveniremus 
ambigua." 

^  OrosiuH  hatte  dort  die  Kenntniss  der  Vorgänge  vermittelt. 

"  Dem  IJriof  war  TN^Iagius'  »Schrift  de  natiuii  und  Augustin's  Gegenschrift 
beigelegt, 

^Ep.  177,2. 

11''^ 


lf)4        l^if^  weltßfescliiohtliclie  Stelluupr  Au^ufltin's  als  Loliror  der  Kirche. 

sprecheii  möge,  dass  diejonigen  verdammt  würden,  welche  lehrten,  der 
Mensch  könne  kraft  seiner  Natur  die  Sünde  überwinden  und  die  Gebote 
(xottes  halten,  und  die  Taufe  befreie  nicht  die  Kinder  von  einem  sün- 
digen Zustand ;  den  Feinden  der  Gnade  Gottes  sei  zu  wehren ;  nicht 
um  die  Ausschliessung  des  (.^älestius  und  Pelagius  sei  es  ihnen  zu  thun, 
sondern  um  die  Bekämpfung  einer  gefährlichen  Häresie  ^ 

Vielleicht  noch  niemals  hatte  der  Papst  von  nordafrikanischen 
Synoden  Zuschriften  erhalten,  welche  die  Bedeutung  des  römischen 
Stuhls  so  stark  hervorhoben.  Innocentius  suchte  das  Eisen  zu  schmieden, 
so  lange  es  heiss  war.  Er  hat  in  seinen  vier  Antwortsschreiben  (Aug. 
epp.  181  — 184  — Innoc.  epp.  30 — 33)  zunächst  den  Afrikanern  zu  Ge- 
müthe  geführt,  dass  sie  nach  der  alten  Regel  gehandelt  haben,  „dass 
man,  was  immer  auch  in  den  entlegensten  und  entferntesten  Provinzen 
verhandelt  würde,  nicht  früher  endgiltig  entscheiden  dürfe,  als  bis  es 
zur  Kenntniss  des  römischen  Stuhls  gelangt  sei,  damit  jedes  gerechte 
ürtheil  durch  sein  Ansehen  bekräftigt  w^erde" ;  denn  die  Wahrheit 
fliesse  von  Rom  aus  und  vertheile  sich  von  dort  in  kleinen  Bächen  in 
die  übrigen  Kirchen.  Dann  belobt  der  Papst  den  Eifer  gegen  die  Trr- 
lehrer,  erklärt  es  für  Frevel,  die  Nothwendigkeit  der  göttlichen  Gnade 
zu  leugnen  oder  den  Kindern  ohne  die  Taufe  das  ewige  Leben  zu  ver- 
heissen;  Aver  anders  denke,  sei  aus  der  Kirche  auszuschliessen,  falls  er 
nicht  genügend  Busse  thue.  „Desshalb  (ep.  31,  6)  erklären  wir  kraft 
unseres  apostolischen  Ansehens,  dass  Pelagius  und  Cälestius  von  der 
kirchlichen  Gemeinschaft  ausgeschlossen  werden,  bis  sie  sich  von  den 
Stricken  des  Teufels  befreien"  ;  thun  sie  das,  so  soll  ihnen  die  "Wieder- 
aufnahme nicht  verweigert  werden.  Etwaige  Anhänger  des  Pelagius  in 
Rom  würden  nach  dieser  Yerurtheilung  es  nicht  wagen,  für  ihn  einzu- 
treten *,  übrigens  sei  die  Freisprechung  des  Mannes  im  Orient  unsicher; 
ihm,  dem  Papst,  sei  nichts  unzweifelhaft  Authentisches  vorgelegt  wor- 
den, auch  gehe  aus  den  Acten,  wenn  sie  echt  sind,  hervor,  dass  Pela- 
gius sich  herausgeredet  habe;  fühlte  er  sich  unschuldig,  so  wairde  er 
selbst  nach  Rom  geeilt  sein,  damit  er  von  uns  losgesprochen  werden 
könne ;  herbeicitiren  werde  er  ihn  aber  nicht ;  die,  bei  welchen  er  weile, 
können  ihn  noch  einmal  verhören ;  widerruft  er,  so  möge  man  ihn  nicht 


*  Ep.  177,  3  :  „Non  agitur  de  uno  Pelagio,  qui  iam  forte  correctus  est."  Die 
Rücksicht  auf  ihn  ist  sehr  bemerkenswerth  5  sie  erklärt  sich  aus  seinem  Ansehen  und 
seiner  Reclitfertigung  in  Diospolis.  Der  von  Augustin  verfasste,  nachgesandte  Brief 
der  fünf  Bischöfe  soll  augenscheinlich  dem  Papst,  den  man  fiir  minus  informatus 
hielt,  eine  gründliche  Belehrung  über  die  Wichtigkeit  der  Frage  ertheilou.  Dennoch 
heisst  es  am  Schluss  (c.  19):  „Non  rivulum  nostrum  tuo  largo  fonti  augendo 
refundimus." 


Der  pelagianische  Streit.  •  165 

verdammen ;  in  dem  Buche  de  natura  stecke  viel  Gotteslästerliches, 
aber  noch  mehr  Ueberflüssiges ;  „nam  de  naturae  possibilitate,  de  hbero 
arbitrio  et  de  omni  dei  gratia  et  quotidiana  gratia  cui  non  sit  recte 
sentienti  uberrimum  disputare  ?"  (ep.  183,  2 — 5).  Wer  zwischen  den 
Zeilen  zu  lesen  versteht,  sieht  leicht,  dass  der  Papst  sich  mehr  als  eine 
Hinterthüre  offen  gehalten  und  für  den  Streit  kein  rechtes  Interesse 
gehabt  hat  ^ 

Jetzt  schickte  Pelagius  sein  ausgezeichnet  abgefasstes  Glaubens- 
bekenntnisse zusammen  mit  einem  ausführlichen  Rechtfertigungsschrei- 
ben ^  nach  Rom.  Die  Anklage,  er  verweigere  den  Kindern  die  Taufe 
oder  spreche  ihnen  das  Himmelreich  ohne  die  Taufe  zu,  und  er  lehre, 
die  Menschen  könnten  die  Gebote  Gottes  leicht  erfüllen,  erklärt  er  für 
Verleumdung  seiner  Feinde.  Wie  schon  zu  Diospolis,  deckte  er  sich 
theils  durch  Mentalreservationen,  theils  durch  Abschwächungen  gegen 
die  gröbsten,  freilich  nicht  unberechtigten  Vorwürfe;  aber  man  kann 
nicht  sagen,  dass  er  seinem  Hauptgedanken  untreu  geworden  sei ;  er  er- 
klärte, alle  Menschen  haben  die  Kraft  des  guten  AVillens  von  Gott  er- 
halten, aber  nur  bei  den  Christen  wirke  das  göttliche  adiutorium ;  zu 
behaupten,  Gott  habe  dem  Menschen  Unmögliches  geboten,  sei  Blas- 
phemie ;  er  nehme  seinen  Standort  zwischen  Augustin  und  Jovinian. 
Dieser  Brief  kam  nicht  mehr  in  die  Hände  des  Innocenz.  Er  war  ge- 
storben. So  empfing  ihn  sein  Nachfolger  Zosimus,  und  vor  diesem 
rechtfertigte  sich  auch  Cälestius,  der  persönhch  nach  Rom  gekommen 
war  und  einen  libellus  fidei  übergeben  hatte,  der  an  Unterwürfigkeit 
unter  den  Papst  nichts  zu  wünschen  übrig  liess.  Ueberhaupt  scheint 
jetzt,  als  es  ernst  wurde,  auch  Cälestius  zum  Rückzug  geblasen  zu  haben*; 
wenigstens  milderte  er  seine  Sätze  und  hütete  sich,  gegen  die  aus  der 
kirchlichen  Praxis  abzuleitende  Theorie  von  dem  sündentilgenden  Werth 
der  Kindertaufe  zu  Verstössen''.    Zosimus  sah  nach  diesen  gleichlauten- 

*  Die  Briefe  sind  bisher  nicht  so  beurtheilt  worden,  vielmehr  hat  man  Zosimus 
dem  Innocentius  einfach  entgegengestellt. 

^  Hahn  §  133.  Hier  dieWorte:  „liberum  sie  coiifitenuir  arbitrium,  ut  dicamus 
nos  indigerc  dei  scmper  auxilio"  (aber  worin  besteht  dies  auxilium  V)  und  „baptisma 
unum  tenemus,  quod  iisdam  sacramciiti  verbis  in  infantibus,  quibus  etiam  in  maiori- 
bus,  asserimus  esse  celebrandum." 

^  Bruchstücke  bei  Aug.,  de  gratia  Christi  et  de  pecc.  orig. 

^  Fragmente  des  libellus  bei  Aug.,  de  pecc.  orig.  5  sq. 

•'' L.  c. :  „Infantes  debere  Ijaptizari  in  remissionem  peccatorum  secundum 
regulam  universalis  ecclesiae  et  secundum  evangelii  sententiam  confitemur,  quia 
dominus  statuit,  regnum  coelorum  non  nisi  baptizatis  posse  conferri;  quod,  quia 
vires  naturae  non  haben t,  conferri  necessc  est  per  gratiao  libertatcm.  In 
remissionem  peccatorum  ba[)tizandos  infantes  non  idcirco  diximus,  ut  j)eccatumcx 
traducc  lirmare  videamur  (bei   diesem  Tunkte  beharrte  er  also),  (piod  longo  a 


lf)0        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

den  Erklärungen  der  Freunde  nirgends  das  Dogma,  nirgends  die  kirch- 
liche Praxis  der  Taufe  gefährdet.  Auf  einer  römischen  Synode  (417) 
wurde  ( lilestius,  der  Alles  verdammen  wollte,  was  der  Papst  verdammte, 
rehabilitirt ',  ebenso  auch  Pelagius,  für  den  man  sich  vom  Orient  aus 
verwandte,  für  gerechtfertigt  erklärt ;  die  Ankläger  wurden  als  schlimme 
Leute  bezeichnet,  die  Afrikaner  getadelt,  dass  sie  vorschnell  geurtheilt; 
sie  sollten  innerhalb  zweier  Monate  ihre  Anklagen  beweisen.  In  zwei 
Briefen  "^  wurde  dies  den  afrikanischen  Bischöfen  mitgetheilt^.  Pelagius 
sei  nie  von  der  Kirche  getrennt  gewesen  ^  wenn  die  Freude  über  den 
zurückgekehrten  verlorenen  Sohn  gross  sei,  wie  viel  grösser  sei  die 
Freude  des  Glaubens,  dass  nicht  gestorben  und  verloren  sind,  über  welche 
falsche  Gerüchte  verbreitet  waren  (ep.  4,  8) ! 

In  Karthago  war  man  empört,  aber  nicht  muthlos.  Eine  Synode 
(417)  beschloss,  bei  der  Verdammung  zu  bleiben,  bis  festgestellt  sei,  dass 
beide  Irrlebrer  in  der  Gnade  nicht  nur  eine  Erleuchtung  des  Verstandes, 
sondern  die  einzige  Kraft  zum  Guten  (zur  Gerechtigkeit)  erkennen,  ohne 
welche  wir  sclilechterdings  nichts  von  wahrer  Frömmigkeit  haben,  den- 
ken, sprechen  und  bandeln  können^.  Diesen  Beschluss  theilte  man  dem 
Zosimus  mit;  zugleich  erldärte  Paulin  von  Mailand  in  einem  Schreiben 
an  den  Papst,  er  werde  nicht  nach  Rom  zur  Anklage  des  Cälestius 
kommen ;  denn  die  Sache  sei  bereits  entscliieden  ^.  Der  Papst  wurde 
durch  diesen  energischen  Widerspruch  vorsichtig.  In  seinem  Antworts- 
sclu'eiben  ^  verherrlichte  er  in  grossen  AVorten  den  Petrus  und  sein  Amt, 
änderte  aber  sein  ganzes  Verfahren,  sofern  er  jetzt  erklärte,  es  sei  ein 
Missverständniss,  wenn  die  Afrikaner  glaubten,  er  habe  dem  Cälestius  ^ 


catholico  sensu  alienum  est,  quia  peccatum  non  cum  homiue  nascitur,  ijuod  post- 
modum  exercetur  ab  homine,  quia  non  naturae  delictum,  sed  voluntatis  esse  demon- 
stratur.  Et  illud  ergo  confiteri  congruum,  ne  diversa  baptismatis  genera  facere 
videamur,  et  hoc  praemunire  necessarium  est,  ne  per  mysterii  occasionem  ad  crca- 
toris  iniuriam  malum,  antequam  fiatab  homiue,  tradi  dicatur  homiui  per  naturam." 

^  Auf  die  einzelnen  Klagepunkte  einzugehen  verweigerte  er  klüglich. 

2  Zosimi  epp.  3.  4. 

^  Diese  werden  mit  Hochmuth  zurückgewiesen.  Auch  hier  übrigens  erscheint 
die  ganze  Streitfrage  als  der  ansteckenden  Neugierde  entsprangen,  überflüssig  und 
schädlich ;  man  solle  sich  au  die  Schrift  halten.  Kein  Wunder,  dass  man  in  Rom 
zögerte,  eine  Frage  für  belangreich  zu  erklären,  bei  der  doch  die  Streitenden  in  Hin- 
sicht auf  die  hl.  Schrift,  das  Dogma  und  die  kirchliche  Praxis  einig  waren.  Den 
folgenschweren  Schritt,  darüber  hinaus  etwas  den  „Dogmen"  Gleichwichtiges  anzu- 
erkennen, hat  die  Kirche  eben  nur  zögernd  gethan. 

*  Prosper,  c.  collat.  5. 

^  Zosim.,  ep.  10. 

^  Zosim.,  ep.  15. 

'  Um  diesen  handelte  es  sich  in  erster  Linie. 


Der  pelagianische  Streit.        *  167 

in  Allem  getraut  und  bereits  eine  Entscheidung  getroffen ;  vielmehr  sei 
noch  nichts  präjudicirt,  die  Sache  liege  noch  wie  zuvor  (März  418).  Un- 
mittelbar nach  Eintreffen  dieses  Schreibens  in  Afrika  wurde  dort  ein 
grosses  Concil  (mehr  als  200  Bischöfe)  gehalten  und  der  Pelagianismus, 
ohne  Rücksprache  mit  dem  Papst,  in  8  (9)  unzweideutigen  Kanones 
verdammt  ^ ;  ja  so  ungehalten  war  man  —  auch  aus  anderen  Gründen 
—  über  ZosimuS;  dass  das  Concil  im  17.  Kanon  jede  Appellation  nach 
Eom  mit  der  Excommunication  belegte  'K  Vorher  aber  hatte  man  sich 
schon  des  Kaisers  versichert,  der  am  30.  April  418  ein  Edict  an  den 
Praefectus  Praetorio  erlassen  hatte,  das  die  neuen  Ketzer  sammt  Anhang 
aus  Rom  verwies,  Anklagen  gegen  sie  gestattete  und  mit  strengen  Stra- 
fen die  Schuldigen  bedrohte^. 

Zosimus,  der  bisher  wohl  auch  aus  Rücksicht  auf  die  starke  Partei 
des  Pelagius  in  Rom  gehandelt  hatte,[  streckte  jetzt  die  Waffen.  In 
seiner  ep.  tractoria  an  alle  Kirchen*  theilte  er  die  Excommunication  des 
Cälestius  und  Pelagius  mit,  war  nun  überzeugt,  dass  die  Lehre  von 
der  absoluten  Bedeutung  der  rechtfertigenden  Gnade  und 
von  der  Erbsünde  de  fide  sei,  und  forderte  alle  Bischöfe  auf, 
mit  ihrer  Unterschrift  ihr  Einverständniss  zu  bezeugen.  Allein  18 
Bischöfe  weigerten  sich^;  sie  appellirten  an  ein  allgemeines 
Concil  und  beriefen  sich  mit  Recht  darauf,  dass  der  Papst  selbst  früher 
eine  gründhche  Verhandlung  für  nothwendig  erachtet  habe.  In  ihrem 
Namen  schrieb  Julian  von  Eklanum  zwei  kühne  Briefe  an  den 
Papst  ^,  aber  die  einst  von  Cälestius  aufgestellten  Sätze  verwarf  auch 
er  ^.   Von  nun  an  tritt  dieser  iuvenis  confidentissimus,  für  den  Augustin, 

*  Verdammt  sei,  wer  den  Tod  aus  Naturnothwendigkeit  ableitet  und  nicht  aus 
der  Sünde,  wer  die  Erbsünde  bei  den  Kindern  leugnet  und  sich  gegen  Paulus 
(Rom.  5,  12)  auflehnt,  wer  den  ungetauften  Kindern  irgend  eine  Art  von  Seligkeit 
zuspricht,  wer  die  rechtfertigende  Gnade  Gottes  in  Christo  nur  auf  die  vergangenen 
Sünden  bezieht,  wer  die  Gnade  nur  auf  die  Erkenntniss  bezieht,  in  ihr  aber  nicht 
die  uns  nothwendige  Kraft  erkennt,  wer  in  der  Gnade  nur  ein  Erleichterungsmittel 
zum  Guten  sieht,  nicht  aber  die  unumgängliche  Voraussetzung,  wer  die  Sünden- 
bekenntnisse der  Frommen  nur  aus  der  Demuth  ableitet  und  ihre  Bitte  um  Ver- 
zeihung der  Schuld  lediglich  auf  die  Schuld  Anderer  deutet. 

'^  Die  Acten  bei  Mansi  XU  p.  810  sq. 

*  Das  Edict  bei  Aug.  Opp.  X  app.  p.  105.  Es  ist  allerdings  zweifelhaft,  ob 
die  Afrikaner  es  durchgesetzt  haben-,  vielleicht  ist  es  von  Mailand  aus  res]),  von 
italienischen  Antipelagianem  erwirkt  worden.  Man  hat  auch  zu  beweisen  gesucht, 
dass  der  Umschwung  des  Zosimus  von  dem  Edict  unabhängig  ist, 

■*  Aug.  Opp.  X  ajjp.  p.  108, 
^  C.  duas  epp.  Pcl.  I,  3. 

"  S.  Op.  imperf.  I,  18.  Fragmente  bei  Marius. 

'  Das  in  dem  einen  Brief  enthaltene  Glaubensbekenutniss  (Hahn  §  135)  zeigt 
auch,  dass  Julian  zu  Pelagius  stehen  wollte. 


168        Die  weltgesohichtlicho  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

ein  Freund  seiner  Familie,  soviel  natürliche  Sympathie  besass  und  den 
er  trotz  seiner  Ungezogenheiten,  so  lang  es  ging,  herzlieh  und  milde  be- 
handelte ',  auf  den  Schauplatz.    Aul' Betreiben  des  neuen  Papstes  Boni- 
fatius  widerlegte  Augustin  den  einen  der  nach  Rom  gerichteten  und  in 
Italien  circulirenden  Briefe,  sowie  einen  anderen  Julian's  (an  Rufusvon 
Thessalonich  gesandt)  in  seiner  Schrift  c.  duas  epp.  Pelagianorum  (420). 
Julian,  der  seinem  Bisthum  entsagt  hatte  (resp.  entsetzt  war),  ergriff 
jetzt  seine  scharfe  und  rastlose  Feder.    Kein  Anderer  hat  dem  Augustin 
so  zugesetzt  wie  er;  er  nöthigte  ihn,  die  Consequenzen  seiner  Denkweise 
auszuführen;  er  deckte  unerbittlich  die  Widersprüche  bei  Augustin  auf 
und  zeigte,  wie  haltlos  sich  die  Lehre  des  grossen  Mannes  darstelle, 
wenn  sie  völlig  entwickelt  werde;  er  zeigte  die  Reste  einer  manichäischen 
Denkart  bei  Augustin ;  vergeblich  suchte  sie  dieser  abzuschütteln.   Er 
konnte  wohl  darthun,  dass  er  sie  nicht  wolle;  aber  er  konnte  nicht 
zeigen,  dass  er  sie  nicht  habe.    Auf  den  mächtigen  Comes  Yalerius 
in  Rom  hatte  der  Vorwurf  Julian' s,  Augustin' s  Lehre  entheilige  die 
Ehe,  Eindruck  gemacht.    Dieser  suchte  in  seiner  Schrift  de  nuptiis  et 
concupiscentia  lib.  I  den  Vorwurf  zu  entkräften;  allein  Julian  schrieb 
nun  ein  vierbändiges  Werk  gegen  jenen  Tractat.    Auf  Grund  von  Aus- 
zügen antwortete  Augustin  (de  nupt.  et  concup.  1.  II).   Als  er  jenes 
Werk  selbst  erhielt,  ersetzte  er  die  vorläufige  Antwort  durch  ein  neues 
Werk :  Libri  sex  c.  Julianum  haeresis  Pelagianae  defensorem.    Julian 
antwortete  auf  das  „Vorläufige"  mit  einem  achtbändigen  Werke  (bereits 
inCilicien  geschrieben).    An  der  Gegenschrift,  Opus  imperf.  c.  JuHanum 
(1.  sex),  hat  Augustin  bis  zu  seinem  Tode  gearbeitet.   Da  er  fast  Satz 
für  Satz  dem  Julian  folgt,  so  sind  wdr  über  dessen  Thesen  aufs  genaueste 
unterrichtet".     In  den  letzten  Jahren   arbeitete  Augustin  noch  vier 
Schriften  aus,  die  nicht  gegen  die  Pelagianer  direct  gerichtet  sind,  son- 
dern auf  Bedenken  gegen  die  eigene  Lehre  eingehen,  die  von  katholischer, 

^  Zur  Entscliuldigimg  der  heftigen  und  masslosen  Polemik  Juliau's  muss  man 
anführen,  dass  er,  wie  er  selbst  \vusste  (Op.  imp.  I,  1.2:  „magnis  impedimentis 
angoribus,  quos  intuenti  mihi  hac  tempestate  ecclesiarum  statum  partim  indignatio 
ingerit  partim  miseratio"  —  „labentis  mundi  odia  promeremur"  —  „rebus  in  peiorem 
partem  properantibus ,  quod  mundi  fini  suo  incumbentis  indicium  est"  1.  c.  I,  12), 
eine  bereits  hoffnungslose  Sache  vertrat.  Jedenfalls  erklärt  sich  seine  Heftigkeit 
nicht  aus  innerer  Unsicherheit;  denn  gewiss  hat  es  wenige  Theologen  gegeben,  die 
so  felsenfest  davon  überzeugt  waren,  auf  dem  richtigen  Wege  zu  sein,  wie  er.  Die 
religiösen  Aufklärer  haben  übrigens  in  der  Regel  ihre  Gegner  durch  die  Stärke  ihrer 
Ueberzeugung  übertroßen.  Sie  haben  es  auch  leichter ;  denn  die  Gewisshoit  der 
Religion  und  Sittlichkeit  ist  ihnen  in  der  Selbstgcwissheit  gegpben. 

2  Vergegenwärtigt  man  sich  die  ungemeinen  Eigenschaften  beider  so  hervor- 
ragender Gegner,  so  wünscht  man,  die  Natur  hätte  aus  ihnen  einen  Mann  gemacht. 
Welch'  ein  Mann  wäre  das  geworden! 


Der  pelagianische  Streit.        •  lf>9 

resp.  semipelagianischer  *  Seite  erhoben  waren  (de  gratia  et  libero  ar- 
bitrio  —  de  correptione  et  gratia :  an  die  Mönche  von  Hadrumet ;  de 
praedestinatione  sanctorum  und  de  dono  perseverantiae :  anProsperund 
Hilarius  gegenüber  den  galhschen  Mönchen).  Hier  ist  die  Lehre  von 
der  prädestinatianischen  Gnade  am  strengsten  entwickelt. 

Zu  einer  Secte  oder  schismatischen  Partei  haben  es  die  Pelagianer 
nirgends  gebracht-.  Man  unterdrückte  sie  in  den  Jahren  nach  418, 
ohne  sonderhche  Kraft  anwenden  zu  müssen.  Der  Kaiser  hat  noch  ein- 
mal ein  scharfes  Edict  erlassen.  Noch  immer  handelte  es  sich  in  erster 
Linie  um  Oälestius,  der  sich  bisher  der  Strafe  entzogen  hatte.  Man 
verbot  ihm  den  Aufenthalt  in  Italien  und  belegte  sogar  jeden  mit  Exil, 
der  ihm  Zuflucht  gewähren  würde.  Pelagius  soll  in  Antiochien  von  einer 
Synode  verurtheilt  worden  sein.  Doch  ist  diese  Nachricht  des  Marius 
unsicher.  Er  verschwindet  aus  der  Geschichte^.  Julian  und  andere 
Pelagianer  begaben  sich  nach  Cilicien  zu  Theodor.  Dort  hatten  sie  zu- 
nächst Ruhe ;  denn  dort  verstand  man  den  Streit  nicht  oder  stellte  sich 
zum  Augustinismus  feindlich.  Der  unermüdhche  Cälestius  konnte  im 
Jahr  424  noch  einmal  in  Rom  vom  Bischof  Cälestin  eine  Untersuchung 
fordern,  begab  sich  aber  dann  unverrichteter  Sache  nach  Konstantinopel, 
wo,  da  auch  Julian  und  andere  Freunde  eintrafen,  nun  das  Hauptquar- 
tier aufgeschlagen  wurde*.  Der  Patriarch'Nestorius  reichte  ihnen  die 
Hand,  was  für  beide  Tlieile  verhängnissvoll  wurde;  denn  Nestorius  zog 
sich  damit  die  Unzufriedenheit  des  Papstes  zu,  die  Pelagianer  geriethen 
unter  die  Gegner  der  herrschenden  Partei  im  Orient  (Cyrill's).  Marius 
Mercator  agitirte  mit  Glück  gegen  sie  beim  Kaiser,  und  in  der  Komödie 
zu  Ephesus  that  Cyrill  den  römischen  Gesandten  den  Gefallen,  die  Lehre 
des  Cälestius  von  dem  Concil  verdammen  zu  lassen,  da  ja  Rom  ihm  in  der 
Verdammung  des  Nestorius  zugestimmt  hatte  ^.  So  brachte  es  der  Pela- 


*  Dieser  Name  kommt  erst  im  Mittelalter  vor.  Im  Alterthum  sprach  man 
von  „reliquiae  Pelagianoi-um". 

■^  Bis  430  hofften  sie  noch  auf  ihre  Rehabilitation  und  haben  dieselbe  in  Rom 
bei  jedem  neuen  l*apste  betrieben. 

^  Merkwürdig  ist,  dass  Julian  in  seinen  Werken  so  spricht,  als  habe  er  jetzt 
allein  die  destituta  veritas  zu  vertreten,  was  ihm  Augustin  als  grossen  Hochmuth 
auslegt  (s.  c.  ,Tul.  II,  36). 

'  (xenauer  gehe  ich  hier  auf  die  (beschichte  Julian's,  der  vorübergehend  auch 
noch  einmal  in  Rom  gewesen  ist,  nicht  ein-,  s.  den  Artikel  in  der  Encycl.  of  Christ. 
Hiogi'. 

°  Julian'sNamc  wurde  ausdrücklich  genannt;  vielleicht  war  er  in  Ephesus  (bei 
Nestorius)  anwesend.  Dass  er  schon  früher  in  seiner  Abwesenheit  (unter  Beistim- 
rnung  Theodor's)  auf  einer  ciiicischen  Synode  verurtheilt  worden  sei,  wird  von 
Marius  behauptet. 


170        Die  welt^escliiohtliche  Stelluiift-  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

giaiiisiuus  zu  einer  Art  von  ökumenischem  Anatliem  wider  sich,  während 
es  im  Orient  vielleicht  nicht  einmal  ein  Dutzend  (yhribten  gab,  die  ihn 
wirkhch  niissbilhgten  ',  und  während  auch  der  Occident  sich  noch  keines- 
wegs darüber  klar  geworden  war,  zu  welchen  Consequenzen  ihn  die 
Verdammung  der  Pelagianer  führen  musste. 

11.  Dogmen  geschichtlich  betrachtet,  ist  das  „System"  des 
Pelagianismus,  d.  h.  des  Julian  von  Eklaimm,  ziemlich  gleichgiltig ;  denn 
es  wurde  erst  vorgetragen,  nachdem  die  ganze  Frage  schon  entschieden 
war,  und  ein  Theologe  hat  es  vorgetragen,  der  sich  durch  den  Verzicht 
auf  sein  kirchliches  Amt  von  vielen  Kücksichten  selbst  entbunden  hatte. 
Dogmen  geschichtlich  betrachtet,  endigte  der  Streit  lediglich  da- 
mit, dass  die  Lehren  verworfen  wurden,  1)  dass  die  Gnade  Gottes  (in 
Christo)  nicht  jedem  Menschen  (vor  und  nach  der  Taufe)  zur  Seligkeit 
unumgänglich  nöthig  sei,  und  2)  dass  die  Taufe  der  Neugeborenen  nicht 
in  vollem  Sinn  eine  Taufe  in  remissionem  peccatorum  sei.  Die  Gegen- 
lehren waren  die  neuen  „Dogmen".  Allein  —  da  jene  beiden 
Lehren  und  die  pelagianischen  Hauptthesen  eine  Fülle  von  Conse- 
quenzen einschlössen,  und  da  diese  Consequenzen  tlieils  schon  damals 
hervortraten,  tlieils  in  der  Folgezeit  bis  zur  Reformation  und  weiterhin 
die  Kirche  beschäftigt  haben,  so  ist  es  angezeigt,  die  Grundzüge  des 
pelagianischen  Systems  und  der  augustinischen  Gegenlehre  nachzu- 
Aveisen'^.  Hierbei  hat  man  sich  zu  erinnern,  dass  Pelagius  von  einem 
System  nichts  wissen  wollte.  „De  fide"  war  ihm  lediglich  das  orthodoxe 
Dogma  und  die  Fähigkeit  des  Menschen,  das  Gute  zu  thun.  Alles  Uebrige 
waren  ihm  offene  Fragen,  die  man  bejahen  oder  verneinen  konnte,  so 
auch  die  Erbsünde,  die  er  verneinte.  Worauf  es  ihm  ankam,  war  ledig- 
Hch,  der  faulen  weltförmigen  Christenheit  praktisches  Christenthum,  d.  h. 
Mönchthum,  zu  predigen  und  ihr  den  Verwand  zu  benehmen,  man  könne 
die  Gebote  Gottes  nicht  erfüllen.  Cälestius,  darin  mit  seinem  Lehrer 
einig,  ging  der  Erbsünde  schärfer  zu  Leibe  und  bekämpfte  theologische 
Lehren,  die  er  für  schädlich  hielt,  durch  Definitionen  und  Syllogismen. 
Allein  erst  Julian  hat  die  Denkweise  systematisch  entwickelt  und  sie  zu 
einem  stoisch- christlichen  System  erhoben^.  Dennoch  hat  er  im  Grunde 
nichts  "Wesentliches  zu  dem  hinzugefügt,  was  sich   verstreut  in  den 


*  Der  Bischof  Atticus  von  Konstantinopel  war  allerdings  ein  entschiedener 
Gegner  der  Pelagianer  gewesen;  man  kennt  aber  seine  Motive  nicht. 

^  Dies  ist  auch  desshalb  nothwendig,  weil  die  dem  Pelagianismus  zu  Grunde 
liegende  Denkweise  niemals  wieder  —  bis  zur  Zeit  des  Socinianismus  —  so  rein 
hervorgetreten  ist,  wie  in  Julian. 

^  Sehr  hübsch  Augustin  (c.  Jul.  VI,  3b):  „Quae  tu  si  non  didicisses,  Pelagiani 
dogmatis  machina  sine  architecto  necessario  remansisset." 


Die  pelagianische  Lehre.     •  171 

Schriften  des  Pelagius  und  Cälestius  findet.  Nur  hat  er  Allem  eine 
"Wendung  zum  Naturalistischen  gegeben,  d.  h.  die  mönchische  Ab- 
zweckung  der  Denkweise  aufgehoben.  Allein  auch  bei  Pelagius  liegen 
Ausführungen  vor,  die  dem  mönchisch-asketischen  Gedanken  total  wider- 
sprechen. In  dem  Brief  an  die  Demetrias  zeigt  er,  dass  es  nicht  sowohl 
auf  Fasten,  Enthaltsamkeit  und  Gebet  ankomme  —  man  solle  sie  nicht 
übertreiben,  wie  oft  gerade  die  Anfänger  thun;  man  müsse  in  allen 
Dingen,  also  auch  in  guten  AYerken,  Mass  halten  — ,  vielmehr  sei  die 
Hauptsache,  die  Sitten  in  sich  zu  ändern  und  sich  in  jeglicher  Tugend 
zu  üben;  so  solle  Niemand  meinen,  durch  das  Gelübde  der  Keuschheit 
sich  von  der  Uebung  der  inneren  Tugenden  und  von  dem  Kampfe  gegen 
Zorn,  Eitelkeit,  Hochmuth  u.  s.  w.  dispensiren  zu  können.  Auf  wirk- 
liche Charakterbildung  im  Guten  kam  es  ihm  an.  Diesem  Ge- 
danken, der  an  einigen  Stellen  in  ergreifender  Weise  ausgeprägt  ist,  er- 
scheint das  Mönchische  untergeordnet.  Die  antike  Forderung  des  weisen 
Masshaltens  hat  bei  Pelagius  kein  naturalistisches  Gepräge.  Indem  wir 
die  Denkweise  der  drei  Männer  einheitlich  behandeln,  hat  man  sich 
dieses  Unterschieds  zu  erinnern,  sowie  des  anderen,  dass  Pelagius  und 
Cälestius  meistens  die  schuldige  Rücksicht  auf  die  kirchliche  Praxis  ge- 
nommen und  dazu  die  Berufung  auf  die  alten  Philosophen  fast  gänzlich  ver- 
mieden haben  ^   Bei  Allen  wirkte  die  muthige  Zuversicht  auf  die  Fähig- 


*  In  formeller  Hinsicht  (Klasen  S.  81 — 116),  d.  h.  in  der  Lehre  von  der 
Schrift,  Tradition,  Autorität,  finden  sich  bei  Pelagius  und  Cälestius  keine  Neue- 
rungen. Implicite  liegt  im  Pelagianismus  freilich  die  Abweisung  jeder  Lehre,  quae 
ratione  defendi  non  potest,  und  demgemäss  hat  er  die  Schrift  ausgelegt  (s.  die 
ProVien  der  Exegese  bei  Klasen,  a.  a.  0.).  In  der  Schrift  de  natura  hat  Pelagius 
sich  für  seine  Lehrweise  auf  die  Väter  berufen,  wie  Augustin  für  die  seinige  (be- 
sonders ist  Chrysostomus  gerne  citirt  worden,  aber  auch  Hieronymus,  Ambrosius, 
Lactantius).  Bei  JuHan  dagegen  ist  die  ratio  ausdrücklich  zum  Princip  erhoben : 
„Quod  ratio  arguit,  non  potest  auctoritas  vindicare"  (Op.  irnj).  II,  16).  Mit  Ori- 
genes  (in  scharfem  Gegensatz  zu  Augustin)  befolgt  er  den  Kanon,  nicht  ist  etwas 
gut,  weil  Gott  es  will  und  es  in  der  Schrift  steht,  sondern  was  gut  ist,  stellt  die  ratio 
fest :  „Haereat  hoc  maxime  prudentis  animo  lectoris,  omuibus  scripturis  sacris  solum 
illud,  quod  iu  honorem  dei  catholici  sapiunt,  contineri,  sicut  frc(iueutium  senten- 
tiarum  luce  illustratur,  et  siculn  durior  elocutio  moverit  quaestionem,  certum  qui- 
dem  esse,  non  ibi  id  quod  iniustum  est  loci  illius  auctorem  sapuisse-,  secundum  id 
autem  debere  intclligi,  quod  et  ratio  perspicua  et  aliorum  locorum,  in  quibus 
non  est  ambiguitas,  splendor  aperuerit"  (1.  c.  II,  22 ;  cf.  I,  4).  „Sanctas  quidem 
apostoli  esse  paginas  confitemur,  non  ob  ahud,  uisi  quia  ratio ni,  pietati,  fidei  con- 
grucntes  erudiunt  nos"  (II,  144).  Immer  wieder  betont  Julian,  dass  das,  was  „un- 
gerecht" und  „gerecht"  sei,  der  Massstab  sein  müsse,  den  man  an  alle  UcberliefcT 
rungcn  über  Gott  anzulegen  habe.  Sind  mm  schon  die  Schriftauslegungen  des 
Pelagius  und  Cälestius  „flach",  so  werden  die.Julian's  zum  Theil  ganz  profan.  Dass 
sich  die  Stammeltem  nach  dem  Sündenfall  bekleideten,  geschah,  weil  sie  froren  und 


172        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

keit  zum  Guten  mit  dem  Bedürfnis^  nach  Klarheit  im  Denken  über 
rehgiös-sitthche  Fragen  zusammen. 


weil  sie  nun  erst  die  Bekleidungskunst  lernten  (c.  Jul.  IV,  79  sq.).  Aber  am  deut- 
lichsten tritt  der  vernünftige  Standpunkt,  der  historisch-kritische  Rationalismus,  in 
Julian's  Stellung  zur  Tradition  hervor.  Von  ihm  stammt  das  berühmte  Wort,  man 
muss  die  Stimmen  wägen  und  nicht  zählen  (c.  Julian.  II,  35:  „non  numerandas,  sed 
ponderandas  esse  sententias;  ad  aliquid  inveniendum  multitudinem  nihil  prodessc 
caecorum").  Er  spricht  das  kühne  Wort,  man  müsse  in  dogmatischen  Fragen  den 
strepitus  turbarum  de  omni  ordinc  conversationis  hominum  bei  Seite  schieben,  alle 
de  plebeia  iaece  scllularii,  militcs,  scholastici  auditoriales,  tabernarii,  cetarii,  coqui, 
lanii,  adolescentes  ex  monachis  dissoluti,  ferner  die  turba  qualiumcumque  cleri- 
corura;  „honorandam  esse  paucitatem,  quam  ratio,  eruditio  libertasque 
Sublimat."  Zur  Begründung  der  Ablehnung  der  Laien  und  ungebildeten  Geistlichen 
führt  er  an:  „(|uia  non  possunt  secundum  categorias  Aristotelis  de 
dogmatibus  iudicare."  Hier  (c.  Julian.  II,  36.  37)  tritt  das  Hauptinteresse  Ju- 
lian's  deutlich  hervor.  Ohne  Aristoteles  keine  Theologie;  alles  Andere  ist 
Bauerntheologie;  wir  aber  haben  die  Gebildeten  auf  unserer  Seite  (I.e. 
V,  1.  Das  ist  eine  durch  den  häufigen  Gebrauch  bereits  beschmutzte  und  abgegriffene 
Behauptung  aller  Häretiker,  meint  Augustin).  An  Aristoteles  und  Zeno  hielt  sich 
Julian;  ihre  Ethik  kannte  er  genau  und  dachte  über  die  Unterschiede  nach  (c.  Jul. 
II,  34;  VI,  56;  VI,  64:  „de  scholis  Peripateticorum  sive  Stoicorum";  Op.  impf.  I, 
35.36);  nach  Inhalt  und  Methode  ist  seine  Lehre  der  Lehre  jener  Philosophen 
blutsverw^andt  (Augustin  deutet  darauf  sehr  oft  hin).  Ausserdem  citirt  er  (c.  Jul. 
IV,  75)  Thaies,  Anaximander,  Anaximenes,  Anaxagoras,  Xenophanes,  Parmenides, 
Leukipp  US,  Demokritus,  Empedokles,  Heraklitus,  Melissus,  Plato,  Pythagoras  („quis 
non  ipso  nominum  sectarumque  conglobatarum  strepituterretur?"  bemerkt  Augustin). 
Von  diesen  Philosophen  (neben  ihnen  werden  Sallust  und  Cicero  citirt)  sagt  Julian 
(1.  c),  sie  seien  zwar  Götzendiener  gewesen  („licet  in  scholis  aliud  disserentes"), 
hätten  aber  doch  unter  vielem  Irrthümlichen  „de  naturalibus  aliquas  veritatis 
partes"  beleckt,  und  diese  seien  dem  Dogma  von  der  Erbsünde  mit  Fug  vorzuziehen. 
Mit  Recht  spricht  Augustin  von  „nebulae  de  Aristotelicis  categoriis" ;  allein  das 
Stoische  waltet  doch  bei  Julian  vor.  Die  ganze  Auffassung  von  der  ratio  und  der 
Nominalismus  ist  stoisch.  Auch  die  Definitioneuwuth  ist  stoisch-ciceronianisch. 
Ohne  Definition  keine  Erkenutniss  (Op.  imp.  II,  30  gegen  Aug-ustin  gesagt:  „Ad 
quid  ergo  persuadendum  aut  scripturas  releges  aut  conscios  nominabis,  qui  adhuc 
quod  sentis  nonpotes  definire").  Aber  diese  Definitionen  gehen  nie,  wie  das 
ja  auch  in  der  Stoa  üblich  war,  von  der  wirklichen,  vollständig  beobachteten  Sache 
aus,  sondern  schweben  über  derselben.  Doch  hat  Julian  die  Berufimg  auf  die  Väter 
keineswegs  ganz  verschmäht.  Auch  hier  erwies  er  sich  als  der  verständige  Manu. 
Nur  von  einer  formellen  Autorität  derselben  wollte  er  nichts  wessen.  Sein  Stand- 
punkt ist  am  deutlichsten  c.  Jul.  I,  29  ausgedrückt:  „Cum  igitur  liquido  clareat  hanc 
sanam  et  veram  esse  sententiam,  quam  primo  loco  ratio,  deinde  scripturarum 
munivit  auctoritas  et  quam  sanctorum  virorum  semper  celebravit  eruditio, 
qui  tamen  veritati  auctoritatem  non  suo  tribuere  consensu,  sed  testi- 
monium  et  gloriam  de  eins  suscepere  consortio,  nuUum  prudentem  conturbet  con- 
spiratio  perditorum."  Hier  erkennt  man  die  absteigende  Autoritätenreihe,  die  doch 
nur  soweit  gilt,  als  die  Zeugen  rationell  sind.  Die  „Väter"  waren  ihm  im  Grunde 
nichts,  und  klug  wusste  er  Augustin's  nothgedruugene  Zugeständnisse  ])etrofl's  der 


Die  pelagianische  Lehre.     •  173 

1.  Gottes  oberste  Eigenschaften  sind,  dass  er  gut  und  gerecht  ist, 
und  zwar  ist  die  Gerechtigkeit  die  Eigenschaft,  ohne  die  Gott  überhaupt 
nicht  gedacht  werden  kann,  ja  man  kann  auch  sagen,  weil  es  Gerechtig- 
keit giebt,  so  giebt  es  einen  Gott  ^  „  Justitia  est,  ut  ab  eruditis  defmiri 
solet  (s.  Aristoteles)  et  ut  nos  intelligere  possumus,  virtus  (si  per  Stoicos 
liceat  alteri  alteram  praeferre)  virtutum  omnium  maxima  fungens  dili- 
genter  officio  ad  restituendum  sua  unicuique,  sine  fraude,  sine  gratia"  ^. 
Ihr  genus  ist  Gott;  ihre  species  sind  die  Verkündigung  von  Gesetzen 
und  die  Executive  *,  ihre  difFerentia  ist,  dass  sie  sich  nach  den  Zeitum- 
ständen richtet ;  ihr  modus  ist,  dass  sie  von  Niemandem  über  seine 
Kräfte  hinaus  etwas  fordert,  und  dass  sie  die  Barmherzigkeit  nicht  aus- 
schliesst ;  ihre  qualitas  ist,  dass  sie  frommen  Seelen  süss  ist. 

2.  Aus  der  Güte  und  Gerechtigkeit  Gottes  folgt,  dass  Alles  gut 
ist,  was  er  schafft,  und  zwar  nicht  nur  am  Anfang  gut  war,  sondern 
was  Gott  jetzt  schafft,  ist  ebenfalls  gut  ^.  Also  —  gut  ist  die  Creatur, 
gut  die  Ehe,  gut  das  Gesetz,  gut  der  freie  Wille,  gut  die  Heiligen  *. 

3.  Die  Natur,  die  gut  geschaffen  ist,  ist  nicht  conver- 
tibel,  „quia  naturalia  ab  initio  substantiae  usque  ad  terminum  illius 
perseverant"  ^.    „Naturalia  per   accidens  non  convertuntur'-  ^.     Also 


Autorität  der  Väter  auszul)euteii  (Op.  imp.  IV,  112):  „Sed  bene  quod  nos  onere 
talium  personarum  prior  levasti.  Nam  in  libro  ad  Timasium  cum  s.  Pelagius  vene- 
rabilium  virorum  tarn  Ambrosii  quam  Cypriani  recordatus  fuisset,  qui  liberum 
arbitrium  in  libris  suis  commendaverant,  respondisti  nulla  te  gravari  auctoritate 
talium,  ita  ut  diceres  eos  processu  vitae  melioris,  si  quid  male  senserant,  expiasse." 
y,Numquid"  —  ruft  Julian  1.  c.  IV,  110  aus  —  ^legi  dei  aut  operi  dei  scripta  dis- 
putatorum  praeiudicant!"  Julian  hatte  das  lebhafteste  Gefühl,  dass  er  den  fast  ganz 
von  dem  „dummen  und  gottlosen  Dogma"  ergriffenen  Occident  zur  Besinnung  zu 
rufen  habe;  nur  im  Orient  sah  er  noch  Heil.  Der  Fels,  auf  dem  er  stand,  war  die 
ratio;  sein  beflügeltes  Werkzeug  war  das  Wort.  Er  wusste,  dass  es  ihm  bei  Gott 
zum  Ruhm  gereichen  werde,  allein  die  Sache  der  Gerechtigkeit  führen  zu  müssen. 
Als  der  entschlossenste  Aufklärer,  den  die  alte  Kirche  erlebt  hat,  stand  er  dem 
grösftten  religiösen  Charakter  dieser  Kirche  gegenüber. 

^  CälcstiuR  bei  Aug.,  de  perf.  iust.  15;  Julian  im  Op.  imperf.  I,  27 — 38  u.  oft. 
Der  Gedanke  der  Gutheit  wird  —  charakteristisch  genug  —  fallen  gelassen  odei* 
läuft  80  nebenbei  mit.  Die  Idee  der  Gerechtigkeit  als  legislative,  distributive  und  so- 
ciale Ijeherrscht  das  ganze  System.  „Lex  dei  fons  ac  magistra  iustitiae",  Op.  imp.  1, 4. 

"^  Op.  imp.  T,  35.  Hiermit  ist  das  obc^rste  Princip  für  Religion  und  Sittlichkeit 
gewonn(!n,  durch  welches  der  Mensch  als  ein  völlig  Selbständiger  Gott  als  dem 
Richter  gegenübersteht. 

»Op.  imp.  VI,  If). 

*  Aug.  c,  duas  epp.  Pelag.  III,  24:  „Hae  sunt  nel)ulae  Pelagianorum  de  laude 
creatiirae,  laude nuptianmi,lau(l(^legiH,  laude;  lilieri  arbitrii,  laude  sancttorum. IV,  1 — 2. 

^  Op.  imp.  JI,  7«. 

"  „Quod  innascitur  nsciuf  ad  finem  eius,  cui  adhaeserit,  perseverat."  L.  c.  1, 61, 


174        I^ip  weltg^eschichtliche  Stellung  Au^stin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

kann  es  keine  „peccata  naturalia"  geben;  denn  sie  könnten  nur  entstan- 
den sein,  wenn  die  Natur  schlecht  geworden  wäre. 

4.  Die  menschHche  Natur  ist  somit  unzerstörbar  gut  und  kann  nur 
accidentell  modificirt  werden.  Zu  ilirer  Ausstattung  gebort  —  und  das 
war  sehr  gut  —  der  Wille  als  li})erum  arbitiiiwn  ;  denn  „voluntas  est 
nihil  aliud  (luam  motus  animi  cogente  nullo"  '.  Dieses  liberium  arbi- 
trium,  mit  welchem  die  ratio  mitgesetzt  ist  ^,  ist  das  höchste  Gut  in  der 
Ausstattung  des  Menschen  („qui  gratiam  confirmat,  hominum  laudat 
naturam")'^.  Von  Pelagius  wissen  wir,  dass  er  in  seinen  Predigten  stets 
mit  dem  Lobe  der  herrlichen  Ausstattung  des  Menschen,  der  sich  im 
liberum  arbitrium  ^  und  der  ratio  zeigenden  Natur ,  begonnen  hat  und 
nicht  müde  geworden  ist,  unsere  conditio  voluntatis  gegenüber  der  con- 
ditio necessitatis  der  unvernünftigen  Creatur  zu  preisen,  „Die  Natur  ist 
so  gut  geschaffen,  dass  sie  keiner  Hülfe  bedarf"  ^.  „Duce  ratione"  kann 
und  soll  der  Mensch  das  Gute,  d.  h.  die  Gerechtigkeit  („ins  humanae 
societatis")*^,  thun.  Gott  will  einen  voluntarius  executor  iustitiae;  er 
will,  dass  wir  Beides  vermögen  und  Eines  thun.  Willensfreiheit  ist 
nach  Pelagius  Wahlfreiheit  zum  Guten,  nach  Julian  ledig- 
lich Wahlfreiheit.  Die  possibilitas  boni  als  naturhaftes  Ver- 
mögen ist  von  Gotf^,  die  voluntas  und  actio  ist  unsere  Sache®;  die 


^  Op.  imp.  1.  V.  Genauer  I,  78 — 82:  ,.Lü)ertas  arbitrii,  qua  a  deo  emanci- 
patus  homo  est,  in  admittendi  pecoati  et  abstinendi  a  peccato  possibilitate  con- 
sistit  ....  Posse  bonum  facere  aula  virtutis  est,  posse  malum  faeere  testimonium 
libertatis  est.  Per  hoc  igitur  suppetit  homini  habere  proprium  bonum,  per  quod  ei 
subest  posse  facere  malum.  Tota  ergo  divini  plenitudo  iudicii  tarn  iunc- 
tum  habet  negotium  cum  hac  libertate  hominum,  ut  harum  qui  unam 
a  Q-  n  o  V  e  r  i  t ,  a m  b  a  s  n  o  v e r  i  t .  . .  Sic  igitur  et  libertas  humani  custodiatur  arbitrii, 
quemadmodum  divina  aequitas  custoditur  .  .  .  Libertas  igitur  arbitrii  possibilitas  est 
vel  admittendi  vel  vitandi  peccati,  expers  cogentis  necessitatis,  quae  in  suo  utpote 
iure  habet,  utrum  surgentium  partem  sequatur,  i.  e.  vel  ardua  asperaque  virtutum 
vel  demersa  et  palustria  voluptatum." 

^  Ueber  das  Verhältniss  von  ratio  und  liberum  arbitrium  sind  diePelagianer  sehr 
schweigsam  gewesen.  Dass  hier  eine  Hauptschwierigkeit  sitzt,  haben  sie  gar  nicht 
bemerkt.  Was  sie  zu  sagen  für  nöthig  finden,  sind  ganz  kindliche  Ausführungen. 
Auch  die  obige  Definition  des  Willens  ist  gänzlich  haltlos.  Im  Grunde  treibt  die 
ratio  ebenso  zum  Schlechten  wie  zum  Guten;  wenigstens  handelt  auch  der  Schlechte 
nicht  ohne  Vernunft.  Was  aber  soll  die  iustitia,  wenn  die  einzelnen  Willensacte  immer 
ins  Leere  verlaufen  ?  Das  ursprüngliche  Gleichgewicht  bleibt  ja  immer  bestehen ! 

^  Op.  imp.  III,  188.  *  „Libertas  utriusque  partis." 

^  Ep.  ad  Demetr. 

^  Op.  imp.  I,  79.  Hier  ist  die  humanistische  Fassung  des  Guten  deutlich. 
Bei  dieser  beharrt  Julian,  soweit  er  den  Gedanken  überhaupt  verfolgt  hat. 

'  De  grat.  Christi  5 ;  de  nat.  et  gratia  vv.  11.  (Ausführungen  des  Pelagius). 

^  In  der  possibilitas  liegt  der  Freiheitsbegriff  der  Pelagianer,  und  zwar  nach 


Die  pelagianische  Lehre.  175 

possibilitas  utriiisque  ist  als  psychologisches  Vermögen  a  necessario; 
eben  darum  ist  in  ihr  eine  beständige  Veränderung  möglich  ^ 

5.  Das  Böse,  die  Sünde,  ist  voluntas  faciendi  quod  iustitia  vetat  et 
unde  liberum  est  abstinere^,  also  das,  was  man  vermeiden  kann^.  Sie 
ist  kein  Element  oder  Körper,  keine  Natur  —  sonst  wäre  Gott  der  Ur- 
heber — ,  auch  keine  natura  conversa,  sondern  stets  eine  momentane 
Selbstbestimmung  des  Willens,  die  niemals  in  die  Natur  über- 
gehen kann,  so  dass  eine  schlechte  Natur  entstünde*.  Kann 
dies  aber  nicht  geschehen,  so  kann  das  Böse  noch  viel  weniger  vererbt 
werden;  denn  das  hebt  die  Güte  und  Gerechtigkeit  Gottes,  den  Begriff 
der  Sünde  (als  das,  was  vermieden  werden  kann)  und  den  Begriff  der 
Erlösung  auf;  eine  „natürliche"  Schuld  wäre  nicht  mehr  fortzuschaffen  '\ 

6.  Pelagius  hat  die  Wirklichkeit  der  Sünde  aus  den  Nachstellungen 
des  Teufels  und  den  sinnlichen  Gelüsten  (gula  und  libido)  abgeleitet 
und  demgemäss  die  Concupiscenz  verurtheilt.  Man  muss  sie  durch 
Virginität  und  Enthaltsamkeit  überwinden.  Sie  stammt  nicht  de  sub- 
stantia  camis,  sondern  ex  operibus  carnis  (sonst  wäre  Gott  ihr  Urheber). 
Ernst  hat  Pelagius  dieses  ganze  Gebiet  beurtheilt;  aber  er  ist  anderer- 
seits gewiss,  dass  der  Leib  der  Seele  untergeordnet  und  damit  das  gott- 
gewollte Verhältniss  hergestellt  werden  könne  ^.   Allein  Juhan  empfand, 


Julian  in  der  possibilitas  utriusque  nicht  bloss  boni.  Bei  Pelagius  tritt  die  jDOssi- 
bilitas  boni  und  damit  die  Verantwortung  stärker  hervor.  Er  sagt  nicht  nur,  dass 
der  Mensch  Wahlfreiheit  habe,  sondern  auch  (ep.  ad  Demetr.)  dass  „in  animis 
nostris  naturalis  quaedam  sanctitas  est". 

*  K lasen  (8.  229 — 237)  unterscheidet  eine  dreifache  possibüitas  bei  den 
Pelagianem,  d.  h.  man  hat  in  der  That  so  viele  Unterscheidungen  nöthig,  wenn 
man  aus  den  Widersprüchen,  die  der  Begriff  verdeckt,  herauskommen  will. 

2  Op.  imp.  I,  44;  V,  28.  43;  VI,  17  u.  oft. 

"  Caelest.  bei  Aug.  de  pcrfect.  1. 

^  Neben  der  Unbestimmtheit  des  Verhältnisses  von  Vernunft  und  Freiheit, 
der  falschen  Definition  des  Willens,  der  Dunkelheit  über  den  Begriff  der  ratio, 
den  Widersprüchen  im  Begriff  der  possibilitas  ist  das  Unvermögen,  eine  concrete 
Definition  des  Bösen  zu  geben,  und  die  mythologische  Art,  in  welcher  zwischen 
Natur  und  Willen  unterschieden  wird,  besonders  charakteristisch.  Warum  sollen 
Wille  und  Natur  so  völlig  geschieden  sein,  wenn  doch  die  possil)ilitas  zur  Natur 
gehört?  Was  ist  überhaupt  die  Natur  neben  dem  Willen,  da  sie  doch  keineswegs 
nur  das  Fleisch  sein  soll? 

•''  Hier  haben  die  Pelagianer  den  meisten  Scharfsinn  aufgewendet  und  richtige 
Einwendungen  gemacht,  s.  unten.  Pelag.  bei  Aug.  de  pecc.  orig.  14  :  „ümne  bonum 
ac  malum,  quo  vel  laudabiles  vel  vitupcra])ileR  sumus,  non  nobiscum  oritur,  sed 
agitur  a  nobis :  capaces  enim  utriusque  rei,  non  pleni  nascimur,  et  ut  sine  vir- 
tutc  ita  et  sine  vitio  procreamur  atque,  ante  actionem  ])ropriae  voluntatis  id  solum 
in  homine  est,  quod  deus  condidit." 

*"' S.  die  (']).  ad  Demetr.;   de  nat.  et  grat.  fJO— 71.     Von  ernster  Erfahrung 


17f)        nie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

tlass  hier  ein  wunder  Punkt  sei.  Woher  kommen  die  desideria  carnis 
mala,  wenn  die  Substanz  gut  ist,  und  wenn  sie  docli  offenbar  häufig  nicht 
aus  dem  Willen  stammen?  An  der  Ehe,  die  ohne  die  Begattungslust 
undenkbar,  maehte  sich  Julian  klar,  dass  die  libido  von  Gott  gestattet 
sei,  und  unerbittlich  fuhr  er  in  die  künstlichen  Unterscheidungen,  die 
Augustin  zwischen  nu])tia(^  und  concu])iscentia  machen  wollte  und 
nmsste^  DieC^oncupiscenz,  lehrte  Julian,  ist  an  sich  indifferent 
und  schuldlos;  denn  die  wirkliche  Schöpfung  ist  von  allen  denkbaren 
Arten  die  beste;  diese  Schöpfung  schliesst  aber  die  Zeugungslust  und 
alle  übrige  Lust  ein'-'.  Die  libido  ist  non  in  gencre  suo,  non  in  specie, 
non  in  modo  eine  Schuld,  sondern  lediglich  in  excessu;  genus  und 
species  sind  von  Gott,  der  modus  pertinet  ad  arbitrium  honestatis,  der 
excessus  ad  vitium  voluntatis^.  Wäre  es  anders,  so  müsste  die  Taufe 
die  Concupiscenz  ausrotten  und  nicht  nur  ordnend  „Intra  modum"  ist 
sie  also  gut'*:  wer  sie  massig  braucht,  braucht  ein  Gut  recht,  wer  sie  un- 
mässig  geniesst,  braucht  ein  Gut  schlecht,  wer  aber  aus  Liebe  zur  Jung- 
fräulichkeit auch  den  massigen  Genuss  verachtet,  braucht  damit  ein 
Gut  nicht  besser^.  Die  Scham  auch  bei  dem  erlaubten  Genuss  der 
Begierde,  auf  die  Augustin  hingew^iesen,  erklärte  Julian,  den  Cynikern 
beipflichtend,  für  blosse  Convention  und  Sitte  '^.  Auch  Christus  habe  die 
Concupiscenz  besessen  ^. 

7.  Aus  dieser  Lehre  folgt,  dass  es  sündlose  Menschen  stets  gegeben 
haben  kann^:  nach  Pelagius  folgt  sogar  weiter,  dass,  da  jeder  Mensch 
der  Sünde  (leicht)  Widerstand  leisten  kann,  er  beim  Gericht  in  die 
Hölle  fährt,  w^enn  er  sündigt  ^^;  denn  jede  Sünde  ist  im  Grunde  eine 

zeugt  das  Bekenntniss  (ep.  ad  Deraetr.  26),  der  Teufel  vermöge  auch  denen,  die 
von  der  Welt  getrennt  seien,  oft  so  schmutzige  und  gottlose  Gedanken  einzuflössen, 
dass  der  Mensch  wähne,  er  sei  schlechter,  als  da  er  die  res  saeculi  liebte. 

^  Augustin  mit  seiner  Unterscheidung  der  Ehe  als  Gut  und  als  Uehel  gleicht 
dem  Charlatan,  der  ein  Thier  aufweisen  wolle,  welches  sich  selber  frisst;  c.  Jul. 
TU,  47. 

-  S.  namentlich  das  5.  Buch  des  Op.  imi^.  und  das  5.  Buch  c.  Julian.  „Lau- 
dator  concupiscentiae"  nennt  ihn  Aug.  c.  Jul.  IIT,  44. 

»C.  Jul.  TV,  7;  III,  27. 

^  L.  c.  IV,  8. 

"  L.  c.  IV,  52. 

•^  Hiermit  ist  die  Askese  als  überflüssig  erklärt,  1.  c.  III,  42. 

■^  Op.  imp.  IV,  37 — 43.  Es  finden  sich  allerdings  auch  bei  Julian  Ausführungen, 
in  denen  ihm  das  „Gut"  der  libido  ein  geringes,  die  Virginität  bewunderungswürdig 
erscheint. 

8  L.  c.  IV,  45—64  u.  sonst. 

^  Freilich  muss  hier  der  Doppelsinn  des  jiosse  beachtet  werden. 

i»De  sest.  Pelag.  11. 


Die  pelagianische  Lehre.        '  177 

Todsünde;  da  der  Mensch  wider  besseres  Können  handelt.  Aber  auch 
nach  JuHan  ist  im  Grunde  jeder  Excess  eine  Todsünde,  da  er  völHg  un- 
motivirt  ist*.  Am  Ende,  heisst  es,  bestraft  Gott  die  Bösen  und  belohnt 
die  Tugendhaften.  Aber  es  bleibt  völHg  unklar,  wie  es  denn  überliaupt 
Tugend  (Gerechtigkeit)  und  Sünde  geben  kann,  wenn  in  denselben  nie 
ein  Charakter  erworben  werden  kann,  wenn  es  sich  nur  um  zersplitterte 
Actionen  handelt,  aus  denen  sich  weder  ein  Niederschlag  noch  eine 
Summe  bildet. 

In  dem  Bisherigen  sind  die  Grundvorstellungen  der  Pelagianer 
aufgewiesen.  Allein  sie  waren  ja  auch  katholische  Christen;  sie  waren 
also  gezwungen,  diese  ihre  Lehren  mit  der  hl.  Schrift,  mit  der  in  ihr 
enthaltenen  Geschichte,  mit  Christus  und  der  Kirchenlehre  in  Einklang 
zu  setzen.  Wie  das  geschehen  ist,  davon  ist  im  Folgenden  noch  kurz 
zu  handeln.  Dass  die  Schwierigkeiten  der  Vermittelung  ausserordentlich 
gross  waren  —  freilich  nicht  nur  für  sie,  sondern  füi*  Jeden,  der  eine 
zusammenhängende  verständige  Lehre  mit  Gen.  1 — 3  und  mit  hundert 
Schriftstellen  in  Einklang  setzen  wollte  ---,  liegt  auf  der  Hand. 

8.  Adam  war  mit  Wahlfreiheit  (nach  Pelagius  auch  mit  einer  na- 
turahs  quae  dicitur  sanctitas,  die  eben  in  dem  liberum  arbitrium  und 
der  ratio  liegt)  geschaffen.  Julian  beurtheilt  diesen  Zustand  moralisch 
sehr  hoch,  intellectuell  niedrig^.  Alle  sind  aber  darin  einig,  dass  die 
Ausstattung  Adams  die  eigenthche  und  unverlierbare  Gnadengabe 
(gratia)  Gottes  ist. 

9.  Adam  hat  durch  den  freien  Willen  gesündigt  (Julian  beurtheilt 
diese  Sünde  gering)^;  aber  durch  diese  Sünde  ist  seine  Natur  nicht  ver- 
derbt worden  *,  auch  war  der  natürliche  Tod  nicht  die  Folge  der  Sünde, 
denn  dieser  ist  eben  natürlich,  sondern  der  geistliche  Tod  —  dass  die 
Seele  um  der  Sünde  willen  verdammt  wird  —  ist  die  Folge  der  Sünde  *. 

*  Darauf  hat  Julian  grosses  Gewicht  J?elegt  (s.  Op.  imp.  V),  es  ausdrücklicli 
(gegen  Augustin)  ahlchnend,  dass  der  Mensch  sündige,  weil  er  de  nihilo  geschaffen 
sei.  Damit,  dass  das  Böse  auf  den  Willen  zurückgeführt  wird,  hört  jede  Möglich- 
keit auf,  es  zu  begründt^n ;  denn  jede  Begi'ündung  hiesse  die  Nothwendigkeit  des- 
selljcn  nachweisen.  V,  41  :  „Quaeritis  neccssitatem  roi  quae  esse  non  potest  si 
patitur  neccssitatem.  Iluic  motui  animi  libcro,  sine  coactu  originis  iuquieto,  si 
causa  ipso  motu  dctur  antiquior,  non  gignitur  omnino  sed  toUitur."  V,  57--60: 
„ideo  haljuit  voluntatem  nialam,  ([uia  voluit." 

''  Op.  imp.  VI,  14—23. 

"  Op.  imp.  VI,  23;  VI,  14  lässt  er  deutlich  genug  durchblicken,  dass  derSün- 
denfall  ein  Vortheil  für  Adam  war:  „porro  ignorantia  {|uam  profunda  quamque 
patiendi  oius  dura  conditio,  ut  lilj(;rari  ab  ea  nisi  praevaricatione  non  posset,  scien- 
tiam  (juippe  l)oni  malifjue  aljs(|iie  ansa  condcnmabili  ncfiuaquam  capessiturus." 

*  So  zuerst  Cälestius  (Karthago,  s.  Diospolis;  d(!  pecc.  mer.  2).  Ebenso  .luliau 
op.  inji>.  JI,  GO.   Der  gemeinf?  Tod  ist  natürlich.   Doch  hat  Julian  versucht,  hier  zu 

Hainack,  Dogmengeschichte  111,  j[2 


1 78        I^io  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

10.  Der  natüiiiche  Tod  hat  sich  demgemäss  von  Adam  her  nicht 
vererbt;  aber  auch  der  geisthche  nur  insofern,  als  die  Naclikommen 
ebenfalls  sündigten.  Würden  alle  Menschen  i)er  mortem  Adae  sterben, 
so  miissten  auch  alle  Menschen  per  resurrectionem Christi  auferstehen*. 

11.  Noch  viel  weniger  hat  sich  die  Sünde  oder  die  Schuld  Adams 
vererbt.  Die  Lehre  vom  tradux  peccati  und  peccatum  originis  ist  mani- 
chäisch  und  blasj)hemisch ;  sie  ist  gleich  absurd,  mag  man  dabei  nun 
auf  Gott  oder  auf  den  Menschen  oder  auf  den  Begriff  der  Sünde  oder  auf 
Christus  oder  auf  die  hl.  Schrift  sehen.  Auf  Gott  —  denn  Gottes  Gerech- 
tigkeit wird  ebenso  aufgehoben,  wenn  er  fremde  Schuld  anrechnen  und 
eine  Natur  für  sündig  halten  würde,  die  noch  nicht  gesündigt  hat,  wie  wenn 
er  die  nach  Adams  Fall  geborenen  Menschen  mit  Sünde  behaftet  in  die 
Welt  eintreten  lassen  würde.  Auf  den  Menschen — denn  einenatura  vitiata 
sei  soviel  wie  eine  natura  mala ;  hat  eine  Natur  Schlechtes,  so  ist  sie 
schlecht ;  dann  aber  fällt  die  Schuld  auf  Gott;  denn  er  ist  für  die  Naturen 
verantwortlich;  ferner  nur  wenn  man  eine  Seelenzeugung  annähme, 
könnte  sich  die  Sünde  fortpflanzen;  aber  diese  Annahme  ist  unsinnig;  end- 
lich wenn  sich  die  Sünde  durch  die  Ehe  fortpflanzt,  so  dass  die  ehehche 
Lust  die  Sünde  sei  und  übertrage,  so  sei  damit  die  Ehe  verurtheilt.  Auf 
den  Begriff  der  Sünde  —  denn  sie  ist  ganz  und  gar  vom  Willen  einge- 
schlossen, so  dass  sie  überhaupt  nicht  da  ist,  wo  nicht  ein  freier  Wille 
ist;  ferner,  könnte  sie  sich  auch  fortpflanzen,  so  könnte  sie  doch  nicht 
von  getauften  Eltern  übertragen  werden;  endlich  die  Behauptung 
Augustinus,  die  Sünde  selbst  werde  von  Gott  als  Sündenstrafe  gebraucht, 
es  gebe  ein  göttliches  Gesetz  der  Sünde  u.  s.  w.,  sei  absurd  und  unsitt- 
lich. Auf  Christus  —  denn  wäre  die  Natur  schlecht,  so  könnte  sie 
nicht  erlöst  werden,  oder,  gäbe  es  eine  Erbsünde,  die  zur  Natur  des 
Menschen  geworden,  so  hätte  auch  Christus  diese  Sünde  haben  müssen. 
Auf  die  hl.  Schrift  —  unzählige  Stellen  zeigen,  dass  die  Sünde  Sache 
des  Willens  sei  und  dass  Gott  Jeden  nur  für  seine  Sünde  straft.  Der 
VersBöm.  5,  12  besage  nur,  dass  Alle  sterben,  weil  sie  selbst  wie  Adam 
sündigen,  oder  etwas  Aehnliches,  jedenfalls  enthalte  er  nichts  zu  Gunsten 
der  Erbsünde-. 


vermitteln.  Er  will  es  nicht  leugnen,  dass  der  natürliche  Tod  eine  Beziehung  zur 
Sünde  hat,  d.  h.  er  müsste  eigentlich  durch  die  Verdienste  aufgehoben  sein;  aher 
seine  Erklärungen  im  2.  Buch  sind  sehr  gewunden.  Ohne  Sünde  wäre  der  Tod 
„levissima"  gewesen;  aber  ganz  kann  ihn  Gott  auch  für  die  Heiligen  nicht  fort- 
schaffen, denn  (VI,  30):  „non  est  tanti  unius  meritum,  ut  universa  (i|nae  naturaliter 
sunt  instituta  perturl)et," 

^  So  schon  Cälestius. 

'-'  Stellen  hier  beizubringen,  ist  überflüssig;  s.  die  ausführliche  Darstellung  bei 
Klasen  S.  IIH— 182.  Juhan's  Erklärung  von  Rom.  5,  1l>  stellt  c.  .Tal.  VI,  75-81. 


Die  pelagianische  Lehre.  179 

12.  Somit  sind  alle  Menschen,  die  Gott  schafft,  in  dem  Stande,  in 
welchem  Adam  vor  dem  Fall  gewesen  ist  K  Ein  unwesentlicher  Unter- 
schied waltet  nur  insofern  ob,  als  Adam  schon  sofort  den  Gebrauch  der 
Vernunft  hatte,  die  Kinder  nicht,  Adam  noch  ungewitzigt  war,  die 
Kinder  in  eine  Gesellschaft  hineingeboren  werden,  in  welcher  die  Ge- 
wohnheit des  Bösen  herrscht  (so  wenigstens  nach  Pelagius)^.  Die 
mera  capacitas  utriusque  ist  die  ursprüngliche  Unschuld^. 

13.  Die  Gewohnheit  des  Sündigens ,  wie  sie  vorbildlich  wirkt, 
schwächt  —  nach  Pelagiiis  —  den  Willen  (?).  Doch  wie  sie  eigentlich 
wirkt,  darüber  lässt  sich  nichts  sagen ;  denn  sonst  wird  die  Indifferenz 
des  Willens  („liberum  arbitrium  et  post  peccata  tam  plenum  est 
quam  fuit  ante  peccata"  Op.  imp.  I,  91)  aufgehoben.  Wahrscheinlich 
war  die  Meinung  die:  die  possibilitas  boni  bleibt  völlig  intact,  aber  die 
Gewohnheit  des  Sündigens  verdunkelt  die  Vernunft^. 

14.  Was  nun  die  Gnade  betrifft,  so  ist  es  hier  am  schwierigsten, 
die  Ansicht  der  Pelagianer  wiederzugeben;  denn  hier  waren  sie  am 
meisten  genöthigt,  sich  zu  accommodiren.  Es  finden  sich  bei  Pelagius  und 
Julian  —  Cälestius  ist  zurückhaltender  gewesen  —  ^  sehr  starke  Aeusse- 
rungen  über  die  Nothwendigkeit  der  Gnade  Gottes  (adiutorium)  zu 
jedem  guten  Werk  ^.  Es  finden  sich  ferner  Aeusserungen,  dass  die  Gnade 


Ausser  dem  Vorwurf  des  Manichäismus  hat  Julian  auch  den  Traducianismus  dem 
Augustin  vorgerückt,  obgleich  Augustin  kein  Traducianer  war.  Der  Ketzername 
„Traduciani"  stammt  von  Julian  (op.  imp.  I,  6). 

*  De  pecc.  orig.  14. 

^  Ep.  ad  Demetr.  Auch  sonst  ist  von  Pelagius  das  Herrschen  der  Sünde 
in  der  Welt  stark  betont. 

^  Dieses  (Tcrcde  von  der  ursprünglichen  Unschuld  ist  bei  Julian  bereits  Ac- 
commodation ;  denn  die  Unschuld  Ijleibt  ja  im  Grunde  stets  dieselbe.  C.  Jul.  III, 
36:  „homo  igitur  innocentia  quidem  plenus,  sed  virtutis  capax  nascitur,  aut  lau- 
dem  aut  reprehensionem  ex  proposito  accedente  meriturus  .  .  .  nee  iustos  nasci 
parvulos  nee  iniustos ,  quod  futuri  sunt  actibus  suis ,  sed  tantummodo  infantiam 
innocentiae  dote  locupletem."  Aber  wie  im  Grunde  diese  „Unschuld"  gemeint 
ist,  zeigt  dasselbe  Capitel:  „Perfecta  ignorantia  (in  scripturis  iustitia  nominatur"). 

*  Hier  klafft,  wie  im  Stoicismus,  das  System.  Warum  ist  der  vernünftige 
Mensch  unvernünftig  und  schlecht?  und  wie  kann  er  ratio  und  })ösen  Willen  zu- 
gleich haben?  und  wie  erklärt  sich  die  sündige  Gewohnheit?  —  Auch  Julian 
sagt  übrigens  (oj).  imp.  T,  16):  „consuctudo  peccati  amorem  delicti  facit  et  ex- 
stingTiit  pudorcm" ;   allein  er  meint  bei  Augustin. 

^'  „Der  Wille  ist  nicht  frei,  wenn  er  Gottes  Hülfe  bedarf",  de  gestis  42.  „Si 
per  gratiam  (de  gestis  30)  omnia  facimus,  quando  vincimur  a  peccato,  non  nos 
vincimnr,  sed  dci  gratia,  (juae  voluit  nor.  adiuvare  omni  modo  et  non  potuit." 

'^  Man  kann  sogar  fast  alle  augustinischen  Sätze  aus  Aeusserungen  des  ]*e- 
lagiiis  und  .Julian  })elogen.  ])\o.  Zahl  der  Stellen  in  ihren  Werken,  die  gut  kir(;h- 
lieh  lauten,  ist  sc^hr  gross.   Diese  müsste  man  niiicitiren,  um  ein  Bild  davon  zu 

12* 


180        Diß  weltgeßchichtliche  Stellung  Augustiii's  als  Lehrer  der  Kirche. 

das  Gute  erleichteret  Es  finden  sich  endUch  solche,  nach  denen  sie 
überflüssig,  ja  —  streng  genommen  —  in  sich  nnmöglich  ist  ^.  Man  wird 
den  Pelagianern  nicht  Unrecht  thun,  wenn  man  in  den  beiden  letzteren, 
die  bis  zu  einem  gewissen  Grade  vereinigt  wei'den  können,  die  wahre 
Meinung  erkennt;  denn  das  war  ja  die  oberste  Absicht  des  Pelagius, 
den  C.Miristen  die  faule  Zuversicht  auf  die  Gnade  zu  nehmen,  und  das 
war  der  Hauptzweck  Julian 's,  zu  zeigen,  dass  die  menschliclie  Anlage 
Verdienst  und  Seligkeit  in  ihrem  eigenen  Schosse  trägt.    In  dem  Satze : 


geben,  wie  sich  beide  Männer  nach  Aussen  ausgenommen  haben;  das  würde  jedoch 
hier  zu  weit  führen.  Man  verkürzt  aber  auch  ihre  Denkweise  nicht,  wenn  man 
sie  weglässt;  denn  sie  sind  wirklich  nur  für  ihre  Ausdrucksweise  charakte- 
ristisch. Oeffentlich  hat  Pelagius  nie  geleugnet,  dass  der  Mensch  stets  die  Gnade 
(Tottes  bedürfe,  dass  er  nur  adiuvante  gratia  posse  esse  sine  peccato  (s.  de  gestis 
16.  22.  31 ;  de  gratia  2:  „anathemo  qui  vel  sentit  vel  dicit,  gratiam  dei,  qua  Christus 
venit  in  hunc  mundum  peccatores  salvos  facere,  non  solum  per  singulas  horas 
aut  per  singula  momeuta,  sed  etiam  per  singulos  actus  nostros  non  esse  neces- 
sariam,  et  (jui  hanc  conantur  auferre,  poenas  sortiantur  aeternas";  s.  auch  sein 
Bekeuntniss  an  den  Papst).  Julian  hat  womöglich  noch  stärkere  Ausdrücke  ge- 
braucht; allein  beide  haben  genau  das  Gegentheil  von  dem,  was  sie  hier  sagen, 
sehr  häufig  gesagt.  Dass  aber  die  Grnade  Gottes  durch  Christus  die  Sündenfrei- 
heit und  Seligkeit  begründe,  haben  sie  nie  gesagt. 

^  Dies  sind  die  gewöhnlichen ;  in  allen  Menschen  ist  der  freie  Wille,  aber 
nur  bei  den  Christen  wird  er  unterstützt  durch  die  Gnade  (de  gratia  34);  die 
anderen  haben  nur  das  „nudum  et  inerme  conditionis  bonum".  Aehnlich  Julian, 
nur  noch  stärker  op.  imp.  I,  40:  „quos  fecit  quia  voluit  nee  condemnat  nisi  spre- 
tus;  si  cum  non  spernitur,  faciat  consecratione  meliores,  nee  detrimentuni  iusti- 
tiae  patitur'  et  munificentia  miserationis  ornatur."  I,  111:  „malae  voluntati  ve- 
niam  pro  inaestimabili  liberalitate  largitur  et  innocentiam,  quam  creat  bonam, 
facit  innovando  adoptandoque  meliorem"  (aber  kann  etwas  besser  sein  als  gut?). 
III,  106:  „Quod  ais,  ad  colendum  recte  deum  sine  ipsius  adiutorio  dici  a  nobis 
sufficere  unicuique  libertatem  arbitrii,  omnino  mentiris.  Cum  igitur  cultus  dei 
multis  intelligatur  modis,  et  in  custodia  mandatorum  et  in  execratione  vitiorum 
et  in  simplicitate  conversationis  et  in  ordine  mysteriorum  et  in  profunditate  dog- 
matum  .  .  .  qui  fieri  potest,  ut  nos  in  confuso  dicamus,  sine  adiutorio  dei  liberum 
arbitrium  sufüciens  ad  eius  esse  culturam  .  .  .  cum  utique  ista  omnia,  tam  quae 
dogmatibus  quam  quae  mysteriis  continentur,  libertas  arbitrii  per  se  non  potu- 
erit  invenire,  etc.  (da  sieht  man  deutlich,  wie  das  „adiutorium"  zu  verstehen 
ist;  es  liegt  einzig  in  dem  Gesetz  der  Dogmen  und  Mysterien,  welches  Gott 
gegeben  und  der  Mensch  nicht  erfunden  hat,  nicht  aber  in  einer  Kraft;  daher, 
weil  nämlich  Gott  so  viele  Veranstaltungen  getroffen  hat,  kann  Julian  fortfahren : 
„hominem  innumeris  divinae  gratiae  speciebus  iuvari  .  .  .  praecipiendo,  benedi- 
cendo,  sanctificando,  coercendo,  provocando,  illumiuando." 

*  Unmöglich  als  Kraft,  sofern  der  Wille  nicht  wirklich  bestimmt  worden 
kann.  Darüber  hat  nur  Cälestius  sich  deutlich  ausgesprochen,  aber  auch  Julian 
meint  dasselbe,  wenn  er  nicht  müde  wird,  zusagen:  „cuuctarum  origo  virtutum 
in  rationabili  aninio  sita  est." 


Die  pelagianische  Lehre.       •  181 

„homo  libero  arbitrio  emancipatus  a  deo",  liegt  im  Grunde  der  Protest 
gegen  jede  Gnade  ^ 

15.  Unter  Gnade  ist  in  erster  Linie  überall  die  Schöpfungsgnade -^ 
zu  verstehen ;  diese  ist  so  herrlich,  dass  es  auch  unter  Heiden  und  Juden 
vollkommene  Menschen  gegeben  hat  ^. 

16.  Unter  Gnade  ist  zweitens  die  lex  Gottes  zu  verstehen,  ja  alle 
Gnade,  sofern  sie  nicht  Natur  ist,  kann  im  Grunde  keinen  anderen  Cha- 
rakter haben  als  den  der  illuminatio  und  doctrina.  Diese  erleichtert 
das  Thun  des  Guten*. 

17.  Unter  Gnade  ist  drittens  die  gratia  dei  per  Christum  zu  ver- 
stehen. Auch  diese  ist  im  Grunde  illuminatio  et  doctrina^;  Christus 
wirkt  durch  sein  Vorbild^.  Pelagius  und  Julian  gestehen  zu,  dass  die 
sündige  Gewohnheit  so  gross  war,  dass  die  Erscheinung  Christi  nöthig 
gewesen  ist  ^.  Diese  selbst  hat  Julian  so  gefasst,  dass  Christus  das,  was 
er  geworden  ist,  seinem  freien  Willen  zu  verdanken  hat  ^.    Aber  über 


^  Dieser  Satz  Julian's  ist  eigentlich  der  Schlüssel  der  ganzen  Denkweise : 
der  frei  geschaffene  Mensch  steht  mit  seiner  ganzen  Sphäre  Gott  selbständig 
gegenüber.  Er  hat  es  nicht  mehr  mit  Gott  zu  thun,  sondern  nur  mit  sich  selber. 
Zuletzt  erst  tritt  wieder  Gott  (beim  Gericht)  ein. 

^  Die  Aeusserungen  der  Pelagianer  über  die  Gnade  sind  dadurch  sehr  oft 
absichtlich  (z.  B.  de  gestis  Pel.  22)  amphibolisch,  dass  sie  die  Schöpfungsgnade, 
also  die  Natur,  verstehen.  Doch  ist  das  nicht  die  Regel.  Pelagius  und  Julian 
unterscheiden  drei  Zustände :  ex  natura,  sub  lege,  sub  gratia  (Christi) ;  s.  c.  duas 
epp.  I,  39. 

'  .,Perfecta  iustitia"  auch  im  alten  Bund  (1.  c.)  und  bei  den  „antiqui  ho- 
mines".  Julian  beruft  sich  oft  auf  die  vollkommenen  Heiden  und  spottet  über 
Augustin's  „splendida  vitia".  Sind  die  Tugenden  der  Heiden  keine  Tugenden,  so 
sind  auch  die  Augen  der  Heiden  keine  Augen  (c.  Jul.  IV,  26 — 30).  Pelagius  hat 
über  diesen  Punkt  total  Widersprechendes  gesagt;  Julian  ist  später  etwas  vor- 
sichtiger geworden;  aber  letztlich  ist  es  stets  seine  Meinung  geblieben,  dass 
zwischen   einem   guten  Heiden    und   einem  guten  Christen  kein  Unterschied  sei, 

■*  Das  Gesetz  war  das  erste  augmcntum  bcneficiorum  dei;  aber  es  ist  zu- 
gleich die  Grundform  alles  dessen,  was  Gott  nach  der  Schöpfung  noch  thun  kann, 
Sehr  deutlich  hat  sich  Pelagius  (de  gestis  30)  ausgedrückt:  „gratiam  dei  et  adiu- 
torium  non  ad  singulos  actus  dari  (an  anderen  Stellen  sagt  er  das  Gegentheil), 
sed  in  libero  arbitrio  esse  vel  in  lege  ac  doctrina."  Das  ist  mithin  Alles. 
Sehr  richtig  sagt  daher  Augustin,  Pelagius  bekenne  nur  die  Gnade,  „qua  demonstrat 
et  revelat  deus  quid  agere  dcbeamus,  non  (|ua  donat  atque  adiuvat  ut  agamus." 

^  S.  die  vorige  Anmerkung  und  Cälestius'  Satz:  „lex  sie  mittit  ad  regnum 
coelorum  quomodo  et  evangelium." 

®  Exempel  und  Nachahmung,  s.  Op.  iirq).  11,  146  scj.  C.  Jul.  V,  58:  „tolle 
exempli  causam,  tolle  et  pretii,  quod  pro  iiobis  factus  est."  Den  Tod  Christi  hat 
-fulian  ()]).  imp.  IT,  223  Hchliesslich  auch  auf  das  Vorbild  reducirt. 

'  Op.  imp.  IJ,  217-222. 

*  Es  ist  sehr  lehrreich,   dass  auch  für  Julian  das  Personbildendc   in  Jesus 


182        I^iö  vveltgeschiehtliclie  Stellung  Auouatiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

die  doctrina  hinaus  musste  man  gemäss  der  Kirclienlehre  und  -praxis 
doch  auch  ein  effectives  Handebi  Gottes  per  Christum  annehmen.  Die 
Pehigianer  leugneten  nicht,  dass  dieses  sich  in  der  Taufe  und  in  den 
Nachhxssungen  Gottes  darstelle ;  sie  lehrten  die  Sündenvergebung  durch 
die  Taufe.  Allein  worin  diese  Sündenvergebung  bestehe,  konnten  sie 
nicht  nachweisen,  ohne  mit  der  Freiheit  in  Conflict  zu  kommen.  AVas 
die  Kindertaufe  betrifft,  so  haben  sie  die  Nothwendigkeit  derselben 
nicht  mehr  in  Abrede  stellen  dürfen,  ja  sie  haben  sogar  nicht  rund  er- 
klären dürfen,  dass  sie  nicht  in  remissionem  peccatorum  sei.  Sie  leiteten 
eine  gewisse  AVeilie  und  Heiligung  von  ihr  ab,  stellten  aber  in  Abrede, 
dass  ungetauft  sterbende  Kinder  verloren  gingen:  sie  kämen  nur  nicht 
in  das  regnum  coelorum,  den  höchsten  Grad  der  Seligkeit  ^ 

18.  Von  dieser  Gnade  per  Christum  lehrten  die  Pelagianer  endhch, 
dass  sie  sich  mit  der  iustitia  Gottes  vertrüge ,  weil  diese  eine  Ver- 
mehrung von  Wolilthaten  nicht  ausschliesse  ^,  dass  sie  aber  secundum 
nierita  (nach  den  Verdiensten  des  verständigen  Geistes)  gegeben  werde, 
weil  im  anderen  Fall  Gott  ungerecht  wäre^;  aber  die  Behauptung,  dass 
sie  schlechthin  nothwendig  sei,  ist  von  ihnen  selbst  nie  ernsthaft  ver- 
treten, häufig  verneint  worden,  und  in  der  These,  dass  das  Evangelium 
nicht  anders  wirke  als  das  Gesetz,  wird  factisch  jenes  auf  dieses  voll- 


der  Mensch  ist  (wie  bei  Augustiii).  Darin  unterscheidet  er  sich  von  Augustin, 
dass  er  sagt,  der  Mensch  Jesus  sei  secundum  merita  von  Gott  erwählt  und  mit 
dem  Christus  vereinigt.  Auch  tritt  der  profectus  deutlicher  hervor:  Jesus  ist 
allmählich  vom  Wort  Gottes  angenommen  worden;  der  filius  hominis  ist  durch 
seine  AVillensleistung  allmählich  filius  dei  geworden.  So  durfte  man  also  noch 
damals  ungescheut  im  Abendland  lehren  (s.  Oj).  imp.  IV,  84),  wenn  nicht  Augustin 
hier  stark  übertrieben  hat. 

*  Die  Ausflüchte  bei  der  Taufe  sind  so  zahlreich,  dass  es  sich  nicht  lohnt, 
die  einzelnen  zu  nennen.  Der  Begriff  der  Vergebung  ist  den  Pelagianern  an  sich 
unbequem;  sie  kann  höchstens  eine  Art  von  Nachsicht  sein,  wie  sie  sich  mit  der 
Gerechtigkeit  zur  Noth  verträgt.  Die  Frage,  ob  die  Taufe  die  Sünde  tilgt  oder 
den  reatus  wegnimmt,  haben  sie  auch  gestreift;  aber  für  sie  war  diese  Frage  un- 
sinnig. In  Bezug  auf  die  Kindertaufe  sind  alle  ihre  Aeusserungen  daraus  abzu- 
leiten, dass  sie  sie  nicht  abschafien  und  auch  nicht  verschiedenwerthige  Taufen 
gelten  lassen  w^oUten.  Die  Unterscheidung  von  regnum  coelorum  und  vita  aeterna 
war  ein,  in  diesem  Fall  willkommenes,  eschatologisches  Rudiment. 

'^  Op.  imp.  I,  72.  III,  163:  „augmenta  beneficiorum  divinorum  utiHa  esse  et 
necessaria  omnibus  in  commune  aetatibus  dicimus,  ita  tamen  ut  nee  virtus  nee 
peccatum  sine  propria  cuiquam  voluntate  tribuatur." 

^  De  gestis  30:  „dei  gratiam  secundum  merita  nostra  dari,  quia  si  peccatori- 
bus  illam  det,  videtur  esse  iniquus.''  Damit  ist  der  Begriff  der  Gnade  aufgehoben; 
demi  nur  als  gratuita  ist  sie  Gnade.  Hier  erscheint  sie  als  Lolmmittel  für  die 
Guten.  Ist  die  Gnade  aber  weder  gratis  data  noch  Kraft,  so  bleibt  sie  nur  ein 
leeres  Wort. 


Die  pelagianische  Lehre.   Augustin's  Gnadenlehre.  183 

ständig  reducirt.  Dieses  aber  ist  selbst  nichts  Anderes  als  eine  nicht 
Jedem  nöthige  Krücke.  Der  Mensch  soll  sündlos  sein:  das  können  wir 
durch  unseren  Willen  erreichen ;  aber  dem  Christen  ist  die  impeccantia 
erleichtert^  denn  er  kann  sich,  wenn  er  auf  Christus  schaut,  leicht  wieder 
bekehren,  und  er  hat  von  Anfang  an  in  der  Taufe,  den  Mysterien,  den 
Dogmen,  den  Mandaten  lauter  Beförderungsmittel  der  Tugend.  Alles, 
was  Christus  gethan  hat  und  was  die  Kirche  thut,  kommt  nicht  als  That, 
sondern  als  Lehre  in  Betracht. 

Man  wird  die  Reinheit  der  Motive,  den  Abscheu  vor  manichäischem 
Sauerteig  und  dem  opus  operatum,  den  Drang  nach  Klarheit,  die  Absicht, 
die  Gottheit  zu  vertheidigen  ^,  bei  den  Pelagianern  ehren*,  aber  man  Avird 
doch  urtheilen  müssen,  dass  ihre  Lehre  den  Jammer  der  Sünde  und  des 
Uebels  verkennt,  dass  sie  im  tiefsten  Grunde  gottlos  ist,  dass  sie  von 
Erlösung  nichts  weiss  und  nichts  wissen  will,  und  dass  sie  von  einem  öden 
Formalismus  (Begriffsmythologie)  beherrscht  ist,  der  an  keinem  einzigen 
Punkte  den  wirklichen  Grössen  gerecht  wird  und  bei  genauer  Betrach- 
tung aus  lauter  Widersprüchen  besteht.  In  der  Ausdrucksweise, 
in  welcher  Pelagius  (zum  Theil  auch  JuHan)  diese  Lehre  vorgetragen 
hat,  d.  h.  mit  allen  den  Accommodationen,  zu  denen  er  sich  verstand,  war 
sie  keine  Neuerung^.  Allein  ihrem  Grundgedanken  nach  war  sie  es  — 
oder  vielmehr:  sie  war  eine  Neuerung,  weil  sie  den  Pol  der  my- 
stischen Erlösungslehre,  welche  die  Kirche  stets  neben  der 
Freiheitslehre  fest  gehalten  hat,  trotz  aller  Accommodationen 
im  Ausdruck,  factisch  doch  fallen  liess^. 

III.  Der  Grundbegriff  des  Pelagianismus  ist  die  das  liberum  arbi- 
trium  einschliessende  natura,  der  Grundbegriff  des  Augustinismus  ist 
die  gratia,  und  zwar  im  pelagianischen  Streit  die  gratia  dei  per  Christum '*. 
In  dem  Pelagianismus  hat  die  Gnadenlehre  den  Wertli  eines  mit  der 


*  Dass  Augustinismus  =  Manichäismus  sei,  ist  der  rothe  Faden  in  Juliau's 
Polemik.  „Sub  laude  baptismatis  eructat  Augustinus  Mauichaeorum  sordes  ac  na- 
turale peccatum,  ut  ccclesiac  catholicae  pura  hactcnus  sacramcnta  contaminet." 
Op.  im.  I,  IJ. 

^  Die  Verurtheilung  war  daher  —  vom  rechtlichen  Staudpunkt  —  nicht  un- 
bedenklich; die  Ausmerzung  des  kräftigen  Appells  au  die  Freiheit  innerhalb  der 
kirchlichen  Unterweisung  nicht  in  jeder  Hinsicht  heilsam. 

•*  Aber  von  hier  aus  konnte  sie  freilich  nicht  durchschlagend  bekämpft  werden. 
Nur  der  Augustinismus  konnte  sie  überwinden.  Augustin's  Kritik  au  diesem  System 
wird  am  besten  durch  Darlegung  seines  eigenen  gegeben. 

*  Darum  griffen  die  Pelagiancr  Augustin's  Lehre  von  der  Natur  an  und  Augu- 
stin ihre  Lehre  von  der  Gnade.  Eigentlich  entspringt  Alles,  was  Augustin  den  l*e- 
lagianem  zu  sagen  hat,  aus  dem  Nachweis,  sie  wüssten  nicht,  was  Unade  sei,  und 
darum  auch  nicht,  was  Sünde  sei. 


184        Die  wültgeBchichtliche  Stellung  Aiigustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Hauptsache  schlecht  verbundenen  „Anhanpjs"^  im  Aiigustinismus  bleibt 
die  Lehre  von  der  Natur  mit  Widersprüchen  behaftet,  weil  es  unmög- 
lich ist,  vom  Standpunkt  der  erfahrenen  Gnade  aus  eine 
rationale  Darstellung  der  Natur  und  der  Geschichte  zu 
geben.  Denn  die  Ueberzeugung  von  der  umschaffenden  Gnade  des 
Gottes,  der  auch  der  Schöpfer  ist,  lässt  sich  schlechterdings  nicht  als 
verständige  I  )octrin  entwickeln,  sondern  muss  bei  dem  Bekenntniss  an- 
fangen und  aufhören:  „Wie  unbegreiflich  sind  Gottes  Gerichte  und  wie 
unerforschhch  seine  AVege!"  Das  hat  auch  Augustin  gewusst.  Allein 
in  einem  Zeitalter  lebend,  in  welchem  es  als  sträfliche  Unwissenheit  und 
als  Unglaube  galt,  nicht  jede  mögliche  Frage  zu  beantworten,  und  von 
der  vulgären  Ueberzeugung  durchdrungen,  dass  die  hl.  Schrift  über  alle 
Probleme  Aufscliluss  gebe,  hat  auch  er  die  höchsten  Thatsachen  und 
die  Stimmungen  des  inneren  Lebens,  die  er  am  Evangelium  gewonnen 
hatte,  zum  Ausgangspunkt  einer  Schilderung  der  „Urgeschichte"  und 
der  Geschichte  der  Menschheit  gemacht,  welche  nothwendig  in  Wider- 
sprüchen verlaufen  musste.  Zugleich  spiegeln  sich  in  dieser  Schilderung 
die  pathologischen  Erfahrungen  seines  Lebensganges.  Der  Strom  leben- 
digen Wassers  führt  doch  noch  in  seinem  Grunde  Reste  des  traurigen 
Uferlandes  mit  sich,  an  welchem  er  einst  vorübergeströmt  war  und  in 
welches  er  fast  versickert  wäre  ^ 

1.  Die  Menschheit  ist  erfahrungsgemäss  eine  massa  peccati  (per- 
ditionis),  welche  der  Tod  weidet  und  welche  unfähig  ist,  sich  zum 
Guten  zu  erheben;  denn  von  Gott  abgefallen,  vermag  sie  so  wenig  zu 
ihm  zurückzukehren,  wie  sich  ein  entleertes  Gefäss  von  selbst  wieder 
füllen  kann.  Aber  in  Christus  dem  Erlöser  —  nur  in  ihm  —  ist  die 
Gnade  Gottes  als  befreiende  erschienen  und  wirksam  geworden. 
Christus  hat  durch  seinen  Tod  die  Kluft  zwischen  Gott  und  der 
Menschheit  beseitigt  (die  Herrschaft  des  Teufels  gebrochen),  so  dass 
nun  die  Gnade  Gottes,  die  desshalb  gratia  per  (propter)  Christum 
ist,  ihr  Werk  treiben  kann^.    Diese  in  der  Kirche  wirkende  gratia 


^  Da  Augustinus  theologische  Grundbegriffe  bereits  oben  (S.  98  ff.)  erörtert  sind, 
so  haben  wir  hier  nur  auf  die  speciellc  Gnadenlehre  und  die  Lehre  von  der  Sünde 
und  vom  Urständ  einzugehen.  Diese  Reihenfolge  ergiebt  sich  von  selbst,  während 
der  Pelagianismus  an  der  Lehre  von  der  unzerstörbaren  Natur  seinen  Ausgangs- 
punkt genommen  hat. 

'^  Ausführungen  über  den  Tod  Christi  als  das  Fundament  des  Heils  sind  bei 
Augustin  häufig.  Aber  sie  beziehen  sich  meistens  auf  die  Herrschaft  dos  Teufels, 
die  durch  Christi  Tod  auf  rechtlichem  Wege  aufgehoben  ist;  dagegen  sind  sie 
viel  seltener,  wo  Augustin  von  der  positiven  Erlösung  spricht.  Jene  Befreiung 
aus  des  Teufels  Macht  (es  war  die  allgemeine  Auffassung  vom  Tode  Christi :  er  ist 
das  pretium,  welches  für  uns  an  den  Teufel  gezahlt  ist,  der  es  aber  nicht  festhalten 


J 


Augustin's  Lehre  von  der  Gnade."  185 

gratis  clata^  ist  Anfang,  Mitte  und  Ende.  Ihr  Ziel  ist,  dass  aus 
der  massa  perditionis,  die  als  schuldige  mit  Recht  dem  ewigen  Tode 
verfällt,  ein  certus  numerus  electorum  gerettet  wird,  der  in  das 
ewige  Leben  eingeht.  Gerettet  wird  er,  weil  Gott  ihn  prädestinirt, 
erwählt,  beruft,  rechtfertigt,  heihgt  und  erhält,  kraft  seines  ewigen 
Heilsrathschlusses  ^.     Dies   geschieht   durch    die   Gnade ,    die    somit 


konnte)  spielt  aber  doch  im  ganzen  System  eine  untergeordnete  Rolle;  auch  der 
Gedanke,  dass  Gott  versöhnt  werden  musste,  klingt  bei  Augustin  an,  wird  aber 
nicht  streng  durchgeführt.  Augustin  denkt  bei  der  Gnade  per  Christum  in  der 
Regel  an  die  Aufhebung  des  sündigen  Zu  Standes.  Dann  aberliegt  es  in  der  Natur 
der  Sache,  dass  die  Beziehung  unsicher  wird ;  denn  es  ist  schwer  nachzuweisen,  wie 
durch  den  Tod  Christi  effectiv  ein  Zustand  geändert  ist.  Aber  die  Lockerung  war 
auch  eine  Folge  des  Gottesbegriffs  Augustin's ;  denn  die  gratia  ist  im  Grunde  ein  Aus- 
fluss  des  unergründlichen  Rathschlusses  Gottes,  resp.  des  bonum  esse.  Bei  der  gratia 
infusa  denkt  Augustin  selten  an  Christus,  sondern  an  die  Caritas,  welche  das  AVesen  des 
Guten  ist.  Hier  ist  noch  einmal  daran  zu  erinnern,  dass  Christus  selbst  als  geschicht- 
liche Erscheinung  nach  Augustin  ein  Beleg  für  die  prädestinatianische  Gnade  ist  (s. 
oben  S.  116).  „Daher  steht  die  Wirksamkeit  Christi,  der  als  fortlebender  ewiger  un- 
mittelbar in  uns  wirkt,  mit  dem  historischen  Versöhnungsprocess  in  losem  Zusam- 
menhang" (Dorner  S.  182),  d.  h.  jener  „fortlebende  Christus"  ist  selbst  nichts 
Anderes  als  die  Gnade.  Enchir.  108  hat  Augustin  Alles  zusammengefasst,  was  er 
über  die  Bedeutung  des  Werkes  Christi  zu  sagen  hat;  aber  man  wird  finden,  ob- 
gleich die  reconciliatio  cum  deo  —  freilich  nur  als  Zurückführung  zu  Gott  —  nicht 
fehlt,  dass  er  das,  was  man  „objective  Erlösung"  nennt,  sehr  zurücktreten  lässt, 
dass  er  also  die  Bedeutung  Christi  geistig  gefasst  hat:  „Neque  per  ipsum  libera- 
remur  unum  mediatorem  dei  et  hominum  hominem  Jesum  Christum,  nisi  esset  et 
deus.  Sed  cum  factus  est  Adam,  homo  seil,  rectus,  mediatore  non  opus  erat.  Cum  vero 
genus  humanum  peccata  longo  separaverunt  adeo,  per  mediatorem,  qui  solus 
sine  peccato  natus  est,  vixit,  occisus  est,  reconciliari  nos  oportebat  deo  usquc  ad 
carnis  resurrectionem  in  vitam  acternam,  u  t  h  u  m  a n  a  s  u p  e  r  b  i  a  p  e  r  h  u  m  i  1  i  t  a  t  e  m 
dei  argueretur  (das  ist  der  Hauptgedanke,  s.oben  S.  118f.)ac  sanaretur  et  dc- 
monstraretur  homini  quam  longe  a  deo  recesserat  (heute  würde  mau 
diese  Auffassung  des  Werkes  Christi  „rationalistisch"  nennen),  cum  per  incarna- 
tumdeumrevocarcturct  cxemplum  obcdicntiac  iier  hominem -dcum 
(dieser  Ausdruck  „homo-deus"  ist  m.  W.  vor  Augustin  nicht  gebraucht  worden) 
contumaci  homini  praeberetur,  et  unigcnito  suscipiente  formam  servi,  quae 
nihil  ante  mcruerat,  fons  gratiac  pandoretur  et  carnis  ctiam  resurrcctio  re- 
de m  p  t  i  s  I) r o m i s s a  in  ipso  r e d c m j) t o r c  p r a c m o n s t r a r c t u r ,  et  per  eandem 
naturam  quam  sc  decepisse  laetabatur,  diabolus  vinceretur,  nee  tamen  homo  gloria- 
retur,  ne  itcrum  superbia  nasceretur,  etc." 

^  Enchir.  107:  „Gratia  vero  nisi  gratis  est,  gratia  non  est." 
^  S.  die  Schriften  de  correi)t.  et  gratia,  de  dono  pcrscvcrantiac,  de  pracidest. 
sanctorum,  sowie  Ausführungen  in  allen  Schriften  Augustin's  aus  den  letzten  Jahren; 
denn  sie  fehlen  nirgends,  als  Beweis,  dass  Augustin  mehr  und  mehr  in  der  Lehre 
von  der  ))rädestinatiani8chcn  Gnade  di(».  Hau i)t lehre  erkannte.  Die  Prädestination 
ruht  nicht  auf  der  Bräscienz,  das«  gerade  di(;se  Menschen  der  Gnade  folgen  werden, 
sondern  sie  bewirkt  dieses  Folgen.   Schriftbeweis  ist  Köm.  9.  (s.  de  x)raedüst.  34). 


ISH        Die  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

1)  i)raeveniens  ist';  düiin  sie  muss  erst  den  guten  Willen  (den 
(jilaubcu)  schaffen^.  (Diese  gratia  praeveniens  kann  man  mit  der 
vücatio^  zusammenstellen;  allein  man  muss  sich  schon  hier  erinnern, 
dass  die  vocatio  auch  zu  solchen  konnnt,  die  nicht  „nach  dem  Vor- 
satz berufen  sind"  *.  Im  strengen  Sinn  bezieht  sich  alles  Handeln  der 
Gnade  nur  auf  die  praedestinati  ^ ;  im  weiteren  Sinn  wirkt  die  Gnade 
bis  zur  sanctiticatio  in  einem  viel  grösseren  Kreise,  der  aber  schliesslich 
doch  dem  Untergang  anheimfällt,  weil  ihm  die  letzte  Arbeit  der  Gnade 
nicht  zu  Theil  wird) ".  In  das  Bekenntniss  von  der  gratia  gratis  data 
und  praeveniens  hat  Augustin  seine  ganze  religiöse  Erfahrung  hinein- 
gelegt. Nirgendwo  spricht  er  überzeugter,  schlichter  und  grossartiger, 
als  wo  er  die  Gnade  preist,  die  den  Menschen  aus  dem  Sündenstande 
herausreisst.  Die  Gnade  wirkt  aber  2)  als  cooperans  ^.  Dieses  Wir- 
ken entfaltet  sich  in  einer  Reihe  von  Stufen,  sofern  das  Ziel,  um  dessen 
Erreichung  es  sich  handelt  —  nämlich  das  Beharren  und  die  vöUige 
und  factische  Regeneration  des  Menschen^  (Neuschöpfung  zu  guten 


^  Euchir.  32 :  „Nolcntem  praevenit  ut  vclit,  volentem  subsequitur,  ne  frustra 
velit."  De  gratia  et  lib.  arb.  33:  „praeparat  volimtatem  et  cooperaudo  perficit,  quod 
operando  incipit.  Quoniam  ipse  ut  velimus  operatur  incipiens."  Dazu  unzählige 
Stelleu. 

^  De  spir.  et  litt.  34 :  „Non  credere  potest  quodlibet  libero  arbitrio,  si  nuUa 
sit  suasio  vel  vocatio  cui  crcdat;  profecto  et  ipsum  velle  credere  deus  operatur  in 
homine  et  in  omnibus  misericordia  eins  praevenit  nos  :  cousentire  auteni  vocationi 
doi  vel  ab  ea  dissentire  propriae  voluntatis  est."  Der  Spruch:  „Quid  habes,  quod 
non  accepisti",  ist  Augustin's  Lieblingsspruch. 

"  S.  die  vorige  Anmerkung. 

*  S.  die  letzten  Schriften  Augustin's,  z.  B.  de  corr.  39;  de  praed.  32:  Die 
Gnadenmittel  sind  unsicher;  die  allgemeine  vocatio  soll  eine  ernsthafte  sein,  ist  es 
aber  nicht. 

^  Hier  gilt:  „deus  ita  suadet,  ut  persuadeat."  De  praedest.  34:  „Electi  sunt  ante 
mundi  Constitutionen!  ea  praedestinatione,  in  qua  deus  sua  futura  facta  praescivit ; 
electi  sunt  autem  de  mundo  ea  vocatione,  qua  deus  id,  quod  praedestinavit,  implevit. 
Quos  enim  praedestinavit,  ipsos  et  vocavit,  illa  scilicet  vocatione  secuudum  propo- 
situm,  non  ergo  alios,  sed  quos  praedestinavit  ipsos  et  vocavit,  nee 
alios,  sed  quos  praedestinavit,  vocavit,  iustificavit,  ipsos  et  glorificavit,  illo  utique 
fine,  qui  non  habet  finem." 

^  Desshalb  war  Augustin  auch  die  Auffassung  von  der  Wirksamkeit  der 
Gnadenmittel  bei  den  Häretikern  möglich,  weil  er  letztlich  überhaupt  ihre  Wirksam- 
keit als  eine  unsichere  empfand. 

^  S.  Anmerkung  1.  Der  häufigste  Ausdruck  ist  „adiutorium",  den  auch  die 
Pelagianer  brauchten,  aber  ganz  anders  verstanden.  Sie  dachten  au  eine  Krücke, 
Augustin  an  eine  nothwendige  Kraft. 

**  Diese  ist  nämlich  —  die  Sündenvergebung  und  fides  überbietend  —  überall 
als  das  Ziel  gedacht.  Das  ist  die  moralistische  AVendung  des  religiösen  Ansatzes. 
Renovatio  =  iustificatio  =  sanctificatio  =^  sauctitas.  Somit  ist  auch  die  rogeueratio 


Augustinus  Lehre  von  der  Gnade.  '  187 

Menschen),  also  dass  er  befähigt  wircl^  gute  Werke  der  Frömmigkeit  zu 
thun  und  Verdienste  zu  haben  —  naturgemäss  nur  langsam  und  allmäh- 
lich erreicht  werden  kann.  Aus  der  vocatio  folgt  zunächst  der  Glaube 
als  Geschenk  Gottes.  Dieser  Glaube  ist  selbst  ein  wachsender,  d.  h.  er 
beginnt  als  Fürwahrhalten  (auf  Grund  der  Autorität  der  Kirche  und 
der  Schrift);  er  stellt  sich  ferner  als  Gehorsam,  sodann  auch  als  Ver- 
trauen (fiducia)  dar  (credere  deum,  credere  de  deo,  credere  in  deum) 
und  geht  als  solches  in  die  Liebe  über  ^  Parallel  damit  geht  das  effec- 
tive  (sichtbare)  Handeln  der  Gnade  in  der  Kirche-,  w^elches  mit  der 
remissio  peccatorum  beginnt  ^.  Diese  wird  in  der  Taufe  gespendet,  und 
sofern  dieselbe  die  Schuld  (reatus)  der  Erbsünde  wegnimmt  ^  und  die 
vorher  begangenen  Sünden  tilgt,  ist  sie  lavacrum  regenerationis.  Allein 
sie  ist  dies  doch  nur  als  Initiationsact ;  denn  die  wirkliche  Rechtfertigung 
(iustüicatio),  welche  der  gratia  cooperans  entspricht,  ist  noch  nicht  dort 
gewonnen,  wo  die  Sünde  nicht  mehr  angerechnet  wird,  sondern  erst 
dort,  wo  der  Unfromme  ein  Gerechter  geworden,  wo  also  eine  fac- 
tische  Renovation  eingetreten  ist.   Diese  wird  dadurch  bewirkt,  dass  der 

erst  am  Schlüsse  perfect.  Enchir.  31:  „Wir  werden  frei,  wenn  Gott  uns  zu  guten 
Menschen  gestaltet." 

^  Ueber  den  Glauben  als  fortschreitenden  Glaubensprocess  s.  Dorn  er 
S.  183 — 195.  Ursprünglich  steht  der  Glaube  dem  Wissen  gegenüber;  er  ist  autori- 
tatives Fürwahrhalten  der  Dinge,  die  man  nicht  wissen  kann,  ja  des  Wider- 
vernünftigen;  aber  er  wächst  zum  assensus,  zur  fiducia,  zur  inneren  Erkenntuiss  und 
geht  damit  in  die  Liebe  über,  resx3.,  nach  Paulus  und  Jacobus,  in  den  in  der  Liebe 
thätigen  Glauben. 

^  Doch  ist  —  wie  aus  dem  bisher  Ausgeführten  folgt  —  der  ganze  Gnaden- 
process  ein  völlig  subjcctiver,  wenn  auch  die  Parallele  des  kirchlichen  Handelns 
festgehalten  wird. 

^  Erst  Augustin  hat  die  Taufe  zu  einem  wirklichen  Initiationsact  (Ench.  64: 
„a  baptismatc  incipit  renovatio")  gemaclit.  Die  Sündenvergebung  hat  nur  für  das 
getaufte  Kind  einen  selbständigen  AVcrth  (wenn  es  stirbt);  sonst  ist  auch  sie  Ini- 
tiation. Hier  und  desswegen  auch  im  Glaubensbegriff'  liegt  Luther's  Abweichung. 
De  grat.  et  lib.  arb.  27:  „neque  scientia  divinae  legis,  neque  natura  neque  sola 
remissio  peccatorum  est  illa  gratia  per  Christum,  sed  ipsa  facit,  ut  lex 
imi)lcatur." 

*  Für  Augustin's  System  ist  es  ein  schwerer,  von  den  Pelagianern  auch  ge- 
nügend gerügter  Mangel,  dass  die  Taufe  nur  die  Schuld  der  Erbsünde  tilgt;  denn 
Schuldtilguug  ist  bei  ihm  im  GiTiude  etwas  Geringes,  jedenfalls  nicht  die  Haupt- 
sache. Aber  in  den  Formeln  erscheint  allerdings  wie  die  fides  so  auch  das  „uon 
imputarc"  als  die  Hauptsache.  In  Wahrheit  steht  es  so,  dass  die  Aufhebung 
der  Schuld  das  Object  der  fides  historica  ist,  die  Sünde  aber  wird  durch  die  gratia 
infusa  getilgt.  Wo  Augustin  den  Schuldbcgriff"  als  den  obersten  festhalten  will, 
kommt  er  stets  auf  die  Strafe.  Der  Mensch  ist  eben  durch  seine  Sünde  entleert. 
Somit  trägt  die  Sünde  die  Strafe  in  sich  selber.  Der  entleerte  Mensch  aber  ist 
viel  zu  unselbständig,  viel  zu  sehr  ein  Nichts,  um  Schuld  haben  zu  können. 


188        I^ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

hl.  Geist  die  Ijiebe  in  das  Herz  ausgiesst,  durch  welche  an  die  Stelle 
der  schlechten  (yoncupiscenz  die  feilte  tritt,  niinilich  nicht  mir  das  freu- 
dige Bekenntniss :  „mihi  adhaerere  deo  bonum  est",  die  Lust  an  Gott 
als  dem  sunnnum  bonum  gegenüber  der  Lust  an  den  vorgänghchen 
Gütern  (die  Denuith  des  Ghiubens,  der  Ijiebe  und  der  Hoflnung  an  die 
Stelle  des  Hochmuths  des  Herzens),  sondern  auch  die  Fähigkeit  zu 
guten  Werken.  Diese  neue  Stimmung  und  Fähigkeit,  welche  die  Gnade 
durch  die  Gabe  des  hl.  Geistes  erzeugt,  ist  das  Erlebniss  der  iustificatio 
ex  fide  K  Die  Rechtfertigung  ist  ein  einmaliger  und  abgeschlossener  Act 
sub  specie  aeternitatis  und  in  Hinblick  darauf,  dass  man  in  der  fides 
Alles  zusammenschliessen  kann;  sie  ist  aber  als  empirisches  Erlebniss 
ein  im  Diesseits  nie  vollendeter  Process,  weil  das  Erfülltsein  mit  dem 
Glauben,  der  durch  die  Liebe  zur  vollkommenen  Umbildung  des 
Menschen  thätig  ist,    an  dem  Diesseits  selbst  seine  Schranke  hat^. 


*  Die  Formel  iustificatio  ex  fide  ist  bei  Augustin  sehr  häufig.  De  spiritu  et 
litt.  45 :  „cum  dicat  gratis  iustificari  hominem  per  fidem  sine  operibus  legis, 
nihil  aliud  voleus  intelligi  in  eo,  quod  dicit,  gratis,  nisi  quia  iustificationem 
opera  non  praecedunt  .  .  .  Quid  est  aliud  iustificati  quam  iusti  facti,  ab  illo  scilicet 
qm  iustificat  impium,  utcx  impio  fiat  iusius."  15:  „non  cpiod  sine  voluntate  nostra 
iustificatio  fiat,  sed  voluntas  nostra  ostcnditur  infirma  per  legem,  ut  sanet  gratia 
voluntatcm  et  sanata  voluntas  implcat  legem."  C.  Jul.  II,  23:  „iustificatio  in  hac 
vita  nobis  secundum  tria  ista  confertur :  prius  lavacro  regenerationis,  quo  remittun tur 
cuncta  peccata,  deinde  congressione  cum  vitiis,  a  quorum  reatu  absoluti  sumus, 
tertio  dum  nostra  exaudiatur  oratio,  qua  dicimus,  Dimitte  nobis  debita  nostra." 
Der  ganze  Process  bis  zu  den  meritis  und  der  vita  aeterna:  de  gratia  et  lib. 
arb.  20.  Für  die  Seligkeit  entscheidet  die  Liebe  allein,  weil  sie  allein  die  Er- 
füllung des  durch  die  Sünde  entleerten  Menschen  ist.  Der  Mensch  wird  selig 
gemacht,  sofern  er  durch  den  Liebesgeist  wieder  zum  Gutsein,  zum  Sein,  zu  Gott 
gebracht,  mit  ihm  mystisch-real  verbunden  wird.  Die  Unterschätzung  des  Glaubens 
folgt  nothwendig  aus  dem  Gottes-,  Creatur-  und  Sündenbegriflf,  die  alle  drei  die 
Signatur  des  Akosmistischen  haben.  Weil  es  keine  Selbständigkeit  neben  Gott 
giebt ,  so  kann  die  Glaubeusthat  eines  vor  Gott  stehenden  Subjects  erst  dann 
einen  Werth  bekommen,  wenn  sie  sich  in  die  Vereinigung  mit  Gott  (das  Erfiillt- 
sein  von  Gott)  umsetzt.  Diesß  Vereinigung  ist  aber  ein  Product  des  befreiten 
Willens  und  der  gratia  (cooperans). 

^  Dies  wird  sehr  oft  von  Aug.  ausgeführt.  Die  bona  concupiscentia  (de 
spiritu  6:  „adiuvat  spiritus  sanctus  inspirans  pro  concupiscentia  mala  concupis- 
centiam  bonam,  hoc  est  caritatem  diffundens  in  co^dibus  nostris)  kann  erfahrungs- 
gemäss  auf  Erden  die  mala  nie  völlig  verdrängen.  Eben  desshalb  ist  die  diftusio 
caritatis  (gratia  infusa,  inspiratio  dilectionis  —  Augustin  hat  für  diese  Kraft  der 
justificatio  viele  synonyme  Ausdrücke)  niemals  vollendet.  Somit  ist  die  Rechtferti- 
gung, welche  mit  der  Heiligung  identisch  ist,  nie  vollendet,  weil  die  „opera"  mit 
zur  Rechtfertigung  gehören.  Ausdrücklich  hat  sich  Augiistin  auf  Jacobus  berufen. 
Die  gratia  wird  aber  nie  secundum  merita  bonae  voluntatis,  geschweige  bonorum 
operum,  ertheilt;  sie  ruft  dieselben  erst  hervor. 


I 


Augustin's  Lehre  von  der  Gnade.  •  189 

Parallel  mit  diesem  "Wirken  des  Liebesgeistes  geht  das  effective  (sicht- 
bare) Handeln  der  Gnade  in  der  Kirche,  und  zwar  sowohl  in  dem  Abend- 
mahl (der  Incorporation  in  die  Caritas  und  unitas  des  Leibes  Christi) 
als  in  dem  Abendmahlsopfer,  der  Busse,  den  kirchlichen  Werken,  sofern 
dieselben  sündentilgende  Bedeutung  haben  ^.  Diese  Werke  haben  aber 
auch  noch  einen  anderen  AYerth.  Die  Abwendung  von  der  Weltlust 
vollendet  sich  erst  in  der  Askese ,  und  da  bei  dem  Gericht  Gott  nach 
unseren  Werken  handelt,  so  kann  der  vollkommene  Abschluss  der  iusti- 
ficatio  nur  in  jener  sanctificatio  liegen,  kraft  welcher  die  particularen 
Güter  (Ehe,  Vermögen  u.  s.  w.)  völlig  preisgegeben  werden.  Zwar  ist 
es  nicht  unbedingt  nÖthig,  dass  Jeder  die  consilia  evangelica  erfüllt; 
man  kann  auch  ohne  sie  im  Glauben,  in  der  Hoffnung  und  in  der  Liebe 
leben.  Gottes  Gnade  macht  nicht  Jeden  zu  einem  Heiligen  ^,  den  wir 
zu  verehren  und  dessen  Fürbitte  wir  zu  erflehen  haben.  Aber  Ver- 
dienste (merita)  in  irgend  welchem  Grade  muss  schliessHch  ein  Jeder 
haben,  der  gekrönt  w^ erden  soll;  denn  beim  Gericht  werden  nur  Ver- 
dienste gekrönt,  die  freilich  stets,  wie  alles  Gute,  Gaben  Gottes  sind'\ 
Dass  aber  die  Erwählten  in  dem  ganzen  Verlauf  ihres  Lebens  bis  zum 
Gericht  in  der  Liebe  ausharren  ist  3)  das  höchste  und  letzte  Geschenk 
der  Gnade,  die  hier  als  irresistibihs  erscheint.  Die  perseverantia  bis  zum 
Ende  ist  das  Gut,  ohne  welches  alle  früheren  nichtig  sind.  Desshalb  ist 
diese  perseverantia  in  gewissem  Sinn  allein  die  Gnade;  denn  nur  die 
werden  selig,  welche  diese  gratia  irresistibihs  erlangen.  Die  vocati, 
welche  sie  nicht  haben,  gehen  verloren.  Warum  aber  nur  Einige  dieses 
Geschenk  erhalten,  welches  doch  auch  nicht  secundum  merita  verliehen 


^  S.  oben  S.  140  fl'.  Zu  beachten  ist  auch  hier  das  Nebeneinander  der  beiden 
Processe,  des  äusseren  und  des  inneren.  Uebrigens  ist  die  ganze  Darstellung  des 
Heilsprocesses  noch  nicht  streng  schematisch.  Augustin  vertauscht  die  Stufen  noch 
und  hat  —  zum  Glück  —  keine  sichere  Terminologie.  Erst  in  der  Scholastik  wurde 
das  anders. 

*  Sünde  kann  Niemand  völlig  meiden;  aber  die  Heiligen  k(>mion  Verbrechen 
meiden;  Enchir  (54. 

•'  Hier  ist  die  Schrift  „de;  fide  et  operibus"  besonders  wichtig.  Ausdrücklich 
verneint  Augustin  c.  40,  dass  (ilaube  und  Gotteserkenntniss  zur  Seligkeit  genügt. 
Er  hält  sich  an  den  Spruch :  „Tn  hoc  cognovimus  eum,  si  maudata  eius  servemus." 
Gegen  die  lleformer  wie  Jovinian  und  nicht  nur  gegen  sie  hat  er  die  consilia,  das 
Mönchthum,  die  höhere  Sittlichkeit,  die  H(!iligen  vertheidigt.  De  gratia  et  lib. 
arb.  1 :  „per  gratiam  dei  Vjona  merita  comparamus  (juibus  ad  vitam  perveniamus 
aeteranj."  Untfr diesen  merita  sind  durchweg  asketische  Werke  zu  verstehen;  s.auch 
die  Schriften  de  sancta  virgin.  und  de  bono  viduit. ,  wo  übrigens  Augustin  der  Ehe 
noch  günstiger  ist  als  in  späterer  Zeit.  Die  Hochschätzuug  des  Almosens  geht 
durch  die  Schriften  aller  Zeiten. 


190        r^iti  woltgeschichtlicho  Stdlimg'  Auofustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

wird,  das  ist  das  Gehcimniss  Gottes'.    Ewiges  Ijeben  und  ewige  Ver- 
dammiüss  —  es  ist  eine  Gerechtigkeit'^. 

2.  Vom  Standpunkt  der  gratia  gratis  data  und  praeveniens  ist  die 
Lehre  von  der  Sünde,  dem  Sündentall  und  dem  Urständ  entworfen. 
!  )ass  das  Charakteristicum  der  gegenwärtigen  Mensclilieit  die  Sünde  ist, 
l'olgt  aus  der  Gnadenlehre.  Die  Sünde  stellt  sich  ihrem  Wesen  nach 
dar  als  carentia  dei,  die  freiwillige  Verringerung  der  Seinskraft  ^.  Der 
Mangel  des  Besitzes  Gottes  (privatio  boni),  das  non  inhaerere  deo,  ist 
die  Sünde,  und  zwar  fliessen  für  die  Betrachtung  die  beiden  Gedanken, 
dass  sie  Mangel  des  Seins  ist  (metaphysisch)  und  Mangel  des  Gut- 
seins  (ethisch)  ebenso  zusammen  (s.  oben  S.  103  ü*.),  wie  in  der  Betrach- 
tung der  Gnade  stets  das  metaphysische  Element  (das  Sein  aus  dem 
Nichtsein  finden)  und  das  ethisch-religiöse  zusammenkHngt.  Diese  Sünde 
ist  ein  Zustand:  die  misera  necessitas  non  posse  non  pcccandi.  Die 
Freiheit  im  Sinne  der  Wahlfreiheit  ist  nicht  ausgetilgt '^j  aber  die  noch 
bestehende  Freiheit  führt  allemal  zur  Sünde,  und  dieser  Zustand  ist 
um  so  schrecklicher,  als  eine  gewisse  Erkenntniss  des  Guten  besteht, 
ja  sogar  ein  kraftloses  Wollen  desselben,  welches  stets  unterliegt^. 
Positiv  aber  stellt  sich  der  sündige  Zustand  als  die  Herrschaft  des 
Teufels  über  die  Menschen,  als  Hochmuth^  und  als  Concupis- 
cenz  dar^.   Aus  jener  Herrschaft  folgt,  dass  der  Mensch  zuerst  von 


'  Dass  die  Gnade  gratis  data  ist,  erscheint  Augustin  erst  sicher  durch  die  Be- 
hauptung, dass  sie  irresistibilis  ist  und  das  donum  perseverantiae  einschliesst. 
Die  Lehre  von  der  unbedingten  Gnadenwahl  tritt  so  am  Schluss  der  ganzen  Ge- 
dankenreihe am  deuthchsten  hervor;  s.  de  corrept.  et  grat.  34  und  die  Schriften 
de  dono  persev.  und  de  praedest.  sanct.  Aber  Niemand  kann  nach  Augustin  darüber 
gewiss  sein,  dass  er  diese  Gnade  besitzt.  Also  hatte  Augustin  bei  allem  Schrecken  über 
die  Sünde  den  Schrecken  der  Ungewissheit  des  Heils  doch  nicht  erfahren.  Darum 
kann  auch  Christus  in  der  Ausführung  des  Gnadenprocesses  so  zurücktreten.  Christus 
ist  ihm  redemptor  und  der  in  den  Sacramenten  Thätige  •,  aber  er  ist  ihm  nicht  das 
Unterpfand  der  innerlichen  Heilsgewissheit. 

^  Aber  Augustin  nimmt  verschiedene  Stufen  auch  in  der  definitiven  Seligkeit 
und  Unseligkeit  au.   Das  ist  für  seinen  Moralismus  charakteristisch. 

^  Dorner  S.  124  ff.  '^  Dies  wurde  stets  von  Augustin  zugestanden. 

^'  Beide  Sätze  finden  sich  bei  Augustin ,  dass  der  sündige  Mensch  das  Gute 
nicht  will,  und  dass  er  doch  den  Gütern  nachgeht,  ja  sogar  das  Gute  in  dunklem 
Drange  will,  aber  nie  erreicht. 

®  Die  Zukehr  zum  Nichts  ist  zugleich  immer  ein  falsches  und  in  elender  Er- 
folglosigkeit endigendes  Selbständigkeitsstreben. 

'  Der  Hochmuth  ist  die  Sünde  der  Seele,  die  Concupiscenz  ist  wesentlich 
die  Sünde  des  Leibes,  welcher  die  Seele  beherrscht.  Die  innere  Entfaltung  der  Sünde 
von  der  privatio  (defectus)  boni  zur  ignorantia,  concupisceutia,  error,  dolor,  metus, 
delectatio  morbida  s.  Enchir  23.  Das,  was  Augustiu  an  der  Sünde  stets  am  meisten 
ins  Auge  fasst,  ist  die  Krankheit,  die  AVunde. 


Aucrustin's  Lehre  von  Erbsünde,  Sünde  und  Urständ.  191 

Aussen  erlöst  werden  muss,  bevor  ihm  geholfen  werden  kann^  Der 
Hochmuth  Gott  gegenüber  und  die  Concupiscenz  zeigen,  dass  der 
Mensch  nach  Seele  und  Leib  sündig  ist.  Doch  fällt  der  Nachdruck  auf 
die  Concupiscenz^;  sie  ist  die  Begierde  nach  Unten,  die  sinnliche  Lust, 
die  sich  vor  Allem  in  der  Fleischeslust  zeigt.  Der  selbständige,  sogar 
vom  Willen  unabhängige  motus  genitalium  lehrt,  dass  die  Natur 
verderbt  ist;  sie  ist  nicht  vitium  geworden,  aber  sie  ist  natura  vitiata^. 

'  Das  Werk  des  geschichtlichen  Christus  ist  wesentlich  die  redemptio 
aus  der  Macht  des  Teufels. 

-  Hier  tritt  das  vulgär-katholische,  aber  von  Augustin  noch  gesteigerte  Ele- 
ment ein.  Enchir.  117:  „Regnat  carnalis  cupiditas,  ubi  non  est  dei  Caritas." 

*  Die  höchst  ekelhaften  Ausführungen  über  Ehe  undLust  in  den  Streitschriften 
gegen  Julian  (auch  de  civ.  dei  XTV)  sind,  wie  dieser  richtig  erkannt  hat,  ohne  die 
Erinnerung  an  Augustin's  Manichäismus  (der  übrigens  schon  in  der  Behandlung 
des  „ex  nihilo"  als  wäre  es  eine  böse  Substanz  hervortritt;  der  Neuplatonismus 
allein  erklärt  diese  Auffassung  nicht)  nicht  zu  verstehen.  Auch  sind  sie  keineswegs 
ein  blosses  Aussenwerk  in  dem  System  Augustin's,  sondern  stehen  im  centralen 
Kreise.  An  der  Greschlechtssphäre  ist  ihm  das  Merkwürdigste  gewesen  die  Un- 
willkürlichkeit des  Triebes.  Statt  nun  aber  zu  folgern,  dass  er  eben  dess- 
halb  nicht  Sünde  sein  könne  —  und  so  hatte  er  nach  dem  Satze  „omne  peccatum 
ex  voluntate"  folgern  müssen  — ,  schliesst  er  vielmehr,  dass  es  eine  Sünde  gäbe,  die 
der  natura,  nämlich  der  natura  vitiata,  und  nicht  der  Willenssphäre  angehört.  Er 
kennt  also  eine  in  der  natura,  allerdings  in  der  gewordenen,  wurzelnde  Sünde,  die 
sich  mit  der  Natur  fortpflanzt.  Es  wäre  nun  leicht  zu  beweisen,  dass  er  an  eben 
diese  Sünde,  die  Fortpflanzungslust,  stets  ganz  vornehmlich  denkt,  wenn  er  an  die 
Erbsünde  denkt;  aber  das  Material  hier  anzuführen,  ist  unthunlich.  Deutlich  ist, 
dass  die  Erbsünde  der  Grund  alles  Sündigens  ist,  und  dass  es  sich 
mit  ihr  ganz  anders  verhält,  als  mit  den  actuellen  Sünden,  weil  hier 
die  schlecht  gewordene  Natur  das  ganze  Wesen  inficirt.  Dassdasaber 
eine  unerhörte  Neuerung  in  der  Kirche  ist  und  nur  aus  dem  Manichäismus  erklärt 
werden  kann,  ist  einleuchtend.  Allerdings  will  Augustin  nicht  Manichäer  sein.  Er 
unterscheidet  sehr  scharf  zwischen  vitium  und  natura  vitiata  (de  nupt.  36;  op.  imp. 
III,  188,  etc.  etc.);  er  bemüht  sich,  das  voluntarium  auch  in  die  Erbsünde  zu  bringen 
(Retract.  I,  13,  5);  aber  der  Dualismus  ist  noch  nicht  überwunden,  wenn  man  die 
Natur  „mala"  geworden  sein,  jedoch  sich  als  schlechte  fortpflanzen  lässt,  und  das 
voluntarium  ist  eine  blosse  Behauptung.  In  dem  Satze,  dass  die  Kinder  dosshalb  die 
Erbsünde  haben,  weil  die  Eltern  mit  Lust  gezeugt  haben  —  und  mit  diesem  Satze 
steht  und  fällt  die  Erbsündonlelire  de  nupt.  11,  15  —  liegt  der  Dualismus.  So  wird 
denn  auch  Christus  desshalb  Sündlosigkeit  beigelegt,  weil  er  nicht  aus  einer  Ehe 
stammt  (Euch.  41.  34.),  und  Augustin  coustruirt  paradiesische  Ehen,  in  denen  die 
Kinder  ohne  Lust  gezeugt  oder,  wie  Julian  spottot,  von  den  Bäumen  geschüttelt 
worden  wären.  Alles,  was  er  hier  behauptet,  haben  Marcion  und  die  Gnostiker  längst 
behauptet.  Man  müsstc  in  der  That  auch  ein  sehr  roher  Mensch  sein,  um  das  nicht 
^  ohne  Manichäismus  —  nachompfinden  zu  können.  Allein  dieser  Empfindung  so 
weit  nachziigc  }»on,  wie  Augustin  tliut,  um  dann  doch  die  P]ho  nicht  zu  verworfen,  das 
konnte  nur  in  oirior  TicM  gescliohon,  wo  die  Dootrinen  schon  so  vorwirrt  waren,  wie  im 
5.  Jahrhundert.  Freilich  haben  die  die  Verwirrung  noch  gesteigert,  welche  glaubten. 


192        I^if'  weltgeschichtliche  Stellung  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Daher  pflanzt  sie  Sünde  fort.  Dass  sie  das  tliiit,  bezeugt  der 
Angenscliein,  bezeugt  die  sinnliche  und  desslndb  sündige  Lust  beim 
Zeugungsact,  bezeugt  die  hl.  Schrift  (Rom.  5^  12  f.).  So  ist  die  Mensch- 
heit eine  massa  perditionis  auch  in  dem  Sinne,  dass  sie  in  sich  aus  ver- 
derbter Natur  die  Sünde  fortzeugt.  JJa  aber  die  Seele  höchst  wahr- 
scheinlich nicht  mitgezeugt  wird  (sie  wird  jedesmal  von  Gott  geschaffen)  ', 
so  ist  der  in  Fleischeslust  gezeugte  Leib  ganz  wesentlich  der  Träger  der 
Sünde'-.  Dass  diese  sich  so  forterbt,  ist  Gottes  Anordnung;  denn  die 
Sünde  ist  nicht  immer  nur  Sünde,  sondern  auch  Sündenstrafe  oder 
manchesmal  allein  Sündenstrafe  (peccatum  und  malum  im  Sinne  des 
LJeblen  gehören  zusammen)  ^.  Die  in  der  massa  perditionis  sich  fort- 
erbende Sünde  (peccatum  originis,  traduxpeccati)  ist  Sünde  und  Sünden- 
strafe zugleich.  So  hat  es  der  „ordinator  peceatorum"  geordnet.  Jede 
Begierde  trägt  in  sich  die  Verblendung.  Sündenstrafe  ist  es,  dass  man 
das  Böse,  das  man  nicht  will,  thut.  Jede  Sünde  trägt  in  sich  die  Auf- 
lösung, den  Tod  des  Sünders.  Sie  zerreisst,  zersplittert  ihn,  entleert 
ihn  und  braucht  ihn  auf,  bis  zu  dem  Punkte,  wo  er  nicht  mehr  ist.  So 
herrscht  in  der  massa  perditionis  der  Tod  in  seinen  verschiedenen  Ge- 
stalten bis  zum  ewigen  Tode.  Diese  Menschheit,  welche  unter  der 
traurigen  Nothwendigkeit  des  „non  posse  non  peccare"  steht,  steht 
darum  auch  und  zugleich  unter  der  furchtbaren  Nothwendigkeit  des  „non 
posse  non  mori"  "*.  Nichts  Eigenes  vermag  sie  herauszureissen.  Ihre 
besten  Thaten  sind  sämmtlich  von  der  Wurzel  her  befleckt;  darum  nichts 
Anderes  als  splendida  vitia.   Ihre  jüngsten  Sprossen,  auch  wenn  sie 

die  Lehre  Augustiu's  von  der  Erbsünde  beibehalten,  aber  seine  Lehre  von  der  Concupis- 
cenz  verwerfen  zu  können.  Aber  die  Dogmengeschichte  ist  die  Geschichte  der  sich 
steigernden  Confusionen  und  der  wachsenden  Indifferenz  nicht  nur  gegen  das  Absurde, 
sondern  auch  gegen  die  Widersprüche,  weil  die  Kirche  nur  schwer  im  Stande  ist, 
irgend  etwas  Traditionelles  aufzugeben.  Es  lässt  sich  auch  nicht  sagen,  dass  Augustin 
mit  seiner  Theorie  lediglich  der  mönchischen  Stimmung  einen  Ausdruck  verliehen 
habe  (Hieronymus  ist  freilich  in  der  Verwerfung  der  Ehe  ebenso  weit  vorgeschritten, 
s.  d.  lib.  adv.  Jovin.) ;  denn  diese  ist  eben  Stimmung  und  nicht  Theorie.  Das  be- 
rechtigte Moment  in  Aug-ustin's  Lehre  liegt  in  der  Selbstbeurtheilung  des  Gottes- 
kindes, dass  sein  Zustand  ohne  Gott  unselig  ist,  und  dass  diese Unseligkeit  Schuld 
ist.  Aber  diese  Paradoxie  des  Glaubensurtheils  ist  kein  Schlüssel  zum  Verständniss 
der  Geschichte. 

^  S.  den  Briefwechsel  mit  Hieronymus  über  diesen  niemals  von  Augustiu 
erledigten  Punkt. 

'•*  Damit  ist  der  schöne  Ansatz  (Hochmuth  und  Demuth),  aus  dem  man  freilich 
keine  Geschichtstheorien  bilden  kann,  zerstört. 

*  Ueber  Sünde  und  Sündenstrafe  (die  Erbsünde  ist  beides)  s.  Op.  imp.  I, 
41-47,  aber  schon  in  den  Confessionen  öfters  und  de  pecc.  mer.  II,  36. 

^  Schon  die  Erbsünde  reicht  zur  Verdannuung  völlig  aus,  wie  Augustin  sehr 
oft  behauptet  hat  —  und  mit  Recht,  wenn  es  eine  giebt. 


Augustin's  Lehre  von  Erbsünde,  Sünde  und  Urständ.  193 

nichts  Sündiges  gethan  haben^  müssen  nothwendig  verloren  gehen  *,  denn 
da  sie  das  peccatum  originis  tragen,  d.h.  Gottes  entbehren  und  mit  der 
Coneupiscenz  behaftet  sind,  so  gehen  sie  mit  Recht  in  dieVerdammniss'. 
Dies  bezeugt  auch  die  Kirche,  sofern  sie  die  Neugeborenen  tauft  ^. 

Wie  ist  dieser  Zustand  geworden,  den  doch  Gott  der  Schöpfer 
nicht  geschaffen  haben  kann?  Schrift  und  Kirche  antworten:  durch 
Adams  Fall.  Man  hatte  schon  früher  in  der  Kirche  die  Grösse  dieses 
Falles  geschildert;  aber  Augustin  musste  von  seinem  Standpunkt  aus 
mit  Recht  sagen,  dass  die  Sünde  Adams  und  damit  die  Sünde  über- 
haupt noch  nicht  genügend  erkannt  worden  sei  (doch  hat  die  Kirche, 
wie  ihre  Institutionen  beweisen,  sie  angeblich  richtig  geschätzt ;  aber 
die  Schriftsteller  sind  hinter  der  Schätzung  zurückgeblieben).  Der  Fall 
Adams  ist  unausdenkbar  gross  gewesen  ^.  Indem  er  Gottes  Verbot, 
den  Apfel  zu  essen,  übertrat  in  der  Hoffnung,  wie  Gott  zu  werden, 
drängten  sich  in  seiner  Sünde  alle  denkbaren  Sünden  zusammen,  der 
Abfall  zum  Teufel,  der  Hochmuth  des  Herzens,  der  Neid,  die  sinnliche 
Lust  —  Alles  in  Allem:  die  Selbsthebe,  an  Stelle  der  Gottesliebe*. 
Und  um  so  furchtbarer  war  diese  Sünde,  als  es  Adam  leicht  war,  sich 
von  Sünde  zu  bewahren  ^.   Darum  trat  auch  der  unsäghche  Jammer 


^  „Mitissima  poena"  (Enchir.  103)  —  so  erlaubt  sich  der  Mensch  die  uner- 
forschliche  Gerechtigkeit  Gottes,  die  er  sonst  lehrt,  zu  mildern.  Auf  den  Ein- 
wurf, warum  denn  Gott  immerfort  Menschen  schaffe,  wenn  sie  fast  alle  verloren 
gehen,  erwiederte  er  mit  Hinweis  auf  die  Taufe  und  auf  die  Eigenart  der  All- 
macht Gottes,  auch  aus  Bösem  Gutes  zu  schaffen.  Hätte  er  diese  Allmacht  nicht, 
so  hätte  er  das  Böse  nicht  zulassen  dürfen  (Enchir.  11);  „melius  iudicavit,  de 
malis  bene  facere,  quam  mala  nulla  esse  permittere"  (c.  27.  100).  Warum  aber 
auch  Christenkinder  ungetauft  sterl)en,  dieses  Räthsel  erschütterte  ihn  selbst  (de 
corr.  et  gr.  18).  Alle,  welche  verloren  gehen,  sind  die  iuste  praedestinati  ad  poe- 
nam  (mortem);  s.  Enchir.  100,  de  civ.  XXTT,  24,  Ob  Gott  Alle  verdammt  oder 
Einige  begnadigt  —  nulla  est  iniquitas;  denn  Alle  haben  den  Tod  verdient 
(Enchir.  27).  „Tenebatur  iusta  damnatione  genus  humanum  et  omnes  erant  irae 
filii"  (c.  33).  Hier  taucht  dann  in  den  späteren  Schriften  die  Lehre  von  dem 
do])pelten  Willen  (iudicium)  Gottes  auf,  dem  verborgenen  und  dem  offenbaren. 
Gott  will  nicht,  dass  Alle  selig  werden  (Ench.  103). 

'^  Sehr  unrichtig  war  es,  Augustin's  ganze  Conception  der  Erbsünde  aus  der  Praxis 
derKindertaufe  abzuleiten.  Als  Beweisinstrument  war  sie  ihm  allerdings  sehr  wichtig. 

'  Die  Schilderung  der  Grösse  des  Falls  Adams  in  den  meisten  antipelagia- 
nischen  Schriften,  aljcr  auch  sonst. 

*  Beim  Fall  Adams  rückt  Augustin  die  Sünde  der  Seele  in  den  Vorder- 
grund: „in  paradiso  ab  animo  coepit  elatio",  c.  Jul.  V,  17.  Der  „amor  sui**  als 
Hau[)t-  und  Wurzclsünde  schon  in  den  Confessioncn;  Enchir.  45  giel)t  eine  genaue 
Auf/.ähliing  aller  Sünden,  die  Adam  auf  einmal  beging. 

^'  Er  war  nämlich  nicht  nur  gut  gescliaircn,  sondern  die  Gnade  stand  ihm  au(;li 
als  adiutoriuin  bei;  s.  unten. 

Harnack,  Do^^niengeschiflitf!  III.  %> 


194        r)ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustinus  als  Lehrer  der  Kirche. 

ein,  nämlich  mit  und  in  der  Sünde  die  sich  im  Tode  auswirkende 
Siindenstrafe.  Adam  verlor  den  Besitz  Gottes  K  Daraus  folgte  die 
Entleerung  (defectio  honi),  die  sich  als  Tod  der  Seele  darstellt; 
denn  diese  ist  ohne  Gott  todt  (geistlicher  Tod)  ^.  Die  todte  Seele 
wird  nun  nach  Unten  gezogen,  sucht  ihre  Güter  in  dem  Veränder- 
lichen und  Vergänglichen  und  ist  nun  nicht  mehr  im  Stande,  dem 
Leihe  zu  gehieten.  Dieser  machte  sich  nun  mit  allen  seinen  geilen 
Trieben  geltend,  und  so  verdarb  die  ganze  menschliche  Na- 
tur^. An  der  Zeugungshist,  deren  Sündhaftigkeit  der  Zwang  und 
die  Scham  bezeugen,  ist  das  Verderben  ofl'enbar,  und  dieses  muss 
sich  nun  forterben ,  da  der  Heerd  der  Natur  verstört  ist  ^.  Zwar 
bleibt  sie  noch  immer  erlösungsfähig  —  sie  wird  keine  mala  sub- 
stantia  — ,  aber  sie  ist  doch  so  verderbt,  dass  selbst  die  Gnade  nur 
den  reatus  der  Erbsünde  tilgen  kann,  nicht  aber  die  Concupiscenz 
selbst  in  den  Erwählten  völlig  zu  tilgen  vermag,  wie  die  bleibende 
böse  Geschlechtslust  beweist.  Diese  Vererbung  der  Sünde  und  des 
Todes  Adams  ist  aber  nicht  nur  eine  Thatsache,  sondern  sie  ist  auch 
gerecht,  weil  die  Schrift  sagt,  dass  wir  Alle  in  Adam  gesündigt  haben ^, 

^  Die  ihn  tragende  Gnade  (adiutorium). 

'^  An  diesen  Tod  denkt  Augustin  überall  zuerst.  Das  haben  die  Pelagianer 
utiliter  acceptirt,  da  sie  den  natürlichen  Tod  für  natürlich  hielten.  Dass  durch 
Adams  Sünde  die  formale  Freiheit  verloren  gegangen  sei,  hat  Augustin  nie  behauj)- 
tet,  ja  c.  duas  epp.  Pelag.  T,  5  bestimmt  in  Abrede  gestellt:  „libertas  periit,  sed  illa, 
quae  in  paradiso  fuit,  non  liberum  arbitrium".  Aber  Augustin  hat  das  letztere  als 
hoffnungslos  belastet  vorgestellt.  S.  auch  die  Schrift  de  gratia  et  lib.  arb.  Hier 
heisst  es  c,45:  „deus  induravit  per  iustum  iudicium,  et  ipse  Pharao  per  liberum  ar- 
bitrium." Aber  (Enchir.  105):  „Multo  liberius  erit  arbitrium,  quod  omnino  non 
poterit  servire  peccato." 

^  So  erscheint  doch  die  Sinnlichkeit  als  der  Hauptschade. 

*  Enchir.  26:  „Hinc  post  peccatum  exul  efifectus  stirpem  quoque  suam,  quam 
peccando  in  se  tamquam  in  radice  vitiaverat,  poena  mortis  et  damnationis  obstrinxit, 
ut  quidquid  prolis  ex  illo  et  simul  damnata  per  quam  peccaverat  coniuge  per  carna- 
lem  concupiscentiam,  in  qua  inobedientiae  poena  similis  [sofern  das  Fleisch  hier  nicht 
dem  Willen  gehorsam  ist,  sondern  selbst  agirt]  retributa  est,  nasceretur,  traheret 
originale  peccatum,  quo  traheretur  per  errores  doloresque  diversos  ad  illud  extre- 
mum  supplicium." 

^  Augustin's  Auslegung  des  s'f  a>  de  pecc.  mer.  I,  11;  c.  Jul.  VI,  75  sq.;  op, 
imp.  II,  48 — 55  (gegen  die  blosse  imitatio).  Die  Auslegung  =  „in  quo"  ist  dem 
Augustin  überliefert  gewesen,  und  überhaupt  kommt  seine  Erbsündenlehre  der 
Ueberlieferung  hier  am  nächsten.  Hätte  er  sich  mit  der  mystischen,  d.  h.  postulirten 
Vorstellung  begnügt,  Alle  seien  Sünder,  weil  sie  irgendwie  Alle  in  Adam  waren, 
so  wäre  seine  Theorie  keine  Neuerung.  Allein  dieses  „in  quo"  schliesst  die  Erbsünde 
im  strengen  Sinn  nicht  ein,  sondern  aus:  Alle  sind  persönlich  Sünder,  weil  sie 
Alle  in  Adam  waren  oder  jener  Adam  waren.  Die  Vorstellung,  dass  die  Sünde  Adams 
als  wirkliche  Sünde  und  doch  wie  ein  Contagium  zu  Allen  (durch  Vennittelung 


Augustinus  Lehre  von  Erbsünde,  Sünde  und' Urständ.  195 

weil  Alle  aus  sündhafter  Lust  ihr  Leben  gezogen  haben  ^  und  weil  — 
Gott  gerecht  ist. 

Der  Fall  Adams  setzt  voraus,  dass  er  vorher  in  guter  Verfassung 
gewesen  ist.  Das  lehrt  auch  die  Schrift,  und  es  folgt  ebenso  aus  der 
Gewissheit,  dass  Gott  Schöpfer  aller  Dinge  und  aller  Dinge  guter 
Schöpfer  ist^.  War  Adam  gut  geschaffen,  so  besass  er  nicht  nur  Alles, 
was  eine  vernünftige  Creatur  bedarf  (Leib  und  Seele,  das  entsprechende 
Verhältniss  zwischen  beiden  als  Diener  und  Herr,  die  Vernunft,  den 
freien  Willen),  sondern  er  besass  vor  Allem  die  ihn  stets  tragende 
und  erhaltende  gratia,  das  adiutorium,  d.h.  das  Band  mit  dem 
lebendigen  Gott;  denn  es  giebt  ja  im  Guten  keine  Selbständigkeit  neben 
Gott,  sondern  nur  in  voller  Abhängigkeit  von  Gott.  Adam  hatte  also 
nicht  bloss  einen  freien  Willen,  sondern  dieser  Wille  war  nach 
der  Seite  Gottes  bestimmt-'^.  Eben  desshalb  war  er  frei  (in  Gott); 
aber  er  war  doch  auch  frei  (fähig),  das  Böse  zu  woUen;  denn  das 
Böse  stammt  aus  der  Freiheit.  Hätte  Adam  nicht  einen  freien 
Willen  gehabt,  so  hätte  er  nicht  sündigen  können  ;  aber  er  wäre  dann 
keine  vernünftige  Creatur  gewesen.  So  besass  er  das  „posse  non 
peccare"  (posse  non  mori,  posse  non  deserere  bonum),  welches  aber 
durch  das  adiutorium  auf  das  „non  posse  peccare"  so  gerichtet  war,  dass 
es  Adam  leicht  gewesen  wäre,  es  zu  erreichen  ^.  Hätte  er  es  vermöge 


der  Eltern,  die  ihre  Kinder  anstecken,  Enchir.  46;  Zweifel  über  den  Umfang  der 
Vererbung  47)  gekommen  ist,  ist  der  volle  Gegensatz  zu  jener  mystischen  Vor- 
stellung. 

1  S.  oben  S.  191  f. 

'^  Ueber  die  Lehre  vom  Urständ  s.  Dorn  er  S.  114  ff. 

'  Beides  wird  für  den  Urständ  von  Augustin  sehr  streng  betont,  die  formale 
Freiheit  und  die  wahre  Freiheit,  welche  die  obedientia  Adae  begründete  als 
mater  omnium  virtutum ;  de  civ.  XIV,  12 ;  de  bono  coniug.  32.  Ueber  den  Urständ 
1.  c.  XI— XTV;  de  corrept.  28—33. 

*  Die  „Leichtigkeit"  stark  betont  de  civ.  XIV,  12 — 15.  Die  ganze  Lehre  vom 
Urständ  ist,  wie  alle  Lehren  über  dieses  Capitel,  widerspruchsvoll;  denn  hier  ist 
eine  gratia  vorhanden,  die  wirklich  sein  soll  und  doch  nur  eine  Bedingung  ist, 
d.  h.  keineswegs  gut  macht,  sondern  dem  Willen  Spielraum  lässt.  Damit  ist  die 
ganze  Gnadenlehre  umgeworfen;  denn  wenn  es  überhaupt  eine  Gnade  giebt,  die  nur 
das  posse  non  peccare  wirkt,  hat  dann  nicht  alle  Gnade  nur  diese  Bedeutung,  und 
wenn  das  richtig  ist,  haben  dann  nicht  die  Pelagianer  Recht?  Sic  behaupteten  ja, 
dass  die  Gnade  nur  eine  Bedingung  sei!  Augustinus  Lehre  von  der  gratia 
im  Urständ  (dem  adiutorium )  ist  pelagianisch  und  widerspricht  seiner 
({nadenlehre  sonst.  Hier  liegt  der  deutlichste  Beweis  vor,  dass  man  vom  Stand- 
punkt der  prädostinatianischen  Gnade  keine  Geschi(;hte  (;onstruiren  kann.  Augustiii 
behilft,  sieh  mit  der  Annahme,  Gott  habe  dem  Mensehen  noch  ein  höheres  Gut,  als 
er  Anfangs  erlialtrai  hatte,  zuwenden  wollen.  Enchir.  25.  105:  „Sic  enim  oportebat 
prius  hominem  fieri,  ut  et  bene  velle  posset  et  male,  nee  gratis  si  bene,  nee  impune, 

13* 


19f)        Die  weltgeschichtliche  Stelking  Augustin's  ala  Lehrer  der  Kirche. 

des  liberum  arbitrium  erreicbt,  so  hätte  er  für  das  meritum  dieses  Aus- 
harrens die  Fülle  der  Seligkeit  erhalten,  wäre  ohne  zu  sterben  im 
T^iradiese  geblieben  und  hätte  ohne  sündliche  Lust  Kinder  gezeugt. 
Man  erkennt,  dass  der  Urständ  nach  dem  Gnadenstand  der  Gegenwart 
gezeichnet  werden  soll;  aber  ein  wichtiger  Unterschied  waltet  insofern 
ob,  als  hier  das  adiutorium  nur  die  Bedingung  gewesen  ist,  damit 
Adam  den  freien  Willen  beharrlich  zum  Guten  brauchen  konnte,  wäh- 
rend es  hier  die  Kraft  ist,  welche  als  irresistibihs  den  gefallenen 
Menschen  zur  Vollendung  führt. 


Die  zeitgenössische  Kritik  an  diesem  Systeme  mag  hier  kurz  zusammengestellt 
werden :  Augustin  widerspreche  sich,  da  er  behaupte,  alles  Vermögen  zum  Guten 
sei  verloren  gegangen,  und  doch  zugestehe,  dass  die  Wahlfreiheit  —  das  Entschei- 
dende —  geblieben  sei ;  sein  Freiheitsbegriff  hebe  sich  selber  auf,  da  er  die  Freiheit 
als  bleibende  Abhängigkeit  von  Gott  definire;  sein  Begriff  der  Erbsünde  sei  wider- 
spruchsvoll, da  er  selbst  zugebe,  dass  Sünde  immer  aus  dem  Wülen  stamme;  er 
müsse  nothwendig  den  Traducianismus  lehren ,  dieser  aber  sei  Häresie ;  seine 
Schriftexegese  sei  willkürlich.  Im  Speciellen:  Gott  fördere  die  Sünden,  wenn  er 
Sünde  mit  Sünde  straft  und  die  Herrschaft  der  Sünde  verliänge ;  er  sei  ungerecht, 
wenn  er  fremde  Sünde  den  Menschen  imputire,  eigene  Sünde  ihnen  vergebe;  ferner 
wenn  er  nach  Belieben  die  Einen  annimmt,  die  Anderen  nicht;  diese  Behauptung 
führe  zur  Verzweiflung ;  vor  Allem  aber  führe  die  Erbsündenlehre  zum  manichäi- 
schen  Dualismus,  den  Augustin  nie  überwunden  habe,  sei  also  ein  impium  et  stultum 
dogma;  denn  Augustin  möge  sich  wenden,  wie  er  wolle,  er  bejahe  doch  eine 
schlechte  Natur  und  damit  einen  teuflischen  Weltschöpfer;  zu  derselben 
Annahme  führe  seine  Lehre  von  der  Concupiscenz;  ausserdem  entwerthe  er  das 
herrliche  Geschenk  der  menschlichen  Freiheit,  aber  auch  die  göttliche  Gnade  in 


si  male;  postea  vero  sie  erit,  ut  male  velle  non  possit,  nee  ideo  libero  carebit  ar- 
bitrio  . . .  ordo  praetermittendus  non  fuit,  in  quo  deus  ostendere  voluit,  quam  bonum 
sit  animal  rationale  quod  etiam  non  peccare  possit,  quamvis  sit  melius  quod  peccare 
non  possit."  Aber  wie  reimt  sich  das  mit  der  gratia  irresistibihs  ?  Mit  Recht  taucht 
daher  die  Frage  (de  corrept.  et  gratia)  auf:  „Quomodo  Adam  non  perseverando  pec- 
cavit,  qui  perseverantiam  non  accepit?"  Ist  nicht  die  ganze  Gnadenlehre  verstört, 
wenn  man  lesen  muss  (Enchir.  106) :  „Minorem  immortalitatem  (i.  e.  posse  non 
mori)  natura  humana  perdidit  per  liberum  arbitrium,  maiorem  (i.  e.  non  posse  mori) 
est  acceptura  per  gratiam,  quam  fuerat,  si  non  peccasset,  acceptura  per  meritum, 
quamvis  sine  gratia  nee  tunc  uUum  meritum  esse  potuisset."  Also  ist  am  Anfang 
und  am  Ende  (Urständ  und  Gericht)  die  moralistische  Betrachtung  der  religiösen 
übergeordnet.  Die  ganze  Lehre  von  der  prädestinatianischeu,  irresistiblen  Gnade 
ist  in  einen  mit  ihr  unverträglichen  Rahmen  eingespannt.  Somit  hat  es  Augustin 
selbst  zu  verantworten,  wenn  seine  Kirche  in  der  Folgezeit,  vom  Urständ  aus  und 
vom  Gericht  (secundum  merita)  argumentirend,  seine  Lehre  von  der  gratia  gratis 
data  factisch  eliminirt  hat.  Hat  er  doch  selbst  gesagt  (107) :  „ipsa  vita  aeterna  mer- 
ces  est  operum  bonorum."  Das  wäre  es  für  Adam  gewesen  und  ist  es  auch  für  uns. 
Die  infralapsarisch  e  Prädestinationslehre,  wie  Augustin  sie  fasste,  ist  von  der 
Calvin's  sehr  verschieden. 


Beurtheilung  des  Augustinismus.  •  197 

Christo,  sofern  nach  ihm  die  Erbsünde  nie  ganz  getilgt  werde.  Endlich  höbe  seine 
Lehre  von  der  Alleinwirksamkeit  der  Gnade  und  von  der  Prädestination  nicht  nur 
die  Askese  und  die  Verdienstlichkeit  guter  Werke,  sondern  auch  alles  menschliche 
Thun  überhaupt  auf;  es  werde  nun  unnütz,  zu  ermahnen,  Fürbitte  zu  thun,  die 
Sündigenden  zu  tadeln  u.  s.  w.  Schliesslich  schien  auch  das  aufgehoben,  was 
Augustin  im  donatistischen  Kampf  so  energisch  betont  hatte  —  der  Zusammenhang 
mit  der  Kirche. 

In  diesen  Bemerkungen  liegt  Wahres  und  Falsches  nebeneinander.  Vielleicht 
werden  folgende  Erwägungen  zutreffender  sein:  1)  Die  Unmöglichkeit,  vom  Stand- 
punkt der  gratia  gratis  data  aus  das  Geschick  der  Gesammtheit  und  aller  einzelnen 
Menschen  festzustellen,  zeigt  sich  an  der  These  der  Verdammung  der  ungetauft 
sterbenden  Kinder.  Hier  tritt  Augustin  dem  Gedanken  der  Gerechtigkeit  Gottes 
zu  nah.  Aber  dieser  Gedanke  muss  überhaupt  werthlos  werden,  wenn  die  prädesti- 
natianische  gratia  irresistibilis  Alles  beherrscht.  Damit  erleidet  die  Frömmigkeit 
eine  schwere  Einbusse.  2)  Die  Durchführung  des  Gedankens  der  prädestinatia- 
nischen  Gnade,  die  doch  nur  eine  Stimmung  des  Erlösten  für  seine  Person  sein 
darf,  führt  zu  einem  Determinismus,  der  mit  dem  Evangelium  streitet  und  die 
Kräftigkeit  des  Freiheitsgefühls  bedroht.  Dazu  :  die  Annahme  der  gratia  irresisti- 
bilis liegt  über  aller  Erfahrung,  auch  über  der  Erfahrung  des  Gläubigen,  und  die 
Lehre  vom  doppelten  Willen  Gottes  (s.  de  grat.  et  lib.  arb.  45)  macht  Alles  am 
Glauben  unsicher.  3)  Dass  die  Gnade  gratia  per  Christum  sei,  hat  Augustin  keines- 
wegs so  sicher  festgehalten,  wie  dass  sie  aus  dem  verborgenen  Wirken  Gottes 
stamme.  Das  neuplatonisch-akosmistische  Element  in  der  Prädostinationslehre  be- 
droht nicht  nur  die  Wirksamkeit  des  Worts  und  Sacraments  (der  vocatio  und  iusti- 
ficatio),  sondern  auch  die  Erlösung  durch  Christus  überhaupt.  4)  Der  religiöse  An- 
satz im  System,  dass  das  Entscheidende  das  adhaerere  deo,  resp.  non  adhaerere  deo 
ist,  erhält  im  Fortgang  eine  Wendung,  nach  welcher  vielmehr  der  sittliche  Habitus 
das  Entscheidende  ist  (der  Wille  —  freilich  der  befreite  —  ist  eine  causa  efficiens 
der  Gerechtigkeit).  Damit  ist  die  Bedeutung  der  Sündenvergebung,  des  neuen 
Grundverhältnisses  zu  Gott  und  der  Glaubensgewissheit  verkannt.  Jene  wird  zu 
einem  Initiationsact,  das  Verhältniss  wird  ein  Vorläufiges,  und  die  Glaubensgewiss- 
heit, die  auch  nach  der  Prädestinationslehre  nicht  aufkommen  darf,  geht  in  der 
Vorstellung  eines  im  Diesseits  nie  oder  fast  nie  vollendeten  Sanctificationsprocesses 
unter,  dem  im  Jenseits  verschiedene  Grade  der  Seligkeit  entsprechen,  wie  auch  die 
Verdammung  verschiedene  Grade  hat  —  welch'  ein  Beweis  des  Moralismus  *.  Zwi- 
schen der  These  der  alten  (griechischen)  Kirclie :  „Wo  Gotteserkenntniss  ist,  da 
kommt  auch  Leben  und  Seligkeit",  und  dem  Luther'schen  Satz:  „Wo  Vergebung 
der  Sünden  ist,  da  ist  auch  Leben  undSchgkcit",  steht  Augustinus  Satz:  „Wo  Liebe 
ist,  da  folgt  auch  eine  dem  Masse  der  Liebe  entsprechende  Seligkeit."  Augustin 
hat  die  Gleichung  remissio  peccatorum  =^  gratia  per  Christum  überlegt  und  aus- 
drücklich abgewiesen.  Aus  dieser  \\'cndung  erklärt  sich  auch  die  Behauptung,  dass 
Gott  am  Ende  unsere  Vordienste  kröne,  eine  Annahme,  die  mit  der  prädestinatia- 
nischen  Gnade  streitet  und  einer  feinen  Werkgerechtigkeit  dieThore  öffnete  5)  Der 


*  Enchir.  93:  „Tanto  quisque  tolerabiliorem  ibi  habebit  damnationcm, 
quanto  hie  minorem  habuit  iniquitatcm!"    Auch  IIL 

'^  Augustiu  hat  im  Gegensatz  zum  Pelagianismus  den  Unterschied  von  Gesetz 
und  Glauben  ans  Licht  zu  stellen  versucht :  „fidcs  impetrat,  (juod  lex  imperat."  Es 
ist  ihm  das  auch  so  weit  gelungen,  als  dieser  Unterschied  vom  Begriff  der  gratia  als 


1  98        r^it'  weltgeBchichtlicht!  Stellung  Au^ustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

ueuplatuuischeCiottesbegrifl"  und  die  mönchische  Stimmung  fordern,  dass  alle  Liebe 
sich  zugleich  als  Askese  darstelle.  Damit  entfernt  sich  die  Liebe  von  dem  Glauben 
(als  fiducia)  noch  mehr,  bedroht  dessen  Souveräuetät  und  lässt  allen  vulgär-katholi- 
schen Cxedanken  freien  Spielraum.  6)  Die  Vorstellung  vom  Falle  Adams  und  von 
der  Erbsünde  —  im  Systeme  nothwendig  —  enthalt  (von  der  Mythologie,  die  hier 
au  die  Stelle  der  Geschichte  tritt,  abgesehen)  einen  Knäuel  von  Widersprüchen  und 
höchst  bedenklichen  Gedanken.  Letztere  hat  auch  Augustin  erkannt  und  sich  gegen 
sie  wehren  wollen,  was  ihm  aber  nicht  gelungen  ist.  Geradezu  mauichäisch  ist  die 
Vorstellung,  dass  der  Mensch  desshalb  sündige,  weil  er  ex  nihilo  geschaffen  sei, 
sofern  das  nihil  hier  wie  ein  böses  Princip  behandelt  wird  (auch  die  neuplatonische 
Doctriu  sieht  im  nihil  den  Grund  der  Sünde ;  aber  Sünde  ist  ihr  nur  Endlichkeit. 
Augustin  dachte  über  sie  tiefer,  musste  aber  in  dem  Masse  auch  das  nihil  „böser"  fassen, 
d.  h.  es  in  die  mauichäische  böse  Substanz  hinüberspieleu);  manichäisch  ist  auch 
die  Meinung,  dass  die  Zeugungslust  Sünde  sei,  und  dass  die  Erbsünde  sich  eben  aus 
der  Zeugung  als  Fortpflanzung  einer  natura  vitiata  erkläre  '.  Einen  totalen  Wider- 
spruch enthalten  die  Thesen,  dass  alle  Sünde  aus  der  Freiheit  (dem  Willen)  stamme, 


der  Alleinwirksamkeit  Gottes  aus  entwickelt  werden  kann.  Da  ihm  aber  die  strenge 
und  ausschliessliche  Zusammengehörigkeit  von  gratia  und  fides  nicht  aufgegangen 
ist,  so  ist  es  ihm  nicht  gelungen,  den  Unterschied  von  fides  und  lex  bis  zum  Ende 
durchzudenken  und  festzuhalten.  Dass  das  Gesetz  Zorn  und  Verzweiflung  anrichtet, 
hat  er  nicht  sicher  erfahren.  Hier  setzte  Luther  ein. 

^  Es  ist  vielleicht  die  schlimmste,  jedenfalls  die  hägslichste  Folge  des  Augusti- 
uismus,  dass  die  christliche  Religion  im  Katliolicismus  in  eine  besonders  innige  Be- 
ziehung zur  Geschlechtssphäre  gesetzt  ist.  Die  Combination  von  Gnade  und  Sünde 
(wobei  die  letztere  vornehmlich  als  Erbsünde  bezw.  als  Geschlechtstrieb  mit  seinen 
Ausschweifungen  erscheint)  wurde  der  Rechtstitel  für  jene  greuliche  und  ekelhafte 
Durchstöberung  des  menschlichen  Schmutzes,  welche,  wie  die  Moralbücher  des 
Katliolicismus  beweisen,  ein  Hauptgeschäft  des  Beichte  hörenden  Priesters  ist  — 
und  zwar  des  ehelosen  Priesters  und  Mönches!  Die  Dogmatiken  des  Mittelalters 
und  der  Neuzeit  geben  unter  dem  Titel  „Sünde"  ein  ganz  blasses  Bild  von  dem, 
was  eigentlich  für  „die  Sünde"  erachtet  wird  und  womit  sich  die  Phantasie  der  ge- 
meinen Christen,  der  Priester  und  leider  auch  vieler  „Heiliger"  unablässig  beschäftigt. 
Man  muss  die  Beichtspiegel,  die  Moralbücher,  die  Heiligeulegenden  studiren  und 
das  verborgene  Leben  belauschen,  um  zu  erkennen,  auf  welchen  Punkt  im  Katholicis- 
mus  vornehmlich  die  Tröstung  der  Religion  bezogen  wird.  Wahrlich,  hier  ist  die 
hochgerühmte  pädagogische  Weisheit  dieser  Kirche  traurig  gescheitert!  Sie  will  die 
Sünde  auch  hier  bekämpfen;  aber  statt  die  Phantasie  zur  Ruhe  zu  bringen,  die  an 
ihr  besonders  betheiligt  ist,  regt  sie  dieselbe  immerfort  aufs  tiefste  auf,  zerrt  ohne 
Scham  in  ihren  Mariendogmen  u.  s.  w.  das  Verborgenste  ans  Licht  und  erlaubt  sich, 
über  Dinge  öffentlich  zu  reden,  über  die  sonst  Niemand  zu  sprechen  wagt.  Der 
antike  Naturalismus  ist  weniger  gefährlich ,  jedenfalls  für  Tausende  weniger  ver- 
giftend als  diese  seraphische  Contemplation  der  Virginität  und  diese  stete  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Geschlechtssphäre.  Hier  hat  Augustiu  die  Theorie  geliefert  und 
Hieronymus  die  Musik.  Aber  wie  weit  reichen  die  Anlange  zurück!  Schon  Tertulliau 
hat  de  pudic.  17  die  verhängnissvollen  Worte  geschrieben:  „quid  intelligimus  carais 
sensum  et  carnis  vitam  nisi  quodcunque  pudet  pronuntiare?"  Aber  die  Späteren 
schämten  sich  nicht,  das  breit  auszusprechen,  was  der  nicht  prüde  Afrikaner  nur 
angedeutet  hat. 


Beurtheilung  des  Augustinismus.  •  1 99 

und  dass  doch  der  Zustand  der  eben  geborenen  Kinder  sündig  sei.  Höchst  bedenk- 
lich ist,  dass  bei  der  genaueren  Fassung  der  Sünde  die  Concupiscenz  dem  non  ad- 
haerere  deo  factisch  übergeordnet  erscheint,  was  freilich  auch  aus  der  Unsicherheit 
über  den  Traducianismus  sich  ergab.  Bedenklich  ist  auch,  dass  factisch  die  ererbte 
Sünde  schwerer  erscheint  als  die  Thatsünde;  denn  jene  kann  nur  durch  die  Taufe 
abgewaschen  werden,  diese  durch  die  Busse.  Die  ganze  Lehrfassung  an  diesem 
Punkte  zeigt,  dass  die  Gewissheit  des  Erlösten,  dass  er  ohne  Gott  unselig  und  zu 
keinem  guten  Werk  geschickt  sei,  eine  Selbstl)eurtheilung  des  Glaubens  ist,  die  eine 
Grenze  darstellt,  niemals  aber  ein  Princip  der  Betrachtung  der  Geschichte  der 
Menschheit  werden  kann.  An  diesem  Punkte  war,  eben  weil  die  AVidcr- 
sprüche  so  ungeheure  wurden,  die  Entwickelung  derDogmatik  bei 
Augustin  nahe  daran,  den  colossalen  Sto  ff,  in  den  sie  sich  verwirrt 
hatte,  abzuwerfen  und  sich  von  der  Welt-  und  Geschichtserklärung 
zurückzuziehen;  ab  er  wie  Augustin  auf  ihn  nicht  verzichten  wo  11  te^ 
so  will  man  ihn  auch  heute  noch  nicht  fahren  lassen,  weil  man  meint, 
dass  die  Bibel  ihn  schütze,  und  weil  man  die  Demuth  des  Glaubens,  die  sich  im  Ver- 
zicht zeigt,  Gottes  Weltregierung  an  der  Geschichte  zu  controliren,  nicht  lernen 
will.  7)  Abgesehen  von  der  Erbsünde  ist  aber  Augustin's  Sündenbegriff  auch  dess- 
halb  bedenklich,  weil  er  mindestens  ebenso  stark  an  dem  Gedanken  Gottes  als  des 
summum  und  verum  esse  gebildet  ist,  wie  an  dem  Gedanken  des  bonum  esse.  Ob- 
gleich der  Schuld  Charakter  nicht  ganz  verkannt  ist,  so  tritt  der  Gedanke  des 
Jammers  der  verwüstenden,  hässlichen  Sünde  in  den  Vordergrund.  Von  hier  aus 
erklärt  es  sich,  warum  Augustin,  den  rechtfertigenden  Glauben  überspringend,  in 
der  Caritas  infusa  das  höchste  Gut  erkannte.  8)  Endlich  ist  die  Lehre  vom  Urständ 
desshalb  mit  einem  Widerspruch  behaftet,  weil  Augustin  nicht  vermeiden  konnte, 
der  gratia  dort  eine  andere  Bedeutung  zu  geben  als  bei  dem  Rechtfertigungspro- 
cess  der  Erlösten.  Letztlich  ist  doch  die  Gnade  nach  ihm  nichts  Anderes  als  die 
gratia  irresistibilis  (alles  Andere  ist  Schein);  aber  diese  hat  Adam  nicht  besessen, 
obgleich  er  die  Gnade  besass.  —  Allein  alle  diese  schweren  Anstössc  können  die 
Grösse  der  Erkenntniss  nicht  verdunkeln,  dass  Gott  in  uns  AVollen  und  Vollbringen 
wirkt,  dass  wir  nichts  haben,  was  wir  nicht  empfangen  haben,  und  dass  Gott-An- 
hangen  gut  und  unser  Gut  ist.  Auch  ist  es  unschwer  zu  zeigen,  dass  in  jeder  ein- 
zelnen bedenklichen  Formulirung  Augustin's  ein  richtiges  Moment  der  Selbst- 
beurtheilung  des  Christen  steckt,  welches  nur  desshalb  fehlerhaft  ist,  weil  es  in 
die  Geschichte  projicirt  oder  zum  Fundament  der  Construction  einer  „Geschichte" 
gemacht  ist.  Ist  nicht  die  Prädestinationslehre  ein  Ausdruck  des  Bekenntnisses : 
Wer  sich  rühmen  will,  der  rühme  sich  des  Herrn?  liegt  nicht  der  Lehre  von  der 
Erbsünde  der  Gedanke  zu  Grunde,  dass  hinter  allen  einzelnen  Sünden  die  Sünde 
als  Mangel  der  Liebe,  der  Freude  und  des  Friedens  Gottes  ruht?  Ist  sie  nicht  ein 
Ausdruck  für  die  richtige  Beobachtung,  dass  wir  uns  für  alles  Böse  schuldig 
fühlen,  auch  dort,  wo  uns  gezeigt  wird,  dass  wir  keine  Schuld  haben? 


*  Doch  hat  man  dabei  wohl  zu  beachten,  dass  kein  anderer  Kirchenvater  die 
Grenzen  des  Wissens  so  sehr  empfunden  hat  wie  er.  Fast  in  allen  seinen  Schriften 
—  ein  Erbtheil  der  Akademie  und  eine  Folge  seines  auf  die  Hauptsache  gerichteten 
Sinnes -— crmahnt  er  zur  Enthaltung  gegenüber  einem  vorwitzigen,  ins  Leere  gehen- 
den Wissen -Wollen.  Er  hat  doch  8(!hr  viele  Probleme,  die  früher  behandelt  worden 
sind  und  nachmals  wieder  behandelt  wurden,  als  unlösbar  abgewiesen,  und  die  Cou- 
ceutration  der  Glaubenslehre  auf  ihren  eigenen  StoiV  vorbereitet. 


200        I>ie  weltj^escliichtliche  StoUuntJf  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

4.  Augustinus  Erklärung  des  Symbols  (Enchiridion  ad  Laurentium). 

Die  neue  Religionslehre. 

Nach  dem  oben  S.  92  f.  Ausgeführten  wird  es  der  beste  Abschluss 
der  Darstellung  Augustinus  innerhalb  der  Dogmengeschichte  sein,  wenn 
wir  seine  im  Enchiridion  gegebenen  Ausführungen  des  Inhalts  der 
katholischen  Religion  überschauen.  Alles  verehiigt  sich  an  diesem 
Buche,  um  uns  darüber  zu  belehren,  worin  die  Umstimmung  (und  an- 
dererseits die  Verstärkung)  der  vulgär-katholischen  dogmatischen  Lehre 
durch  Augustin  bestand,  welche  der  abendländisclien  Kirche  ein  neues 
C7ei)räge  verliehen  hat.  AVir  werden  dabei  so  verfahren,  dass  wir  zu- 
erst eine  genaue  Analyse  des  Buchs  geben,  sodann  systematisch  das  zu- 
sammenstellen, was  neu  und  zugleich  dauerhaft  gewesen  ist. 

„Hominis  sapientia  pietas  est"  oder  genauer  „O-soasßeia'^  —  so  be- 
ginnt Augustin  (2).  Auf  die  Frage,  wie  Gott  zu  verehren  sei,  ist  zu 
antworten,  durch  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe.  Man  hat  also  festzu- 
stellen, was  zu  jedem  dieser  drei  Stücke  gehört  (3).  Die  ganze  Re- 
ligionslehre fasst  sich  in  ihnen  zusammen.  Sie  können  aber  nicht  aus 
der  Vernunft  oder  der  Wahrnehmung  festgestellt,  sondern  müssen  der 
hl.  Schrift  entnommen  und  unbezweifelt  auf  das  Zeugniss  der  hl.  Schrift- 
steller hin  geglaubt  werden  (4).  Ist  die  Seele  zu  diesem  Glauben 
gelangt,  so  wird  sie,  wenn  er  in  der  Liebe  thätig  ist,  streben  zu  jenem 
Schauen  zu  kommen,  wo  die  heiHgen  und  vollendeten  Seelen  die  un- 
sagbare Schönheit  erkennen,  deren  vollkommene  Anschauung  die 
höchste  SeHgkeit  ist.  „Der  Anfang  im  Glauben,  die  Vollendung  im 
Schauen,  das  Fundament  Christus."  Christus  ist  aber  nur  Fundament 
des  katholischen  Glaubens,  obgleich  sich  auch  die  Häretiker  nach  ihm 
nennen.  Der  Beweis  für  dieses  ausschliessliche  Verhältniss  von  Christus 
und  der  katholischen  Kirche  würde  hier  zu  weit  führen  (5).  Hier  soll 
nicht  polemisii't,  sondern  dargelegt  werden  (6).  Das  Symbol  und  das 
Gebet  des  Herrn  sind  der  Inhalt  des  Glaubens  (Symbol)  und  der 
Hofinung  und  Liebe  (Gebet);  aber  auch  der  Glaube  betet  (7).  Der 
Glaube  bezieht  sich  auch  auf  Dinge,  die  man  nicht  hofft,  sondern 
fürchtet,  ferner  auf  eigene  und  fremde  Dinge.  Sofern  er  sich  (wie  die 
Hoffnung)  auf  unsichtbare,  künftige  Güter  bezieht,  ist  er  selbst  die 
Hoffnung.  Ohne  Liebe  nützt  er  aber  nichts,  weil  auch  die  Dämonen 
glauben.  Somit  ist  Alles  befasst  in  dem  Glauben,  der  durch  die 
Liebe  thätig  ist  und  Hoffnung  hat  (8). 

Nun  geht  Augustin  zum  Symbol  (dem  alten  Apostolicum)  über, 
um  den  Inhalt  des  Glaubens  darzulegen.  §§  9 — 32  liaiidelt  er  vom 
ersten  Artikel.   Zum  Glauben  gehört  nicht  die  Kenntniss  der  Natur 


Die  Erklärung  des  Symbols.       •  ^01 

und  der  Physik  —  die  Gelehrten  sind  ausserdem  hier  mehr  opinantes 
quam  scientes  —  ;  für  den  Christen  genügt  es,  die  Güte  des  Schöpfers 
als  die  Ursache  schlechthin  aller  Dinge  zu  glauben,  so  dass  es  keine 
Natur  giebt,  die  er  nicht  entweder  selbst  ist,  oder  die  nicht  von  ihm  ist; 
ferner,  dass  dieser  Schöpfer  die  trinitas  summe  et  aequabiliter  et 
immutabiliter  bona  sei,  und  dass  die  geschaffenen  Dinge  zwar  diese 
Eigenschaft  nicht  besässen,  aber  doch  gut  seien ;  ja  Alles  zusammen 
sei  sehr  gut  und  bewirke  eine  wunderbare  Schönheit,  in  der  das  malum, 
an  die  richtige  Stelle  gestellt,  das  bonum  nur  hervorhebt  (9.  10).  So- 
fort geht  Augustin  zur  Lehre  vom  Bösen  über.  Gott  lässt  es  nur  dess- 
halb  zu,  weil  er  so  mächtig  ist,  dass  er  aus  Bösem  Gutes  machen  kann, 
d.  h.  er  kann  die  privatio  boni,  als  welche  sich  das  Böse  darstellt 
(morbus,  vulnus),  heilen.  Im  Begriff  des  non  summum  bonum  esse 
liegt  die  Fähigkeit  der  Verschlechterung ;  aber  nie  kann  das  Gute,  wel- 
ches in  der  Existenz  jeder  Substanz  liegt,  anders  vernichtet  werden  als 
wenn  diese  Substanz  selbst  vernichtet  wird.  Damit  hört  aber  dann  die 
Verderb niss  selbst  auf,  da  sie  stets  nur  an  einem  Gut  sein  kann:  das 
malum  kann  nur  an  einem  bonum  sein.  Das  wird  weitläufig  ausgeführt 
(11 — 15).  Die  Ursachen  des  Guten  und  Bösen  muss  man  kennen,  um 
den  errores  und  aerumnae  dieses  Lebens  zu  entgehen.  Dagegen  die 
Ursachen  der  grossen  Bewegungen  in  der  Natur  —  Augustin  kehrt  zu 
§  9  zurück  —  braucht  man  nicht  zu  kennen  ;  kennen  wir  doch  nicht 
einmal  unsere  Gesundheitsverhältnisse,  die  uns  doch  am  nächsten 
Hegen  (16) !  Allein  ist  nicht  jeder  Irrthum  ein  Uebel,  und  wie  steht  es 
gar  mit  der  Täuschung,  der  Lüge?  Diese  Fragen  werden  §§  17 — 22 
genau  erörtert.  Nicht  alles  Nichtwissen  ist  Irrtimm,  sondern  nur  das 
vermeintliche  Wissen,  und  nicht  jeder  Irrthum  ist  schädlich*,  es  giebt 
sogar  einen  guten  Irrthum,  der  nützt.  Aber  da  es  für  den  Geist  „de- 
forme atque  indecens"  ist,  Wahres  für  falsch,  Unsicheres  für  sicher  zu 
halten,  so  ist  unser  Leben  eben  desshalb  ein  elendes  Leben,  weil  wir  bis- 
weilen den  Irrthum  brauchen,  damit  wir  es  nicht  verlieren.  So  wird  jenes 
Ijeben  nicht  sein,  „ubi  ipsa  veritas  vita  animae  nostrae  erit".  Am 
schlimmsten  aber  ist  die  Lüge,  so  schlimm,  dass  selbst  die  Lügner  nicht 
belogen  sein  wollen.  Allein  doch  bietet  die  Lüge  ein  schwieriges  Pro- 
blem. (Die  Frage  der  Nothlüge,  ob  sie  officium  iusti  hominis  werden 
könne,  wird  ausfühHich  behandelt).  Auch  hier  ist  es  das  Wichtigste, 
festzustellen,  worin  Einer  irrt:  „longo  tolerabilius  est  in  his 
quae  a  religione  sunt  seiuncta  mentiri,  quam  in  iis,  sine 
quorum  fide  vel  notitia  deus  coli  non  potest,  falli"(18)^  Ge- 

*  Z.  B.  einem  vorzulügen,  ein  Gestorbener  sei  noch  am  Leben,  ist  ein  weit 
geringeres  Uebel  als  irrthümlich  zu  glauben,  Christus  werde  noch  einmal  sterben. 


202        T)it^'  weltgeschichtliche  Stellung  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

nau  betrachtet,  ist  jeder  Irrthuni  ein  üebel,  mancher  freihch  ein  kleines 
Hebel.  Ob  jeder  Irrthuni  auch  Sünde  ist  (z.  B.  wenn  man  ZwiUinge  ver- 
wechselt, etwas  Süsses  für  bitter  hält  u.s.  w.),  darüber  kann  man  zweifeln*, 
jedenfalls  ist  er  in  solchen  Fällen  minimum  et  levissimum  peccatum, 
da  er  nichts  zu  thun  hat  mit  dem  Weg,  der  uns  zu  Gott  führt,  d.  h. 
mit  dem  in  der  Liebe  thätigen  Glauben  *,  der  Irrthum  ist  doch  mehr 
malum  als  peccatum,  ein  Zeichen  der  miseria  huius  vitae.  Jedenfalls 
aber  darf  man  nicht  etwa,  um  allen  Irrthum  zu  vermeiden,  Nichts  füi* 
wahr  halten  wollen  (wie  die  Akademiker);  denn  man  soll  glauben. 
Ausserdem  ist  der  Standpunkt  des  absoluten  Nicht -Wissens  undurch- 
führbar ;  denn  auch  der,  welcher  nicht  weiss,  nmss  aus  diesem  Bewusst- 
sein  des  Nicht- Wissens  sein  Dasein  folgern  (20).  Vermeiden  muss  man 
dagegen  die  Lüge  *,  denn  der  Mensch  muss,  auch  wo  er  sich  in  seinem 
Denken  irrt,  doch  stets  das  sagen,  was  er  denkt  K  Auch  die  einem 
Anderen  nützliche  Lüge  ist  Sünde,  obgleich  Menschen,  die  zum  all- 
gemeinen Besten  logen,  sehr  viel  zum  Glück  beigetragen  haben  (22). 
Augustin  kehrt  zu  §  16  zurück:  die  Ursachen  des  Guten  und  Bösen 
muss  man  kennen.  Die  Ursache  des  Guten  ist  einzig  die  Güte  Gottes; 
die  Ursache  des  Bösen  ist  der  von  dem  unwandelbaren  Gott  abfallende 
Wille  eines  wandelbaren  Guten,  zuerst  eines  Engels,  dann  des 
Menschen  (23).  Aus  diesem  Abfall  folgen  die  übrigen  Seelen- 
krankheiten [ignorantia,  concupiscentia,  etc.]  (24).  Aber  nicht  verloren 
ging  der  appetitus  beatitudinis.  Es  folgt  nun  eine  Darlegung  der  Aus- 
stattung Adams,  des  Sündenfalls,  der  Erbsünde,  des  Todesverhäng- 
nisses, der  massa  damnata,  die  mit  den  verdammten  Engeln  zusammen 
leiden,  u.  s.  w.  Gottes  Güte  zeigt  sich  aber  darin,  dass  er  den  bösen 
Engeln,  für  die  es  übrigens  keine  Bekehrung  giebt,  noch  immer  ihre 
Existenz  erhält,  und  dass  er  die  Menschen  conservirt.  Obgleich  es  nur 
gerecht  gewesen  wäre,  auch  sie  einer  ewigen  Strafe  zu  übergeben,  so 
wollte  er  hier  aus  Bösem  Gutes  hervorgehen  lassen  (25 — 27).  Seine 
barmherzige  Absicht  war  nämlich,  die  durch  den  Fall  einiger  Engel 
incomplet  gewordene,  im  Guten  beharrende  Engelzahl  aus  der  Mensch- 
heit zu  ergänzen,  damit  das  himmhsche  Jerusalem  vollzählig  bleibe,  ja 
noch  vermehrt  werde  durch  die  „filii  sanctae  matris"  (28.  29).  Aber 
die  erwählten  Menschen  verdanken  dies  nicht  dem  Verdienst  der 
eigenen  Werke  (dem  freien  AVillen)  *,  denn  sie  sind  an  sich  todt  wie 
die  Anderen  (Selbstmörder),  sind  frei  nur  noch  zur  Sünde.  Bevor  sie 
also  frei  gemacht  werden,  sind  sie  Sklaven;    sie  können  nur  durch 

^  C.  22:  „Et  utique  verba  propterea  sunt  iustituta,  uon  per  quae  se  homiues 
inviccm  fallant,  sed  per  quao  in  alterius  quisque  uotitiam  cogitationes  suas  perlerat ** 
(vgl.  Talleyrautl). 


Die  Erklärung  des  Symbols.  203 

Gnade  und  Glauben  erlöst  werden.  Auch  der  Glaube  ist  Gottes  Ge- 
schenk, und  es  werden  ihm  die  Werke  nicht  fehlen.  Somit  werden  sie 
erst  frei,  wenn  Gott  sie  aufs  neue  gestaltet  (zur  nova  creatura),  indem 
er  sowohl  das  Wollen  als  auch  das  Vollbringen  wirkt  („quam vis  non 
possit  credere,  sperare,  dihgere  homo  rationalis,  nisi  velit")  \  d.  h.  den 
Willen  selbst  gut  macht  (misericordia  praeveniens)  und  ihm  stets  bei- 
steht [miseric.  subsequens]  (30 — 32). 

In  §§  33 — 55  folgt  die  Auslegung  des  zweiten  Artikels.  Da  alle 
Menschen  von  Natur  Kinder  des  Zorns  sind  und  unter  der  Erbsünde  und 
eigenen  Sünden  stehen,  war  ein  mediator  (reconcihator)  nöthig,  der 
durch  Darbringung  eines  einzigartigen  Opfers  den  Zorn  (iusta  vindicta) 
besänftigte.  Dass  dies  geschah  und  wir  aus  Feinden  Kinder  wurden,  ist 
die  gratia  dei  per  Jesum  Christum  (33).  Von  diesem  Mittler  wissen 
wir,  dass  er  das  „Wort"  ist,  welches  Fleisch  geworden  ist.  Es  ist  nicht 
verwandelt,  sondern  es  hat  die  vollkommene  natura  humana  angenommen 
aus  der  Jungfrau,  indem  ihn  nicht  die  Hbido  matris,  sondern  die  fides 
empfangen  hat  (daher  sündlos)  ^.  Die  Mutter  blieb  in  partu  Jungfrau 
(34).  Es  folgt  eine  kurze  Auseinandersetzung  über  Christus  als  deus 
et  homo  in  unitate  personae,  aequalis  deo  und  als  Mensch  minor  (35). 
Christus  der  Mensch,  der  gewürdigt  ist,  von  dem  Gott  zu  einer  Person 
angenonmien  zu  werden,  ist  das  leuchtendste  Beispiel  der  gratia  gratis 
data,  non  secundum  merita.  Dieselbe  Gnade,  die  dem  Menschen  Christus 
widerfahren  ist,  dass  er  sündlos  wurde,  widerfährt  uns  in  der  Recht- 

*  C.  32:  „Ex  utroque  fit,  id  est,  ex  voluntate  hominis  et  misericordia  dei." 

*  Die  ganze  Auffassung  Augustin's  von  der  jeder  Zeugung  beigemischten 
Sündhaftigkeit  und  die  Vorstellung,  dass  die  Geschlechtslust  nicht  aus  der  ur- 
sprünglich geschaffenen  Natur,  sondern  aus  der  Sünde  stammt,  hat  bekanntlich 
in  der  frühesten  Zeit  ihre  "Wurzeln.  Allein  so  consequent  wie  von  Augustin  ist 
sie  nur  von  den  Gnostikern,  Marcion  und  —  von  dem  Verfasser  des  unter  Justin's 
Namen  stehenden  Fragments  de  resurrectionc  ausgeprägt  worden.  Die  Parallele, 
welche  der  Letztere  bietet  (c.  3),  ist  höchst  frapi)ant.  Doch  ist  natürlich  von 
der  durch  die  Begattung  sich  fortpflanzenden  Sünde  noch  nicht  die  Rede; 
die  Begattung  gilt  einfach  als  sündhaft:  [j.TjTpa<;  e^xlv  hi^'^v.a  xo  xdioxsiv  v.aX  jxop'vOu 
ävopty.o'j  xö  G7icf(|j//'lv£iv.  oiZKt^  oe,  t\  xaüxa  fXEXXst  tvt^-^tvj  zaoxac,  luq  Ivt^^^ziaq,  ouxoiq 
rjijy.  fj.m'{y.r/.\ry/  aL)xot(;  e^xtv  x6  xyjV  apy^YjV  vjz^-^zvj  (opdijisv  yoüv  -izoWac,  -(ovalv.aq  ji.v] 
xüi'3xoüGa(;,  (',)<;  xä<;  Gxstpac,  y.al  |j.T|xpa(;  tyooorxc),  oüxüx;  oüx  süöeüji;  xr/l  xö  [x-f^xpav  e)(etv 
y.at  xoioxs'.v  P/.'^f/.'(vAZzi.  a)Xfj.yjj\  jj/r]  Gxjlpa'.  jjiv  e^  ap/Yjc,  Trapxl-sVcOooGat  Zk,  xaxYjpY*^oav 
yj/x  xYjV  auvoüGiav,  'izzpr/.;  Zk  Y,rjX  fxTzo  'f^rt^mn.  xal  xou?  aposvac;  os  xmc,  jxev  «tc'  oipx."']? 
7tapOeveuovxa(;  6po>}j.£v,  xooi;  ftk  airo  ypovoo,  waxe  5t'  aüxwv  xaxaXusoO'at  xov  oi' 
e7rti>o|j.'a(;  avo|i.ov  -{0.^.^/,  Auch  Thiere  giebt  es,  die  sich  der  Begattung  ent- 
halten, CwjXz  xal  "fiC  avi)-poj7cu)v  xal  oi'  aKfj'(Ui'^  xr/xapYO')|i.£v*rjv  covouGiav  nplv  xoö  jjiX- 
/.ovxo(;  a'.üivoi;  opäat^at.  xal  o  -Anpioq  o£  yiij.wv  'l*r|G&ö<;  o  Xpiaxo?  ob  oC  r/Xko  xi  Ix  irap- 
iyhfjti  hftyy'f^ri'q,  d.W  'ivr/.  v.ri.xrj.^'('fp-fi  YewYjGtv  £7i'.0o|jia(;  wrj\ioi)  x.  Zzii-fj  xo)  apyovxt  xal 
Ziyrx  oiy/ooo'iaq  av\>pü>7ilv7]?  ^üvaxYjV  elvac  x<j)  ö-eü)  xy^v  avl)pü>7roo  ;iXaotv. 


204        r)ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

fertip;unp;  von  8üncloii.  Sie  offenbart  sich  auch  in  der  wunderbaren  Ge- 
burt Christi,  bei  der  übrigens  der  hl.  Geist  nicht  wie  ein  natürhcher 
Vater  gewirkt  hat.  Es  hat  viehnehr  die  ganze  Dreieinigkeit  das  Ge- 
schöpf aus  der  Jungfrau  gebiklet:  der  Mensch  Jesus  ist  ihr  Geschöpf 
wie  die  Welt.  Warum  aber  gerade  der  hl.  Geist  genannt  ist,  ist  schwer 
zu  sagen.  Jedenfalls  ist  der  Mensch  Jesus  nicht  Sohn  des  Geistes,  son- 
dern dieser  ist  wohl  desshalb  genannt,  um  auf  die  Gnade  ohne  alle  voraus- 
gehenden Verdienste  hinzuweisen,  die  in  dem  Menschen  Jesus  zu  einer 
quodammodo  naturalis  geworden  ist;  denn  der  hl.  Geist  ist  „sie  deus, 
ut  dicatur  etiam  dei  donum"  (36 — 40).  Nun  folgt  wieder  ein  langer 
Abschnitt  über  die  Sünde  und  das  Verhältniss  Christi  zu  derselben  (41 
bis  52):  Christus  war  von  Erb-  und  Thatsünde  frei,  wurde  aber  selbst 
geradezu  —  wegen  der  Aehnlichkeit  mit  dem  Sündenfleisch  —  Sünde 
genannt,  d.  h.  er  wurde  ein  Opfer  für  die  Sünde,  Repräsentant  unserer 
Sünde  in  dem  Fleische,  in  welchem  er  gekreuzigt  ist,  „ut  quodammodo 
peccato  moreretur,  dum  moritur  carni'*  und  aus  der  Auferstehung  unser 
neues  Leben  besiegle  (41).  In  der  Taufe  wird  uns  das  zugewandt; 
Jeder  stirbt  in  der  Taufe  der  Sünde  ab  (auch  die  Kinder,  nämlich  der 
Erbsünde),  wobei  Sünde  coUectivisch  zu  verstehen  ist;  denn  schon  in 
Adams  Sünde  steckten  viele  Sünden.  Wahr  seh  einhch  sind  aber  die 
Kinder  nicht  nur  von  Adams  Sünde  angesteckt,  sondern  auch  von  denen 
ihrer  Eltern.  Denn  ihre  Geburt  ist  verderbt,  weil  durch  Adams  Sünde 
die  Natur  verkehrt  worden  ist;  aber  auch  die  Thatsünden  der  El- 
tern „etsi  non  ita  possunt  mutare  naturam,  reatu  tamen  obligant  lilios". 
Bis  in  welches  GHed  aber  die  Thatsünden  der  Voreltern  vorwärts  wir- 
ken, will  Augustin  nicht  entscheiden.  Alles  das  wird  durch  den  Mitt- 
ler, den  Menschen  Jesus  Christus,  ausgetilgt,  der  allein  mit  einer  solchen 
Gnade  ausgerüstet  war,  dass  er  die  Wiedergeburt  nicht  bedurfte ;  denn 
die  Taufe  durch  Johannes  hat  er  nur  übernommen,  um  uns  ein  grosses 
Vorbild  der  Demuth  zu  geben,  wie  er  auch  den  Tod  nicht  aus  Zwang 
auf  sich  genommen  hat,  sondern  um  dem  Teufel  sein  Recht  widerfahren 
zu  lassen  (42 — 49).  Christus  ist  so  das  Gegenbild  Adams;  aber  dieser 
hat  nur  eine  Sünde  in  die  Welt  gebracht,  Christus  dagegen  hat  alle 
hinweggenommen,  die  seitdem  begangen  sind.  Alle  sind  verdammt  in 
Adam,  Niemand  wird  der  Verdammung  ledig  ohne  Christus.  Die  Taufe 
ist  als  dasmysterium  grande  in  cruce  Christi  zu  feiern;  denn  nach  Pau- 
lus ist  die  Taufe  „nihil  aliud  nisi  similitudo  mortis  Christi;  nihil  autem 
aliud  mortem  Christi  crucifLxi  nisi  remissionis  peccati  similitudinem,  ut 
quemadmodum  in  illo  vera  mors  facta  est,  sie  in  nobis  vera  remissio 
peccatorum".  Dies  wird  nach  Rom.  6  ausgeführt:  wir  sind  durch  die 
Taufe  der  Sünde  abgestorben  (50 — 52).   Die  Stücke  des  Symbols  bis 


Die  Erklärung  des  Symbols.        •  205 

zur  sessio  ad  dexteram  werden  nun  aufgezählt  mit  der  Bemerkung :  „  i  t  a 
gestum  est,  ut  his  rebus  non  mystice  tantum  dictis  sed  etiam 
gestis  configuraretur  vita  Christiana  quae  hie  geritur." 
An  jedem  einzelnen  Stück  wird  das  erwiesen.  So  bedeutet  die  sessio  ad 
dexteram :  „  quae  sursum  sunt  sapite. "  Dagegen  hat  die  Wiederkunft 
Christi  auf  unser  irdisches  Leben  keinen  Bezug.  Sie  gehört  ganz  der 
Zukunft  an.  Bei  dem  Gericht  über  Lebendige  und  Todte  kann  man 
auch  an  die  Gerechten  und  Ungerechten  denken  (53 — 55). 

Dem  dritten  Artikel  sind  die  §§  56 — 113  gewidmet;  er  ist  also 
am  ausführlichsten  erläutert.  §§  56 — 63  handeln  vom  hl.  Geist,  der  die 
Trinität  vollendet,  also  nicht  zum  Geschaffenen  gehört,  und  von  der 
hl.  Kirche.  Diese  ist  Tempel  und  Stadt  der  Dreieinigkeit.  Sie  kommt 
aber  hier  als  ganze  in  Betracht,  d.  h.  auch  in  demTheil,  der  im  Him- 
mel ist  und  niemals  einen  Sündenfall  erlebt  hat  —  in  den  hl.  Engel,  die 
der  pars  peregrinans  zu  Hülfe  kommen,  wie  sie  mit  ihr  durch  die  Liebe 
schon  verbunden  sind  (56).  Die  Kirche  im  Himmel  ist  ohne  Böses  und 
unwandelbar;  ob  Rangstufen  unter  den  Engeln  sind,  ob  die  Gestirne  zu 
ihnen  gehören  und  wie  es  mit  ihrer  Körperlichkeit  bestellt  ist,  darüber 
gesteht  Augustin  nichts  zu  wissen  (57 — 59).  Wichtiger  ist  es  fest- 
zustellen, wann  sich  der  Satan  in  einen  Engel  des  Lichts  kleidet  (60). 
Den  Zustand  der  himmlischen  Kirche  werden  wir  erst  erkennen,  wenn 
wir  ihr  selbst  angehören;  die  diesseitige  kennen  wir,  für  die  Christus 
gestorben  ist;  denn  für  die  Engel  ist  er  nicht  gestorben;  doch  erstreckt 
sich  der  Erfolg  seines  Werkes  auch  auf  sie,  sofern  die  Feindschaft  gegen 
sie  aufgehoben  und  ihre  Zahl  wieder  complet  wird.  So  wird  durch  das 
eine  Opfer  das  Irdische  mit  dem  Himmlischen  wieder  geeinigt  und  der 
Friede  hergestellt  werden,  der  alles  Denken  übersteigt  —  nicht  das 
Denken  der  Engel,  sondern  der  Menschen ;  aber  auch  Engel  und  selige 
Menschen  werden  niemals  den  Frieden  Gottes  so  begreifen,  wie  Gott 
ihn  selbst  begreift  (61—63). 

Augustin  geht  nun  zur  „remissio  peccatorum"  (§§  64 — 83)  über: 
„per  hanc  stat  ecclesia  quae  in  terris  est."  Sofern  uns  die  Sünden  ver- 
geben werden,  „concordant  nobiscum  angeli  etiam  nunc".  Neben  der 
magna  indulgentia  giebt  es  eine  fortgehende  remissio  peccatorum,  die 
auch  die  gefördertsten  Gerechten  bedürfen,  denn  sie  sinken  doch  noch 
manchmal  zu  sich  selbst  herab  und  sündigen.  Zwar  kann  die  vita  sancto-^ 
mm  schon  hienieden  ohne  Verbrechen  sein,  aber  nicht  ohne  Sünde  (64). 
Aber  auch  für  die  Verbrechen  giebt  es  in  der  Kirche  nacli  angemessener 
Busse  Vergebung;  dabei  kommt  es  nicht  sowohl  auf  die  Busszeit  als 
auf  den  Bussschmerz  an.  Da  aber  diese  Begung  den  Mitmenschen  ver- 
borgen bleibt  (nicht  zu  controliren  ist),  so  haben  die  Biscluife  mitKecht 


20fi        r)ie  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

tenipora  paenitentiae  eingerichtet,  „ut  fiat  satis  etiam  ecclesiae",  ausser- 
halb welclier  es  keine  Verzeihung  gieht ;  denn  sie  allein  hat  den  hl.  Geist 
für  sich  zum  Pfand  erhalten  (G5).  Im  Diesseits  bleiben  trotz  der  salu- 
taria  sacramenta  die  Hebel,  damit  man  erkenne,  dass  ihr  Zweck  der  zu- 
kiniftige  Zustand  ist.  Es  sind  Strafübel;  denn  Sünden  dauern  noch  an 
und  werden  hier  oder  dort  bestraft  (GG).  Man  darf  ja  nicht  wähnen, 
dass  der  Glaube  allein  vor  dem  zukünftigen  Gericht  schützt  (w<;  öta 
TTopöc),  vielmehr  nur  der  in  der  Liebe  thätige  Glaube  (Glaube  und 
Werke).  Unter  dem  „Holz  und  Stoppeln"  sind  nicht  Sünden  zu  ver- 
stehen, sondern  die  Begierden  nach  irdischen,  an  sich  erlaubten  Dingen 
(67.  68).  Dass  ein  Läuterungsfeuer  auch  noch  nach  dem  Tode  für  die 
Gläubigen  stattfindet  (69)  —  Sünder  können  nur  durch  entsprechende, 
mit  Almosen  verbundene  Busse  gerettet  werden  — ,  ist  glaublich.  Aus- 
führlich wird  nun  von  den  Almosen  (69 — 77)  gehandelt:  Beim  jüngsten 
Gericht  wird  (Mtth.  25,  34  ff.)  nach  den  Almosen  entschieden  werden. 
Freilich  ist  zugleich  das  Leben  zu  bessern ;  „per  eleemosynas  de  peccatis 
praeteritis  est  propitiandus  deus,  non  ad  hoc  emendus  quodam  modo, 
ut  peccata  semper  liceat  impune  committere"  ^  Gott  tilgt  die  Sünden, 
„si  satisfactio  congrua  non  negligatur",  ohne  Erlaubniss  zur  Sünde  zu 
geben  (70).  Für  die  täglichen  kleinen  und  leichten  Sünden  leistet  das 
tägliche  Gebet  Genugthuung  (71)  2.  Auch  die  Vergebung,  die  wir  An- 
deren spenden,  ist  eine  Art  Almosen.  Es  ist  überhaupt  Alles  Almosen, 
was  man  dem  x\nderen  Gutes  spendet,  Rath,  Trost,  Zucht  u.  s.  w.  Hier- 
durch helfen  wir  dazu,  dass  uns  selbst  die  Sünden  vergeben  werden  (72). 
Die  höchsten  Stufen  des  Almosens  aber  sind  Sündenvergebung  und 
Feindesliebe  ^  (73).  Jene  muss  Jeder  üben,  damit  ihm  selbst  vergeben 
w^erde  (74).  Aber  alle  diese  Almosen  nützen  nicht,  w^enn  man  sich  nicht 
selbst  bessert,  d.  h.  das  Almosen,  das  man  sich  selbst  giebt,  ist  das 
wichtigste.  Nur  wer  sich  seiner  eigenen  Seele  erbarmt,  von  dem  gilt : 
„Gebet  Almosen,  und  Alles  ist  rein  für  euch."  Wir  müssen  uns  selbst 
mit  der  Liebe,  die  Gott  uns  geschenkt,  lieben,  was  die  Pharisäer,  die 
nur  äusserliche  Almosen  gaben,  nicht  thaten;  denn  sie  waren  Feinde 
ihrer  Seele  (75 — 77).  Welche  Sünden  aber  leicht  und  w^elche  schwer 
sind,  kann  nur  durch  göttliches  Gericht  erwogen  werden.  Manche  apo- 
stolische Zulassung  (z.  B.  ehelicher  Umgang  aus  Begierde)  ist  doch 


^  Als  Freibrief  müssen  also  schon  damals  einige  Katholiken  die  Almosen  be- 
trachtet haben. 

^  „Delet  omnino  haec  oratio  minima  et  quotidiaua  peccata." 
'  Mit  grosser  Wahrhaftio^keit  sagt  hier  Augustin,  Feindesliebe  sei  den  wenig- 
sten Menschen  möglich  (nm'  den  perfectis).   Aber  auch  die,  welche  sie  nicht  er- 
reichen, werden  erhört,  wenn  sie  die  5.  Bitte  gläubig  sprechen. 


Die  Erklärung  des  Symbols.       '  207 

Sünde;  manche  Sünde,  die  wir  für  ganz  leicht  halten  (z.  B.  Schimpfen), 
ist  schwere  Sünde;  manche  Sünde,  die,  weil  sie  uns  zur  Gewohnheit  ge- 
worden, uns  leicht  erscheint,  ist  eine  schreckliche  Sünde  (z.  B.  Unzucht), 
wenn  auch  sogar  die  Kirchenzucht  ihr  gegenüber  lax  geworden  ist  (78 
bis  80).  Alle  Sünde  entspringt  entweder  aus  Unwissenheit  oder  aus 
Schwäche.  Die  letztere  ist  die  schwerere;  aber  gegen  beide  hilft  nur 
die  götthche  Gnade  (81).  Leider  aber  wird  die  öffenthche  Busse  aus 
falscher  Schwäche  und  Scham  häufig  nicht  geleistet.  Daher  hat  man 
Gottes  Barmherzigkeit  nicht  nur  bei  der  Busse  nöthig,  sondern  auch 
zum  Entschluss  der  Busse.  Wer  aber  nicht  an  die  Sündenvergebung 
in  der  Kirche  glaubt  und  sie  verachtet,  begeht  die  Sünde  wider  den  hl. 
Geist  (82.  83). 

Die  §§  84 — 113  handeln  von  der  Auferstehung  des  Fleisches.  Zu- 
erst wird  die  Auferstehung  der  Fehl-  und  Missgeburten  besprochen 
(85 — 87);  sodann  das  Verhältniss  des  neuen  Leibes  zum  alten  Stoff  — 
nicht  jedes  Theilchen  des  letzteren  braucht  in  jenen  überzugehen  — , 
ferner  die  körperliche  Verschiedenheit,  Makellosigkeit  und  Geistigkeit 
der  Leiber  im  Jenseits  (88  —  91).  Wie  die  Körper  der  Verdammten, 
die  auch  auferstehen,  beschaffen  sein  werden,  das  soU  uns  nicht  küm- 
mern, obgleich  hier  das  grosse  Paradoxon  vorHegt,  dass  ein  corpus 
corruptibile  doch  nicht  stirbt,  resp.  ein  corpus  incorruptibile  Schmerz 
empfindet^  (92).  Am  gelindesten  wird  die  Strafe  derer  sein,  die  nur  die 
Erbsünde,  aber  keine  Thatsünden  haben.  Ueberhaupt  wird  die  Ver- 
dammung eine  abgestufte  sein,  je  nach  dem  Mass  der  Sünde  (93).  Nun 
kommt  Augustin  (94 — 108)  ausführhch  auf  die  Prädestination  zu  reden: 
„nisi  per  indebitam  misericordiam  nemo  liberatur  et  nisi  per  debitum 
iudicium  nemo  damnatur."  Das  ist  das  Thema.  Im  ewigen  Leben  wird 
es  offenbar  werden,  warum  von  zwei  Kindern  das  Eine  aus  Barmherzig- 
keit angenommen,  das  Andere  aus  Gerechtigkeit  verworfen  wird.  Gottes 
Nicht -Wollen  der  Seligkeit  ist  nicht  ungerecht,  obgleich  Alle  hätten 
selig  werden  können,  wenn  er  gewollt  hätte ;  denn  nichts  geschieht,  was 
er  nicht  will  oder  zulässt  (95).  Auch  in  der  Zulassung  des  Bösen  han- 
delt er  gut,  sonst  gälte  der  erste  Artikel  des  Symbols  nicht  mehr  (96). 
Aber  wie  reimt  sich,  wenn  Gottes  Wille  durch  keinen  Willen  der  Crea- 
tur  behindert  werden  kann,  damit  die  Tliatsache,  dass  nicht  Alle  sehg 
werden,  während  es  doch  heisst:  Gott  will,  dass  Alle  sehg  werden 
(I  Tim.  2,  4)?  Die  gewöhnliche  Antwort:  die  Menschen  wollen  nicht, 
ist  augenscheinlich  falsch ;  denn  sie  können  doch  nicht  den  Willen  Gottes 
hindern,  da  ja  Gott  auch  den  bösen  Willen  zum  Guten  wenden  kann. 


'  In  <](ir  Höllf  „mors  ipsa  non  moritur". 


208        THo  weltgeschichtliche  Stellung  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Also  will  Gott  iiiclit,  dass  Alle  selig  werden,  sondern  er  verhängt  mit 
Gerechtigkeit  üher  die  Sünder  den  Tod  (Rom.  9),  damit  der,  dem  die 
Seligkeit  zu  Theil  wird,  sich  des  Herrn  rühme.  Gott  ist  frei  in  seiner 
Gnadenwahl;  er  wäre  nicht  zu  tadeln  gewesen,  wenn  er  nach  Adams 
Fall  Niemanden  erlöst  hätte;  also  ist  er  auch  nicht  zu  tadeln,  wenn  er 
nach  seiner  Barmherzigkeit  nur  Einige  erlöst,  damit  Niemand  sich 
seiner  Verdienste,  sondern  des  Herrn  rühme.  Gottes  AVille  kommt  in 
den  Verdammten  ebenso  zum  Ausdruck  wie  in  den  Seligen  („hoc  ipso 
quod  contra  voluntatem  fecerunt  eins,  de  ijDsis  facta  est  voluntaseius"). 
So  gross  sind  die  AVerke  des  Herrn,  dass  nichts,  was  gegen  seinen 
Willen  geschieht,  praeter  voluntatem  eins  geschieht.  Ein  guter  Sohn 
will,  dass  sein  Vater  am  Leben  bleibt,  aber  Gott  will  mit  gutem  Willen, 
dass  er  stirbt.  Wiederum  ein  böser  Sohn  will,  dass  sein  Vater  stirbt, 
und  Gott  will  es  auch.  Jener  will,  Avas  Gott  nicht  will;  dieser  was  Gott 
will.  Doch  steht  jener  Gott  näher;  denn  bei  uns  Menschen  entscheidet 
stets  der  Endzweck,  Gott  aber  vollzieht  seinen  guten  Willen  auch 
durch  den  bösen  Willen  der  Menschen.  Er  ist  immer  gerecht  und 
immer  allmächtig  (97 — 102).  Daher  kann  jene  Stelle  I  Tim.  2,  4  nur 
so  verstanden  werden,  dass  Gott  will,  dass  alle  Menschen k lassen 
selig  werden  oder  dass  Alle  selig  werden,  die  er  selig  machen  will. 
Jedenfalls  ist  daran  nicht  zu  denken,  dass  er  Alle  besehgen  will,  aber 
gehindert  wird,  es  zu  thun  (103).  Hätte  Gott  vorhergewusst,  dass  Adam, 
entsprechend  seiner  Erschaffung,  für  immer  den  Willen  haben  werde, 
ohne  Sünde  zu  bleiben,  so  hätte  er  ihn  auch  in  dem  ursprünglichen  Heil 
erhalten  w^oUen ;  w^eil  er  aber  das  Gegentheil  vorausw^usste,  so  hat  er 
seinen  eigenen  Willen  so  gerichtet,  dass  er  Gutes  wirkte  durch  den,  der 
Böses  that;  denn  ursprünglich  musste  der  Mensch  so  geschaffen  werden, 
dass  er  das  Gute  und  das  Böse  thun  konnte.  Später  aber  wdrd  er  so 
werden,  dass  er  das  Böse  nicht  mehr  wollen  kann  „nee  ideo  hbero  care- 
bit  arbitrio" ;  denn  der  freie  Wille  bleibt  bestehen,  auch  wenn  wir  das 
Böse  einst  nicht  mehr  wollen  können,  wie  er  auch  jetzt  besteht,  ob- 
gleich w'ir  die  ünseligkeitnie  \vollen  können.  Nur  musste  die  Ordnung  der 
Dinge  eingehalten  w^erden,  erst  das  „posse  non",  dann  das  „non  posse". 
Aber  stets  ist  die  Gnade  nöthig,  auch  dann,  wenn  der  Mensch  nicht  ge- 
sündigt hätte;  denn  nur  durch  die  mitwirkende  Gnade  hätte  er  das  „non 
posse"  erlangen  können  (man  kann  w^ohl  freiwillig  verhungern,  aber  man 
kann,  ohne  dass  Einem  Speise  gereicht  wird,  nicht  durch  den  blossen 
Appetit  sich  erhalten).  Da  aber  die  Sünde  eingetreten  ist,  ist  jetzt  die 
Gnade  noch  viel  grösser,  w^eil  nun  der  Wille  selbst  erst  befreit  Averden 
musste,  um  dann  mit  der  Gnade  zusammenzuwirken  (104—106).  Auch 
das  ewige  Leben  ist,  obgleich  Lohn  der  guten  Werke,  doch  Gnaden- 


Die  Erklärung  des  Symbols.  209 

geschenk,  weil  unsere  merita  munera  dei  sind.  Gott  hat  eben  ein  Ge- 
fäss  zur  Ehre  und  eines  zur  Unehre  gemacht,  auf  dass  Niemand  sich 
rühme.  Der  Mittler,  der  uns  erlöste,  musste  auch  Gott  sein,  „ut  super- 
bia  humana  per  humilitateni'  dei  argueretur"  und  dem  Menschen  gezeigt 
würde,  wie  weit  er  sich  von  Gott  entfernt  habe,  u.  s.  w.  (107.  108). 
Nach  diesem  grossen  Excurs  kehrt  Augustin  wieder  zu  §  93  zurück  und 
handelt  (109)  vom  Zwischenzustand  (in  abditis  receptaculis)  und  von  der 
Erleichterung,  die  den  abgeschiedenen  Seelen  durch  das  Messopfer  und 
die  Almosen  der  Ueberlebenden  in  der  Kirche  zu  Theil  wird;  denn 
manche  Seelen  sind  nicht  so  gut,  dass  sie  dies  entbehren  können,  und 
nicht  so  schlecht,  dass  es  ihnen  nichts  nützt.  „Quocirca  hie  (in  terra) 
omne  meritum  comparatur,  quo  possit  post  hanc  vitam  relevari  quis- 
piam  vel  gravari."  Das,  was  die  Kirche  für  die  Verstorbenen  thut  (pro 
defunctis  commendandis),  widerspricht  Rom.  14,  10*,  II  Cor.  5,  10  nicht. 
Es  ist  für  die  ganz  Guten  eine  Danksagung,  für  die  nicht  ganz  Bösen 
ein  Sühnopfer,  für  die  ganz  Bösen  ohne  Erfolg,  aber  ein  Trostmittel  der 
Ueberlebenden;  ja  wie  es  die  remissio  zu  einer  plena  macht,  macht  es 
auch  die  Verdammung  zu  einer  erträglicheren  (HO).  Nach  dem  Ge- 
richt sind  nur  die  zwei  Staaten  da,  wenn  auch  mit  verschiedenen  Stufen. 
Man  muss  an  die  Ewigkeit  der  Höllenstrafen  glauben,  wenn  man  auch 
vielleicht  annehmen  darf,  dass  Gott  ab  und  zu  die  Strafen  der  Ver- 
dammten erleichtert  oder  sonst  welche  Milderungen  eintreten  lässt. 
„Manebit  sine  fine  mors,  sicut  manebit  c  omni  uniter  omnium  vita 
aeterna  sanctorum"  (111 — 113). 

Augustin  hätte  nun  seiner  Ankündigung  gemäss  über  die  Hoffnung 
und  Liebe  (das  Gebet)  ausführhch  handeln  müssen;  aber  er  unterlässt 
das,  weil  er  eigentlich  schon  Alles  berührt  hat.  So  beschränkt  er  sich 
darauf,  zu  constatiren,  dass  die  Hoffnung  lediglich  auf  das  geht,  was 
wir  im  Vater-Unser  bitten,  dass  drei  Bitten  Ewiges  betreffen,  vier  Zeit- 
liches, und  dass  Matthäus  und  Lucas  im  Grunde  beim  Vater-Unser 
nicht  difleriren  (114  116).  In  Bezug  auf  die  Liebe  bemerkt  er,  dass 
sie  das  Grösste  ist.  Sie,  nicht  Glaube  und  Hoffnung,  entscheidet, 
welches  Mass  der  Gutheit  einem  Menschen  zukommt.  Ohne  Liebe 
können  Glaube  und  Hoffnung  bestehen;  sie  sind  aber  nutzlos.  Auf 
den  in  der  Liebe  tliätigcn  Glauben,  d.  h.  auf  den  hl.  Geist,  durch  den 
die  Liebe  in  unsere  Herzen  ausgegossen  wird,  kommt  Alles  an  ;  denn 
dort  regiert  die  fleischliclie  Lust,  wo  die  Liebe  fehlt  (117).  Vier 
menschliche  Zustände  giebt  es,  das  Leben  unter  den  altissimis  ignoran- 
tiae  tenebris,  uTiter  dem  Gesetz  (welches  Erkenntniss  und  bewusste 
Sünde  wirkt),  unter  der  Gnade  oder  der  guten  Hoffnung,  und  unter 
dem  Frieden   (im  Jenseits).    So   ist  auch  die  Gescliichte  des  Volkes 

Harnack,  Dogmengeschichte  III.  14 


210        r)iB  weltgesclüclitlichft  Stellung-  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Gottes  gewesen;  aber  Gott  hat  sclion  auf  der  ersten  und  zweiten 
Stufe  seine  Gnade  gezeigt  (118),  und  so  wird  auch  jetzt  der  Mensch 
bald  auf  der  ersten,  bakl  auf  der  zweiten  Stufe  ergrift'en  und  ilim 
alle  seine  Sünde  in  der  Wiedergeburt  vergeben  (119),  so  dass  ihm 
selbst  der  Tod  nicht  mehr  schadet  (120).  Alle  gottHchen  Gebote  zielen 
auf  die  Liebe,  und  alles  Gute,  wenn  es  aus  Furcht  vor  Strafe  oder 
sonst  einem  Beweggrund  geschieht,  geschieht  nicht  so,  wie  es  ge- 
schehen soll,  wenn  es  nicht  aus  der  Liebe  geschieht.  Alle  mandata  und 
consilia  Gottes  sind  in  dem  Gebot  der  Gottes-  und  Nächstenliebe 
zusammengefasst  und  geschehen  nur  recht,  wenn  sie  aus  Liebe  ge- 
schehen, jetzt  im  Glauben,  dann  im  Schauen.  Im  Schauen  wird  Jeder 
wissen,  was  er  am  Anderen  lieben  soll.  Schon  jetzt  nimmt  die  Begierde 
ab,  wenn  die  Liebe  wächst,  bis  es  zu  der  Liebe  kommt,  da  man  sein 
Leben  für  den  Anderen  lässt.  Wie  gross  wird  aber  im  Jenseits  die  Liebe 
sein,  wo  es  keine  Begierde  mehr  giebt,  die  zu  überwinden  ist. 


Die  vulgär-katholischen  Züge  dieser  Religionslehre  kann  Niemand 
verkennen :  das  alte  Symbol  liegt  zu  Grunde ;  die  Dreieinigkeits-  und 
Zwei-Naturen-Lehre  ist  gläubig  bekannt ;  die  Bedeutung  der  katho- 
lischen Kirche  ist  streng  gewahrt  und  ihr  Verhältniss  zur  himmlischen 
Kirche,  die  das  eigentliche  Object  des  Glaubens  ist,  so  unbestimmt  ge- 
lassen, wie  es  die  damalige  Anschauung  verlangte.  Die  Taufe  ist  als 
grande  mysterium  renovationis  in  den  Vordergrund  gestellt  und  vom 
Tode  Christi  abgeleitet,  in  welchem  der  Teufel  sein  Recht  bekommen 
hat.  Der  Glaube  ist  nur  als  ein  Vorläufiges  betrachtet;  das  ewige 
Leben  wird  nur  den  Verdiensten  zu  Theil,  welche  ein  Product  der 
Gnade  und  der  Freiheit  sind.  Sie  bestehen  in  Liebes  werken,  die  sich 
in  den  Almosen  zusammenfassen.  Von  den  Almosen  wird  breit  ge- 
handelt ;  sie  constituiren  die  Busse.  Innerhalb  der  Kirche  ist  für  alle 
Sünden  nach  der  Taufe  Vergebung  vorhanden,  wenn  nur  eine  gehörige 
Genugthuung  geleistet  wird  (satisfacere  ecclesiae;  satisfactio  congrua). 
Es  giebt  eine  Sündenscala  von  den  Verbrechen  bis  zu  den  ganz  leichten 
Sünden  des  Tages.  Eben  desshalb  giebt  es  eine  Scala  der  bösen  und 
der  guten  Menschen ;  aber  auch  die  besten  (sancti,  perfecti)  können 
nur  in  dem  Sinn  sündlos  sein,  dass  sie  keine  anderen  als  die  leichtesten 
Sünden  begehen.  Die  sancti  sind  die  vollkommenen  Asketen;  die 
Askese  ist  überhaupt  der  Gipfel  der  Liebe ;  aber  nicht  Alle  brauchen 
sie  zu  leisten:  man  muss  zwischen  mandata  und  consilia  unterscheiden. 
Im  Jenseits  wird  es  ebenso  eine  Scala  der  Seligkeit  wie  der  Unseligkeit 
geben.  Den  abgeschiedenen  Seelen,  sofern  sie  beim  Tode  nur  leichte 
Sünden  ungebüsst  gelassen  haben,  nützen  die  ]\lessopfer,  Almosen  und 


Die  neue  Religionslehre.  211 

Gebete  der  Ueberlebenden.  Sie  befinden  sich  in  einem  Fegefeuer,  das 
sie  als  Strafverhängniss  reinigt*.  Sind  schon  hierin  vulgär- kathoHsche 
Elemente  sogar  verstärkt  und  ihre  zukünftige  Ausarbeitung  vorbereitet, 
so  gilt  das  ebenso  von  der  Lehre  vom  Zwischenzustand,  von  der  zeit- 
weiligen Linderung  der  Strafe  der  Verdammten,  von  der  Hülfe,  welche 
die  heiligen  Engel  der  diesseitigen  Kirche  leisten,  von  der  Completirurig 
der  in  Folge  des  Falls  der  bösen  Engel  geschmälerten  himmlischen 
Kirche  (durch  die  erlösten  Menschen),  von  der  Jungfräulichkeit  der 
Maria  auch  in  partu  ^,  von  der  Gnade  Christi,  die  grösser  ist  als  die 
Sünde  Adams,  weiter  von  der  Annahme,  dass  unwissend  eine  falsche 
Religion  zu  haben  schlimmer  ist  als  wissend  eine  Lüge  zu  sagen,  und 
von  vielen  anderen  Lehren ,  die  von  Augustin  in  anderen  Schriften 
entwickelt  w^orden  sind.  EndHch  —  die  AuiFassung  vom  Heil,  nach  der 
dasselbe  in  der  visio  und  fruitio  dei  besteht,  liegt  Allem  zu  Grunde 
und  schlägt  überall  durch.  Doch  ist  das  Lmerlichste,  der  Heiligungs- 
process,  gebunden  an  geheimnissvoll  wirkende  Kräfte. 

Aber  andererseits  —  diese  Religiouvslehre  ist  neu.  An  das  alte 
S}mbol  (das  Apostolicum  nach  dem  Verständniss  des  Nicänums)  ist 
hier  ein  Stoff  lierangebracht,  der  nur  ganz  lose  mit  ihm  verbunden  wer- 
den kann  und  zugleich  die  ursprünglichen  Elemente  modificirt.  In 
allen  drei  Artikeln  ist  die  Behandlung  der  Sünde,  Sünden- 


*  Nicht  nur  im  Enchiridion  hat  Augustin  von  diesem  ignis  purgatorius  ge- 
sprochen. 

'^  Auch  das  werdende  Mariendogma  (s.  Bd.  II  S.  450  ff.)  ist  also  von  Augustin 
eher  gestärkt  als  geschwächt  worden.  Er  stimmte  mit  Amhrosius  und  Hieronymus 
(gegen  Jovinian)  ganz  überein.  Durch  ein  Weib  kam  der  Tod,  durch  ein  Weib  das 
Leben;  Maria's  Glaube  hat  den  Heiland  empfangen.  Auf  Julian's  bemerkens- 
werthen  Einwurf  gegen  die  Erbsündenlehre,  dass  die  Maria  durch  dieselbe  dem 
Teufel  unterworfen  würde  (nascendi  conditiono),  erwiedert  Augustin  (Op.  imp.  IV, 
122):  „ipsa  conditio  nascendi  solvitur  gratia  renascendi."  Dass  Augustin  damit  die 
unbefleckte  Empfängniss  Maria  implicite  gelehrt  habe,  darf  man  nicht  als  sicher 
(s.  Schwane  II  S.  691  f.)  behaupten.  Dagegen  hat  er  sie  allerdings  für  activ  sünd- 
los gehalten;  s.  de  nat.  et  gr.  36:  „Excepta  itaque  s.  virgine  Maria,  de  qua  i)roi)ter 
honorem  domini  nullam  prorsus,  cum  de  peccatis  agitur,  habcri  volo  quaestionem ; 
unde  enim  scimus,  quid  ei  plus  gratiac  coUatum  fuerit  ad  vincendum  omni  ex  parte 
peccatum,  quac  concipere  et  parere  meruit,  (juem  constat  nullum  habuisse  pecca- 
tiim  ?  hac  ergo  virgine  excepta  si  omnes  illos  sanctos  et  sanctas,  cum  hie  viverent, 
congregarc  possimus  et  interrogare,  utrum  essent  sine  pcccato,  quid  fuisse  respon- 
Huros  putamus,  utrum  hoc  quod  ista  dicit  an  qiiod  Johannes  apostolus?"  Gen.  ad 
litt.  X,  18 — 21.  El)en  weil  Augustin  die  Sündhaftigkeit  aller  Menschen,  auch  der 
Heiligen,  zuerst  energisch  betont  hat,  die  Maria  aber  ausnahm,  hat  er  dazu  bei- 
getragen, der  Maria  eine  besondere  Stellung  zwischen  Christus  und  den  Christen 
zu  gelten.  Die  passive  Empfänglichkeit  der  Maria  gegenüber  der  Gnade  wird  mit 
denselben  Worten  betont,  wie  die  des  Menschen  .Tesus. 

14* 


212        Die  wt^lt^eaohichtlioho  St»'lluii^  Augustin's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Vergebung  und  Vollendung  in  der  Liebe  die  Hauptsacbe 
(10— 15;  25-33;  41-52;  64—83).  Alles  wird  als  ein  innerlicber 
Process  vorgestellt,  dem  der  kurz  bebandelte  alte  dogmatisclie  Stoff  als 
untergeordnet  ersclieint.  Daber  tritt  aucb  der  dritte  Artikel  in  den 
Vordergrund  ;  den  wenigen  Worten  desselben  ist  die  Hälfte  des  ganzen 
Bucbs  gewidmet.  Scbon  im  Aufriss  zeigt  sieb  das  Neue:  auf  Glaube, 
Hoffnung  und  Liebe  kommt  Alles  an,  so  innerlicb  ist  die  Religion 
(3 — 8).  Im  ersten  ArtikelistkeineKosmologiegegeben, 
ja  es  wird  ausdrücklieb  die  Pbysik  als  Inbalt  der  Dogmatik  (9.16  f.) 
abgelebnt.  Daber  feblt  aucb  jede  Logoslebre.  Die  Dreieinigkeit, 
als  Dogma  überliefert,  wird  in  strengster  Einbeit  gefasst;  sie  ist  der 
Scböpfer.  Lii  Grunde  ist  sie  eine  Person;  die  „Personen"  sind,  wie 
uns  Augustin  in  anderen  Scbriften  belebrt,  innere  Momente  in  dem 
einen  Gott;  sie  baben  keine  kosmologiscbe  Bedeutung.  So  bat  aucb 
die  ganze  Dreieinigkeit  den  Menscben  Cbristus  im  Scbosse  der  Maria 
gescbaft'en;  der  bl.  Geist  ist  nur  genannt,  weil  „Spiritus"  aucb  eine 
Bezeicbnung  ist  für  „donum  dei".  Alles  in  der  Religion  beziebt  sieb 
auf  Gott  als  die  einzige  Quelle  alles  Guten  und  auf  die  Sünde;  diese 
wird  vom  Irrtbum  unterscbieden.  Damit  ist  mit  dem  alten  Intellec- 
tualismus  gebrocben,  wenn  aucb  ein  Rest  desselben  in  der  Bebauptung, 
die  LTtbümer  seien  sebr  kleine  Sünden,  geblieben  ist.  Sofort  w^o  an 
die  Sünde  gedacbt  wird,  wird  an  die  gratia  gratis  data,  die  prädestina- 
tianiscbe  Gnade,  gedacht.  Sie  stebt  der  vererbten  Sünde  Adams 
gegenüber ;  sie  macbt  den  gebundenen  Willen  erst  frei.  Mit  dem 
Hinweis  auf  die  misericordia  praeveniens  und  subsequens  scbliesst  die 
Auslegung  des  ersten  Artikels.  Wie  anders  bätten  die  Worte  des- 
selben gelautet,  wenn  Augustin  denselben  bätte  frei  entwerfen  können! 
Nicbt  anders  stebt  es  beim  zweiten  Artikel.  Das,  was  das  Sym- 
bol wirklich  enthält,  ist  ganz  kurz  berührt  (die  Wiederkunft  ist  nur 
erwähnt  ohne  eine  einzige  chiliastische  Bemerkung).  Dagegen  treten 
folgende  Gesichtspunkte  in  den  Vordergrund:  die  Einbeit  der 
Christuspersönlichkeit  als  des  bomo,  mit  dessen  Seele  sich  das  Wort 
verbunden  hat,  die  prädestinatianis  che  Gnade,  die  diesen 
bomo  mit  der  Gottheit  in  die  Einheit  der  Person  gebracht  bat,  obgleich 
er  keine  Verdienste  besass  (daber  die  Parallele  mit  unserer  Wieder- 
geburt), die  feste  Verknüpfung  des  Todes  Christi  mit  der  Erlösung 
vom  Teufel,  der  Versöhnung  und  der  Taufe  (Sündenvergebung)  einer- 
seits, aber  die  Betrachtung  der  Erscheinung  und  der  Ge- 
schichte Christi  als  der  Hoheit  in  der  Demuth  und  als  des 
Vorbildes  der  vita  Christiana  andererseits.  Die  erlösende  Be- 
deutung Christi  (§§  41  —  52  sind  wieder  Sünde  und  Erbsünde,    nun 


Die  neue  Religionslehre.  213 

aber  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Tilgung  durch  die  aus  dem  Tode 
Christi  fliessende  Taufe,  behandelt)  ist  für  Augustin  ebenso  stark 
in  dieser  Demuth  in  der  Hoheit  und  in  dem  Vorbild  des  christ- 
lichen Lebens  (s.  den  hl.  Bernhard  und  Franciskus)  ausgedrückt,  wie 
in  seinem  Tode.  Zwischen  diesen  beiden  Glesichtspunkten  wechselt 
er.  Die  Menschwerdung  tritt  ganz  zurück  oder  wird  unter  eine  Be- 
leuchtung gestellt,  die  den  Griechen  völlig  fremd  war.  So  ist  der 
zweite  Artikel  ein  ganz  anderer  geworden. 

In  dem  dritten  Artikel  ist  die  Unbefangenheit  und  Sicherheit, 
mit  der  eine  immerwährende  Sündenvergebung  in  der  Kirche  ge- 
lehrt wird;  die  Hauptsache  und  das  Neue.  Betrachtet  man  die  Stellung 
der  alten  Kirche,  Augustin's  und  Luther's,  zu  den  Sünden  der  ge- 
tauften Christen,  so  kann  man  bei  äusserlicher  Beurtheilung  sagen, 
man  sei  immer  laxer  geworden,  und  die  steigende  Hervorhebung  der 
Gnade  (des  rehgiösen  Factors)  sei  nur  ein  Mittel  gewesen,  um  den 
strengen  Anforderungen  des  Evangeliums  an  die  Moral  (das  christ- 
liche Leben)  zu  entfliehen.  Diese  Beurtheilung  ist  auch  richtig,  wenn 
man  auf  die  grosse  Menge  sieht,  welche  den  Führern  gefolgt  ist. 
Allein  bei  ihnen  selbst  waren  die  neuen  Erkenntnisse  durch  eine  Ver- 
tiefung des  Sündenbewusstseins  und  eine  Versenkung  in  die  Grösse 
der  Gnade  Gottes,  wie  Paulus  sie  gelehrt,  hervorgerufen.  Augustin 
steht  zwischen  der  alten  Kirche  und  Luther.  Die  Frage  der  persön- 
lichen Heilsgewissheit  hat  ihm  noch  nicht  die  Seele  getrofi'en;  aber 
die  Frage,  wie  werde  ich  meiner  Sünden  ledig  und  mit  Gottes 
Kraft  erfüllt,  war  seine  Grundfrage.  Im  Anschluss  an  das  vulgär 
KathoHsche  schaut  er  auf  gute  Werke  aus  (Almosen,  Gebet,  Askese), 
aber  er  fasst  sie  als  Product  der  Gnade  und  des  Willens,  der  unter 
der  Gnade  steht  *,  er  warnt  ferner  vor  jedem  äusserlichen  Thun. 
Wie  er  alle  Kultusmystik  bei  Seite  lässt,  so  weiss  er  sehr  wohl,  dass 
mit  Almosen  allein  nichts  zu  erkaufen  ist,  sondern  dass  es  auf  eine 
innere  Umbildung,  ein  reines  Herz  und  einen  neuen  Geist,  ankommt. 
Zugleich  ist  er  gewiss,  dass  auch  nach  der  Taufe  immerfort  der 
Weg  der  Sündenvergebung  dem  Bussfertigen  offen  steht,  und  dass 
der  die  Sünde  wider  den  hl.  Geist  begeht,  der  an  diese 
Sündenvergebung  in  der  Kirche  nicht  glaubt.  Das  ist  eine 
vöUig  neue  Deutung  des  evangelischen  Spruches.  Noch  ausführlicher, 
als  im  dritten  Artikel  zum  dritten  Mal  die  Südenvergebung  behan- 
delt ist,  ist  aucli  das  Schlussglied  des  Symbols  (resurrectio  carnis) 
erklärt.  Aber  die  Hauptsache  ist  hier  nach  kurzer  Erörterung  des 
eigentlichen  Themas  —  die  Prädestinationslehre'  und   eine  als 

*  Die  PrädcbtinatiouBlehre  —  vor  Augustin  in  der  katholiBchcn  Kirche  nahezu 


214        r*'ö  weltgeschichtliche  Stellung  Augustiu's  als  Lehrer  der  Kirche. 

Lehre  ebenfalls  wesentlich  neue  Betrachtung,  die  an  Stelle  der  orige- 
nistischen  Lehre  von  der  Apokatastasis  tritt  —  die  Annahme  eines 
Zwischenzustandes  und  einer  Läuterung  der  Seelen  in  demselben,  zu 
welcher  die  Opfer  und  Gebete  der  Ueberlebenden  beitragen  können. 

Die  Frömmigkeit :  Glaube  und  Liebe  statt  Furcht  und  Hoff- 
nung ;  die  Religionslehre :  etwas  höheres  als  Alles,  was  Lehre  heisst, 
ein  neues  Leben  in  der  Kraft  der  Liebe ;  die  Lehre  von  der  Schrift : 
die  Sachen  (das  Evangelium,  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung  —  Gott)*, 
die  Trinität:  der  eine  lebendige  Gott;  die  Christologie :  der  eine 
Mittler,  der  Mensch  Jesus,  mit  dessen  Seele  die  G  ottheit  sich  verbunden 
hat,  ohne  dass  sie  es  verdiente ;  die  Erlösung :  der  Tod  zum  Besten 
der  Feinde  und  die  Demuth  in  der  Hoheit;  die  Sacramente:  das 
Wort  neben  den  Zeichen  ;  die  Seligkeit :  die  beata  necessitas  des 
Guten;  das  Gute:  die  Sehgkeit  in  der  Abhängigkeit  von 
Gott;  die  Geschichte:  Gott  wirket  Alles  nach  seinem 
AV  0  h  1  g  e  f  a  1 1  e  n.  Damit  vergleiche  man  die  Dogmatik  der  Griechen !  ' 

Auch  der  Umfang  und  die  Stellung  des  Dogmas  ist  durch  diese 
Umbildung  moditicirt  worden.  Die  alten  Dogmen  der  ungetheilten 
Kirche  wurden,  eben  weil  sie  in  den  Hintergrund  rückten  und  nicht 

unerhört  —  ist  die  Kraft  seines  religiösen  Lebens  gewesen,  wie  der  Chiliasmus  die 
Kraft  der  uacliapostolischen  Kirche  und  die  Mystik  die  Kraft  der  griechischen  war. 
Wohl  hat  die  Prädestinationslehre  bei  Augustin  neben  der  biblischen  und  der  neu- 
platonischen  auch  eine  starke  religiöse  "Wurzel  —  die  gratia  gratis  data.  Aber  diese 
allein  erklärt  die  Bedeutung  nicht,  welche  die  Lehre  bei  ihm  gewonnen  hat.  Wie 
Alles,  was  in  der  Natur  lebt  und  wirkt,  an  ein  Anderes  gebunden  ist  und  sich  nie  in 
freiem  Zustand  findet,  so  giebt  es  auch  keine  destillirte  Frömm^'gkeit.  ImGegentheil, 
solange  wir  Menschen  Menschen  sind,  wird  gerade  die  lebendigste  Frömmigkeit  am 
wenigsten  isolirt  und  frei  sein.  Nur  der  Dogmatiker  vermag  eine  solche  zu  constru- 
ireu.  Aber  die  Geschichte  lehrt,  dass  alle  grossen  religiösen  Persönlichkeiten  ihren 
Heilsglauben  mit  Ueberzeugungen  unauflöslich  verbunden  haben,  diö  dem  reflec- 
tirenden  Verstand  als  ungehörige  Zugaben  erscheinen.  In  der  Geschichte  des 
Christenthums  sind  es  die  drei  genannten  —  der  Chiliasmus,  die  Mystik,  die  Prä- 
destinationslehre. An  diesen  Rinden  ist  der  Glaube  gewachsen,  wie  der  Saft  der 
Pflanze  nicht  in  der  Mitte  des  Stammes  strömt,  sondern  an  der  Peripherie,  wo 
Stamm  und  Rinde  sich  trefi'en.  Entblösst  den  Baum,  und  er  wird  vertrocknen !  Daher 
ist  es  zwar  wohl  gemeint,  aber  thöricht,  wollte  man  annehmen.  Augustin  hätte  es 
besser  gemacht,  wenn  er  seine  Lehre  ohne  die  Prädestinationslehre  vorgetragen  hätte. 
^  Eine  ausgezeichnete  Vergleichung  zwischen  Origenes  und  Augustiu  findet 
sich  bei  Bigg,  The  Christian  Platonists  p.  284 — 290.  Er  hat  die  Widersprüche  in 
Augustin's  Lehre  von  dem  Urständ,  der  Erbsünde  und  der  Gnade  scharf  hervorge- 
hoben, aber  auch  den  Fortschritt  Augustin's  über  Origenes  nicht  verkannt.  Ent- 
wickelt man  Augustin's  Lekre  von  der  Prädestination  aus,  dann  hat  Bigg  Recht, 
w^enn  er  sagt:  „Aug.  System  is  in  truth  that  ofGnostics,  the  antecestors  of  the  Maui- 
chees.  For  it  makes  no  real  difference  whether  our  doom  is  btamped  upon  the  na- 
ture  given  to  us  by  our  creator,  or  fixed  by  an  arbitrary  decree.'* 


I 


Geschiclite  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  -des  Mittelalters.     215 

mehr  der  Ausdruck  der  Frömmigkeit  selber  waren,  starrer ;  sie  em- 
pfingen mehr  und  mehr  den  Charakter  einer  Kechtsordnung.  Die 
neuen  Dogmen  (die  Sünden-  und  Gnadenlehren)  dagegen,  in  denen  die 
Frömmigkeit  lebte,  erhielten  in  ihrer  positiven  Ausgestaltung  noch 
nicht  die  Stellung  und  den  Werth  der  alten,  wie  sie  auch  nicht  in 
runden  Formeln  ausgeprägt  wurden  K  Somit  wurde  durch  Augustin 
die  Kirchenlehre  in  der  Dogmengeschichte  nach  Umfang  und  Be- 
deutung unsicherer.  Sie  wurde  einerseits  in  das  Evangelium  selbst 
zurückgeführt,  andererseits  grenzte  sie  sich  nun  viel  weniger  scharf 
als  früher  gegen  die  Theologie  ab,  da  den  neuen  Gedanken  die 
sichere  Formulirung  fehlte.  Um  das  alte  Dogma,  welches  sich  in 
erstarrter  Giltigkeit  behauptete,  bildete  sich  ein  grosser  unsicherer 
Kreis  von  Lehren,  in  welchem  die  wichtigsten  Glaubensgedanken 
lebten,  und  der  doch  von  Niemandem  überschaut  und  festgefügt 
werden  konnte.  Das  ist  der  Zustand  des  Dogmas  im  Mittelalter. 
Neben  der  Erstarrung  beginnt  bereits  der  Process  der 
inneren  Auflösung. 

Unter  den  Stürmen  der  Völkerwanderung,  unmittelbar  bevor  die 
Macht  der  Barbarei  einbrach,  hat  Gott  der  Kirche  einen  Mann  ge- 
schenkt, der  geistliche  Dinge  geistlich  gerichtet  und  die  Christenheit  ge- 
lehrt hat,  was  christliche  Frömmigkeit  sei.  Soweit  wir  zu  urtheilen  ver- 
mögen, wären  die  jungen  germanisch-romanischen  Völker  völlig  unfähig 
gewesen,  das  ihnen  als  Gesetz  und  Kultus  in  festen  Formeln  über- 
lieferte Kirchenthum,  die  damalige  christliche  Religion,  je  sich  inner- 
lich anzueignen  und  von  der  Schale  bis  zum  Kerne  vorzudringen, 
wenn  ihnen  nicht  mit  diesem  Kirchenthum  Augustin  überliefert 
worden  wäre.  Den  Muth,  die  Kirche,  und  die  Kraft,  sich  selber  zu 
reformiren,  haben  sie  aus  Augustin  geschöpft,  oder  vielmehr  aus  dem 
Evangelium  unter  Anleitung  Augustin's. 

Fünftes  Capitel:  Geschiclite  des  Dogmas  im  Abendland  bis 
zum  Beginn  des  Mittelalters  (von  430—604). 

Welchen  Antheil  in  diesem  Zeiträume  das  Abendland  an  den 
christologischen  Streitigkeiten  des  Morgenlandes  genommen,  welchen 
hohen  Aufschwung  das  Papstthum  durch  die  Naclifolger  des  Damasus, 
ferner  durch  Leo  I.  und  seine  Nachfolger  erhalten  liat,  wie  es  im  G.Jahr- 
hundert in  die  ostgothisch-byzantinischen  Wirren  hineingezogen  worden 

*  Der  Widerstand  der  Pelagianer  und  Genossen  war  aueh  ein  Widerstand 
gegen  neue  Dogmenbildung  überhaupt.  Ganz  wie  einst  die  Eusebianer  im  aria- 
nisehen  Kampf,  haben  sie  sieh  auch  aus  formellen  Gründen  gegen  die  neue  Dog' 
menbildung  der  nordafrikanischen  Kirche  gcHträubt, 


216     Gescliichte  des  Dogmas  im  AbeucUaud  bis  zum  Beginn  des  IMittelalters. 

und  in   ihnen    (unter  Justinian)    nahezu  untergegangen  ist  y  wie  das 

5.  Concil  einen  Riss  im  Abendhmd  lierv orger ufen  und  die  Stellung  des 
Papstthums  erschüttert  hat,  wie  es  aber  durch  Gregor  I.  seine  Bedeu- 
tung wiedergewonnen  und  verstärkt  hat  \  das  ist,  soweit  es  für  die 
Doginengeschichte  von  Bedeutung,  in  dem  IL  Bande  unseres  Werkes 
dargestellt  worden  '^.  Ebendort  ist  auch  der  wichtigen  Schrift  gedacht, 
in  welcher  ^'incentius  von  Lerinum ,  auf  den  Schultern  Augustin's 
stehend,  die  antiquitas  catholicae  fidei,  d.  h.  den  katholischen  Traditions- 
begriff, dargestellt  hat  •'.  Das  ganze  Abendland  wurde  in  unserer  Periode 

*  Freilich  musstc  Gregor  das  5.  Concil  nahezu  preisgeben. 

■^  Das  Pai)stthiini  hat  seit  den  Tagen  des  Damasus  bis  zum  Ende  des  5.  Jahr- 
hunderts den  grössteu  Aufschwung  geuonmicn :  damals  hat  es  sich  entschieden, 
dass  der  Primat  eine  bleibende  Institution  der  katholischen  Kirche  werden  sollte. 
Der  Aufschwung  ist  eine  Folge  davon  gewesen,  dass  in  jenem  Jahrhundert  mehrere 
ganz  besonders  befähigte,  geschickte  und  thatkräftige  Bischöfe  den  Stuhl  des  hl. 
Petrus  besessen  haben.  Allein  in  noch  weit  höherem  Masse  haben  die  äusseren  Ver- 
hältnisse den  Fortschritt  bedingt.  Die  wichtigsten  seien  hier  genannt:  1)  Die  dog- 
matischen AVirren  im  Orient  gaben  den  Päpsten  Gelegenheit  als  Schiedsrichter 
aufzutreten,  resp.  die  „dem  Stuhle  des  hl.  Petrus  eigenthümliche"  Lehrcorrectheit 
in  hellem  Lichte  strahlen  zu  lassen.  2)  Das  untergehende  weströmische  Kaiserthum 
stützte  sich  zuletzt  (s.  die  ep.  Valent.  III.  an  Leo  I.)  auf  den  römischen  Bischof;  als 
es  versank,  war  dieser  der  natürliche  Erbe  desselben,  da  die  politische  Centralge- 
walt  im  Westen  dahin  war  und  der  byzantinische  Kaiser  nicht  die  Gewalt,  der  ger- 
manische Bandenführer  nicht  das  Ansehen  hatte,  sie  herzustellen.  3)  Die  Stürme 
der  Völkerwanderung  trieben  die  Katholiken  der  abendländischen  Länder,  welche 
von  Arianern  besetzt  wurden,  in  die  Arme  Roms ;  geschah  dies  nicht  sofort,  so 
hörte  doch  der  Widerstand  dort  auf,  den  die  Provinzen,  besonders  Nordafrika, 
gegen  die  Ansprüche  des  römischen  Bischofs  früher  geleistet  hatten.  4)  Die  Patri- 
archats Verfassung  hat  sich  niemals  im  Abendland  durchgesetzt;  damit  war  die 
Entwicklung  zur  Primats  Verfassung  für  die  Zukunft  sichergestellt.  5)  Die  Aus- 
einandersetzungen mit  der  politischen  Gewalt  Ostroms  und  des  dortigen  Hof  bischofs 
nöthigten  die  römischen  Bischöfe,  ihre  besondere  Stellung,  die  sie  der  Welthaupt- 
stadt verdankten,  jetzt  ganz  und  gar  von  der  geistlichen  (apostolischen,  petrinischen) 
AVürde  abzuleiten,  um  nicht  gegenüber  Konstantinopel  den  Kürzeren  zu  ziehen. 
Aber  diese  ausschliessliche  Fundamentirung  des  römischen  Stuhls  auf  Petrus 
war  in  einer  Zeit,  wo  alles  Politische  schwankte  oder  zusammenbrach,  das  Religiöse 
aber  respectirt  wurde,  die  sicherste  Grundlage.  Selbst  der  Gedanke  der  politischen 
Souveränetät,  soweit  ein  solcher  Gedanke  im  römischen  Reich  überhaupt  aufkom- 
men konnte,  scheint  den  Nachfolgern  Leo's  aufgedämmert  zu  sein.  Jedenfalls  stand 
das  Papstthum  am  Ende  des  5.  Jahrhunderts  so  fest,  dass  selbst  die  Stürme  des 

6.  Jahrhunderts  es  nicht  mehr  zu  entwurzeln  vermochten.  Dass  im  Abendland 
(ausserhalb  Roms)  die  Theorie  des  römischen  Bischofs  (nacliMtth.  16)  nur  laugisam 
Anerkennung  fand,  und  dass  man  sich  selbständig  zu  halten  versuchte,  soweit  die 
Noth  es  gestattete,  soll  ausdrücklich  bemerkt  sein.  Die  Theologen  wussten  nur  da- 
von, dass  der  römische  Bischof  die  kirchliche  Einheit  repräsentire,  und  stimmten 
der  päpstlichen  Schlussfolgerung,  dass  Rom  die  Kirche  zu  leiten  habe,  nicht  zu. 

«  M.  II  S,  105  ß'. 


Geschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn'des  Mittelalters.     217 

von  den  Stürmen  der  Völkerwanderung  bewegt.  Die  alte  Welt  erhielt 
den  letzten  Stoss,  und  unter  dem  Schrecken  und  der  Noth  der  Zeit 
schien  die  Kirche  selbst,  soweit  sie  aus  Römern  gebildet  war,  zu  ver- 
wildernd Die  jungen  Völker,  welche  einströmten,  waren  christlich,  aber 
arianisch.  Nur  im  Frankenreich  bildete  sich  ein  katholisch-germanisches 
Volk  und  begann  langsam  mit  der  alten  römischen  Bevölkerung  zu  ver- 
schmelzen ;  aber  die  Kirche  mit  ihrem  Kultus,  ihrem  Recht  und  ihrer 
Sprache  blieb  lateinisch :  victus  victori  legem  dat.  Die  Franken  waren 
Anfangs  in  der  lateinischen  Kirche,  wie  heutzutage  die  finnisch-mongoli- 
schen Völker  in  der  griechischen  Kirche  Russlands  sind.  Diese  latei- 
nische, aber  im  Frankenreich  vom  römischen  Bischof  getrennte,  resp.  mit 
ihm  nur  durch  Hochachtung  verbundene  Kirche,  bewahrte  in  Gallien  und 
Spanien  ihre  alten  Interessen  und  setzte  ihr  altes  Leben  bis  zum  Ende 
des  6.  Jahrhunderts  fort^.  Auch  dann  noch  ist  die  alte  Kultur  in  ihr 
nicht  ganz  untergegangen,  aber  sie  wurde  doch  durch  die  aus  der  Ver- 
schmelzung mit  der  eingeströmten  Bevölkerung  sich  ergebende  Bar- 
barei nahezu  erstickt.  In  Nordafrika  erhielt  sich  trotz  der  furchtbaren 
Leiden  das  katholisch-lateinische  Kirchenthum  bis  ins  7.  Jahrhundert; 
aber  die  einst  Rom  gegenüber  so  selbständige  Kirche  sah  sich  in  dieser 
Periode  mehr  als  einmal  genöthigt,  ihre  Zuflucht  zu  Rom  zu  nehmen, 
um  sich  zu  behaupten.  Ganz  eigenthümHch  war  die  Lage  Italiens,  d.  h. 
des  römischen  Bischofs;  denn  die  Kirche  Mittel-  und  Unteritaliens 
hat  in  der  Kirchengeschichte  niemals  eine  Rolle  gespielt.  Soweit  es  im 
Abendland  innerhalb  der  germanischen  Reiche  noch  eine  katholische 
Kirche  gab,  repräsentirte  diese  den  Rest  des  zertrümmerten  weströmi- 
schen Reiches  und  lag  desshalb  in  der  Machtsphäre  des  römischen 
Bischofs,  mochte  auch  dieses  Verhältniss  momentan  nicht  deutlich  zum 
Ausdruck  kommen.  Al)er  dieser  römische  Bischof  war  selbst  an  den 
Orient  gekettet,  und  diepohtischen  und  kirchlichen  Verhältnisse  zwangen 
ihn,  mehr  in  den  Osten  als  in  den  AVesten  zu  schauen.  Dass  er  trotz- 
dem den  Zusammenhang  mit  diesem  nicht  verloren  hat,  verdankt  er  im 
6.  Jahrhundert  mehr  seiner  Vergangenheit  und  der  unerschütterlichen 
Stellung  in  Rom,  als  einer  zielbewussten  Pohtik^. 

*  Salvian.,  de  gubcrn.  111,  44:  „Ipsa  ccclcsia,  (juac  in  omuibiis  esse  debct  placa- 
trix  dci,  quid  est  aliud  quam  oxaccrbatrix  deiV  aut  praeter  paucissimos  quosdam, 
qui  mala  fugiunt,  quid  est  aliud  [)acnc  omnis  coetus  Christianorum  quam  sentina 
vitiorumV' 

'^  8.  Jlatch,  Gcsellschaftsvcrfassuug  S.  199  11".,  Gruiidl.  d,  Kirchenvcrfassung 
Westeuropas  S.  1  f. 

"  Die  Anerkennung  des  5.  Coucils  iu  Rom  hätte  beinahe  Italien  und  Nord- 
afrika dem  Papst  cufremdet. 


218     (Jeschichte  des  Dogmas  im  Abendlaml  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

Unter  den  katholischen  Bischöfen,  die  als  Repräsentanten  des  rö- 
mischen Reiches  in  Gallien  und  NordalVika  nachgehlieben  waren,  spielte 
sich  ein  nicht  ganz  unbedeutendes  Stück  Doginengeschichte  in  unserer 
Periode  ab  —  der  Kani})f  für  und  wider  den  vollen  Augustinismus. 
Der  römische  Bischof,  viel  mehr  mit  den  christologisch-politischen 
Fragen  des  (3rients  beschäftigt,  hat  doch  auch  hier  eingegriffen.  Am 
Schlüsse  unserer  Periode,  als  es  völlig  Nacht  im  Abendland  wurde,  hat 
der  grosse  Mönchspapst  und  pater  superstitionum  dem  Mittelalter  das 
Kirchenthum  so  zubereitet,  wie  es  rohe  Völker  bedurften.  Er  hat  sich 
dabei  selbst  keinen  Zwang anthun  müssen;  denn  die  untergehende  Kultur 
neigte  sich  der  Barbarei  zu  ^ 

AVir  haben  demgemäss  im  Folgenden  nur  den  Kampf  um  den 
Augustinismus  und  die  dogmengeschichtliche  Bedeutung  Gregor's  des 
Grossen  zu  betrachten'^. 


^  Doch  ist  in  Italien  (Rom)  die  klassische  Bildung  nie  ganz  erloschen.  Im 
ü.  Jahrhundert  sind  der  kirchlich-fromme  Cassiodorius  einerseits,  der  latitudinari- 
sche  Boethius  andererseits  ihre  Repräsentanten.  Jener  hat  für  die  Kirche  und  das 
Monchthum  seiner  Zeit  ernsthaft  gearbeitet  (vgl.  auch  die  Bestrebungen  des  Juui- 
lius);  dieser  hat  eine  spätere  Zeit  belehrt  (s.  oben  S.  30 f.). 

^  Ueber  die  Geschichte  des  apostolischen  Symbols  in  unserer  Periode  s. 
meinen  Art.  in  Herzog's  R.-Encj'klop.  2.  Aufl.,  Gas  pari,  Quellen  I. — IV.  Bd., 
V.  Zez schwitz,  System  der  Katechetik  11, 1.  Von  den  Zusätzen,  die  das  alte  römi- 
sche Symbol  erhalten  hat  und  die  später  allgemein  recipirt  worden  sind,  ist  dogma- 
tisch allein  wichtig  der  Ausdruck  „communio  sanctorum".  Ans  der  zweiten  Homilie 
des  Faustus  von  Reji  (Caspari,  Kirchenhist.  Anekdota  S.  338)  und  aus  seinem 
Tractat  de  symbolo,  den  er  allerdings  nicht  selbst  redigirt  hat  (Caspari,  Quellen 
IV  S.  250  Ö'.),  lässt  sich  beweisen,  dass  südgallische  Gemeinden  in  der  zweiten  Hälfte 
des  5.  Jahrhunderts  die  AVorte  „communio  sanctorum"  im  Apostolicum  hatten. 
AVeiter  lassen  sie  sich  m.  W.  nicht  zurückverfolgen  (über  Nicetas  von  Aquileja 
enthalte  ich  mich  des  Urtheils).  Wäre  es  sicher,  dass  sie  lediglich  eine  exege- 
tische Apposition  zu  „sancta  ccclesia"  sein  sollen,  so  hätte  man  anzunehmen,  dass 
die  unzählig  häufigen  Stellen,  in  denen  Augustin  die  Kirche  als  communio  sancto- 
rum,  d.  h.  der  Engel  und  aller  Erwählten,  einschliesslich  der  einfachen  iusti  (oder 
mit  synonjTnen  Ausdrücken)  beschreibt,  eingewirkt  haben.  Aber  erstlich  begreift 
man  nicht,  wie  eine  blosse  exegetische  Apposition  in  das  Symbol  gekommen,  imd 
warum  das  gerade  in  Gallien  geschehen  ist ;  zweitens  fiilirt  die  Erklärung  der  "Worte 
bei  Faustus  in  eine  andere  Richtung.  In  der  2.  Homilie  heisst  es:  „Credamus  et 
sanctorum  communionem,  sed  sanctos  non  tarn  pro  dei  parte,  quam  pro  dei  honore 
veneremur.  Non  sunt  sancti  pars  illius,  sed  ipse  probatur  pars  esse  sanctorum. 
Quare?  quia,  quod  sunt,  de  illumiuatione  et  de  similitudine  eins  accipiunt;  in  sanctis 
autem  non  res  dei,  sed  pars  dei  est.  Quicquid  enim  de  deo  participant,  divinae  est 
gratiae,  non  naturae.  Colamus  in  sanctis  timorera  et  amorem  dei,  non  divinitatem 
dei,  colamus  merita,  non  quae  de  proprio  habent,  sed  quae  accipere  pro  devotiouo 
meruerunt.  Digne  itaque  venerandi  sunt,  dum]  nobis  dei  cultum  et /uturae  vitao 
desiderium  contemptu  mortis  insinuant."  Und  noch  deutUcher  im  Tractat  (S.  273  i\); 


Semipelagianismus  und  Augustinismus.  219 

1.  Der  Kampf  des  Semipelagianismus  und  Augustinismus. 

Augustin  und  die  nordafrikanisclie  Kirche  hatten  es  durchgesetzt, 
dass  der  Pelagianismus  verurtheilt  wurde;  aber  der  Augustinismus  war 
damit  in  der  Kirche  keineswegs  recipirt.  Zwar  stand  die  Autorität 
Augustin's  überall  sehr  hoch,  und  in  manchen  Kreisen  wurde  er  mit 
Begeisterung  verehrt^;  allein  sowohl  weil  sie  neu  und  unerhört  war'^, 
als  weil  sie  den  herrschenden  Anschauungen,  aber  auch  klaren  Stellen 
der  hl.  Schrift  zuwiderlief,  fand  die  Lehre  von  der  gratia  irresistibilis 
(der  absoluten  Prädestination)  Widerspruch.  Der  Kampf  gegen  dieselbe 
ist  nicht  nur  der  Kampf  der  alten  Anschauung  der  Kirche  wider  eine 
neue;  denn  der  Semipelagianismus  ist  die  alte  Doctrin  des 
Tertullian,  Ambrosius  und  Hieronymus,  sondern  im  Kampf  ist 
auch  das  alte  Evangelium  vertheidigt  worden  gegen  eine  neue  Doc- 
trin; denn  der  Semipelagianismus  ist  auch  ein  an  augustini- 
scher  Frömmigkeit  erwachsener,  evangelischer  Protest 
wider  einen  alsLehre  unerträglichenG-edanken  Augustin's^. 
Mithin  ist  nicht  das  wunderbar,  dass  trotz  der  Niederwerfung  des  Pela- 
gianismus der  ..Semipelagianismus"  das  Haupt  erhoben  hat,  sondern 
wunderbar  ist,  dass  er  schliesslich  gezwungen  wurde,  sich  unter  den 
Augustinismus  zu  beugen.  Mit  voller  Aufrichtigkeit  ist  das  freihch  nie 
geschehen.  Andererseits  steckte  im  Augustinismus  selbst  ein  Stück 
„Semipelagianismus",  nämlich  in  der  Lehre  vom  Urständ,  von  der  Ge- 
rechtigkeit (als  Product  der  Gnade  und  des  Willens)  und  von  den  Ver- 
diensten.  Bei  dem  Siege  des  Augustinismus  mussten  diese  Stücke  in 


„  .  .  .  transeamus  ad  sanctorum  communionem.  Illos  hie  sententia  ista  confundit, 
qui  sanctorum  et  amicorum  dci  cincres  non  in  honorc  dcbere  esse  blasphcmant, 
qui  beatorum  martyruni  gloriosam  mcmoriam  sacroruni  rcverentia  monumentorum 
colendam  esse  non  credunt.  In  symbolum  praevaricati  sunt,  et  Christo  in  fönte 
mentiti  sunt."  Faustus  versteht  also  unter  den  „sancti"  nicht  alle  iusti,  sondern  — 
wie  auch  Augustin  nicht  selten  —  die  specifisch  „Heiligen",  und  er  behauptet,  die 
W^jrte  kehrten  ihre  Spitze  gegen  die  Anhänger  des  Vigilantius,  die  den  Heiligen- 
cult  verwarfen.  In  diesem  Fall  heisst  „communio  sanctorum"  entweder  Gemein- 
schaft der  oder  mit  den  specifisch  „Heiligen".  Ob  dies  wirklich  der  Gedanke  ist, 
dem  das  Apostolicum  die  zweifelhafte  Bereicherung  verdankt,  oder  ob  es  nur  eine 
sehr  frühe,  ja  die  älteste  Erklärung  ist,  lasse  ich  dahingestellt.  —  Uebcr  das 
„filioque"  im  Constantinopolitanum  s.  Bd.  II  S.  291 — 298. 

'  S.  die  ep.  Prosperi  ad  Aug.  [225J.  Hier  heisst  Augustin  „iueffabilitcr  mira- 
bilis,  incomparabiliter  honorandus,  praestantissinus  patronus,  columna  veritatis 
ubiquc  gentium  conspicua,  specialis  fidei  patronus". 

''  S.  das  Commonit.  des  Vinccntius. 

"Der  Semipelagianismus  fusst  unzweifelhaft  auch  auf  augustinischen  Ge- 
danken. 


220     beschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters, 

den  Vordergrund  treten.    Damit  war  dann  aber  eine  ganz  unsichere, 
verschiedener  Deutung  fähige,  in  sich  unwahre  Situation  geschaffen. 

Augustin  seihst  erlebte  es,  dass  seine  (iiiadenlehre  unter  den 
München  zu  Hadruniet  innere  Unruhen  hervorrief:  Mit  dem  freien 
Willen  ist  es  aus ;  die  Menschen  können  die  Hände  in  den  Sclioss 
legen;  gute  AVerke  sind  üherHiissig;  auch  beim  Endgericht  kommt  es 
nicht  auf  die  AVerke  an.  Augustin  suchte  sie  durch  den  Tractat  de 
gratia  et  lib.  arbitrio  zu  beruhigen  und  sandte  diesem  die  Schrift  de 
correptione  et  gratia  nach,  als  er  horte,  man  sei  dort  auch  zweifelhaft 
geworden,  ob  man  die  Fehlenden  und  Sünder  ferner  noch  zurechtweisen 
oder  nicht  vielmehr  sich  mit  Fürbitten  begnügen  solle.  In  diesen  Schrif- 
ten ist  Augustin  bestrebt,  die  Missverständnisse  der  Mönche  zu  besei- 
tigen, formulirt  aber  seine  Gnadenlehre  selbst  schärfer  denn  je.  Ein 
Jahr  darauf  (428/9)  berichteten  ihm  seine  ergebenen  Freunde  Prosper, 
Tyro  '  und  Hilarius-^  (cpp.  225.  226),  dass  man  zu  Massiha  und  an  an- 
deren Orten  Galliens  die  strenge  Prädestinationslehre  und  die  Ansicht 
von  der  völligen  Unfähigkeit  des  Willens  nicht  gelten  lassen  wolle ^, 
weil  sie  die  christliche  Predigt  lähme.  Augustin  antwortete,  indem  er 
durch  seine  beiden  Schriften  de  praedestinatione  sanctorum  und  de  dono 
perseverantiae  die  Freunde  stärkte,  den  Gegnern  aber  neue  Anstösse 
gab.  Bald  darauf  starb  er,  seinen  Mantel  Schülern  zurücklassend,  deren 
Treue  und  Zähigkeit  ersetzen  musste,  was  ihnen  an  Selbständigkeit  ab- 
ging. Jene  gallischen  Mönche  („servi  dei")  schritten  jetzt  zur  offenen 
Opposition  vor  ^  Es  ist  wohl  verständlich,  dass  gerade  Mönche  und 
griechisch  gebildete  Mönche  zuerst  auf  den  Kampfplatz  traten.  Unter 
ihnen  ragten  flohaunes  Cassianus,  der  Vater  des  südgalhschen  Mönch- 
thums^,  und  Vincentius  von  Lerinum^  hervor.  Der  Erstere  hat  beson- 
ders in  der  13.  Verhandlung  seiner  „collationes  patrum",  welche  den 
Titel  führt  „de  protectione  dei^',  seinen  Standpunkt  formulirt.  Er  nimmt 


*  Ueber  diesen  s.  das  Programm  von  Wörter,  Freiburg  1867  und  Hauck  in 
der  R.-E. 

'^  Nicht  zu  verwechseln  mit  Hilarius  von  Arles,  dem  Semipelagianer. 
^  Der  AViderspruch  wurde  zunächst  vorsichtig  erhoben. 

*  Eine  genaue  Darstellung  des  Streits  hat  Wiggers  im  2.  Bd.  seiner  „Prag- 
matischen Darstellung  des  Augustinismus  und  Pelagianismus"  (1833)  gegeben,  s. 
auch  Luthardt,  Die  L.  v.  fr.  Willen  1863.  Die  spätere  Entwickeluug  von  Gregor  I. 
bis  Gottschalk  hat  Wiggers  i.  d.  Ztsch.  f.  d,  hist.  Theol.  1854.  55.  57.  59  geschildert. 

°  S.  de  coenobiorum  institutis  1.  XII. 

®  Das  Commonitorium  richtet  sich  schliesslich  gegen  Augustiu.  Dass  es  nur 
verstümmelt  auf  uns  gekommen  ist,  erklärt  sich  wohl  aus  dem  Widerspruch  gegen 
Augustin.  Ausserdem  hat  uns  Prosper  die  Einwürfe  des  Vincentius  gegen  Augustiu 
erhalten. 


Die  hadrumetischen  Mönche.   Vincentius  und  Cassian.  221 

vor  Allem  an  der  unbedingten  Prädestination^  an  der  Particulari- 
tät  der  Gnade  und  an  der  völligen  Unfreiheit  des  AVillens  Anstoss. 
Seine  Lehre  über  Gnade  und  Freiheit  ist  folgende : 

Die  Gnade  Gottes  ist  das  Fundament  unseres  Heils ;  aller  Anfang 
ist  insofern  von  ihr  abzuleiten,  als  sie  die  Gelegenheit  des  Heils  und  die 
Möglichkeit,  selig  zu  werden,  herbeiführt.  Allein  das  ist  die  äussere 
Gnade ;  die  innere  ist  die,  welche  den  Menschen  ergreift,  ihn  erleuchtet, 
straft,  heiligt  und  seinen  Willen  ebenso  durchdringt,  wie  seinen  Ver- 
stand. Ohne  diese  Gnade  kann  die  menschliche  Tugend  weder  wachsen 
noch  vollendet  werden  (daher  sind  die  Tugenden  der  Heiden  sehr  ge- 
ringe Tugenden)  ^  Aber  die  Anfänge  des  guten  Willens,  der  guten 
Gedanken  und  des  Glaubens  (im  Sinne  der  Vorbereitung  für  die  Gnade) 
können  aus  uns  sein.  Daher  ist  die  Gnade  schlechthin  nothwendig, 
um  zur  Seligkeit  (Vollkommenheit)  zu  gelangen,  aber  nicht  ebenso  noth- 
wendig, um  den  Anfang  zu  machen.  Sie  begleitet  uns  auf  allen  Stadien 
des  inneren  Wachsthums,  und  unsere  Anstrengung  vermag  nichts  ohne 
sie  (libero  arbitrio  semper  cooperatur);  aber  sie  trägt  und  begleitet  nur 
den  wirklich  Strebenden,  der  sich  nach  dem  Ziele  streckt.  Doch  zu- 
weilen kommt  Gott  dem  Willen  der  Menschen  zuvor  und  macht  sie 
erst  zu  Wollenden  (so  bei  Matthäus  und  Paulus) ;  allein  auch  diese  — 
seltene  —  Gnadenwirksamkeit  ist  nicht  unwiderstehlich.  Der  freie  Wille 
wird  von  Gott  niemals  vernichtet  —  das  muss  man  festhalten,  auch 
wenn  man  die  Unbegreiflichkeit  der  göttlichen  Gnade  eingesteht.  Ebenso 
muss  man  streng  daran  festhalten,  dass  Gott  das  Heil  Aller  ernstlich 
will,  und  dass  sich  desshalb  auch  die  Erlösung  durch  Christus  nicht  nur 
auf  die  kleine  Zahl  von  Auserwählten,  sondern  auf  alle  Menschen  be- 
zieht. Die  Gegcnlehre  involvirt  ein  ingens  sacrilegium.  Die  Prädesti- 
nation kann  sich  daher  nur  auf  die  Präscienz  gründen  —  auch  die  These 
von  der  Präscienz  dessen,  was  wirklich  gewesen  wäre,  wenn  es  überhaupt 
gewesen  wäre,  ist  damals  im  Zusammenhang  mit  der  Frage  nach  dem 
Schicksal  der  sterbenden  Kinder  aufgetaucht  — ^;  doch  hat  sich  Cassian 
hierüber  kaum  ausgesprochen.  Vom  Urständ  lehrte  er,  dass  er  ein  Zu- 
stand der  Unsterblichkeit,  der  AVeisheit  und  der  vollkommenen  Freiheit 
gewesen  sei ;  Adams  und  Evas  Fall  habe  dem  ganzen  Geschlecht 
Verderb(!n  und  die  Nothwendigkeit  des  Sündigens  ge})racht;  allein  mit 


'  Hier  liai  Cassian  duroliwo;^  von  Aiifrustin  j^olcnit,  und  man  sielit,  dass  er 
sich  ihm  nicht  nur  anh('(iu(!mt  hat,  sondern  von  ihm  überzeugt  worden  ist. 

"  Einige  fjehaupteten  nämlich,  dasScliicksal  dieser  Kinder  entscheide  sich  dar- 
nach, wie  sie  gehandelt  hätten,  wenn  sie  am  Lehen  geblieben  wären;  denn  das  sei 
Gott  bekannt. 


222     rieschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

dem  freien,  wenn  auch  geschwächten  Willen  sei  auch  eine  gewisse  Fähig- 
keit, sich  zum  Guten  hinzuwenden,  gehliehen  \ 

Es  ist  ühlich,  den  „Semipelagianismus"  zu  verurtheilen.  Allein  die 
unhedingte  Vorurtheilung  ist  nicht  gerecht.  Soll  eine  allgemeine 
Theorie  als  Doctrin  üher  das  Verhältniss  Gottes  zurMcnsch- 
heit  (als  Ohject  seines  Heilswillens)  aufgestellt  werden,  so 
kann  sie  nur  „semipelagianisch"  lauten,  resp.  cassianisch. 
(Jassian  hat  sich  nicht  anheischig  gemacht,  Alles  zu  erklären;  er  weiss 
sehr  wohl,  dass  „Gottes  Gerichte  unbegreiflicli  sind  und  unerforschlich 
seine  Wege."  Desshalb  will  er  mit  Eecht  auf  die  Frage  der  Prädesti- 
nation nicht  eingehen.  Indem  er  es  aber  ablehnt,  den  Geheimnissen 
auf  den  Grund  zu  kommen,  fordert  er,  dass,  soweit  man  etwas  hier  aus- 
sagt, dies  die  Universalität  der  Gnade  und  die  Zurechnungsfähigkeit 

'  Sätze  Cassian's:  Coli.  XIII,  3:  „non  solum  actuum,  verum  etiam  cogitationum 
bonarum  ex  deo  esse  principium,  qui  nobis  et  initia  sanctae  voluntatis  inspirat  et 
virtutem  atque  opportniiitatem  eorum  quae  recte  cupimus  tribuit  peragendi  .  .  . 
deus  incipit  quae  bona  sunt  et  exsequitur  et  consummat  in  nobis,  nostrum  vero  est, 
ut  cotidie  adtrahentem  nos  gratiam  dei  humiliter  subsequamur."  5  :  „gentiles  verae 
castitatis  (und  das  ist  die  Tugend  xax'  £io)(Yjv)  virtutem  non  agnoverunt."  6:  „semper 
auxilio  dei  honiines  indigere  nee  aliquid  humanam  fragilitatem  quod  ad  salutem 
pertinet  per  se  solam  i.  e.  sine  adiutorio  dei  posse  perficere."  7:  „propositum  dei, 
quo  non  ob  hoc  hominem  fecerat,  ut  periret,  sed  ut  in  perpetuum  viveret,  manet 
immobile,  cuius  benignitas  cum  bonae  voluntatis  in  nobis  quantulamcunque  scintil- 
lam  emicuisse  perspexerit  vel  quam  ipse  tamquam  de  dura  silice  nostri  cordis  ex- 
cuderit,  confovet  eam  et  exsuscitat  et  confortat  .  .  .  qui  enim  ut  pereat  unus  ex  pu- 
sillis  non  habet  voluntatem,  quomodo  sine  ingenti  sacrilegio  putandus  est  non 
universaliter  omnes,  sed  quosdam  salvos  fieri  velle  pro  omnibus?  ergo  quicumque 
pereunt,  contra  illius  pereunt  voluntatem  .  .  .  deus  mortem  non  fecit."  8:  „tanta 
est  erga  creaturam  suam  pietas  creatoris,  ut  non  solum  eomitetur  eam,  sed  etiam 
praecedat  iugiter  Providentia,  qui  cum  in  nobis  ortum  quendam  bonae  voluntatis 
inspexerit,  inluminat  eam  confestim  atque  confortat  et  incitat  ad  salutem,  incre- 
mentum  tribuens  ei  quam  vel  ipse  plantavit  vel  nostro  conatu  viderit 
emersisse."  9:  „non  facile  humana  ratione  discernitur  quemadmodum  dominus 
petentibus  tribuat,  a  quaerentibus  inveniatur  et  rursus  inveniatur  a  non  quaerenti- 
bus  se  et  palam  adpareat  inter  illos,  qui  eum  non  interrogabant."  10:  „libertatem 
scriptura  divina  nostri  confirmat  arbitrii  sed  et  infirmitatem."  11:  „ita  sunt  haee 
quodammodo  indiscrete  permixta  atque  confusa,  ut  quid  ex  quo  pendeat  inter  mul- 
tos  magna  quaestione  volvatur,  i.  e.  utrum  quia  iuitium  bonae  voluntatis  praebueri- 
mus  misereatur  nostri  deus,  an  quia  deus  misereatur  consequamur  bonae  voluntatis 
initium  (dort  wird  Zacchäus,  hier  Paulus  und  Matthäus  als  Beispiel  genannt)."  12: 
„non  enim  talum  deus  hominem  fecisse  credendus  est,  qui  nee  velit  umquam  nee 
possit  bonum  .  .  .  cavendum  nobis  est,  ne  ita  ad  dominium  omnia  sanotorum  merita 
referamus,  ut  nihil  nisi  id  quod  malum  atque  perversum  est  humanae  adscribamus 
naturae  .  .  .  dubitari  non  potest,  inesse  quidem  omni  animae  naturaliter  virtutum 
semina  beneficio  creatoris  inserta,  sed  nisi  haec  opitulatione  dei  fneriut  excitata,  ad 
incrementum  perfectionis  non  potorunt  perveuire." 


Cassian.   Prosper.  223 

des  Menschen,  d.  h.  seinen  freien  Willen,  nicht  beeinträchtige.  Das  ist 
evangelisch  und  richtig  gedacht.  Aber  wie  Augustin  darin  irrte, 
dass  er  die  nothwendige  Selbstbeurtheilung  des  geförderten 
Christen  zu  einer  Doctrin  erhob,  welche  für  das  gesammte 
Gebiet  derWirksamkeit  Grottes  auf  dieMenschen  allein  mass- 
gebend sein  sollte,  so  irrte  Cassian  darin,  dass  er  seine  be- 
rechtigte Theorie  nicht  von  der  Anweisung  schied,  nach  wel- 
cher der  einzelne  Christ  sein  en  eigenen  Glaubens  st  and  zube- 
urth eilen  hat.  So  öffnete  er  der  Selbstgerechtigkeit  die  Thür,  weil  er 
aus  Furcht  vor  dem  Fatalismus  sich  selbst  und  denen,  deren  Seelsorger 
er  war,  nicht  rund  sagen  wollte,  dass  der  Glaube  noch  in  dem  Eigen- 
leben verstrickt  ist,  der  nicht  weiss,  dass  Gott  ihn  gewirkt  hat  ^. 

Prosper,  selbst  Asket  und  in  den  berühmten  Klöstern  der  Provence 
heimisch,  hatte  schon  bei  Lebzeiten  Augustin's  als  Troubadour  des 
Augustinismus  (carmen  de  ingratis,  s.  auch  die  ep.  ad  Rufinum)  seine 
Freunde  angegriffen.  Jetzt,  nach  430,  schrieb  er  mehrere  Schriften,  in 
denen  er  theils  den  Augustin,  theils  sich  selber  vertheidigte  gegenüber 
Vorwürfen,  die  dem  Augustinismus  gemacht  wurden  (Pro  Augustino 
responsiones  ad  capitula  obiectionum  Gallorum^  calumniatium  [gegen 
die  gallischen  Mönche],  responsiones  pro  Augustino  ad  excerpta  quae 
de  Genuensi  civitate  sunt  missa  [gegen  semipelagianische,  Aufklärung 
begehrende  Geistliche],  responsiones  pro  Augustino  ad  capitula  obiec- 
tionum Vincentiarum  [hier  die  schärfsten  Angriffe  der  Gegner]).  Es 
gelang  ihm  nicht,  die  Mönche  zu  überzeugen;  denn  sein  Zugeständniss, 
Augustin  rede  „durius",  wenn  er  sage,  Gott  wolle  nicht,  dass  alle  Men- 
schen selig  werden^,  befriedigte  nicht,  und  auch  seine  Behauptung,  es 
gebe  nur  eine  Prädestination  (zum  Heil),  man  müsse  zwischen  dieser 
und  der  Präscienz  (in  Bezug  auf  die  reprobati)  unterscheiden  und  dabei 
gewiss  sein,  Gottes  Wirken  sei  nicht  durch  Willkür,  sondern  durch 
Gerechtigkeit  und  Heiligkeit  bestimmt,  hob  die  Bodenken  nichts  Wohl 


'  Dor  Semipola^ianismus  ist  koine  „Halljlioit" ,  sondern  er  ist  als  Theorie, 
wenn  eine  solclie  aufif^ericlitet  werden  soll,  ^anz  richtio^,  al)er  als  Ausdruck  der 
.Selbst])eurtlieiliin^  vor  (lott  ganz  falsch. 

'^  Diese  „Galli"  sind  der  Kreis  Cassian's,  obgleich  dieser  die  Erbsünde  kaum 
erwähnt,  jene  sie  lehrten,  und  dieser  sich  nicht  so  bestimmt  über  die  Prädestination 
geäussert  hat,  wie  jene. 

^  Sentent.  sup.  VIIT  z.  d.  respons.  ad  capp.  Gallorum. 

*  Schon  Augustin  hatte  neben  einer  Ausdrucksweise,  welche  den  Gedanken 
der  doppelten  Vrädestinationslehre  nahe  legt,  de  dono  persev.  14  gesagt:  „Haec  est 
praedestinatio  sanctorum  nihil  aliud:  praeseifiitia  seil,  praeparatio  beneficiorum  dei 
(|uibus  certissirne  librTantur,  (|uicun(jue  liberuntur."  Prosper  besteht  auf  dieser 
Ausdrueksweise  (s.  resp.  ad  excerpt.  Gennens.  VTTT) :  „Wir  l)ekennen  mit  frommem 


224     (Tescl»ic-hte  des  Dogmas  im  Al)en(llan(l  bis  zum  Bepfinn  des  Mittelalters. 

aber  gelang  es  ihm,  einen  Brief  des  Papstes  Oälestin  an  die  gallischen 
Mönche  zu  veranlassen,  der  Augustin  in  Schutz  nahm,  die  Gegner  als 
vorwitzige  Ticute  tadelte,  sich  aber  in  der  Sache  sehr  zurückhielt,  ob- 
schon  er  die  Wirksamkeit  der  Gnade  als  praeveniens  betonte  '.  Prosper 
schrieb  nun  (432)  sein  Hauptwerk  gegen  die  13.  (Jollatio  des  Cassian, 
in  welchem  er  mehr  Geschick  im  Streit  zeigte,  seinem  Gegner  Wider- 
sprüche nachwies,  den  eigenen  Standpunkt  in  der  Form  vorsichtiger 
zum  Ausdruck  brachte,  in  der  Sache  aber  keineswegs  nachgab.  Er  ver- 
liess  GalHen  und  betheiligte  sich  nicht  weiter  am  Streit,  zeigte  aber  in 
seinen  „Sentenzen"  und  „Epigrammen",  dass  er  als  Theologe  auch 
weiter  noch  nur  von  Augustin  lebte '^.  Ein  anderer  unbekannter  Augu- 
stiner, der  Verfasser  der  Schrift  de  vocatione  gentium^,  suchte  den 
Gegnern  dadurch  gereclit  zu  werden,  dass  er  es  unternahm,  die  Lehre 
von  der  Alleinwirksamkeit  der  göttlichen  Gnade  mit  der  Lehre,  dass 
Gott  alle  Menschen  selig  machen  wolle,  zu  verbinden.  Diese  Absicht 
beweist,  dass  man  auch  unter  den  Verehrern  Augustin's  an  dessen  Satz 
von  der  Particularität  der  Heilsabsicht  Gottes  Anstoss  nahm.  Allein 
das  löbliche  Bestreben,  die  Wahrheit  des  Augustinismus  mit  einer 
universalistischen  Doctrin  zu  verbinden,  musste  nothwendig  scheitern; 
denn  alle  Distinctionen  des  Verfassers  zwischen  der  gratia  universalis 
(Schöpfung  und  Geschichte)  und  specialis  (Christus)  und  zwischen  der 
voluntas  sensualis,  animalis  und  spiritalis,  sowie  die  Betheuerungen,  dass 
die  Gnade,  indem  sie  den  Willen  bereitet,  ihn  nie  aufhebt,  und  dass 
Gott  überall  das  Heil  will,  vermochten  die  eigentlichen  Anstösse  (Ver- 
dammung der  ungetauft  sterbenden  Kinder,  aber  überhaupt  die  Repro- 
bation)  nicht  zu  beseitigen,  da  der  Augustinismus  streng  festgehalten 
werden  sollte  K   Immerhin  ist  die  Schrift  in  der  ehrlichen  Absicht  ge- 


Glauben, dass  Gott  unwandelbar  vorausgewusst  habe,  welchen  er  den  Glaul)en 
schenken  oder  welche  er  seinem  Sohn  geben  werde,  damit  er  von  ihnen  keinen 
verliere,  und  dass  er,  wenn  er  dies  vorauswusste,  auch  seine  Wohlthaten  voraus- 
erkannte, durch  welche  er  uns  zu  befreien  würdigt,  und  dass  hierin  die  Prädestination 
bestehe,  nämlich  in  der  Vorauserkenntniss  und  Zubereitung  der  Gnade  Gottes, 
durch  welche  sie  auf  das  Gewisseste  erlöst  werden."  Die  reprobati  sind  also  nicht 
von  der  Prädestination  umschlossen,  sondern  sie  werden  verdammt,  weil  Gott  ihre 
Sünden  vorausgesehen  hat.  Hier  wirkt  also  nur  die  Präscienz,  ebenso  bei  den 
AViedergeborenen,  die  dann  wieder  abfallen.  Aber  die  Präscienz  treibt  Niemanden 
zur  Sünde. 

'  Caelest.  ep.  21.  Der  Anhang  ist  später  zugesetzt,  stammt  aber  vielleiclit 
von  Prosper. 

^  Gennadius  berichtet  (de  Script,  eccl.  85),  Prosper  habe  die  berühmten  Briefe 
Leo's  I.  gegen  Eutyches  dictirt.   Doch  berichtet  er  das  als  blosses  Gerücht. 

'  Unter  den  AVerkeu  Prosper's  und  Leo's  1. 

*  Eine  genaue  Analyse  der  Schrift  geben  Wiggers  II  S.  218  t^".  und  Thouui- 


De  vocatione  gentium.   Praedestiuatus.   Faustus  von  Reji.  225 

schrieben,  Bedenken  wegzuräumen  und  Frieden  zu  stiften.  Von  semi- 
pelagianischer  Seite  dagegen  hatte  man  von  Anfang  an  versucht, 
den  Augustinismus  durch  rücksichtslose  Enthüllung  seiner  wirklichen 
und  vermeintlichen  Consequenzen  unmöglich  zu  machen,  und  diese  Be- 
strebungen gipfelten  (um  450?)  in  dem  berüchtigten,  erst  im  Jahr  1643 
bekannt  gewordenen  „  Praedestinatus  " .  Das  Räthsel,  welches  über  diesem 
Werk  schwebt,  ist  noch  nicht  völlig  gelöst;  aber  wahrscheinlich  ist  es, 
dass  die  Schrift  eines  Prädestinatianers,  welche  in  das  2.  Buch  aufge- 
nommen und  im  3.  vom  Standpunkt  des  Semipelagianismus  aus  wider- 
legt ist,  eine  Fälschung  ist.  Denn  die  Lehre  Augustin's  ist  hier  ledig- 
lich in  paradoxen,  gefährlichen,  ja  fast  blasphemischen  Sätzen  entwickelt, 
wie  sie  kein  Augustiner  je  vorgetragen  hat^  (streng  durchgeführte  dop- 
pelte Prädestination;  „quos  deus  semel  praedestinavit  ad  vitam,  etiamsi 
neghgant,  etiamsi  peccent,  etiamsi  nolint,  ad  vitam  perducentur  inviti, 
quos  autem  praedestinavit  ad  mortem,  etiamsi  currant,  etiamsi  festinent, 
sine  causa  laborant"),  und  die  Behauptung,  die  „Secte  der  Prädestina- 
tianer"  -  decke  sich  nur  mit  dem  Namen  Augustin's  wie  der  Wolf  mit 
dem  Schafskleide,  ist  ein  frecher  polemischer  Fechterstreich.  Von  den 
Wirkungen  dieser  giftigen  Schrift  ist  nichts  bekannt ;  dagegen  wissen 
wir,  dass  der  Semipelagianismus  in  Südgallien  ungestört  fortlebte  ^,  ja 
in  Faustus  von  Reji  (-j-  kurz  vor  500),  vorher  Abt  zu  Lerinum,  den  her- 
vorragendsten Vertreter  erhielt  ^.  Dieser  trotz  mancher  Sonderlehren 
hoch  angesehene,  liebenswürdige  und  milde  Bischof,  der  an  allen  Kämpfen 
und  htterarischen  Bemühungen  des  Zeitalters  Antheil  nahm  und  —  ein 
Vorläufer  Gregor 's  T.  —  das  mönchische  Christenthum  vom  bischöf- 
lichen Sitz  aus  in  den  gallischen  Gemeinden  einbürgerte,  trat  ebenso 
entschieden  wie  gegen  Pclagius  („pestifer")  gegen  die  Lehre  von  der 
exstinctio  liberi  arbitrii  und  gegen  die  irrthümliche,  blasphemische,  heid- 
nische, fatalistische,  zur  ünsittlichkeit  führende  Prädestinationslehre  auf. 
Ein  augustinisch  gesinnter,  die  Prädcstinationslehre  schroff  formuliren- 
der  Presbyter,  Lucidus,  gab  den  Anlass.    Derselbe  widerrief  förmhch, 


sius  T  S.  563 — 570.  Dass  die  Schrift  durch  ilircn  guten  Willen,  die  Universalität 
der  Heilsahsicht  Gottes  zuzugestehen,  einen  Fortschritt  hedeutet,  ist  einzuräumen. 
Aber  die  Lehre  von  der  universitas  specialis  ist  nur  ein  Spiel  mit  Worten,  wenn 
universitas  hif-r  doch  nicht  mehr  als  bei  Augustin  und  Prosi)er  ])edeuten  soll,  dass 
nämlich  Menschen  aus  allerlei  Nationen  und  aus  allen  Zeitaltern  selig  werden. 
'  S.  WiggersII  S.  329—350. 

*  Von  einer  solchen  ist  schlechterdings  nichts  bekannt. 

"  Xordafrika  war  dur(;h  die  furchtl)are  Invasion  der  Vandalen  theologischen 
Kämpfen  entrückt.  Die  Meist(!n  waren  dort  gfwiss  Augustiner;  doch  fehlten  Be- 
denken und  Widerspruch  nicht,  s.  Aug.  ep.  217  ad  Vitalem. 

*  S.  Tillemont  Bd.  XVT  und  Wiggers  II,  224-329. 
Harnack,  iJogidengcschichte  IIJ.  jg 


22f)     (leachichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

nachdem  auf  einer  Synode  zu  Arles  (475)  unter  Mitwirkung,  wenn  nicht 
auf  Antrieb,  des  Faustus  der  „error  praedestinationis"  verurtheilt  wor- 
den war  ^  Nacli  dieser  Synode  und  einer  zweiten  (zu  Lyon)  verfasste 
b\iustus  die  Schrift  de  gratia  dei  et  humanae  nientis  liberoarbitriohb.  II, 
welche  Rechenschaft  über  die  dogmatisclie  Haltung  der  Synoden  (gegen 
Pelagius  und  die  Prädestination)  geben  solltet  Gnade  und  Freilieit  sind 
Parallelen ;  so  gewiss  der  Mensch  seit  Adams  Fall  äusserlich  und  inner- 
lich verderbt  ist,  die  Erbsünde  und  der  Tod  als  Folge  der  Sünde  über 
ihn  herrschen,  und  er  somit  unfähig  ist,  die  Seligkeit  aus  eigener  Kraft 
zu  erlangen,  so  gewiss  kann  der  Mensch  noch  eben  der  Gnade  gehorsam 
sein  oder  ihr  widerstreben.  Gott  will  das  Heil  Aller;  Alle  bedürfen  der 
Gnade;  aber  diese  rechnet  auf  den  übrig  gebliebenen,  geschwächten 
Willen;  mit  ihm  wirkt  sie  stets  zusammen;  sonst  wäre  der  labor 
humanae  obedientiae^  umsonst.  Erbsünde  und  liberum  arbitrium  als 
intirmatum,  attenuatum  schliessen  sich  nicht  aus ;  die  aber,  welche  Alles 
der  Gnade  zuschreiben,  gerathen  in  heidnische  und  blasphemische  Thor- 
heiten*.  Dass  wir  sehg  werden,  ist  ein  Geschenk  Gottes ;  aber  es  beruht 
nicht  auf  einer  absoluten  Prädestination,  sondern  die  Vorherbestimmung 
Gottes  hängt  davon  ab,  w^elchen  Gebrauch  der  Mensch  von  der  ihm 
übrig  gebliebenen  Freiheit,  kraft  welcher  er  sich  zu  bessern  vermag, 
macht  (Präscienz).  Faustus  zeigt  sich  nicht  mehr  ebenso  stark  wie 
Cassian  von  Augustin's  Gedanken  beeinflusst''.  Er  ist  „mönchischer". 
Auch  der  Glaube  ist  ein  Werk  und  eine  Leistung  des  Menschen  ^' ;  die 

*  S.  Mausi  VII;  ebendortp.  1010  der  Widerruf  des  Lucidus  in  einem  libellus 
ad  episcopos.  Schon  vor  der  Synode  hat  Faustus  mündlich  mit  dem  ihm  Befreunde- 
ten verhandelt,  auch  einen  ausführlichen  Lehrbrief  an  ihn  geschrieben  (VIT,  1007  sq.), 
der  aber  noch  nichts  gefruchtet  hatte. 

*  Dazu  die  Professio  fidei  (an  Leontius)  contra  eos,  qui  dum  per  solam  dei 
voluntatem  alios  dicunt  ad  vitam  attrahi,  alios  in  mortem  deprimi,  hinc  fatum  cum 
gentilibus  asserunt,  inde  liberum  arbitrium  cum  Manichaeis  negant. 

^  Die  „obedientia"  spielt  bei  Faustus  neben  der  castitas  die  Hauptrolle  — 
hier  kündigt  sich  der  mittelalterliche  Mönch  an. 

"*  Faustus  hat  sich  wohl  gehütet,  gegen  Augustin  zu  streiten ;  er  kämpfte  nur 
gegen  den  Augustinismus.   So  ist  es  bis  heute  in  der  katholischen  Kirche. 

^  Doch  in  Bezug  auf  die  Erbsünde  hat  er  sich  sehr  streng  ausgesprochen  und  sogar 
den  Traducianismus  gelehrt.  Wie  bei  Augustiu  ist  die  Zeugung  die  Brutstätte  der 
Erbsünde,  welche  entsteht  „per  incentivum  maledictae  generationis  ardorem  et  per 
inlecebrosum  utriusque  parentis  amplexum."  Da  Christus  allein  von  der  erblichen 
Ansteckung  frei  blieb,  weil  er  nicht  aus  der  Begattung  geboren  ist,  so  muss  nuiu 
den  Reiz  der  Zeugung  und  das  Laster  der  AVollust  als  Ursache  des  mahnn  originale 
anerkennen.  Man  sieht  leicht,  an  dem  Augustinismus  fand  das  Beifall,  was  die  Ehe 
herabsetzte.   Und  diese  Mönche  bekreuzigten  sich  vor  dem  Manichäismus ! 

®  Faustus  nimmt  sogar  an,  dass  die  fides  als  Kennt niss  Gottes  nach  dem  Fall 
geblieben  sei. 


Faustus  von  Reji  und  Genossen.  227 

asketischen  Leistungen  stehen  überhaupt  bei  ihm  noch  mehr  im  Vorder- 
grund^ und  die  Möghchkeit,  dass  die  Gnade  der  guten  Willensregung 
vorhergeht,  wird  so  verstanden,  dass  dem  Menschen  das  Heil  von 
Aussen  durch  Predigt,  Gesetz  und  Strafrede  zuerst  vorgehalten  wird  (in 
diesem  Sinne  ist  Faustus  sogar  der  Meinung,  dass  die  Gnade  stets  den 
Anfang  macht).  Das  Bedenklichste  (Pelagianische)  ist  aber,  dass  Faustus 
die  innere  Gnade  sehr  stark  zurücktreten  lässt  —  das  adiutorium  ist 
ihm  wesentlich  äusserer  Beistand  in  Form  von  Gesetz  und  Lehre  — , 
und  dass  er  deutlich  zu  der  pelagianischen  Fassung  der  natura  als  der 
gratia  prima  (universalis)  zurücklenkt.  Andererseits  ist  offenbar,  dass  er 
gerade  die  Asketen  zur  Demuth  anleiten  wollte ;  sie  sollen  auch  dort,  wo 
sie  ihre  merita  mehren,  eingedenk  sein,  dass  „dei  est  omne  quod  sumus", 
d.  h.  dass  vollkommene  Tugendleistung  ohne  Gnade  unmöglich  ist^ 
Sieht  man  genau  zu,  so  hat  Faustus  bereits  implicite  die  spätere  Lehre 
vom  meritum  de  congruo  et  de  condigno  bestimmt  vorgetragen  ^.  In 
der  fides  als  Kenntniss  und  in  den  Anstrengungen  des  Willens,  sich  zu 
bessern,  liegt  ein  von  der  gratia  prima  getragenes  meritum;  ihm  wird  die 
erlösende  Gnade  zu  Theil,  und  sie  wirkt  nun  mit  dem  Willen  mit,  so  dass 
vollkommene  merita  entstehen. 

Faustus  fand  zu  seiner  Zeit  kaum  einen  Gegner,  geschweige  einen 
ebenbürtigen  ^.  Allein  in  Rom  hielt  man  Augustin  in  hohen  Ehren, 
ohne  freilich  anzugeben,  wie  weit  man  mit  ihm  gehen  wollte,  und  dul- 
dete Lehren  nicht,  die  ihm  direct  widersprachen.  Darf  man  das  De- 
cret  de  libris  recipiendis  et  non  recipiendis  auf  Gelasius  zurückführen, 
so  hat  dieser  Papst,  der  auch  sonst  als  grosser  Gegner  des  Pelagia- 


*  S.  lib.  IT,  4.  Dagegen  Abel,  Henoch  etc.  sind  durch  die  erste  Gnade,  das 
Naturgesetz,  selig  geworden.  II,  6.  7.  Da  Henoch  in  jener  so  frühen  Zeit  durch 
das  Verdien^it  des  Glau])ens  (fidei  merito)  den  UGl)rigen  voranging,  so  zeigte  er  da- 
durch, dass  ihm  der  Glaube  selbst  mit  dem  Gesetz  der  Natur  überliefert  war; 
s.  auch  II,  8  („et  ex  gentibus  fuisse  salvatos"  7). 

^  Auf  den,  wegen  der  späteren  Erwägungen  in  der  Kirche,  wichtigen  Satz  des 
Faustus:  „Christus  plus  dcdit  quam  totus  mundus  valebat"  (de  grat.  et  lib.  arb.  16) 
macht  Wiggcra  S.  328  aufmerksam. 

"  Die  angesehensten  Schriftstoller  des  Zeitalters  dachten  ähnlich  wie  er,  so 
Arno})ius  der  Jüngere,  Gennadius  von  Massilia,  Ennodius  von  Ticinum.  Schon 
wankte  das  Ansehen  Augustin'a  selbst;  denn  Gennadius  crlau])te,  sich  (de  Script, 
ecci.  39)  über  ihn  zu  schreiben:  „unde  ex  multa  eloquentia  accidit,  quod  dixit  per 
Salomonem  Spiritus  sanctus:  ex  multilocpiio  non  cffugies  peccatum"  und  „error 
tarnen  illius  sermone  multo,  ut  dixi,  contractus,  lucta  hostium  exaggoratus  necdum 
haeresis  quaestionem  absolvit."  Viele  Handschrifton  haben  diese  Stellen  unter- 
drückt! Von  Prosper  heisst  es  (c.  85),  dass  er  in  seiner  Schrift  gegen  Cassian  „quae 
ecclesia  dei  salutaria  probat,  infamat  nociva."  Cassian  und  Faustus  werden  hoch 
gelobt. 

15* 


228     (Toscliichte  des  Dop^maa  im  Abendlaud  bis  zum  Beginn  dos  Mittelalters. 

lüsmus  bezeugt  ist,  die  Schriften  Aiigustin's  und  Prosper's  ausdrück- 
lich für  kirchlich  erklärt,  die  des  Cassian  und  Faustus  für  „apokryph". 
Allein  die  in  Rom  am  Anfang  des  H.  Jahrhunderts  geführten  Ver- 
handlungen machen  die  Ableitung  jenes  Decrets  (in  dieser  Form)  von 
(jelasius  unwahrscheinlich.  Wie  sich  nämlich  der  Pelagianismus  einst 
mit  dem  Nestorianismus,  zu  dem  er  gravitirte,  verquickt  hat  und  damit 
sein  Geschick  besiegelte,  so  ist  auch  der  Semipelagianismus  dem  Schick- 
sal nicht  entgangen,  in  die  christologische  Oontroverse  hineingezogen 
und  von  der  Abneigung  getroffen  zu  werden,  welche  die  monophysi- 
tisch  bestimmte  Orthodoxie  gegen  alles  „Menschliche"  hegte.  Jene 
skythischen  Mönche  in  Konstantinopel,  welche  der  Kirche  den  Theo- 
paschitismus  aufdrängen  wollten  '^  übergaben  dem  Legaten  des  Papstes 
Hormisdas  ein  (llaubensbekenntniss,  in  welchem  sie  sowohl  die  Reste 
des  Nestorianismus  als  die  Lehre  bekämpften,  dass  die  Gnade  nicht 
Wollen  und  Vollbringen  wirke  (519)'-.  Vom  Legaten  abgewiesen, 
trugen  sie  ihre  Meinung  dem  Papst  persönlich  vor  und  berichteten 
an  die  in  Sardinien  weilenden,  verbannten  nordafrikanischen  Bischöfe, 
unter  denen  Fulgentius  von  Ruspe  der  bedeutendste  war,  ein  geübter 
Kämpe  gegen  den  Arianismus,  ein  treuer  Anhänger  Augustin's.  Der 
Bericht  der  Skythen,  der  sowohl  auf  die  Christologie  als  auf  die 
Gnadenlehre  eingeht  und  für  die  letztere  (in  augustinischer  Fassung) 
orientalische  und  occidentalische  Autoritäten  anführt,  schliesst  mit  den 
Worten:  „Dies  hinzuzufügen,  halten  wir  für  nothwendig;  nicht  als  ob 
ihr  es  nicht  wüsstet,  sondern  um  die  Thorheit  derer  zu  widerlegen, 
welche  es  als  neue  und  in  den  Kirchen  gänzlich  unerhörte  Lehrsätze 
verwerfen,  haben  wir  es  für  nützlich  gehalten,  es  unserer  kleinen 
Schrift  einzuschalten.  Unterrichtet  in  den  Lehren  aller  dieser  heiligen 
Väter  verdammen  wir  den  Pelagius,  Cälestius,  Julian  und  diejenigen, 
deren  Denkart  ihnen  ähnlich  ist,  vorzüglich  die  Bücher  des  aus 
dem  lerinensischen  Kloster  hervorgegangenen  Faustus, 
die,  wie  es  nicht  zweifelhaft  ist,  gegen  die  Lehre  von  der  Prädesti- 
nation geschrieben  sind.  In  diesen  tritt  er  gegen  die  Ueberlieferung 
nicht  allein  dieser  heiligen  Väter,  sondern  auch  des  Apostels  selbst 
auf,  fügt  zu  der  menschlichen  Anstrengung  die  Unterstützung  der 
Gnade,  und,  indem  er  die  ganze  Gnade  Christi  überhaupt  wegräumt. 


»  S.  Bd.  II  S.  382  f. 

^  Diese  „Skythen"  waren  in  der  Denkweise  des  Abendlandes  wohl  bewandert ; 
ihr  Führer  Maxentius,  der  lateinisch  geschrieben  hat,  war  wohl  selbst  Abendländer. 
In  dem  Glau])ensbekenntnis3  handeln  sie  von  der  Gnade,  „nou  qua  creanun*,  sed 
qua  recreamur  et  renovamur."  Pelagius,  Cälestius  und  Theodor  v.  Mopsv.  werden 
zusarameno-estellt. 


Die  skythischen  Mönche.   Fulgentius.   Hormisdae.  229 

bekennt  er  gottlos,  dass  die  alten  Heiligen  nicht  durch  die  Gnade, 
durch  welche  auch  wir  selig  werden,  wie  der  heihgste  Apostel  Petrus 
lehrt;  sondern  durch  die  Fähigkeit  der  Natur  sehg  geworden  sind." 
Die  Nordafrikaner  stimmten  dem  zu,  und  Fulgentius  schrieb  als 
Antwort  seine  Schrift  de  incarnatione  et  gratia,  in  der  er,  wie  schon  in 
früheren  Schriften,  den  augustinischen  Standpunkt  vertritt  und  na- 
mentlich auch  die  Erbsünde  aus  der  Begattungslust  ableitet ;  der  freie 
Wille  im  Sündenstand  sei  male  liberum,  die  gratia  Christi  sei  scharf 
von  der  gratia  creans  zu  unterscheiden  (c.  12);  nicht  ist  das  Wollen 
unsere,  das  Helfen  Gottes  Sache,  sondern  „gratiae  dei  est  adiuvare, 
ut  sit  meum  velle  credere"  (c.  16);  Rom.  2,  14  sei  auf  die  durch 
den  Glauben  gerechtfertigten  Heiden  zu  beziehen  (c.  25);  auch  die 
Parti cularität  der  Gnade  wird  festgehalten  ^  Die  Skythen  verliessen 
Rom,  ein  Anathem  über  die  Nestorianer,  Pelagianer  und  alle  ihre 
Anverwandten  zurücklassend.  Der  gefeierte  Name  des  Faustus  erschien 
in  schlimmem  Lichte,  und  ein  vertriebener  afrikanischer  Bischof  Pos- 
sessor,  der  in  Konstantin opel  weilte,  beeilte  sich,  sich  bei  dem  Papste 
durch  die  unterwürfige  Anfrage  zu  empfehlen,  was  man  denn  nun  von 
Faustus  zu  halten  habe,  dabei  versichernd,  dass  vornehme  Staats- 
beamte ebenfalls  eine  Aufklärung  wünschten  ^.  Hormisdas  antwortete 
(Aug.  520)  zurückhaltend.  Die  skythischen  Mönche  wurden  als  schlimme 
Agitatoren  der  Orthodoxie  gebrandmarkt,  Faustus  als  ein  Mann  be- 
zeichnet, den  die  Kirche  nicht  zum  Lehrer  erhoben  habe,  dessen  Pri- 
vatmeinungen daher  Niemanden  beunruhigen  dürften;  die  Lehre  der 
römischen  Kirche  in  Bezug  auf  Sünde  und  Gnade  könne 
man  aus  Augustin's  Schriften,  vornehmlich  aus  denen  an 
Prosper  und  Hilarius,  erkennen.  Die  Skythen  gaben  eine  ge- 
hamischte Antwort,  in  welcher  sie  den  Papst  insofern  schonten,  als 
sie  die  Echtheit  des  Schriftstücks  anzweifelten.  Ist  Augustin's  Lehre 
die  der  katholischen  Kirche,  so  ist  Faustus  ein  Ketzer ;  das  hätte  der 
Papst  sagen  müssen.  Die  Ketzerei  sei  hinreichend  klar;  denn  Faustus 
verstehe  unter  der  gratia  praeveniens  nur  die  äussere  Gnade  (die 
Predigt  des  Evangeliums).  Gleichzeitig  veranlassten  sie  den  Fulgen- 
tius, nun  direct  gegen  Faustus  zu  schreiben,  was  dieser  in  den  7  Büchern 
c.  Faustum  (verloren  gegangen)  und  —  nach  Afrika  523  zurückgekehrt 
—  in  der  Schrift  de  vcritatc  praedestinationis  et  gratiae  dei  (1.  HI) 
gethan  hat.  Auch  in  diesem  Werk  trägt  Fulgentius  den  entschiedenen 
Augustinismus  (Particularität  des  Heilswillcns)  vor,  verwirft  aber  die 

*  S.  WiggorH  II  S.  369 — 429.   Nach  Fulgentius  ist  auch  Maria  befleckt  em- 
pfangen und  daher  nicht  frei  von  Erbsünde,  s.  c.  6. 
'^  Alle  diese  Verhandlungen  bei  Mansi  VIII, 


230     Geschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

Annahme  einer  Prädestination  zur  Sünde  (jedoch  ad  poenam)  ^  Die 
in  Sardinien  zurückgebhebenen  Bischöfe  stinnnten  in  der  an  die  skythi- 
schen  Mönche  gerichteten  ep.  synodica  ihrem  Collegen  vülhg  bei:  die 
(ilnade  ist  das  Licht,  der  Wille  das  Auge;  das  Auge  bedarf  des  Lichtes, 
um  das  Licht  sehen  zu  können.  Faustus'  Sätze  seien  „commenta,  veri- 
tati  contraria,  catholicao  lidei  i)enitus  inimica". 

Diese  Kämpfe  konnten  nicht  ohne  Folgen  für  Südgallien  bleiben. 
Mehr  noch  wirkte  die  Leetüre  der  augustinischen  Schriften,  nament- 
lich die  der  Predigten.  In  einem  Zeitalter,  das  nur  in  Contrasten 
dachte,  konnte  das  Dilemma,  ob  Augustin  ein  heihger  Lehrer  oder 
ein  Ketzer  sei,  schliesslich  nur  zu  Gunsten  des  Unvergleichlichen  ent- 
schieden werden.  Obgleich  in  Lerinum  gebildet,  hat  sich  Cäsarius 
von  Arles,  der  verdienst-  und  ruhmvollste  Bischof  am  Anfang  des 
6.  Jahrhunderts,  so  in  Augustin  vertieft,  dass  er  von  ihm  nicht  lassen 
wollte,  dass  seine  Theologie  und  seine  Predigten  ein  Spiegelbild  der 
Lehre  des  Meisters  wurden ''^.  Er  (-[*  542)  und  Avitus  von  Yienne 
bekämpften  die  Schriften  und  die  Autorität  des  Faustus.  Sie  fanden 
zunächst  in  Südgallien  vielen  Widerspruch,  aber  noch  mehr  Indifferenz 
—  denn  wie  viele  Bischöfe  gab  es  um  520,  welche  den  Augustinis- 
mus zu  verstellen  vermochten?  — ,  in  Bom  dagegen  Beistimmung  ^. 
Diese  Approbation  blieb  in  Gallien  nicht  ohne  Eindruck  *.  Eine 
gemischte  Synode  zu  Orange  im  Jahre  529  unter  dem  Vorsitz  des 
Cäsarius  approbirte  25  Kanones,  d.  h.  Capitula,  welche  der  Papst  aus 
den  Schriften  Augustin's  und  Prosper's   gezogen  und  als  die  Lehre 


*  lieber  die  Ableitung  der  Erbsünde  s.  I,  4 :  „proinde  de  immunditia  nuptiarum 
mundus  homo  non  nascitur,  qiiia  interveniente  libidine  seminatur." 

'^  Wir  besitzen  noch  keine  Gesammtausgabe  der  Werke  des  Cäsarius,  und  zur 
"Würdigung  des  Mannes  fehlen  noch  die  ersten  Vorarbeiten.  Man  weiss  noch  längst 
nicht,  welche  Schriften  und  Predigten  ihm  angehören;  Einiges  steht  bei  Migne 
Bd.  67.  Unzweifelhaft  ist,  dass  er  neben  Augustin  der  grÖsste  Prediger  der  latei- 
nischen Kirche  gewesen  ist.  Aber  seine  Predigten  sind  in  die  Prcdigtsainmlungcn 
Augustin's  geflossen  (einige  auch  in  die  des  Ambrosius). 

^  Papst  Felix  IV.  belobte  das  Buch  des  Cäsarius  de  gratia  et  libero  arbitrio, 
welches  verloren  gegangen  zu  sein  scheint.  Eine  Untersuchung  über  die  Umstim- 
mung  in  Gallien  durch  Cäsarius  wäre  sehr  erwünscht. 

*  Die  Synode  von  Valence  kennen  wir  nur  aus  der  Vita  Caesai-ii  von  seinem 
Schüler  Cyprian  (Mansi  VIII  p.  723).  Dass  sie  vor  die  Synode  von  Orange  zu  setzen 
ist,  hat  Hefele  (Conciliengesch.  11 '^  S.  738  ff.)  gezeigt.  Aus  dem  kurzen  Bericht 
scheint  gefolgert  werden  zu  müssen,  dass  sich  dort  die  Bischöfe  gegen  Cäsarius 
versammelt  und  ein  seine  Lehre  verurtheilendes  Decret  erlassen  haben.  Zu  Orange 
hat  sich  dann  Cäsarius  gerechtfertigt,  resp.  seine  Lehre  aus  der  „apostolischen  Tra- 
dition** siegreich  vertheidigt,  und  ihm  —  nicht  seinen  Gegnern  von  Valence  —  hat 
der  Papst  Bonifaz  Recht  gegeben. 


Cäsarius  von  Arles.   Synode  zu  Orange;  231 

der  „antiqui  patres"  den  Südgalliern  übersandt  hatte,  um  den  Cäsa- 
rius im  Kampf  gegen  den  Semipelagianismus  zu  unterstützen  ^  Diese 
Kanones^  sind  streng  antisemipelagianisch  (3:  „gratia  dei  non  ad  in- 
vocationem  datur,  sed  ipsa  facit,  ut  invocetur."  4:  „deus,  ut  a  pec- 
cato  purgemur,  voluntatem  nostram  non  exspectat  sed  praeparat." 
5:  „initium  fidei  non  ex  nobis  sed  ex  gratia  dei  est  —  ipse  creduli- 
tatis  afifectus,  quo  in  eum  credimus,  qui  iustificat  impium,  et  ad  gene- 
rationem  sacri  baptismatis  pervenimus,  per  gratiae  donum,  i.  e.  per 
inspirationem  Spiritus  sancti  corrigentis  voluntatem  nostram  ab  infi- 
delitate  ad  fidem,  est  neque  naturaliter  nobis  inest."  6:  „Die  Gnade 
bewirkt,  dass  wir  glauben,  wollen,  verlangen,  versuchen,  anklopfen u.  s.w., 
nicht  umgekehrt."  7:  „viribus  naturae  bonum  ahquid,  quod  ad  sa^ 
lutem  pertinet,  cogitare  aut  eligere  sine  gratia  non  possumus."  8:  „Es 
ist  falsch,  dass  die  Einen  durch  das  Erbarmen,  die  Anderen  durch 
den  freien  Willen  zum  Glauben  der  Taufe  gelangen."  9:  „quoties 
bona  agimus,  deus  in  nobis  atque  nobiscum,  ut  operemur,  operatur." 
10:  „Auch  die  renati  und  sancti  bedürfen  stets  der  göttlichen  Hülfe." 
11:  „Nur  das  können  wir  Gott  geloben,  was  wir  selbst  von  ihm  em- 
pfangen haben."  12:  „tales  nos  amat  deus,  quales  futuri  sumus  ipsius 
dono,  non  quales  sumus  nostro  merito."  13:  „arbitrium  voluntatis  in 
primo  homine  infirmatum  nisi  per  gratiam  baptismi  non  potest  repa- 
rari."  16:  „nemo  ex  eo  quod  videtur  habere  glorietur  tamquam  non 
acceperit,  aut  ideo  se  putet  accepisse,  quia  littera  extrinsecus  vel  ut 
legeretur  apparuit,  vel  ut  audiretur  sonuit."  17:  „lieber  die  Caritas 
dei  diffusa  in  cordibus  per  spiritum  sanctum."  18:  „Die  unverdiente 
Gnade  geht  den  verdienstlichen  Werken  voran."  19 :  „natura  humana, 
etiamsi  in  illa  integritatc,  in  qua  est  condita,  permaneret,  nullo  modo 
se  ipsam  Creatore  suo  non  adiuvante  servaret."  21 :  „Das  Gesetz 
rechtfertigt  nicht,  und  die  Gnade  ist  nicht  die  Natur;  ideo  Christus 
non  gratis  mortuus  est,  ut  et  lex  per  illum  implcretur  et  natura  per 
Adam  perdita  per  illum  repararctur."  22 :  „nemo  habet  de  suo  nisi 
mendacium  et  peccatum"  ^.  23 :  „Im  Bösen  vollziehen  die  Menschen 
ihren  eigenen  Willen,  quando  autem  id  faciunt  quod  volunt  ut  divi- 
nae  serviant  voluntati,  (^uamvis  volentes  agant  quod  agunt,  illius  tamen 

*  Ob  die  25  Kanoncs  mit  jenen  übersandten  Capiteln  völlig  identisch  sind, 
oder  ob  die  Synode  kleinere  Modificationen  vorgenommen  hat,  lässt  sich  nicht  mehr 
entscheiden;  s.  die  19  Cap.  des  Trierer  Codex  bei  Mansi  VIII  p.  722.  Indessen  ist 
e«  sehr  unwahrscheinlich,  dass  die  Bischöfe  an  jenen  Capitcln  etwas  Erhebliches 
geändert  haben,  da  sie  nach  denselben  ihre  eigene  Meinung  im  Epilog  entwickeln. 

2  S.  Hahn  §  103;  Hefele  S.  726  f. 

•''  Dieser  Kanon  hat  der  katholischen  Kirche  im  16.,  17.,  18.  und  19.  Jahr- 
hundert die  gröbsten  Schmerzen  bereitet,  s.  Hefele  S.  733  f. 


232     Geschichte  des  Dogmas  im  Abendlaud  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

voluiitas  est,  ji  ({110  et  piJieparatur  et  iubetur  qiiod  volunt."  24:  „Der 
Zweig  nutzt  nieht  dem  Stamm,  soiuleni  der  Stamm  dem  Zweig;  so 
nützen  auch  die,  welche  (.hristiis  in  sich  haben  und  in  ihm  bleiben, 
nicht  Christo,  sondern  sich  selber."  25:  „donum  dei  est  diligere  deum"). 
Die  von  den  Bischöfen  nach  Aufführung  der  capitula  gegebene  defi- 
nitio  ist  ebenfalls  streng  antisemipehigianisch  K  Allein  weder  ist 
von  der  Prädestination  die  llede''^,  noch  ist  der  inner- 
liche Gnadenprocess,  auf  den  für  Augustin  der  Haupt- 
nachdruck fiel,  gebührend  gewürdigt.  Das  Erstere  wäre  an 
sich  kein  Schade;  allein  in  jener  Zeit,  wo  es  sich  darum  handelte, 
ob  der  ganze  Augustin  Autorität  sei  oder  nicht,  war  das  Schweigen 
gefährlich.  Die  semipelagianisch  Gesinnten  konnten  sich  darauf  be- 
rufen, dass  Augustin's  Prädestinationslehre  nicht  gebilligt  sei,  und  sie 
konnten  dann  in  diese  nicht  gebilligte  Lehre  sehr  viel  von  dem  hinein- 
ziehen, was  zur  Gnadenlehre  gehörte.  So  geschah  es  auch  wirklich. 
Der  Streit  hat  hier  also  nur  ein  scheinbares  Ende  erreicht. 
Dass  unter  der  Hülle  augustinischer  Formeln  semipelagianische  Ge- 
danken fortwirkten,  dazu  trug  aber  ferner  jene  äusserliche  Fassung 
der  Gnade  als  Taufsacrament  bei,  die  dem  Decret  zu  Grunde  liegt. 
Zwar  handelt  es  auch  von  der  „Liebe" ;  aber  man  sieht  leicht,  dass 
die  Idee  des  Sacraments  die  Alles  beherrschende  ist.  „Allen  Ge- 
tauften gegenüber",  hat  man  mit  Recht  bemerkt,  „zerfloss  auch  für 
die  Anhänger  Augustin's  der  Unterschied  zwischen  Augusthiismus  und 
Semipelagianismus".  Weil  Augustin  selbst  den  Begriif  des  Glaubens 
nicht  erfasst  hat,  so  ist  er  daran  schuld  gewesen,  dass  am  Ende  des 
Streits  als  seine  Lehre  eine  Auffassung  entwickelt  wurde,  welche  die 
gratia  für  den  Anfang  und  das  Ende  erklärt,  aber  im  Grunde  sich 
an  das  magische  Wunder  der  Taufe  und  an  das  „fideliter  laborare 
auxihante  Christo"  hält. 

Der  neue  Papst  Bonifaz  JI,  billigte  in  einem  Schreiben  an  Cäsa- 
rius  diese  Beschlüsse  ^,   die   in   der  katholischen  Kirche  ein  grosses 


*  Doch  würde  Aiigustin  den  Satz :  „hoc  etiam  credimus,  quod  accepta  per 
baptismum  gratia  omnes  baptizati  Christo  auxiliante  et  cooperantc,  quae  ad 
salutem  animae  pertinent,  possint  et  debeant,  si  fideliter  laborare  voluerint, 
adimplere"  nicht  geschrieben  haben.  Ausserdem  sind  die  Worte  „quae  ad  salutem 
pertinent  adimplere"  und  „fideliter  laborare"  zweideutig. 

^  Das  AVort  kommt  nur  im  Epüog  vor,  aber  dort  nur  um  die  praedestinatio 
ad  malum  abzulehnen :  „aliquos  vero  ad  malum  divina  potestate  praedestinatos  esse 
non  solum  non  credimus,  sed  etiam,  si  sunt  qui  tantum  malum  credere  velint,  cum 
omni  detestatione  illis  auathema  dicimus."  Auch  über  die  gratia  irresistibilis  und 
die  Particularität  des  Gnadenwillens  Gottes  schweigt  das  Decret. 

^  Mansi  VIII  p.  735  sq.  Die  Beschlüsse  waren  auch  von  Laien  uuterschriebüu 


Die  Synode  von  Orange.    Gregor  der  Grosse.  233 

Ansehen  erhielten  und  vom  Tridentinum  sehr  eingehend  berücksich- 
tigt worden  sind  K  Fortab  ist  die  Lehre  von  der  gratia  praeveniens, 
auf  die  auch  der  Papst  besonderes  Gewicht  legte,  als  abendländisches 
Dogma  zu  betrachten;  die  Semipelagianer  haben  als  Ketzer  zu  gelten. 
Aber  der  Streit  konnte  doch  jeden  Augenblick  aufs  neue  beginnen, 
sobald  nämlich  Jemand  auftrat  und  um  der  gratia  praeveniens  willen 
auch  die  Anerkennung  der  particularen  Gnadenwahl  verlangte,  üeber- 
schlägt  man,  welche  Lehren  Augustin's  Anerkennung  gefunden  haben 
und  welche  verschwiegen  worden  sind,  ferner  wesshalb  jene  Bilhgung 
fanden,  so  muss  man  sagen,  dass  neben  der  Sorge,  dem  Taufsacra- 
ment  seine  unersetzliche  Bedeutung  zu  sichern,  die  mönchische 
Ansicht  von  der  Unreinheit  der  Ehe  hier  vor  Allem  ge- 
wirkt hat.  Weil  Alle  aus  der  sündigen  Begattungslust  geboren  sind, 
darum  sind  Alle  sündhaft  und  desshalb  muss  die  Gnade  zuvorkommen. 
Der  kathoHsche  Lehrbegriff  ist  aus  einem  Compromiss  zwischen  der 
mönchischen  Anschauung  von  der  Yerdienstlichkeit  der  Werke  und 
der  ebenfalls  mönchischen  Anschauung  von  der  Unreinheit  der  Ehe 
entstanden.  Beide  Gedanken  waren  augustinisch  und  wurden  augusti- 
nisch  ausgeführt;  aber  die  bewegende  Seele  des  Augustinismus  ist 
verkümmert.  Es  ist  eine  Thatsache,  die  bisher  nicht  genügend  ge- 
würdigt ist,  dass  die  katholische  Lehre  desshalb  nicht  beim 
Semipelagianismus  verharrt  ist,  weil  sie  die  Geschlechtslust  für 
sündig  erklärte. 

2.   Gregor  der  Grosse. 

Wie  wenig  Verständniss  man  in  Rom  für  den  Augustinismus  hatte, 
und  wie  verwirrt  das  theologische  Denken  im  Lauf  des  6.  Jahrhun- 
derts geworden  war,  zeigt  die  Gnadenlehre  des  grossen  Papstes  Gregor 
(590 — 604).  Ein  buntscheckigeres  Gemenge  von  augustinischen  For- 
meln und  grobem  Ergismus  ist  kaum  denkbar.  Gregor  hat  nirgendwo 
einen  originellen  Gedanken  ausgesprochen;  er  hat  vielmehr  überall 
den  überlieferten  Lehrbegriff  conservirt,  aber  depotenzirt,  das  Geistige 
auf  das  Niveau  eines  grob -sinnlichen  Verständnisses  herabgedrückt, 

worden,  was  in  der  Dogmengeschichte  der  alten  Kirche  fast  unerhört  ist,  aber  nicht 
im  6.  Jahrhundert  in  (iallien-,  s.  Hatch,  Kirchenvcrfass.  AVestcuropas  S.  77  ff". 

*  Die  reimischen  Bischöfe  haben  sich  in  ihrer  Haltung  im  scmipelagianischen 
Streit  augenscheinlich  durch  die  Entscheidungen  ihrer  Vorgänger  gegen  Pclagius 
präjudicirt  gefühlt.  Ein  selbständiges,  aus  innerer  Ueberzeugung  iliessendes  Wort 
sucht  man  bei  ihnen  vergebens  (eine  Ausnahme  ist  vielleicht  Gclasius),  und  doch  ist 
08  ganz  wesentlich  ihr  „Verdienst",  dass  der  semipelagianischc  .Streit  mit  der  An- 
erkennung der  augustinischen  Lehre  von  der  gratia  praeveniens  und  dem  Schweigen 
über  die  Prädestination  geendet  hat. 


234     Geschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

die  Dogniatik,  soweit  es  anging,  in  eine  technische  Anweisung  für  den 
Klerus  verwandelt  und  sie  mit  der  volksthUniliclien  Religion  zweiten 
Grades  verschwistert.  Alles,  was  er  anordnete,  war  klug  und  wohl 
berechnet,  und  doch  ents2)rang  es  aus  einem  fast  naiven  mönchischen 
Gemiithe,  welches  mit  treuer  Sorge  an  der  Erziehung  roher  Völker 
und  an  der  Bildung  der  Geistlichen  arbeitete  und  dabei  mit  einem 
sicheren  Instincte  überall  das  traf,  was  geeignet  war,  die  Laienwelt 
durch  den  Mechanismus  der  Rehgion  zu  beunruhigen,  zu  beschwich- 
tigen und  so  zu  beherrschen  K  AVeil  Gregor  in  einer  Zeit,  wo  das 
Alte  unterging  und  das  Neue  sich  noch  roh  und  ungefüge  darstellte, 
nur  das  Nothwendige  und  Erreichbare  im  Auge  hatte,  so  sanctionirte 
er  als  Religion  die  äusserliche  Legalität,  die  für  die  Erziehung  jugend- 
licher Völker  ebenso  geeignet  war,  wie  sie  den  um  die  Feinheit  des 
Em2)findens  und  Denkens  gekommenen,  in  Superstition  und  Magie 
versunkenen,  den  stumpfen  Idealen  der  Askese  huldigenden  Epigonen 
der  Antike  entsprach'^.  Die  Accente  sind  es,  welche  die  Melodie 
•ändern,  und  der  Ton  macht  die  Musik.  Durch  die  Art,  wie  Gregor 
die  verschiedenen  überlieferten  Lehren  und  Kirchengebräuche  accen- 
tuirte,  hat  er  den  vulgären  Typus  des  mittelalterlichen  Katholicismus 
geschaffen  ^,  und  der  Ton,  auf  den  er  die  christlichen  Gemüther  stimmte, 
ist  der  Hauptton,  der  uns  bis  heute  aus  dem  Katholicismus  entgegen- 
klingt ^.  Die  Stimme  ist  Gregorys  Stimme,  aber  die  Hände  sind  Augustinus 
Hände.  Nur  darin  ist  er  nicht  Augustin's  Schüler,  dass  er  —  dem 
Oyprian  und  Leo  1.  verwandt  und  in  der  Jurisprudenz  wohl  bewan- 
dert —  neben  dem  kultisch-sacramentalen  Element  das  rechtliche 
stark  betont:  die  Verquickung  von  Lehre  und  Kirchenord- 
nung machte  im  Abendland  durch  Gregor  einen  weiteren 
Fortschritte 


'  Aus  der  reichen  Briefsammlung-  Gregorys  gewinnt  mau  hohen  Respect  vor 
der  Weisheit,  Grerechtigkeit,  Milde,  Nachsicht  und  Thatkraft  des  Papstes. 

'^  Doch  fehlen  neben  der  ausserlichen  Gesetzlichkeit  Züge  evangelischer  Frei- 
heit nicht ;  s.  die  Briefe  an  Augustin. 

^  Aehnlich  Lau,  Gregor  d.  Grosse  S.  326 :  „Durch  unmerklich  verschiedene 
Auffassung  des  von  der  Vorzeit  Ueberkommenen  bahnte  er,  ohne  vielleicht  die 
Bedeutsamkeit  seines  Thuns  zu  erkennen,  die  Entwickelung  des  späteren  Katholi- 


cismus an 

4 


Gregor  ist  der  gelesenste  abendländische  Kirchenvater,  wie  die  Litteratur 
des  Mittelalters  und  unsere  Bibliotheken  beweisen.  Schon  im  7.  Jahrhundert  wurde 
er  von  den  geschmack-  und  urtheilslosen  Schriftstellern  als  weiser  wie  Augustin, 
beredter  wie  Cyprian,  frömmer  wie  Antonius  gefeiert  („nihil  illi  simile  demoustrat 
antiquitas",  Ildefons.,  de  Script.  1). 

^  Eine  ausführliche  Darstellung  der  Lehre  Gregor's  giebt  Lau,  a.  a.  O.  S.  329 
bis  556.   Man   sieht  hier,  in  welchem  Masse  Gregor  von  Augustin  abhängig  ist. 


Gregor  der  Grosse.  235 

Nur  mit  einigen  Strichen  sei  der  depotenzirte  Augustinismus  ge- 
schildert, wie  er  sich  bei  Gregor  darstellt.  Die  Vernunft,  Wissenschaft 
und  Philosopliie  wird  von  ihm  stärker  herabgesetzt  als  von  Augustin: 
Glaube  und  Vernunft  stehen  sich  schroff  gegenüber  (Evang.  II  hom.  26)  ^, 
das  Mirakel  ist  das  Kennzeichen  des  Religiösen.  AVohl  kann  die  Ver- 
nunft das  Dasein  Gottes  feststellen,  aber  nur  „per  aditum  fidei  aperitur 
aditus  visionis  dei"  (Ezech.  II  hom.  5,  nach  Augustin).  Die  Lehre  von 
den  Engeln  und  vom  Teufel  tritt  in  den  Vordergrund,  weil  sie  der  popu- 
lären und  der  mönchischen  Frömmigkeit  entsprach.  Man  kann  Gregor 
den  doctor  angelorum  et  diaboli  nennen.  In  Bezug  auf  jene  hat  er  sich 
(s.  Evang.  II  hom.  34)  besonders  in  der  Ausbildung  der  Rangstufen 
(Einfluss  der  griechischen  Mystik),  in  der  Verherrhchung  des  Michael, 
Gabriel  und  Raphael  —  der  Wunderheld,  der  grosse  Bote  und  Streiter 
wider  die  Luftgeister,  der  Medicinmann  — ,  in  der  reinlichen  Vertheilung 
der  Engelgeschäfte  und  in  der  Idee  der  Schutzgeister  —  die  Engel 
stehen  den  Menschen  vor,  wie  diese  dem  Vieh  —  gefallen.  Er,  der  über 
die  griechisch-römische  Kultur  so  gering  dachte,  hat  die  inferiorsten 
Theile  derselben  in  der  Engellehre  sanctionirt.  Noch  lebhafter  schaltete 
seine  Mönchsphantasie  in  den  Vorstellungen  vom  Teufel  und  den  Dä- 
monen, und  darum  hat  er  auch  die  Vorstellungen  vom  Antichrist,  der 
bereits  vor  der  Thür  steht,  da  die  Welt  dem  Ende  nahe  ist,  neu  belebt. 
W^ie  der  Logos  die  Menschennatur  angenommen,  so  wird  der  Teufel  am 
Ende  der  Welt  sich  incarniren  (Moral.  31,  24;  13,  10).  Der  Teufel 
besass  vor  der  Erscheinung  Christi  alle  Menschen  mit  Recht  und  be- 
sitzt jetzt  noch  die  Ungläubigen.  Durch  diese  wüthet  er;  aber  den  Gläu- 
bigen gegenüber  ist  er  der  machtlose  und  geprellte  Teufel.  Die  Lehren 
von  der  Erlösung,  Rechtfertigung,  der  Gnade  und  Sünde  stellen  einen 
durch  das  Interesse  des  Mirakels,  der  heihgen  Handlungen  und  des 
Mönchthums  modificirten  Augustinismus  dar.  Der  Gottmensch  (dessen 
Mutter  in  partu  et  post  partum  Jungfrau  blieb),  war  sündlos,  weil  er 
nicht  durch  flcischhche  Lust  in  die  Welt  kam.  Er  ist  redemptor  und  me- 
diator  —  diese  Bezeichnungen  werden  bevorzugt  —  und  hat  vor  Allem 
den  Teufel  versöhnt,  indem  er  durch  seinen  Tod  ihm  die  Menschen  ab- 
kaufte ''^,  und  den  Zwiespalt  zwischen  Engeln  und  Menschen  aufgehoben. 


Namentlich  hebt  er  die  hl.  Schrift  als  die  cuts(;hcideMdc  Norm  des  Lebens  und  der 
Lehre  ebenso  kräftig  hervor  wie  dieser.  Auch  die  tiefsten  augustinischen  Gedanken 
werden  gestreift,  jedoch  sämmtlich  verflacht. 

^  „Fides  nori  habet  meritum,  cui  humana  ratio  praebct  expcrimentum"  (§  1). 

'^  Die  lietiugstheorie  wird  dabei  von  Gregor  in  abschreckendster  Gestalt  vor- 
getragen. Der  Teufel  ist  der  Fisch,  der  nach  dem  Fleisch  Christi  schnappt  und  den 
verborgeneu  Angelhaken,  die  Gottheit,  verschlingt;  s.  Moral.  33,  7.  9. 


236     (reschichte  des  Doginas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

Beiläufig  wird  auch  bemerkt,  class  Christus  unsere  Strafen  getragen 
und  den  Zorn  Gottes  versöhnt  habe.  Aber  neben  der  Erlösung  vom 
Teufel  ist  die  Befreiung  von  der  Siuide  selbst  die  Hauptsache.  Sie  ist 
tladurch  geschehen,  dass  Christus  die  Strafen  der  Erbsünde  aufliob  und 
auch  die  Sünde  aullöste,  indem  er  uns  ein  Beispiel  gab  K  Damit 
ist  schon  gesagt,  dass  das  Werk  CJhristi  unvollständig  ist,  d.  h.  dass  es 
durch  unsere  Busse  ergänzt  werden  niuss*,  denn  es  verwandelt  die 
ewigen  Strafen  der  Erbsünde  in  zeitliche,  die  abgebüsst  werden  müssen, 
und  es  wirkt  hauptsächlich  durch  das  Beispiel  ^.  Factisch  treten  in  der 
Doctrin  Gregorys  der  Tod  Christi  und  die  Busse  als  zwei  gleichwerthige 
Grössen  neben  einander  •^  Dies  muss  man  festhalten,  um  eine  andere 
Gedankenreihe  nicht  zu  überschätzen,  Gregor  betrachtet  den  Tod 
Christi  als  ein  Opfer  (oblatio)  für  unsere  Reinigung,  welches  Christus 
fortwährend  für  uns  darbringt,  indem  er  Gott  seinen  (gekreuzigten)  Leib 
beständig  zeigt  ^    Allein  diese  scheinbar  hoch  gegriffene  Betrachtung 

*  Moral.  1,  13:  „Incarnatiis  dominus  in  semetipso  omne  quod  nobis  inspiravit 
ostendit,  ut  quod  praecepto  diceret,  exemplo  suaderet."  2,  24:  „Venit  inter  homines 
mediator  dei  et  honiinum,  homo  Christus  Jesus,  ad  praebendum  exemplum  vitae 
hominibus  simplex,  ad  uon  parcendum  malignis  spiritibus  rectus  ad  debellandam 
superbiam  timeus  deum,  ad  detergendara  vero  in  clectis  suis  immunditiam  recedens 
a  malo." 

^  Lau  S.  434:  „Das  Hauptgewicht  wird  auf  die  Belehrung  und  auf  das  Bei- 
spiel gelegt,  die  Versöhnung  mit  Gott,  deren  Gewissheit  der  Mensch  zu  seinem 
Seelenfrieden  unumgänglich  bedarf,  fast  ganz  übergangen,  die  Befreiung  von  den 
Strafen  theils  unzureichend  als  bloss  in  Bezug  auf  die  Erbsünde,  theils  rein  äusser- 
lich  gefasst  ....  Gregor  weiss  dem  Menschen  keine  andere  Beruhigung  zu  geben, 
als  ihn  auf  seine  Busse  und  seine  guten  Werke  hinzuweisen."  Er  redet  von  einer 
beständigen  Ungewissheit,  in  welcher  der  Mensch,  auch  der  heiligste,  über  seine 
Versöhnung  bleibt.  Mit  dem  Satz,  dass  uns  um  Christi  willen  die  Sünden  vergeben 
werden,  weiss  er  nichts  anzufangen.  Gott  bestraft  vielmehr  jede  durch  die  Busse 
nicht  abgebüsste  Sünde,  auch  wenn  er  sie  verzeiht;  s.  Moral.  IX,  34:  „Bene  dicit 
Hiob  (9,  28):  Sciens  quod  non  parccris  delinquenti,  quia  delicta  nostra  sive 
per  nos  sive  per  semetipsum  resecat,  etiam  cum  relaxat.  Ab  electis 
enim  suis  iniquitatum  maciüas  studet  temporali  afflictione  tergere,  quas  in  eis  in 
perpetuum  non  vult  videre."  In  dem  Commentar  zu  I  Reg.  (1.  IV,  4,  57),  der  frei- 
lich, so  wie  er  vorliegt,  schwerlich  von  Gregor  selbst  niedergeschrieben  ist,  heisst 
es  sogar:  „Non  omnia  nostra  Christus  explevit,  per  crucem  quidem  suam  omnes 
redemit,  sed  remansit,  ut,  (jui  redimi  et  regnare  cum  eo  nititur,  crucifigatur.  Hoc 
profecto  residuum  viderat,  qui  dicebat:  si  compatimur  et  conregnabinnis.  Quasi 
dicat:  Quod  explevit  Christus,  non  valet  nisi  ei,  qui  id  quod  remansit 
a  d  i  m  p  1  e  t. " 

^  Daher  heisst  es  immer  wieder  in  den  Moral,  in  Bezug  auf  die  Tilgung  der 
Sünden:  „sive  per  nos,  sive  per  deimi". 

■*  Moral.  1,  24:  „Sine  intermissione  pro  nobis  holocaustum  redemptor  im- 
molat,   qui  sine  cessatione  patri  suam  pro  nobis  iucaruationcm  demoustrat ;  ipsa 


Gregor  der  Grosse.  •  237 

bedeutet  im  Grunde  sehr  wenig.  Sie  ist  aus  der  Abendmablspraxis  ent- 
standen. Was  in  der  Kirche  beständig  durch  den  Priester  geschieht; 
ist  auf  Christus  selbst  übertragen.  Aber  beide  Oblationen,  indem  sie 
sich  auf  unsere  „Reinigung"  beziehen,  haben  ihren  Werth  doch  nur  in 
der  Erleichterung  der  Sündenstrafen.  Auch  noch  eine  andere  Er- 
wägung wirkte  hier  ein,  die  sich  auf  biblische  Sprüche  stützte,  aber  in 
Wahrheit  ganz  anderen  Quellen  entstammte.  Es  ist  die  Vorstellung  von 
der  beständigen  intercessio  Christi.  Allein  diese  Intercession  muss  mit 
dem  ganzen  Apparat  der  Intercessionen  (der  Engel,  der  Heiligen,  der 
Almosen  und  Seelenmessen,  welche  wie  personificirte  Kräfte  gedacht 
sind)  zusammengehalten  werden,  um  zu  erkennen,  dass  es  sich  hier  um 
eine  heidnische,  in  der  Praxis  der  Kirche  freilich  längst  schon  ein- 
gebürgerte, nun  aber  erst  zur  Theorie  erhobene  Vorstellung  handelt 
(die  „Nothhelfer").  Wie  wenig  bestimmt  der  Tod  Christi  dabei  ins 
Auge  gefasst  wird,  zeigt  das  offene  Geständniss  Gregor's,  dass  derselbe 
nicht  durchaus  nothwendig  gewesen  sei.  Wie  Gott  uns  aus  dem  Nichts 
erschaffen  hat,  so  hätte  er  uns  auch  ohne  Christi  Tod  von  den  Leiden 
befreien  können.  Aber  er  wollte  uns  die  Grösse  seines  Mitleides  zeigen, 
indem  er  das  auf  sich  nahm,  wovon  er  uns  befreien  wollte;  er  wollte 
uns  ein  Beispiel  geben,  dass  man  das  Unglück  und  die  Leiden  der  Welt 
nicht  fürchten,  sondern  ihr  Glück  meiden  soll,  und  er  wollte  uns  lehren, 
des  Todes  zu  gedenkend  Auch  Gregor  hat  eine  Theorie  vom  Ver- 
dienst Christi  (nach  Analogie  der  merita,  die  wir  gewinnen  können)  noch 
nicht  entworfen.  Sie  blieb  dem  Mittelalter  vorbehalten ;  aber  er  hat  das 
Werk  Christi  von  den  Seelenmessen  und  den  Intercessionen  der  Heiligen 
aus  beleuchtet. 

In  der  Lehre  von  dem  Urständ,  der  Erbsünde,  der  Sünde,  dem 
Glauben  und  der  Gnade  sind  die  augustinischen  Formeln  (nach  den 
Kanones  von  Arles,  ohne  gratia  irresistibilis  und  particularen  Gnaden - 
willen)  wiederholt;  allein  dem,  was  Augustin  in  abstracto  eingeräumt 
hat  (liberum  arbitrium),  wird  hier  ehie  sehr  reale  Bedeutung  beigelegt. 
Friedlich  steht  neben  der  breit  entwickelten  Lehre  von  der  gratia  gra- 
tuita,  der  gratia  praeveniens  und  von  dem  Urständ  und  der  Erbsünde 
(die  Fleischeslust  der  Eltern  ist  die  Ursache  unseres  Lebens,  daher  ist 
es  sündig;  der  „Ungehorsam"  oder  die  „Unordnung"  der  Zeugungs- 
glieder ist  der  Beweis  der  Erbsünde;   die  eheliche  Vermischung  ist  nie 

fjuippe  eius  incarnatio  nostrae  emundationis  oblatio  est:  cumque  sehominem  osten- 
dit,  delicta  liorninis  intorvenions  diluit.  Et  huTnanitaÜH  suae  mysterio  perenne  sacri- 
ficiurn  imrnolfit,  (juia  et  liaec  sunt  aeterna,  (juac  rnundat." 

'  Moral.  20,  36;  2,  37.  Ezech.  1.  TI  hom.  1.  2.  Hier  finden  sich  schöne  Au»- 
fiihrungen:  „noH  minus  amassot,  nisi  et  vulnera  nostra  susciperet"  (M.  20,  3()). 


238     Geschiclite  des  Dogmas  im  Aliendland  ])i8  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

ohne  Schuld)  die  Tjehre  von  dem  AVillen,  der  bloss  geschwächt  ist,  und 
dem  liberum  arbitrium,  welches  der  Gnade  folgen  muss,  damit  sie  in 
Thiltigkeit  treten  kann '  —  und  doch  soll  sie  den  Willen  erst  bestimmen, 
dass  er  will.  Bei  allem  Guten  wirken  von  Anfang  an  zwei  Potenzen  zu- 
sammen, sofern  der  freie  Wille  das  annehmen  muss,  was  die  Gnade 
bietet.  Daher  kann  man  sagen,  „dass  wir  uns  selbst  erlösen,  weil  wir 
dem  uns  erlösenden  Herrn  zustimmen"-.  Die  Prädestination  wird  bei 
den  Sündern  und  Erwählten  einfach  auf  die  Präscienz  zurückgeführt, 
dabei  an  anderen  Stellen  aber  doch  behauptet,  sie  beruhe  auf  Gottes 
freier  Macht  und  Gnade.  Die  letztere  Annahme  war  nöthig,  weil  auch 
Gregor  an  einem  certus  et  definitus  numerus  electorum  (zum  Ersatz 
der  Engel)  festhielt;  allein  schliesslich  gehören  zu  dieser  Zahl  alle  die, 
deren  Beharren  im  Glauben  und  guten  Werken  Gott  vorher  erkannt 
hat.  Im  Grunde  ist  alles  Innerliche  auf  das  Handeln  der  Kirche  redu- 
cirt.  AVie  im  Orient  steht  dieses  im  Vordergrund;  doch  ist  die  Be- 
trachtungsweise eine  andere.  Dort  ist  dem  frommen  Gefühl,  welches 
sich  an  dem  Ganzen  des  Kultus  als  eines  gottmenschlichen  Dramas 
erhebt  und  berauscht,  mehr  S^iielraum  gelassen;  hier  ist,  dem  römi- 
schen Charakter  angemessen,  Alles  nüchterner  und  berechnender. 
Man  leistet  und  man  empfängt;  der  unterwürfige  Gehorsam  ist  die 
Haupttugend;  die  Verdienste  werden  belohnt,  aber  dem  Demüthigen 
wird  auch  fremdes  Verdienst  zugewandt:  das  ist  die  Gnade.  Taufe, 
Abendmahl  und  Busse  sind  die  Mittelpunkte  des  Gnaden-Rechts- 
processes.  Man  wird  getauft:  damit  ist  die  Erbschuld  getilgt  und 
alle  vor  der  Taufe  begangenen  Sünden  sind  ausgelöscht;  aber  die  Erb- 
sünde ist  nicht  weggewischt  und  die  Schuld  der  späteren  Sünden  bleibt  ^. 


'  Wie  hätte  auch  ein  Bischof,  der  sich  als  Seelenhirt  der  ganzen  Christenheit  fühlt  e, 
damals  den  reinen  Augustinismus  zur  Richtschnur  seiner  Rathschläge  machen  können ! 

2  Moral.  24,  10;  s,  auch  33,  21 :  „Bonum  quod  agimus  et  dei  est  et  nostrum, 
dei  per  praevenientem  gratiam,  nostrum  per  obsequentem  liberam  voluutatem  .  .  . 
Si  nostrum  non  est,  unde  nobis  retribui  praemia  speramus  ?  Quia  ergo  nou  imme- 
rito  gratias  agimus,  scimus,  quod  eius  munere  praevenimur ;  et  rursum  quia  non 
immerito  retributionem  quaerimus,  scimus,  quod  obsequente  libero 
arbitrio  bona  eligimus,  quae  ageremus."  S.  ep.  IIT,  29:  Christus  wird 
uns  dann  beim  Gericht  reichlicher  trösten,  wenn  er  bemerkt,  dass  wir  unsere  Fehler 
an  uns  selbst  gestraft  haben. 

^  Moral.  9,  34:  „Salutis  unda  a  culpa  primi  parentis  absolvimur,  sed  tameu 
reatum  eiusdem  culpae  diluentes  absoluti  quoque  adhuc  carnaliter  obimus."  Die 
casuistische  Behandlung  der  Sünden  ist  })ei  Gregor  keineswegs  rigoristisch.  Er 
zeigt  hier  eine  mit  Milde  gepaarte  hohe  Weisheit  und  giebt  Anweisungen,  die 
gewiss  für  die  damaligen  Verhältnisse  die  besten  waren.  „Frommen  Seelen",  sagt 
er  einmal  (ep.  XI,  64),  „ist  es  eigenthümlich,  auch  dort  einen  Fehler  (bei  sich)  zu 
wähnen,  wo  gar  keiner  zu  finden  ist." 


Gregor  der  Grosse.  '  239 

Sie  muss  getilgt  resp.  abgebüsst  werden.  Es  giebt  dafür  zahlreiche 
Mittel,  die  ebenso  nothwendig  wie  unsicher  sind.  Der  Mensch  muss 
sich  gerecht  machen;  denn  die  Gerechtigkeit  ist  die  oberste  Tugend 
(radix  virtutum).  Er  wird  angewiesen,  zu  beten,  Almosen  zu  geben 
und  Verdruss  am  Leben  zu  empfinden.  Aber  es  wird  ihm  weiter 
gesagt:  „hi  qui  de  nullo  suo  opere  confidunt,  ad  sanctorum  martyrum 
protectionem  currunt  atque  ad  sacra  eorum  corpora  fletibus  insistunt, 
promereri  se  veniam  iis  intercedentibus  deprecantur"  (Moral.  16,  51). 
Längst  hatte  diese  Praxis  der  Heihgen  und  Reliquien  bestanden,  aber 
Gregor  hat  das  Verdienst,  sie  schematisirt  zu  haben,  indem  er  sie 
zugleich  durch  seine  „Dialoge"  —  aber  auch  durch  die  anderen 
Schriften  —  mit  reichem  Stoff  versah  ^  Eine  Wolke  von  „Vermitt- 
lern" (Engel,  Heilige,  Christus:  schon  fängt  die  schlaue  Berechnung  an, 
was  ein  Jeder  von  ihnen  leisten  kann  und  wofür  er  gut  ist)  tritt 
zwischen  Gott  und  die  Seele.  Die  Unsicherheit  über  Gott,  die  per- 
verse mönchische  Demuth  und  die  Furcht  des  unversöhnten  armen 
Herzens  vor  den  Sündenstrafen  haben,  die  Christen  in  die  Arme  des 
heidnischen  Aberglaubens  geführt  und  die  „Vermittler"  in  die  Dog- 
matik  eingestellt.  Aber  indem  die  Kirche  durch  den  Satz  schreckt 
„nuUatenus  peccatum  sine  vindicta  laxatur"  -,  verweist  sie  nicht  nur 
auf  die  Intercessoren ,  auf  die  Almosen  und  die  anderen  Satis- 
factionen,  auf  die  „Seelenmessen",  die  eine  immer  höhere  Bedeutung 
erlangten,  sondern  sie  mildert  auch  die  Hölle,  indem  sie  das  Fegefeuer 
vor  den  Himmel  setzt,  verwirrt  damit  die  Gewissen  und  stumpft  die 
Schwere  der  Sünde  ab,  das  Interesse  auf  die  Sünden  strafe  lenkend. 
Gregor  hat  die  Lehre  vom  Fegefeuer,  die  schon  Augustin  eingeleuchtet 
hat ",  sanctionirt  und  breit  ausgeführt  '*.    In  dieses  Fegefeuer  reicht 

^  Vielfach  sind  schon  früher  ähnliche  Dinge  erzählt  worden,  wie  Gregor  sie 
})erichtei;  aber  im  Abendland  hat  kein  Schriftsteller  vor  ihm  die  Superstitionen  so 
ausgebaut  —  und  er  war  der  einflussreichste  Bischof.  Die  AVunder  der  Reliquien 
sind  ihm  die  alltäglichsten  Erscheinungen;  die  Wunderkraft  einiger  ist  so  gross, 
dass  .Teder  stirbt,  der  sie  berührt.  Alles,  was  in  Berührung  mit  ihnen  tritt,  wird 
magnetisirt.  Wie  gewaltige  Fürsi)recher  und  Advokaten  müssen  also  die  Heiligen 
sein,  wenn  schon  ihre  Leiber  solche  Thatcn  tliun!  Gregor  suchte  sich  daher  auch 
einflussreiche  Leute  durch  üebersendung  von  Reli(|uien  und  —  Sklaven  geneigt  zu 
erhalten.   Uebor  Bilder  s.  ep.  TX,  52;  IX,  105;  XI,  13. 

'^  Moral.  9,  34  oder :  „delin(iuenti  dominus  ne(iua(iuam  parcit,  (|uia  (Jielictum 
sine  ultione  non  deserit.  Aut  enim  ipse  homo  in  se  paenitens  punit,  aut  hoc  deus 
cum  homine  vindicans  jjercutit." 

^S.  oben  S.  209.  211. 

*  S,  J)ial.  IV  (25)  u,  39.  Nachdem  (lott  die  ewigen  Strafen  i)i  zeitliche  ver- 
wandelt hat,  müssen  die  flercchtfertigten  die  zeitlichen  Sündenstrafen  im  Fege- 
feuer abbüflsen.   Dieses  wird  indirect  aus  MUh.  12,  31,   direct  aus  I  Cor  3,  12  f. 


240     Geschiclite  des  Dogmas  im  Al)endlancl  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

aber  die  Macht  der  Kirche,  der  Gebete  und  der  Fürsprecher 
hinein  '. 

Weil  das  f^anze  Leben  auch  der  Getauften  noch  durch  Sünden, 
mindestens  durch  kleine,  befleckt  ist,  so  müssen  sie  fortwährend  in 
der  Pönitenz  stehen,  d.  h.  der  Busse  leben,  die  in  den  Satisfactionen 
und  Anrufungen  dei'  Nothhelfer  gipfelt.  Gregor  hat  die  Lehre  von 
der  iUisse  ebenfalls  so  schematisirt,  wie  sie  in  das  Mittelalter  über- 
gegangen ist.  Vier  Stücke  gehören  zur  Busse,  die  Erkenntniss  der 
Sünde  und  die  Furcht  vor  Gottes  Gerichten,  die  Reue  (contritio), 
das  Bekenntniss  der  Sünde  und  die  Genugthuung  (satisfactio).  Die 
beiden  ersten  können  auch  als  eines  gefasst  werden  (conversio  men- 
tis)  -.  Noch  soll  der  entscheidende  Nachdruck  auf  die  conversio 
fallen ;  auch  ist  die  Busse  noch  nicht  an  das  Kircheninstitut  und  den 
Priester  gel)unden ;  aber  die  satisfactio  musste  doch  als  die  Haupt- 
sache empfunden  werden.  Das  letzte  Wort  ist  freilich  noch  nicht  ge- 
sprochen; aber  schon  nimmt  die  Bussordnung  die  Stelle  ein,  die  dem 
Glauben  gebührt;  ja  sie  heisst  die  „Thränentaufe"  ^.  Und  in  den 
Bussmechanismus  ist  schhesslich  auch  das  Abendmahl  hineingezogen. 
Auch  hier  hatte  Gregor  nur  längst  Geübtes  zu  accentuiren.  Am 
Abendmahl  ist  die  Hauptsache,  dass  es  Opfer  ist,  welches  Lebenden 
und  Gestorbenen  als  Mittel  der  „laxatio"  zu  Gute  kommt.  Als  Opfer 
ist  es  Wiederholung  des  Opfers  Christi  —  daher  der  Ausbau  des 
feierhchen  Ritus  durch  Gregor  — ,  und  dass  das  ganz  reahstisch  ge- 
dacht wurde,  versteht  sich  von  selbst.  In  dieser  Handlung  (eucha- 
ristia,  missa,  sacrificium,  oblatio,  hostia,  sacramentum  passionis,  com- 
munio)  wiederholt  sich  zu  unserer  Versöhnung  Christi  Leiden^,  der 

erschlossen.  Es  gieht  aber  vollkommene  Menschen,  die  des  Fegefeuers  nicht  be- 
dürfen. 

^  Dial.  IV,  57:  „Credo,  quia  hoc  tarn  aperte  cum  viventilnis  ac  nescientibus 
agitur,  ut  cunctis  haec  agentibus  ac  nescientibus  osteudatur,  quia  si  insolubiles  cul- 
pae  non  fuerint,  ad  absolutionem  prodesse  etiam  mortuis  victima  sacrae  oblationis 
possit.  Sed  sciendum  est,  quia  illis  sacrae  victimae  mortuis  prosint,  qui  hie  vivendo 
obtinueruut,  ut  eos  etiam  post  mortem  bona  adiuvent,  quae  hie  pro  ipsis  ab  aliis 
fiunt." 

^  I  Reg.  1.  VI,  2,  33:  „tria  in  unoquoque  consideranda  sunt  veraciter  paeni- 
tente,  videlicet  conversio  mentis,  confessio  oris  et  vindicta  peccati."  Moral.  13,  39: 
„convertuntur  fide,  veniunt  opere,  convertuntur  deserendo  mala,  veniunt  l)ona  fa- 
eiendo."    Die  freiwillig  aufgenommenen  Plagen  sind  die  satisfactio. 

^  Evang.  1.  I  hom.  10:  „Peccata  nostra  praeterita  in  baptismatis  perceptione 
laxata  sunt,  et  tamen  post  baptisma  multa  commisimus,  sed  laxari  iterum  baptis- 
matis aqua  non  possumus.  Quia  ergo  et  post  baptisma  iniquinavimus  vitam,  bapti- 
zemus  lacrimis  conscientiam." 

*  Evang.  1.  II  hom.  37,  7:  „Singulariter  ad  absolutionem  nostram  oblata  cum 


Gregor  der  Grosse.  241 

„in  singulis  portionibus  totus  est'^  Doch  ist  auch  hier  das  letzte 
Wort  noch  nicht  gesprochen,  die  Transsubstantiation  noch  nicht  aus- 
geführt. Ja  es  geht  eine  Betrachtung  des  Abendmahls  nebenher,  nach 
welcher  der  Accent  darauf  fällt,  dass  wir  uns  Gott  als  Hostie  dar- 
bringen, indem  wir  uns  ihm  hingeben,  Liebe  üben,  täglich  das  Opfer 
der  Thränen  leisten,  die  Welt  verachten  und  —  täglich  die  Hostie 
des  Leibes  und  Blutes  Christi  opfernd 


Was  ist  vom  Augustinismus  hier  geblieben?  Alle  die  vulgär- 
katholischen Elemente,  die  Augustin  zurückgeschoben  und  theilweise 
umgestimmt  hat,  sind  mit  doppelter  Kraft  wiedergekehrt !  Die  mora- 
listisch-rechtliche Betrachtung  hat  über  die  religiöse  gesiegt.  Was  bei 
Cyprian  in  der  Schrift  de  opere  et  eleemosynis  angelegt  erscheint, 
beherrscht  hier  die  ganze  religiöse  Auffassung,  und  die  Unsicherheit, 
die  Augustin  über  den  Gottesbegriff  hat  bestehen  lassen,  weil  er 
über  Gott  in  Christus  nur  unsicher  dachte,  ist  hier  zu  einem 
Schaden  geworden,  der  die  ganze  Religionslehre  durchdringt.  Denn 
was  weiss  Gregor  von  Gott?  Dass  er,  w^eil  er  allmächtig  ist, 
einen  unerforschlichen  Willen  hat^,  dass  er,  weil  er  der 
Vergelter  ist,  keine  Sünde  ungestraft  las  st,  und  dass 
er,  weil  er  gütig  ist,  eine  unübersehbare  Menge  von 
Gnaden  Veranstaltungen  geschaffen  hat,  deren  Ge- 
brauch es  dem  freien  Willen  ermöglicht,  sich  den 
Sündenstrafen  zu  entziehen  und  Verdienste  dem 
vergeltenden  Gott  vorzuweisen.  Das  ist  Gregor's  Gottes- 
begriff, und  es  ist  der  specifische  Gottesbegriff  der  römisch-ka- 
tholischen Kirche :  Christus  als  Person  ist  vergessen.  Er  ist  ein 
grosser  Titel  in  der  Dogmatik,  d.  h.  an  der  betreffenden  Stelle;  aber 
die  Grundfragen  des  Heils   sind   nicht   im  Hinblick    auf  ihn   beant- 


lacrimis  et  benignitate  mentis  sacri  altaris  hostia  suffragatur,  quia  is,  qui  in  se  re- 
surgeiis  a  mortuis  iam  non  nioritur,  adliuc  per  hanc  in  suo  mysterio  pro  no])is  iterum 
patitur.  Nam  quoties  ei  hostiam  suae  passionis  offerimus,  toties  nobis  ad  absolutio- 
nem  nostram  passionem  illius  reparamus." 

*  8.  Dial.  IV,  58.  59.  Auf  die  Häufigkeit  der  Messen  legte  schon  Gregor 
grosses  Gewicht.  Er  erzählt  (Dial.  IV,  55),  (;r  sol])st  habe  durch  eine  dreissigtägige 
Messe  der  Seele  eines  abgeschiedenen  Mönclis  Ruhe  verschafft.  Auch  die  Anwen- 
dung der  Messen,  um  zeitliche  Leiden  abzuwehren,  billigt  Gregor.  Er  berichtet  mit 
Beifall,  dass  eine  Frau  durch  Messen  ihren  Mann  aus  der  Gefangenschaft  ])efreit 
habe,  und  erkennt  überhauj)t  in  ihnen  das  reinediuni  wider  alle  Plagen  im  Diesseits 
und  im  Fegefeuer.    Nur  auf  die  ewige  Seligkeit  bezieht  sich  die  Messe  nicht. 

^  Das  ist  der  Eindruck,  der  sich  aus  der  Prädestinationslehre  Augustin's 
erhielt. 

Harnack,  Do^nengeschichte  III.  1^5 


242     Geschichte  des  Dogmas  im  Abendland  bis  zum  Beginn  des  Mittelalters. 

wortet,  und  im  Leben  hat  sich  der  Getaufte  an  „Mittel"  zu  halten, 
die  theils  neben,  theils  ohne  ihn  bestehen  oder  nur  seine  Eti(|uette 
tragen.  Von  hier  aus  erklärt  sich  das  ganze  Gefiige  der  gregoria- 
nischen Rehgionslehre,  welche  statt  Glaube  und  Liebe  wiederum 
Furcht^  und  Hoffnung,  statt  der  Gnade  Gottes  in  Christo  eine 
nur  comi)licirter,  aber  nicht  besser  gewordene  Verdienstlehre  auf- 
richtet. Und  doch  hätte  sich  Augustin  über  diese  Verschiebung  seiner 
Gedanken  nicht  beklagen  dürfen  *,  denn  er  hat  die  Grundlinien  dieser 
Religionslehre  alle  bestehen  lassen,  ja  selbst  in  sein  Gedankengefüge 
aufgenommen.  Sogar  die  offenbare  und  schwere  Veräusserhchung  der 
Sünde,  jene  Anweisung,  dass  man  immerfort  in  Thränen  schwimmen, 
dabei  aber  eifrig  bedacht  sein  soll,  den  Sündenstrafen  sich  zu  ent- 
ziehen, jene  Verkehrung  des  Gottesbegrift's  und  der  Sünde,  als  käme 
es  Gott  lediglich  darauf  an,  abgefunden  zu  werden,  sofern  er  der 
Vergelter  ist  —  sie  hat  in  dem  augustinischen  Gedankenkreise  An- 
knüpfungspunkte-. Der  dunkelste  Fleck  an  der  mittelalterlichen  Fröm- 
migkeit, dass  sie  gebietet,  immerfort  zerknirscht  zu.  sein,  dabei  aber 
den  Reuigen  zu  Berechnungen  auffordert,  die  den  sittHchen  Nerv 
ertödten  und  die  Reue  über  die  Sünde  in  die  Furcht  vor  der  Strafe 
umwandeln  —  dieser  Schade,  der  die  religiöse  Moral  schlimmer  macht 
als  die  religionslose,  ist  von  nun  an  in  der  katholischen  Kirche  des 
Abendlandes  verewigt  ^. 

Allein  bei  Gregor  selbst  durchkreuzen  doch  noch  viele  an  dem 
Evangelium  und  Augustin  erworbene  Gedanken  diese  Religionslehre. 
Er  hat  von  dem  Eindruck  der  Person  Christi  in  erhabenen  Worten 


*  „Dens  terrores  incutit"  —  öfters. 

'''Das  „tutius",  die  via  tutior  spielt  bei  Gregor  schon  eine  grosse  Rolle;  s. 
z.  B.  Dial.  IV,  58:  „Pensandum  est,  quod  tutior  sit  via,  ut  bonum  quod  quisque 
post  mortem  suam  sperat  agi  per  alios,  agit  ips6  dum  vivit  per  se."  Also  das  ist 
nur  tutius,  und  nicht  selbstverständliche  Pflicht ! 

^  Ausdrücklich  verbietet  Gregor  auch  —  er  konnte  sich  freilich  auf  Augustin 
berufen  — ,  dass  man  seiner  Seligkeit  gewiss  werde.  Am  lehrreichsten  ist  hier  der 
Brief  an  die  Kämmerin  der  Kaiserin  Gregoria  (V,  25).  Diese  arme  Frau  wollte 
Gewassheit  ihres  Seelenheils  haben  und  hatte  dem  Papst  geschrieben,  sie  werde 
so  lange  mit  Briefen  in  ihn  dringen,  bis  er  ihr  zurückschreiben  werde,  er  habe 
die  Vergebung  ihrer  Sünden  aus  einer  Specialoffenbaruug  erkannt. 
Welch'  eine  evangelische  Regung  im  Jahre  596!  Der  Papst  schreibt  ihr  zurück, 
erstlich  sei  er  einer  besonderen  Oftenbarung  unwürdig,  zweitens  dürfe  sie  wegen 
der  Vergebung  ihrer  Sünden  nicht  eher  sicher  sein,  als  bis  sie  an  ihrem  letzten 
Lebenstag  ihre  Sünden  zu  beweinen  nicht  mehr  im  Stande  sein  werde;  bis  dahin 
müsse  sie  furchtsam  bleiben ;  denn  die  Sicherheit  sei  die  Mutter  der  Trägheit ;  sie 
dürfe  gar  nicht  nach  ihr  streben,  da  sie  einschläfre.  „Lass'  Deine  Seele  jetzt  eine 
kleine  Zeit  zittern,  damit  sie  sich  dann  ohne  Ende  in  einer  sicheren  Freude  ergötze." 


Gregor  der  Grosse  und  Augustin.     '  243 

reden  können,  und  er  hat  die  innere  Umwandlung  durch  den  divinus 
sermo  ^  so  zu  schildern  vermocht,  dass  man  fühlt,  er  giebt  hier  nicht 
nur  Angelerntes  wieder,  sondern  spricht  aus  eigener  Erfahrung.  „Per 
Sacra  eloquia  dono  spiritus  virificamur,  ut  mortifera  a  nobis  opera 
repellamus^  spiritus  vadit,  cum  legentis  animum  diversis  modis  et 
ordinibus  tangit  deus"  ^.  Innerlich  durch  das  Wort  wirkt  der  Geist 
Gottes.  So  sind  viele  der  besten  Gedanken  Augustin's  in  den  Schrif- 
ten Gregorys  reproducirt  ^.  Auch  ist  er  als  Dogmatiker  kein  Hierarch 
gewesen.  Wenn  er,  wie  es  unleugbar  ist,  der  weiteren  Identificirung 
von  empirischer  Kirche  und  Kirche  Vorschub  geleistet  hat,  wenn 
alle  seine  Anweisungen  über  angerechnetes  Verdienst  der  Heiligen, 
Oblationen,  Messen,  Bussordnung,  Fegefeuer  u.  s.  w.  der  Priester- 
kirche und  der  völligen  Unterordnung  der  armen  Seelen  unter  ihre 
Gewalt  zu  Gut  kommen  mussten,  wenn  endlich  seine  Kirchenpolitik 
darauf  angelegt  war,  die  im  Papst  gipfelnde  Kirche  zu  der  Macht  zu 
erheben,  an  der  jede  andere  Macht  ihre  Grenze  findet  und  von  der 
sie  ihren  Segen  empfängt,  so  ist  doch  seine  Dogmatik  keineswegs 
blosse  Ecclesiastik.  Man  wundert  sich  vielmehr,  dass  er  nirgendwo 
die  letzten,  scheinbar  so  nahe  liegenden  Consequenzen  gezogen  hat  *, 
nämlich  den  ganzen  ungeheuren  Apparat  in  straffer  Zusammen- 
fassung in  die  Hand  des  Priesters  zu  legen  und  die  Leitung  jeder 
einzelnen  Seele  diesem  zu  übergeben.  Geübt  wurde  es  bereits  da- 
mals vielfach ;  aber  noch  überwog  der  Gedanke,  dass  jeder  Getaufte 
für  sich  die  Verantwortung  allein  trage  und  seinen  eigenen  Weg 
durch  Busse  und  Vergebung  vor  Gott  innerhalb  der  Kirche  zu  wan- 

*  Auch  der  Ausdruck  „verbum  fidei"  ist  sehr  gebräuchlich. 

''  Ezech.  I  h.  7. 

^  Die  Wahrheitsliebe  Gregor's  ist  freilich  nicht  über  allen  Zweifel  erhaben. 
Seine  Wundergeschichten  sind  häufig  nicht  naiv,  sondern  berechnet;  man  lese  z.  B. 
ep.  IV,  30.  Auch  seine  Propaganda  für  die  Kirche  scheut  sich  nicht  vor  zweifel- 
haften Mitteln.  Die  Juden  auf  den  päpstlichen  Landgütern  sollen  durch  Steuer- 
nachlass  zum  Christenthum  bewogen  werden.  Bekehren  sie  sich  selbst  noch  nicht 
aufrichtig,  so  werden  doch  ihre  Kinder  gute  Katholiken  sein;  ep.  V,  8.  Doch  hat 
sich  (rregor  gegen  gewaltsame  Bekehrungen  sehr  bestimmt  ausgesprochen  (ep.  T,  47). 

■*  Auch  die  Gebräuche  der  römischen  Kirche  hat  er  noch  keineswegs  mit  tyran- 
nischer Gewalt  einführen  wollen,  vielmehr  den  Missionar  Augustin  angewiesen,  das 
Gute,  welches  er  in  anderen  Landeskirchen  findet,  anzunehmen;  s.  ep.  XI,  64» 
Andererseits  macht  die  erstaunliche  Identificirung  von  Petrus  und  dem  Papst  bei 
Gregor  weitere  Fortschritte.  Er  meint  den  Papst,  wenn  er  sagt:  „s.  ecclesia  in 
apostolorum  principis  soliditate  firmata  est."  Und  er  erklärt  (ep.  IX,  12):  „de  Con- 
«tantinopolilana  ecclesia  quod  dicunt,  quis  eam  dubitet  sedi  apostolicae  esse  sub- 
ifctam";  fi.  auch  die  schöne  Stolle  ep.  IX,  59:  „si  (|ua  culpa  in  episcopis  invenitur, 
nescio  quis  Vitir\  successori  subi(!ctus  non  sit;  cinn  vero  culpa  non  cxigit,  omnes 
aecundum  rationem  humilitatis  aequales  sunt." 

16* 


244      Oeschichte  des  Dojsrmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

dein  habe.  Erst  der  mittelalterlichen  Entwickelung  blieb  es  vor- 
behalten, die  dogmatische  Forderung  zu  stellen,  dass  der  Büssende, 
(1.  h.  jeder  Ohrist  von  der  Taufe  bis  7uni  Tode,  nur  an  der  Hand 
des  Priesters  gehen  dihie  '. 

Sechstes  Capitel:  Gescliiclite  des  Dogmas  in  der  Zeit  der 
karolingischen  Renaissance. 

Bei  den  jugendlichen  barbarischen  Völkern  traten  alle  Insti- 
tutionen der  Kirche  noch  mehr  in  den  Vordergrund  als  dies  ohne- 
hin schon  durch  die  Entwickelung  der  Kirche  im  römischen  Reiche 
geschehen  war.  Das  ijhilosophische  und  theologische  Capital  des 
Alterthums,  zum  Theil  bereits  in  Compendien  überliefert,  wurde  in 
neuen  Compendien  fortgepflanzt  (Isidor  von  Sevilla,  Beda,  Raba- 
nus  u.  s.  w.).  Den  einzigen  Johannes  Scotus  ausgenommen'^,  ver- 
mochte Niemand  mehr  jene  Gedankenwelt  bis  in  ihre  letzten  Motive 

^  Wie  stark  schon  zu  Gregor's  Zeiten  die  eigentlicli  theologischen  Fragen 
gegenüber  den  praktischen  Fragen  der  Seelenleitung  und  der  Erziehung  durch  den 
Kultus  und  die  Kirchenordnung  zurückgetreten  sind,  zeigt  die  umfangreiche  Brief- 
sammlung Gregor's.  lieber  Gregor's  Bedeutung  für  den  Kultus  siehe  das  ausgezeich- 
nete Werk  Duchesne's,  Orig.  du  culte  chretien  (1888),  bes.  p.  153  sq. 

'^  Johannes  Scotus  Erigena's  System  (Hauptwerk :  de  divisione  naturae, 
s.  Migne  CXXII;  Christlieb  1860,  Huber  1861,  s.  Ritter  und  Baur)  ge- 
hört nicht  in  die  Dogmengeschichte  des  Abendlandes ;  denn  es  ist  ganz  und  gar 
eine  freie,  selbständige  Reproduction  der  neuplatonischen  (pantheistischen)  Denk- 
weise, wie  dieselbe  durch  den  Areopagiten  und  namentlich  durch  den  „divinus 
philosophus  Maximus  Confessor",  die  Scotus  gelesen  hat,  repräsentirt  ist.  Auch 
Augustin  hat  allerdings  auf  ihn  eingewirkt;  aber  er  hat  seine  Speculation  dem 
Christlichen  nicht  näher  geführt.  Dieser  gelehrteste  und  vielleicht  auch  klügste 
Mann  seines  Zeitalters  hat  die  volle  Identität  von  religio  vera  und  philosophia  vera 
behauptet  und  damit  den  Grundgedanken  der  antiken  Philosophie  wieder  in  den 
Mittelpunkt  gestellt.  Aber  die  philosophia  vera  ist  ihm ,  der  die  Autorität  neben 
der  Vernunft  nur  nominell  gelten  Hess,  jener  Monismus  der  Betrachtung,  in  welchem 
die  Erkenntniss  der  Natur  und  die  Erkenntniss  Gottes  zusammenfallen,  wie  denn 
auch  Denken  und  Sein  zusammenfallen  (Alles  ist  Natur,  und  zwar  schliesslich  „Natur 
die  nicht  schafft  und  nicht  geschaffen  wird",  und  der  im  menschlichen  Geiste  liegende 
Begriff  der  Wesen  ist  die  Substanz  der  Wesen  selbst :  intellectus  rerum  veraciter 
ipsae  res  sunt).  Der  akosmistische  Idealismus  ist  bei  Scotus  (wie  bei  Stephan  bar 
Sudaili)  bis  zu  dem  Punkt  getrieben,  wo  auch  die  Gottheit  im  Intellect  des  Menschen 
untergeht.  Alle  Uebereinstimmungen  mit  den  kirchlichen  Lehren  beruhen  bei 
Scotus  auf  Accommodation,  entspringen  aber  nicht  aus  Verlegenheit,  sondern  aus 
der  klaren  Einsicht,  dass  die  Hüllen  bestehen  müssen.  Im  Grunde  ist  ja  auch  die 
lebendige  Bewegung  der  natura  selbst  nur  ein  Schein.  In  seiner  Zeit  ohne  Einfluss, 
ja  mit  Argwohn  betrachtet,  ist  er  auch  später  nicht  zum  Lehrer  des  Abendlandes 
geworden,  wenn  auch  abendländische  Mystiker  Manches  von  ihm  gelernt  haben. 
Er  war  zu  sehr  Grieche.  An  Trieb  und  Kraft  zu  systematischer  Bildung  ist  er  ein 
Phänomen,  und  mit  Recht  verehren  ihn  die  speculativen  Philosophen  als  einen  Meister. 


Bedeutung  des  karolingischen  Zeitalters.  245 

und  Erkenntnisse  zu  verfolgen  und  innerlich  nachzuerlebend  Kul- 
turgeschichtlich ist  Alles  in  der  Epoche  interessant,  wurden  doch 
im  karolingischen  Zeitalter  die  Grundlagen  für  die  Entwickelungen 
des  Mittelalters  gelegt;  allein  dogmenge  Schicht  lieh,  sofern  man 
nicht  die  Aneignung  bekannter  Stoffe,  sondern  den  Fortschritt 
der  Entwickelungen  zu  betrachten  hat,  bietet  jene  Zeit  nicht  viel. 

Die  karolingische  Epoche  ist  ein  grosser  und  in  mancher  Hin- 
sicht verfehlter  Versuch  einer  Renaissance  der  Antike.  Sie  ist  nicht 
das  Ergebniss  der  natürlichen  langsamen  Entwickelung  der  germa- 
nisch-romanischen Völker,  sondern  Karl  der  Grosse  und  sein  Kreis 
suchten  durch  ein  vielfach  forcirtes  Zurücklenken  zu  der  Antike  resp. 
durch  die  Einbürgerung  der  byzantinischen  Kultur  —  in  Konstanti- 
nopel war  das  Alterthum  noch  lebendig  —  im  Sturme  eine  höhere 
Bildung  für  das  fränkische  Reich  zu  gewinnen.  Was  Springer  für 
die  Geschichte  der  Kunst  gezeigt  hat,  dass  nämlich  die  karolingische 
Kunst  als  die  Nachblüthe  der  antiken,  nicht  aber  als  der  Anfang  der 
mittelalt  erheben  zu  betrachten  ist,  das  gilt  auch  von  den  theolo- 
gischen und  philosophischen  Bestrebungen.  Für  die  Geschichte 
der  Institutionen  b  ezei  chnet  die  Karolinge  r  zeit  die 
epochemachenden  Anfänge  2-,  innerhalb  der  Ge- 
schichte des  geistigen  Lebens  ist  sie  ein  Anhang  zur 
Geschichte  der  alten  Welt.  Somit  beginnt,  streng  genommen, 
die  Dogmen geschichte  des  Mittelalters  erst  mit  dem  Zeitalter  Clugny's  ^. 
Auch  hat  es  keinen  Werth,  innerhalb  dieser  Disciplin  auf  die  sog. 
volksthümlichen  Ausprägungen  des  germanischen  Christenthums,  wie 
sie  sich  in  poetischen  und  prosaischen  Stücken  finden,  einzugehen; 
denn  erstlich  ist  ihre  Volksthümlichkeit  eine  sehr  bedingte,  zweitens 
hat  das  volksthümliche  Christenthum  kaum  auf  die  Institutionen,  ge- 


*  Bewundernswerth  ist  es  andererseits,  mit  welcher  Kraft  des  Gedächtnisses 
und  Verständnisses  sich  Männer  wie  Alcuin  und  Paulin  von  Aquileja  in  den  ein- 
zelnen Gedankengängen  Augustin's  heimisch  gemacht  haben.  Alcuin  lebte  auch 
in  der  augustinischen  Frömmigkeit. 

'^  S.  Hatch,  An  introductory  lecture  on  thc  study  of  cccl.  hist.  1885. 

^  lieber  die  Dogmengeschichte  der  Karolingerzeit  s.  Schwane,  Dogmen- 
gesch.  der  mittleren  Zeit  1882;  Bach,  Dogrnengesch.  des  Mittelalters  I.  Th.  1873. 
Thomasius-Sceberg,  Dogrneugesch.il,  1  1888;  Ilcuter,  Gesch.  der  relig. Auf- 
klärung im  Mittelalter  1875  I  S.  1 — 64.  Letzteres  Buch  orientirt  über  die  Kultur- 
bestrebungcn ,  vgl.  auch  Göbl,  Gesch.  der  Katechese  im  Abendland  1880  und 
Spiess,  Gesch.  des  Unterrichtswesens  in  Deutschland  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  1885.  Dazu  die  Kirchengeschichten  Deutschlands 
von  Rettberg  und  Hauck.  Ueberdic  „populäre  Theologie"  bei  den  Angelsachsen, 
Sachsen  und  Franken  s.  Bach,  a.  a.  0. 1  S.  81  ff. 


246      Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

schweige  auf  das  Dogma  irgend  welchen  Einfiuss  ausgeübt.  Wer  zu 
höherer  theologischer  Bildung  vorschreiten  wollte,  las  den  Augustin 
und  Gregor,  den  Gregor  und  Augustin,  und  er  empfand  sich  diesen 
und  den  anderen  lateinischen  Vätern  gegenüber  lediglich  als  Schüler, 
der  noch  zu  lernen  hat,  was  ihm  vorgesprochen  wurde  '.  Das  Bil- 
dungsstreben vieler  Kleriker  war  damals  allerdings  ein  gewaltiges  — 
man  braucht  nur  den  uns  erhaltenen  Handschriftenbestand  aus  dem 
8.  und  9.  Jahrhundert  zu  überschauen  — '^;  auch  darf  nicht  ver- 
kannt werden,  dass  eine  kleine  Anzahl  von  Gelehrten  es  damals  wei- 
ter gebracht  hat  als  die  Gelehrten  aus  der  Zeit  von  450 — 650, 
dass  sie  über  Isidor  und  Gregor  zu  Augustin  selbst  vorschritt,  die 
Depotenzirung  der  liehgion  zu  Cercmoniendienst  und  Mirakelglauben 
durchschaute  und  zum  Spiritualismus  Augustin's  zurückkehrte^.  Allein 
die  hohe  Gestalt  des  afrikanischen  Bischofs  begrenzte  allen  weiteren 
Fortschritt.  Zu  ihm  schauten  die  Besten  auf;  aber  Keiner  hat  ihn 
überschaut,  auch  Alcuin  und  Agobard  nicht,  obschon  der  Letztere 
auch  den  Tertullian  studirt  hat  ^.  Es  hat  einen  hohen  Reiz,  inner- 
halb der  Kirchengeschichte  die  energischen  Anstrengungen  der  karo- 
lingischen Augustiner  zu  studiren,  wie  sie,   dem  grossen  Kaiser  fol- 

^  Johannes  Scotus  bildet  eine  Ausnahme,  in  gewissem  Sinn  auch  Fredegis  von 
Tours,  sofern  er  über  das  ominöse  „nihil"*,  welches  die  augustinische  Metaphysik 
darbot,  selbständig  nachgedacht  hat.  Dass  diese  Arbeit  aber  von  früheren  Gelehrten 
überschätzt  worden  ist,  hat  A  h  n  e  r  in  seiner  Dissertation  über  Fredegis  und  dessen 
Brief  „de  nihilo  et  tenebris"  (1878)  gezeigt. 

^  Sehr  dankenswerth  ist  es  auch,  dass  Schrörs  in  seiner  Monographie  über 
Hinkmar  (1884)  S.  166 — 174  Rechenschaft  über  die  alten  Schriften  gegeben  hat, 
welche  der  grosse  Bischof  gelesen  resp.  citirt  hat.  Welch'  eine  bedeutende  Gelehr- 
samkeit und  Belesenheit  geht  aus  dieser  Zusammenstellung  hervor,  und  doch  war 
Hinkmar  keineswegs  der  Gelehrteste.  Interessant  ist  auch,  dass  sich  Hinkmar  streng 
an  das  Edict  des  Gelasius  gehalten  hat. 

^  Auch  das  Interesse  an  der  Dialektik  ist  bei  manchen  Lehrern  der  karolingi- 
schen Epoche  stärker  als  bei  den  früheren  Theologen,  man  vgl.  Alcuin's  Werk  de 
fide  trinitatis,  welches  auch  ein  tüchtiges  Streben  nach  systematischer  Einheit  des 
theologischen  Denkens  bekundet.  Fredegis,  der  discipulus  dulcissimus  Alcuin's, 
ist  wegen  seiner  Vorliebe  für  die  Dialektik,  den  Syllogismus  und  Vexirfragen  von 
Agobard  als  „Philosoph'*  zurechtgewiesen  worden  („invenietis  nobilitatem  divini 
eloquii  non  secundum  vestram  assertionem  more  philosophorum  iu  tumore  et 
pompa  esse  verborum"  Agobardilib.  c.  obiect.  Fredigisi  abb.).  Doch  lehrte  er  über 
auctoritas  und  ratio  nicht  anders  als  Augustin;  allein  schon  der  ernsthafte  Versuch, 
auf  Gnmd  der  Autorität  die  Vernunft  dem  Dogma  gegenüber  zu  gebrauchen,  be- 
fremdete. In  dem  Streit  zwischen  Agobard  und  Fredegis  sind  manche  Controversen 
aufgetaucht,  die  von  Bedeutung  geworden  wären,  wenn  die  Gegner  sie  wirklich  aus- 
geführt hätten. 

*  Ueber  Alcuin  s.  die  Monographie  von  Werner  (1881).  Den  Tertullian  hat 
auch  Radbert  gelesen. 


Bedeutung  des  karolingischen  Zeitalters.  247 

gend,  aber  ihn  überbietend,  die  überkommene  Religionsform  zu  läutern 
und  das  Gebiet  einer  stumpfen  Mysterienscheu  und  eines  halbheidnischen 
Aberglaubens  einzuschränken  versucht  haben  —  allein  es  würde 
lediglich  zur  Verwirrung  innerhalb  der  Dogmengeschichte  führen, 
wollte  man  diesen  Versuchen  hier  nachgehen  *. 

Die  dogmengeschichthch  wichtigen  Verhandlungen  und  Bestim- 
mungen in  unserer  Epoche  zerfallen  in  folgende  Gruppen :  1)  Die 
Streitigkeiten  um  die  byzantinisch-römische  Christologie  im  Gegen- 
satz zur  augustinisch- abendländischen  und  um  den  gregorianischen 
Lehrbegriff  im  Gegensatz  zur  augustinischen  Prädestinationslehre  ^ ; 
2)  die  Streitigkeiten  mit  Rom  gegen  den  Orient  über  das  filioque  und 
gegen  Rom  und  den  Orient  über  die  Bilder^-,  3)  die  Fortbildung  der 
Praxis  und  Theorie  der  Messe  und  der  Busse  *. 


*  Die  Vorbedingungen  für  die  karolingische  Renaissance  lagen  in  der  politi- 
schen Stellung  des  Frankenreiches,  in  der  Blüthe  der  theologischen  Studien  bei  den 
Angelsachsen  (Beda),  in  der  kirchlichen  Thätigkeit  des  Bonifatius  auf  dem  Continent 
und  in  den  theils  neuen,  theils  erneuten  Beziehungen  des  Reiches  zu  Rom  und 
Konstantinopel.  Dass  aus  England,  aus  Rom  und  aus  der  Lombardei,  endlich  auch 
aus  dem  Orient  die  Bildungselemente  am  Hofe  Karl's  zusammenflössen  und  an  dem 
Könige  einen  so  energischen  Mäcenas  fanden,  ermöglichte  die  Renaissance,  die  sich 
dann  unter  Ludwig  dem  Frommen  und  am  Hofe  Karl's  des  Kahlen  fortsetzte.  Gar 
nicht  zu  überschätzen  ist ,  was  Konstantinopel  beigesteuert  hat.  Man  braucht  nur 
an  die  Werke  des  falschen  Dionysius,  des  Maximus  und  des  Johannes  von  Damaskus 
zu  erinnern,  die  damals  in  das  Frankenreich  gekommen  sind.  Nicht  nur  Johannes 
Scotus,  sondern  z.  B.  auch  Hinkmar  hat  den  falschen  Dionysius  gelesen,  resp. 
citirt.  Eine  gewisse  Kenntniss  des  Griechischen  besassen  auch  einige  Angelsachsen 
seit  den  Tagen  des  Erzbischofs  Theodor  von  Tarsus  in  Canterbury ;  aber  in  weit 
höherem  Grade  waren  sie  die  Lehrer  des  Augustinismus  (doch  nicht  in  der  christo- 
logischen  Frage,  s.  unten).  An  diesem  hat  die  mittelalterliche  Mystik  des  Abend- 
landes (auch  Scotus)  neben  dem  Areopagiten  ihre  Quelle  gehabt ;  denn  es  ist  sehr 
einseitig,  nur  den  letzteren  für  dieselbe  verantwortlich  zu  machen.  Durch  die  Er- 
werbung der  Krone  des  römischen  Reiches  im  Jahre  800  empfing  das  Bildungs- 
streben der  Franken  die  höchste  Kraft.  AVas  bisher  freie  Bethatigung  war,  erschien 
nun  als  Pflicht  und  Verantwortung;  denn  der  fränkisch-römische  Kaiserkönig  war 
nun  der  Nachfolger  des  Augustus  und  Konstantin.  Allein  wie  schnell  welkten  alle 
Blüthen.  Ln  Prolog  zu  Einhard's  Leben  Kaiser  Karl's  schreibt  Walafrid  mit  Keclit : 
„Dadurch  dass  König  Karl  weise  Männer  versammelte,  hat  er  den  nebligen  und  so 
zu  sagen  fast  ganz  finsteren  Umkreis  des  ihm  von  Gott  anvertrauten  Reiches  durch 
die  neue  Einstrahlung  aller  Wissenschaft,  dergleichen  dieser  Barbarei  bis  dahin 
zum  Theil  ntjch  ganz  unbekannt  geblieben  war,  mit  Licht  erfüllt,  da  Gott  es  er- 
leuchtete. Jetzt  aber,  da  die  Studien  wieder  in  ihr  Gegentheil  zurücksinken,  wird 
das  Licht  der  Weisheit,  das  wenig  LieVjhaber  mehr  findet,  immer  seltener." 

^  In  diesen  Käm})fen  stellt  sich  der  Kami)f  um  Augustin  dar ,  s.  auch  den 
Kampf  um  das  Abendmahl. 

'  Diese  Streitigkeiten  sind  von  universal  kirchenhistorischem  Interesse. 

*  In  dieser  Weiterbildung  allein  war  das  dogmatische  Interesse  der  Karolinger- 


248      Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karoliugischen  Renaissance. 

1  a.  Der  adoptianische  Streit  *. 

Nachdem  uuf  dem  4.  Concil  die  iibeiidlilndische  christologische 
Formel  von  den  zwei  Naturen  dem  Orient  aufgezwungen  wor- 
den war,  gab  dieser  auf  dem  5.  Concil  der  Formel  eine  cyril- 
lische Deutung  und  verstärkte  dieselbe  durch  die  Verdammung  der 
drei  Oai)itel.  Da  der  römische  Bischof  der  neuen  Bestimmung,  die 
im  Abendland  als  Abfall  vom  Chalcedonense  angesehen  wurde,  bei- 
treten musste,  so  kam  es  in  OberitaUen  zu  einem  Schisma,  das  nur 
mühsam  beigelegt  wurde,  sich  bis  in  das  7.  Jahrhundert  erstreckte 
und  das  Ansehen  des  Papstes  im  Occident  schädigte.  Die  mono- 
theletischcn  Streitigkeiten  machten  dem  Schisma  ein  Ende^,  und  das 
6.  Concil  stellte  die  chalcedonensische*  Formel  auch  in  der  neuen 
Fassung  des  Problems  (Frage  nach  den  Willen  in  Christus)  wieder 
her.  Allein  im  Orient  und  in  Rom  selbst  war  man  weit  entfernt, 
die  Consequenzen  der  Formel  zu  ziehen.  Die  Mystik,  welche  das 
vollkommene  und  untrennbare  Ineinander  von  Göttlichem  und  Mensch- 
lichem lehrte  und  in  allen  kultischen  Institutionen  der  Kirche  ihre 
Triumphe  feierte,  hatte  die  unbequeme  dogmatische  Formel  längst 
überwuchert  und  ihre  Triebe  erstickt.  Anders  stand  es  aber  bei  den 
abendländischen  Bischöfen,  so  lange  die  griechische  Mystik  noch  nicht 
zu  ihnen  gedrungen  war  und  sie  unter  dem  Einfluss  der  alten  abend- 
ländischen Tradition,  namentlich  des  Augustin,  standen.  Hier  galt 
das  christologische  Schema,  die  hl.  Dreieinigkeit  habe  die  Mensch- 
werdung so  vollzogen,  dass  die  zweite  Person  der  Gottheit,  der  Sohn, 
einen  Menschen  (homo)  kraft  ewiger  Erwählung  —  ohne  vorange- 
gangene Verdienste  desselben  —  auserlesen,  sich  mit  ihm  zur  Ein- 
heit der  Person  verbunden,  und  ihn  also  in  die  volle  Sohnschaft  auf- 
genommen (adoptirt)  habe  ^.  Dieses  Schema  unterscheidet  sich  toto 
coelo  von  dem  griechischen  (in  Rom  recipirten)  des  5.  Concils, 
selbst  wenn  man  —  wie  es  geschah  —  unter  jenem  homo  auch  die 
ganze  Menschennatur  verstand.  Denn  nach  der  herrschenden  grie- 
chischen Auffassung  hat   der  Gott-Logos  im  Moment  der  Mensch- 


zeit wirklich  lebendig  und  führte  zu  neuen,  wenn  auch  nicht  sofort  streng  dog- 
matisch ausgeprägten  Bestimmungen.  Hierher  gehört  auch  die  Lehre  von  den 
Heiligen  (Maria),  den  Reliquien  und  Ablässen. 

*  S.  Bach,  a.  a.  0.,  Walch,  Ketzerhistorie  IX.  Bd.,  Hefele,  Concil. -Gesch. 
m  *  S.  642  ff.  (628  ff.),  Gams ,  Kirchengesch. Spaniens  Bd.II,  Doruer,  Entwickel.- 
Gesch.  Bd.  H;  Opp.  Alcuini  ed.  Proben.;  Mansi  T.  XII.  XIII-,  Migne  T. 
XCVI— CI. 

''  Doch  noch  nicht  überall. 

'  S,  Augustin's  Christologie  üben  S.  115  f. 


Der  adoptianische  Streit.       •  249 

werdung  die  menschliche  Natur  so  assumirt  und  in  die  Einheit 
seines  Wesens  aufgenommen  (iStoTüoisiv) ,  dass  sie  an  der  Würde, 
also  auch  an  der  Sohnschaft  des  Sohnes  vollkommen  Antheil  hat, 
der  fleischgewordene  Logos  somit  ebenso  wie  der  präexistente  in 
jeder  Hinsicht  der  eine  wesenhafte  Sohn  Gottes  ist.  Jesus 
Christus  als  Menschensohn  nur  für  den  adoptirten  Sohn  Gottes 
zu  halten,  löste  nach  griechischer  Auffassung  das  ganze  Geheimniss 
der  Menschwerdung  auf  und  führte  in  den  Abgrund  des  Nestoria- 
nismus  zurück.  Umgekehrt  musste  man  vom  Boden  der  augusti- 
nischen  Christologie  aus  die  Behauptung,  der  Menschensohn  sei 
wesenhafter  Sohn  Gottes  so  gut  wie  der  Logos,  als  Rückfall  in  den 
Doketismus  resp.  auch  als  Pantheismus  (Vermischung  von  Gött- 
lichem und  Menschlichem)  empfinden.  Das  grosse  Recht  der  ersten 
Auffassung  lag  in  dem  Festhalten  an  der  vollkommenen  Einheit 
der  Erlöserpersönhchkeit  \  das  grosse  Hecht  der  anderen  in  dem 
Festhalten  an  der  wahren  Menschheit  Christi.  Diese  war  den  Geg- 
nern in  Wahrheit  nur  ein  Theorem,  dessen  Bekenutniss  es  ihnen 
gestattete,  in  concreto  alles  Menschliche  an  Christus  zu  vergöttHchen^, 
während  die  Adoptianer  die  Einheit  des  Gottes-  und  des  Menschen- 
sohnes nur  zu  postuliren  vermochten^. 

Es  ist  der  alte  Gegensatz  des  Monophysitismus  und  Nestoria- 
nismus,  in  der  Terminologie  freilich  gemildert,  in  der  Sache  nicht 
abgeschwächt  —  wie  könnte  man  ihn  auch  abschwächen?  Wunder- 
bar ist  nicht,  dass  er  nach  dem  6.  Concil  noch  einmal  hervor- 
gebrochen ist  und  zwar  an  dem  terminus  „adoptio",  sondern  ledig- 
lich das  ist  auffallend,  dass  er  bloss  an  der  Peripherie  der  Christen- 


'  Sofern  dieses  Festhalten  die  Grundbedingung  des  Verständnisses  Jesu  Christi 
ist,  ist  die  griechische  Auffassung  der  adoptianischen  überlegen. 

^  Die  Vcrtheidiger  der  antiadoptianischen  (alcuinischcn)  Christologie  verfahren 
auch  heute  nicht  anders.  So  sagt  Bach  (a.  a.  0.  I  S.  109  ff.):  „Die  Adoptianer 
hatten  von  dem,  was  die  (griechischen)  Väter  die  pneumatische  Qualität  des 
Fleisches  Christi  nennen,  keine  Ahnung.  Christi  Fleisch  ist  ihnen  in  jeder  AVcise 
gewöhnliche  Menschennatur  ...  In  dieser  Kenotik  (! !)  liegt  der  Grund  des  adop- 
tianischen Dualismus  .  .  .  AVicdem  Elipandus,  mangelt  auch  dem  Felix  dasVerstäud- 
niss  der  pneumatischen  Menschennatur  in  Christo. "  Wenn  sich  bei  diesen  Worten 
überhaupt  etwas  denken  lässt,  so  zeigen  sie,  dass  der  moderne  Dogmenhistoriker  ein 
so  rechtschaffener  Doket  ist,  wie  die  Orthodoxen  nach  dem  Herzen  Justinian's. 

'  Es  steht  hier  also  genau  so,  wie  in  den  christologischen  Kämpfen  überhaupt 
seit  den  Tagen  des  Apollinaris.  Recht  und  Unrecht  sind  auf  beiden  Seiten,  im 
(irunde  aber  auf  keiner,  weil  die  Vorstellung  von  einer  göttlichen  Natur  in  Christo 
entweder  zum  Doketismus  oder  zur  Doppelpcrsönlichkeit  führt.  Alle  Speculation, 
welche  diesen  Consequenzeu  entgehe»i  will,  kann  höchstens  ihren  guten  Willen  be- 
kunden. 


250      fleBchichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karuUngischen  Renaissance. 

lieit  hervorbrach  und  eine  verhültnissmässig  so  schnell  und  sicher 
beschwichtigte  Controverse  in  der  Kirche  veranlasst  hat.  Bedenkt 
man,  dass  Augustin  ohne  Schwanken  gelehrt  hat,  seiner  Menschheit 
nach  sei  Christus  ado2)tirter  Gottes  Sohn  und  das  höchste  Exempel 
der  gratia  gratis  data  praeveniens,  dass  er  überall  gelesen  wurde,  dass 
viele  Stellen  bei  den  abendländischen  Vätern  den  Adoptianismus  be- 
zeugten *,  und  dass  noch  Isidor  von  Sevilla  unbeanstandet  geschrie- 
ben hat:  „unigenitus  vocatur  secunduni  divinitatis  excellentiam, 
qiiia  sine  fratribus,  primogenitus  seeundum  susceptionem  homi- 
nis, in  qua  per  adoptionem  gratiae  fratres  habere  digna- 
tus  est,  de  quibus  esset  primogenitus"-^,  so  wird  man  von  Staunen 
erfasst  über  die  energische  stille  AVirksamkeit  der  cyrillisch-areopa- 
gitischen  christologischen  Mystik.  Sie  hat  sich  die  denkenden  und 
die  superstitiösen  Christen  in  Rom  und  von  dort  aus  in  England, 
Oberitalien  und  im  Frankenreich  unterworfen.  Sie  hat  das  erreicht, 
weil  sie  sowohl  mit  der  philosophischen  Speculation  der  Zeit  als  mit 
der  abergläubischen  Mysteriensucht  im  Bunde  war.  Plato  und  Aristo- 
teles, wie  man  sie  verstand,  waren  ihre  Evangelisten,  und  wiederum 
jede  Abendmahlsfeier,  ja  jede  Reliquie  war  ein  stiller  Missionar  für 
sie.  Hier  erlebte  man  die  Identität  des  Himmlischen  und  Irdischen; 
also  hatte  man  sie  vor  Allem  in  Christus  selbst  anzuerkennen.  So 
wurde  die  abendländisch -augustinische  Christologie  mit  ihrem  letz- 
ten und  doch  so  bedeutungsvollen  Rest  einer  geschichtlichen  An- 
schauung von  Christus  —  dass  er  unter  der  Gnade  Gottes  ge- 
standen hat  —  ausgetilgt,  nicht  durch  einen  Kampf,  sondern  viel 
sicherer  durch  eine  geräuschlose  Umbildung  ^. 

Aber  im  arabischen  Spanien  um  780  machte  Elipandus,  Metro- 
polit von  Toledo,  und  bald  darauf  im  fränkischen  Felix,  Bischof  von 
ürgel,  die  augustinische  Christologie  geltend,  die  auch  durch  die 
mozarabische  Liturgie  bezeugt  war*.  Scharf  betonten  sie,  dass  Christus 


*  Den  rimdeu  Ausdruck  hat  Marius  Victorinus,  von  dem  überhaupt  die  augu- 
stinische Betrachtung  der  Christologie  suh  specie  praedestinationis  stammt. 

2  S.  Migne  CI  p.  1322  sq. 

^  Die  abendländisch-augustinische  Christologie  hat,  wie  der  Nestorianismus, 
diesen  Untergang  verdient ;  denn  da  nach  ihr  hinter  dem  erwählten,  von  der  Gnade 
Gottes  getragenen  Menschen  Jesus  doch  der  Gott-Logos  stand,  so  war  die  Be- 
ziehung des  erlösenden  Werkes  eben  auf  jenen  homo  eine  höchst  unsichere.  Eine 
Duplicität  der  Betrachtung  war  die  Folge,  die  nur  verwirrend  wirken  konnte  und 
der  ein  Ende  gemacht  werden  musste,  bis  einmal  der  Glaubensgedanke,  Gott  selbst 
war  in  dem  Menschen  Jesus,  ungehindert  durch  schädliche  Speculationen  über  die 
Naturen,  zu  kräftiger  Geltung  kommen  würde. 

^  S.  die  sieben,  übrigens  nicht  gleichwcrthigen,  Stolleu  bei  Hefele,  a.  u.  O. 


Der  adoptianische  Streit.      .  251 

als  Mensch  adoptirt  sei,  die  Erlösten  also  in  vollem  Sinne  die 
Brüder  des  Menschen  Jesus  seien.  Man  hat  viel  darüber  gestritten, 
wodurch  die  beiden  Bischöfe,  die  sich  übrigens  der  Zustimmung  der 
Mehrzahl  ihrer  Collegen  in  Spanien  erfreuten,  bewogen  worden  sind, 
die  adoptio  so  zu  betonen.  Nach  dem  oben  Bemerkten  ist  vielmehr 
zu  fragen,  warum  die  anderen  abendländischen  Bischöfe  nicht  das 
Gleiche  gethan  haben.  Jedenfalls  ist  die  Hypothese,  der  Adoptianis- 
mus  sei  aus  dem  alten  westgothischen  Arianismus  zu  erklären  ^,  noch 
haltloser  wie  die  Ableitung  aus  arabischen  Einflüssen  *^,  Auch  die 
Verweisung  auf  den  Kampf,  den  Elipandus  vorher  gegen  einen  Häre- 
tiker Migetius  geführt  hat  ^,  trägt  zur  Aufklärung  wenig  bei,  da  die  Leh- 
ren, welche  demselben  zugeschrieben  werden,  nicht  das  Widerspiel  der 
adoptianischen  gewesen  zu  sein  scheinen,  die  ganze  Figur  aber  überhaupt 
für  uns  dunkel  ist  ^.  Deutlich  ist  nur  dies,  dass  die  spanische  Kirche 
damals  mit  Rom  keine  Verbindung  besass,  die  Verbindung,  die 
Hadrian  I.  suchte,  zurückstiess  und  von  der  römisch-byzantinischen 
Ku'chentradition  relativ  unbeeinflusst  ^,  aber  im  Innern  stark  verwildert 
gewesen  ist  ^.    Deutlich   ist   ferner,   dass  Elipandus  die  Gelegenheit 

S.  650  f. :  „adoptivi  hominis  passio**  —  „adoptivi  hominis  non  horruisti  vestimentum" 
—  „salvator  per  adoptionem  carnis  sedem  repetiit  deitatis"  etc. 

*  So  Helfferich,  Der  westgothische  Arianismus  1860. 

^Gfrörer,  K. -Gresch.  III  S.  644  ff.  Graf  Baudissin,  Eulogius  und 
Alvar  1872  S.  61  f.  Die  angeführten  Spuren  einer  Beziehung  des  Elipandus  und 
Felix  zu  den  Saracenen  sind  sehr  gering;  ausserdem  wird  die  diesen  anstössige 
Trinitätslehre  durch  den  Adoptianismus  nicht  gemildert.  Elipandus  hat  sie  mit  be- 
sonderer Emphase  vertreten. 

3Hefele,a.  a.  0.  S.  628  ff. 

*  Migetius'  Haupthäresie  neben  der  Begeisterung  für  Rom  scheint  gewesen  zu 
sein,  dass  er  sich  Gott  als  streng  einpersönlich  vorgestellt  und  behauptet  hat,  der- 
selbe habe  sich  in  drei  Personen  offenbart,  nämlich  in  David  (Vater?),  in  Jesus  und 
in  Paulus  (hl.  Geist?).  Neben  diesem  „Sabellianismus"  kann  man  versucht  sein,  „pris- 
cillianische"  Irrthümer  bei  ihm  nachzuweisen.  Allein  die  wenigen  Nachrichten,  die 
wir  besitzen  (s.  die  Briefe  Hadrian's  und  Elipandus'),  gestatten  kein  sicheres  Urtheil. 

^  So  erklärt  sich  das  ungebrochene  Ansehen  der  augustinischen  Theologie. 
Es  war  z.  B.  bei  Isidor  von  Sevilla  so  stark,  dass  er  sogar  die  doppelte  Prädestina- 
tion gelehrt  hat  (Sentent.  II,  6):  „gemina  praedestinatio  ....  sive  reproborum  ad 
mortem." 

®  Die  geringere  Beeinflussung  seitens  des  grossen  Hauptstroms  der  kirchlichen 
Entwickelung  zeigt  sich  auch  darin,  dass  die  Opposition  des  Spaniers  Vigilantius 
gegen  die  Heiligen  und  Reliquien  in  Si)anien  nachgewirkt  hat,  wie  z.  B.  seine  Be- 
kämpfung durch  Faustus  von  Roji  beweist  (s.  oben  S.  218).  So  paradox  es  klingt,  lag 
die  Verehrung  dieser  Objecto  im  Fortschritt  der  kirchlichen  Entwickelung,  sofern 
sie  mit  der  Ausbildung  der  Christologie  aufs  engste  zusammenhängt.  Die,  welche 
sich  wider  diese  Verehrung  sträubten,  thaten  es  bald  nicht  mehr  aus  evangelischen 
Gründen,  souderu  weil  sie  kirchlich  „Zurückgebliebene"  waren.  Mit  der  adoptiani- 


252       Gescliichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

gern  ergriffen  hat,  unter  dem  sicheren  Schutz  der  Ungläubigen 
seine  metropohtjine  Machtsi^häre  nach  Asturien  auszudehnen.  Als 
Mittel   dazu    war  ihm   auch   eine   dogmatische   spanische  Formel 


sehen  Theorie  hangt  aber  die  Abnei^nnpf  ^egen  die  Reli(|uien  und  Bilder  ebenso 
eng  zusanuiien,  wie  die  Rüder-  und  Reli(juienverehrung  und  das  massive  Abend- 
mahlsdogma mit  der  Christologie  des  Cyrill,  Justinian  und  Alcuin  (s.  unten).  Die 
spanische  Kirehe  zeigt  aber  auch  nach  dem  Ueljertritt  Reccared's  zum  Katholicismus 
nicht  nur  in  der  audauei-nden  Vermischung  von  heidnischen  und  christliehen  Sitten 
und  in  der  Fortdauer  gewisser  arianischer  Neigungen  (in  einzelnen  Kreisen)  ihren 
ungeordneten  Zustand,  sondern  noch  viel  mehr  in  den  zahlreiclien  ketzerischen  Um- 
trieben. Hierher  gehört  der  zum  Dualismus  ausgeartete  Priscillianismus,  hierher 
Migetius,  hierher  jener  Marcus,  der  den  Basilidianismus  repristinirte,  hierher  vor 
Allem  die  Secte  der  Bonosiancr,  die  sich  in  Spanien  erhielt  —  Erscheinungen, 
die  in  einem  tiefen  Gegensatz  zum  Katholicismus  standen  und  beweisen,  wie  schwer 
es  der  werdenden  romanisch-katholischen  Kirche  in  Spanien  wurde,  sich  an  den 
römischen  Katholicismus  anzuempfiuden.  Keine  andere  abendländische  Kirche  hat 
noch  um  diese  Zeit  so  stark  mit  gewaltigen  Häresieen  ringen  müssen,  wie  die 
spanische.  Daraus  erklärt  es  sich ,  zumal  nachdem  der  Islam  hinzugetreten  war, 
dass  diese  Kirche  den  entschlossenen  kalten  Fanatismus  der  Orthodoxie  und  Ketzer- 
verfolgimg in  sich  ausgebildet  hat.  Dieser  ist  überall,  wo  er  entsteht,  ein  Zeichen 
dafür,  dass  man  sich  die  Unterwerfung  unter  die  heilige  Sache  selbst  einst  unter 
schweren  Opfern  abgerungen  hat,  für  welche  man  sich  nun  an  Anderen  schadlos 
halten  will.  AVas  speciell  die  Secte  der  Bonosianer  betrifft,  so  war  ihr  Urheber, 
Bischof  Bonosus  von  Sardika,  von  der  Leuguung  der  bleibenden  Jungfrauschaft 
der  Maria  schliesslich  zur  Lehre  desPhotin  vorgeschritten  (s.  die  Synode  von  Capua 
vom  Jahre  391,  Briefe  des  Ambrosius,  Siricius  und  Innocenz  I.,  Marius  Mercator). 
Merkwürdiger  Weise  fand  er  in  Südgallieu  und  namentlich  in  Spanien  Anhänger 
die  sich  bis  in  das  8.  Jahrhundert  hinein  —  in  Spanien,  wie  es  scheint,  zahlreich  — 
erhalten  haben;  s.  die  2.  Synode  von  Arles  (443?)  c.  17,  die  Synode  von  Clichy  (626) 
c.  5,  die  Synode  von  Orleans  (538)  c.  31,  Gennad.  de  vir.  inl.  14,  Avitus  Yienn., 
Isidor  de  Script,  eccl.  20,  de  haer.  53.  Im  6.  Jahrhundert  hat  sie  in  Spanien 
Justinian  von  Valentia  bekämpft,  und  im  7.  hat  die  Synode  von  Toledo  (675)  gegen 
die  Lehre  der  Bonosianer,  Christus  habe  erst  seit  der  Geburt  aus  Maria  existirt  und 
sei  nur  filius  adoptivus,  in  ihrem  Symbol  bekannt:  „hie  etiam  filius  dei  natura  est 
filius,  non  adoptione."  Natürlich  wurden  Elipandus  und  Felix  von  ihren  Gegnern 
mit  den  Bonosianern  zusammengestellt,  aber  mit  dem  grössten  Unrecht;  sie  waren 
vielmehr  die  grimmigsten  Feinde  derselben,  da  sie  nie  geleugnet  haben,  dass  Christus 
als  Gottessohn  filius  dei  naturalis  ist.  Sie  versuchten  sogar  auf  ihre  Feinde  (Beatus 
und  Eterius)  den  Vorwurf  des  Bonosianismus  zurückzuschleudern,  was  freilich  auch 
nicht  gelingen  konnte.  Immerhinwar  es,  weil  die  Menschen  an  Stichworten  hängen, 
präjudicirlich,  dass  im  toletanischen  Symbol  von  675  „non  filius  adoptione"  stand, 
obgleich  damit  lediglich  der  photiniauische  Irrthum  verstanden  w^ar,  den  Elipandus 
selbst  in  die  Hölle  verdammte.  Von  dem  Bonosianismus,  nicht  aber  von  der  Lehre 
des  Elipandus,  wird  man  wohl  sagen  dürfen,  dass  seine  Verbreitung  in  Spanien  sich 
aus  den  arianischen  Neigungen  der  Westgothen  erklärt;  denn  nicht  nur  im  Arianis- 
mus  der  gebildeten  Theologen,  sondern  noch  mehr  im  populären  Arianismus  steckte 
ein  Element  der  Lehre  Paul's  von  Samosata  und  Photin's. 


Der  adoptianische  Streit.  253 

willkommen.  Wahrscheinlich  ist  endlich,  dass  in  Spanien  lateinische 
Uebersetzungen  nestorianischer  Schriften  (d.  h.  Schriften  von  Theo- 
dor V.  Mopsv.)  gelesen  worden  sind.  Zwar  lässt  es  sich  nicht  be- 
weisen; allein  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Felix  von 
Urgel  die  augustinische  Christologie  nestorianisch  (theo- 
dorisch) ausgebildet  hat  und  somit  über  Augustin  hinaus- 
geschritten ist;  und  es  ist  andererseits  gewiss,  dass  man  seit  dem 
6.  Jahrhundert  lateinische  Uebersetzungen  von  Werken  nesto- 
rianischer (auch  syrischer)  Schriftsteller  im  Abendland  besass  ^ 

Elipandus  ist,  wie  seine  Briefe  (s.  auch  die  beiden  Bücher  der 
Asturier  Beatus  und  Eterius  gegen  ihn,  sowie  die  Schriften  Alcuin's) 
bezeugen,  ein  treuer  Anhänger  der  augustinisch - chalcedonensischen 
Christologie  gewesen.  Er  wollte  die  Einheit  der  Person  durchaus 
festhalten ;  aber  diese  Einheit  hebt  nach  seiner  Meinung  den  strengen 
Unterschied  der  Naturen  nicht  auf.  Die  menschHche  Natur  bleibt 
eine  menschliche,  daher  zur  Würde  der  Gottheit  erhobene  Natur, 
und  eben  desshalb  hielt  er  für  sie  den  Ausdruck  „adoptio"  (filius 
adoptivus  humanitate  nequaquam  divinitate)  für  besonders  zutreffend. 
Jedermann  sprach  im  Abendland  damals  noch  von  der  assumtio 
hominis  (auch  Alcuin),  nicht  nur  von  der  assumtio  humanae  naturae. 
Dass  assumtio  hominis  =  adoptio  hominis  sei,  war  eine  richtige  Folge- 
rung. War  auch  das  Wort  „adoptio"  in  der  älteren  Litteratur  nicht 
eben  häufig  ^  —  die  Sache,  die  es  bezeichnete,  war  im  Sinne  Augustin's 
correct  ausgedrückt  ^.  Die  Sohnschaft  Christi  ist  also  eine  doppelte : 
als  Gott  ist  er  filius  genere  et  natura,  als  Mensch  adoptione  et  gratia. 

*  Seit  dem  Dreicapitelstreit.  Man  erinnere  sich  ferner,  dass  des  Theodor 
Commentar  zu  den  paulinischen  Briefen  noch  jetzt  in  lateinischer  Uebersetzung 
existirt,  und  dass  das  Werk  des  Junilius  aus  einer  syrischen  Vorlage  stammt; 
s.  Neander's  Dogmengesch.  II  S.  25  f.  und  Jaco])i's  Note  ebendort  S.  26  f. 
Beachtenswerth  ist  auch,  was  Möller  (Art.  Adoptiauismus  in  Herzog's  R.-E. 
2.  Aufl.)  auf  Grund  von  (lams'  Nachweisungen  als  Vermuthung  geäussert  hat: 
„Vielleicht  hat  man  in  den  von  Elipandus  gerühmten  rechtglaubenden  Brüdern  in 
Cordova  (ep.  ad  Felio.  in  Alcuin's  Briefen  ep.  123),  welche  ihn  mit  gelehrtem 
Material  versorgten  und  ])ei  denen  Ah;uin  (ep.  ad  Leidrad.  141)  den  Ursprung  des 
TJebels  vermuthet,  morgenländische,  im  Gefolge  der  Araber  dorthin  gekommene 
Christen  nestorianischer  Bildung  zu  sehen,  welche  die  adoptianische  Tendenz,  wenn 
nicht  hervorriefen,  doch  unterstützten."  Ferner  ist  wichtig,  dass  Elipandus  unter 
den  alten  Häresien,  die  er  verwirft,  den  Ncstorianismus  nicht  genannt  hat. 

■''  Alciiin  sagt  zu  viel,  wenn  er  adv.  Elip.  IV,  2  ausruft:  „UI)i  latuit,  ubi  dor- 
mivit  hoc  nomen  adoptionis  vel  nuncupationis  de  Christo?"  oder  ep.  110:  „Novitas 
vocum  in  adoptione,  nuncupatione,  omnino  fidelibus  omnilms  detestanda  est." 

"  Vgl.  wie  auch  Facundus  von  Hfrmianc  (j)ro  dcfcns.  trium  capp.  p.  708  ed. 
Paris.  161  <),  rij  bei  Christus  anerkennt,  dasa  er  das  „Sacrament  dei'  Adoption"  an- 
genommen habe. 


254       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

Hierfiir  führte  Elipandus  Scliriftstellen  an  und  folgerte  ganz  richtig, 
dass  der,  welcher  die  adoptio  des  Erlösers  in  Abrede  stelle,  die 
Wahrheit  der  Menschennatur  desselben  leugnen  und  consequent 
annehmen  müsse,  Christus  habe  seine  Menschheit,  die  der  unsrigen 
nicht  gleich  sei,  aus  dem  Wesen  des  Vaters.  Elipandus  bezeichnet 
daher  seine  Gegner  als  Doketen  resp.  als  Eutychianer.  Ist  schon  bei 
ihm  ein  wirkliches  Interesse  an  der  vollen  Menschheit  Christi  um 
seines  Werkes  willen  zu  constatiren,  so  leuchtet  dasselbe  noch  viel 
klarer  bei  dem  bedeutenden  Felix  (s.  die  Gegenschriften  des  Paulinus 
und  des  Alcuin).  Auch  er  hat  den  im  Hintergrunde  ruhenden  Gott- 
Logos  bestehen  gelassen ;  aber  seine  Glaubenserkenntniss  richtet 
sich  auf  den  zweiten  Adam  in  einer  Weise,  die  seit  den  Tagen  Theo- 
dor's  in  der  Kirche  nicht  mehr  gehört  worden  ist.  Da  der  Menschen- 
sohn wirklich  Mensch  gewesen  ist,  so  sind  alle  Stadien  seiner  Er- 
niedrigung nicht  freiwillig  übernommen,  sondern  nothwendig  gewesen. 
Nur  der  Entschluss  des  Gottessohnes,  einen  Menschen  anzunehmen, 
war  frei.  Nachdem  dieser  Entschluss  realisirt,  muss  der  Menschen- 
sohn Knecht  sein,  muss  in  Allem  dem  Vater  unterthan  sein, 
muss  dessen  Willen  erfüllen  und  nicht  den  eigenen.  Wie  alle 
Menschen  ist  er  nur  gut,  sofern  und  weil  er  unter  der  Gnade  des 
Vaters  steht;  er  ist  nicht  allmssend  und  allmächtig,  sondern  seine 
Weisheit  und  Macht  ist  von  den  Schranken  des  Menschlichen  umgrenzt. 
Von  dem  Vater  hat  er  sein  Leben,  und  zum  Vater  betet  auch  er 
für  sich  ^  Das  letzte  Interesse  Felix'  besteht  hier  darin,  das  wir 
nur  so  unser  er  adoptio  sich  e  r  werden  können.  Mit  grosser 
Energie  hat  er  in  der  Vorstellung  von  der  Erlösung  den  Gedanken 
zum  centralen  erhoben,  dass  die  Adoption  der  Gläubigen  nur  gewiss 
ist,  wenn  von  Christus  ein  Mensch,  wie  die  Menschen  sind,  resp.  die 
Menschheit,  adoptirt  ist:  wir  sind  nur  dann  erlöst,  w^enn  Christus 
unser  erstgeborener  Bruder  ist.  Darin,  dass  der  unigenitus  (in  der 
göttlichen  Sphäre)  den  primogenitus  (in  der  menschlichen  Sphäre) 
per  gratiam  mit  sich  vereinigt  hat,  liegt  —  w^ie  bei  Augustin  —  die 
Gewissheit  der  Erlösung  der  Menschheit  („adoptivi  cum  adoptivo, 
servi  cum  servo,  Christi  cum  Christo,  deus  inter  deos").  Christus, 
der  als  Mensch  für  uns  hingegeben  ist,  ist  nicht  nach  seiner  Gott- 
heit, sondern  nach  seiner  Menschheit  das  Haupt  der  Menschheit. 
Eben  darum  sind  die  Glieder  ihrer  Adoption  nur  sicher,  wenn  das 
Haupt    adoptirt   ist  ^.     Handelt   es  sich  bei  Christus  nicht  um  eine 

'  S.  Stellen  bei  Bach,  a.  a.  0.  S.  110  ff. 

^  Die  deutlichsten  Stellen  —  die  eigenen  Worte  des  Felix  —  stehen  bei  Ago- 
bard,  lib.  adv.  Fei.  27—37. 


Der  adoptianische  Streit.       •  255 

Adoption,  wie  bei  uns,  so  spielt  sich  die  Menschwerdung  ausserhalb 
unserer  Sphäre  ab;  so  ist  sie  uns  auch  nichts  nütze.  Aber  Felix  ist 
noch  einen  Schritt  weiter  gegangen.  Er  hat  sich  nicht,  wie  Augustin, 
damit  begnügt,  bei  der  einfachen  Behauptung,  der  homo  Christus  sei 
kraft  der  gratia  praedestinationis  praeveniens  angenommen,  zu  ver- 
harren und  diese  Behauptung  mit  der  These  der  personalen  Einheit 
assertorisch  zu  verbinden,  sondern  er  hat  die  Naturen  scharf  aus- 
einandergehalten und  sich  zugleich  ein  klares  Bild  davon  machen 
wollen,  wie  sich  die  Adoption  vollzogen  hat  (s.  die  Antio- 
chener).  Das  Erste  anlangend,  so  hat  er  den  Ausdruck  „verus  et  pro- 
prius  filius"  nur  auf  den  Gott-Logos  bezogen  und  den  Satz  nicht 
gescheut  „duobus  modis  unas  er editur  filius";  er  hat  zwischen  „alter" 
und  „alter"  „ille"  und  „ille"  unterschieden,  ja  den  Menschensohn 
„nuncupativus  deus"  (im  Sinne  des  gewordenen  Gottes)  genannt.  Er 
hat,  wie  die  Antiochener,  von  einem  „Wohnen"  des  Gottes  im  Menschen 
gesprochen,  von  dem  Menschen,  der  mit  der  Gottheit  verbunden 
(coniunctus;  applicatus)  ist,  resp.  sie  trägt.  Wohl  hat  er  das  Ver- 
bundensein der  beiden  Naturen  in  Christo  mit  dem  Yerhältniss  von 
Seele  und  Leib  verglichen ;  aber  das  Bild  ist  auf  seinem  Standpunkt 
noch  unzutreffender  als  auf  dem  Augustin's;  denn  die  Idiomen- 
gemeinschaft ist  ihm  keine  reale,  sondern  nur  eine  nominelle,  und: 
„nullo  modo  credendum  est,  ut  omnipotens  deus  pater,  qui  Spiritus 
est,  de  semetipso  carnem  generet."  Der  Mensch  Christus  hat  zwei 
Väter,  einen  natürlichen  (David)  und  einen  Adoptivvater  (Gott). 
Was  das  Zweite  betrifft,  so  lehrte  Felix  eine  doppelte  Geburt  des 
Menschensohnes :  die  Geburt  aus  der  Jungfrau  (das  ist  die  natürliche 
Geburt)  und  die  Geburt  aus  der  Gnade  oder  Adoption  in  der 
Taufe  (das  ist  die  geistliche).  Christus  hat  also,  wie  jeder  Christ, 
eine  doppelte  Geburt  erlebt.  Seine  geistliche  Geburt,  die  für  ihn 
wie  für  Jeden  unumgänglich  war,  vollzog  sich  wie  bei  Jedem  in  der 
Taufe;  aber  die  Taufe  war  auch  hier  nur  der  Anfang.  Ihre  Vol- 
lendung war  erst  in  der  Auferstehung  gegeben  ^  Wie  der  Menschen- 
sohn also  unter  den  verschiedenen  aus  der  electio  entspringenden 
Acten  der  Gnade  Gottes  gestanden  hat,  so  war  er  auch  ursprüng- 
lich, obgleich  sündlos^,  vetus  homo  und  hat  den  Process  der  AVie- 


*  Alcuin  adv.  Folie.  IT,  10  (Felix  sagt):  „Christus,  <\m  est  seeundus  Adam, 
accepit  has  geminas  generationes,  primam  vid.  quae  secundum  earncm  est,  secun- 
dam  vero  spiritualem,  quae  per  adoptionem  fit.  idem  redemptor  noater  seeundum 
hoTnineTfi  eoTri])lexuH  in  semetipso  cmitinet:  primam  vid.  (juam  suseepit  ex  virgine 
nascondr),  seeundam  vero  (|ijam  initiavit  in  iavaero  a  mortuis  resurgendo," 

'  AIcuin  glaubt  fVeilidi  nictlit,  das«  Felix  die  Sündlosigkeit  Christi  ernsthaft 


25(i       (Teschiclite  des  Doprmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

dergeburt  durchgemacht  bis  zur  völligen  Adoption  —  dies  Alles  so, 
wie  wir  es  durchmachen;  aber  wir  folgen  dem  Haupte,  und  nur  weil 
er  es  zuerst  erlebt  hat,  kann  er  unser  Erlöser  und  Fürsprecher  sein. 
Ilebrigens  soll  dabei  doch  gelten,  dass  auch  der  Gottessohn  die 
menschliche  Geburt  auf  sich  genonunen  hat,  wie  er  denn  auch  als 
an  allen  Acten  des  Menschensohnes  betheiligt  zu  denken  ist'. 

In  Briefen  hatte  Elipandus  seine  Lehre  bekannt  gegeben.  Die 
ersten  Gegner  waren  der  Abt  Beatus  und  der  jugendliche  Bischof 
Eterius.  Ihr  Widerspruch  hat  den  alternden,  auf  seine  Orthodoxie 
eifersüchtigen  Metropoliten  zur  Wuth  entflammt.  „Diener  des  Anti- 
christs"  nennt  er  die,  welche  in  beiden  Naturen  nur  einen  filius 
proprius  erkennen  wollen  (785).  Aber  die  Angegriffenen  schwiegen 
nicht,  sondern  legten  den  häretischen  Charakter  des  Adoptianismus 
in  einer  ausführlichen  Schrift  dar,  dabei  berichtend,  dass  die  Contro- 
verse  schon  die  Bischöfe  von  ganz  Spanien,  ja  bis  ins  Frankenreich 
hinein  aufrege-.  Gleichzeitig  griff  Hadrian  I.  ein.  Es  musste  ihm 
willkommen  sein,  dem  in  seiner  Selbständigkeit  unbequemen  spanischen 
Metropoliten  nachzuweisen,  dass  er  in  die  Häresie  des  Nestorius  ver- 
fallen sei,  und  dass  die  spanischen  Bischöfe  sich  daher  an  die  Lehre 
Roms  und  der  Kirchenväter  halten  müssten  ^.  Bald  darauf  ist  Felix 
von  ürgel  energisch  für  die  These  des  Elipandus  eingetreten.  Damit 
wurde  die  Streitfrage  auch  für  das  Frankenreich  von  Bedeutung.  Die 
Regensburger  Synode  (792),  deren  Acten  leider  fehlen,  wurde  des 
Adoptianismus  wegen  berufen.    Felix  selbst  musste    erscheinen.    Er 

meine,  weil  er  sonst  nicht  von  einer  Wiedergeburt  Christi  sprechen  würde  (1.  c. 
c.  18). 

^  Worte  des  Felix  bei  Agobard  33 :  „Propter  singularitatem  personae,  in  qua 
divinitas  filii  dei  cum  humanitate  sua  communes  habeat  actiones,  qua  ex  causa 
aliqnando  ea  quae  divina  sunt  referuntur  ad  humana,  et  ea  quae  humana  fiunt  inter- 
dum  adscribuntur  ad  divina,  et  hoc  ordine  aliquando  dei  filius  in  hominis  filio  filius 
hominis  appellari  dignatur  et  hominis  filius  in  dei  filio  filius  dei  nuncupatur."  Eine 
solche  Doppelpersönlichkeit  behaupteten  die  Nestorianer  auch. 

'^  S.  die  Analyse  dieser  Schrift  bei  Bach  S.  116  ff.  Sie  ist  cyrillisch.  Auch 
wird  der  alte,  einst  gegen  die  Nestorianer  erhobene  Vorwurf  den  Adoptianern  ge- 
macht, dass  sie  durch  Verselbständigung  des  Menschensohnos  die  Trinität  zur 
Quaternität  erweitern.  Einige  abendländische  Reminiscenzen  fehlen  indess  nicht, 
obgleich  die  Menschennatur  wesentlich  als  unpersönliche  caro  gedacht  ist,  s.  z.  B. 
IT,  68,  wo  als  Mittler  der  filius  secundum  carnem  genannt  ist  („reconciliati  sunuis 
per  solum  filium  secundum  carnem,  sed  non  soli  filio  secundum  divinitatem"),  auch 
11,40:  „dominus  ac  redemptor  noster  cum  sancta  ecclesia,  quam  redemit  secundum 
carnem,  una  substantia  est." 

«  Ep.  97  im  Cod.  Carol.  bei  Migno  T.  ITC,  s,  die  Analyse  bei  Hefelo  lll 
S.  661  If.,  der  auch  zum  Folgenden  zu  veigleichen  ist. 


Der  adoptianische  Streit.        .  257 

vertheidigte  sich  vor  KarP,  soll  aber  schliesslich  widerrufen  haben, 
da  alle  Bischöfe  seine  Lehre  als  Irrthum  bezeichneten.  Der  Widerruf 
ist  zwar  mehrfach  bezeugt,  aber  doch  nicht  über  jeden  Zweifel  er- 
haben, da  wir  hören,  dass  Felix  nach  Rom  geschickt  und  dort  so  lange 
vom  Papst  gefangen  gehalten  worden  ist,  bis  er  sich  herbeiliess,  ein 
orthodoxes  Bekenntniss  zu  beschwören.  Er  kehrte  nun  nach  Spanien 
(in  sein  Bisthum?)  zurück,  sagte  sich  aber  bald  von  dem  erzwungenen 
Widerruf  los  und  begab  sich  nach  Toledo,  um  sich  der  fränkischen 
Censur  zu  entziehen.  Der  Versuch  Alcuin's,  durch  ein  sehr  freund- 
liches Schreiben,  das  den  Geist  Augustin's  athmete,  den  hochgeschätzten 
Bischof  für  die  Kirche  wiederzugewinnen  (793),  kreuzte  sich  vielleicht 
mit  dem  Unternehmen  der  Häupter  des  Adoptianismus,  durch  eine 
Encykhca  an  die  Bischöfe  des  Frankenreichs  und  einen  Brief  an  Karl 
auf  dem  Wege  von  Vorstellungen,  zugleich  eine  neue  Untersuchung 
erbittend,  ihre  Lehre  in  der  Kirche  zu  behaupten.  Elipandus  sieht 
noch  immer  in  dem  „gemästeten"  Beatus  seinen  Hauptgegner,  der 
sein  Gift  der  Kirche  eingeträufelt  und  die  Bischöfe  verführt  habe; 
er  beschwört  den  Kaiser  um  gerechtes  Gericht:  er  möge  den  Felix 
wieder  einsetzen  und  sich  den  Abfall  Konstantin's  zum  Arianismus 
zur  Warnung  dienen  lassen ;  die  Irrlehre,  die  jetzt  durch  Beatus  der 
ganzen  Kirche  drohe,  sei  nichts  geringeres  als  die  Leugnung,  dass 
Christus  sein  Fleisch  aus  der  Jungfrau  angenommen  habe.  Auf  der 
glänzenden  Frankfurter  Synode  liess  Karl  eine  neue  Untersuchung 
vornehmen  (794),  nachdem  er  an  den  Papst  berichtet  hatte.  Gelehrte 
Bischöfe  und  Theologen  waren  von  allen  Seiten  zusammengerufen. 
In  zwei  Synodalschriften  (die  italienischen  Bischöfe  unter  Paulin  von 
Aquileja  votirten  besonders)  verwarf  die  Versammlung  den  Adop- 
tianismus. Dasselbe  that  eine  gleichzeitig  zu  Rom  versammelte  Sy- 
node. Alle  diese  Beschlüsse  übersandte  Karl  mit  einem  eigenen  Brief 
an  Ehpandus.  Dem  Streit  hier  weiter  nachzugehen,  hat  kein  Interesse, 
da  neue  Momente  nicht  hervortraten.     Man  hat  aber  den  Eindruck, 

'  Der  König  hat  in  dem  Streit  das  volle  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  als  christ- 
licher König  in  Verbindung  mit  einem  hohen  Streben  nach  Gerechtigkeit  bewiesen. 
Die  Thesen  seiner  Theologen  überzeugten  ihn  wirklich.  Diese  haben  ihn  als  Be- 
schützer des  Glaubens,  als  David  und  Salomo,  hoch  gefeiert,  Alcuin  adv.  Elipand. 
I,  16  (vom  Könige):  „catholicus  in  fide,  rex  in  potestate,  pontifex  in  praedicatione, 
iudex  in  aequitate,  philoBophus  in  liberalibus  studiis,  inclytus  in  moribus  (?),  et 
omni  honestate  praecijjuus."  Ep.  100  ad  domnum  regem:  „hoc  mirabilc  et  speciale 
in  te  pictatis  dei  donum  praedicamus,  quod  tanta  devotionc  ecclesias  Christi  a  pcr- 
fidorum  doctrinis  intrinsecus  purgare  tuericjue  niteris,  quanta  forinsecus  a  vastatione 
paganorum  defcndcre  vel  propagare  conaris.  His  duobus  gladiis  vestram  vene- 
raridam  excellentiam  dcxtra  laevaque  divina  armavit  potestas." 

Harriaok,  ])()t!;}ni-nf!:('.Hch\c]\U'  III.  ^q 


258       (xescliichto  des  Dopfmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

dass  im  saraccnischen  Spanien  und  der  angrenzenden  Provinz  der 
Adoptianismus  bis  gegen  799  Fortschritte  gemaclit  hat.  Selbst  das 
persönhcho  Wirken  berühmter  Lehrer  wider  denselben  (Benedict  von 
Aniane,  Leidrad  von  Lyon)  hatte  zuerst  wenig  Erfolg.  Aber  das 
tVilnkische  Spanien  konnte  sich  doch  nicht  dem  Einfluss  des  ganzen 
Reiches  entziehen,  ja  es  gelang  schliesslich,  den  Felix  selbst  auf  der 
Synode  zu  Aachen  (799)  wiederum  zum  Widerruf  zu  bewegen.  In 
dieser  Zeit  war  neben  Paulin  ^  Alcuin  unermüdlich  in  zum  Theil  um- 
fangreichen Schriften  gegen  die  Häresie  tlüitig  (hbell.  adv.  Felic. 
liaer.,  IV  Hb.  adv.  Elipandum,  VII  lib.  adv.  Felic).  Es  ist  interessant 
zu  sehen,  wie  dieser  Angelsachse,  der  Schüler  Beda's,  in  der  Christo- 
logie  ganz  von  den  Griechen  abhängig  ist  und  hier  die  augustinische 
Tradition  verlassen  hat.  Durch  die  Romanisirung  Englands  waren 
sowohl  Augustin  als  die  griechisch-römische  speculative  Theologie  dort 
heimisch  geworden.  Aber  in  den  Fragen,  über  die  sich  die  Grie- 
chen überhaupt  geäussert,  erschienen  sie  doch  noch  immer  als  die 
ehrwürdigeren,  zuverlässigeren  und  gelehrteren.  Sie  waren  die  Ver- 
treter der  sublimen  Theologie  des  Geheimnisses  der  Menschwerdung  '^. 
Die  Ijateiner  waren  im  Grunde  nur  so  weit  zu  berücksichtigen,  als 
sie  mit  den  Griechen  stimmten.  Wie  gross  ist  doch  das  imponirende 
Ansehen  und  die  Macht  einer  älteren  Kultur,  und  wie  zwingend  ist 
jeder  „Fortschritt",  den  sie  erlebt,  auch  wenn  derselbe  unmerklich 
in  ein  Raffinement  übergeht,  welches  eine  neue  Barbarei  heraufführt! 
Was  Alcuin  ausführt,  könnte  ebenso  gut  bei  Cyrill,  Leontius  oder 
Johannes  Damascenus  stehen,  ist  zum  Theil  wirklich  genau  so  dort 
zu  finden:  Christus  ist  der  persönliche  Gott-Logos,  der  die  unper- 
sönliche Menschennatur  an  sich  genommen  und  in  die  volle  Einheit 
seines  Wesens  verschmolzen  hat.  Mithin  ist  Christi  Menschheit,  auch 
abgesehen  von  der  Sünde,  keineswegs  der  unseren  in  allen  Stücken 
gleich,  sondern  von  ihr  sehr  verschieden.  Da  sie  die  Eigenschaften 
der  Gottheit  erhalten  hat,  so  ist  alles  menschlich-Beschränkte,  was 
sich  im  Leben  Jesu  zeigt,  freiwillige  üebernahme,  resp.  Accommo- 
dation,  Pädagogie  oder  Schein.  Mit  den  Berichten  der  Evangelien 
räumt  Alcuin  ebenso  gründlich  auf,  wie  die  monophysitischen  und  die 
kryptomonophysitischen  Griechen.  Christus  war  für  diese  Frömmig- 
keit in  keinem  Sinn  mehr  menschliche  Person,  ja  die  Frömmigkeit 
empfand  sich  schwer  verwundet,  wenn  ihr  vorgehalten  wurde,  sie  solle 
sich  ein  wahrhaft  menschliches  Bewusstsein  in  Christus  denken.  Nicht 
nur   die  Zerreissung  des   einen  Christus,   sondern   vielmehr  die  An- 

'  S.  über  seine  Polemik  Bach  S.  121  ft'. 
^  Vor  Allem  gilt  das  von  Cyrill. 


t)ev  adoptianische  Streit.        •  25^ 

Wendung  solcher  Kategorien  auf  ihn,  die  für  die  Gläubigen  galten, 
wurde  als  blasphemisch  abgelehnt  ^  In  der  That  ist  es  richtig,  dass 
der  Glaube  an  Christus  als  den  Erlöser  kein  Interesse  daran  hat,  das 
breit  auseinanderzulegen,  worin  Christus  uns  gleichartig  ist^.   Allein  die 


*  S.  die  Analyse  der  Christologie  Alcuin's  bei  Bach  S.  128  ff.   Alcuin  will 
zeigen,  dass  1)  alle  Aussagen  der  Schrift  und  der  Väter  über  Christus  die  concrete 
Person  in  beiden  Naturen  zumSubject  haben,  dass  2)  der  Begriff  der  adoptio  weder 
in  der  Schrift  noch  bei  den  Vätern  sich  finde,  somit  neu  und  falsch  ist,  dass  3)  die 
adoptianische  Theorie  widerspruchsvoll  sei  und   den  Glaubensgrund  stürze.   Er 
sucht  zu  zeigen,  dass  die  adoptio,  wenn  sie  etwas  Anderes  bedeuten  soll  als  assumptio, 
zur  Häresie  führe.  Die  Assumption  soll  eben  das  Naturverhältniss  ausdrücken, 
in  welches  die  Menschheit  durch  die  Incarnation  zur  Gottheit  getreten  ist  und  wel- 
ches durch  die  adoptio,  die  ein  Gnadenverhältniss  bezeichne,  aufgehoben  wird. 
Wohl  redet  auch  Alcuin  davon  (nach  Augustin),  dass  in  Christus  die  Gnade  gewesen 
sei,  denn  sie  schliesst  das  natürliche  Sohnesverhältniss  nicht  aus,  wie  die  adoptio  es 
thut.   Das  stärkste  Argument  Alcuin's  liegt  aber  darin,  dass  er  die  passive  Adop- 
tion desshalb  für  unmöglich  erklärt,  weil  ja  der  Menschensohn,  bevor  er  wirklicher 
Gottessohn  war,  überhaupt  nicht  da  war.  Weder  er  noch  Paulin  denken  daran, 
dass  der  Mensch  Christus  vor  dem  Gottmenschen  Person  gew^esen  sei.   Er  hat  ja 
seine  Person  von  Anfang  an  an  dem  Gottessohn  gehabt.   Denkt  man  also  abstract, 
so  darf  man  nicht  an  einen  homo  Christus  denken,  der  vor  der  Menschwerdung  da 
war,  sondern  an  die  menschliche  Natur,  die  erst  durch  die  Assumption  Person  ge- 
worden und  zwar  sofort  zu  einem  wesentlichen  Bestandtheil  der  Person  des  Gott- 
menschen geworden  ist.   Daher  ist  diese  Natur  auch  abgesehen  von  der  Sünde  der 
unsrigen  unendlich  überlegen  und  unähnlich.   Daher  ist  die  Agnoetenlehre,  gegen 
die  übrigens  auch  schon  Gregor  I.  in  Briefen  scharf  zu  Felde  gezogen  ist,  zu  ver- 
werfen; darum  ist  die  Knechtsgestalt  des  Gottessohnes  in  jeder  Hinsicht  anbetungs- 
würdig, weil  sie  nicht  naturnothwendig  war,  sondern  in  jedem  Act  frei  übernommen. 
Also  hatte  Christus  weder  die  Taufe,  noch  die  Adoption  nothig  und  ist  auch  als 
Mensch  kein  gewöhnliches  Geschöpf,  sondern  immer  der  Gottmensch.    „Es  behielt 
der  Gottmensch  trotz  der  Assumption  der  menschlichen  Natur  die  eine  Proprietät 
in  der  Person  des  Sohnes  bei."    Die  Menschheit  ist  nur  wie  ein  Unpersönliches  zu 
dieser  Einheit  der  Person  des  Gottessohnes  hinzugekommen,  „und  es  blieb  dieselbe 
Proprietät  in  zwei  Naturen  im  Namen  des  Sohnes,  welche  ehedem  in  einer  Sub- 
Btaiiz  war".   Aber  sehr  ungeschickt  ist  es,  wenn  Alcuin  hinzufügt  (c.  Fclic.  IT,  12) : 
„in  adsumtione  carnis  a  deo  persona  jjerit  hominis,  non  natura" ;  denn  er  nahm  ja 
gar  nicht  an,  dass  vorher  eine  „persona  hominis"  bestanden  hat.    Man  kann  diesen 
lapsus  nur  daraus  erklären,  dass  Alcuin  noch  nicht  jede  Erinnerung  an  Augustin's 
Christologie   durch   die    cyrillische   bei    sich  ausgetilgt  hat.    Mit  Recht  bemerkt 
Bach  S.  13f)f.  (gegen  Dorn  er),   dass  kein  einziger  Gegner  der  Adoptianer  daran 
gedacht  hat,  „dass  die  Persönlichkeit  zur  Vollständigkeit  des  menschlichen  Wesens 
gf'höre,  sondern  dass  sie  das  entschiedene  G(^gentheil  (wie  er,  Bach,  sell)st)  gelehrt 
haben",    liach's  eigene  Erklärung  der  obigen  Stelle,  die  nur  als  lapsus  verständ- 
lich ist,  ist  übrigons  ganz  unrichtig.    Er  will  unier  persona  „die  Person  des  Men- 
schen als  solchen,  der  humanitas,  und  nicht  des  Menschen  (jhristus"  verstehen. 

^  E[)ist.  ad.  (Jarol.  M.:    „(^uid  enim  prodest  ecclesiac  dei  Christum  appellare 
adoptivum  filium  vel  deum  nuncupativumV" 

17* 


260       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karoHngischen  Renaissance. 

Adoptianer  hatten  doch  innerhalb  der  Gleichartigkeit,  die  sie  geltend 
machten,  ihn  als  das  Haupt  der  Gemeinde  bezeichnet  und  einen  Weg 
nachgewiesen,  auf  dem  man  den  homo  Christus  als  Erlöser  und  Für- 
sprecher erfassen  könne  ^  Aber  wie  heute,  so  hatte  das  schon  da- 
mals bei  solchen  keinen  Credit,  die  eiimial  in  die  Mysterien  eingeweiht 
waren.  AVer  an  dem  Taumelkelch  jener  Mystik,  die  da  verheisst,  alles 
werthlose  Gestein  in  Gold  zu  verwandeln,  auch  nur  genippt  hat,  der 
sieht  überall  das  Geheimniss  der  Vergottung,  und  so  leicht  ruft  dann 
kein  Wachender  den  Träumenden  ins  Leben  zurück  ^.  Denn  das  ist 
das  letzte  Interesse  dieser  Speculation:  aus  der  Verwandeln ng 
der  unpersönlichen  Menschensubstanz  ins  Göttliche  (bei 
Christus)  die  gottmenschlichen  Genussmittel  im  Dies- 
seits abzuleiten.  Schon  bei  Beatus  entpuppt  sich  die  realistische 
AbendmahlsaufFassung  als  ehi  entscheidendes  Motiv  gegen  den  Adop- 
tianismus^,  und  auch  bei  Alcuin  ist  dasselbe  nachzuweisend  So  hängt 
die  christologische  Controverse  mit  den  magischen  Vorstellungen  vom 
Abendmahl  als  dem  Centrum  der  kirchlichen  Lehre  und  Praxis  eng 
zusammen.   Um  so  lehrreicher  ist  es,  dass,  wie  wir  sehen  werden,  an 

^  Die  Ausführungen  Felix'  über  den  Menschen  Christus  als  sacerdos,  sacri- 
ficiam,  caput  ecclesiae  sind  augustinisch,  ja  zum  Theil  präciser  als  bei  Augustin. 
Beachtenswerth  ist,  welche  Rolle  im  Streit  der  Gedanke  Christi  als  des  Haupts  der 
Gemeinde  spielt.  Man  ist  darauf  nicht  gefasst,  wenn  man  von  der  älteren  Ueber- 
lieferung  herkommt.  Die  stärkere  Betonung  Christi  als  des  Priesters  und  Opfers  ist 
bereits  durch  die  Alles  beherrschende  Rücksicht  auf  die  Messe  bestimmt. 

^  AVeil  dieses  pseudo-christliche  Interesse  von  dem  Adoptianismus  nicht  cor- 
rigirt  worden  ist,  so  musste  er  ebenso  eine  Halbheit  bleiben,  wie  der  Nestorianis- 
mus.  Das  ist  der  letzte  Grund  seines  schnellen  Todes.  Adoptianismus  und  eucharisti- 
scher  Christus  passen  nicht  zusammen. 

^  S.  Bach  S.  119  f.  Beatus  hat,  wie  Cyrill,  daraufhingewiesen,  die  concrete 
Einheit  der  Person  Christi  erweise  sich  darin  am  klarsten,  dass  man  ja  in  dem 
Abendmahl  den  ganzen  Christus  anbete,  und  dass  das  Fleisch  Christi  Princip  des 
ewigen  Lebens  sei.  "Wofür  die  Gegner  der  Adoptianer  im  letzten  Grunde  gestritten 
haben,  das  hat  Bach  S.  120  als  seine  eigene  Meinung  in  trefflichen  Worten  ent- 
wickelt: „Mit  einem  tiefrealistischen  Blicke  weisen  Beatus  und  Eterius  im  Gegen- 
satz zur  Aeusserlichkeit  des  Elipandus  auf  die  centrale  Bedeutung  Christi  im  ge- 
sammten  ethisch-sacramentalen  Wesen  des  Christenthums  und  im  sittlich  freien 
Leben  der  Menschheit  hin.  Es  ist  das  organisch-physische  Verhältniss  Christi 
zur  Menschheit  und  die  Physiologie  der  Gnade  in  ihrem  inneren  Verhältniss  zur 
menschlichen  Freiheit  damit  angedeutet,  welche  in  dem  concreten  Gottmenschen 
ihre  Lebenswurzel  hat.  Ein  getrennter  Christus  kann  nicht  neues  physisch - 
ethisches  Lebensferment  der  Menschheit  sein."  Dieser  materialistische  Spuk 
nennt  sich  leider  auch  im  Protestantismus  Christenthum. 

*  Bei  ihm  und  Paulin  freilich  nur  in  unbedeutenden  Ansätzen,  wesshalb  Bach 
den  Paulin  „minder  tiefsinnig  und  gründlich"  wie  Beatus  nennt.  AVie  die  Specu- 
lation zu  diesem  gekommen  ist,  weiss  man  nicht. 


Der  Prädestinationsstreit.         ,  261 

die  Bilder  noch  nicht  gedacht  ist,  während  doch  der  Orient  schon 
längst  bei  seiner  kryptomonophysitischen  Christologie  ebensowohl  diese 
als  das  Abendmahl  im  Auge  hatte.  Hier  ist  die  angelsächsisch-frän- 
kische Kirche  hinter  ihrem  Führer  noch  „zurückgeblieben". 

FeHx  wurde  in  Lyon  bei  Leidrad  internirt.  Die  Zurückführung 
der  fränkischen  Adoptianer  machte  jetzt  grosse  Fortschritte,  und  Felix 
selbst  musste  seine  Gemeinde  ermahnen,  den  Irrthum,  den  er  sie 
einst  gelehrt,  aufzugeben.  Allein  im  Herzen  war  er  keineswegs  völlig 
überzeugt,  wie  Papiere  bewiesen,  welche  Leidrad's  Nachfolger,  Ago- 
bard,  nach  dem  Tode  des  unglücklichen  Bischofs  fand.  Agobard  hat 
es  noch  für  nöthig  gehalten,  den  todten  Felix  zu  widerlegen.  Hatte 
der  aggressive  Adoptianismus  im  Frankenreich  auch  bald  ausgespielt, 
so  hat  ihn  die  kecke  Dialektik  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  als 
Schullehre  doch  wieder  erweckt  ^,  und  er  ist  dann,  ohne  freilich  mehr 
als  theologischen  Streit  zu  erregen,  durch  alle  Jahrhunderte  des  Mittel- 
alters hindurch  gegangen.  Wie  im  saracenischen  Spanien  die  „Häresie" 
allmählich  erloschen  ist,  ist  wenig  bekannt.  Unbeanstandet  ist  sie 
dort  schon  zur  Zeit  des  Elipandus  nicht  gewesen.  Noch  um  850  hat 
sie  Anziehungskraft  besessen^;  dann  aber  kamen  Zeiten,  in  denen 
das  Bewusstsein,  mit  der  ganzen  Kirche  zusammen  zu  stehen,  den 
christHchen  Spaniern  werthvoUer  sein  musste  als  die  Behauptung  einer 
berechtigten  EigenthümHchkeit. 

Die  entscheidende  Folge  des  ganzen  Streits  war,  dass  man  im 
Abendland  das  eigene,  frühere  christologische  Schema  beseitigte  und 
innerhalb  des  Dogmas  um  des  Abendmahls  und  der  imponirenden 
Ueberlieferung  der  Griechen  willen  dachte  me  diese.  Die  Einheit 
Christi  wurde  festgehalten;  aber  diese  Einheit  absorbirte  die  Mensch- 
heit und  rückte  den  dei  filius  incarnatus  tremendus  in  die  Ferne.  Die 
strenge  Dogmatik  gestattete  nur  noch,  ihn  sich  im  Abendmahl  nahe 
zu  bringen.  Aber  das  schliesst  nicht  aus,  dass  neben  der  dogmatischen 
Theorie,  zunächst  noch  verborgen,  das  Büd  des  demüthigen  Mannes 
der  Leiden  sich  fortpflanzte,  wie  es  Augustin  aufgegangen  war  und 
wie  es  in  noch  lebendigerer  Verdeutlichung  die  Kraft  der  Frömmig- 
keit in  der  Zukunft  werden  sollte. 

Ib.  Der  Streit  über  die  Prädestination ^ 

Der  Aufschwung  der  theologischen  Wissenschaft  im  9.  Jahrhundert 
führte  zu  eingehender  Beschäftigung  mit  Augustin.    Allein  man  war 

»S.  Bach  nS.  390  ff. 

^  S.  die  Briefe  des  Alvar,  Baudissin,  a.  a.  0.,  Bach  I  S.  146  ff. 

•  Quellen,  gesammelt  von  dem  Jansenisten  Maugiu,  Veterum  auct.  qui  IX. 


262       Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karolingißchen  Renaissance. 

cliircli  die  IMieologie  Gregor's  I.  bereits  daran  gewöhnt,  die  Formeln 
der  augustinischen  Theologie  mit  dem  von  dem  kultischen  System  ge- 
forderten Pelagianisnuis  zu  verbinden.  Daher  wäre  es  schwerHch  zu 
einem  erneuten  Streite  gekommen,  wenn  nicht  der  Mönch  Gott- 
schalk von  Orbais  die  Prädestinationslehre  mit  derselben  Energie 
geltend  gemacht  hätte,  wie  Augustin  in  seinen  letzten  Schriften,  und 
wenn  nicht  ein  Mann  gegen  ihn  aufgetreten  wäre,  dem  seine  eifer- 
süchtigen Collegen  gerne  eine  Häresie  aufgebürdet  hätten  -  Hink- 
mar.  Nicht  dass  Gottschalk  augustinische  Formeln  brauchte,  son- 
dern dass  die  Prädestinationslehre  die  Kraft  und  der  Halt  seines 
Daseins  nach  einem  verfehlten  Leben  geworden  war,  hob  ihn  aus  der 
Masse  der  Theologen  heraus  und  gab  seinem  Bekenntniss  einen  er- 
schütternden Nachdruck.  Auch  hier  lässt  es  sich  wieder  mit  Händen 
greifen,  dass  nicht  die  AVorte  es  macheu,  sondern  dass  sie  so  lange 
eine  klingende  Schelle  bleiben,  als  sie  nicht  der  Ausdruck  eines  Er- 
lebten sind.  Neben  und  nach  Gottschalk  haben  in  seiner  Zeit  Viele 
so  gesprochen  wie  er;  aber  nur  er  ist  als  Irrlehrer  verfolgt  worden, 
weil  die  Gegner  fülilten,  dass  nur  er  ihrem  Kirchensysteme  gefähr- 
lich war. 

Gottschalk  hat  über  die  Prädestination  materiell  und  formell 
nicht  anders  gelehrt  wie  Augustin,  Fulgentius  und  Isidor ' ;  aber  man 
muss  sagen,  dass  er  nichts  Anderes  gelehrt  hat  als  die  Prädestination. 
Mit  einer  erst  resignirten,  dann  schwärmerischen  Hingebung  hat  er 
sich  in  die  Hände  des  Gottes  beschlossen,  der  Alles  wirket  nach 
seinem  Wohlgefallen,  und  der  nichts  thut,  was  er  nicht  schon  von 
Anfang  an  fest  beschlossen  hat.  Die  Prädestination  ist  der  Inhalt 
des  Evangeliums,  ist  das  Object  des  Glaubens;  sie  ist  die  Wahrheit 
—  jene  praedestinatio  gemina  ad  vitam  et  ad  mortem,  nach  welcher 
für  den  Guten  das  ewige  Leben  und  für  den  Sünder  der  Tod  be- 
stimmt ist,  in  welcher  daher  auch  die  Einen  zum  Leben,  die  Anderen 
zum  Tode  bestimmt  sind.  Nichts  soll  abgethan  werden,  was  die  Kirche 
sonst  lehrt  und  was  sie  thut;  aber  Abfall  vom  Evangelium  ist  es, 
die  Sicherheit  dieser  ewigen  unveränderlichen  Gnadenanordnung  Got- 

saec.  de  praedest.  et  gratia  scripserimt.  Paris  1650,  s.  die  Werke  der  karoliugischeu 
Theologen  z.  Z.  Karl's  des  Kahlen,  Mansi  T.  XIV  und  XV.  AVi gge rs  i.  d.  Ztschr. 
f.  d.  hist.  Theol.  1859.  AVeizsäcker  i.  d.  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  1859.  Hefele, 
Concil-Gesch.  IV^  S.  130  ff.  Bach,  a.  a.  0. 1  S.  219  ff.  Reuter,  a.  a.  0.  I  S.  43  ff. 
Bor  rasch,  Der  Mönch  Gottschalk  1868.  Die  Monographien  über  Hinkmar  von 
V.  Noorden  und  Schrörs. 

*  Von  Fulgentius  ist  Gottschalk  besonders  abhängig.  Ueber  Isidor's  Prädesti- 
nationslehre s.  Wiggers,  Ztschr.  f.  d.  hist.  Theol.  1855,  über  die  Beda's  ebend., 
a.  a.  0.  1857. 


Der  Prädestinationsstreit.  263 

tes  —  denn  gut  ist  auch  die  Gerechtigkeit  und  die  Strafe  —  in  den 
Gemüthern  zu  verdunkeln.  In  der  lebendigen  und  ursi^rün glichen 
Sprache  des  überzeugten  Bekenners  hat  Gottschalk  diesen  seinen 
Glauben  unerschütterlich  bis  zum  Tode  vertretend 

Aber  was  soll  hier  der  geschichtliche  Christus,  was  der  Christus 
der  sacramentalen  Kirchenanstalt?    Wenn   dem  Gottschalk  der  ver- 
borgene Gott   mit   dem  verborgenen  Willen  ein  Trost   gewesen  ist, 
so   lag  das   an  der  Gewissheit,    dass   dieser  Gott  auch  zum  Leben 
prädestinirt  habe,  und  diese  Gewissheit  floss  aus  der  Oekonomie,  die 
in  Christus  gipfelt.    Denn  woher  war  es  sonst  bekannt,  dass  die  ewige 
Prädestination  auch  die  Begnadigung   eines  Theiles  der  Mensch- 
heit einschliesse  ?  Für  die  Gewissheit  des  Einzelnen  war  damit  freilich 
noch  nichts  gewonnen ;  aber  auch  auf  der  Gegenseite  wollte  man  von 
Heilsgewissheit  nichts  wissen :  der  Einzelne  galt  sich  selbst  und  An- 
deren  nicht  viel.    Der   Individualismus  war   noch    nicht   entwickelt. 
Christus  stand  also   nicht  zur  Frage.    Auch  der  entschlossene  Ver- 
treter der  Prädestination  blickte  auf  ihn,  wenn  er  an  die  Erwählung 
zum  Leben  dachte.     Aber   das    System    der    Sacramente,    Rechts- 
forderungen  und  Werke,  welches  die  Kirche  selbst  war,  erbebte,  wie 
es  überall  erbeben  muss,  wo  die  Religion  wieder  aus  der  Yeräusser- 
lichung  in  das  Innenleben  zurückgeführt  wird.    Dies  geschah  hier 
freilich  in  einer   viel  abstracteren  Weise,   als  durch  Augustin.     Die 
tiefsten  Ausführungen  desselben  über  die  befreiende  Gnade  und  die 
beata  necessitas  boni,  welche   den  Hintergrund  der  Prädestinations- 
lehre bilden,  schlagen  bei  Gottschalk  nicht  mächtig  durch.   Der  frän- 
kische Mönch  hat  sich  auch  die  neuplatonische  Speculation,  welche 
die  augustinische  Lelire  mildert  resp.  in  eine  ganz  andere  Sphäre  der 
Vorstellung  hinüberspielt,  nicht  anzueignen  vermocht.    Er  kennt  auch 
nicht   die  Dialektik   des  Zeitbegriffs,  die  von  Augustin's  Auffassung 
unzertrennlich  ist.    Doch  stand  er  der  Dialektik  nicht  fern;  ja  wenn 
man  den  Berichten  trauen  darf,  hat  er  zuerst  aus  dialektischen  Grün- 
den Freude  an  dem  Problem  geha})t;  aber  das  Feuer,  mit  welchem 
er  spielte,  hat  sich  dann  seiner  bemächtigt.    Die  Sache  selbst  wurde 
ihm  werthvoll.     Sie   entsprach  seiner   immer  herber  werdenden  Ge- 


*  Uebcr  das  Leben  Gottschalk's  bis  zum  Ausbruch  des  Streits  s.  Hefele, 
a.  a.  O.  Der  auj^ustinischc  Geist  und  die  Sprache  Augustin's  in  der  Confessio  pro- 
lixior  (Mi^nc  CXXI  p.  349):  „Tui  profecto  sie  senipcr  iiidigent  omues  electi  tui,  quo 
videlicet  tibi  de  te  solo  semper  valcunt  placere.  (^uemadmoduni  palmites  iiidigent 
vite,  quo  fructum  queant  l'erre,  vel  acr  aut  oculi  luce,  quo  vel  illc  lucidus  esse  vel 
Uli  possint  videre  .  .  .  te  igitur  supplex  invoco  .  .  .  ut  largiaris  indigentissimo  mihi 
per  gratuitae  gratiae  tuae  invictissimain  virtutern  etc." 


264       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

sinnung,  und  er  vertrat  sie  mit  dem  Eifer  des  Missionars.  Nicht 
um  die  Erbsünde  und  die  Sünde  war  es  ihm  in  erster  Linie  zu  thun, 
sondern  um  die  Unveränderlichkeit  und  Weisheit  Gottes,  Er  ist 
Theologe  im  engsten  Sinn  des  Worts. 

In  den  Briefen  des  Rabanus  an  Noting  und  Eberard  (kurz  vor 
848)  wird  Gottschalk  zuerst  bekämpft  *  und  ihm  vorgeworfen,  dass 
er  lehre,  auch  der  rechte  Glaube  und  die  guten  Werke  seien  frucht- 
los für  den,  der  nicht  zur  Seligkeit  bestimmt  sei,  und  Gott  zwinge 
zur  Sünde  und  zum  Verderben  (invitum  hominem  facit  peccare)  ^.  Bald 
fanden  sich  noch  andere  Gegner,  und  man  erklärte,  er  lehre  eine 
Prädestination  zur  Sünde.  Auf  dem  Mainzer  Concil  (848)  liess  Raba- 
nus ihn  verurtheilen  ^  und  auf  Befehl  des  Königs  Ludwig  an  Hinkmar 
übergeben,  zu  dessen  Provinz  er  als  Mönch  gehörte  ^.  In  dem  Brief 
an  Hinkmar  erklärt  Raban  eine  Prädestination  in  Betreff  des  Bösen 
einfach  für  irrig  und  weiss  auch  schon  von  Leuten  zu  berichten,  die, 
durch  Gottschalk  verführt,  von  frommen  Uebungen  abstehen,  weil  ja 
doch  Alles  umsonst  sei  ^.  Hinkmar  liess  auf  einem  synodalen  Reichs- 
tag zu  Chiersey  (849)  das  Urtheil  gegen  den  miserabilis  monachus 
wiederholen.  Er  wurde  seiner  Würde  entsetzt,  gestäupt  und  im  Ge- 
fängniss  unschädhch  gemacht  ^.  Raban  und  Hinkmar  scheinen  sich 
beide  von  der  Schwierigkeit  der  ganzen  Frage  —  der  Autorität 
Augustin's  und  anderer  Väter  wegen  —  zunächst  noch  keine  Vor- 
stellung gemacht  zu  haben.  Hinkmar  beruhigt  sich  dabei,  die  Prä- 
scienz  Gottes  beziehe  sich  auf  das  Gute  und  das  Böse,  die  Prädesti- 
nation aber  nur  auf  das  Gute^.    Allein  bald  änderte  sich  die  Lage 


*  S.  Opp.  Raban.  bei  Migne  CXII  p.  1530  sq.  Kunstmann,  Hrabanus  Mag- 
nentius  Maurus  1841. 

^  Die  eigene  Meinung  des  Raban,  dieses  grossen,  lauteren,  wahrhaft  frommen 
und  unpolitischen  Kirchenfiirsten,  war  semipelagianisch. 

•''  Bruchstück  eines  der  Synode  eingereichten  Bekenntnisses  Gottschalk's  bei 
Hinkmar,  de  praedest.  5,  Migne  CCXV  p.  89  sq.  (He feie  S.  138):  „gemina  prae- 
destinatio  .  .  .  similiter  omnino  omnes  reprobos,  qui  damnabuntur  propter  ipsorum 
mala  merita,  incommutabilis  deus  per  iustum  iudicium  suum  incommutabiliter  prae- 
destinavit  ad  mortem  merito  sempitemam." 

^  Migne  CXII  p.  1574. 

'  A.  a.  0. 

6  Hincm.,  de  praedest.  2,  Migne  CXXV  p.  85,  cf.  Migne  CXXI  p.  1027. 

'  Die  grossen  Schriften  Hinkmar's  über  die  Streitfrage  sind  erst  mehrere  Jahre 
später  geschrieben  worden.  Die  erste  in  drei  Büchern  (856  und  857)  war  so  umfang- 
reich, dass  sie  nicht  abgeschrieben  worden  und  daher  untergegangen  ist  (s.  Schrörs 
S.  136  f.),  die  zweite,  de  praedestinatione  dei  et  libero  arbitrio,  ist  noch  immer  weit- 
schweifig genug  und  recht  inhaltslos  (859  auf  860  geschrieben,  s.  S  chrö  r  s  S.  141  ft'.). 
Hier  wird  im  Eingang  in  sehr  unhistorischer  Weise  die  Geschichte  der  prädostina- 


Der  Prädestinationsstreit.       •  265 

der  Sache.  Gottschalk  verfasste  zwei  Bekenntnisse,  in  denen  er  seine 
Lehre  darlegte  und  aus  der  Schrift  und  den  Vätern  erwies  ^ ,  und 
schrieb  auch  sonst  Aufsätze,  in  denen  er  den  Particularismus  des 
Heilswerks  Christi  betonte  ^,  dieses  streng  unter  das  vorzeitliche  Decret 
Gottes  stellend.  In  einem  Brief  an  Amolo  hat  er  auch  den  besonders 
anstössigen  Satz  ausgesprochen:  „baptismum  et  alia  sacramenta  fru- 
statorie  eis  dari,  qui  post  eorum  perceptionem  pereunt";  denn  „qui 
ex  numero  fidelium  pereunt,  Christo  et  ecclesiae  numquam  fuerunt 
incorporati"  ^.  Allein  ausserhalb  Mainz'  und  Rheims'  in  dem  gebilde- 
teren Süden  erkannte  man,  dass  nicht  Gottschalk,  sondern  seine  Gegner 
von  Augustin's  Lehre  abwichen.  Die  besten  Theologen  stellten  sich 
auf  die  Seite  des  Confessors,  so  Prudentius  von  Troyes,  Ratramnus 
von  Corbie,  dann  auch  Lupus  von  Ferneres,  der  Priester  Servatus 
Lupus  und  Remigius  von  Lyon,  grösstentheils  Schüler  Alcuin's  *.  Es 
beginnt  nun  ein  lebhafter  theologischer  Streit,  der  indess  nicht  so 
heftig  war,  dass  die  übrige  Kirche  und  der  Papst  hineingezogen  wurden, 
und  der  desshalb  unsäghch  unerquicklich  ist,  weil  auch  die  treuen 
Augustiner  das  herrschende  Kirchensystem  nicht  preisgeben  konnten 
und  wollten,    daher  dort  Vermittelungen  suchen  mussten,   wo  Gott- 


tianischen  Secte  geschildert,  die  schon  zu  Lebzeiten  des  hl.  Augustin  entstanden  sei. 
Diese  werde  jetzt  aufgewärmt,  und  zwar  hielten  sich  die  Neueren  an  Fulgentius,  der 
nie  ein  hohes  Ansehen  in  der  Kirche  genossen  habe  (c.  3.  8.  13).  Prädestination 
zur  Strafe  schliesst  die  Nöthigung  der  Sünde  ein,  ist  die  Hauptthese  Hinkmar's. 
„Praescivit  deus  hominem  ad  poenam." 

*  S.Migne  CXXI  p.347.  349:  „Confiteor,  deum  omnipotentem  et  incommuta- 
bilem  praescisse  et  praedestinasse  angelos  sanctos  et  homines  electos  ad  vitam  gratis 
aetemam,  et  ipsum  diabolum  ,  .  .  cum  ipsis  quoque  hominibus  reprobis .  .  .  propter 
praescita  certissime  ipsorum  propria  futura  mala  merita  praedestinasse  pariter 
per  iustissimum  iudicium  suum  in  mortem  merito  sempiternam."  „Credo  siquidem 
atque  confiteor  praescisse  te  ante  saecula  quaecunque  erant  futura,  sive  bona  sive 
mala,  praedestinasse  vero  tantummodo  bona.  Bona  autem  a  te  praedestinata  bi- 
fariara  sunt  tuis  a  fidelibus  indagata  .  .  .  i.  e.  in  gratiae  beneficia  et  iustitiae  simul 
iudicia  .  .  .  Frustra  elcctis  praedestinasses  vitam,  nisi  et  illos  praedestinasses  ad 
ipsam.  Sic  etiam  .  .  .  omnibus  quoque  reprobis  hominibus  percnnem  merito  prae- 
destinasti  poenam  et  cosdem  similiter  praedestinasti  ad  eam,  quia  nimirum  sine 
causa  et  ipsis  praedestinasses  mortis  perpetuae  poenam,  nisi  et  ipsos  praedestinasses 
ad  eam;  non  enim  irent,  nisi  destinati,  ncquc  profecto  destinarcntur,  nisi  essent 
pracdcstinati."   Vom  Standpunkt  Uottschalk's  sind  beide  Bekenntnisse  conciliant. 

*  Dass  Christus  keineswegs  für  die  reprobi  gestorben  sei,  hat  Gottschalk  häufig 
behauptet,  obgleich  er  eine  gewisse  allgemeine  Erkaufung  aller  Getauften  lehrte  •,  s. 
Hincm.  de  pracd.  29.  34.  35.  Migne  CXXV  p.  289  sq.  349  sq.  369  sq. 

»  S.  Hcfele  S.  169. 

*  Die  verschiedenen  Schriften  dieser  Männer  hat  Bach  I  S.  232  If.  analysirt 
und  besprochen. 


266       Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karolingischeu  Renaissance. 

schalk's  Conse([uenzen  es  gefährdeten,  und  weil  die  fränkischen  Semi- 
pehigiiiner  bakl  einsahen,  dass  sie  ihre  Ausdrucks  weise  dem  Augusti- 
nisnius  anzunähern  liätten.  Unter  den  Vertheidigungsschriften  für 
Güttschalk  gab  es  denigeniäss  viele  Schattirungen,  aber  auch  unter  den 
Gegenschriften  K  Floriis  Magister  z.  B.  trat  für  die  gemina  prae- 
destinatio  ein,  aber  bekämpfte  doch  den  Gottschalk,  da  er  den  Ge- 
danken der  Unwiderstehlichkeit  der  Gnade  zurückwies  '■^.  Amolo  von 
Lyon  behandelte  ihn  freundlich;  aber  kein  Anderer  hat  so  nachdrück- 
lich wie  er  darauf  hingewiesen,  dass  die  Lehre  Gottschalk's  die  histo- 
rische Erlösung,  die  Frucht  des  Todes  Christi  und  die  s a er a men- 
tale Gnade  aufhebe  •^  Der  Einzige,  der  einen  consequenten  Stand- 
punkt einnahm  und  von  ihm  aus  den  Mönch  bekämpfte,  war  Johannes 
Scotus.  Seine  Lehre  fusste  nicht  auf  Augustin's  Prädestinationslehre, 
sondern  auf  der  neuplatonisch-augustinischen  Ontologie,  die  er  kühn 
entwickelte.  Nach  dieser  ist  das  Böse  und  der  Tod  überhaupt  Nichts. 
Das  unveränderliche  Sein  hat  nur  einen  unveränderHchen  A¥illen, 
nämlich  sich  selber,  und  es  wirkt  nur  sich  selber  aus.  Alles  Uebrige 
ist  Negation,  ist  nichts  AVirkliches  und  trägt  eben  dieses  Nichtsein 
als  Strafe  in  sich.  Auf  die  Prädestinationsfrage  angewandt,  folgt, 
dass  die  Recht  haben,  welche  nur  von  einer  Prädestination  etwas 
wissen  wollen*.  Aber  Freund  und  Feind  empfanden,  ohne  den  Pan- 
theismus des  Scotus  völlig  zu  durclischauen,  dass  hier  der  Teufel 
durch  Beelzebub  („commentum  diaboli")  ausgetrieben  werden  sollte. 
Den  einzigen  Ausweg,  den  es  neben  dem  scotistischen  gab,  die  Frage- 
stellung in  der  Form  des  Prädestinationsproblems  überhaupt  aufzu- 
geben, sich  an  den  geschichtlichen  Christus  zu  halten  und  der  Gnaden- 
lehre Augustin's  durch  Zurückführung  des  kirchlichen  Systems  auf 
die  Erfahrung  der  Wiedergeburt  und  des  Glaubens  gerecht  zu  werden 
—  diesen  Ausweg  fand  Niemand  ^,  und  ^o  musste  der  ganze  Streit 
nothwendig  ein  Tummelplatz  theils  objectiver,  theils  bewusster  Unauf- 
richtigkeit  werden.    Aber  so  mächtig  war  die  Autorität  Augustin's, 


^  Mau  stritt  sich  damals  um  die  Prädestination  so,  wie  man  sich  heute  inner- 
halb der  „positiven"  Theologie  um  das  Kecht  der  historischen  Kritik  streitet.  Da 
giebt  es  solche,  die  dieses  Recht  vertheidigen,  und  solche,  die  es  einschranken  oder 
aufheben  wollen;  aber  auch  Jene  glauben  im  Grunde  nicht  an  dasselbe,  da  sie  sich 
hüten,  die  Consequenzen  zu  ziehen. 

2  Bach  IS.  240. 

»Bach  IS.  241  ff. 

^De  divina  praedest.  Migne  CXXII  p.  355  sq.  Die  Synoden  zuValence  und 
Langres  (859)  verdammten  die  Schrift,  nachdem  Prudentius  und  Florus  Magister 
gegen  sie  geschrieben  hatten. 

*  Amolo  kam  ihm  am  nächsten. 


Der  Prädestinationsstreit.        •  267 

dass  das  Ergebniss,  wenn  von  einem  solchen  geredet  werden  darf,  in 
Worten  der  Lehre  Gottschalk's  näher  kam,  als  den  ursprüng- 
lichen Kundgebungen  Raban's  und  seiner  Gesinnungsgenossen  (hier- 
her gehört  auch  Pardulus).  Diese  wollten  ihre  Unterscheidung  von 
Präscienz  und  Prädestination  (in  Bezug  auf  das  Böse  und  die  Strafe) 
durchsetzen  und  desshalb  nicht  von  P  er  s  onen,  die  zur  Strafe  prä- 
destinirt  seien,  geredet  wissen.  Gott  hat,  als  er  das  Böse  voraussah, 
die  Strafe  für  die  prädestinirt,  welche  es  nicht  verdienen  würden,  dass 
die  Gnade  sie  erlöst;  der  fi'eie  Wille  behält  also  versteckt  seinen 
Spielraum,  obgleich  den  Worten  nach  die  Seligen  lediglich  um  der 
Erwählung  willen  sehg  werden.  Die  künstliche  Unterscheidung,  die 
hier  gemacht  wird  (Prädestination  des  Lebens  und  der  Guten,  Präs- 
cienz der  Bösen,  Prädestination  der  Strafe),  ist  scheinbar  —  auch 
auf  augustinischem  Boden  —  erträglich,  da  sogar  von  einem  völligen 
Verluste  der  Freiheit  durch  Adams  Fall  jetzt  von  Hinkmar  geredet 
wurde ;  aber  die  Unterscheidung  war  in  Wahrheit  als  Thor  gemeint, 
durch  welches  der  Semipelagianismus  einziehen  sollte.  Auf  einer  neuen 
Synode  zu  Chiersey  (853)  wurde  diese  Lehre  unter  Hinkmar's  Leitung 
angenommen  ^    Allein  was  hier  geschah,  war  im  Erzbisthum  Sens  ^ 

^  Die  vier  Capitel  von  Chiersey  geben  dem  Augustinismus  mehr  nach,  als  es  sich 
mit  der  Wahrhaftigkeit  vertrug :  I.  „Deus  hominem  sine  peccato  rectum  cum  Hbero 
arbitrio  condidit  et  in  paradiso  posuit,  quem  in  sanctitate  iustitiae  permancrc  vo- 
luit.  Homo  libero  arbitrio  male  utens  peccavit  et  cecidit,  et  factus  est  massa  per- 
ditionis  totius  humani  gcneris.  Deus  autem  bonus  et  iustus  elegit  ex  eadem  massa 
perditionis  secundum  praescientiam  suam,  quos  per  gratiam  praedestinavit  ad  vitam, 
et  vitam  illis  praedestinavit  aeternarn.  Ceteros  autem,  quos  iustitiae  iudicio  in  massa 
perditionis  rcliquit,  perituros  pracscivit,  scd  non  ut  pcrirent  praedestinavit,  poenam 
autem  illis,  quia  iustus  est,  praedestinavit  acternam.  Ac  per  hoc  unam  dei  prae- 
destinationem  tantummodo  dicimus,  quae  aut  ad  donum  pertinet  gratiae,  aut  ad 
retributionem  iustitiae."  II.  „Libcrtatem  arbitrii  in  i)rimo  homino  pcrdidimus, 
(^uam  per  Christum  dominum  nostrum  rcccijimus.  Et  habcmus  liberum  arbitrium 
ad  bonum,  praeventum  et  adiutum  gratia.  Et  habcmus  liberum  arbitrium  ad  malum, 
desertum  gratia.  Liberum  autem  habcmus  arbitrium,  quia  gratia  liberatum  et  gratia 
de  corrupto  sanatum."  III.  „Deus  omnes  homincs  sine  cxceptione  vult  salvos  ficri, 
licet  non  omnes  salventur.  Quod  autem  quidam  salvautur,  salvautis  est  donum; 
(juod  autem  quidam  pereunt,  pcrcuntium  est  mcritum."  Das  4.  Capitel  sagt,  dass 
Christus  die  Natur  eines  jeglichen  Menschen  angenommen  hat,  also  auch  für  Jeden 
gestorben  ist,  wenn  auch  nicht  Alle  erlöst  werden.  Die  Ursache  dieser  Thatsache 
liegt  daran,  dass  die  Nichtcrlösten  infidclcs  sind  oder  doch  des  Glaubens  ermangeln, 
der  in  der  Liebe  thätig  ist;  „poculum  humanae  salutis,  quod  confectum  est  iufirmi- 
tatc  nostra  et  virtutc  divina,  habet  quidcm  in  sc,  ut  omnibus  prosit,  sed  si  non  bibi- 
tur,  non  medetur."    Mansi  XIV  p.  919. 

■^  S.  über  Prudentius  und  die  Synode  von  8ens  llefcle  S.  188  f.  Die  4  Capitel 
dieser  Synode;,  weh;he  die  gemina  praedeatinatio  lehren,  sind  von  Prudentius;  s. 
Migno  CXXV  p.  64. 


268       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

und  im  Reiche  Kaiser  Lothar's  nicht  massgebend.  Remigius  von  Lyon 
gritV  die  vier  Capitel  von  Chiersey  scharf  an  als  der  Lehre  der  Schrift 
und  der  Väter  zuwiderlaufend  K  Auf  der  grossen  Synode  der  Pro- 
vinzen Lyon,  Vienne  und  Arles  zu  Valence  (855)  wurden  Kanones 
angenommen,  welche  sich  viel  enger  an  Augustin  anschlössen  und  die 
Lehre  des  Remigius  enthielten.  Die  Abneigung  gegen  den  gewaltigen 
Hinkmar  spielte  dabei  auch  eine  Rolle.  Die  Synode  verwarf  die  vier 
Capitel  („miims  prospecte  suscepta"),  lehrte  die  gemina  praedesti- 
natio,  bezog  dieselbe  auch  auf  die  Personen  und  behauptete,  dass 
Christus  für  die  Gläubigen  sein  Blut  vergossen  habe  (die  Frage,  ob 
Gott  alle  Menschen  sehg  machen  wolle,  ist  klug  umschifft).  Wenn 
sie  die  Meinung  einer  Prädestination  zur  Sünde  ablehnte,  so  verliess 
sie  damit  den  streng  augustinischen  Boden  nicht.  Dagegen  zeigt  die 
Behauptung,  dass  die  Verdammung  sich  auf  die  Präscienz  gründe, 
und  dass  in  den  Sacramenten  der  Kirche  „nihil  sit  cassum,  nihil  ludi- 
ficatorium",  wie  besorgt  man  war,  das  kirchhch  Giltige  nicht  preis- 
zugeben '^.  Vergleicht  man  die  Beschlüsse  der  beiden  Synoden  ihrem 
AVortlaut  nach,  so  sind  die  Unterschiede  höchst  subtil,  und  doch  ist 
das  kleine  Plus  des  fremden  Coefficienten  am  Augustinismus  in  den 
Beschlüssen  von  Chiersey  von  hoher  Bedeutung :  Raban,  Hinkmar 
und  die  Synode  Karl's  stehen  auf  dem  Boden  der  kirchlichen  Empirie 
und  suchen  sich  —  weil  sie  es  müssen  —  mit  Augustin  abzufinden, 
dabei  mehr  zugebend,  als  ihnen  lieb  sein  konnte ;  Remigius,  Pruden- 
tius  und  die  Synode  Lothar's  stehen  auf  dem  Boden  des  Augustinis- 
mus und  wollen  doch  die  kirchliche  Empirie  nicht  aufgeben.  Dort 
und  hier  aber  durfte  in  Niemandem  ein  Zweifel  auftauchen,  ob  diese 
Empirie  und  der  Augustinismus  sich  decken. 

Die  politischen  Verhältnisse  Hessen  den  drohenden  Bruch  doch 
nicht  perfect  werden.  Im  Reiche  König  KarFs,  des  Sohnes  Lothar's, 
lenkte  man  ein.  Zu  Langres  (859)  beschloss  man  einige  leichte  Modi- 
ficationen  an  den  Capiteln  von  Valence,  um  Karl  dem  Kahlen,  der 
die  von  Chiersey  unterschrieben  hatte,  den  Beitritt  zu  ermögHchen'. 
Die  grosse  Synode  von  Savonieres  (859),  auf  der  Bischöfe  aus  drei 
Reichen,  sowie  die  Herrscher  selbst  (Karl  der  Kahle,  Karl  von  der 
Provence,  Lothar  von  Lothringen)  anwesend  waren,  nahm  die  modi- 
licirten  Capitel  von  Valence  und,  wie  es  scheint,  auch  die  von  Chier- 


^  Migne  CXXI  p.  1083:  libellus  de  tenenda  immobiliter  scriptiirae  veritate 
als  officielle  Schrift  der  Kirche  von  Lyon. 

^  Die  Kanones  hierher  zu  setzen  —  sie  sind  sehr  weitschweifig  —  ist  überflüssig, 
s.  Mansi  XV  p.  3.  Hefele  IV  S.  193  ff.  Schrors  S.  133  ff. 

8  Mansi  XV  p.  537.  Hefele  S.  205. 


Der  Prädestinationsstreit.  269 

sey  ad  acta;  man  verdammte  sich  gegenseitig  nicht  wegen  des  Un- 
glaubens oder  Glaubens  an  die  gemina  praedestinatio,  und  damit  war 
schon  das  Meiste  zur  Beschwichtigung  gewonnen  ^  Hinkmar  freilich 
war  darüber  nicht  im  Zweifel,  dass  es  eine  prädestinatianische  Irr- 
lehre gegeben  habe  und  gebe,  die  zu  bekämpfen  sei  und  deren  An- 
hänger sich  mit  Unrecht  auf  Augustin  beriefen.  Damals  hat  er  sein 
weitschichtiges  Werk  de  praedestinatione  verfasst  (gegen  Remigius  u.  A.) 
unter  den  Auspicien  seines  theologischen  Königs.  Allein  das  Friedens- 
bedürfniss  der  Könige  war  grösser  als  der  Eifer  der  im  Dunklen 
kämpfenden  Bischöfe.  Auf  der  grossen  Synode  der  drei  Beiche  zu 
Toucy  (860)  wurde  in  einem  umfangreichen  Synodalschreiben  die  zu 
Savonieres  aufgeschobene  Angelegenheit  beendet.  Man  Hess  die  strit- 
tigen Punkte  bei  Seite  und  bekannte  das,  worin  man  einig  war.  Hink- 
mar hat  dieses  Schriftstück  verfasst.  Neben  der  Prädestination  zum 
Leben,  die  in  gut  augustinischen  Worten  vorgetragen  ist,  wird  bekannt, 
dass  Grott  Alle  seUg  machen  wolle,  dass  Christus  für  Alle  gestorben 
sei,  und  dass  der  freie  Wille  nach  dem  Falle  zwar  befreit  und  geheilt 
werden  müsse,  aber  nicht  ganz  verloren  gegangen  sei^.  Wenn  der 
Werth  eines  Bekenntnisses  darin  besteht,  dass  es  w*irklich  Ausdruck 
des  vorhandenen  Glaubens  ist,  dann  war  der  Sieg  der  Hinkmar'schen 
Formel  werthvoUer  als  der  Sieg  der  Gegenlehre  gewesen  sein  würde 
—  denn  das  Bekenntniss  zur  gemina  praedestinatio,  an  sich  schon 
mehr  Ausdruck  einer  theoretischen  Speculation  als  des  christlichen 
Glaubens  an  Gott  den  Vater,  hätte  neben  der  doch  festgehaltenen 
kirchlichen  Empirie  weniger  als  nichts  bedeutet.  Allerdings  bedeutete 
die  Hinkmar'sche  Formel,  die  durch  keine  Kunst  mit  der  von  Orange 
vereinigt  werden  kann,  auch  nicht  viel;  denn  in  Wahrheit  blieb  trotz 
aller  Worte  Augustin  abgesetzt.  Gregor's  1.  Lehrbegriff  behauptete 
das  Feld.  Wie  man  an  den  sacramentalen  Christus  dachte,  als  man 
mit  dem  A  doptianismus  zugleich  die  augustinische  Christologie  ab- 
lehnte, so  dachte  man  an  eben  diesen  Christus  und  an  die  guten 
Werke  der  Gläubigen,  als  man  mit  der  gemina  praedestinatio  factisch 
die  augustinische  Gnadenlehre  entfernte. 

Gottschalk  starb,  unversöhnlich  und  unversöhnt,  im  Kerker  (868), 
an  der  praedestinatio  ad  mortem  festhaltend,  die  er  in  einem  so 
„irrigen  Sinn"  verstand,  dass  er  sie  nicht  i)roisgab,  wie  Bemigius  das 
gcthan  zu  haben  scheint.    Die  Entpuppung  und  den  Sturz  seines  Tod- 


'  Mansi  XV  p.  529.  Hcfcle  S.  200. 

*  Die  wcitschwcifif(c  cp.  synodalis  bei  Mausi  XV  p.  563,  He  feie  S.  217  fl'. 
Die  praedcHtinatiü  ad  mortem  iöt  nicht  erwähnt. 


270       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

feindes  Hinkmar  als  Antichrist  —  dieses  grossen   Paradigmas    der 
praedestinatio  ad  mortem  —  hat  er  vergebens  prophezeit '. 

IL  Der  Streit  über  das  filioque  und  über  die  Bilder. 

Durch  die  Stellung,  welche  die  Kirche  des  Frankenreichs  im  adop- 
tianischen  wie  im  Prädestinations-Streit  eingenommen  hat,  identificirte 
sie  sich,  höhere  Eigenthünilichkeiten  preisgebend,  mit  dem  vulgär- 
Kirchlichen,  wie  es  Konstantinopel  und  Rom  vertraten.  Die  Theo- 
logie, welche  sie  von  Augustin  geerbt  hat,  setzte  sie  in  eine  Eccle- 
siastik  um,  wie  sie  in  jenen  Hauptkirchen  längst  herrschte.  Aber  in 
zwei  Lehren  hielt  der  Westen  damals  seine  Eigenart  gegenüber  dem 
Orient  noch  zäh  fest,  in  der  Behauptung  des  filioque  und  in  der  Ver- 
werfung der  Bilder.  Ueber  Beides  ist  im  2.  Bande  (S.  291  ff.  452  ff.) 
schon  gehandelt  worden;  daher  sei  nur  Weniges  hinzugefügt. 

In  dem  Streit  über  das  filioque  erkennt  man,  wenn  man  es  nicht 
schon  so  wüsste,  noch  einmal  sehr  deutlich,  dass  auch  für  das  Abend- 
land —  s.  das  Athanasianum  -  —  Trinitätslehre  und  Christologie  das 
Dogma  und  die  kirchliche  Rechtsordnung  zar'  e^o'/vjv  waren.  Das  aus 
der  augustinischen  Theologie  stammende  filioque  war  aus  Spanien  — 
man  weiss  über  die  Art  des  Uebergangs  nichts  Näheres  —  in  das 
Frankenreich  gekommen.  Man  war  gewiss,  dass  es  zum  Symbol  ge- 
höre, und  hat  diese  Ueberzeugung  schon  auf  der  Synode  zu  Gen- 
tilly  (767)  ausgesprochen  ^.  Die  gelehrten  Theologen  KarFs  bestärkten 
dieselbe,  wie  Alcuin's  Schrift  de  processione  spiritus  sancti  und  die 
libri  Carolini  beweisen  *.  Provocirt  wurde  eine  öffentliche  Action  durch 
schwere  Unbill,   welche  abendländische  Mönche  in  Jerusalem  zu  er- 

*  Gottschalk  scheint  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  durch  die  erlittenen 
Misshandlungen  zeitweilig  unzurechnungsfähig  geworden  zu  sein.  Merkwürdig  ist 
der  Streit  mit  Hinkmar  über  den  Ausdruck  „trina  deitas",  den  dieser  nicht  dulden 
wollte  (als  arianisch),  Gottschalk  und  Ratramnus  so  vertheidigten,  dass  sie  dem 
Hinkmar  Sabellianismus  vorwarfen.  Man  kann  vom  Boden  des  Augustinismus  aus 
beide  Formeln  „una  deitas"  und  „trina  deitas"  vertheidigen ;  s.  Hinkmar's  Schrift 
de  una  et  non  trina  deitate  (Migne  CXXV  p.  473:  Schrörs,  Hinkmar  S.  150  ff,), 
in  welcher  bereits  der  Personbegriff  des  Boethius  („rationabilis  naturae  individua 
subsistentia)  eine  Rolle  spielt.  Sehr  gross  war  überhaupt  die  Zahl  der  theologischen 
Probleme,  die  z.  Z.  dieser  Renaissance  der  Theologie  erörtert  wurde,  s.  Schrörs, 
Hinkmar  S.  88  ff.  Aber  die  Fragen  waren  fast  sämmtlich  höchst  speciell  und  subtil, 
wie  sie  wohl  kluge  Kinder  aufwerfen.  Auch  war  die  damalige  Bildung  noch  nicht 
im  Besitze  der  scholastischen  Technik,  um  sie  zu  bearbeiten. 

^  Es  ist  erst  im  karolingischen  Zeitalter  Hauptsymbol  geworden,  ja  hat  erst 
damals  die  letzte  Redaction  erhalten  (?). 

»S.Hefel  eins.  432. 

^  Hefele  ITI  S.  704,  s.  libr.  Carol.  III,  3,  wo  an  Tarasius  getadelt  wird,  er 
lehre,  der  hl.  Geist  gehe  ex  patre  per  filium  aus,  statt  ex  filio. 


Das  filioque  und  die  Bilder.  271 

leiden  hatten,  weil  sie  dem  „Gloria  patri"  in  der  Liturgie  das  „sicut 
erat  in  principio",  dem  „Grloria  in  excelsis"  das  „tu  solus  altissimus" 
und  dem  „a  patre"  im  Symbol  das  „filioque"  beisetzten.  Sie  klagten 
beim  Papst,  der  sich  an  den  Kaiser  wandte.  Dieser  beauftragte  den 
Theodulf  von  Orleans  mit  Abfassung  einer  Schrift  de  spiritu  sancto 
und  Hess  auf  der  Synode  zu  Aachen  809  beschliessen,  dass  das  filioque 
ins  Symbol  gehöre  ^  Der  Papst  aber,  der  diesen  Beschluss  biUigen 
sollte,  nahm  noch  Rücksicht  auf  den  Orient  und  erlaubte  die  Auf- 
nahme nicht,  obgleich  er  der  Lehre  zustimmte.  Selbst  die  Vorstellung 
der  Franken,  das  fiHoque  sei  zum  Seelenheil  nothwendig,  bewegte 
ihn  nicht  ^.  So  dauerte  es  noch  bis  zum  grossen  Streit  unter  Pho- 
tius,  bis  das  filioque  das  symboUsche  Stichwort  im  ganzen  Abendland 
wurde  ^.  Die  wertloseste  Formel  des  Augustinismus,  einst  empfohlen 
durch  den  Gegensatz  gegen  den  Arianismus,  ist  somit  im  Abendland 
conservirt  worden. 

Wurde  in  diesem  Streit  des  Westens  mit  dem  Osten  jener  ur- 
sprünglich nur  lau  von  Rom  unterstützt,  welches  noch  halbbyzantinisch 
war,  so  stellte  sich  der  Papst  im  orientalischen  Bilderstreit  vollends 
auf  die  Seite  der  orientahschen  frommen  Theologen  und  gerieth  damit 
in  eine  Spannung  zur  fränkischen  Theologie,  resp.  zu  den  civilisato- 
rischen  Bestrebungen  Karl's  I.  Die  Haltung  jener  Theologie  in  dem 
grossen  Kampfe  ist  für  die  üebergangszeit,  in  der  sie  sich  befand, 
höchst  charakteristisch.  Das  ihr  durch  Augustin  eingepflanzte  inner- 
liche Element  reagirte  in  der  Christologie  und  der  Vorstellung  von 
der  Messe  nicht  mehr  gegen  das  mystisch  Superstitöse  und  magisch 


»Hefele  III,  750-755. 

2  S.  Mansi  XIV  p.  18  sq.  Sehr  wichtig  ist,  dass  der  Papst  gegen  das  letzt- 
genannte Argument  der  Franken  einwendet,  auch  andere  Punkte  seien  für  das 
»Seelenheil  nothwendig  und  trotzdem  seien  sie  nicht  in  das  Symbol  aufgenommen 
worden,  da  dieses  schlechthin  keine  Veränderung  erleiden  dürfe.  Hiermit  ist  also 
(gegen  die  Meinung  des  Orients)  behauptet,  dass  das  Symbol  nicht  Alles 
umfasse,  was  zur  Seligkeit  gehört.  Der  Papst  sagt  (p.  20):  „Vcrumtamen, 
quaesü,  responde  mihi:  Num  universahuiusmodi  fidei  mystica  saci'amenta,  quae  sym- 
bolo  non  continentur,  sine  quibus  quisque,  qui  ad  hoc  pertingere  potest,  catholicus 
esse  non  potest,  symbolis  inserenda  et  proj)ter  compendium  minus  intellegentium, 
ut  cuifjue  libuerit,  addenda  sunt?"  D(!r  Papst  machte  ül)rigens  auch  bei  der  Unter- 
redung mit  den  fiänkischen  missi  in  sehr  bcmerkenswerther  Weise  den  Gedanken 
geltend,  dass  nicht  alle  Bildungsstufen  dieselbe  Stellung  zum  Dogma  haben  könnten, 
für  die  Einen  also  wichtig  sei,  was  es  für  Andere  nicht  ist. 

"  Die  päpstlichen  Legaten  in  Konstantiiiopel  880  habon  noch  das  Symbol  ohne 
filioque  unterschrieben,  lieber  Johann  VllF.  s.  Hc^fele  IV  S.  482.  Das  Franken- 
n;ich  nahm  an  dem  Streit  in  jener  Zeit  den  lebhaftesten  Antheil;  aber  die  Begrün- 
dung der  eigenen  Ansicht  ist  stets  dieselbe  gewesen. 


272       Geschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

Sacramentale.  Es  wurde  von  der  mächtigeren  byzantinisch-römischen 
Strömung  verschlungen.  Allein  bis  zur  orientalischen  Bilder  Ver- 
ehrung konnte  man  sich  noch  nicht  aufschwingen  '.  Man  machte 
bei  der  Hostie  Halt.  Gegen  die  Bilderverehrung  reagirte  ein  spiri- 
tuelles, augustinisches  Element,  aber  zugleich  war  hier  —  so  paradox 
dies  klingt  —  der  tiefere  Stand  der  dogmatischen  Bildung  wirksam. 
Zwar  scheint  bei  oberflächlicher  Betrachtung  der,  welcher  die  Ver- 
ehrung der  Bilder  ablehnt,  stets  der  höher  Gebildete  zu  sein ;  allein 
das  gilt  doch  nur  unter  Voraussetzungen,  die  damals  nicht  bestanden. 
War  man  einmal,  wie  dies  im  fränkischen  Reich  geschehen  war,  in 
den  Zauberkreis  der  byzantinischen  Christus-  und  Cultusmystik  ein- 
getreten, dann  war  es  lediglich  das  Zeichen  eines  auf  dieser  Basis 
noch  nicht  vollständig  entwickelten  religiösen  Glaubens,  bei  der  Hostie 
Halt  zu  machen  und  den  Reichthum  zu  verschmälien,  den  die  Bilder 
dem  theologischen  Denken  und  der  frommen  Phantasie  boten.  Der 
Orient  und  Rom  machten  sich  ihre  Christologie  in  den  Bildern  leben- 
dig und  sahen  das  vergangene  Mysterium  so  in  beständiger  Gegen- 
wart. Wie  konnte  ein  Glaube  das  missen,  der  bereits  auf  den  Sinnen- 
genuss  des  Himmlischen  gestimmt  war  und  im  Reliquienkultus  schwamm? 
Aber  man  war  im  Westen  in  der  dogmatischen  Bildung  noch  zurück, 
man  hatte  die  Bildertheos ophie  noch  nicht  gelernt,  und  —  was  das 
Wichtigste  war  —  man  besass  nur  wenige  Bilder. 

Dass  die  Synode  von  Gentilly  (767)  in  Betreff  der  Bilderver- 
ehrung eine  dem  Papst  genehme  Erklärung  gegeben  habe,  wird  zwar 
behauptet  ^,  ist  aber  nicht  zweifellos  sicher.  Auf  der  Frankfurter  Synode 
(794)  wurde  die  Bestimmung  des  7.  ökumenischen  Concils,  welches 
„das  servitium  und  die  adoratio"  für  die  Bilder  verlangt,  einmüthig  ver- 
worfen (allerdings  besass  man  die  Beschlüsse  des  Concils  nur  in  einer 
sehr  schlechten  Uebersetzung)  ^.  Nach  Rom  hatte  man  vorher  „ca- 
pita  quaedam"  gegen  die  Bilderverehrung  geschickt,  die  ein  Auszug 
(85  Capp.)  aus  den  hbri  CaroHni  waren,  die  wohl  Alcuin  kurz  zuvor 
auf  Befehl  Karl's  verfasst  hat  (gegen  das  7.  Concil)  '*.  Hier  ist  sowohl 
die  Bilderstürmerei  als  thöricht  und  frech,  aber  noch  mehr  die  Bilder- 
anbetung verboten.  Man  soll  Bilder  haben  —  zum  Schmuck  und  zur 
Erinnerung  (s.  Gregor  I.  ep.  VII,  111  :  „idcirco  pictura  in  ecclesiis 
adhibetur,  ut  hi,  qui  litteras  nesciunt,  saltem  in  parietibus  videndo 
legant,   quae  legere  in  codicibus  non  valent",   und  dazu  libr.  Carol. 

'  Das  gilt  von  dem  gebildeten  und  damals  führenden  Theil  des  Klerus. 
''HefelelllS.  433. 
»MansiXIIIp.  909. 
*MigneIIC  p.  999  sq. 


Die  Bilder.  273 

praef. :  „imagines  in  ornamentis  ecclesiarum  et  memoria  rerum  gesta- 
rum  habentes  et  solum  deum  adorantes  et  eins  sanctis  opportunam 
venerationem  exhibentes  nee  cum  illis  frangimus  nee  cum  istis  ado- 
ramus")  — j  aber  nicht  anbeten.  Mit  grosser  Weitschweifigkeit  wird 
dann  die  Bilderverehrung  widerlegt  und  die  Beizählung  einer  7.  Ökume- 
nischen Synode  zu  den  sechs  verworfen;  beide  Synoden  (von  754  und 
787)  seien  „infames"  und  „ineptissimae".  Man  hat  einen  Beweis  der 
karolingischen  „Aufklärung"  in  diesen  Büchern  sehen  wollen  ^^  aber 
die  Aufklärung  reichte  doch  nur  so  weit,  als  die  Unkenntniss  der  Bilder- 
theosophie,  das  mangelnde  Verständniss  für  die  subtilen  Unterschiede 
der  Xarpsia  und  TrpoazovTjatc;  und  das  civilisatorische  Bestreben  des  Kö- 
nigs reichten.  Was  aus  den  Büchern  wirklich  spricht,  ist  das  Selbst- 
und  Kraftgefühl  der  fränkischen  Kirche,  welches  mit  jugendlicher 
Unverschämtheit  hervorbricht,  die  ältere  und  weisere  Schwester  scha- 
denfroh des  Irrthums  überführt  und  den  unmündigen  byzantinischen 
Kaiser  und  die  Regentin  geradezu  in  Anklagezustand  versetzt,  vom 
Papste  ein  förmliches  Processverfahren  verlangend.  Diese  Bücher 
zeigen  schon,  dass  der  romanische  Westen  und  der  Orient  nicht  mehr 
zusammengehen  können,  weil  jener  die  Führung  übernehmen  will; 
sie  zeigen  auch  noch  eine  Spur  des  augustinischen  Spirituahsmus,  aber 
sie  dürfen,  wenn  man  weiss,  was  damals  im  Frankenreich  sonst  für 
heilig  gehalten  wurde,  nicht  als  Beweis  dafür  genommen  werden,  dass 
man  im  Westen  aufgeklärter  war  als  im  Osten  ^.  Der  Papst  Hadrian 
widerlegte  die  Capitel  ^^  aber  hütete  sich,  die  Differenz  aufzubauschen. 
Unter  Ludwig  dem  Frommen  hat  sich  eine  durch  eine  Gesandtschaft  Mi- 
chael des  Stammlers  angeregte  Synode  zu  Paris  (825)  scharf  gegen  den 
bilderverehrenden  Papst  ausgesprochen  und  die  Linie  der  libri  Caro- 
lini  streng  innegehalten:  man  darf  Bilder  aufstellen  pro  amoris  pii 
memoria,  als  Schmuck  und  —  vor  Allem  —  für  die  Ungebildeten, 
aber  man  darf  sie  nicht  anbeten  und  kann  daher  die  Aufstellung  auch 
lassen  '*.  In  praxi  ging  Ludwig  strenger  gegen  die  Bilderverehrung 
vor  als  Karl  •'.    Der  Papst  Eugen  TT.   hüllte  sich  in  Schweigen ;  ja 

»  Reuter,  a.  a.  0. 1  S.  10  ff. 

*  Die  kräftigsten  Vertreter  des  augustinischen  Spiritualismus  waren  Claudius 
von  Turin  und  Agobard;  s.  über  sie  Reuter  I  S.  16  ff.  Man  wundert  sich  mit 
Recht,  dass  es  Claudius  nicht  schlimmer  ergangen  ist.  Aus  dem  Studium  Augustin's 
ist  ihm  wie  Agobard  der  Contrast  zwischen  dem  vcräusserlichten,  superstitiosen 
Christenthum  der  Gegenwart  und  dem  idealen  Bilde  des  Katholicismus  aufgegangen, 
wie  es  in  d(^m  grossen  A  frikaner  Gestalt  gewonnen  hatte. 

»  Mansi  XIII  p.  759.  "  Mansi  XIV  p.  415  sq.  Hefele  IV,  38  ff. 

'  S.  die  Mission  des  Claudius  in  Olicritalien,  wo  es  zum  Bildersturm  kam  und 
der  Bilderdienst  als  Idololatrie  bezeichnet  wurde. 

narnack,  DoKrnongrjschichtfj  III.  ]g 


274       (Tescliiclito  (los  Dog^maa  in  der  Zoit  dor  karolingisohen  Renaissance. 

noch  im  Jahre  863  hat  eine  Lateransynode  zwar  die  Bilderverehrung 
in  vorsichtigen  Worten  anerkannt,  aber  vom  7.  ökumenischen  Concil 
geschwiegen".  Erst  seit  der  Zeit  der  8.  allgemeinen  Synode  (869) 
wird  die  J>ilderverehrung  und  die  7.  Synode  von  787  allmiildich  an- 
erkannt". Doch  sind  die  karolingischen  Theologen  noch  am  Schluss 
des  Zeitalters  der  Bilderverehrung  feindlich.  Hinkmar,  der  ein  uns 
niclit  mehr  erhaltenes  AVerk  „über  die  Verehrung  der  Bilder  des 
Erlösers  und  der  Heiligen"  geschrieben  hat'',  will  sie  nur  als  Unter- 
richtsmittel (resp.  zum  Schmuck)  gelten  lassen,  und  derselben  Meinung 
sind  Agobard  *,  Jonas  von  Orleans^,  Walafrid  Strabo^  und  Aeneas 
von  Paris  ^.  Hinkmar  nennt  auch  das  Concil  von  787  eine  Pseudo- 
synode,  wie  denn  alle  fränkischen  Stimmen,  die  aus  dem  9.  Jahr- 
hundert bekannt  sind,  noch  immer  nur  6  ConciHen  zählen.  Selbst  das 
(8.)  Concil  von  869  wurde  von  Hinkmar  zunächst  nicht  anerkannt. 
Erst  als  die  fränkisch-deutsche  Kirche  nach  dem  saeculum  obscurum 
wieder  Licht  sah,  sah  sie  auch  das  7.  und  8.  Concil.  Doch  hat  im 
9.  Jahrhundert  die  Differenz  mit  dem  Papst  über  die  Bilder  dem 
Ansehen  des  letzteren  kaum  Abbruch  getlian.  Dieses  war  eben  noch 
nicht  so  hoch  und  so  empfindlich  ausgebildet,  dass  solche  Erschütte- 
rungen es  zu  Fall  bringen  konnten^.  Die  Bilderverehrung  hat  sich 
dort,  wo  nicht  die  Antike  geherrscht  hat,  nie  vollkommen  einzubürgern 
vermocht.  Ln  Abendland  ist  auch  heute  noch  Italien  das  klassische 
Land  der  Bilderverehrung.  Während  aber  im  Orient  die  Bilderver- 
ehrung Ausdruck  des  religiösen  Glaubens  und  der  Beligionsphilosophie 
selbst  ist,  weil  die  Entfaltung  der  Christologie,  gehören  im  Abend- 
land die  Bilder  in  das  System  der  Fürbitter  und  Nothhelfer. 
In  praxi  freilich  hat  sich  der  Unterschied  ziemlich  verwischt. 


1  Man si  XV  p.  178.  244.  XVI  p.  106.  Hefele  IV  p.  272. 

^  Aber  bereits  war  der  Streit  zwischen  Rom  und  Byzanz  acut  geworden,  die 
Kluft  unübersteiglich,  so  dass  das  Abendland  keinen  Antheil  an  der  grossen  Re- 
naissance der  Wissenschaften,  welche  Byzanz  seit  Photius  bis  zum  Anfang  des 
10.  Jahrhunderts  erlebt  hat,  nehmen  konnte. 

«S.  Schrörs,  a.  a.  0.  S.  163. 

■*  Contra  eorum  superstitionem,  qui  ])icturis  et  imaginibus  sanctorum  adora- 
tionis  obsequium  deferendum  putant.  Migne  CIV  p.  199, 

"  De  cultu  imaginum  1.  IIL  Migne  CVI  p.  305. 

®  De  eccles.  rerum  exordiis.  Migne  CXIV  p.  927. 

'  Lib.  adv.  Graec.  Migne  CXXI  p.  685  sq. 

^  Ueber  das  Ansehen  des  Stuhles  Petri  selbst  bei  Hinkmar  s.  Schrörs,  a.  a. 
O.  S.  165  f.  Aber  wenn  man  vom  Papst  sprach,  dachte  man  nicht  immer  an  den 
Primat  (der  übrigens  keine  Regierungsgewalt  in  anderen  Diöcesen  einschloss),  son- 
dern auch  an  die  römische  Kirche.  Sie  ist  die  , Ernährerin  und  Lehrerin"  aller 
Kirchen  (Hinkmar). 


Die  Messe  und  die  Abendmahlslehre.  275 

III.  Die  Fortbildung  der  Praxis   und  Theorie  der  Messe  (des 
Abendmahlsdogmas)  und  der  Busse. 

Drei  Momente  wirkten  zusammen,  um  im  Abendland  im  karolin- 
gischen  Zeitalter  eine  Fortbildung  der  Theorie  vom  Abendmahl  zu  be- 
wirken. Erstlich  der  Einfluss  von  Byzanz,  wo  der  Bilderstreit  die 
Bilderverehrer  dazu  geführt  hatte,  die  Vorstellung  des  Bil  des  von  den 
geheiligten  Elementen  fernzuhalten,  um  das  Sacrament  und  die  Bilder 
nicht  identificiren  zu  müssen  und  so  dem  grossen  Mysterium  die  Einzig- 
artigkeit zu  raubend  Zweitens  die  Praxis  der  eigenen  Kirche.  War 
doch  der  Messgottesdienst  der  Mittelpunkt  des  ganzen  Christenthums, 
das  Centrum,  auf  das  sich  Alles  bezog  und  von  dem  alles  Heilbringende 
für  den  getauften  Christen  ausfloss.  Lebte  man  aber  überhaupt  als 
Christ  in  einem  System  der  "Wunderkräfte  und  Mysterien,  war  das  Mirakel 
in  der  Gegenwart  und  noch  mehr  in  den  Berichten  aus  der  Vergangen- 
heit etwas  Alltägliches  ^,  so  musste  der  heilige  Vollzag  im  Abendmahl 
als  Wunder  der  Wunder  ausgestaltet  werden,  um  nicht  seine  Bedeu- 
tung neben  hundert  Mirakeln  gemeinen  Schlags  einzubüssen^.  Drit- 
tens kommt  hier  die  Theologie  und  Christologie  in  Betracht.  Je  stärker 
an  dem  Gottesbegriff  der  Zug  hervortrat,  dass  Gott,  weil  der  Allmäch- 
tige, die  geheimnissvolle  Willkür  sei,  je  unsicherer  die  Erkenntniss 
Gottes  in  Christo  und  die  Erkenntniss  nach  dem  Massstabe  der  sitt- 
lichen Heiligkeit  wurde,  um  so  fester  klammerte  man  sich  an  die  Insti- 
tutionen der  Kirche  als  dem  einzig  Offenbaren  und  suchte  in  ihnen 
den  verborgenen  Gott  zu  erfassen,  d.  h.  im  Mysterium  und  im  Mirakel. 
Ferner,  je  mehr  sich  der  historische  Christus  in  ein  Licht  verlor,  da 


'  Ueljer  dieEntwickelung  der  Mysterien  und  des  Abendmahls  in  der  griechischen 
Kirche  s.  Bd.  II  S.  413  ff.  426  ff.  Joh.  Damascenus  (de  fide  orth.  IV,  13)  hat  ausdrück- 
lich erklärt:  o'r/.  Izzi  rnnoc;  o  äpzoqxoh  ouiixoLxoq,  äXX'  o.hxb  xb  oü)}j.a  xob  xuptou  tet^-soo- 
jjivov.  Nachdem  die  Synode  von  7.54  (Mansi  XTTI  p.  261  sq.)  die  consecrirten  Ele- 
mente Typen  und  Bilder  genannt  hatte,  erklärte  die  2. nicänische Synode  von  787  (I.e. 
p.  26.5)  ausdrücklich,  dass  sie  das  nicht  seien,  da  weder  die  Apostel  noch  die  Väter 
sie  so  genannt  hätten;  durch  die  Consecration  würden  sie  vielmehr  ahxb  adjjjia  v.a\ 
OL'jxb  ol^i.fß..  Dennoch  ist  bekanntlich  die  Transsubstantiation  im  abendländischen 
Sinn  streng  genommen  von  den  Griechen  nicht  gelehrt  worden. 

'S.  Reuter  IS.  24  ff.  41  ff. 

''  Man  sehe,  wie  Hijikmar  die  Ordalien,  auf  die  freilich  schon  Augustin  grosses 
(lewicht  gelegt  hatte,  bcnrtheili  (S(;hrörs  S.  190  ff.),  nämlich  als  in  der  Schrift  ein- 
gesetzte Sacramente,  die  mit  den  Taufceremonien  auf  einer  Stufe;  stehen,  um  zu 
erkennen,  dass  das  Abendmahl  eine  l)esondere  Hervorhebung  ])edurfte.  Hinkmar 
stand  mit  dieser  Schätzung  des  Reinigungseides  und  der  Uottesurtheile  nicht  allein 
(h.  Rozir're,  Recufil  g.'nr'ral  des  fonnulcs.  Paris,  1859  n.  DLXXXT--DCXX V; 
p.  70  wird  die  Ceremonie  als  christiana(!  religionis  officium  bezeichnet),  sondern 
Agobard,  der  sie  bekämpfte,  stand  ziemHch  allein-,  s.  Reuter  I  S.  32  ff. 

18* 


276       Geschichte  des  Do^as  in  der  Zeit  der  karoHngischen  Renaissance. 

Niemand  zukommen  kann,  je  entschlossener  die  fromme  8peculation, 
um  recht  fromm  zu  sein,  in  ihm  nur  den  Gott  erkannte,  der  die  menscli- 
liche  Physis  seiner  Fülle  hinzugefügt  hat  (s.  den  adoptianischen  Streit), 
um  so  mehr  sah  man  sich  darauf  angewiesen,  Christum  nicht  im  ge- 
schichtlichen Bilde  und  im  Wort,  sondern  dort  zu  suchen,  wo  das  Ge- 
heimniss  seiner  Menschwerdung  und  seines  Todes  gegenwärtig  und 
fassbar  ist  K 


*  Die  Controversen  de  partu  virginis  (Bach  I S.  152  ff.;  s.  Ratramnus,  Hher  de 
eo,  quod  Cliristus  ex  virgine  natus  est;  Radbertus,  Oj)iiscuhim  de  partu  virginis, 
d'Achery  Spicil.  I  p.  52.  44)  zeugen  noch  bosser  als  der  adoptianische  Streit,  welch' 
einer  Christologie  die  Gemeinde-  und  Mönchsfrömmigkeit  huldigte.  Ratramnus  be- 
zeichnet es  als  Gift  der  alten  Schlange,  dass  in  Germanien  Einige  leugnen,  Christus 
sei  auf  natürlichem  Wege  aus  dem  Schoss  der  Maria  hervorgegangen,  denn  damit 
sei  die  AVahrheit  der  Geburt  Christi  aufgehoben,  obgleich  auch  er  die  ewige 
Jungfrau  Schaft  der  Maria  anerkenntunddenpartus  clause  utero  lehrt: 
„clausa  patuit  dominanti".  Radbert  dagegen  tröstet,  ohne  dem  Ratramnus  zu  ant- 
worten, einige  Nonnen,  die  durch  die  vermeinte  Leugnung  der  Jungfrauschaft 
der  Maria  beunruhigt  waren,  damit,  die  Kirche  halte  bestimmt  an  dem  „clauso 
utero"  fest;  denn  sei  Christus  auf  dem  natürlichen  Wege  ans  Licht  gekommen,  so 
wäre  er  wie  ein  gewöhnlicher  Mensch  gewesen;  an  der  Incarnation  sei  aber  Alles 
wunderbar.  Wer  Christus  nicht  clauso  utero  geboren  sein  lasse,  stellt  ihn  unter  das 
gewöhnliche  Gesetz  der  Natur,  also  der  sündigen  Natur,  und  dann  war  Christus 
nicht  süudenfrei.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  Gelehrten  besteht  also  lediglich 
darin,  dass  Ratramnus  behauptete,  der  natürliche  Geburtsvorgang  sei  durch  ein 
Wunder  clauso  utero  zu  Stande  gekommen,  Radbert  dagegen  lehrte,  die  Geburt 
sei  ein  übernatürlicher  Vorgang  gewesen,  und  Christus  habe  die  Mutter  auf  anderem 
AVege  verlassen  als  die  Kinder  sonst.  Radbert  ist  auch  hier  der  Consequente ;  Ra- 
tramnus sucht  Natürliches  und  Uebernatürliches  zu  vereinigen.  Radbertus  zeigt  bei 
seinen  seltsamen  Belehrungen  der  Klosterfräulein  wenigstens  nicht  die  Lüsternheit 
des  Hieronymus,  der  der  Vater  dieser  gynäkologischen  Phantasien  ist,  und  die  Nonnen 
mögen  diese  Frage  sehr  ernst  genommen  haben,  so  ernst  wie  einst  Marcion  und 
Augustin,  weil  sie  in  allem  Geschlechtlichen  den  Heerd  der  Sünde  erkannten.  Die 
spätere  Scholastik  hat  dann  den  Ruhm,  den  partus  clauso  utero  aus  der  Raumfreiheit 
des  Leibes  Christi  wissenschaftlich  begründet  zu  haben.  Waren  nun  schon  über  den 
Leib  des  historischen  Christus  so  wunderbare  Vorstellungen  verbreitet,  galt  er  mit 
einemWort  an  sich  schon  als  ein  pneumatischer,  so  war  er  eben  damit  ein  s a c r a - 
mentaler  (mysteriöser).  Dann  aber  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  die  Identifi- 
cirung  mit  jenem  sacramentalen  (mysteriösen)  Leibe,  der  in  dem  Abendmahl  ge- 
opfert wurde,  endlich  vollzogen  wurde.  Die  von  dem  Incarnationsdogma  und  die  von 
dem  Abendmahl  her  gezogenen  Linien  mussten  endlich  convergiren.  Dass  das  nicht 
früher  geschah,  lag,  abgesehen  von  dem  materiellen  Hinderniss,  welches  der  Augu- 
stinismus mit  seinen  nüchternen  Vorstellungen  von  dem  historischen  Christus  als  wirk- 
lichen homobot,  an  formellen  Schwierigkeitendes  überlieferten  Sprachgebrauchs  (der 
sacramentale  Leib  ist  figura  corporis  Christi).  Diese  mussten  weggeräumt  werden. 
Sehr  richtig  bemerkt  Bach  (I  S.  156):  „Der  Grund  der  gegenwärtigen  Missvei*- 
ständnisse  der  alten  Abendmahlsstreitigkeiten  liegt  in  der  Verkennung  des  auch 
für  die  Sprache  der  Theologie  geltenden  Gesetzes  der  Sprachenbilduug,  beziehungs- 


Die  Messe  und  die  Abendmahlslehre.  277 

Die  Wirksamkeit  dieser  vereinigten  Elemente  erfuhr  allerdings  bei 
Beda  und  in  den  ersten  Decennien  des  karolingischen  Zeitalters  eine 
höchst  bedeutende  Hemmung  durch  das  aufblühende  Studium  Augustin's, 
der  über  das  Abendmahl  spiritual istisch  gelehrt  hat.  Die  Theologen 
Karl'S;  resp.  Karl  selbst,  haben  sich  häufig  ganz  augustinisch  über  das 
Abendmahl  ausgedrückt.  Allein  schon  bei  ihnen  finden  sich  Schwankun- 
gen ^j  und  gegen  Ende  des  Zeitalters  Ludwigs  des  Frommen  konnte 
es  Paschasius  Radbertus  als  Lehre  aussprechen,  was  längst  die  Meisten 
so  empfanden,  dass  in  der  Messe  der  wirkliche  (historische)  Leib  Christi 
geopfert  und  im  Abendmahl  genossen  werde  ^. 


weise  der  allmählichen  Umdeutung  der  theologischen  Worte,  selbst 
wenn  sie  schon  ihrer  äusserlichen  Wortform  nach  zu  fixen  Begriffen 
d.i.  ter  mini  technici  geworden  sind."  Das,  was  hier  der  katholische  Dogmen- 
historiker unbefangen  einräumt,  wird  bekanntlich  von  lutherischen  Theologen  nicht 
zugestanden.  Haben  wir  doch  in  dem  Streit  unserer  Tage  die  wunderliche  Losung 
hören  müssen,  man  solle  den  Worten  ihren  ursprünglichen  Sinn  zurückgeben. 
Als  ob  irgend  Jemand  noch  den  alten  Prägestock  besässe ! 

*  Ganz  augustinisch  lehrte  Beda  („in  redemptionis  memoriam"  „corporis  san- 
guinisque  sacramentum"  „ad  corpus  Christi  mystice  refertur"  „ spiritualiter  intelle- 
gite"  „non  hoc  corpus,  quod  videtis  —  Christus  inquit  —  manducaturi  estis,  sacra- 
mentum aHquod  vobis  commendavi,  sj^iritualiter  intellectum  vivificabit  vos"  „lavat 
nos  a  peccatis  nostris  quotidie  in  sanguine  suo,  cum  beatae  passionis  ad  altare  me- 
moria replicatur,  cum  panis  et  vini  creatura  in  sacramentum  carnis  et  sanguinis 
eins  ineffabili  spiritus  sanctificatione  transfertur") ;  Stellen  bei  Munter  (D. -Gesch. 
n,  1  [1834]  S.  223  f.).  Man  sieht  aber  nun,  wie  die  Auffassung  sich  schrittweise  bis 
zur  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  gewandelt  hat.  Alcuin  wiederholt  die  Sätze  seines 
Lehrers;  allein  theils  der  Gegensatz  zum  Concil  von  754  (de  impio  imag.  cultu  IV, 
14:  „non  sanguinis  et  corporis  dominici  mysterium  imago  iam  nunc  dicendum  est, 
sed  veritas ,  non  umbra,  sed  corpus"),  theils  die  Beschäftigung  mit  der  griechischen 
Christologie  und  die  Anempfindung  an  die  kirchliche  Praxis  führten  ihn  schon  zu 
Sätzen  wie  diesen  (ep.  36):  „profer  nomen  amici  tui  eo  tempore  opportune,  quo 
panem  et  vinum  in  substantiam  corporis  et  sanguinis  Christi  consecraveris".  Richtig 
bemerkt  Munter  (a.  a.  0.),  dass  dies  noch  nicht  gleichbedeutend  sei  mit  „in  sub- 
stantiam corporis  convertere";  aber  es  kommt  ihm  doch  nahe.  Der  allgemeine 
Sacramentsbogriff  ist  bei  Isidor,  Rabanus  Maurus,  Ratramnus  und  Paschasius  Rad- 
bcrtus  völlig  identisch  und  so  ganz  nach  Augustiu  gebildet,  dass  man  auf  die  streng 
realistische  Wendung  in  der  Abendmahlslehre  von  hier  aus  nicht  gefasst  ist. 

'''  S.  Radberti  lib.  de  corp.  et  sang,  domini  (831),  neue  Ausgabe  mit  einer  ep. 
ad  Carolum  13  Jahre  später  (Migne  CXX  p.  1267).  Steitz  in  der  R.-Eiicykl.  XII 
p.474.  Rückcrt  i.  Hilgenfeld's  Ztschr.  1858.  Bach  I  S.  156 ff.  Reuter  I  S.  41  ff. 
Choisy,  Paschase  Radbert,  Geneve  1888.  Hausher,  Der  hl.  Paschasius  1862.  Ge- 
schichte der  Abendmahlsichre  von  Dieckhoff  S.  13 ff.  Ebrard,  Kahnis  u. s.w. 
Ebert,  Gesch.  d.  Lit.  des  Mittelalters  IL  Mabillon,  im  2.  u.  3.  Th.  der  Bene- 
dictinerannalen.  Ratramnus'  Werk  (de  corpore  et  sanguine  domini  ad  Carolum) 
bei  Migne  CXXI  x^.  125.  Köhler,  Rabanus' Streit  mit  Paschasius,  i.  Hilgenfeld's 
Ztschr.  1879  S.  116  ff. 


278       Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karoliagischeu  Renaissance. 

Paschasius  Radbertus  ist  vielleicht  der  gelehrteste  und  tüchtigste 
Theologe  nach  Alcuin  gewesen,  ein  Mann,  ebenso  bewandert  in  der 
griechischen  Theologie  wie  heimisch  im  Augusiinismus,  ein  umfassender 
Geist,  der  den  lebendigsten  Drang  empfand,  Theorie  und  Praxis  in  Ein- 
klang zu  bringen  und  zugleich  Alles,  was  die  kirchliche  Ueberlieferung 
bisher  über  das  Abendmaid  gelehrt  hatte,  zu  verwerthen  ^  Sein  grosses 
Werk  über  das  Abendmahl  ist  die  erste  kirchliche  Mono- 
graphie über  diesen  Gegenstand.  Der  Inhalt  desselben  ist  ein- 
seitig beschrieben,  wenn  er  auf  die  Formel  gebracht  wird:  Paschasius 
lehrte  die  Transsubstantiation^.  Vielmehr  liegt  die  Bedeutung  des 
Buchs  darin,  dass  hier  das  Abendmahl  hi  erschöpfender  Weise  unter 
allen  möglichen  Gesichtspunkten  behandelt  und  doch  eine  EinheitHch- 
keit  hergestellt  ist.  Paschasius  hat  in  Bezug  auf  dies  Dogma  geleistet, 
was  Origenes  einst  für  die  ganze  Dogmatik  geleistet  hat;  er  ist  der 
Origenes  der  katholischen  Abendmahlslehre,  die  durch  ihn  als  Theorie 
in  den  Mittelpunkt  gestellt  wurde,  den  sie  als  Praxis  längst  schon  be- 
hauptete. Man  kann  Paschasius'  Lehre  nur  würdigen,  wenn  man  im 
Auge  behält,  dass  an  ihr  die  griechische  christologische  Mystik,  der 
augustinische  Spiritualismus  und  —  dem  Urheber  selbst  unbewusst  — 
die  fränkische  Kirchenpraxis  den  gleichen  Antheil  haben.  Aber  auch 
daran  muss  man  sich  erinnern,  dass  der  Begriff  Gottes  als  der  imer- 
gründlichen  Allmacht,  d.  h.  der  Willkür,  der  herrschende  war.  Ohne 
diesen  Gottesbegriff  wäre  es  nie  zur  Transsubstantiationslehre  ge- 
kommen ^. 

Zunächst  hat  Paschasius  die  augustinische  Lehre  aufs  kräftigste 
ausgeprägt,  nicht  als  ein  ihm  Fremdes,  sondern  als  ein  innerlich  Ange- 
eignetes *.    Das  Sacrament  ist  eine  geistliche  Speise  für  den  Glauben, 


*  Bedeutend  ist  auch  Radbert's  AVerk  de  fide,  spe  et  caritate,  weil  es  mehr 
Sinn  für  die  Auffassung  der  Religionslehrc  als  eines  Ganzen  zeigt,  als  mau  in  dieser 
Zeit  erwartet. 

''*  Choisy  sucht  zu  zeigen,  dass  Paschasius  der  Vater  des  katholischen  Dogmas 
sogar  bis  zur  mauducatio  iufidelium  gewesen,  und  dass  die  spirituelle  Ausprägung  des 
Abendmahlsdogmas  bei  ihm  nur  Schein  ist,  sofern  letztlich  Alles  vom  groben  Rea- 
lismus beherrscht  sei. 

^  Man  vgl.  die  höchst  charakteristische  Einleitung  Radbert's  zu  seiner  Schrift : 
er  handelt  von  dem  allmächtigen  Willen  Gottes  als  Grund  aller  Naturvorgänge. 
Gottes AVillkür  ist  die  letzte  Ursache;  darum  kann  man  seine  Thaten  sowohl  wider- 
natürlich als  natürlich  nennen  (das  Letztere,  weil  auch  der  regelmässige  Verlauf 
der  Dinge  unter  der  göttlichen  Willkür  steht).  Auf  diesen  Gottesbegriff  wird  aus- 
drücklich das  neue  Dogma  begründet.  Bekanntlich  kann  man  aus  ihm  Alles  ableiten, 
die  Prädestination,  die  Accommodation,  die  Transsubstantiation,  u.s.w.  Nach  Rad- 
bert ist  das  Abendmahl  das  Wunder  der  Wunder,  auf  die  alle  Anderen  zielen;  s.  1,  6. 

*  Radbert  polemisirt  ausdrücklich  gegen  die  kapernaitische,  massive  Auf- 


Paschasius  Radbertus.  279 

Christi  Fleisch  essen  heisst  in  Christus  sein  und  bleiben.   Dem  Glauben 
ist  die  Handlung  gegeben,  und  der  Glaube  soll  durch  sie  angeregt  wer- 
den.   Der  Glaube  bezieht  sich  aber  stets  auf  Unsichtbares^  so  kann  auch 
das  Sacrament  seinem  Innersten  nach  nur  von  dem  in  die  unsichtbare 
A\^elt  entrückten  Glauben  empfangen  werden.    Christus,  die  Seele,  der 
Glaube,  der  Himmel,  das  Sacrament  gehören  zusammen  —  das  leibliche 
x4.uge  muss  bei  der  Handlung  überall  von  dem  Sinnlichen  hinweg  auf 
das  dahinter  liegende  Himmlische  sehen.    Darum  ist  das  Mahl  das  Mahl 
der  Heiligen,  der  Erwählten.   Nur  wer  zu  Christus  gehört,  Glied  an 
seinem  Leibe  ist,  geniesst  die  Speise  würdig,  ja  er  allein  geniesst  die 
Glaubensspeise  wirklich.   Die  Ungläubigen  erhalten  das  Sacrament, 
aber  nicht  die  virtus  sacramenti.    Schon  bei  Augustin  aber  ist  die  Unter- 
scheidung zwischen  diesen  beiden  Begriffen  so  getroffen,  dass  virtus 
sacramenti  bald  lediglich  die  Heilswirksamkeit,  bald  das  wunderbare 
Wesen  der  hl.  Speise  selbst  bezeichnet,  so  dass  in  jenem  Fall  ipsum 
sacramentum  die  Totalität  der  Handlung  ohne  die  ihr  entsprechende 
Wirkung,  in  diesem  lediglich  ein  weiter  nicht  definirbares  Objectives 
bedeutet.    Wie  Augustin,  so  bevorzugt  auch  Radbert  die  letztere  Fas- 
sung.   Die  virtus  sacramenti  als  Glaubensspeise  und  Incorporation  in 
den  Leib  Christi  empfängt  nur  der  Gläubige  —  eine  manducatio  infide- 
lium  giebt  es  nicht  — ;  das  Fleisch  Christi  als  Inhalt  des  Sacraments 
ist  ausserhalb  des  Glaubens  nicht  vorhanden.  Der  Ungläubige  empfängt 
zwar  das  Sacrament  (was  das  ist,  ist  undefinirbar),  aber  zum  Gericht; 
denn  ohne  die  virtus  sacramenti  ist  das  Sacrament  ad  iudicium  dam- 
nationis '. 

Neben  diesem  Augustinismus  tritt  bei  der  Schilderung  der  Wir- 
kungen der  hl.  Speise  ein  griechisches  Element  stark  hervor ;  denn  der 


fassung  vom  Genuss  beim  Abendmahl ;  er  ^vill  sich  die  ^robsinnlichen  Vorstellungen 
nicht  aneignen,  wie  sie  in  weitesten  Kreisen  (s.  Bach  I  167  ff.)  verbreitet  waren, 
8.  de  corp.  et  sang,  8,  2.  Expos,  in  Mtth.  1.  XII,  26.  AVirklichkeit  im  gemeinen 
Sinn  ist  für  Radbert  „natura" ;  er  sagt  aber  nie,  dass  die  Elemente  uaturaliter  ver- 
wandelt werden.  Daher  wird  auch  der  Leib  Christi  nicht  verdaut  (20,  2). 

*  8.  bes.  das  8.  Cap.,  al^er  auch  5 — 7.  14.  21.  Durch  das  ganze  Buch  zieht  sich 
diese  geistige  Auffassung,  aufweiche  Stcitz  (a.  a.  O.)  mit  Recht  Gewicht  gelegt 
hat.  AVenn  aber  Radbert  den  im  Abendmahl  präsenten  Leib  geradezu  ein  corpus 
spiritale  nennt,  so  meint  er  das  nicht  im  Gegensatz  zu  naturale,  sondern  zur  niederen, 
an  den  Raum  gebundenen  Leiblichkeit  (caro  humana).  C.  21,  5:  „Non  nisi  electo- 
rum  cibus  est."  6,  2:  „Quid  est,  (juod  manducant  homines?  Ecce  onincs  indifferenter 
quam  saope  sacramenta  ultaris  percipiunt.  l*ercipiunt  plane,  sed  alius  carnem  Christi 
spiritaliter  mauducat  et  sanguinem  bibit,  alius  vero  non,  quamvis  buccellam  de  manu 
sacerdotis  videatur  percipere.  Et  quid  accipit,  cum  una  sit  consecratio,  si 
corpus  et  sang.  Chr.  non  accipit?  Vcre,  quia  rcus  indigne  accipit,  iudicium  sibi 
manducat." 


280       fieschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

höchste  Nachdruck  wird  darauf  gelegt  (neben  der  Incorporation  in 
Christus  und  der  Vergebung  der  leichten  Sünden),  dass  unsere  Seele 
und  unser  Leib  durch  diese  Speise  zur  Unsterblichkeit  genährt 
werden.  Die  Zusammenstellung,  dass  dies  durch  die  Taufe,  das 
Abendmahl  und  die  hl.  Schriften  (c.  1,  4)  geschieht,  ist  abend- 
ländisch; aber  die  dann  nur  beim  Abendmahl  stark  hervorgehobene 
Zweckbeziehung  „ut  etiam  caro  nostra  per  hoc  ad  immortalitatem  et 
incorruptionem  reparetur",  ist  griechisch.  Ja  Radbert  sagt  sogar  um- 
gekehrt: „carni  nostrae  caro  Christi  spiritaliter  conviscerata  transfor- 
matur" '.  Aber  er  ist  nun  mit  den  Griechen  (Cyrill  und  Joh.  Damas- 
cenus)  noch  weiter  gegangen.  Er  hat  von  ihnen  gelernt,  dass,  obgleich 
hier  eine  Handlung  für  den  Glauben  allein  vorliegt,  doch  die  Realität 
des  Leibes  Christi  vorliegt'^.  Diese  Annahme  war  den  Griechen  da- 
durch erleichtert,  ja  geboten,  dass  nach  ihnen  der  historische  Leib  Christi 
vom  Moment  der  Menschwerdung  ab  selbst  pneumatisch  gewesen  ist. 
Obgleich  sie  nun  (Joh.  Damascenus)  die  Gleichung  vollzogen  und  eine 
wirkliche  Präsenz  des  Leibes  Christi  im  Sacrament  annahmen,  so  blieb 
doch  bei  ihnen  ein  geheimes  Schwanken  wach,  weil  sie  über  die  Schwierig- 
keit nicht  hinwegkamen,  der  einmal  in  den  Himmel  aufgenommene 
Leib  kehre  von  dort  nicht  wieder  zurück.  Daher  überUessen  sie  die 
Art  des  AVunders  (der  sacramentalen  Transformation  und  Assump- 
tion)  dem  „Geheimniss".  Hier  setzte  nun  Radbert,  zugleich  bestimmt 
durch  die  vulgäre  Anschauung  und  die  Gewissheit  des  Rechts  der  kirch- 
lichen Praxis,  ein.  Er  spricht  es  zum  ersten  Mal  in  der  Kirche 
ohne  Schwanken  aus:  der  sacramentale  Leib  ist  der  von 
Maria  geborene,  und  zwar  geschieht  das  durch  eine  Ver- 
wandelung,  die  nur  das  Sinnfällige  unverwandelt  lässt.  Das 
ist  ein  Wunder  contra  naturam  (resp.  quasi  contra  naturam;  denn  diese 
beruht  stets  auf  der  voluntas  dei) ;  allein  eben  desshalb  ist  es  zu  glauben, 
denn  man  denkt  über  den  Gott,  der  Alles  kann,  nur  würdig,  w^enn  man 
ihn  als  die  Macht  der  Mirakel  anerkennt.  Was  er  hier  thut,  ist  wunder- 
bares Schaffen,  bewirkt,  wie  immer,  durch  das  Wort,  hier  durch  das 
Einsetzungswort,  ^velches  nicht  der  Priester  spricht,  sondern  welches 
jedesmal  Gott  durch  sein  e\viges  Wort  (Christus)  spricht,  so  dass  der 
Priester  nur  die  Aufforderung  an  Gott  ergehen  lässt.  Diese  jedesmahge 
Schöpfimg  Gottes  steht  in  genauester  Pai^allele  zur  Menschwerdung. 


*  S.  c.  11  und  19,  1 :  „Non  sicut  quidam  volunt  anima  sola  hoc  mysterio  pas- 
citur,  quia  non  sola  redimitur  morte  Christi  et  salvatur,  verum  etiam  et  caro  nostra 
etc.  etc."  „nos  per  hoc  in  incorruptionem  transformamur"  (also  wie  bei  Justin); 
derselbe  Gedanke  schon  1,  4.  6. 

^  „Spiritale"  und  „verum"  schliessen  sich  also  nicht  aus. 


Paschasius  Radbertus.  .  281 

Dem  hl.  Geist  entspricht  das  Wort  Christi ,  dem  Schoss  der  Jungfrau 
die  Elemente,  der  Effect  ist  derselbe.  Der  sacramentale  Leib  ist  der 
historische^  natürlich  auch  der  historisch-verklärte ;  denn  auf  dem  Stand- 
punkt Cyrill's  ist  die  Verklärung  des  Leibes  in  resurrectione  doch  nur 
die  M  anif  e  s  t  at  i  0  n  der  Eigenschaften,  welche  der  Leib  stets  besessen 
hat  ^  Zur  Erklärung  des  Auffallenden,  dass  sich  die  Verwandelung 
nicht  sinnenfälhg  vollzieht,  hat  Radbert  schon  eine  Reihe  von  Gründen 
zur  Hand  (es  wäre  unnöthig,  anstössig^,  geschähe  übrigens  doch  manch- 
mal) ^.  Der  wichtigste  ist,  dass  —  die  Handlung  ein  Mysterium  bleiben 
muss,  welches  eben  nur  dem  Glauben  gegeben  ist.  Auf  diese  Wendung 
ist  man  am  wenigsten  vorbereitet,  und  doch  ist  sie  dem  Radbert  sehr 
wichtig.  Das  Abendmahl  setzt  sich  stets  den  Glauben  voraus  und  will 
den  vorhandenen  anregen,  zum  unverhüllten  Christus,  der  nicht  tägUch 
geopfert  wird,  vorzudringen.  Daher  kann  das  Sacrament  kein  offenes 
Wunder  sein,  sondern  ist  ein  verhülltes  Wunder.  Desshalb  muss  man 
aber  auch  die  Elemente,  sofern  sie  nicht  sinnenfällig  verwandelt  sind 
(Farbe,  Geruch,  Geschmack  bleiben),  als  Symbole  des  Leibes  Christi 
betrachten,  von  denen  aus  der  Glaube  zu  dem  geheimnissvoll,  aber  wirk- 


^  C.  1,  2:  ^NuUus  moveatur  de  hoc  corpore  Christi  et  sanguine,  quod  in 
mysterio  vera  sit  caro  et  verus  sit  sanguis,  dum  sie  voluit  ille  qui 
creavit:  omnia  enim  quaecumque  voluit  fecit  in  caelo  et  in  terra,  et  quia  voluit, 
licet  in  figura  panis  et  vini,  haec  sie  esse,  omnino  nihil  aliud  quam  caro  Christi  et 
sanguis  post  consecrationem  credenda  sunt.  Unde  ipsa  veritas  ad  discipulos :  Haec, 
inquit,  caro  mea  est  pro  mundi  vita,  et  ut  mirabilius  loquar,  non  alia  plane 
quam  quae  nata  est  de  Maria  et  passa  in  cruce  et  resurrexit  de  sepulcro."  Dazu 
7,  2:  „corpus  quod  natum  est  de  Maria  virgine  .  .  .  resurrexit  a  mortuis,  penetravit 
coelos  et  nunc  pontifex  factus  in  aeternum  quotidie  interpellat  pro 
nobis."  12,  1:  „ubi  catholica  fide  hoc  mysterium  celebratur,  nihil  a  bono  malus 
nihilque  a  malo  minus  percipi  sacerdote,  nihilque  aliud  quam  caro  Christi  et  sanguis, 
dum  catholice  consccratur,  quia  non  in  merito  consecrantis  sedinverbo 
efficitur  creatoris  et  virtute  spiritus  s.,  ut  caro  Chr.  et  sanguis,  non  alia 
quam  quae  de  spiritu  s.  creata  est,  vera  fide  credatur  et  spiritali  intellegentia  degu- 
stetur  .  .  .  Christus  est  qui  per  s.  s.  hanc  suam  cfficit  camem."  cf.  15, 1:  „non 
aestimandum  est,  quod  alterius  verbis,  quod  uUius  alterius  meritis,  quod  potestate 
alicuius  ista  fiant,  sed  verbo  creatoris,  quo  cuncta  creata  sunt."  8,  2:  „Substantia 
panis  et  vini  in  Christi  carncm  etsanguinem  efficaciter  interius  commutatur." 
2,  2:  „Sensibilis  res  intellegibiliter  virtute  dei  per  verbum  Christi  in  carnem  ipsius 
divinitus  transfertur." 

*  8.  c.  10  und  13  und  besonders  4,  1 :  „quia  Christum  vorari  fas  dentibus  non 
est,  voluit  in  mysterio  hunc  panem  et  virium  vere  carnem  suam  et  sanguinem  con- 
sccrationc  sjjiritus  s.  ijotentialiter  (i.  c.  efficaciter)  creari,  creando  vero  quotidie  pro 
mundi  vita  mystico  immolari." 

"  8.  c.  14;  dazu  Bach  IS.  168  ff.  Ein  Lamm  oder  wirkliches  Blut  oder  das 
Christkind  erscheint. 


282       Geschichte  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karolingischeu  Renaissance. 

lieh  geschaftenen  Heilsgut  vordringt.  JJer  sin  neu  fällige  Schein 
der  consecrirtcn  Elemente  ist  dasHymbol  desLeibesChristi, 
das  Wesen  derselben  ist  der  wahrhaftige  historische  Leib 
selbst'. 

Man  sieht  leicht,  dass  in  dieser  AVendung  die  Brücke  zur  au- 
gustinischen  Anschauung  zurück  gefunden  ist.  Paschasius  wollte  eben 
in  seiner  Abcndniahlslehre  Beides  vereinigen  und  hat  es  vereinigt :  die 
augustinische  These,  die  Sacraniente  sind  dem  Glauben  gegeben  und 
Alles  wird  in  ihnen  geistlich  gehandelt,  und  die  griechische  These,  die 
ihm  auch  durch  den  Buchstaben  der  Schrift,  durch  die  Väter  und  durch 
einige  Mirakel  empfohlen  schien,  dass  es  sich  um  eine  vor  allem 
Glauben  bestehende  Realität  handle,  da  nur  der  w^ahrhaftige  Leib 
und  das  wirklich  vergossene  Blut  des  historischen  Christus  uns  er- 
lösen können,  und  da  wir  der  körperlichen  Einwohnung  Christi 
bedürfen.  Beiden  Erwägungen  schien  durch  die  Annahme  gedient, 
dass  es  sich  um  eine  mirakulöse  Schöpfung  des  Leibes 
Christi  in  den  Elementen  handle,  die  aber  so  bewirkt 
werde,  dass  nur  der  Glaube  sich  von  dem  noch  bestehen- 
den Schein,  der  blossen  figura  corporis,  zu  der  Er- 
fassung der  himmlischen  Realität  zu  erheben  vermag. 

Die  voluminösen  Bücher,  welche  nachmals  Katholiken  und  Luthe- 
raner über  das  Abendmahl  geschrieben  haben,  beweisen,  dass  die 
Theorie  Radbert's  eine  Perspective  auf  hundert  Fragen  eröffnete,  die 
er  nicht  gelöst,  ja  nicht  einmal  aufgeworfen  hat.  Wie  er  den 
Priester  bei  dem  Sacrament  behandelt  hat,  erschien  ungenügend; 
seine  kurzen  Ausführungen    über  das  Geschaffenwerden  des  Leibes 


^  Hier  spricht  Radbert  wie  Ratramnus;  s.  1,  5:  „visu  corporeo  et  giistii  prop- 
terea  uon  demutautur,  quatenus  fides  exerceatur  ad  iustitiam."  13,  1.  2:  „quod 
colorem  aut  saporem  carnis  minime  pi'aebet,  'virtus  tarnen  fidei  et  intellegeutiae, 
quae  nihil  de  Christo  dnbitat,  totum  illud  spiritaliter  sapit  et  degustat ....  Sic  debuit 
hoc  mysterium  temperari,  ut  et  arcana  secretorum  celarentur  infidis  etmeritum 
cresceret  de  virtute  fidei  et  nihil  deesset  intcrius  vere  credentibus  promissae  veri- 
tatis."  Ja  die  Verhüllung  ist  Anreizung  zu  höherem  Streben  (wie  bei  den  Griechen) : 
.,insuper  et  quod  malus  est  per  haec  secrctius  praestita  ad  illam  tenderent  speciem 
satietatis,  ubi  iam  non  pro  peccatis  nostris  quotidie  Christus  im- 
molabitur,  sed  satietate  manifestationis  eins  sine  ulla  corruptione  omnes  sine  tiue 
fruemur."  (Man  glaubt  Origenes  oder  Gregor  von  Nyssa  hier  zu  hören).  Ueber  figura 
und  veritas  s.  4,  1 :  „. . .  ut,  sicut  de  virgiue  per  spiritum  vera  caro  sine  coitu  creatur, 
ita  per  euudem  ex  substantia  panis  ac  vini  mystice  idem  Christi 
corpus  et  sanguis  consecretur  .  .  .  .  figura  videtur  esse  cum  frangitur,  dum 
in  specie  visibili  aliud  intelligitur  quam  quod  visu  carnis  et  gustu  sentitur. 
Veritas  appellatur,  dum  corpus  Christi  et  sanguis  virtute  spiritus  iu  verbo  ipsius 
ex  panis  vinique  substantia  efficitur." 


Paschasius  Radbertus.   Ratramnus/  283 

gaben  noch  keine  Sicherheit  über  die  Identität  des  himmhschen  und 
des  sacramentalen  Christus;  die  Verhältnissbestimmung  des  nicht 
convertirten  Sinnenfälhgen  zu  dem  Couvertirten  fehlte  noch;  als  man 
sie  begann,  musste  dem  gebildeten  Theologen  dabei  nicht  weniger  als 
die  ganze  Philosophie  einfallen ;  das  Recht  der  symbolischen  Be- 
trachtung musste  abgegrenzt  und  damit  sacramentum,  symbolum, 
virtus,  res  und  wiederum  die  abgestuften  und  doch  identischen  Leiber 
Christi  (der  historische  auf  Erden,  der  verklärte  im  Himmel,  der 
sacramentale  auf  Erden,  der  Leib  als  Kirche  im  Himmel  und  auf 
Erden)  als  ein  ineinander  laufendes  Geschiebe  gleichsam  geologisch 
bestimmt  werden.  „Ein  Abgrund  rief  hier  den  anderen";  indem  in 
der  Folgezeit  die  verständigsten  Menschen  diesem  Kufen  Gehör 
schenkten  und  dabei  sonst  verständig  blieben,  bewiesen  sie,  dass  die 
absurdesten  Speculationen  auf  dem  Gebiet  der  Religion  die  ganze 
Vernunft  nicht  nothwendig  krank  machen  ^. 

Aber  das  Merkwürdigste  an  der  grundlegenden  Theorie  Rad- 
bert's  ist,  dass  er  auf  die  Messe,  ja  auf  den  Kreuzestod  Christi  nicht 
in  erster  Linie  Rücksicht  genommen,  resp.  die  Consequenzen,  die 
sich  nun  ergaben,  nicht  sämmtlich  gezogen  hat.  Radbert  ist  nicht 
der  Theologe  der  katholischen  Messe.  Incarnation  und  Abend- 
mahl hängen  für  ihn,  wie  es  scheint,  inniger  zusammen,  als  der  Opfer - 
tod  Christi  und  das  Abendmahlsdogma.  Hierin  zeigt  sich,  dass 
Radbert  Schüler  der  Griechen  gewesen  ist,  dass  er  wirklich  Theologe 
war  und  sein  Interesse  nicht  primär  an  dem  kirchlichen  Bussinstitut 
und  an  den  mit  ihm  verbundenen  Messgottesdiensten  hing 2. 

Nur  Rabanus  ^  und  Ratramnus  haben  ihm  widersprochen.  Der 
Widerspruch  ist,  logisch  genommen,  so  unklar,  wie  in  dem  Streit 
de  partu  virginis.  AVie  dort  Ratramnus  lehrte,  das  Natürliche  ist 
durch  ein  Wunder  geschehen,  Radbert  dagegen,  es  ist  etwas  Wider- 
natürliches geschehen,  so  lehrten  auch  hier  Rabanus  und  vor  Allem 
Ratramnus,  das  äusserliche  Mirakel  (contra  naturam),  dass  im  Abend- 
mahl der  geborene,  gestorbene  und  auferstandene  Leib  mitgetheilt 
werde,  finde  nicht  statt,  wohl  aber  werde  der  wahre  Leib  durch  die 

*  Die  Lehre  vou  der  wahrliaftigon  Conversion  der  Elemente  im  Abendland 
ist  als  Import  aus  dem  Morj^cnland  zu  betrachten  und  hängt  mit  der  antiadoptiaui- 
scheu  Wondung  der  Christologie  eng  zusammen.  Aber  erst  im  Abendland  hat  sich 
dann  das  juristische  Denken  und  die  Dialektik  auf  diesen  Gegenstand  geworfen  und 
eine  complicirte,  niemals  abgeschlossene  Lehre  von  unendlichem  Umfang  erzeugt. 

^  Nicht  ])rimär;  denn  er  denkt  allerdings  mehr  als  einmal  in  seinem  Werk 
an  die  Messe  und  zieht  die  Consequenz  des  täglichen  Opfers  des  Leibes  Christi  pro 
peccatis;  s.  L3,  2;  4,  1  u.  a.  a.  St. 

'  Ep.  ad  Eigil.    Migne  CXII  p.  1510. 


284       Cieschichte  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karoliugischen  Renaissance. 

Consecration  des  hl.  Geistes  potentialiter  (wirksam)  j]jeschaffen,  je- 
doch in  mysterio  K  AiisführUch  geht  llatraniniis  auf  das  Prohlem 
ein,  welches  ihm  sein  König  gestellt  hat,  oh  das,  was  mit  dem  Munde 
der  Gläuhigen  genonnnen  werde,  im  Mysterium  oder  in  Wirkhchkeit 
Ijeih  Christi  sei.  Er  formulirt  selbst  aus  der  Frage  des  Königs  zwei 
Fragen,  ob  der  kultische  Genuss  des  Leibes  Christi  eine  Handlung 
in  mysterio  oder  in  veritate  sei,  und  ob  der  sacramentale  Leib  mit 
dem  geschichtlichen  identisch  sei,  der  jetzt  zur  Rechten  des  Vaters 
ist''*.  Er  antwortet  auf  die  zweite  Frage,  dass  das,  was  consecrirt 
auf  dem  Altare  liegt,  keineswegs  jener  geschichtliche  Leib  ist,  son- 
dern nur  das  Mysterium  des  Leibes,  wie  auch  das  Mysterium  der 
Gemeinde.  In  Bezug  auf  den  geschiclitlichen  Leib  sind  die  con- 
secrirten  Elemente  also  nur  figura,  daher  Erinnerungsmittel  für  dieses 
irdische  Leben,  da  wir  noch  nicht  schauen  können,  was  wir  glauben  ^. 

*  Ratramiius  und  Rabanus  stehen  sich  näher,  als  man  das  landläufig  annimmt  •, 
aber  Bach  (I  S.  191  ff.)  irrt,  wenn  er  nach  dem  Vorgang  anderer  Katholiken  durch 
Interpretation  des  Sprachgebrauchs  des  Ratramnus  diesen  gut  katholisch  machen 
will.  Auch  nach  Ratramnus  findet  ein  AVunder  statt;  aber  nicht  das  AVunder, 
welches  den  Leib,  den  Christus  als  Person  an  sich  trägt,  herbeizaubert. 

'^  S.  den  Eingang  der  Schrift. 

'  Unter  Anknüpfung  an  Ambrosius  schreibt  erc.  75  sq:  „De  carne  Christi  quae 
crucifixa  et  sepulta  est,  ait,  »Vera  utique  caro  Christi  est«.  At  de  illo  quod  sumitur 
in  sacramento  dicit,  » Verae  carnis  iUius  sacramentum  est«,  distinguenssacramentum 
carnis  a  veritate  carnis.  Veritas  carnis  quam  sumpsit  de  virgine ;  quod  vero  nunc 
agitur  in  ecclesia  mysterium,  verae  illius  carnis  .  ,  .  sacramentum  .  .  .  non  est  specie 
caro,  sed  sacramentum,  siquidem  in  specie  panis  est,  in  sacramento  vero  verum 
Christi  corpus  .  .  .  (elementa)  secundum  quod  spirituaHter  vitae  substantiam  sub- 
ministrant  corpus  et  sanguis  Christi  sunt.  Illud  vero  corpus,  in  quo  semel 
passus  est  Christus,  non  aliam  speciem  praeferebat  quam  in  qua  consistebat; 
hoc  enim  erat  vere  quod  esse  videbatur;  .  .  .  atnunc  sanguis  Christi  quem  credentes 
ebibunt  et  corpus  quod  comedunt,  aliud  sunt  in  specie  et  aliud  in  signi- 
ficati  one ,  aliud  quod  pascunt  corpus  esca  corporea  et  aliud  quod  saginant  mentes 
aeternae  vitae  substantia  .  .  .  aliud  igitur  est,  quod  exterius  geritur,  aliud  item  quod 
per  fidem  capitur;  ad  sensum  corporis  quod  pertinet,  corruptibile  (das  hat  Radbert 
auch  gesagt)  est,  quod  fides  vero  capit,  incorruptibile.  Exterius  igitur  quod  apparet 
non  est  res,  sed  imago  rei,  mente  vero  quod  sentitur  et  intelligitur,  veritas  rei."  Auch 
dem  letzten  Satz  kann  man  einen  radbertischen  Sinn  geben;  allein  diese  Möglich- 
keit hört  auf,  wo  Ratramnus  —  und  das  geschieht  oft  —  die  ganze  Handlung  (und 
ihm  kommt  es  überhaupt  auf  die  Handlung  an)  als  „figura",  „in  figuram  sive 
memoriam  dominicae  mortis"  „repraesentatio  memoriae  dominicae  passionis", 
ferner  als  pignus  bezeichnet  (s.  c.  10.  11.  16:  „figurate  facta";  c.  88:  „corpus  et 
sanguis  quod  in  ecclesia  geritur,  differt  ab  illo  corpore  et  sanguine  quod  in  Christi 
corpore  iam  glorificatum  cognoscitur;  et  hoc  corpus  pignus  est  et  species,  illud  vero 
ipsa  veritas.  Hoc  enim  geretur,  donec  ad  illud  perveniatur;  ubi  vero  ad  illud  per- 
ventum  fuerit  hoc  removebitur".  Sie  hört  vollends  auf,  wo  er  die  permutatio  corpo- 
ralis  strict  ablehnt  und  Alles  auf  ein  Erinnerungsmahl  reducirt;  c.  12:  „et  quomodo 


Ratramnus.  •  285 

Allein  dennoch  erhalten  die  Gläubigen  den  Leib  und  das  Blut 
Christi  bei  dieser  Handlung;  denn  der  Glaube  empfängt  nicht,  was 
er  sieht,  sondern  was  er  glaubt.  Also  ist  in  dem  Abendmahl  für 
den  Glauben  der  Leib  Christi  in  unsichtbarer  Wirklich- 
keit vorhanden  als  wirkliche  Speise  der  Seele  ^  Die  höchst 
unklaren  und  wenigstens  scheinbar  sich  widersprechenden  Sätze  des 
Ratramnus  machen  es  schwer,  seinen  Sinn  richtig  zu  treffen.  Jeden- 
falls hat  er  keine  bloss  symbolische  Auffassung  gelehrt.  Wenn  man 
darauf  achtet,  was  er  vor  Allem  will  und  was  er  nicht  will,  so  wird 
man  am  sichersten  ihm  gerecht  werden.  Yor  Allem  will  er  die  ab- 
solute Nothwendigkeit  des  Glaubens  bei  der  ganzen  Handlung  be- 
tonen und  constatiren,  dass  das  Sacrament  dem  Glauben  gehöre,  für 
ihn  allein  da  sei  u.  s.  w.  ^.  Hierin  trifft  er  vollständig  mit  E-adbert 
zusammen,  der  dasselbe  Interesse  in  gleicher  Stärke  hatte.  Aber  in 
dem,  was  er  nicht  will,  unterscheidet  er  sich  zu  seinem  Yortheil  von 
E-adbert:  er  will,  da  Alles  dem  Glauben  gegeben  ist,  die 
gemeine  Realität  nicht  anerkennen,  weil  ihr  gegenüber  der 
Glaube  und  der  Unglaube  indifferent  sind.  Dem  Ratramnus  ist  veritas 
das  concreto  sinnenfällige  Sein;  eben  darum  sind  ihm  „sub  figura" 
und  „in  veritate"  sich  ausschliessende  Gegensätze.  Der  Glaube  hat 
seine  eigenen  Reahtäten,  die  wirklich  sind,  aber  nur  ihm  aufgehen; 
sie  bezeichnet  Ratramnus  —  missverständUch  —  als  „sub  figura",  weil 
sie  durch  sinnenfällige  Realitäten  abgebildet  werden  resp.,  besser,  hin- 

iam  Christi  corpus  dicitur,  in  quo  nulla  permutatio  facta  cognoscitur?"  c.  15: 
„dicant,  secundum  quod  permutata  sunt-,  corporaliter  namque  nihil  in  eis  cernitur 
esse  permutatum  (hier  entschuldigen  ihn  die  Katholiken  so,  er  habe  die  Conversion 
in  einen  grob  realistischen  Leib  ablehnen  wollen).  Fatebuntur  igitur  necesse  est 
aut  mutata  esse  secundum  aliud  quam  secundam  corpus,  ac  per  hoc  non  esse  hoc 
quod  in  veritate  videntur,  sed  aliud  quod  non  esse  secundum  propriam  essentiam 
cemuntur.  Aut  si  hoc  profiteri  noluerint,  negare  corpus  esse  sanguinemque  Christi, 
quod  nefas  est  non  solum  dicere  verum  etiam  cogitare."  C.  100:  „iste  panis  et 
sanguis  qui  super  altare  ponuntur,  in  figuram  sive  memoriam  dominicac  mortis 
I>onuntur,  ut  quod  gestum  est  in  praeterito,  praesenti  rcvocet  (dominus)  memoriae, 
ut  illius  jjassionis  memores  effecti,  per  cam  efficiamur  divini  muneris  consortes." 

*  C.  101 :  „fides  non  quod  oculus  videt  sed  quod  credit  accipit,  quoniam  spiri- 
tualis  est  esca  et  spiritualis  potus,  spiritualiter  animam  pascens  et  aetcrnac  satietatis 
vitam  tribuons,  sicut  ipso  salvator  mystcrium  hoc  commcndans  loquitur :  Spiritus  est 
(jui  vivificat."  C.  49:  Nach  der  invisibilis  substantia  wird  im  Abendmahl  wahrer 
Leib  Christi  ausgetheilt  und  zwar  weil  die  invisibilis  substantia  gleich  ist  der  poten- 
tia  divini  verbi.   Viele  ähnliche  Stellen  auch  sonst. 

'^  C.  1 1  :  „Nam  si  secundum  quosdam  figurato  hie  nihil  accipitur,  sed  totum  in 
veritate  cons[)icitur,  nihil  hie  fides  operatur,  quoniam  nihil  spiritale 
geritur  .  .  .  nee  iam  mysterium  erit,  in  quo  nihil  secreti,  nihil  abditi 
conti  nebitur." 


28f>       (resohiohte  tlea  Do^masin  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

ter  ihnen  ruhen.  Radhert  dagegen  glaubte^  gerade  als  Augustiner,  ge- 
nüthigt  zu  sein,  veritas  als  Realität  überhaupt  fassen  zu  müssen;  daher 
sind  ihm  „sub  figura"  und  „inveritate"  keine  Gegensätze,  da  die  Inmm- 
lischen  Realitäten  als  irdisch  erscheinende  auch  nach  ihm  sub  figura 
erscheinen  müssen.  Allein  darin  ist  Ratram nus  dem  Rad- 
bert als  CMirist  überlegen ,  dass  er  die  Präsenz  des  Himm- 
lischen im  Irdischen  sich  nicht  als  ein  Mirakel  contra 
naturam  denkt,  d.  h.  einem  anderen  Gottesbegriff  folgt  wie  dieser  '. 
Die  Geheimnisse  des  Glaubens  kommen  zu  Stande,  nicht  durch  ein 
fortwährendes  Durchbrechen  des  Naturzusammenhangs,  sondern  sie 
ruhen  als  eine  vom  hl.  Geist  durch  waltete  Welt  hinter  der  Welt  der 
Erscheinungen,  und  das,  was  im  Abendmahl  geschieht^  fällt  nicht 
durch  ein  besonderes  Mirakel  aus  dem  Wirken,  wie  es  z.  B.  in  der 
Taufe  geschieht,  heraus  (c.  17.  25.  26).  Mit  einem  Wort:  Ratram- 
nus  will  das  Geheimniss  des  Abendmahls  eingeordnet  wissen  in 
die  Weise  der  sonstigen  Heilswirksamkeit  Gottes  durch  Taufe  und 
Wort,  weil  er  als  Augustiner  und  als  Ohrist  vor  dem  brutalen  Mirakel 
eine  Scheu  hat  (Gottesbegriff),  und  weil  er  fürchtet,  dass  sonst  dem 
Glauben  nichts  übrig  bleibe. 

Hierin  besteht  die  Bedeutung  des  Ratramnus.  Aber  es  ist  frag- 
lich, ob  der  gelehrte  König,  für  den  er  geschrieben,  durch  das  Buch 
klüger  geworden  ist ;  denn  nicht  nur  in  der  Terminologie  ist  Ratram- 
nus verworren,  sondern  auch  in  der  Sache,  weil  er  den  Ge- 
danken doch  nicht  aufgeben  will,  dass  die  Wirksamkeit 
des  Sacraments  eine  objective  ist,  woraus  immer  folgt,  dass 
die  Wunderwirksamkeit  nicht  in  die  Empfänger,  sondern  in  die 
Mittel  fällt.  So  finden  sich  denn  auch  zahlreiche  Ausführungen  bei 
ihm,  in  denen  er  wie  Radbert  spricht:  das  Brot  wird  durch  den 
Dienst  des  Priesters  zum  Leib  Christi,  ja  es  wird  verwandelt  '^.  Die 
Parallele,  die  er  durchführen  will,  mit  dem  Taufwasser,  wagt  er  doch 
nicht  consequent  zu  verfolgen;  denn  die  Worte  „Leib  und  Blut 
Christi"  sind  auch  ihm  zu  mächtig.  Sünde  ist  es,  zu  leugnen,  dass 
die  consecrirten  Elemente  Leib  Christi  seien  ^.  So  lässt  sich  der 
Unterschied  zwischen  Radbert  und  Ratramnus  auf  die  Formel  bringen: 
Jener  hat  offen  und  bewusst  den  augustinischen  Spiritualismus  in 
die  realistische  Auffassung  übergeführt  und  das  auf  einen  deutlichen 


^  Ratramnus  denkt  stets  an  den  Gott,  der  den  (xlauhen  erweckt  und  ernährt. 

-  C.  16  wird  eine  commutatio  gelehrt,  „sed  non  eorporaliter  sed  spiritualiter 

facta  est  .  .  .  spiritualiter  sub  velamento  corporei  panis  .  .  .  corpus  et  sanguis  Christi 


existunt." 

8  S.  c.  15. 


Ratramnus.   Die  Messe.  287 

Ausdruck  gebracht,  was  die  Kirche  glaubte.  Dieser  hat  den  vollen 
Spiritualismus  im  Interesse  eines  höheren  Gottesbegriffs  und  im 
Interesse  des  Glaubens  aufrechtzuerhalten  versucht,  war  aber 
nicht  im  Stande,  ihn  rein  durchzuführen,  weil  er  selbst  viel  zu  sehr 
unter  dem  Eindruck  der  Formel  stand.  Er  spricht  desshalb  nur 
dort  klar,  wo  er  das  Mirakel  ablehnt  K  Die  Zukunft  gehörte  dem 
Radbert  ^;  ja  das  Buch  des  Ratramnus  hat,  wie  es  scheint,  nicht  ein- 
mal Aufsehen  erregt,  erlebte  dann  aber  in  der  Folgezeit  bis  heute 
die  seltsamste  Geschichte  ^. 

Die  Lehre,  wie  sie  Radbert  ausgesprochen,  zukünftigen  Gelehrten 
eine  Pandorabüchse  der  Probleme,  war  den  Einfältigen  höchst  ver- 
ständlich. Sicherer  vermag  sich  kein  Dogma  durchzusetzen,  als  wenn 
es  diese  beiden  Eigenschaften  besitzt.  Seine  Anwendung  erhielt  es  vor 
Allem  in  der  Messe.  Der  Gedanke  des  wiederholten  Opfertodes  Christi, 
längst  schon  erdacht,  war  jetzt  ebenso  sichergestellt,  wie  der  der  sich 
wiederholenden  assumptio  carnis.  Was  konnte  nun  noch  an  die  Messe 
heranreichen?  Man  brauchte  den  alten  AVortlaut  der  Messgebete 
nicht  zu  ändern,  die  noch  immer,  wenn  sie  von  dem  Opfer  handelten, 
das  Opfer  des  Lobes  betonten  ;  denn  wer  merkte  auf  die  Worte  ?  Die 
Messe  als  Opferhandlung,  in  der  das  denkbar  Heiligste  Gott  darge- 
bracht wurde,  hatte  aber  ihre  Spitze  schon  lange  nicht  mehr  am  Ge- 
nuss,  sondern  an  dem  sündentilgendcn  und  Ilebel  wegschaffenden  Voll- 
zug. Sie  war  in  das  grosse Entsühnungsinstitut  aufgenommen.  Hierüber 
sind  noch  einige  Bemerkungen  nöthig;  obgleich  dogmatische  Actionen 
nicht  stattgefunden  haben. 

Schon  die  häufige  Wiederholung  der  Messe  (in  einer  und  der- 
selben Kirche)  und  der  blosse  Vollzug  derselben  (ohne  Communication) 
zeigt,  dass  diese  Handlung  nicht  sowohl  auf  die  Gemeinde,  als  auf  Gott 
abzielt:  Gott  soll  besänftigt  werden.  Das  uralte  Element  der 
Commemoration  der  Feiernden  hatte  besonders  seit  den  Tagen  Gre- 
gor's  I.  sich  sclliständig  gemacht  und  die  Communication  gleichsam  in 
eine  zweite  Feier  verwandelt.  Auch  entsprach  die  Praxis,  dass  die 
Laien  zuschauten,  die  Priester  genossen,  die  Laien  nur  passiv  (als 
die,  für  welche  die  Handlung  vollzogen  wurde)  Anthcil  nahmen,  die 
Priester  handelten,  der  zumal  bei  den  gormanischen  Völkern  herrschen- 

*  Ratramnus  hat  die  Elemente  der  Zwin^li'schen  und  Calvin'schen  Lehre.  Dazu 
nimmt  er  in  Bezug  auf  die  unsichtbare  Substanz  die  Identität  des  eucliarirjtischen 
und  hisforifichr^n  Leibes  an  oder  will  sie  doch  nicht  aiifi^e])en. 

''  Er  vertheidigte  sich  ad  Mtth.  26,  20  ^cscliickt  gegen  Ratramnus,  den  er 
übrigens  nicht  nennt. 

»Bach  TS.  191  ff. 


288       Geschichte  des  Doprmas  in  der  Zeit  der  karolingischon  Renaissance. 

den  Anschauung,  dass  die  Laien  Christen  zweiter  Ordnung  seien,  und 
dass  für  sie  der  Abendmahlsgenuss  mit  schweifen  Gefahren  verbunden 
sei.  Die  heilige  Handlung  gehörte  den  Laien,  sofern  sie 
eine  besonders  wirksame  Form  der  Fürbitte  der  Kirche 
zur  Erleichterung  der  Sünden  strafen  darstellte. 

Die  Messe  stand  damit  in  dem  Entsühnungsinstitut  der  Kirche ; 
für  die  Laien  war  aber  die  Kirche  wesentlich  Taufanstalt  und  Institut 
für  die  nach  der  Taufe  nothwendige  Reconciliation.  Um  dieses  und  den 
ungeheuren  Umfang  und  Werth,  welchen  die  Beichtpraxis  im  Abend- 
land genommen  hat,  zu  verstehen,  hat  man  folgende  Momente  ins  Auge 
zu  fassen. 

1 .  Der  herrschende  Gottesbegriff  war  der  der  allmächtigen 
Willkür,  der  Vergeltung  und  der  N  a  c  h  1  a  s  s  u  n  g.  In 
diesen  Vorstellungen  war  Gott  wirklich  für  die  Gegenwart  lebendig, 
und  nach  ihnen  richtete  sich  die  Denkweise  und  Praxis  der  gebildeten 
Theologen  und  der  Laien.  Der  verborgene  Gott  ist  darin  offenbar, 
dass  er  keine  Sünde  ungesühnt  lässt ;  er  ist  aber  desshalb  der  barm- 
herzige Gott,  weil  er  Nachlassungen  gewährt  (durch  Vermittelungen 
himmlischer  Personen  und  der  Kirche),  die  freilich  nicht  aus  dem 
Rahmen,  dass  Alles  gesühnt  oder  bestraft  werden  muss,  herausfallen. 
Dieser  Gottesbegriff  war  bereits  perfect,  als  die  Kirche 
in  das  germanische  Volksleben  eindrang.  Er  ist  also  nicht 
als  germanische  Modification  zu  betrachten,  sondern  als  eine  dem 
lateinischen  Geiste  entsprechende  und  aus  ihm  entsprungene  Auffassung. 
Das  bezeugen  Cyprian  und  Gregor  I.  Aber  wie  dieser  Gottesbegriff 
sich  leicht  mit  germanischen  Rechtsvorstellungen  verbinden  konnte,  so 
war  er  auch  wohl  geeignet,  rohe  Völker  zu  erziehen.  Längst  war  auf 
rein  lateinischem  Boden  festgestellt,  dass  keine  Sünde  nach  der  Taufe 
einfach  vergeben  wird,  sondern  dass  die  paenitentia  legitima,  resp.  die 
satisfactio  congrua,  die  nothwendige  Voraussetzung  der  Nachlassung 
bilde.  Gemäss  dem  strengen  Rechtsbewusstsein  und  Pflichtgefühl,  wel- 
ches die  lateinische  Kirche  vor  der  griechischen  auszeichnete,  wurde  von 
Kirchen  wegen  auf  die  Sünden  der  Kirchenglieder  überhaupt  mehr  ge- 
achtet, und  gemäss  der  Ueberzeugung,  dass  sich  in  den  Sünden  Con- 
tractbrüche  resp.  Beleidigungen  von  grösserer  oder  geringerer  Schwere 
darstellen,  wurde  seit  der  zweiten  Hälfte  des  3.  Jahrhunders  fort  und 
fort  an  der  Codification  der  paenitentia  legitima,  resp.  an  der  JVIass- 
bestimmung  der  Satisfactionen,  gearbeitet.  Das  Alles  geschah  ohne 
germanischen  Einfluss. 

2.  Da  dies  System  ursprünglich  für  die  öffentliche,  vor  der  Ge- 
meinde  zu   leistende  Busse  behufs  Reconciliation  ausgearbeitet    wai* 


Das  Bussinstitut.  •  289 

und  sich  somit  auf  öffentliche  grobe  Sünden  bezog  (für  die  in  der 
Regel  auch  nur  eine  einmahge  Busse  möglich  war),  so  erlitt  dasselbe 
einen  schweren  Stoss,  als  die  ganze  Gesellschaft  christHch  geworden 
war,  die  Obrigkeit  aus  Christen  bestand  und  diese  grobe  Vergehen 
verschiedener  Art  —  auch  solche,  die  der  Staat  früher  nicht  geahndet 
hatte  —  bestrafte.  Im  Orient  brach  das  ganze  alte  Bussinstitut  zu- 
sammen. Auch  im  Occident  hörte  es  nun  in  der  alten  Form  fast 
ganz  auf,  sofern  der  Bereich  der  peccata  publica,  welche  die  Kirche 
allein  bestrafte,  ein  immer  geringerer  wurde  ^.  Allein  in  den  ger- 
manischen Reichen,  wo  die  Kirche  nicht  zur  Kultusanstalt  im  Staat 
herabsank,  sondern  lange  Zeit  als  lateinische  Institution  mit  ihrem 
alten  römischen  Recht  neben  dem  Staat  einherging  und  als  eine  uni- 
versale Macht  die  Völker  erzog,  verzichtete  sie  nicht  auf  ihre  Buss- 
ordnungen, die  zudem  dem  germanischen  Geiste  entgegenkamen.  Aber 
freilich  war  auch  hier  eine  Wandelung  nöthig,  an  der  der  Widerwille 
der  Germanen  gegen  öffenthche  Demüthigungen  vielleicht  ebenso  be- 
theihgt  gewesen  ist,  wie  die  Angst  vor  dem  Fegefeuer  und  die  Ten- 
denz der  Kirche,  die  Ordnungen  ihrer  Mönchskaste  überall  durch- 
zusetzen, resp.  die  Weltgeistlichkeit  und  zuletzt  auch  die  Laien  zu 
monachisiren.  Es  entstand  dadurch  eine  Vertiefung  des  Sündenbe- 
griffs, sofern  an  die  Stelle  der  alten  Todsünden  neue  Sünden,  näm- 
lich die  „Sündenwurzeln"  selbst,  rückten;  aber  es  entstand  insofern 
zugleich  eine  furchtbare  Veräusserlichung  des  Sündenbegriffs,  als  die 
„Satisfactionen",  die  bei  grossen  Thatsünden  erträghcher  sind,  nun 
auch  auf  diese  „Sündenwurzeln"  (Völlerei,  Hurerei,  Habsucht,  Zorn, 
Verstimmung,  Angst  und  Widerwille  des  Herzens,  Aufgeblasenheit, 
Stolz)  Anwendung  fanden.  Vor  Allem  aber  war  das  Eingreifen  der 
Kirche  in  alle  Verhältnisse  des  Privatlebens  hier  die  Folge.  In  einer 
ganz  neuen  Weise  kehrte  das  zurück,  was  einst  in  der  Urzeit  die 
Regel  gewesen  war,  dass  nämlich  das  private  Leben  des  Einzelnen 
unter  der  Controle  der  Kirche  stand.  Allein  dort  war  es  die  Gemeinde 
der  Brüder,  die  wie  eine  Familie  zusammenlebte  und  in  der  Jeder 
das  Gewissen  des  Anderen  war;  hier  beherrschte  ein  Institut  und 
ein  Stand  die  unmündige  Gemeinde,  hielt  sie  wohl  von  dem  Aeussersten 
zurück,  aber  fälschte,  da  man  doch  nicht  im  Stande  war,  das  Leben 
des  Einzelnen  in  der  Masse  wirklich  zu  controliren,  durch  Aufregungen 
und  Beschwichtigungen,  durch  eine  vielfach  raffinirte  Moral  (Fasten- 
und   Ehegesetzgebung)  und  durch   höchst   äusserliche   Satisfactions- 

'  Stralto  der  Staat,  z.  J>.  boi  Mord  und  l)ie))stalil,  so  crgaJxvn  sich  die  kirch- 
lichf'Ti  ConBequenz(!n  in  der  Regel  ohne  Weiteres, 

Hfiinafk,  fJo(<meTi(?ftBchiohff*  III.  jg 


290       Geschiclite  des  Dogmas  iu  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

Vorschriften  die  Gewissen.  Der  llebergang  zur  neuen  Praxis  vollzog 
sich  so,  tlass  die  Laien  selbst  in  steigendem  Masse  die  Fürbitte  der 
Kirche  verlangten  (Messe  lesen,  HeiHgenanrufungen  u.  s.  w.),  da  man 
ihnen  immerfort  gepredigt  hatte,  sie  seien  ein  sündiges  Volk,  welches 
sich  Gott  nicht  nahen  könne  •,  die  Priester  hätten  die  Schlüssel,  und 
die  Fürbitte  der  Kirche  sei  die  wirksamste.  Allein  dass  das  wirk- 
liche Bekenntniss  aller  Sünden  dem  Priester  gegenüber  und  die 
Auflegung  von  Satisfactionen  aller  Art  für  die  Hunderte  von  Ver- 
fehlungen des  Lebens,  dass  mit  einem  Wort  die  Privatbusse  vor 
dem  Priester  die  Regel  wurde,  erklärt  sich  nur  aus  der  allmählichen 
Einbürgerung  der  Mönchspraxis  in  der  Weltkirche.  Begonnen  hat 
die  Sache  in  der  iroschottischen  Kirche,  die  ja  in  eminentem  Sinn 
Mönchskirche  gewesen  ist.  Hier  sind  zuerst  Bussordnungen  (im  Sinne 
der  Privatbusse)  für  die  Laien  aufgestellt  worden,  indem  man  sie  an- 
wies, ihre  Sünden  dem  Priester  ebenso  zu  bekennen,  wie  das  den 
Mönchen  in  den  Klöstern  schon  längst  vorgeschrieben  war.  Von 
Irland  aus  sind  die  Bussbücher  zu  den  Angelsachsen  (Theodor  von 
Canterbury),  zu  den  Franken  und  nach  Born  gekommen;  sie  haben 
sich  nicht  ohne  Widerspruch  durchgesetzt  und  haben,  nachdem  sie 
sich  eingebürgert,  sehr  bald  aufs  neue  Anstoss  gegeben,  da  ihre  An- 
weisungen immer  äusserlicher  und  bedenklicher  wurden.  Der  Praxis 
der  Privatbusse,  die  so  entstand,  hat  man  die  neue  Auffassung  der 
Sünde  und  die  neue  Stellung  zu  derselben,  die  im  Abendland  jetzt 
herrschend  wurde,  zuzuschreiben,  nämlich  die  leichtfertige  und  ab- 
stumpfende Bereitschaft,  mit  der  nun  ein  Jeder  sich  als  einen  Tod- 
sünder bekannte.  Was  innerhalb  des  Mönchthums  erträglicher,  ja  in 
manchen  Fällen  ein  Ausdruck  des  wirklich  geschärften  Gewissens  war, 
ich  meine  die  Bereitschaft,  sich  immerfort  als  Sünder  zu  bekennen 
und  zwischen  Sünde  und  Sünde  nicht  mehr  zu  unterscheiden,  das 
wurde  in  der  Uebertragung  auf  die  Massen  eine  nichtswürdige,  den 
sittlichen  Sinn  ertödtende  Farce.  Man  sündigte  und  man  bekannte 
zuversichtlich  in  Bausch  und  Bogen  der  Sünden  Menge,  um  nur  nicht 
für  irgend  eine  wirkliche  begangene  Sünde  der  wunderbaren  Beihülfe 
der  Kirche  verlustig  zu  gehen.  Wären  die  Menschen  jener  Tage 
nicht  so  naiv  gewesen,  so  wären  sie  bei  diesem  System  schon  damals 
völlig  verheuchelt  worden.  So  aber  wirkte  dasselbe  mehr  wie  eine 
äusserliche  Rechtsordnung  —  ein  Polizeiinstitut,  welches  Uebermuth 
und  Rohheit,  die  Ausbrüche  wilder  Kraft  und  Leidenschaft,  ahndete. 


^  S.  die  Beurtheilung  der  Laien  in  den  gefälschten  Stücken  der  pseudoisi- 
dorischen  Decretalien. 


I 


Das  Bussinstitut.  291 

So  war  es  nicht  gemeint,  aber  das  war  seine  wirkliche  Bedeutung, 
sofern  ihm  eine  gewisse  Heilsamkeit  nicht  abgesprochen  werden  kann. 

3.  Das  Institut  wirkte  bereits  sicher  und  machte  namentlich  im 
späteren  karolingischen  Zeitalter  grosse  Fortschritte,  da  damals  die 
volle  Scheidung  von  Klerus  und  Laien  erst  perfect  wurde  und  zu- 
gleich die  Massnahmen  begannen,  den  Erster en  mönchisch  zu  machen. 
Dennoch  fehlte  die  dogmatische  Theorie  noch  vollständig.  Weder 
stand  es  fest,  dass  der  Priester  allein  Sünden  vergeben  könne  — 
dass  leichte  Sünden  ohne  Priester  durch  Gebet  und  Almosen  getilgt 
würden,  war  allgemein  zugestanden  — ,  noch  war  der  Werth  und 
Erfolg  der  priesterlichen  Vergebung  (ist  sie  exhibitiv  oder  depre- 
catorisch?)  sichergestellt,  noch  war  eine  absolute  Nöthigung  zum 
Bekenntniss  aller  Sünden  vor  dem  Priester  ausgesprochen,  noch  end- 
lich waren  aus  der  Sache  selbst  abgeleitete  feste  Bestimmungen  über 
peccata  mortalia  und  venalia,  über  die  Behandlung  der  peccata  publica 
und  privata  u.  s.  w.  vorhanden.  Das  Alles  ist  erst  viel  später  fest- 
gestellt worden.  Man  sieht  hier  deutlich,  dass  die  kirchhche  Praxis 
nicht  auf  die  Dogmatik  wartet,  ja  dass  sie  ihrer  im  Grunde  gar  nicht 
bedarf,  solange  sie  mit  dem  grossen  Strome  geht.  Die  Kirche  hat 
ein  förmliches  Busssacrament  mit  allen  Finessen  viele  Jahrhunderte 
hindurch  besessen,  während  die  Dogmatik  von  einem  solchen  nichts 
wusste,  sondern  einen  feineren  Faden  spann. 

4.  Die  interessante  Geschichte  des  Anwachsens  der  Satisfactionen 
und  ihrer  Veränderungen  gehört  nicht  hierher.  Ein  Vierfaches  sei 
jedoch  bemerkt:  1)  Zu  den  alten,  mehr  oder  minder  willkürlichen 
Bestimmungen  in  Bezug  auf  Auswahl  (Gebete,  Almosen,  lamentationes, 
zeitweiliger  Ausschluss)  und  Dauer  der  compensirenden  Strafen  traten 
in  steigendem  Masse  Bestimmungen  aus  dem  alttestament- 
lichen  Gesetz  und  aus  germanischen  Rechtsordnungen. 
In  Bezug  auf  die  Anlehnung  an  das  AT.  hat  Karl  der  Grosse 
einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts  gethan.  Damit  aber  trat  die 
Ausmessung  der  Compensationsstrafen  selbst  in  das  Licht 
einer  göttlichen  Ordnung,  und  auch  solche  Bestimmungen  wurden 
nun  in  diese  Beleuchtung  gerückt,  welche  nicht  aus  dem  AT.  ge- 
nommen waren.  2)  Compensationsmittel  ist  die  Bussleistung,  sofern 
sie  an  sich  —  wenn  keine  Sünde  vorangegangen  wäre  —  ein  Ver- 
dienst vor  Gott  begründen,  resp.  ihm  etwas  zuwenden  würde.  Also 
steht  das  ganze  Institut  unter  der  von  Alters  her  an  den  operibus 
et  eleemosynis  liaftenden  Vorstellung  des  Verdienstes.  Ist  aber  die 
Bussleistung  im  Grunde  die  Darbringung  eines  Gutes  (0])fers)  an 
Gott,  welches  ihm  Freude  macht  und  zwar  an  sich  Freude  macht, 

19* 


292       (xeschiclite  des  Dogmas  in  der  Zeit  der  karolingischen  Renaissance. 

SO  wird  sie  wirksamer  werden,  wenn  möglichst  Viele  und  möglichst 
(xute  sich  daran  betheihgen.     Hilft  ein  Heiliger  mit  seiner  Fürbitte 
mit;  so  kann  Gott  im  Grunde  nicht  widerstehen;  denn  die  Leistung 
des  Heiligen  hat  nichts  zu  compensiren,  ist  also  reines  Opfergeschenk 
an  Gott.   Bei  dieser  fürchterlichen  Vorstellung,  nach  der  der  grosse 
Richter  im  Himmel  von  den  Heiligen  nichts  verlangen  kann,  sie  ihm 
aber  Vieles  schenken  können,  erklärt  es  sich,  dass  das  System  der 
Intercessionen  die  wichtigste  Rolle  im  Busssystem  spielen  musste. 
In  traurigster  Verkehrung  des  Glaubensgedankens  über  Christus,  dass 
er  die  Menschen  beim  Vater  vertritt,  wurde  er  selbst  in  dieses  Sy- 
stem liineingezogen,  und  da  nichts  zu  hoch  und  zu  theuer  war,  was 
man  nicht  in  diese  kleinliche  Rechnung  als  Posten  einstellte,  so  wurde 
eben  der  wiederholte  Opfertod  Christi  hier  der  wichtigste  Posten: 
die  Messen  schützen  am  sichersten  vor  den  Sündenstrafen  im  Fege- 
feuer, weil  in  ihnen  Christus  selbst  dem  Vater  dargebracht,  der  un- 
endliche Werth  seines  Leidens  („pretii  copiositas  mysterii  passionis" 
heisst  es  z.  B.  im  vierten  Capitel  der  Synode  von  Chiersey  853)  aufs 
neue  ihm   vorgerückt  wird,  resp.  das  Verdienst  dieses  Leidens  sich 
wiederholt.   Daher  ist  die  Anhäufung  eines  Schatzes  von  Messen  das 
beste  Palliativ  gegen  dieses  Feuer  oder  doch  die  zuverlässigste  Ver- 
kürzung desselben.     3)  Da  die  Bussleistungen  —  in  der  Theorie  war 
stets  die  bussfertige  Gesinnung  vorausgesetzt  —  einen  dinglichen 
Werth  vor  Gott  haben  und  dabei  zum  Theil  gleichwerthig  sind,  so 
können  sie  vertauscht  werden.    Aber  nicht  nur  Gleiches  kann  mit 
Gleichem  vertauscht  werden,  sondern  auch  eine  minderwerthige  Leistung 
kann  für  voll  genommen  werden,  wenn  die  Umstände  die  volle  Leistung 
erschweren  oder  wenn  fremde  Fürbitte  hinzutritt  oder  wenn  das  Ge- 
ringere die  bussfertige  Stimmung  hinreichend  bekundet.   Was  früher 
bei  der  Auflegung  kirchlicher  Bussleistungen,  die  ihr  Ziel  in  der 
Reconcihation  mit  der  Gemeinde  hatten,  wohl  angebracht  war,  dass 
man  nachträghch  die  Busszeiten  und  -w^erke  dem  ei'probten  Büssenden 
verkürzte,  wurde  auf  Gott  angewendet.    Zugleich  erinnerte  man  sich, 
dass  der  strenge  Richter  doch  auch  barmherzig  d.  h.  nachsichtig  sei. 
So    entstand    das  System  der  Nachlassungen,   d.   h.   der  Ver- 
tauschungen und  Ablösungen  ,  resp.  auch  Stellvertretungen. 
Die  letzteren  haben  an  germanischen  Auffassungen  ihren  Ursprung, 
eine  verborgene  Wurzel  aber  doch  schon  in  der  antiken  Zeit.   Auch 
die   Vertauschungen    und    Ablösungen    begegnen    zahlreich    erst  im 
8.  und  9.  Jahrhundert   (das  „Wergeid"    erscheint  in  ihnen  sanctio- 
nirt);  allein  sie  folgen  bereits  aus  dem  antiken  System  und  sind  ge- 
wiss schon  lange  vor  der  karolingischen  Zeit  in  den  Klöstern  geübt 


Das  Bussinstitut.     Die  Messen  und  Ablässe.  293 

worden.    Damit  sind   aber   die  Ablässe  geschaffen,   sobald   nämlich, 
unabhängig  von   den  speciellen  Umständen  des  einzelnen  Falls,   die 
Möglichkeit  der  Yertauschung  zugestanden  und  rechtlich  fixirt  wurde. 
Diese  Commutationen,  die  sich  nur  unter  Widerspruch  durchsetzten, 
haben  das  ganze  System  vollends  veräusserhcht.    Sie  haben  vor  Allem 
die  Kirche  finanziell  interessirt  und  sie,  die  schon  Grossgrundbesitzerin 
war,  zu  einem  Bankhaus  gemacht.    Wie  ärmlich  stand  die  griechische 
Kirche  mit  ihrem  dürftigen    Eeliquien-,   Bilder-  und  Lichterhandel 
neben  der  reichen  Schwester,  die  auf  jede  Seele  Wechsel  zog!  4)  Das 
ganze  System  der  Verdienste  und  Satisfactionen  hat  im  Grunde  keine 
Beziehung  auf  die  Sünden,  sondern  auf  die  Sünden  strafen.     Da 
aber  schliesslich  Alles  diesem  Systeme   diente,   so  wurden  die  Men- 
schen dazu  erzogen,  sich  auf  die  beste,  sicherste  und  billigste  Weise 
den   Sündenstrafen  zu  entziehen.     Das  Element,   welches  scheinbar 
die  Gefahren  dieser  ganzen  Betrachtung  mildert  —  dass  nämlich  die 
Sünde  selbst  ausser  Spiel  bleibt,   da   sie  von  Gott  vergeben  werden 
muss,  der  Busse  und  Glauben  weckt  — ,  hatte  bei   der  Masse   die 
nothwendige  Folge,  dass  sie  überhaupt  an  die  Sünde  wenig  oder  gar 
nicht,  sondern  nur  an  die  Strafe  dachte.    Auch  wenn  sie  schliesslich 
ins  Kloster  gingen  oder  ihre  Habe  den  Armen  schenkten,  thaten  sie 
das  nicht,  weil  sie  mit  Gott  leben,   sondern  weil  sie  seinen  Strafen 
entfliehen  wollten.     Die  Strafe  regierte  die  Welt  und  die  Gewissen. 
Man  hätte  es  nicht  nöthig,  auf  diese  Praxis  innerhalb  der  Dog- 
mengeschichte einzugehen,  wenn  sie  nicht  in  der  Folgezeit  auch  das 
Dogma  sehr  wirksam  bestimmt  hätte.    Sie  hat  den  Augustinismus  von 
Anfang  an  umgebogen   und   ihn  nicht  voll  in  der  Kirche  zur  Herr- 
schaft kommen  lassen;  sie  hat  die  Christologie  schon  zur  Zeit  Gre- 
gor's  I.   beeinflusst,   und   sie  hat    dann   in  der  klassischen  Zeit  des 
Mittelalters   auf  alle  aus  dem  Alterthum   stammenden  Dogmen  ent- 
scheidend eingewirkt  und  neue  geschaffen  ^ 


^  Ucher  die  Geschichte  der  Busse  s.  Steitz ,  Das  römische  Busssacrament  1854. 
Wasserschicben,  Bussordnungen  d.  abend!.  Kirche  1851.  v.  Zezschwitz, 
Beichte,  in  Herzog's  R.-E.^  II,  8.  220  ff.,  System  der  Katcchctik  I  S.  483  ff., 
II,  1  8.  208  ff.  Göbl,  Gesch.  der  Katechese  im  Abendland  1880.  Ferner  über  die 
Gesch.  der  Bussordnungen  Wasser  sohl  eben,  Die  irische  Kanonensammlung  2.  Aufl. 
1885,  unrl  Schmitz,  Die  Bussbücher  und  die  Bussdisciplin  der  Kirche  1883.  Ucber 
den  Versuch  des  Letzteren,  die  Bussordnungen  auf  Rom  zurückzuführen,  s.  Theol. 
Lit.-Ztg.  1883  Col.  614  ff.  Ueber  die  Ausgestaltung  der  Scheidung  von  Klerus  und 
Laien  im  9.  Jahrhundert  und  die  beginnende  Monachisirung  des  Klerus  s.  Hatch, 
Grundlegung  der  Kirchenverfassung  Westeuropas,  übers,  von  Harnaok  1888 
S.  87  f.  98  f.  109  f.  119  f.  Ueber  den  Gottesdienst  und  die  Disciplin  in  der  karol. 
Zeit  8.  Gioseler  II,   1  (1846)  S.  152—170.   Ueber  die  germanische  Gerichtsver- 


294     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Auselm's  imd  Bernhard's. 

Siebentes  Capitel:  Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter 

Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's  bis  zum  Ende 

des  12.  Jahrhunderts. 

Eino  zäh  festgehaltene  Uebcrheferung  berichtet,  in  den  letzten 
Jahren  des  10.  Jahrhunderts  hätten  die  abendländischen  Cln-isten  mit 
Furcht  und  Zittern  den  Weltuntergang  für  das  Jahr  1000  erwartet-, 
eine  Art  von  Reformation,  in  lebendigster  ßethätigung  auf  aUen  Ge- 


fassimg,  Fehde  und  Busse,  Fricdlosigkeit  und  Opfertod  s.  Brunn  er,  Deutsehe 
lleehtsgesch.  I  S.  143  fV.  156  ff.  166  fl'.,  über  das  Personalitätsprineip  und  die  Hohe 
des  Wergeides  und  der  Bussen  a.  a.  0.  S.  261  ff.,  über  das  Personalrecht  des  Klerus 
S.  269  f.,  über  die  Entstehung  des  geschriebenen  Rechts  S.  282  ff.  Ueberschaut  man 
den  Zustand  der  germanischen  Rechtscntwickclung  in  der  Zeit  der  Merovinger  und 
vergleicht  ihn  mit  der  kirchlichen  Bussdisciplin,  wie  sie  sich  bis  zu  Gregor  I.  hin 
auf  lateinischem  Boden  selbständig  ausgebildet  hat,  so  ist  man  erstaunt  darüber,  wie 
leicht  sich  diese  Systeme  ineinander  schieben  lassen  und  wirklich  ineinander  ge- 
schoben haben.  Das  von  der  Kirche  recipirte  römische  Recht  hat  innerhalb  der- 
selben durch  die  Vorstellungen  von  der  communio  der  diesseitigen  Kirche  mit  den 
Heiligen,  von  den  Satisfactionen,  von  den  Verdiensten  und  von  dem  Nachlassungs- 
recht  der  Kirche  gewaltige  Modificationen  erlebt.  Vor  Allem  ist  das  kirchliche 
Strafrecht,  welches  ursprünglich  den  römischen  Gedanken  der  Oeffentlichkeit 
der  Vergehungen  recipirt  und  sie  demgemäss  behandelt  hatte,  immer  mehr  zu  einem 
privaten  Recht  geworden,  d.  h.  die  Vergehungen  gegen  Gott  wurden  als  Beleidi- 
gungen Gottes  (nicht  als  Störung  der  öffentlichen  Ordnung  und  des  heiligen  un- 
verbrüchlichen Gesetzes  Gottes)  betrachtet,  und  demgemäss  trat  der  Gedanke  ein 
und  erhielt  immer  mehr  Spielraum,  dass  sie  gleichsam  wie  Privatklagen  zu  be- 
handeln seien.  Bei  solchen  war  die  Alternative  am  Platze:  entweder  Strafe 
oder  Satisfaction  (Compensation).  In  Bezug  auf  die  Satisfactionen  aber  stellten 
sich  nothwendig  alle  die  Freiheiten  ein,  die  an  diesem  Begriffe  haften,  nämlich  dass 
der  Beleidigte  selbst  oder  die  ihn  vertretende  Kirche  ihre  Höhe  nachsichtig  herab- 
zumindern, sie  zu  vertauschen,  sie  zu  übertragen,  u.  s.w.  vermag.  Wie  leicht  sich  diese 
Betrachtung  mit  der  germanischen  verschmelzen  Hess,  leuchtet  ein.  Nur  ein  paar 
Beispiele :  nach  germanischem  Recht  gilt  der  Satz :  entweder  Friedlosigkeit  oder 
Busse ;  dies  entspricht  dem  kirchlichen  Satz  :  entweder  Excommunication  oder 
satisfactorische  Bussleistungen.  Nach  germanischem  Recht  braucht  die  Rache  nicht 
an  dem  Frevler  selbst  vollzogen  zu  werden,  sondern  an  einem  Gliede  seiner  Sippe,  ja 
es  galt  in  Norwegen  z.  B.  als  die  empfindlichere  Rache,  statt  des  Todtschlägers  den 
besten  Mann  der  Sippe  zu  treffen ;  nach  kirchlicher  Anschauung  bilden  die  Christen 
mit  den  Heiligen  im  Himmel  eine  „Sippe",  und  die  Bussleistung  kann  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  oder  ganz  auf  diese  abgewälzt  werden;  vor  Allem  hat  Christus  durch 
seinen  Tod  im  Voraus  die  Rache  Gottes  an  dem  frevelnden  Geschlecht  seiner 
Brüder  getragen.  Nach  germanischem  Recht  kann  ebenso  die  Compensation,  die 
Zahlung  des  Sühngeldes,  vertheilt  werden ;  nach  kirchlicher  Praxis  intercediren  auf 
Grund  der  Gebete  die  Heiligen  und  bringen  ihre  Verdienste  Gott  dar,  dem  Sünder 
einen  Theil  der  ihm  auferlegten  Busse  abnehmend-,  später  ist  dann  die  Kirche 
geradezu  auch  auf  die  germanische  Ordnung  eingegangen  und  hat  irdische  Freunde, 
Geschlechtsgenossen,  Familienglieder  und  Hörige  die  Busse  mitleisten  lassen,  um  sie 


Einleitung.  .  295 

bieten  der  Religion  sich  ausprägend,  sei  die  Folge  dieser  Erwartung 
gewesen.  Längst  ist  dieser  Bericht  als  eine  Legende  erwiesen;  aber 
es  liegt  ihm,  wie  so  vielen  Legenden,  eine  zutreffende  geschichtliche 
Betrachtung  zu  Grrunde.  Seit  dem  Ende  des  10.  Jahrhunderts  ^  ge- 
wahren wir  wirkHch  die  Anfänge  eines  mächtigen  Aufschwungs  des 
rehgiösen  und  kirchHchen  Lebens.  Dieser  Aufschwung  steigert  sich, 
ohne  bedeutende  Reactionen  zu  erfahren,  bis  zum  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts. In  dieser  Zeit  hat  er  alle  Kräfte  des  mittelalterlichen  Men- 
schen entfesselt  und  sich  untergeordnet.  Alle  Institutionen  der  Ver- 
gangenheit und  Alles,  was  an  neuen  Bildungselementen  hinzutrat,  hat 
er  sich  unterworfen  und  schhesslich  auch  die  feindseligsten  Mächte 
in  seinen  Dienst  genommen  und  zu  seinen  Stützen  gemacht.  Im 
13.  Jahrhundert  erscheint  die  Herrschaft  der  Kirche  und  das  System 
der  mittelalterhchen  Weltanschauung  vollendet  -. 

DieseVollendung  ist  nicht  nur  der  Abschluss  der  mittel- 
alterlichen Kirchengeschichte,  sondern  auch  jener  ge- 
schichtlichen Entwickelung  des  Christenthums,  deren  An- 
fänge bis  in  die  Urgeschichte  desselben  hinaufreichen. 
Betrachtet  man  freilich  das  Christenthum  nur  als  Lehre,  so  erscheint 
das  Mittelalter  fast  wie  ein  Anhang  zur  Geschichte  der  alten  Kirche; 
betrachtet  man  es  aber  als  Leben,  so  muss  man  urtheilen,  dass  das 
alte  Christenthum  erst  in  der  abendländischen  Kirche  des  Mittelalters  zu 
seiner  Vollendung  gekommen  ist.  Im  Alterthum  standen  der  Kirche 
die  Motive,  Massstäbe  und  Vorstellungen  des  antiken  Lebens  als  Schran- 
ken gegenüber.  Sie  hat  diese  Schranken  nie  zu  überwinden  vermocht, 
und  so  ist  es  in  der  Kirche  des  Ostreichs  geblieben:  das  Mönchthum 
steht  neben  ihr;  die  Weltkirche  ist  die  alte  Welt  selbst  mit  christlicher 
Etikette.   Anders  im  Abendland.   Hier  hat  die  Kirche  die  ihr  eigen- 

dem  Thäter  zu  erleichtem.  In  e  i  n  e  r  Hinsicht  aber  hat  die  Kirche  wirklich  mildernd 
und  segensreich  gewirkt.  Sie  hat  die  in  engem  Zusammenhang  mit  der  Friedlosig- 
keit  stehenden  Todesstrafen  ausserordentlich  eingeschränkt.  Sie  waren  ihr  an  sich 
anstössig,  doppelt  austüssig,  wo  sie  auf  (Irurid  eines  uralten  sacralen  Strafrechts  als 
ein  den  Göttern  dargebrachtes  Menschenopfer  betrachtet  wurden  (Brunner 
S.  173 — 177).  Schon  in  der  römischen  Zeit  hat  die  Kirche  in  Gallien  sich  bemüht, 
die  römische  Rechtspflege,  wo  sie  auf  Todesstrafe  erkannte,  zu  mildern ;  sie  hat  das 
in  der  mcrovingischcn  Zeit  mit  Erfolg  fortgesetzt,  so  dass  mehr  und  mehr  Sühn- 
verträge an  ihre  Stelle  traten.  Das  Hauptargument ,  welches  die  Kirche  hier 
brauchte,  war  ohne  Zweifel  dies,  dass  Gott  den  Tod  des  Sünders  nicht  wolle,  und 
dass  Christus  für  Alle  den  Sühn-  und  Opfertod  gestorben  sei.  So  erhielt  der  Tod 
C'hristi  eine  ausserordentliche  Bedeutung.  Er  wurde  die  grosse  Leistung,  deren 
Werth  auch  das  irdische  Strafrecht  milderte. 

^  Ueber  das  10.  Jahrhundert  s.  Reuter,  a.  a.  0.  I  S.  67  ff, 

■''  S.  V.  Eickcn ,  Gesch.  und  System  der  mittelalterlichen  Weltanschauung  1887. 


296     G  eschichte  de«  Dogmas  im  Zeitalter  Cluguy 's,  Aiiselm's  und  ßernhard's. 

thümlichen  Massstäbe  der  mönchischen  Askese  und  der  Beherrschung 
des  Diesseits  durch  das  Jenseits '  viel  sicherer  durchzusetzen  vermocht, 
weil  sie  nicht  eine  alte  Kultur  zu  überwinden  hatte,  sondern  lediglich 
an  den  elementarsten  Mächten  des  menschlichen  Lebens,  der  Lebens- 
lust, dem  Hunger,  der  Liebe  und  der  Habsucht,  ihre  Schranken  fand. 
So  hat  sie  hier  von  den  höchsten  bis  herab  zu  den  tiefsten  Kreisen  eine 
Weltanschauung  verbreiten  können,  die  alle  in  das  Kloster  hätte  treiben 
müssen,  wenn  nicht  jene  elementaren  Mächte  stärker  wären  als  selbst 
die  Furcht  vor  der  Hölle. 

Es  ist  nicht  die  Aufgabe  der  Dogmen geschichte,  zu  zeigen,  wie  die 
mittelalterliche  Weltanschauung  vom  Ende  des  10.  —  denn  hier  hegen 
die  Anfänge  —  bis  zum  13.  Jahrhundert  ausgebaut  worden  ist  und  sich 
durchgesetzt  hat.  Sachlich  würde  man  auch  nicht  viel  Neues  erfahren 
—  denn  der  Gedankeninhalt  ist  der  alte,  wohlbekannte  — ,  neu  ist  nur 
die  Projection  auf  alle  Gebiete  des  Lebens,  die  zusammenfassende  Lei- 
tung in  der  Hand  des  Papstes  und  die  Entwickelung  des  religiösen 
Individualismus.  Aber  bevor  wir  die  theils  wirklich,  theils  scheinbar 
geringen  Veränderungen  schildern,  welche  das  Dogma  bis  zur  Zeit  der 
Bettelorden  erlebt  hat,  ist  es  doch  nöthig,  mit  ein  paar  Strichen  die 
Bedingungen  anzugeben,  unter  welchen  diese  Veränderungen  gestanden 
haben.  Wir  haben  unser  Augenmerk  auf  den  Aufschwung  der  Fröm- 
migkeit, auf  die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts  und  auf 
die  Anfänge  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  zu  richten. 

1.  Der  Aufschwung  der  Frömmigkeit. 

Das  Kloster  von  Clugny,  gestiftet  im  10.  Jahrhundert,  ist  der  Sitz 
der  grossen  Keform  der  Kirche  geworden,  w^elche  das  Abendland  im 
1 1 .  Jahrhundert  erlebt  hat  ^.  Unternommen  von  Mönchen,  wurde  sie  zuerst 
von  frommen  und  klugen  Fürsten  und  Bischöfen,  vor  Allem  von  dem 
Kaiser,  dem  Stellvertreter  Gottes  auf  Erden,  unterstützt  gegenüber  dem 

^  Hierdurch  ergab  sich  eine  neue  Art  von  Weltherrschaft,  die  freilich  der  alten 
sehr  ähnlich  wurde;  denn  man  kann  nur  auf  eine  Weise  herrschen. 

"  Das  Folgende  z.Th.  nach  meinem  Vortrag  über  das  Mönchthum  (3.  Aufl.  1886 
S.  43  ff.).  Das  10.  Jahrhundert  zeigt  zwei  Punkte,  von  denen  die  religiöse  Erhebung 
ausgegangen  ist,  das  Kloster  Clugny  und  die  sächsische  Dynastie.  Man  kann  den 
Einfluss  Mathilde's  nicht  hoch  genug  schätzen.  Er  wirkt  bis  zu  Heinrichll.fort,  jabis 
zum  3.  Heinrich;  s.  Nitzsch,  Gesch.  des  deutschen  Volkes  I  S.  318  f.  Die  kirch- 
liche Stimmung  der  Dynastie  und  der  Geist  asketischer  Frömmigkeit,  wie  er  von  der 
heiligen  Beterin  im  Quedliuburger  Kloster  ausgegangen  ist,  ist  weltgeschichtlich 
von  derselben  Bedeutung  geworden,  wie  das  in  Clugny  reformirte  Mönchthum. 
Man  kann  behaupten,  dass  die  Geschichte  der  mittelalterlichen  germanischeu 
Frömmigkeit  mit  Mathilde  anhebt.  Karl  der  Grosse  ist  noch  in  mancher  Hinsicht 
ein  Christ  wie  Konstantins  un4  Theodosius  gewesen. 


1 


Der  Aufschwung  der  Frömmigkeit.     Das  Mönchthum.  297 

verweltlichten  Papstthum,  bis  sie  der  grosse  Hildebrand  aufgriff  und  sie 
als  Cardinal  und  Nachfolger  Petri  den  Fürsten,  der  verweltlichten 
Geistlichkeit  und  dem  Kaiser  entgegensetzte.  Was  das  Abendland  in 
ihr  erhielt,  war  eine  wirkHche  Reformation  der  Kirche,  nur  keine  evan- 
gelische, sondern  eine  katholische.  Was  waren  die  Ziele  dieser  neuen 
Bewegung,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  die  ganze 
Kirche  ergriff?  Zunächst  und  vor  Allem  Wiederherstellung  der  „alten" 
Zucht,  der  wahren  Weltentsagung  und  Frömmigkeit  in  den  Klöstern 
selbst,  sodann  aber  erstens  mönchische  Regulirung  der  ge- 
sammten  Weltgeistlichkeit,  und  zweitens  Herrschaft  der 
mönchischregulirtenGreistlichkeit  über  die  Laienwelt,  über 
Fürsten  und  Nationen. 

Der  Versuch,  das  Leben  der  gesammten  Geistlichkeit  nach  mön- 
chischen Ordnungen  zu  regeln,  ist  schon  im  karolingischen  Zeitalter 
begonnen  worden  •,  allein  theils  schlug  er  fehl,  theils  verweltlichten  die 
Capitel  erst  recht.  Jetzt  aber  wurde  er  aufs  neue  und  wirksamer  unter- 
nommen. In  der  cluniacensischen  Reform  erhebt  das  abendländische 
Mönchthum  zum  ersten  Mal  den  entschiedenen  Anspruch,  sich  als  die 
christliche  Lebensordnung  aller  mündigen  Gläubigen  —  der  Priester  — 
durchzusetzen  und  zur  Anerkennung  zu  bringen.  Dieses  abendländische 
Mönchthum  vermag  sich  der  Aufgabe  nicht  zu  entziehen,  der  Kirche  zu 
dienen  und  sich  ihr,  d.  h.  damals  der  Geistlichkeit,  als  das  Christen- 
thum  aufzunöthigen.  Die  christliche  Freiheit,  welche  es  erstrebt,  ist 
ihm  bei  allem  Schwanken  nicht  nur  eine  Freiheit  von  der  Welt,  sondern 
die  Freiheit  der  Christenheit  zur  unbeschränkten  Vorberei- 
tung auf  das  Jenseits  und  zum  Dienste  Gottes  in  der  Welt. 
Niemand  aber  kann  zwei  Herren  dienen. 

Damit  war  auch  das  Verhältniss  zu  den  Laien  und  die  Stellung 
derselben  gegeben.  Müssen  die  mündigen  Bekenner  des  Christenthums 
nach  den  mönchischen  Regeln  disciplinirt  werden,  so  müssen  die  un- 
mündigen —  und  das  sind  die  Laien  —  denselben  völlig  freie  Bahn 
lassen  und  sich  mindestens  vor  ihrer  Majestät  beugen,  um  vor  dem  zu- 
künftigen Gerichte  bestehen  zu  können.  Verlangten  Clugny  und  seine 
grossen  Päpste  die  strenge  Durchführung  des  Cölibats,  die  Entfrem- 
dung der  Priester  von  dem  weltlichen  Leben  und  vor  Allem  die  Aus- 
rottung aller  „Simonie",  so  war  in  der  letzteren  Forderung  —  bei  dem 
damaligen  Stande  der  Vertheilung  von  Macht  und  Gütern  —  bereits 
die  Unterwerfung  der  Laien  einscliliesslich  der  Staatsgewalt  unter  die 
Kirche  enthalten.  Aber  was  sollte  die  Weltherrschaft  der  Kirche  neben 
der  allen  Priestern  aufgenöthigten  Weltflucht?  AVie  reimt  sich  jene 
Macht  über  die  Erde  mit  der  ausschUcssHchen  Sorge  für  das  Seelenheil 


298     (xeschichto  des  Doginas  im  Zeitalter  Clugny's,  Auselm's  und  ßernhard's. 

im  Jenseits?  Wie  kann  derselbe  Mann,  der  seinem  Bruder,  der  ihm 
alle  väterlichen  Güter  überlassen  will,  zuruft:  „Welch'  ungerechte  Thei- 
lung,  dir  der  Himmel  und  mir  die  Erde",  und  der  dann  selbst  ins 
Kloster  geht  —  wie  kann  dieser  Mann  es  über  sich  gewinnen,  vom 
Kloster  aus  um  die  AVeltherrschaft  zu  kämpfen?  Nun ,  in  gewisser 
Weise  ist  sie  ein  Surrogat,  solange  und  weil  die  allgemeine,  wahr- 
hafte Christianisirung  sich  nicht  durchsetzte.  Solange  nicht  Alle  wahr- 
hafte Christen  sind,  muss  die  ungefüge  Welt  und  die  halbentwickelte 
Christenheit  beherrscht  und  erzogen  werden;  denn  im  anderen  Fall 
würde  das  Evangelium  gefangen  geführt  werden  von  den  ihm  feindlichen 
Mächten  und  wäre  nicht  im  Stande,  seine  Mission  zu  erfüllen.  Aber  die 
Herrschaft  ist  doch  nicht  nur  ein  Surrogat.  Das  Christenthum  ist 
die  Askese  und  der  Gottesstaat.  Alle  Verhältnisse  auf  Erden 
sollen  nach  der  übersinnlichen  Idee  des  Gottesreiches  gestaltet  werden. 
Das  Gottesreich  aber  hat  seine  Existenz  im  Diesseits  in  der  Kirche. 
Somit  müssen  die  Staaten  sich  den  göttlichen  Zwecken  der  Kirche 
unterstellen ;  sie  müssen  in  das  Reich  der  Gerechtigkeit  und  des  siegen- 
den Christus  aufgehen,  welches  ein  wahrhaft  himmlisches  Reich  ist,  da 
es  vom  Himmel  stammt  und  vom  Stellvertreter  Christi  regiert  wird. 
Also  entwickelte  sich  aus  dem  Programm  der  Weltflucht  und  aus  dem 
Jenseits,  welches  diese  Welt  durchdringen  soll,  aus  der  augustinischen 
Idee  des  Gottesstaates  und  aus  der  in  der  Papstherrschaft  verklärten, 
niemals  erloschenen  Idee  des  einen  römischen  Weltreichs,  der  An- 
spruch der  Weltherrschaft,  mochte  auch  mancher  einzelne  Mönch 
darüber  zu  Grunde  gehen.  Mit  beflecktem  Gewissen  und  gebrochenen 
Muthes  haben  sich  manche  Mönche,  die  nur  Gott  suchen  ^vollten,  den 
Plänen  der  grossen  Mönchspäpste  gebeugt  und  sich  für  die  Zwecke  der- 
selben brauchen  lassen.  Und  gerade  die  holten  sie  aus  der  Stille  der 
Klöster  hervor,  die  am  wenigsten  an  diese  Welt  denken  wollten.  Sie 
wussten  es  wohl,  dass  nur  der  Mönch  die  Welt  bezwingen  helfen  würde, 
der  sie  flieht  und  sie  los  sein  will.  Die  Weltflucht  im  Dienste  der  welt- 
beherrschenden Kirche,  die  Weltherrschaft  im  Dienste  der  Weltent- 
sagung —  das  war  das  Problem  und  das  Ideal  des  Mittelalters !  Welch' 
eine  Naiv  etat,  welch'  eine  Fülle  von  Illusionen  gehörte  dazu,  um  an  die 
Verwirklichung  dieses  Ideals  zu  glauben  und  an  ihr  zu  arbeiten!  Welch' 
eine  kindliche  Verehrung  für  die  Kirche  war  nöthig,  um  jene  paradoxe 
„Weltflucht"  auszubilden,  die  in  einem  und  demselben  Moment  zu- 
schlagen und  beten,  fluchen  und  segnen,  herrschen  und  büssen  konnte! 
Welch'  eine  Romantik  der  Stimmung  erfüllte  jene  Gemüther,  die  in 
einer  einzigen  Betrachtung  die  Natur  und  all'  das  sinnliche  Leben  als 
Teufelszauberei  erkannten  und  es  zugleich,  von  der  Kirche  beleuchtet. 


Der  Aufschwung  der  Frömmigkeit.     Weltflucht  und  -herrschaft.        299 

als  die  Abschattung  der  jenseitigen  Welt  contemplirten !  Was  waren 
das  für  Menschen,  die  die  Welt  und  das  fröhliche  Leben  flohen  und 
dann  alle  irdischen  Güter,  Minnedienst,  Kampf  und  Sieg,  Wagen  und 
Erwerben,  Feste  und  sinnlichen  Genuss  aus  der  Hand  der  Kirche  zu- 
rückerhielten !  freilich  —  eine  kleine  Drehung  am  Kaleidoskop,  und 
alle  diese  Güter  stürzen  zusammen :  es  gilt  zu  fasten  und  zu  büssen ; 
aber  wiederum  eine  kleine  Drehung,  und  es  ist  Alles  wieder  da,  was  die 
Welt  zu  bieten  vermag,  aber  verklärt  vom  Lichte  der  Kirche  und  des 
Jenseits. 

Am  Ende  unserer  Periode  (c.  1200)  ist  die  Kirche  die  Siegerin. 
Wenn  je  Ideale  in  der  Welt  durchgeführt  worden  sind  und  die  Herr- 
schaft über  die  Gemüther  erlangt  haben,  so  ist  es  damals  geschehen. 
„Es  war,  als  ob  die  Welt  das  alte  Gewand  von  sich  abgeworfen  und 
das  weisse  Kleid  der  Kirche  angethan  hätte"  K  Weltverneinung  und 
kirchliche  Weltherrschaft  erschienen  den  Menschen  als  identisch.  Jene 
Zeit  trug  in  ihrer  Bildung  „den  Schmerzenszug  der  Weltverneinung  auf 
der  einen  und  den  gewaltthätigen  Charakterzug  der  Welteroberung  auf 
der  anderen  Seite''  ^.  Aber  in  unserer  Periode  ist  die  Entwickelung, 
die  sich  selbst  auflösen  muss,  wenn  sie  dem  Abschluss  nahe  gekommen 
zu  sein  scheint,  noch  im  Werden.  Es  galt  vielfach  noch,  die  verwelt- 
lichte Christenheit  aus  dem  Rohen  zu  hauen.  Und  die  Massen  wurden 
wirklich  umgestimmt  und  entflammt,  entflammt  zum  Kampf  gegen  den 
verweltlichten  Klerus  und  gegen  simonistische  Fürsten  in  ganz  Europa. 
Ein  neuer  Enthusiasmus  religiöser  Art  bewegte  die  Völker  des  Abend- 
landes, namentlich  die  romanischen.  Die  Begeisterung  der  Kreuzzüge 
ist  die  unmittelbare  Frucht  der  mönchisch-päpstlichen  Beformbewegung 
des  IL  Jahrhunderts.  Der  rehgiöse  Aufschwung,  welchen  das  Abend- 
land erhalten,  stellt  sich  in  seiner  Eigenart  in  ihnen  am  lebendigsten 
dar.  Die  Herrschaft  der  Kirche  soll  auf  Erden  durchgeführt  werden. 
Es  sind  die  Ideen  des  weltlierrschenden  Mönchs  von  Clugny,  welche 
den  Kreuzfahrern  vorangehen.   Das  heilige  Land  und  Jerusalem  sind 

*  Der  Cluniacenscrmönch  RudolfGlaber,  Hist.  lib.  III,  4. 

^  V.  Eickcn,  a.  a.  0.  S.  155  f.  Wäre  dieser  Charakterzug  der  Frömmigkeit 
schon  in  der  alten  Kirche  ausgeprägt  gewesen,  so  hätte  sie  zum  Islam  werden 
müssen  oder  wäre  vielmehr  vom  römischen  AVeltreich  niedergeschlagen  worden. 
Aber  die  mittelalterliche  Kirche  hatte  von  ihrem  Ursprung  her 
(Zeit  der  Völkerwanderung)  das  römische  Weltreich  als  Idee  und  Kraft 
in  sich  aufgenommen  und  stand  uncultivirten  Nationen  gegenüber — daher  ihr 
aggressiver  Charakter,  den  sie  übrigens  doch  erst  ausgebüdet  hat,  nachdem  Karl  der 
Orosse  ihr  gezeigt  hatte,  wie  der  vicarius  Christi  auf  Erden  zu  regieren  habe. 
Nicolausl.hat  von  Karl  I.,  die  gregorianischen  Päpste  haben  von  Ottol.,  Heinrich  II. 
und  III.  gelernt,  wie  der  rector  ecclesiae  sein  Amt  zu  verwalten  habe. 


300     Geschichte  des  Dop^iias  im  Zeitalter  Ckigny 's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

ein  Stück  Himmel  auf  Erden.  Es  gilt  sie  zu  erobern.  Die  schrecklichen 
und  rührenden  Scenen  bei  der  Einnahme  der  lü.  Stadt  illustriren  den 
Geist  der  mittelalterlichen  Frömmigkeit. 

Das  Christenthum  ist  die  Askese  und  der  Gottesstaat  —  aber  die 
Kirche,  welche  die  Gemüther  für  diese  Ideen  wirklich  entflammte,  ent- 
zündete damit  auch  den  religiösen  Individualismus;  sie  erweckte 
die  Kraft,  welche  schliesslich  den  geschlossenen  Ring  des  Systems  zu 
sprengen  und  die  Kette  zu  brechen  vermochte.  Aber  es  hat  lange  ge- 
dauert, bis  es  so  weit  kam.  Die  cluniacensische  Reform  hat,  wenn  ich 
recht  sehe,  einen  religiösen  Individuahsmus  im  Sinne  mannigfaltiger 
Ausprägungen  der  Frömmigkeit  überhaupt  noch  nicht  hervorgerufen. 
Die  enthusiastische  religiöse  Stimmung  des  1 1 .  Jahrhunderts  ist  in  den 
Einzelnen  völlig  gleichartig  gewesen.  Unter  den  zahlreichen  Ordens- 
stiftern dieser  Zeit  herrscht  noch  die  grösste  Einförmigkeit:  Seelennoth, 
Weltflucht,  Contemplation  —  Alles  spricht  sich  noch  in  den  gleichen 
Formen  und  mit  denselben  Mitteln  aus  ^  Auf  die  bereits  in  diesem 
Jahrhundert  zahlreichen  Sectirer  darf  man  sich  nicht  berufen;  sie  stehen 
mit  dem  kirchlichen  Aufschwung  kaum  in  irgend  welchem  Zusam- 
menhang und  wirken  auf  ihn  noch  nicht  ein^.  Durch  die  Kreuzzüge 
wurde  das  anders.  Man  brachte  Anschauungen  zurück.  Die  heiligen 
Stätten  belebten  die  Phantasie  und  führten  sie  zu  dem  Christus  der 
Evangelien.  Die  Frömmigkeit  wurde  durch  die  lebendigste  Vorstellung 
von  dem  leidenden  und  sterbenden  Erlöser  belebt :  man  muss  ihm  auf 
allen  Stufen  des  Leidensweges  folgen !  Damit  erhielt  die  negative  Askese 
eine  positive  Form  und  ein  neues  sicheres  Ziel.  Die  Töne  der  Christus- 
mystik, \velche  Augustin  nur  vereinzelt  und  unsicher  angeschlagen 
hatte  ^,  wurden  zu  einer  hinreissenden  Melodie.  Neben  den  sacramen- 
talen  Christus  trat  das  Bild  des  geschichtlichen^,  die  Hoheit  in  der 


1  S.  Neander,  K.-Gesch.  V,  1  S.  449—564. 

^  Ihre  Lehren  sind  aus  dem  Osten  importirt  —  der  Bulgarei  — ;  dass  alte 
Reste  von  Secten  sich  im  Abendland  selbst  erhalten  haben  (Priscillianer),  ist  nicht 
unmöglich.  Aber  auch  spontane  Bildungen  sind  anzunehmen,  wie  solche  aus  der 
Leetüre  der  hl.  Schrift,  der  Väter  und  aus  antiken  Reminiscenzen  zu  allen  Zeiten 
der  Kirchengeschichte  entstanden  sind.  Im  12.  Jahrhundert  wird  die  Häresie  zu  einer 
organisirten,  der  Kirche  furchtbar  gefährlichen,  in  einigen  Landstrichen  ihr  sogar 
überlegenen  Macht;  s.  Reuter  IS.  153  f.  und  das  soeben  erschienene  Werk  von 
Döllinger,  Beiträge  zur  Sectengesch.  des  Mittelalters,  2  Thl.  München  1890,  in 
welchem  die  Paulicianer,  Bogomilen,  Apostoliker  und  Katharer  dargestellt  sind. 

"  S.  oben  S.  112  f. 

*  Beruh.,  Sermo  LXII,  7  in  cant.  cantic:  „quid  enim  tam  efficax  ad  curanda 
conscientiae  vulnera  nee  non  ad  purgandam  mentis  aciem  quam  Christi  vulnerum 
sedula  meditatio  ?" 


Der  Aufschwung  der  Frömmigkeit.     Die  Kreuzzüge.     Bernhard.       301 

Demuth,  die  Unschuld  in  dem  Strafleiden,  das  Leben  in  dem  Tode. 
Jene  Dialektik  der  Frömmigkeit  ohne  Dialektik,  jenes  Ineinsschauen 
des  Leidens  und  der  Herrlichkeit,  jenes  lebendige  Bild  der  wahrhaften 
communicatio  idiomatum  entwickelte  sich,  vor  welchem  die  Menschheit 
anbetend  stand,  mit  gleicher  Ehrfurcht  die  Hoheit  verehrend  wie  die 
Niedrigkeit.  Sinnliches  und  Geistliches,  Irdisches  und  Himmlisches, 
Schmach  und  Ehre,  Entsagung  und  volles  Leben  wogten  nicht  mehr 
durcheinander:  in  dem  „Ecce  homo"  sind  sie  in  stiller  Majestät  verbun- 
den. So  bricht  diese  Frömmigkeit  in  den  feierlichen  Hymnus  aus : 
„Salve  Caput  cruentatum".  Es  ist  unermesslich,  welche  Wirkungen 
diese  neugestimmte  Frömmigkeit  gehabt,  und  es  ist  unübersehbar,  wie 
mannigfaltig  sie  sich  ausgeprägt  und  welche  Fülle  von  Anschauungen 
sie  in  ihren  Kreis  gezogen  hat.  Man  braucht  nur  an  das  neue,  doch 
erst  vom  Kreuze  her  gewonnene  Bild  von  der  Mutter  mit  dem  Kind, 
dem  Gott  in  der  Krippe,  der  Allmacht  in  der  Ohnmacht  zu  erinnern. 
Wo  diese  Frömmigkeit  ohne  dogmatische  Formeln,  ohne  Spielerei,  ohne 
Raffinement,  oder  gar  Berechnung  erscheint,  ist  sie  der  einfache,  nun 
wieder  gewonnene  Ausdruck  der  christlichen  Eeligion  selbst ;  denn  in 
der  Ehrfurcht  vor  dem  leidenden  Christus  und  in  der  Kj-aft,  welche  von 
diesem  Bilde  ausgeht,  liegen  die  Kräfte  der  Religion  beschlossen.  Aber 
auch  dort,  wo  sie  nicht  rein  erscheint,  wo  Kleinliches  —  sei  es  bis  zum 
Herz- Jesu-Kultus  — ,  Raffinirtes  und  Berechnetes  ihr  beigemischt  ist, 
kann  sie  noch  immer  heilsam  und  ehrwürdig  sein,  heilsamer  und  ehr- 
würdiger jedenfalls,  als  das  von  keiner  lebendigenVorstellung  beherrschte 
Streben  einer  bloss  negativen  Askese.  Ja  selbst  dort,  wo  sie  offenbar 
ins  Paganische  umschlägt,  wird  ein  Rest  jener  befreienden  Botschaft 
übrig  bleiben,  dass  das  Göttliche  in  der  Demuth  und  im  geduldigen 
Leiden  zu  finden  ist,  und  dass  der  Unschuldige  leidet,  damit  der  Schuldige 
Frieden  habe. 

In  unserer  Periode  ist  diese  neugestimmte,  aus  den  Kreuzzügen 
erwachsene  und  an  dem  nun  verstandenen  Augustin  genährte  Fröm- 
migkeit noch  im  Werden.  Aber  wir  haben  schon  auf  den  Mann  hin- 
gewiesen, der  an  den  Anfängen  steht,  jedoch  selbst  kein  Anfänger 
gewesen  ist,  der  hl.  Bernhardt  Bernhard  ist  das  rehgiöse  Genie 
des  12.  Jahrhunderts  und  darum  auch  der  Führer  der  Epoche.  Vor 
Allem  ist  in  ihm  die  augustinisclie  Contemplation  wieder  lebendig 
geworden.  Man  sagt  nicht  zu  viel,  wenn  man  behauptet,  dass  er  der 
Augustinus  redivivus  ist,  dass  er  sich  ganz  und  gar  an  dem  grossen 


*  S.  die  Monographie  von  Neander  3.  Aull-,  li  ülTo',  Der  lil.  licrnaid  von 
(Jlairvaux  I.  Bd.  188«. 


302     (xeschichte  des  Dop^mas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

Afrikaner  gebildet  ^  und  von  ihm  die  Grundlagen  seiner  frommen 
Betrachtungen  überkommen  hat.  Soweit  Bernhard  ein  System  der 
(Jontemphition  darbietet  und  den  Entwiekelungsgang  der  Liebe  ^  schil- 
dert bis  zu  jener  vierten  und  höchsten  Stufe,  wo  der  von  der  Selbst- 
liebe sich  aufwärts  erhebende  Mensch  in  der  Liebe  zu  Gott  ganz 
aufgeht  und  jenen  momentanen  Excess  erfährt,  in  welchem  er  Eins 
wird  mit  Gott  —  soweit  hat  er  einfach  das  nacherlebt,  was  Augustin 
zuerst  erlebt  hat.  »la  selbst  die  Sprache  ist  im  höchsten  Masse  ab- 
hängig von  der  Sprache  der  (yonfessionen  ^.  Aber  auch  die  Beziehung 
auf  Jesus  C^hristus  hat  Bernhard  von  dem  grossen  Führer  gelernt. 
Wie  dieser^  schreibt  er:  „Dürre  ist  jede  Speise  der  Seele,  wenn  sie 
nicht  mit  dem  Oele  Christi  begossen  worden.  Wenn  du  schreibst, 
sagt  es  mir  nicht  zu,  wenn  ich  nicht  Jesum  darin  lese.  Wenn  du 
über  religiöse  Gegenstände  dich  mit  mir  unterredest,  sagt  es  mir  nicht 
zu,  wenn  nicht  Jesus  darin  ertönt.  Jesus  mel  in  ore,  in  aure  melos, 
in  corde  iubilus"  -'.  Allein  hier  ist  nun  Bernhard  einen  Schritt  über 
Augustin  hinausgegangen.  „Die  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter  uns 
ist",  ist  ihm  aufgegangen,  wie  sie  niemals  einem  Christen  der  alten 
Welt  (selbst  Augustin  nicht)  aufgegangen  ist,  weil  jene  alten  Christen 
wohl  die  Askese  als  das  Mittel  der  Entkörperung  zu  verehren,  nicht 
aber  Leiden  und  Schmach,  Kreuz  und  Tod  als  die  Gestalt  des  Gött- 
lichen zu  erkennen  vermochten.  Das  Studium  des  Hohenliedes  (nach 
Anweisung  des  Ambrosius)  und  die  durch  die  Kreuzzüge  entflammte 
Stimmung  haben  ihn  vor  das  Bild  des  gekreuzigten  Heilandes  als  des 
Bräutigams  der  Seele  geführt.  In  dieses  Bild  versenkte  er  sich.  Aus 
den  Zügen  des  leidenden  Christus  strahlte  ihm  die  Wahrheit  und  die 
Liebe.  Li  buchstäblichem  Sinne  hängt  er  an  seinen  Lippen  und  be- 
trachtet seine  Gliedmassen :  „Dilectus  meus,  inquit  sponsa,  candidus 
et  rubicundus.  In  hoc  nobis  et  candet  veritas  et  ruhet  Caritas"  ^. 
Die  Grundlage  für  diese  Christus-Contemplation  —  die  Wunden  Christi 


*  Es  gilt  dies  in  einem  viel  grösseren  Umfang,  als  es  Neander  nachweist. 

^  Caritas  und  humilitas  sind  die  Grundbegriffe  der  Ethik  Bernhard's. 

^  S.  die  Schrift  de  diligendo  deo. 

■^  S.  die  zahlreichen  Stellen  in  den  Confessiouen. 

^  In  cantic.  cantic.  XV,  6. 

^  Wie  ihm  das  Kreuz  Christi  der  Inbegriff  alles  Nachdenkens  und  aller  Weis- 
heit ist,  s.  sermo  XLIII;  über  die  Hoheit  in  der  Niedrigkeit  s.  XXVIII  und  XLII ; 
de  osculo  pedis,  manus  et  oris  domini  III ;  de  triplici  profectu  animae,  qui  fit  per 
osculum  pedis,  manus  et  oris  domini  IV;  de  spiritu,  qui  est  deus,  et  quomodo 
misericordia  et  iudicium  dicantur  pedes  domini  VI;  de  uberibus  sponsi  i.  e.  Christi 
IX;  de  duplice  humilitate,  una  vid.  quam  parit  veritas  et  altera  quam  iuHammat 
Caritas"  XLII  etc.  etc. 


Der  heilige  Bernhard.  303 

als  das  deutlichste  Zeugniss  seiner  Liebe  —  haben  Ambrosius  und 
Augustin  geschaffen  (Christus  tamquam  homo  mediator),  und  das  Bild 
vom  Seelenbräutigam  geht  bis  auf  Origenes  und  Valentin  zurück  (vgl. 
auch  Ignatius);  aber  erst  Bernhard  hat  der  frommen  Stimmung  die 
Anschauungen  gegeben;  er  hat  die  neuplatonischen  Exercitien  der 
Erhebung  zu  Gott  mit  der  Betrachtung  des  leidenden  und  sterbenden 
Erlösers  verbunden  und  die  Subjectivität  der  Christusmystik  und 
-lyrik  entfesselt  ^ 

^  S.  die  Gedichte  Bernhard's  und  die  86  Sermone  über  das  Hohelied,  welche  die 
Art  der  Frömmigkeit  der  folgenden  Generationen  bestimmt  haben.  Jene  Predigten 
sind  die  Quelle  der  katholischen  Christusmystik  geworden,  Rits  chl  (Lesefrüchte  aus 
dem  hl.  Bernhard,  Stud.  u.  Krit.  1879  S.  317 — 335)  hat  jedoch  daran  erinnert  (s. 
Neander,  a.  a.  0.  S.  116),  dass  in  diesen  Sermonen  auch  wahrhaft  evangelische  Ge- 
danken zum  Ausdruck  gekommen  sind.  „Den  Grund  davon  musste  ich  darin  erkennen, 
dass  der  Prediger  die  Lehrstoffe  nicht  in  dem  geschichtlichen  Verlauf  aufgefasst  hat, 
welchen  die  dogmatische  Theologie  bei  Katholischen  wie  bei  Evangelischen  innehält, 
und  welcher  so  beschaffen  ist,  dass  bei  den  früher  dargestellten  Lehren  niemals  auf 
die  folgenden  gerechnet  wird.  Vielmehr  ergiebt  sich  ohne  Schwierigkeit,  dass  der 
Prediger  die  Lehrpunkte  so  gebraucht,  wie  sie  sich  in  dem  praktischen  Gesichts- 
kreise darstellen."  Ritschl  macht  auf  folgende  Stellen  aufmerkam  (s.  auch  "Wolff, 
Die  Entw.  d.  einen  christl.  K.  1889  S.  165  ff.):  Sermo  LXIX,  3  (der  AVerth  der 
Erbsünde:  der  Grad  des  Schadens  wdrd  nach  der  Wiedergeburt  bestimmt); 
Serrao  LXXII,  8  (Bedeutung  des  Todes:  er  muss  bei  den  Erlösten,  „propter  quos 
omnia  fiunt",  nicht  als  Zomäusserung  Gottes,  sondern  als  Barmherzigkeit  gedeutet 
werden,  als  Act  der  Erlösung  von  dem  Widerspruch  zwischen  dem  Gesetz  in  den 
Gliedern  und  dem  geheiligten  Willen);  Sermo  XXEE,  7 — 11  (Gerechtigkeit  aus  dem 
Glauben :  sie  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Betähigung  zu  guten  Werken,  son- 
dern —  „unde  Vera  iustitia  nisi  de  Christi  misericordia  ?  .  .  .  soli  iusti  qui  de  eins 
misericordia  veniam  peccatorum  consecuti  sunt  .  .  .  quianon  modo  iustus  sed 
etbeatus,  cui  non  imputabit  deus  peccatum");  Sermo  XX,  2;  XI,  3;  VI,  3 
(Erlösungswerk  Christi:  das  Werk  der  Liebe  [„non  in  omni  mundi  fabrica  tantum 
fatigationis  auctor  assumpsit"],  dessen  Modus  die  exinanitio  Gottes  ist,  dessen  Frucht 
nostri  de  illo  replctio,  und  welches  desshalb  göttlich  ist,  weil  Christus  hier  das  Ver- 
halten beobachtet  hat,  welches  das  Verhalten  Gottes  ist,  nämlich  die  Sonne  aufgehen 
zu  lassen  über  Gute  und  Böse.  Die  communicatio  idiomatum  ist  hier  nicht  im  griechi- 
schen Sinne  verstanden,  sondern  wird  an  den  Motiven  Christi  aufgewiesen;  VI,  3: 
„dum  in  came  et  per  carnem  facit  opera,  non  camis  sod  dei  .  .  .  manifeste  ipsum  se 
esse  iudicat,  per  quem  eadem  et  ante  fiebant,  (juando  fiebant.  In  carne,  inquam,  et 
per  carnem  potenter  et  patienter  operatus  mira,  locutus  salubria,  passus  indigna 
evidenter  ostendit,  quia  ipse  sit,  qui  potenter  sed  invisibiliter  saecula  condidisset, 
fiapienter  regeret,  benigne  protcgeret.  Denique  dum  cvangelizat  ingratis,  signa 
praebetinfideiibus,  pro  suis  crucifixoribus  orat,  norme  liquido  ipsum  se  esse  declarat, 
qui  cum  patre  suo  quotidie  oriri  facit  solem  super  bonos  et  malos,  pluit  super  iustos 
et  iniustos?");  Sermo  XXI,  6.  7;  LXXXV,  5  (das  wiederhergestellte  Ebenbild 
Gottes  im  Menschen);  Sermo  LXVFIf,  4,  I^XXf,  11  (die  Gründung  der  Kirche  als 
Zweck  der  Erlösung);  LXXVIII,  .'i  (Kirclie  und  Prädestination);  Sermo  VJII,  2, 
XII,  11,  XLVI,  4,  IL,  5  (Begriff  und  Merkmale  der  geschichtlichen  Kirche,  wo  die 


304     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

Allein  trotz  aller  Steigerung  der  Anschauung  und  trotz  der 
lebendigsten  Hingabe  an  die  Person  Christi:  auch  Bernhard  hat 
ienen  schweren  Tribut  bezahlen  müssen,  den  jeder  Mystiker  leisten 
muss  —  die  Stimmung  der  Verlassenheit  nach  dem  sehgen  Ge- 
fühl der  Vereinigung  und  die  Vertauschung  des  geschichtlichen  Christus 
mit  dem  zerfiiessenden  Bilde  des  idealen.  Das  Letztere  ist  bei  ihm 
besonders  auffallend.  Man  sollte  erwarten,  dass,  wer  sich  so  in  das 
Bild  des  leidenden  Christus  versenkt,  unmöglich  die  Anweisung  des 
Origenes  und  Augustin  zu  wiederholen  vermag,  man  müsse  vom  AVort 
der  Schrift  und  vom  fleischgewordenen  Wort  zum  „Geist"  aufsteigen. 
Und  doch  hat  Bernhard  diese  letzte  und  bedenklichste  Anweisung 
der  Mystik,  welche  das  geschichtliche  Christenthum  aufhebt  und  zum 
Pantheismus  führt,  aufs  deutlichste  wiederholt.  Zwar  was  er  ep.  106 
geschrieben  hat  über  die  Nutzlosigkeit  des  Studiums  der  Schrift  gegen- 
über der  praktischen  Nachfolge  Christi  ^,  lässt  sich  noch  im  Sinne  des 
Gedankens,  dass  das  Christenthum  nicht  gewusst,  sondern  erlebt 
werden  soll,  deuten.  Aber  unzweideutig  sind  die  Ausführungen  im 
20.  Sermon  zum  Hohenlied.  Hier  wird  die  Liebe  zu  Christus  noch 
als  eine  gemssermassen  fleischliche  bezeichnet,  welche  von  dem  be- 
wegt wird,  was  Christus  im  Fleische  gethan  oder  geboten  hat.  Zwar 
ist  es  werthvoll,  dass  Bernhard  die  Stimmung  der  Rührung  und  Zer- 
knirschung, welche  das  Bild  des  Menschen  Jesus  erregt,  nicht  für  die 
höchste  hält,  vielmehr  in  ihr  ein  Stück  fleischlicher  Liebe  erkennt. 
Allein  er  fährt  dann  fort,  dass  man  sich  überhaupt  von  dem  Bilde 
des  geschichtlichen  Christus  in  wahrhaft  geistlicher  Liebe  zu  dem 
Christus  y.ara  7rv£ö[ia  erheben  müsse,  und  beruft  sich  dafür  auf  Joh.  6 
und  II  Kor.  5,  16.  Aller  Mystik  ist  in  der  Folgezeit  dieser  Zug 
geblieben.    Sie  hat  von  Bernhard  die  Christuscontemplation  gelernt  - ; 


juristisch  verhärtete  Auffassung  ganz  fehlt;  XII,  11  heisst  es,  kein  Einzelner  solle 
sich  für  die  Braut  Christi  erklären ;  die  Glieder  der  Kirche  nehmen  nur  an  der  Ehre, 
welche  der  Kirche  als  der  Braut  gebührt,  Antheil).  Vgl.  auch  Ritschl,  Gresch.  des 
Pietismus  I  S.  46  ff.,  und  Rechtfert.  u.  Versöhn.  I^  S.  109  ff.,  wo  dargelegt  ist,  wie 
der  Gedanke  der  Gnade  bei  Bernhard  Alles  beherrscht. 

*  „Was  suchst  du  im  Worte  das  Wort,  welches  schon  als  das  fleischgewordene 
dir  vor  Augen  steht?  Wer  Ohren  hat  zu  hören,  der  höre  ihn  im  Tempel  rufen: 
Wen  dürstet,  der  komme  zu  mir  und  trinke  ...  0  wenn  du  nur  einmal  etwas  von 
dem  fetten  Mark  des  Getreides,  mit  welchem  das  himmlische  Jerusalem  gesättigt 
wird,  kostetest,  wie  gern  würdest  du  die  jüdischen  Schriftgelehrteu  au  ihren  Brot- 
krusten nagen  lassen  .  .  .  Experto  crede,  aliquid  amplius  invenies  in  silvis,  quam  in 
libris.    Signa  et  lapides  docebunt,  quod  a  magistris  audire  non  possis." 

^  „Als  Prophet  und  Apostel  ist  Bernhard  verehrt  worden  „bei  allen  Völkern 
Galliens  und  Germaniens".  Rührend  ist  die  Klage  Odo's  von  IMorimond  (s.  Hüt'ter, 


Der  heilige  Bernhard.  '  305 

aber  sie  hat  zugleich  den  pantheistischen  Zug  der  Neuplatoniker  und 
Augustin's  übernommen  ^  In  der  2.  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  ist 
die  neue  Frömmigkeit  bereits  eine  gewaltige  Kraft  in  der  Kirche^. 

a.  a.  0.  S.  21  ff,),  zugleich  ein  Beweis  von  dem  unvergleichlichen  Eindruck  der  Per- 
sönlichkeit. Seit  Augustin  war  ein  solcher  Mann  der  Kirche  nicht  mehr  geschenkt 
worden.  „Vivit  Bernardus  et  nardus  eius  dedit  odorem  suum  etiam  in  morte." 
„Sein  Leben  ist  verborgen  mit  Christus  in  Gott",  damit  tröstete  sich  der  Schüler 
am  Grabe.  „Verba  eius  spiritus  et  vita  erant."  Das  Andenken  an  die  Tage,  da  Bern- 
hard als  Kreuzprediger  durch  die  deutschen  Gauen  wandelte,  hat  sich  lange  Zeit 
erhalten;  denn  einen  solchen  Prediger  hatten  die  Deutschen  noch  nie  gehört;  s. 
die  historia  miraculorum  in  itinere  Germanico  patratorum  bei  Migne  CLXXXV, 
Hüffer  S.  70  ff.  (der  freilich  merk^vürdig  leichtgläubig  ist).  Der  Briefwechsel  Bern- 
hard's  steht  (s.  Hüffer  S.  184  ff.)  an  Bedeutung  und  an  Umfang  im  12.  Jahrhundert 
einzig  da.   Fast  500  Briefe  von  ihm  selber  sind  erhalten. 

^  Das  „excedere  et  cum  Christo  esse"  (s.  LXXXV)  ist  auch  von  Bernhard  so 
verstanden,  dass  die  Seele  sich  selbst  verliert  und  in  den  Umarmungen  des  Bräuti- 
gams aufhört,  ein  eigenes  Selbst  zu  sein.  "Wo  aber  die  Seele  in  die  Gottheit  unter- 
geht, da  löst  sich  die  Gottheit  in  das  All-Eine  auf. 

2  Die  Nachfolge  Christi  wird  die  Losung;  sie  durchbricht  die  Schranken, 
welche  die  Dogmatik  gezogen,  und  wendet  sich  zum  Herrn  selbst  hin.  Allen  Ver- 
hältnissen des  Lebens  wird  der  leidende,  demüthige  und  geduldige  Heiland  als  Vor- 
bild hingestellt.  Welch'  eine  Belebung  war  die  Folge!  Allein  von  hier  aus 
konnte  sich  auch  eine  Vertraulichkeit  des  Gefühls  entwickeln,  die  mit  der  Ehr- 
furcht vor  dem  Erlöser  streitet,  und  indem  die  Bedeutung  Christi  einseitig  in 
dem  Vorbildlichen  angeschaut  wurde,  mussten  andere  wichtige  Seiten  verküm- 
mern. Bei  Bernhard  ist  das  noch  nicht  der  Fall ;  aber  schon  bei  ihm  ist  man  er- 
staunt, wie  das  griechische  dogmatische  Schema  der  Christologie  in  praxi  einem 
ganz  anderen  hat  Platz  machen  müssen.  Nachdem  er  in  dem  16.  Sermon  durchge- 
führt, dass  die  schnelle  Verbreitung  des  Christenthums  lediglich  aus  der  Predigt 
von  der  Person  Jesu  zu  erklären  ist,  dass  das  Bild  Jesu  den  Zorn  gedämpft,  den 
Stolz  gedemüthigt,  die  Wunde  des  Neides  geheilt,  die  Ueppigkeit  eingeschränkt, 
die  Begierde  ausgelöscht,  die  Habsucht  gezügelt,  kurz  das  ganze  gemeine  Trachten 
der  Menschen  in  die  Flucht  geschlagen  hat,  fährt  er  fort:  „Siquidem  cum  nomine 
Jesum,  hominem  mihi  jjropono  mitem  et  humilem  corde,  benignum,  sobrium, 
castum,  misericordem  et  omni  denique  honestate  ac  sanctitate  conspicuum,  eun- 
dcmque  ipsum  deum  omnipotentem,  qui  suo  me  et  exemplo  sanet  et  roboret 
adiutorio.  Haec  omnia  simul  mihi  sonant,  cum  insonuerit  Jesus.  Sumo  itaque 
mihi  exempla  de  hominc  et  auxilium  de  potente."  So  schrieb  man,  wäh- 
r(3nd  man  in  thesi  den  Adoptianisnius  verwarf!  Diese  bernhardinischc  Christologie, 
deren  Wurzeln  l)ei  Augustin  liegen,  verlangt  keine  Zweinaturcnlehre,  sondern 
schliesst  sie  aus.  Sie  ist  völlig  gedeckt  durch  die  Formel,  dass  Jesus  der  sündlose, 
im  Leiden  sich  bewährende  Mensch  ist,  dem  die  göttliche  Gnade,  von  der  er  lebt, 
die  Kraft  verliehen  hat,  dass  sein  Bild  in  anderen  Menschen  Gestalt  gewinnt,  d.  h.  zur 
Gegenliebe  reizt  und  die  Demuth  verleiht.  Caritas  und  humilitas  waren  das 
praktische  Christenthum,  bis  der  hl.  Franz  die  letztere  in  der  Forderung  der 
A  rmuth  ebenso  anschaulich  gemacht  hat,  wie  die  Liebe  in  der  Nachahmung  des 
licidensweges  Christi  zur  Darstellung  kommen  sollte.  Uc])er  die  humilitas  reden  alle 
awketischcn  Tractatc  der  Epoche;  8.  Petrus  Comestor,  Hist.  evang.  c.  133:  „est  de- 
11  ii  in  HC,  k  ,  l)()i^ufn^cH(i]nr]\\i-  III.  20 


30f)     ( reschichte  dos  Do^rmaa  im  Zeitnlter  Clugny'a,  Anselm's  und  Beruliard's. 

Die  Subjectivität  des  frommen  Gefühls  ist  in  den  Klöstern  entfesselt  ^ 
Aber  wie  derselbe  Mann,  der  in  der  Stille  seines  Klosters  eine  neue 
Sprache  der  Anbetung  redet,  die  Weltflucht  predigt  und  dem  Papste 
zuruft,  dass  er  auf  dem  Stuhle  Petri  zum  Dienste,  nicht  zur  Herr- 
schaft berufen  sei  —  wie  dieser  Mann  zugleich  in  allen  hierarchischen 
Voi'urtheilen  seiner  Zeit  befangen  blieb  und  selbst  die  Politik  der 
weltherrschenden  Kirche  geleitet  hat,  so  haben  auch  die  kirchlichen 
Fronnnen  im  12.  Jahrhundert  den  Contrast  zwischen  Kirche  und 
Christenthum  noch  nicht  empfunden.  Die  Anhänglichkeit  des  Möncli- 
thums  an  die  Kirche  ist  noch  eine  naive;  der  Widerspruch  zwischen 
der  wirklichen  Gestalt  der  weltherrschenden  Kirche  und  dem  Evan- 
gelium, das  sie  predigt,  wird  zwar  empfunden,  aber  immer  wieder 
zurückgedrängt-.  Noch  ist  jener  grosse  Bettelmönch  nicht  aufgetreten, 
dessen  Erscheinung  die  Krisis  in  dem  Gewoge  von  Weltflucht  und 
Weltherrschaft  hervorrufen  sollte.  Aber  schon  ist  die  Kirche  umschwebt 
von  den  zornigen  Flüchen  der  „Häretiker",  die  in  dem  mächtigen 
Getriebe  der  Herrschaft  der  Kirche  und  in  der  Veräusserlichung  ihrer 
Gnadenspendungen  die  Züge  des  alten  Babel  erkennen. 


bita  humilitas  subdere  se  maiori  propter  deiim,  abimdans  (Immilitas)  subdere  se 
pari,  superabundans  subdere  se  minori."  Man  beachte  auch  den  nachmals  in  der 
Lehre  vom  Verdienst  Christi  so  wichtig  gewordenen  Unterschied  von  debita,  abun- 
dans,  superabundans. 

*  Sie  balancirte  die  von  anderen  Seiten  aus  naheliegende  Werkgerechtigkeit 
und  „Verdienstlichkeit".  Sehr  richtig  Ritschi,  Rechtf.  und  Versöhn.  I^  S.  117:  „Es 
ist  eine  falsche  Ansicht,  dass  der  lateinische  Katholicismus  des  Mittelalters  in  der 
Pflege  der  Werkgerechtiorkeit  und  Verdienstlichkeit  aufgehe."  Sie  hat  zu  ihrem 
Correlat  die  das  eigene  Ich  preisgebende  Mystik,  die  bald  mehr  theologisch -akos- 
mistisch,  bald  mehr  christologisch-lyrisch  gestimmt  ist.  Aber  die  schlichte  Zuversicht 
zu  dem  Gott,  der  in  Christus  gnädig  ist,  und  das  Bekenntniss :  „Sufficit  mihi  ad  om- 
nem  iustitiam  solum  habere  propitium,  cui  söli  peccavi"  (Beruh.  Serm.  in  cant. 
XXIII,  15),  hat  Einzelnen  doch  nicht  gefehlt.  Es  hat  hin  und  her,  vor  Allem  aber 
angesichts  des  Todes,  triumphirt,  wie  über  die  Berechnungen  der  Werkgerechtigkeit 
so  über  die  Nebel  der  Mystik.  Flacius  und  Chemnitz  haben  mit  Recht  Zeugnisse 
für  die  evangelische  Rechtfertigimgslehre  aus  dem  Mittelalter  gesucht  und  gesam- 
melt, und  wie  einst  Augustiu  mit  Grund  erklären  konnte,  dass  seine  Gnadenlehre 
ihre  Tradition  in  denGebeten  der  Kirche  habe,  so  konnte  auch  Chemnitz  mit  Recht 
schreiben,  dass  die  evangelische  Hauptlehre  Zeugnisse  aus  den  älteren  Zeiten  auf- 
weisen könne,  „non  in  declamatoriis  rhetoricationibus  nee  in  otiosis  disputatiouibus, 
sed  in  seriis  exercitiis  paenitentiae  et  fidei,  quando  conscientia  in  tentationibus  cum 
8ua  indignitate  vel  coram  ipso  iudicio  dei  vel  in  agone  mortis  luctatur.  Hoc  enini 
solo  modo  rectissime  intelligi  potest  doctrina  de  iustiticatione,  sicut  in  scriptuia 
traditur." 

'■^  Das  „ewige  Evangelium"  des  Joachim  von  Fiore  gehört  dem  Ende  unserer 
Periode  an  und  ist  zunächst  latent  geblieben;  s.  Reuter,  a.  a.  O.  II  8.  198  tV. 


Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts.  307 

2.   Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts  K 

Wenigstens  mit  einigen  Worten  sei  des  Aufschwungs  gedacht, 
den  das  kirchliche  Recht  in  unserer  Periode  genommen  hat  und  der 
nicht  ohne  Folgen  für  die  Auffassung  des  Dogmas  und  für  die  Dogmen- 
geschichte geworden  ist. 

Erstlich  ist  es  von  Wichtigkeit,  dass  seit  der  2.  Hälfte  des 
9 .  Jahrhunderts  das  kirchHche  Recht  mehr  und  mehr  auf  pseudoisido- 
rischer  Grundlage  aufgebaut  wurde.  Zweitens  ist  die  vorwiegende 
Beschäftigung  mit  dem  Recht  überhaupt  und  die  zunehmende  Unter- 
stellung aller  kirchlichen  Fragen  unter  Rechtsbe griffe  charakte- 
ristisch. Was  das  Erste  betrifft,  so  ist  es  bekannt,  dass  die  Päpste 
immer  mehr  in  die  Verwaltung  der  Diöcesen  eingegriffen  haben  ^,  dass 
die  alte  Metropolitanverfassung  ihre  Bedeutung  verlor,  und  dass  die 
alten  Verfassungszustände  überhaupt  —  in  der  ersten  Hälfte  unserer 
Periode  —  verkümmerten  und  aufhörten.  Zwar  erstarkte  vielfach 
die  bischöfliche  Gewalt  zu  einer  landesherrlichen,  und  andererseits 
brachten  die  Kaiser  von  Otto  I.  bis  Heinrich  IH.  das  versunkene  Papst- 
thum  zeitweilig  in  die  Abhängigkeit  von  der  Kaiserkrone,  nachdem  sie 
es  reformirt.  Allein  da  auch  sie  jeden  Antheil  solcher  Laien,  die  nicht 
Fürsten  waren,  an  der  Leitung  kirchlicher  Angelegenheiten  aufhoben 
und  die  Selbständigkeit  der  localen  Kirchenkörper  (der  Gemeinden) 
im  kaiserlichen  und  im  „frommen"  Interesse  unterdrückten,  so  blieben 
nur  der  Kaiser  (der  sich  rector  ecclesiae  und  vicarius  Christi  nannte), 
der  Papst  und  die  Bischöfe  als  selbständige  Gewalten  übrig.  Um 
den  Besitz  der  Letzteren  und  um  die  Frage,  wer  der  wahrhafte  Rector 
des  Gottesstaates  und  Statthalter  Christi  sei,  drehte  sich  im  Grunde 
der  grosse  Streit  zwischen  dem  Kaiserthum  und  dem  reformirten 
Papstthum.  In  diesem  Kampf  entwickelte  sich  dieses,  dem  Impulse 
Gregor's  Vll.  folgend,  zu  der  autokratischen  Macht  in  der  Kirche 
und  bildete  demgemäss,  nachdem  es  sich  selbst  in  Rom  von  den  letzten 
Resten  älterer  Verfassungszustände  befreit  hatte,  auch  seine  Gesetz- 
gebung durch  zahllose  Decretahen  aus.  Auf  den  „ökumenischen" 
Lateransynoden  von  1123  und  1139  hat  das  Papstthum  über  diese 
neue  Stellung,   die  es  zu  behaupten  willens  war,  keinen  Zweifel  ge- 


^  Die  älteste  Zeit  })ei  Maassen,  Gesch.  der  Quellen  und  Litt,  des  kanoni- 
schen Hechts  I.  Bd.  (])is  Pseudoisidor)  1870.  Die  spätere  Zeit  ])ei  v.  »Schulte, 
Gesch.  der  Quellen  und  Lit.  des  kanonischen  Rechts  von  Gratian  bis  auf  Gregor  IX. 
1875.  S.  die  Einleitungen  zur  Ausgabe  des  corp.  iur.  can.  von  Friedberg. 

'  Nicol'HUH  T.,  Leo  TX.,  Alexander  IT.,  Alexander  TTT.  sind  di<;  Stufen  zu  Tnno- 
cenz  III.  Aber  Gregor  VIJ.  ist  die  Seele  der  grossen  Bewegung  im  11.  Jahrhundert 
gewesen. 

20* 


308     Oeacliiclite  des  Dogma«  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernliard'8. 

lassen  K  Die  Päpste  bis  zu  Innocenz  III.  haben  dann  unter  schweren, 
aber  siegreichen  Kämpfen  die  autükratische  SteUung  in  der  Kirche 
vertheidigt  und  befestigt.  Zwar  liaben  sie  manches  besorgte  AVort 
von  ihren  treuesten  Söhnen  hören  müssen;  allehi  der  Aufstieg  des 
Papstthums  zur  Tyrannis  in  der  Kirche  und  damit  zur  Weltherrschaft 
ist  von  der  I*^römmigkeit  und  allen  idealen  Mächten  des  Zeitalters 
i)efördert  worden.  Nicht  wider  den  Geist  der  Zeit  —  wie  wäre  das 
auch  möglich  gewesen !  —  sondern  mit  ihm  im  Bunde  hat  das  Papst- 
thum  den  Thron  der  Weltgeschichte  im  11.  und  12.  Jahrhundert 
bestiegen.  Seine  Gegner  waren,  soweit  sie  Religion  besassen,  seine 
geheimen  Bundesgenossen  oder  kämpften  mit  unsicherem  Gewissen  oder 
vermochten  doch  nicht  die  Güter,  für  welche  sie  stritten,  als  die 
höchsten  und  heiligsten  zu  erweisen.  Unter  solchen  Umständen  er- 
hielten  die   päpstlichen  Decretalien   ein   immer  grösseres  Ansehen^. 

^  Die  Zählung  der  ökumenischen  Concilien,  wie  sie  jetzt  sententia  communis 
unter  den  curialistischen  Theologen  geworden  ist,  stammt  erst  von  B  e  1 1  a  r  m  i  n 
(s.  Dülliuger  undHeusch,  Die  Selbstbiographie  des  Cardinais  Bellarmin.  1887 
S.  226  ff,).  Noch  im  16.  Jahrhundert  herrschten  die  grössten  Verschiedenheiten  in 
der  Zählung;  ja  die  Mehrzahl  sah  in  den  ohne  Betheiligung  der  griechischen  Kirche 
gehalteneu  Concilien  überhaupt  keine  ökumenischen.  Ebenso  war  Streit,  ob  das 
Basler,  Florentiner  (und  Constanzer)  Concil  mitzuzählen  seien.  Erst  Bellarmin  in 
der  römischen  Ausgabe  der  Concilia  generalia  von  1608  f.  hat  die  Lateranconcilien 
von  1123  und  1139  aufgenommen  (und  das  Basler  weggelassen).  „Die  Frage  war 
zwar  für  ihn  insofern  von  untergeordneter  Bedeutung,  als  er  die  Beschlüsse  der 
unter  dem  Vorsitz  des  Papstes  gehaltenen  oder  von  ihm  bestätigten  Particularcon- 
cilien  denen  der  allgemeinen  gleichstellt;  aber  mitKücksicht  auf  diejenigen,  welche 
nicht  den  Papst,  sondern  das  allgemeine  Concil  für  unfehlbar  hielten,  musste  er  doch 
die  Frage  erörtern,  welche  Concilien  als  allgemeine  anzusehen  seien."  Er  liess  sich 
aber  natürlich  bei  dieser  Bestimmung  von  seinem  streng  curialistischen  Standpunkt 
leiten ,  d.  h.  er  beseitigte  das  Constanzer  und  Basler  Concil,  und  stellte  das  Flo- 
reiizer,  das  4.  und  5.  Lateranconcil,  das  1.  Lyoner  und  das  von  Vienne  unter  die  öku- 
menischen, weil  sie  dem  Papstthum  günstig  waren.  So  ist  die  Anzahl  von  18  appro  - 
birten  allgemeinen  Concilien  bei  ihm  zu  Stande  gekommen  (8  aus  dem  ersten  Jahr- 
tausend, die  Lateranconcilien  von  1123.  1139.  1179.  1215,  die  von  Lyon  1245  und 
1274,  das  Vienner  1311,  das  Plorenzer,  das  5.  Lateranconcil  und  das  von  Trident). 
Aber  auch  hier,  wie  überall  in  der  katholischen  Dogmatik,  giebt  es  „halbe"  In- 
stanzen und  halbwerthige  Münzen  trotz  des  hl.  Geistes,  der  in  alle  Wahrheit  leitet. 
„Theils  bestätigt,  theils  verworfen"  sind  nämlich  mehrere  Concilien,  unter  ihnen 
das  Constanzer  und  Basler,  und  „weder  augenscheinlich  bestätigt  noch  augenschein- 
lich verworfen"  ist  das  Concil  von  Pisa  1409.  Seit  dem  Jahre  1870  hat  die  Frage 
nach  der  Zahl  der  ökumenischen  Concilien  bei  den  Katholiken  vollends  jedes  wirk- 
liche Interesse  verloren.  Aber  der  reactionäre  Protestantismus  hat  allen  Grund, 
sich  für  dieselbe  zu  interessiren. 

"  Ueber  die  Entwickelung  des  Primats  im  11.  und  12.  Jahrhundert  vgl.  Döl- 
linger,  Janus  S.  107  ff.  (Schwane,  Dogmengesch.  des  Mittelalters  S.  530  tt'.). 
AVie   viel  mächtiger  war  die  ofreg-orianische  Partei  im   11.  Jahrhundert  als   die 


Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts.  309 

Sie  traten  neben  die  alten  Kanones  *,  ja  selbst  neben  die  Beschlüsse 
ökumenischer  Concilien.  Jedoch  blieb  streng  genommen  das  Mass 
des  Ansehens  noch  ganz  unsicher,  und  dogmatische  Fragen  sind 
vor  Innocenz  III.  nicht  oder  nur  ganz  selten  in  ihnen  behandelt  wor- 
den, wie  denn  überhaupt  die  Päpste  der  anderthalb  Jahrhunderte 
von  der  Synode  von  Sutri  bis  1198  mit  der  Durchführung  der  römi- 
schen autokratischen  und  mönchischen  Kirchenordnung  vollauf  be- 
schäftigt gewesen  sind  '^. 

Niemals  hätte  das  Papstthum,  indem  es  sich  als  jurisdictio- 
nelle  Oberinstanz  entwickelte,  in  der  Kirche,  die  doch  Glaubens- 
und Kultus gemeinschaft  ist,  die  monarchische  Leitung  in  Bezug  auf 


pseudoisidorische  im  9.,  und  wie  viel  revolutionärer  und  zielbewusster  war  Gre- 
gor VII.  als  Nicolaus  I. !  „Er  ist  der  Einzige,  der  mit  vollem  klaren  Bewusstsein 
einen  neuen  Zustand  der  Kirche  mit  neuen  Mitteln  herbeizuführen  entschlossen 
war.  Er  hat  sich  nicht  bloss  als  den  Reformator  der  Kirche,  sondern  als  den 
gottberufenen  Begründer  einer  früher  nie  dagewesenen  Ordnung  der  Dinge  be- 
trachtet." Seine  Hauptmittel  waren  vom  Papst  selbst  gehaltene  Synoden  (damit 
hat  Leo  IX.  begonnen)  und  neue  kirchliche  Gesetzbücher.  Der  Neffe  des  Papstes 
Alexander  II.,  Anselm  von  Lucca,  wurde  der  Begründer  des  neuen  gregoriani- 
schen Kirchenrechts,  und  zwar  theils  durch  zweckmässige  Ytrwerthung  Pseudo- 
isidor's,  theils  durch  eine  neue  Reihe  von  Fictionen  (z.  B. :  der  Episkopat  habe 
überall  von  Petrus  seinen  Ausgang  genommen)  und  Fälschungen.  Ihm  folgte  Deus- 
dedit,  Bonizo  und  Gregor  von  Pavia.  Deusdedit  formulirte  das  neue  Princip,  dass 
Widersprüche  in  der  kirchenrechtlichen  Ueberlieferung  stets  so  zu  schlichten  seien, 
dass  nicht  die  ältere,  sondern  die  grössere  Autorität  die  entgegenstehende 
schlage,  d.  h.  der  Ausspruch  des  Papstes.  Damit  war  die  Autokratie  der  Päpste  auf- 
gerichtet. Ueber  die  Kette  neuer  Fictionen  und  Fälschungen  der  alten  Ueberliefe- 
rung s.  Janus  S.  112  ff.  Besonders  wichtig  ist,  wie  man  der  Geschichte  Zeugnisse 
ablockte,  um  die  Untrüglichkeit  päpstlicher  DecretaUen  zu  beweiser^  und  für  diese 
neue  Lehre  selbst  Augustin  zum  Gewährsmann  stempelte  (S.  119  ff.).  Man  brachte 
es  fertig,  einen  Satz  von  ihm  so  zu  drehen,  dass  er  den  Sinn  bekam,  die  päpstlichen 
Briefe  stünden  den  kanonischen  Schriften  gleich.  Seitdem  haben  sich  die  Vcrthci- 
diger  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes,  die  schon  Gregor  VII.  deutlich  in  Anspruch  ge- 
nommen, ja  als  Concesßum  behandelt  hat  (S.  124  f),  stets  auf  Augustin  berufen.  Gre- 
gor VII.  hat  sogar  nach  älterem  Vorgang  eine  volle  persönliche  Heiligkeit  für 
die  Päpste  —  denn  sie  haben  Alles  was  Petrus  hat  —  in  Anspruch  genommen,  und 
die  Gregorianer  haben  mit  der  Unfehlbarkeit  die  Heiligkeit  des  Papstes  so  kühn 
gelehrt  (Anrechnung  des  Verdienstes  Petri),  dass  Steigerungen  nicht  mehr  möglich 
waren. 

^  Alexander  II.  hat  an  König  Philipj)  von  Frankreich  geschrieben,  er  möge 
die  päpstlichen  Dccretc  den  Kanones  gleichachten;  8.  Jaffe,  Regesta  2.  edit. 
Nr.  4525. 

'^  Die  Lateransynoden  von  1123.  1139.  1170  enthalten  (den  27.  Kanon  des 
Concils  von  1179  ausgenommen,  der  di(^  Ausrottung  der  Katharer  betreibt,  aber 
von  ihren  Lehrern  nichts  sagt)  schlechterdings  nichts  Dogmatisches;  s.  Mansi 
XXI.  XXII,  Hefele  V'-*  S.  378  ff.  438  ff  710  ff 


3 10     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Aneelm's  und  Bernhard's, 

Glaube  und  Sitten  erlangen  können,  wäre  nicht  in  unserer  Periode 
die  Verquickung  von  Dogma  und  Hecht  perfect  geworden.  Nicht 
die  Päpste  haben  sie  herbeigeführt  —  sie  verwertheten  nur  eine  An- 
schauungsweise, die  überall  herrschte  und  der  sich  kaum  ein  Einziger 
entzog.  Wir  haben  in  unserer  Darstellung  vom  Anfang  dieses  Bandes 
an  darauf  hingewiesen,  dass  die  rechtliche  Betrachtung  der  Rehgion 
ein  altes  Erbtheil  der  lateinischen  Kirche  gewesen  ist:  die  Rehgion 
ist  lex  dei,  lex  Christi.  Diese  Betrachtung  hat  zwar  durch  den  Augusti- 
nismus principiell  eine  tiefgreifende  Correctur  erfahren;  aber  Augustin 
selbst  hat  in  vielem  wichtigen  Detail  die  rechtlichen  Schemata  bestehen 
lassen.  Dann  trat  die  abendländische  Kirche  ihre  Weltmission  bei 
den  fremden,  heidnischen  und  arianischen,  Völkern  an.  Ihnen  gegen- 
über war  sie  nicht  bloss  Kultusanstalt,  sondern  das  römisch- 
christliche  Kultur-  und  Rechtssystem.  Nicht  nur  als  Ge- 
meinschaft des  Glaubens  wollte  und  durfte  sie  sich  behaupten,  viel- 
mehr konnte  sie  sich  überhaupt  nur  behaupten,  indem  sie  ihre  gesammte 
Ausstattung  und  alle  ihre  Grundsätze,  die  zum  Theil  höchst  profaner 
Herkunft  waren,  unter  den  Schutz  des  göttlichen  Gesetzes  stellte. 
So  haben  die  germanischen  und  die  romanischen  Völker  alle  Rechts- 
ordnungen  der  Kirche  als  Glaubens  Ordnungen  kennen  gelernt 
und  umgekehrt.  Bonifatius  und  Karl  der  Grosse  sorgten  dann  dafür, 
dass  sie  sich  fügten.  Das  „muss"  in  den  Sätzen:  „Wer  selig  werden 
will,  muss  Folgendes  glauben"  und  „der  Christ  muss  den  Zehnten 
bezahlen",  „der  Ehebruch  muss  mit  dieser  bestimmten  Strafe  gesühnt 
werden"  u.  s.  w.  wurde  identisch.  Wie  lebhaft  die  Ausbildung,  resp. 
Coditicirung  des  kirchlichen  Rechts  seit  der  Sammlung  des  Dionysius 
Exiguus  bis  zu  Pseudoisidor  betrieben  worden  ist,  zeigen  die  zahl- 
reichen Sammlungen,  die  überall  —  auch  in  Rom  noch  —  aus  dem 
reichen  Synodalleben  der  Pro vinzialkir eben  hervorgegangen  sind  und 
die  Selbständigkeit,  die  Rechte,  sowie  das  eigenthümliche  Leben  der 
Kirche  in  der  neuen  Welt  der  germanischen  Bildungen  sicherstellen 
wollten.  Ueberall  (vor  dem  9.  Jahrhundert)  tritt  das  Dogmatische 
ganz  zurück ;  aber  eben  desshalb  gewöhnte  man  sich  daran,  alle  Aus- 
sagen der  Kirche  als  Rechtsordnungen  zu  empfinden.  Die  clu- 
niacensisch-gregorianische  Reform  des  11.  Jahrhunderts  brachte  un- 
zähhge  Verfassungs-  und  Rechtsordnungen  der  Ueberheferung  zum 
Absterben  und  schuf  dafür  neue,  in  denen  sich  in  steigendem  Masse 
die  Selbständigkeit  der  Kirche  gegenüber  dem  Staate  ausdrückte.  In 
Folge  dessen  entwickelte  sich  im  11.  Jahrhundert  eine  grossartige 
Gesetzgebung,  die  in  Gratian's  Sammlung  insofern  einen  verspäteten, 
von  den  Thatsachen  überholten  Abschluss  fand,  als  sie  hier  noch  nicht 


Die  Entwickelung  des  kirchlichen  Rechts.  311 

durchweg  von  dem  Gedanken  der  Concentration  der  Kirchengewalt 
in  der  Hand  des  Papstes  bestimmt  ist  ^  Aber  diese  Sammlung  und 
einige  ältere,  die  ilir  vorangegangen  sind,  zeigen  ausser  der  Aufnahme 
der  gregorianischen  Lehren  auch  desshalb  eine  ganz  neue  Wendung, 
weil  sie  aus  dem  Rechtsstudium  hervorgegangen  sind.  Auch  hier 
ist  Gregor  YII.  epochemachend.  Er  ist  der  grosse  Jurist  auf  dem 
päpstlichen  Stuhl  gewesen,  und  von  seiner  Zeit  an  beginnt  die 
juristisch -wissenschaftliche  Behandlung  aller  Functionen 
der  Kirche  die  höchste  Aufgabe  zu  werden.  Das  Studium 
des  Rechts,  in  Bologna  vor  Allem  betrieben  ''^,  übte  einen  unermess- 
lichen  Einfluss  auf  die  denkende  Betrachtung  der  Kirche  in  der 
ganzen  Breite  ihrer  Existenz  aus ;  ja  an  dem  Eechtsstudium  bildete 
sich  das  Denken  überhaupt. 

Was  sich  früher  aus  zwingenden  Verhältnissen  heraus  entwickelt 
hatte,  die  Kirche  als  Rechtsinstitut,  wurde  nun  durch  den  Gedanken 
befestigt  und  ausgebaut  ^.  Das  juristische  Denken  nahm  Alles  in 
Beschlag.  Doch  auch  hier  hat  die  Noth  gewaltet.  Denn  was  ver- 
mögen die,  welche  noch  in  einer  Welt  der  Abstractionen  leben  und 
blind  sind  für  die  Natur  und  Gescliichte,  zunächst  anders  zu  werden 
als  Juristen  und  Dialektiker,  wenn  der  Trieb  des  Nachdenkens  einmal 
erwacht  ist?  So  lagerte  sich  der  nun  bewusst  gewordene  Geist  der 
Jurisprudenz  über  die  ganze  Kirche,  auch  über  ihren  Glauben.  Alles 
wird  von  demselben  mit  Beschlag  belegt.  Er  ist  eine  starke  Kraft  in 
dem,  was  man  „Scholastik'^  nennt,  er  leitet  die  gewaltigsten  Päpste 
(Alexander  III.  als  magister  Rolandus),  und  er  beginnt  die  Darlegung 
der  überlieferten  Dogmen  in  sein  Netz  zu  ziehen.  Allerdings  hatte  er 
dabei  leichtes  Spiel;  denn  in  ihren  praktischen  Spitzen  waren  diese 
Dogmen  bereits  vöUig  in  ein  Rechtsverfahren  als  Rechtsmittel  hinein- 
gezogen. Was  noch  übrig  blieb,  war,  auch  die  centralen  Glaubenslehren 
selbst  einer  juristischen  Exposition  zu  unterziehen  und  sie  damit  „wissen- 

*  S.  v.  Schulte,  Lehrbuch  des  kathol.  undevang.  Kirchenrechts,  4.  Aufl.  S.  20. 

'^  H.  Denifle,  Die  Univ.  des  Mittelalters  I.  1885.  Kaufmann,  Gesch.  der 
deutschen  Univers.  I  S.  157  ff. 

3  S.  V.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  u.  s.  w.  I  S.  92  ff.  II  S.  512  f.  Indem 
Gregor  Vll.  noch  energischer  als  irgend  einer  seiner  Vorgänger  die  Kirche  als  das 
auf  Petrus  gegründete  Reich  fasste  und  Alles  auf  die  ihr  verliehene  Gewalt  zu- 
rückführte, war  damit  der  Rechtsorganismus  in  den  Vordergrund  gerückt-,  s. 
Kahl,  Die  Verschiedenheit  kathol.  und  evang.  Anschauung  über  das  Verhältniss 
von  Staat  und  Kirche  (188H)  S.  H  f.:  „Die  katholische  Kirche  charakterisirt  sich 
schon  nach  der  Lehre  von  ihrer  Begründung  und  nach  ihrem  Begriffe  als  Rechts- 
organismuH."  Die  vollständigsten  und  zuverlässigsten  geschichtlichen  Nachweise  bei 
Hinschius,  Kath.  Kirchenrecht. 


312     Geschichte  des  Dogiims  im  Zeitalter  Chigny's,  Ausehn's  uud  ßeruhard's. 

schaftlich ^'  zu  rechtfertigen  und  zu  vertheidigen.  Auch  hier  freilich 
fand  man  nicht  bloss  spröde  Stoffe  vor;  vielmehr  hatten  die  lateini- 
schen Väter  des  Dogmas  (vgl.  Tertullian)  selbst  die  Grundsteine  zum 
Theil  schon  juristisch  zugeschliffen;  aber  es  lag  doch  noch  eine  un- 
endhche,  vollständig  auch  nicht  annähernd  je  geleistete  Aufgabe  vor, 
die  ganze  dogmatische  Ueberlieferung  in  dem  Geiste  der  Jurisprudenz 
umzudenken,  Alles  in  den  Schematen  von  Richter  (Gott),  Angeklagten, 
Advocaten,  Rechtsmitteln,  Satisfactionen ,  Strafen,  Indulgenzen  zur 
Darstellung  zu  bringen,  aus  den  Dogmen  ebensoviel  Abstufungen  des 
Allgemein-giltigen,  des  Particular-giltigen,  des  Probablen,  des  Gewohn- 
heitsrechts, des  positiven  Rechts  u.  s.  w.  zu  machen  wie  die  weltlichen 
Rechtsordnungen  abgestuft  sind,  und  die  Dogmatik  in  eine  Gerichts- 
stube zu  verwandeln,  aus  der  sich  dann  das  Kaufhaus  und  die  Räuber- 
hohle entwickeln  sollte. 

Aber  in  unserer  Periode  ist  doch  die  Kirche  der  Grund  und  die 
Zusammenfassung  der  höchsten  Ideale  des  mittelalterlichen  Menschen 
gewesen,  und  der  ungeheure  Widerspruch,  in  dem  man  sich  bewegte 
—  allerdings  schon  von  Augustin  ab  bewegte  — ,  die  Kirche  gleich- 
zeitig als  societas  fidelium  und  als  den  hierarchisch  organisirten  coetus 
zu  fassen,  die  weltliche  Obrigkeit  in  ihrem  göttlichen  Recht  anzu- 
erkennen und  doch  ihre  Autorität  zu  unterdrücken,  wurde  von  Vielen 
kaum  empfunden  ^  Erst  am  Ende  der  Epoche  wurde  die  Spannung 
off'enbar;  aber  da  war  bereits  die  Hierarchie  zur  Kirche  geworden. 
Eben  damals  wurde  desshalb  der  Anspruch  der  Hierarchie  und  spe- 
ciell  des  Papstthums  als  Dogma  verkündet  und  der  Kampf  der  staat- 
lichen Gewalten  gegen  den  Despotismus  des  Papstes  ebenso  als  Auf- 
lehnung gegen  Christus  bezeichnet,  wie  die  Behauptung  der  Secten, 
dass  die  wahre  Kirche  der  Gegensatz  zur  Hierarchie  sei.  Darüber 
wird  im  folgenden  Capitel  zu  handeln  sein. 

3.  Der  Aufschwung  der  Wissenschaft^. 

Theologen  und  Philosophen  haben  gewetteifert,  eine  besondere 
Definition  für  die  Scholastik  zu  finden  und  das,  was  dieser  Name 

^  In  der  werthvoUen  Untersuchimg  von  Mirbt,  Die  Stellung  Augnstin's  Inder 
Publicistik  des  gregorianischen  Kirchenstreits  (1888),  ist  zum  ersten  Mal  metho- 
disch und  gründlich  die  Bedeutung  Augustin's  für  die  kirchenpolitischen  Kämpfe 
des  11.  Jahrhunderts  dargelegt.  Direct  ist  sie  geringer  gewesen  als  man  wohl  er- 
wartet hat,  und  merkwürdig  ist,  dass  die  Antigregorianer  ein  grösseres  Erbe  augu- 
stinischer  Gedanken  aufzuweisen  haben,  als  ihre  Gegner  (s.  Theol.  Lit.-Ztg.  1889 
Col.  599). 

'^  S.  die  Geschichten  der  Philosophie  vonUeb  er  weg,  Erdmanu  und  Stöckl; 
Prantl,  Gesch.  der  Logik  Bd.  II — IV;  Bach,  a.  a.  O.I.II;  Reuter,  Gesch.  der 


Wesen  der  Scholastik.  313 

besagen  soll,  abzugrenzen  gegen  die  altkirchliche  (griechische)  Theo- 
logie und  Philosophie  einerseits,  gegen  die  moderne  Wissenschaft  an- 
dererseits. Diese  Versuche  haben  zu  keinem  anerkannten  Ergebniss 
geführt  und  konnten  nicht  zu  einem  solchen  führen,  weil  die  Scho- 
lastik eben  nichts  Anderes  gewesen  ist  als  wissenschaftliches 
Denken.  Dass  dieses  Denken  von  Vorurtheilen  abhängig  war  \ 
und  dass  es  sich  theils  gar  nicht,  theils  nur  sehr  langsam  von  den- 
selben befreit  hat,  theilt  die  Wissenschaft  des  Mittelalters  mit  der 
Wissenschaft  aller  Zeiten.  Weder  die  Abhängigkeit  von  Autoritäten, 
noch  das  Vorwiegen  der  deductiven  Methode  ist  für  die  Scholastik 
besonders  charakteristisch;  denn  gebundene  Wissenschaft  hat  es  zu 
allen  Zeiten  gegeben  —  unsere  Nachkommen  werden  finden,  dass 
auch  die  heutige  Wissenschaft  vielfach  nicht  nur  durch  die  reine  Er- 
fahrung gebunden  ist  — ,  und  die  dialektisch-deductive  Methode  ist 
das  Mittel,  dessen  sich  jede  Wissenschaft,  die  den  Muth  hat,  die 
üeberzeugung  von  der  Einheit  alles  Seienden  kräftig  geltend  zu 
machen,  bedienen  muss.  Aber  es  ist  nicht  einmal  richtig,  dass  jene 
Methode  innerhalb  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  allein  oder  vor- 
nehmlich gewaltet  hat.  Der  Realismus,  wie  er  durch  Albert  und 
Thomas  vertreten  ist,  hat,  den  Impulsen  Augustin's  folgend,  die  Er- 
fahrung in  ausgezeichneter  Weise  herbeigezogen,  und  der  Scotismus 
und  Nominalismus  vollends  ruhen  zum  Theil  auf  der  empirischen 
Methode,  mag  auch  Duns  dieselbe  im  Vergleich  mit  der  deductiven 
als  verworren  gescholten  haben.  Wichtig  ist  hier  nur  dies,  dass  die 
Betrachtung  der  äusseren  AVeit  eine  höchst  unvollkommene  gewesen 
ist,  dass  mit  einem  AVort  die  Naturwissenschaft  und  die  AVissenschaft 
von  der  Geschichte  gefehlt  hat,  weil  man  wohl  den  Geist,  nicht 
aber  das  Sinnliche  zu  beobachten  verstand^.  Am  wenigsten  aber 
darf  man  der  Scholastik  die  „künsthchen"  „ersonnenen"  Probleme 
zum  A^orwurf  machen.  Von  ihren  Prämissen  aus  waren  sie  nicht  künst- 

Aufkl.  I  und  II ;  L  ö  w  e ,  Der  Kampf  zwischen  dem  Nominalismns  und  Realismus  1876 ; 
Nitzsch,  Art.  Scholastische  Theologie  in  der  R.-E.  XIIP  S.  650  ff.,  wo  S.  674  ff. 
die  Litteratur  verzeichnet  ist.  Dilthey,  Einl.  in  die  Geisteswissensch.  I.  Deniflc, 
a.  a.  0.;  Kaufmann,  a.  a.  0.  S.  1  ff.;  Deniflc  i.  d.  Archiv  f.  Litt.-  u.  Kirchen- 
gesch.  des  Mittelalters  I.  II;  v.  Eicken,  a.  a.  0.  S.  589  ff. 

'  Das  grundlegende  Vorurtheil,  welches  aber  die  Scholastik  mit  der  Theo- 
logie des  Alterthums  und  leider  auch  der  Neuzeit  theilt,  war  dies,  dass  die  Theologie 
Wclterkennen  sei,  resp.  das  Welterkennen  zu  begründen  und  zu  vollenden  habe. 
Sagt  man  heute,  sie  habe  es  auszustopfen,  indem  sie  dort  eintrete,  wo  das  AVissen 
aufhört,  so  meint  man,  mit  abgenöthigter  Bescheidenheit,  immer  noch  dasselbe. 

^  Doch  gilt  auch  dies  nicht  von  der  ganzen  Scholastik.  Sie  hat,  namentlich  in 
ihrer  späteren  Periode,  auch  auf  das  Buch  der  Natur  verwiesen. 


314     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny 'ß,  Anselm'ß  und  Bernhard'». 

lieh,  iiiul  dass  man  sie  kühn  verfolgte,  war  nur  ein  Beweis  der  wissen- 
schaftlichen Energie. 

Somit  ist  die  Scholastik  des  Mittelalters  einfach  Wissenschaft 
gewesen,  und  es  wird  lediglich  ein  ungerechtfertigtes  Misstrauen  da- 
durch verewigt,  dass  man  diesen  Theil  aus  der  allgemeinen  Geschichte 
der  Wissenschaft  mit  einem  besonderen  Namen  meint  belegen  zu  dürfen  K 
Als  ob  nicht  die  Wissenschaft  überhaupt  ihre  Stufen  hätte,  als  ob  sich 
die  mittelalterliche  Stufe  durch  eine  unerhörte  und  sträfliche  ])unkel- 
lieit  von  den  übrigen  unterscliiede !  Man  kann  vielmehr  umgekehrt 
sagen,  dass  die  Scholastik  ein  einzigartiges,  leuchtendes  Beispiel  dafür 
liefert,  dass  das  Denken  auch  unter  den  ungünstigsten  Bedingungen 
seinen  AVeg  findet,  und  dass  auch  die  schwersten  Vorurtheile,  die  es 
niederhalten,  nicht  stark  genug  sind,  um  es  zu  ersticken.  Inder  Wissen- 
schaft des  Mittelalters  zeigt  sich  eine  Kraftprobe  des  Denktriebes  und 
eine  Energie,  alles  Wirkliche  und  AVerthvolle  dem  Gedanken  zu 
unterwerfen,  wie  uns  vielleicht  kein  zweites  Zeitalter  eine  solche  bietet  ^. 

Daher  ist  es  unnütz,  seinen  Scharfsinn  auf  die  Beantwortung  der 
Frage  zu  richten,  was  für  eine  Art  von  Wissenschaft  sich  in  der 
Scholastik  darstellt :  man  hat  vielmehr  lediglich  nach  den  Bedingun- 
gen zu  fragen,  unter  denen  das  wissenschaftliche  Denken  damals  gestan- 
^n  hat.  Nicht  ebenso  unnütz,  aber  verworren  behandelt  ist  auch  die  viel- 
bewegte, durch  Confusion  und  Langeweile  ausgezeichnete  Doctorfrage 
über  das  Yerhältniss  von  Scholastik  und  Mystik  ^.  Versteht  man  — 
was  willkürlich  ist  —  unter  Scholastik  „die  Magd  des  Hierar chismus^' 


^  Richtig  Kaufmann  S.  5:  „Auf  dem  Namen  der  Scholastik  ruht  noch  immer 
etwas  von  dem  Hass  und  der  Verachtung,  welche  die  Humanisten  gegen  sie  ent- 
fesselt haben."  Erklärlich  ist  diese  feindselige  Stimmung  freilich,  sofern  die  Scholastik 
noch  eben  unsere  heutige  Wissenschaft  bedroht.  Doch  hat  sich  in  den  letzten  Jahren 
ein  Umschwung  des  Urtheils  gezeigt,  der  den  erneuten  Empfehlungen  des  hl.  Thomas 
seitens  des  Papstes  zu  gut  kommt.  In  dem  Bestreben,  gerecht  zu  sein,  wird  mau 
im  Lobpreis  der  einst  ungerecht  behandelten  Scholastik  sogar  überschwänglich,  wie 
das  Urtheil  eines  sehr  berühmten  Juristen  beweist.  An  diesem  Lobpreis  mag  auch 
der  Umstand  betheiligt  sein,  dass  man  die  Scholastiker  nun  überhaupt  wieder  liest 
und  zu  seiner  Verwunderung  findet,  dass  sie  nicht  so  unvernünftig  sind,  wie  man 
geglaubt  hat. 

^  Doch  darf  man  von  jener  Zeit  mit  dem  Dichter  sagen:  „Alles  will  jetzt  den 
Menschen  von  innen,  von  aussen  ergründen,  Wahrheit  wo  rettest  du  dich  hin  vor 
der  wüthenden  Jagd?" 

^  Zur  Mystik  s.  die  Arbeiten,  welche  Karl  Müller  in  seiner  krit.  Uebersicht 
(Ztschr.  f.  K.-Gesch.  VII  S.  102  ff.)  angeführt  hat.  Vor  Allem  kommen  die  zahl- 
reichen Arbeiten  von  Denifle  und  Preger  (Gesch.  der  deutschen  Mystik  I.  II) 
sowie  Greith,  Die  deutsche  Mystik  im  Predigerorden  1861,  in  Betracht.  Für  die 
ältere  Mystik  vgl.  die  Monographien  über  Anselm,  Bernhard  und  die  Victoriner. 


Scholastik  und  Mystik.  315 

oder,  mit  plötzlicher  Frontveränderimg,  den  „Bau  von  Systemen  un- 
bekümmert um  die  Bedürfnisse  des  inneren  Lebens"  oder  die  „rationa- 
listische Beweissucht"  und  stellt  dann  die  Mystik  als  die  freie  Pec- 
toraltheologie  daneben,  so  kann  man  den  schönsten  Gegensatz  — 
Hagar  und  Sarah,  Martha  und  Maria  —  construiren.  Man  kann  aber 
dann  wiederum  mit  leichter  Mühe  Scholastik  und  Mystik  in  einander 
übergehen  lassen  und  so  mit  diesen  Worten  ein  verwegenes  dialek- 
tisches Spiel  treiben,  welches  den  Tiefsinn  des  Urhebers  ehrt,  aber  nur 
den  Nachtheil  hat,  dass  man  am  Ende  der  Definitionen  ebenso  klug 
ist  wie  am  Anfang.  Die  Sache,  um  die  es  sich  hier  handelt,  ist  einfach. 
Scholastik  ist  Wissenschaft,  angewandt  auf  die  Religion  und  —  wenig- 
stens bis  zu  der  Zeit,  w^o  sie  sich  zersetzte  —  von  dem  Axiom  aus- 
gehend, dass  aus  der  Theologie  alle  Dinge  zu  verstehen,  alle  Dinge 
desshalb  auch  auf  die  Theologie  zurückzuführen  sind.  Dieses 
Axiom  setzt  regelmässig  voraus,  dass  der  Denker  sich  selbst  in  der 
vollen  Abhängigkeit  von  Gott  empfindet,  dass  er  diese  immer  tiefer  zu 
erkennen  strebt,  und  dass  er  alle  Mittel  benutzt,  um  sein  eigenes 
religiöses  Leben  zu  kräftigen;  denn  nur  in  dem  Masse,  als  er  sich 
selbst  unter  und  in  Gott  findet  und  weiss,  ist  er  befähigt,  alles  Andere 
zu  verstehen,  da  ja  die  Dinge  verstehen  nichts  Anderes  heisst,  als 
ihr  Verhältniss  zu  dem  Einen  und  Ganzen  oder  zu  dem  Urheber 
(d.  h.  in  beiden  Fällen  zu  Gott)  zu  kennen.  Hieraus  folgt  ohne 
Weiteres ,  dass  die  persönliche  Frömmigkeit  die  Vor- 
aussetzung der  AVissenschaft  ist.  Sofern  aber  die  persön- 
Hche  Frömmigkeit  in  jener  Zeit  stets  als  mit  Askese  begleitete 
Contemplation  über  das  Verhältniss  des  Ichs  zu  Gott  gedacht 
wurde  ^,  ist  die  Mystik  die  Voraussetzung  der  Schola- 
stik, mit  anderen  Worten:  die  mittelalterliche  AVissenschaft  grün- 
det sich  auf  Frömmigkeit  und  zwar  auf  eine  solche  Frömmigkeit, 
die  selbst  Contemplation  ist,  also  in  einem  intellectuellen 
Elemente  lebt.  Hierausfolgt,  dass  diese  Frömmigkeit  selbst 
zum  Denken  antreibt;  denn  der  Drang,  das  Verhältniss  des 
eigenen  Ichs  zu  Gott  kennen  zu  lernen,  führt  mit  Nothwendigkeit 
dazu,  das  Verhältniss  der  Schöpfung,  als  deren  Glied  man  sich 
weiss,  zu  Gott  zu  bestimmen.  Wo  nun  diese  Erkenntniss  so  verläuft, 
dass  die  Einsicht  in  das  Verhältniss  der  AVeit  zu  Gott  lediglich 
oder   vornehmlich   desshalb   gesucht   wird,    um    die    eigene  Stellung 

*  Frömmigkeit  ist  zuoberst  nicht  die  verborgene  Stimmung  des  Gefühls  und 
Willens,  auH  welcher  die  Lielje  zum  Niiehsten,  die  Demutli  und  die  Geduld  ent- 
Hpriogt,  sondern  sie  ist  aus  der  ständigen  Kcllexion  über  die  Beziehung  der  Seele 
auf  Gott  erzeugte,  sich  steigernde  Erkenntniss. 


316     GeHchichto  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm'o  und  Bernhard's. 

der  Seele  zu  Gott  besser  zu  verstehen  und  in  solchem  Verständniss 
innerlich  zu  wachsen,  da  spricht  man  von  mystischer  Theo- 
logie '.  Wo  aber  diese  reflexive  Abzweckung  des  Erkenntnisspro- 
cesses  niclit  so  deutlich  hervortritt,  vielmehr  die  Erkenntniss  der  Welt 
in  ihrer  Beziehung  auf  Gott  ein  selbständigeres  objectives  Interesse 
gewinnt^,  da  wird  der  Terminus  scholastische  Theologie 
gebraucht.  Man  sieht  hieraus,  dass  es  sich  niclit  um  zwei  neben 
oder  gar  widereinander  laufende  Grössen  handelt,  sondern  dass  mysti- 
sche und  scholastische  Theologie  ein  und  dieselbe  Erscheinung  sind, 
die  sich  nur  in  mannigfachen  Abstufungen,  je  nachdem  das  subjective 
oder  das  objective  Interesse  vorwaltet,  darstellen  ^.  Jenes  Interesse 
hat  gerade  den  bedeutendsten  Scholastikern  so  wenig  gefehlt,  dass  man 

*  Wie  sehr  namentlich  die  spätere  mystische  Theologie  von  der  Scholastik 
abhängig  ist,  richtiger:  wie  identisch  die  beiden  sind,  haben  namentlich  die  Arbeiten 
Denifle's  (gegen  P reger  in  den  histor.  polit.  Blättern  1875  S.  679  ff.  und  über 
Meister  Eckhart  in  dem  Archiv  f.  Litt.-  u.  K.-Gesch.  des  Mittelalters  II.  Bd.) 
gezeigt. 

^  Nur  um  Gradunterschiede  handelt  es  sich-,  sehr  richtig  K.  Müller  (Ztschr. 
f.  K.-Gesch.  VII  S.  118):  „Der  Charakter  der  mittelalterlichen  Frömmigkeit  prägt 
sich  auch  in  den  theoretischen  Erörterungen  der  Scholastik  doch  immer  mehr  oder 
weniger  aus,  weil  bei  den  Vertretern  der  letzteren  schon  im  Zusammenhang  mit 
ihrer  mönchischen  Erziehung  und  Schulung  die  ganze  eine  Hälfte  des  Heilswegs 
durchweg  von  den  Interessen  und  Gesichtspunkten  der  Mystik  beherrscht  ist.  So- 
bald dieselben  in  ihren  theoretischen  Erörterungen  das  Gebiet  der  Heilsaneignung 
betreten,  bringen  sie  gleichzeitig  die  Voraussetzungen  ihrer  praktischen  Mystik  mit." 

^  Auch  in  der  Verhältnissbestimmung  von  Nitzsch  (a.  a.  0.  S.  651  ff.  655) 
vermag  ich  eine  Klärung  nicht  zu  finden,  während  bei  Thomasius-Seeberg  die 
deutliche  Erkenntniss  der  Sache  vollends  durch  einen  Schwall  von  Einzelheiten 
verschüttet  ist.  Nitzsch  hebt  erstlich  den  formalistischen  Charakter  der 
Scholastik  stark  hervor,  verweist  dann  zum  Verständniss  der  mystischen  Theologie 
auf  ihren  Ursprung,  die  pseudodionysische  Lehre,  und  schliesst  nun:  „Es  liegt 
auf  der  Hand,  dass  diese  Theologie  des  Gemüths,  des  Gefühls  und  der  unmittel- 
baren Anschauung  von  der  scholastisch-dialektischen  Theologie  grundverschieden 
ist."  Allein  die  Behauptung,  die  scholastische  Theologie  sei  formalistisch,  ist,  wie 
sich  unten  noch  deutlicher  zeigen  wird,  kaum  cum  grano  salis  richtig.  Wie  darf  man 
eine  Denkweise  formalistisch  nennen,  die  das  höchste  Interesse  hat,  Alles  auf  eine 
lebendige  Einheit  zu  beziehen?  Und  wenn  die  angewandten  Mittel  das  gesteckte  Ziel 
nicht  zu  erreichen  vermögen  (nach  unserem  Urtheil),  haben  wir  desshalb  ein  Recht, 
jenen  Gelehrten  ein  nur  formalistisches  Interesse  an  den  Dingen  vorzuwerfen? 
Ferner  aber  ist  die  pseudodionysische  Theologie  ebensosehr  die  Voraussetzung  der 
Scholastik  wie  der  Mystik,  und  das,  was  Nitzsch  „Theologie  des  Gemüths,  des 
Gefühls  und  der  unmittelbaren  Anschauung"  nennt,  spielt  als  Aund  0  dort  und 
hier  die  gleiche  Rolle,  während  die  mystische  Theologie  allerdings  den  Ausgangs- 
punkt durch  das  ganze  Alphabet  hindurch  offenkundig  festhält,  die  Scholastik  ihn 
scheinbar  verlässt,  aber  zuletzt  (Lehre  vom  Heilsweg)  stets  zu  ihm  zurückkehrt, 
damit  bekundend,  dass  sie  ihn  im  Grunde  niemals  aus  den  Augen  verloren  hat. 


Scholastik  und  Mystik.    Bedingungen  der  mittelalterl.  Wissenschaft.      317 

ihre  ganze  Theologie  unbedenklich  auch  als  mystische  Theologie  be- 
zeichnen kann  —  bei  Thomas  ist  die  Mystik  Ausgangspunkt  und 
Praxis  der  Scholastik  — ,  und  umgekehrt  giebt  es  Theologen,  die  als 
Mystiker  bezeichnet  werden,  aber  in  der  Stärke  des  Triebes,  die  Welt 
zu  erkennen  und  die  Kirchenlehre  ordnend  zu  verstehen,  den  soge- 
nannten Scholastikern  keineswegs  nachstehen.  Hiermit  ist  aber  weiter 
bereits  gesagt,  dass  ein  specifischer  Unterschied  zwischen  den  wissen- 
schaftlichen Mitteln  ebenfalls  nicht  besteht.  Auch  hier  handelt  es 
sich  ledighch  um  Nuancen.  Die  Vorstellung  des  Gottes,  in  dem  und 
von  dem  aus  alle  Dinge  zu  verstehen  sind,  war  durch  die  kirchliche 
Ueb  erlief  er  ung  gegeben.  In  dieser  Vorstellung  war  aber  auch  die  sub- 
jective  Frömmigkeit  erzogen.  Die  formalen  Bildungselemente  waren 
ebenfalls  überall  dieselben.  Sofern  die  ^vissenschaftlichen  Mittel  durch- 
weg denselben  drei  Quellen,  dem  autoritativen  Dogma,  der  inneren  Er- 
fahrung und  der  überlieferten  Philosophie,  entstammten,  lassen  sich 
Unterschiede,  die  mehr  wären  als  Spielarten  (stärkeres  oder  geringeres 
Zurücktreten  der  logischen  Formahstik,  Bevorzugung  der  inneren  Be- 
obachtung vor  der  autoritativen  Ueberlieferung),  nicht  feststellen  \ 

Dennoch,  sagt  man,  sind  innerhalb  der  mittelalterhchen  Wissen- 
schaft grosse  Spannungen  eingetreten.  Man  verweist  auf  Anselm  und 
seine  Gegner,  auf  Bernhard  und  Abälard,  auf  die  deutschen  Theologen 
des  14.  Jahrhunders  und  die  sie  verketzernden  Kirchenmänner,  und 
man  bringt  diese  Gegensätze  auf  die  Formel,  dass  hier  die  Mystik  im 
Streit  mit  der  Scholastik  liege.  Unterschiede  sind  hier  allerdings  vor- 
handen ;  aber  sie  werden  durch  jenes  Schlagwort  nur  sehr  unsicher  be- 
leuchtet. Vor  Allem  sind  die  hier  zusammengefassten  Erscheinungen 
keineswegs  in  einer  Gruppe  zu  vereinigen.  Indess,  bevor  wir  auf  sie 
eingehen,  werden  wir  gut  thun,  die  oben  gestellte  Hauptfrage  zu  be- 
antworten, unter  welchen  Bedingungen  das  wissenschafthche  Denken 
des  Mittelalters  gestanden,  resp.  wie  es  sich  entwickelt  hat,  und  wel- 
ches die  concretenFactoren  waren,  die  es  bestimmt  (gefördert  oder  ge- 
hemmt) und  ihm  damit  das  eigenthümliche  Gepräge  verHehen  haben. 
Aus  dieser  Untersuchung  wird  sich  die  zutreffende  Beleuchtung  jener 
Spannungen  von  selbst  ergeben,  die  man  irrthümlich  bestimmt,  wenn 
man  sie  als  Kampf  zweier  entgegengesetzter  Principien  bezeichnet. 

Das  Mittelalter  hat  von  der  alten  Kirche  nicht  nur  das  wesentlich 
fertige  Dogma  erhalten,  sondern  auch  —  als  lebendige  Kraft  —  die  Phi- 
losophie resp.  Theologie,  welche  an  der  Ausprägung  des  Dogmas  gear- 
beitet hat,  und  dazu  einen  Schatz  klassischer,  mit  der  Philosophie 

*  Die  .Scholastik  theilt  mit  der  Mystik  den  „finis",  und  die  Mystik  braucht 
wesentlich  dieselben  Mittel  wie  die  Scholastik. 


318     ( Jesehichte  dos  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny'fl,  Anaelm's  uml  Bernhard's. 

und  dem  Dogma  wenig  oder  gar  nicht  zusammenhängender  Litteratur, 
dem  in  Itahen  und  Byzanz  ein  nie  völlig  untergegangenes  Element  an- 
tiker Lehensauffassung  entsprach.  In  diesen  drei  Stücken  hestand  die 
Erhscliaft  der  alten  Welt  an  die  neue.  Sie  enthalten  aher  hereits  in  sich 
alle  die  Gegensätze,  die  im  geistigen  Lehen  des  Mittelalters  hervorge- 
brochen sind,  nachdem  man  sich  jenes  Erbe  zum  Bewusstsein  gebracht 
hatte.  Diese  Spannungen  sind  in  der  griechischen  Kirche  seit  den 
Tagen  des  Origenes  und  Hieronymus  el)enso  wirksam  gewesen,  wie 
später  in  der  mittelalterlichen  Kirche.  In  diesem  Sinne  sind  alle  wissen- 
schaftlichen Entwickelungen  des  Abendlandes  im  Mittelalter  ledighch 
eine  Fortsetzung  dessen,  was  die  griechische  Kirche  in  sich  theils  schon 
erlebt  hatte,  theils  noch  immer  in  schwachen  Bewegungen  erlebte.  Der 
Unterschied  besteht  nur  darin,  dass  sich  im  Abendland  allmählich  Alles 
zu  grösserer  Energie  entwickelte,  dass  die  Kirche  als  der  sichtbare  Gottes- 
staat auf  Erden  allem  w^eltlichen  Leben  ihren  Stempel  aufdrückte,  auch 
die  Wissenschaft  enger  an  sich  heranzog,  ihr  einen  höheren  Schwung 
verlieh  und  sie  gleichzeitig  durch  ihre  Autorität  zum  juristischen  Den- 
ken nöthigte,  endlich  darin,  dass  der  griechischen  Wissenschaft  der  Au- 
gustinismus gefehlt  hat. 

Wir  bemerkten  oben,  dass  das  Mittelalter  neben  dem  wesentlich 
fertigen  Dogma  auch  die  zugehörige  Philosophie  resp.  Theologie  von 
dem  Alterthum  erhalten  hat.  Eben  hierin  war  aber  eine  Spannung  ge- 
geben; denn  so  gewiss  diese  Theologie  „zugehörig"  gewesen  ist,  so  ge- 
wiss enthielt  sie  als  lebendige  Kraft  auch  Elemente,  die  dem  Dogma 
feindhch  waren,  mag  man  nun  auf  denNeuplatonismus  oder  den  Aristo- 
telismus  blicken.  Es  ist  bekannt,  dass  beide  Bichtangen  in  der  grie- 
chischen Kirche  seit  dem  5.  und  6.  Jahrhundert  an  dem  Dogma 
gearbeitet  haben,  dass  „Häresien"  zur  Rechten  und  zur  Linken  (Pan- 
theismus und  Tritheismus,  spiritualistische  Mystik  und  rationalistische 
Kritik)  die  Folge  waren,  und  dass  es  dann  seit  dem  justinianischen  Zeit- 
alter zu  jener  Scholastik  gekommen  ist,  welche  den  Mittelweg  zwischen 
dem  Areopagiten  und  Johannes  Philoponus  gefunden  hat  ^ 

In  der  theologischen  AVissenschaft  des  Johannes  Damascenus 
stellt  sich  der  Ausgleich  des  Dogmas  mit  dem  Neuplatonismus  und  dem 
Aristotelismus  dar'-^.  Dabei  spielt  in  den  Principien  Jener,  in  der 
Durchführung  Dieser  die  Hauptrolle ;  denn  mit  Hülfe  der  dialektischen 
Distinction  vermag  man  alle  auftauchenden  Schwierigkeiten  und  Wider- 
sprüche zu  heben.  Allein  durch  den  Ausgleich  war  die  selbständige 
Kraft  der  neuplatonischen  und  aristotelischen  Philosophie  nicht  ge- 

'  S.  Bd.  II  S.  383  f.  dieses  Werkes. 
''  A.  a.  0.  S.  411  f.;  s.  auch  S.  462 ff. 


Die  Anfänge  der  mittelalterlichen  Wissenschaft.  319 

brochen.  Die  Schriftwerke,  die  sie  enthielten,  wurden  fort  und  fort 
gelesen,  und  so  hörten  in  Byzanz  die  Spannungen  nicht  auf.  Die 
mystische  Theologie  wurde  weiter  gepflegt,  Aristoteles  studirt,  und 
beide  bedrohten,  wenn  auch  in  immer  schwächeren  Anläufen,  die  in 
den  Umarmungen  des  Staates  kraftloser  werdende  Kirche  sammt 
ihrer  Dogmatik.  Dazu  kam,  dass  die  Reminiscenzen  an  das  theo- 
logisch unbekümmerte  Zeitalter  der  Antike  nie  erloschen,  dass  eine 
gewisse  weltliche,  religiös  indifferente  Bildung,  freilich  in  der  Regel 
zur  Barbarei  entartet,  sich  erhielt,  welche  doch  stark  genug  war,  um 
es  der  morgenländischen  Kirche  zu  verwehren,  im  weltlichen 
Leben  und  der  weltlichen  Bildung  ihre  Ideale  und  Ziele  je  auch 
nur  annähernd  durchzusetzen.  Mochten  auch  Mönche  und  fromme 
Laien  seit  den  Tagen  des  alexandrinischen  Theopliilus  über  die  Gott- 
losigkeit der  antiken  Litteratur  jammern  und  sie  in  die  Hölle  wünschen : 
man  vermochte  sie  weder  zu  verbannen  noch  zu  reinigen  und  völlig 
in  den  Dienst  der  kirchlichen  Wissenschaft  zu  ziehen. 

Versetzen  wir  uns  nun  in  das  karolingische  Zeitalter  d.  i.  in  die 
erste  Epoche  eines  wissenschafthchen  Aufschwungs  im  Abendland, 
so  finden  wir  genau  dieselben  Elemente,  nur  um  ein  wichtiges  (den 
Augustinismus)  vermehrt,  bei  einander.  Man  ist  eifrig  bestrebt,  das 
überlieferte  Dogma  kennen  zu  lernen  und  es  durchzudenken,  und  be- 
giebt  sich  dabei,  wie  der  adoptianische  Streit  zeigt,  in  die  volle  Ab- 
hängigkeit von  den  Griechen.  An  den  Schriften  des  Boethius  und 
Isidor  besitzt  man  eine  Quelle,  reich  genug  für  jene  Zeit,  um  die 
dialektische  Methodik  zu  lernen.  Die  neujjlatonische  Mystik  ist  be- 
reits, wie  das  Werk  des  Johannes  Scotus  beweist,  in  den  Schriften 
des  Dionysius  und  Maximus  dem  Abendland  bekannt  geworden;  da- 
zu aber  ist  sie  in  theistischer  Fassung  und  mit  einer  unvergleich- 
lichen Anziehungskraft  durch  Augustin  vertreten.  Endlich  wird  die 
antike  Litteratur  (Dichter  und  Geschichtsschreiber)  hervorgesucht,  und 
durch  den  Contact  mit  Italien  steigen  die  verführerischen  Bilder  eines 
nie  ganz  untergegangenen  heiteren  Lebens  auf. 

Allein  die  Kräfte,  über  die  das  Abendland  damals  verfügte,  waren 
noch  zu  schwach,  um  mit  den  Capitalien  sel})ständig  zu  arbeiten,  die 
man  ererbt  hatte.  Sich  in  Augustin  und  Gregor  I.  heimisch  zu 
machen,  die  christologischen  Specuhitionon  der  Griechen  zu  ver- 
stehen und  die  einfachsten  Regeln  der  Logik  und  Methodik  sich  an- 
zueignen —  das  war  die  eigentliche  Aufgabe  der  Epoche.  Was  sie 
darüber  hinaus  versucht  hat,  Scotus  ausgenommen,  war  eine  kraft- 
lose Renaissance;  ja  die  Verl)indung  des  Antiken  mit  dem  Theolo- 
gischen am  Hofe  Karl's   des  Grossen  hat  etwas  Kindhches.     Diese 


320     (xeschichte  des  Dotrmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm'fl  und  Bernhard's. 

Verbindung  ist  daher  bald  wieder  gelöst  worden.  Nicht  erst  unter 
Ludwig  dem  Fronunen,  sondern  schon  in  den  letzten  Jahren  Karl's  I. 
selbst  schlägt  der  altkirchUche  asketische  Gedanke  auch  in  der  Wissen- 
schaft durch.  Dabei  ist  es  seitdem  geblieben;  man  kann  sogar  bis 
zum  13.  Jahrhundert  eine  stetige  Steigerung  der  Abneigung  gegen 
die  Antike  bemerken^  während  freilich  einige  kühne  Geister  mehr  als 
früher  aus  ihr  zu  lernen  suchten.  Die  weltlichen  Studien  wurden  in 
thesi  verworfen.  Die  antike  Litteratur  galt  als  eine  Quelle  der  Ver- 
suchungen. Alle  Wissenschaft,  die  sich  nicht  unter  die  Theologie 
stellt,  d.  li.  nicht  Alles  auf  die  Erkenntniss  Gottes  bezieht,  gilt  als 
verderblich,  ja  als  des  Teufels  Buhlerin.  Aber  wie  auf  allen  Ge- 
bieten das  Charakteristische  der  mittelalterlichen  Weltanschauung  da- 
rin besteht,  dass  sie  das  Unvereinbare  vereinigen  will,  und  dass  die 
Negation  der  Welt  in  der  Form  der  Weltbeherrschung  erreicht  wer- 
den soll,  so  gewahren  wir  auch  hier,  wie  das,  was  man  verwirft,  wieder- 
um aufgenommen  wird.  Als  formales  Bildungsmittel,  ferner  um  die 
Heiden,  Juden  und  Häretiker  zu  widerlegen,  um  die  göttlichen  Ge- 
heimnisse zu  ergründen ,  wird  die  antike  Litteratur  und  Pliilosophie 
doch  herbeigezogen.  Es  sind  zum  Theil  dieselben  Personen,  die  sie 
letztlich  verwerfen,  aber  auf  dem  langen  mühsamen  Weg  bis  zur  Höhe 
sich  ihrer  doch  bedienen.  Und  wo  es  verschiedene  Personen  sind,  da 
besteht  zwischen  ihnen  im  tiefsten  Grunde  eine  AVahlverwandtschaft; 
denn  alle  Denker,  die  von  Einfluss  gew^orden  sind,  mögen  uns  die 
Einen  als  „Aufklärer",  die  Anderen  als  Traditionalisten  erscheinen, 
sind  von  demselben  Grundgedanken  beherrscht,  alle  Dinge  auf  Gott 
zurückzuführen  und  aus  Gott  zu  verstehen.  Und  als  schliesslich  die 
Kirche  den  Aristoteles  frei  gab  und  die  volle  Verwerthung  desselben 
bilUgte,  da  that  sie  das  nicht,  indem  sie  einem  äusseren  Zwange  folgte, 
sondern  weil  die  Idrchliche  Theologie  nun  stark  genug  war,  um  diesen 
Meister  zu  bemeistern,  und  weil  er  ihr  die  wirksamste  Hülfe  zu  leisten 
vermochte  gegen  die  Gefahren  eines  kühnen,  das  Dogma  bedrohenden 
Ideahsmus.  Mochten  auch  die  Schulen,  die  Universitäten  nicht  kirch- 
liche Anstalten  im  strengen  Sinn  des  Worts  sein  —  die  Wissenschaft 
war  kirchlich,  theologisch.  Es  gab  keine  Laien  Wissenschaft.  Der 
Gedanke  einer  solchen  war  jener  Zeit  gleichbedeutend  mit  Heidenthum 
und  Nihilismus. 

Aus  dem  karolingischen  Zeitalter  läuft  eine  Kette  wissenschaft- 
licher Ueb erliefer ung  imd  gelehrter  Schulen  bis  in  das  11.  Jahr- 
hundert^; aber  eine  continuirliche  Steigerung   des  vdssenschaft- 

*  Bereugar  war  ein  Schüler  Fiilbort's  von  Ohartres  (•{-  1028);  dieser  liat  bei 
Gerbert  srelernt. 


Die  Anfänge  der  mittelalterlichen  Wissenschaft.  321 

liehen  Betriebes  lässt  sich  nicht  ermitteln,  und  auch  die  grössten 
Meister  (Gerbert  von  Rheims)  bringen  es  noch  nicht  zu  epoche- 
machenden Wirkungen.  Erst  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts  beginnt 
die  Erhebung,  der  kein  Niedergang  mehr  gefolgt  ist,  und  wird  der 
Faden  angeknüpft,  der  nicht  mehr  abriss.  Unzweifelhaft  ist  die  innere 
Erhebung  der  Kirche  die  entscheidende  Ursache  dieses  Aufschwungs 
der  Wissenschaft  gewesen,  wenn  man  auch  überrascht  ist,  gleich  An- 
fangs einer  Virtuosität  der  Dialektik  zu  begegnen,  auf  die  man  nicht 
gefasst  ist  und  die  sich  in  dem  saeculum  obscurum  trotz  seiner  Dunkel- 
heit herangebildet  haben  muss.  Aber  wie  hätte  der  innere  Aufschwung 
der  Kirche  für  die  Wissenschaft  ohne  Folgen  bleiben  können?  Die 
Kirche  fasste  sich  als  geistige  Macht  damals  zusammen,  als  die 
Macht  des  übersinnlichen  Lebens  über  das  Sinnliche ;  der  Gegenstand 
der  Wissenschaft  war  das  Uebersinnliche ;  sie  also  war  durch  diesen 
Aufschwung  herausgefordert!  Aber  auch  die  im  Transcendentalen 
schwelgende  Wissenschaft,  die  sich  wilhg  an  Offenbarungen  anschliesst, 
kann  ihren  Charakter  als  Wissenschaft  nicht  verleugnen.  Sie  wird, 
auch  wo  sie  die  Magd  der  Offenbarung  ist  und  sein  will,  stets  ein 
Element  in  sich  schliessen,  durch  welches  sie  den  Glauben,  der  Ruhe 
begehrt,  beleidigt;  sie  wird  eine  Frische  und  Freudigkeit  zur  Schau 
tragen,  welche  der  Devotion  als  Keckheit  erscheint;  ja  sie  ward, 
auch  wenn  sie  im  Ausgangspunkt  und  im  Ziele  sich  mit  der  Kirche 
Eins  weiss,  niemals  einen  negativen  Zug  verleugnen  können,  weil  sie 
mit  Recht  immer  finden  wird,  dass  die  Principien  der  Kirche  in  den 
concreten  Ausprägungen  des  Lebens  deteriorirt  und  durch  Aber- 
glauben entstellt  sind. 

In  der  grellen  Beleuchtung,  welche  Reuter,  der  bewunderungs- 
würdige Kenner  jener  Litteratur,  den  Spannungen  der  jungen  mittel- 
alterlichen Wissenschaft  mit  den  Kirchenmännern  hat  angedeihen  lassen 
(Berengar  und  Lanfranc,  Anselm  und  seine  Gegner,  Abälard  und 
Bernhard),  erscheinen  die  handelnden  Personen  gespenstisch  verzerrt. 
Bei  dem  Bestreben  dieses  Gelehrten,  überall  die  „negative  Aufklärung" 
in  den  Bewegungen  herauszufinden,  werden  die  Dinge  um  ihr  Mass 
gebracht,  und  der  gemeinsame  Boden,  auf  welchem  die  Kämpfenden 
stehen,  verschwindet  fast  ganz.  Mit  Erstaunen  und  Befremden  sieht 
man  einen  Herostratus  nach  dem  Anderen,  umgeben  von  Schaaren 
gleichgestimmtei'  Schüler,  über  die  Bühne  ziehen,  der  „Primat  der  in- 
falliblcn  Vernunft"  wird  von  ihnen  aufgerichtet,  nachdem  sie  die  Au- 
torität zerstört  haben;  die  Antithesen  starren  wie  Klippen  und  furcht- 
bare Abgründe  thun  sich  auf.  A})er  in  irgend  einer  verlorenen  Wen- 
dung muss   der  Biograph   dieser   Helden,    sofern    er    sie   nicht    der 

Harriack,  Doginengeschichte  III.  21 


322     üeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny'a,  Anselm's  und  Bernliard's. 

Heuchelei  bezichtigt,  regelmässig  selbst  bekennen,  dass  sie  mit  ihrer 
Zeit  und  mit  ihren  Gegnern  aufs  engste  zusammenhängen,  dass  die 
ins  Ungeheure  gesteigerten  Actionen  in  Wahrheit  viel  bescheidener 
gewesen  sind,  und  dass  die  grossen  Aufklärer  gehorsame  Söhne  der 
Kirche  waren.  Demgegenüber  führen  wir  die  oben  gegebenen  An- 
deutungen fort,  um  jene  Kämpfe  zu  beleuchten  und  zu  verstehen. 

In  der  Erhebung  der  Wissenschaft  war  ein  Dreifaches  gegeben, 
die  Vertiefung  in  die  neuplatonisch-augustinischen  Prin- 
cipien  aller  Theologie,  die  dialektische  Zergliederungs- 
kunst und,  mit  beiden  verbunden,  eine  gewisse  Kenntniss  der 
alten  Klassiker  und  der  Kirchenväter.  Was  jene  Principien 
betrifft,  so  war  es  der  Geist  des  sogen,  platonischen  Realismus, 
der  herrschte.  Durch  ihn,  wie  man  ilm  aus  Augustin  und  dem  Dogma 
selbst,  dazu  aus  hundert  kleinen  Quellen  geschöjjft  hatte,  brachte  man 
sich  das  Dogma,  aber  auch  die  Welt  zum  Verständniss  und  erkannte 
alle  Dinge  aus  und  in  Gott.  Bis  zum  Anfang  des  12.  Jahrhunderts 
hat  dieser  platonische  ReaHsmus  mit  seiner  spiritualistischen  Subli- 
mirung  und  seiner  allegorischen  Methode  ziemlich  ungebrochen  ge- 
herrscht, um  so  sicherer,  je  weniger  bewusst  (als  Erkenntnisstheorie) 
man  ilin  sich  noch  vorstelltet  Es  ist  ihm  eigenthümlich,  dass  er 
vom  Glauben  ausgeht  und  sich  nun  auf  demselben  Wege  des  Dog- 
mas bemächtigt,  auf  dem  es  einst  entstanden  ist  („credo  ut  intelli- 
gam"  —  diesen  Satz  Augustin's  hat  nicht  nur  Anselm  wiederholt, 
sondern  alle  kirchlichen  Denker  der  Epoche  haben  ihm  gehuldigt); 
aber  es  ist  ilrni  ferner  eigenthümHch,  dass  er  das  Dogma  über- 
fliegt. Das  hat  in  der  griechischen  Mystik  ebenso  stattgefunden, 
wie  bei  Augustin,  und  es  wiederholte  sich,  ohne  dass  die  Gefahr  be- 
merkt wurde,  seit  dem  11.  Jahrhundert  (und  zwar  gerade  auch  bei 
den   „frömmsten"  Theologen).     Hier  liegt  die  erste  Spannung.     In- 


*  Bis  tief  in  das  12.  Jahrhundert  hinein  sind  die  Gelehrten  nicht  zuerst  Phihi- 
sophen  und  dann  Theologen  gewesen,  sondern  sie  besassen  überhaupt  noch  kein 
philosophisches  System,  vielmehr  ist  die  Philosophie  ganz  wesentlich  dialektische 
Technik  ;  s.  D  eu  ts  ch ,  Abälard  S.  96 :  „Das  Verhältniss  der  Philosophie  zur  Theo- 
logie in  der  Anfangsperiode  der  Scholastik  ist  ein  wesentlich  anderes,  als  in  der 
Blüthezeit  derselben.  In  der  ersteren  ist  ein  eigentliches  philosophisches  System, 
eine  nach  den  verschiedenen  Seiten  hin  durchgeführte  "Weltanschauung  noch  gar 
nicht  vorhanden.  Nur  die  Logik  ist  in  einer  gewissen  Vollständigkeit  bekannt  .  .  . 
als  eigene  Disciplin  aber  existirt  die  INIetaphysik  für  die  Philosophen  jener  Zeit 
noch  nicht.  Was  man  von  ihr  hat,  besteht  in  einzelnen,  theils  platonischen,  theils 
aristotelischen  Sätzen  .  .  .Erst  mit  dem  Bekanntwerden  der  aristotelischen  Schriften 
in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  lernte  das  Abendland  ein  wirkliches 
philosophisches  System  kennen." 


I 


Philosophie  und  Theologie  im  11.  Jahrhundert.    Der  Realismus.       323 

dem  man  sich  das  Dogma  durch  dasselbe  Mittel  zum  Yerständniss 
bringt,  durch  welches  es  entstanden  ist,  wird  jene  Vorstellung  von 
der  Immanenz  Gottes,  von  dem  Sein  aller  Dinge  in  Gott  lebendig, 
vor  der  das  Geschichtliche  und  das  Dogma  selbst  zu  zerfliessen  droht 
d.  h.  als  die  letzte  Stufe  gilt,  welche  der  Sublimirung  bedarf.  So 
hat  es  Origenes  gedacht,  so  hat  es  Augustin  empfunden  und  an  den 
Grenzen  seiner  Speculation  zum  Ausdruck  gebracht ',  so  haben  es  die 
griecliischen  Mystiker  gelehrt  ^.  Von  hier  aus  konnte,  wie  auf  einem 
Umweg,  eine  vollkommene  Rehabilitation  der  Vernunft  stattfinden. 
Sie,  die  am  Anfang  abgedankt  war  —  die  Offenbarung  gilt  und  die 
Autorität  — ,  ist  jetzt  das  Mittel,  um  Alles  aus  dem  Wege  zu  räu- 
men, was  dem  Gedanken  der  Absolutheit,  Unveränderlich keit 
und  Immanenz  Gottes  hinderlich  ist.  Sie  neutralisirt  das  Wunder, 
um  die  strenge  Geschlossenheit  des  Wirkens  des  AU-Einen  zum  Aus- 
druck zu  bringen;  sie  neutralisirt  selbst  die  Heilsgeschichte  und  die 
Geschichte  überhaupt  oder  verwandelt  sie  in  den  Kreislauf  des  mv- 
kenden  Seins,  welches  da  ist,  war  und  sein  wird ;  sie  neutralisirt  end- 
lich die  Creatur.  Der  „Aufklärer"  des  11.  und  12.  Jahrhunderts 
wäre  erst  noch  zu  finden,  der  nicht  bewegt  von  dieser  Mystik  seine 
„aufklärende"  Rolle  gespielt  hat,  der  nicht  auch  das  „credo  ut  in- 
telligam"  als  Ausgangspunkt  hat  gelten  lassen.  Mag  er  auch  wie  Be- 
rengar  das  wörtlich  verstandene  jüdische  Gesetz  mit  den  Gesetzen 
der  Römer,  Athener  und  Spartaner  vergleichen,  um  diesen  die  Palme 
zu  geben,  mag  er  wie  Abälard  in  der  „Religionsphilosophie  auf  ge- 
schichtlicher Grundlage"  die  Heilsgeschichte  und  die  allgemeine  Ge- 
schichte in  Eins  zusammenziehen  —  es  geschieht  das  so,  dass  doch 
für  Alles,  was  die  Kirche  an  stofflichem  Gehalt  bietet,   durch  das 


^S.  obenS.  112  f. 

^  Daher  war  man  auch  in  der  Univcrsalicnfrage,  die  schon  damals  in  Anschluss 
an  Stellen  des  Prophyrius  undBocthius  verhandelt  WTirde,  fast  durchweg  realistisch 
gesinnt :  die  GemeinVjegriffe  existiren  an  und  für  sich  oder  sie  existiren  in  den  Dingen 
als  ihr  eigentliches  Wesen  (wobei  sehr  verschiedene  Wendungen  im  Einzelnen  mög- 
lich waren;  s.  Prantl,  Gesch.  der  Logik  II  8.  118  ff.).  Allerdings  findet  sich  auch 
schon  in  unserer  Epoche  der  Nominalismus  vertreten,  nach  welchem  die  Gemein- 
begriffe intellectus,  resp.  nur  voces  sind,  ja  er  hat  wahrscheinlich  stets  neben  dem 
Realismus  bestanden;  aber  für  die  Theologie  war  er  noch  gleichgiltig.  Als  der 
Nominalist  Koscellin,  der  Lehrer  Abälard's,  die  nominalistische  Betrachtung  auf 
die  Trinitätslchrc  anwandte,  wurde  er  von  Anselm  zurückgewiesen  (s.  Deutsch 
S.  100  f.).  Diesem  war  es  nicht  zweifelhaft,  dass  die,  welche  die  universales  sub- 
stantias  für  blosse  voces  halten,  den  christlichen  Glauben  verfehlen  müssen  und 
häretisch  sind.  Aber  wie;  stand  es  mit  denen,  welche  die  Substantialität  der  Ge- 
meinliegriffo  consequent  durchführten? 

21* 


324     Geschichte  des  Dooniaa  im  Zeitalter  Cluguy's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

Mittel  der  Siiblimirung  (Allegorie)  die  absolute  Geltung  vorbehalten 
bleibt;  es  geschieht  im  Namen  des  Gottesbegriffs  und  der  Theologie, 
die  auch  bei  den  Gegnern,  soweit  sie  überhaupt  dachten,  herrschten, 
und  diese  erschraken  vor  (>onsequenzen,  die  Justin,  Origenes  und 
die  grosse  Gruppe  griechischer  und  lateinischer  Väter  längst  gezogen 
hatten'.  Also  nicht  Princip  stand  gegen  Princip,  sondern  das  Mass 
der  Anwendung  war  controvers'*^;  man  müsste  denn  für  das  eigent- 
liche Princip  der  mittelalterlichen  kirchlichen  Theologie  die  Gedanken- 
losigkeit oder  die  blinde  Unterwerfung  halten.  Allein  das  hatten  die 
Kirchenväter  nicht  gelehrt,  und  das  hat  auch  die  Kirche  selbst  nicht 
gewollt,  als  sie  sich  als  geistige  Macht  im  11.  Jahrhundert  wieder 
zusammenfasste.  Wie  schmal  ist  doch  die  Grenze  zwischen  Berengar 
und  Anselm  als  Theologen!  oftmals  verschwindet  sie  ganz;  denn  wie 
entfernt  waren  auch  die  angeblichen  Stürmer  davon,  jene  Consequenzen 
sämmtlich  zu  ziehen  und  etwa  die  Gedanken  des  Erigena  zu  wieder- 
holen! Sie  waren  keine  Neuerer,  sondern  Erneuerer;  von  negativer 
Aufklärung  ist  bei  ihnen  nichts  zu  spüren. 

In  der  griechischen  Kirche  hatte  sich  der  Aristotelismus  einge- 
stellt, als  man  Dogma  und  Speculation  nicht  mehr  auszugleichen  ver- 
mochte, und  dieser  hat  der  Kirche  den  unschätzbaren  Dienst  des 
Horos    geleistet,   der  die  Sophia  der  Mystiker  abhielt,  sich  in  den 


^  Es  wäre  eine  interessante  und  wichtige  Untersuchung  festzustellen,  ob  und 
durch  welche  Vermittelungen  die  ältere  vorhieronymianische  kirchliche  Litteratur 
auf  die  Scholastik  eingewirkt  hat.  Sind  z.  B.  die  Uebereinstimmungen  Abälard's 
mit  Justin  und  Origenes  zuiällige  oder  nur  indirecte  oder  directe  ?  Dass  der  Hirte 
des  Hermas  und  die  Didache  fortgewirkt  haben,  lässt  sich  beweisen.  Widersprüche 
zwischen  der  Tradition,  der  älteren  und  der  jüngeren,  und  wiederum  zwischen  der 
Tradition  (den  hl.  Kanones)  und  der  Schrift  hatte  man  schon  im  gregorianischen 
Zeitalter  entdeckt  und  bis  zu  einem  gewissen  Masse  zugestanden  (s.  Mirbt, 
Augustin  S.  3  f.);  allein  erst  Abälard  hat  das  Gewicht  dieser  Widersprüche  geltend 
gemacht,  andererseits  freilich,  was  seinen  Zeitgenossen  ganz  fern  lag,  zu  ahnen  be- 
gonnen, dass  die  Trrthümer  den  Fortschritt  der  Wahrheit  bewirken. 

*  Es  braucht  wohl  nicht  erst  besonders  bemerkt  zu  werden,  dass  kein  be- 
deutender Lehrer  in  unserer  Epoche  die  Consequenzen  des  platonischen  Realismus 
vollständig  gezogen  hat  (so  wenig  wie  Augustin).  Sie  lagen  nur  an  den  Grenzen 
ihrer  Betrachtung  und  wurden  an  dieser  oder  jener  Stelle  gestreift.  Wilhelm  von 
Champeaux  freilich  scheint,  bis  ihn  Abälard  eines  besseren  belehrte,  die  volle  Imma- 
nenz des  substanziell  gedachten  Gattungsbegriffs  in  jedem  Individuum  verkündet  zu 
haben,  welche  Anschauung  zur  Lehre  von  der  einen  ruhenden  Substanz  und  von  der 
Aufliebung  alles  Individuellen  als  blossen  Scheins  oder  blosser  Zutalligkeiten  hätte 
führen  müssen.  Diese  Lehre  lag  allerdings  an  den  Grenzen  der  damaligen  AVeit - 
aufiassung  und  ist  in  der  Mystik  als  Ausdruck  frommer  Centemplation,  sptüer  aueli 
als  theoretische  Ueberzeugung,  hervorgebrochen.  Dass  Abälard  das  A-^erdienst  zu- 
kommt, sie  abgewiesen  zu  haben,  darüber  s.  unten. 


Der  Realismus.   Einwirkung  des  Aristotelismus.  325 

Bythos  des  Urvaters  hinabzustürzen.  Aber  er  hatte  Anfangs  gleich- 
zeitig mit  diesen  Diensten  unangenehme  Zugaben  gebracht.  Indem 
er  den  schrankenlosen  Ideahsmus  zurücktrieb  und  sich  zugleich  an 
die  Arbeit  machte,  paradoxe  und  drückende  Formeln  durch  Distinc- 
tionen  erträglich  zu  machen,  unterzog  er  auch  solche  Formeln  einer 
Revision,  die  zusammenstürzten,  sobald  man  ihnen  die  Basis  des 
platonischen  Realismus  wegnahm.  Dieser  Aristotelismus,  der  so  noth- 
wendig  war  und  mit  dem  man  doch  an  Johannes  Philoponus  und 
anderen  Griechen  —  von  der  alten  antiochenischen  Schule  zu  schwei- 
gen —  so  schhmme  Erfahrungen  gemacht  hatte,  er  war  auch  den 
Abendländern  durch  Boethius  und  aus  anderen  Quellen  (freilich  küm- 
merhch  genug,  zunächst  als  logische  Methodik)  bekannt  und  hatte 
längst  schon  (bei  Boethius  selbst  z.  B.)  eine  wilde  Ehe  mit  der  neu- 
platonischen Principienlehre  geschlossen.  Dem  Geiste  des  Abend- 
landes, der  mehr  Verstand  als  Vernunft  war  und  auch  als  juristischer 
stets  zu  Distinctionen  strebte,  war  dieser  „Aristotelismus"  congenial. 
Aus  ihm  entwickelte  sich  die  „Dialektik",  und  zwar  zuerst  als  Tech- 
nik. Und  wie  diese  Technik  immer  keck  und  hochmüthig  macht,  wo  sie 
für  den  Inbegriff  aller  Weisheit  gehalten  wird,  so  war  es  auch  Anfangs 
im  Mittelalter.  Die  geschulten  „Dialektiker"  des  11.  Jahrhunderts 
sahen  hochmüthig  herab  auf  die  Dunkelmänner,  welche  die  Kunst 
nicht  verstanden,  und  diese  wurden  für  die  überlieferte  Kirchenlehre 
besorgt,  obgleich  die  Operationen  der  jugendlichen  Wissenschaft  nur 
selten  an  dem  Kern  der  Dinge  rührten  —  es  sei  denn,  dass  der  Eine 
oder  der  Andere  sich  mit  seiner  Kunst  in  Bezug  auf  die  Dogmen, 
welche  im  Mittelpunkt  der  Betrachtung  standen  (Trinitätslehre,  Zwei- 
naturenlehre, Abendmahlslehre),  zu  weit  vorwagte  und,  den  späteren 
Nominalismus  anticipirend  oder  an  unliebsame  Thatsachen  der  Ge- 
schichte der  Tradition  erinnernd,  einen  bedenklichen  Lösungsversuch 
des  trinitarischen  Problems  auftischte  (tritheistisch,  sabellianisch)  oder 
dem  alten  Adoptianismus  zu  nahe  kam  oder  die  verbreitete  Meinung 
vom  äusserlichen  Wunder  im  Abendmahl  ins  Schwanken  brachte. 
So  entstanden  die  ersten  Conflicte,  die  aber  desshalb  der  wirklichen 
Schärfe  ermangelten,  weil  die  Dialektik  selbst  im  Bunde  mit  dem 
platonischen  Realismus  stand  und  im  Grunde  häufig  nicht  wusste, 
was  sie  materiell  wollte.  Dabei  darf  allerdings  nicht  verkannt  wer- 
den, dass  überall,  wo  der  Verstand  hinzugezogen  wird,  dieser  sein 
eigenes  Recht  geltend  machen  und  die  Schranken  einer  bloss  for- 
malen Thätigkeit  überspringen  wird.  Allein,  z.  B.  die  AVissenschaft 
Anselm's  zeigt,  wie  friedlich  sich  unter  Umständen  das  Dogma,  der 
platonische  Realismus  und  die  Dialektik  vertrugen. 


326     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Auselm's  und  Bernhard's. 

Allein  im  12.  Jahrhundert  wurde  das  anders.  In  Abälard* 
steigerte  sich  sowohl  die  kritische  Richtung  des  platonischen  Realis- 
mus (vgl.  seine  Betrachtung  der  Geschichte)  als  auch  die  kritische 
Richtung  der  Dialektik,  ohne  dass  er  jedoch  in  den  Grund- 
thesen das  Verhältniss  der  Unterwürfigkeit  unter  die 
Kirchenlehre  preisgegeben  hätte.  Abälard  ist  der  kühnste 
Theologe  seiner  Zeit  gewesen,  weil  er  allen  Elementen  der  Ueber- 
lieferung  die  kritische  Seite  abzugewinnen  verstand  und  wirkHch  von 
der  Fehlerhaftigkeit  des  gerade  Giltigen  überzeugt  war.  Seine  zeit- 
genössischen Gegner  meinten,  dass  die  Gefahren  der  Abälard'schen 
AVissenschaft  ganz  wesenthch  aus  seiner  Dialektik  stammten,  und 
haben  demgemäss  diese  vor  Allem  discreditirt.  In  der  That  ist  die 
Külmheit  in  der  verständigen  Behandlung  des  Einzelnen  ein  hervor- 
stechender Zug  bei  Abälard;  aucli  machte  der  einmal  entfesselte  Ver- 
stand seine  eigenen  Rechte  geltend,  übersprang  vielfach  die  in  thesi  an- 
erkannten Schranken,  höhnte  die  Autorität  und  proclamirte,  unter- 
stützt von  einer  gewissen  Kenntniss  der  alten  Geschichte,  das  ewige 
Recht  des  verständigen  Denkens  als  die  höchste  Instanz.  Allein  dass 
die  gefährhchsten  Thesen  des  unruhigen  Gelehrten  aus  dem  platonischen 
(augustinischen)  Realismus,  d.  h.  aus  der  Grundanschauung,  die  man 
selbst  festhielt,  flössen,  bemerkte  man  nicht.  Im  Princip  hat 
Abälard  durch  seine  kritisch-dialektischen  Erwägungen 
diesen  allerdings  bereits  abgemildert.  Er  ist  nicht  mehr 
Vertreter   des  consequenten  Realismus;  vielmehr  hat  er  zuerst  eine 

^  S.  die  vortreffliche  Monographie  von  Deutsch  über  ihn  (1883),  das  beste 
Buch,  welches  wir  über  die  Geschichte  der  theologischen  Wissenschaft  jener  Zeit 
besitzen,  ausgezeichnet  vor  Allem  durch  die  Ruhe  und  Umsicht  des  Urtheils  gegen- 
über den  exaltirten  Biographen  von  Rechts  und  Links.  In  der  Einleitung  S.  11  f. 
ist  mit  Recht  die  Existenz  einer  weit  verbreiteten  negativen  Aufklärung  in  dieser 
Zeit  abgelehnt.  Was  weit  verbreitet  war,  war  nicht  negativ,  sondern  kirchlich,  und 
was  negativ  war  —  Frivolität  hat  es  freilich  zu  allen  Zeiten  gegeben  —  oder  aus- 
gesprochen häretisch,  war  ohne  Wirkung  ins  Grosse.  Dass  Abälard  eine  einzig- 
artige Stellung  in  seiner  Zeit  zukommt,  hat  Deutsch  mit  Grund  behauptet;  aber 
er  ist  weit  entfernt  davon,  ihn  einfach  als  Aufklärer  zu  charakterisiren.  Wenn  man 
ihn  so  nennen  müsste,  dann  wäre  es  der  katholischen  Religion  eigenthümlich, 
Köhlerglaube  zu  sein  —  diesen  Anspruch  stellte  sie  aber  wenigstens  damals  noch 
keineswegs  — ,  dann  wären  Justin,  Origenes  und  Augustin  „confessionslose  Frei- 
denker", dann  wäre  Abälard  selbst  ein  zweizüngiger  Heuchler;  denn  er  wollte  ein 
offenbarungsgläubiger  kirchlicher  Theologe  sein,  freilich  ein  solcher,  der  Rechen- 
schaft zu  geben  vermöchte  von  seinem  Glauben  und  ihn  als  die  deutliche  Wahrheit 
nachzuweisen  fähig  wäre.  Dass  er  sich  bei  dieser  Tendenz  in  Widersprüche  ver- 
strickte, dass  er  bei  der  Aufgabe,  die  Religion  dem  Verstände  zu  empfehlen,  häufig 
mehr  auf  den  Richter  als  auf  den  Klienten  sah ,  ist  ihm  als  Theologen  doch  nicht 
eigenthümlich ! 


Die  negative  und  positive  Bedeutung  Abälard's.  327 

Art  von  Conceptualismus  *  in  die  Erkenntnisstheorie  eingeführt,  die 
strenge  Immanenzlehre  durchbrochen  und,  indem  er  der  Creatur  ihre 
Selbständigkeit  zurückzugeben  begann,  auch  den  Begriff  Gottes  selbst 
von  dem  Pantheistischen  zu  befreien  begonnen.  Bei  Abälard  hört 
die  dialektische  Technik  auf,  blosse  Technik  zu  sein-,  sie  beginnt  ein 
materiales  Princip  zu  werden  und  die  hergebrachten  (neuplatonisch- 
augustinischen)  Lehren  von  den  ersten  und  letzten  Dingen  zu  corri- 
giren.  Das  Paradoxe  in  der  Stellung  Abälard's  besteht 
darin,  dass  er  einerseits  in  der  geschichtlichen  Betrach- 
tung gewisse  Consequenzen  der  mystischen  Gotteslehre 
(vgl.  Justin,  Origenes,  aber  auch  Augustin  selbst)  zuversichtlicher 
gezogen  hat  als  seine  Zeitgenossen,  dass  er  aber  anderer- 
seits dem  nüchternen  Denken  einen  materiellen  Einfluss 
auf  die  Betrachtung  der  Grundprincipien  vergönnt  hat. 
Die  Gegner  sahen  in  ihm  nur  den  negativen  Theologen.  In  "Wahr- 
heit hat  dieser  negative  Theologe  den  Grund  zu  der  klassi- 
schen Ausgestaltung  der  mittelalterlichen  conservativen 
Theologie  gelegt^.  Denn  das  kirchliche  Dogma  war  denkend  nicht 

^  Wie  seine  Erkenntnisstheorie  zu  fassen  ist,  darüber  stieiten  sich  die  Ge- 
lehrten (s.  Deutsch  S.  104  ff.).  Gewiss  ist,  dass  er  dem  platonischen  Realismus 
skeptisch  gegenüberstand,  ja  ihn  verworfen  hat,  ohne  freilich  zum  Nominalismus 
überzugehen. 

'^  Dies  erscheint  paradox,  und  gewiss  ist  zunächst  Anderes  an  Abälard  hervor- 
zuheben :  sein  echtes  unverwüstliches  wissenschaftliches  Streben,  sein  Sinn  für  das 
Natürliche  (der  gesunde  Menschenverstand) ,  sein  ehrgeiziges,  von  Eitelkeit  nicht 
freies  Trachten,  sein  dialektischer  Scharfsinn,  sein  kritischer  Geist,  endlich  die  in 
ihm  lebende  üeberzeugung,  dass  die  ratio  ihren  eigenen  Spielraum  habe  und  dass 
es  viele  Fragen  gebe,  in  denen  sie  zuerst  und  allein  zu  hören  ist  (über  seine  Gelehrsam- 
keit, die  oft  überschätzt  worden  ist,  s.  Deutsch  S.  53  ff.).  Allein  andererseits  sind 
doch  folgende  Momente  in  seiner  Lehrweise  geltend  zu  machen,  die  geradezu  eine 
positive  Bedeutung  für  die  Folgezeit  gewonnen  haben  (wobei  von  dem  Selbst- 
verständlichen abzusehen  ist,  dass  auch  er  letztlich  alle  Erkenntniss  auf  die  Offen- 
barung Gottes  zurückgeführt  hat):  1)  Der  als  „Rationalist"  gescholtene  Mann  hat 
keine  grosse  Zuversicht  zu  den  Fähigkeiten  des  menschlichen  Erkenntnissvermögens 
gehabt  und  dies  auch  offen  ausgesprochen  gegenüber  dem  Selbstgefühl  der  Dialek- 
tiker und  Mystiker;  er  hatte  sie  nicht,  sondern  verwies  auf  die  Offenbarung,  weil 
er  2)  Denken  und  Sein  nicht  als  identisch  nahm,  sondern  dem  herrschenden  Rea- 
lismus gegenüber  eine  kritisch-skeptische  Haltung  einnahm,  wie  sie  —  die  Folgezeit 
lehrte  es  —  gerade  die  Vertheidigung  der  Kir(;henlehrc  nöthig  hatte.  Damit  hängt 
3)  zusammen,  dass  er,  obgleich  er  im  Gottesbegriff  sicli  vielfach  auf  der  Spur  Augu- 
stin's  hielt,  die  Consequenzen  jenes  Gottesbegriffs,  die  bald  zur  Annahme  eines  starren 
unveränderlichen  Wirkens  Gottes  (eines  starren  Naturzusammenhangs),  bald  zu  der 
einer  unbeschränkten  Willkür  Gottes  führten,  vermied,  indem  er  aufs  kräftigste, 
wenn  auch  nicht  durchweg,  den  Gedanken  der  ethischen  Bestimmtheit  des  gött- 
lichen Thuns  und  der  Umgrenzung  des  götthchen  Könnens  durch  den  Zweckbegriff 


328     (ieschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Cliigny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

ZU  halten  unter  der  vollen  Herrschaft  der  mystischen  neiiplatonischen 
Theologie.   Hatte  diese  auch  vornehmlich  an  ihm  gcarheitet,  so  hatte 


(imd  damit  durch  das  wirklich  Geschehende)  wieder  einführte  (mit  Ürigencs,  z.  Th. 
gegen  Augustin).  Damit  behauptete  er  auch,  eine  scharfe  Grenze  zwischen  Gott 
und  der  Creatur  ziehend,  die  Selbständigkeit  der  letzteren,  corrigirtc  somit  den  be- 
denklichen mystischen  Gottesbegrill'  und  hat  den  GottesbegriÜ"  der  grossen  Schola- 
stiker vorbereitet.  Seine  Gegner,  wie  Hugo  (und  spätfjr  auch  der  Lombarde),  haben 
dagegen  jenen  Gottesbegi'ift'  festgehalten,  der  sich  nachmals  als  bequemer  erwiesen 
liat,  um  jede  beliebige  Kirchcnlehrc  zu  verthoidigen;  aber  der  wahrhaft  positivere 
ist  unstreitig  Abälard.    Wenn  man  ihn  trotzdem  mit  Spinoza  zusammengestellt  hat, 
so  beweist  das  nur,  dass  man  den  sonst  in  seiner  Zeit  bei  den  kirchlichen  Theologen 
herrschenden  Gottesbegriff  nicht  kannte  und  gerade  die  Seite  an  Abälard's  Gottes- 
begriff hervorgehoben  hat,  die  ihm  in  seiner  Zeit  nicht  eigenthümlich  ist;  denn  er 
suchte  den  Standpunkt  der  Immanenz  mit  der  Transcendenz  zu  verbinden,  seine 
Gegner  aber  haben  ihn  vom  Standpunkt  des  „spinozistischen"  Gottesbegriffs  aus 
bekämpft.  4)  Wie  bei  der  Gotteslehre,  so  steht  es  bei  allen  übrigen  Glaubenslehren : 
stets  ist  hier  (s.  Deutsch's  Darstellung)  Abälard  von  Augustin  ausgegangen,  hält 
dessen  Formulirungen  wesentlich  fest,  bemüht  sich  aber  mit  mehr  Muth  und  Zu- 
versicht, als  der  durch  den  Neuplatonisnuis  gebundene  grosse  Meister,  die  Theologie 
und  die  Glaubensobjecte  aus  den  Umarmungen  einer  Mystik  zu  befreien,  die  schliess- 
lich Naturphilosophie  ist.  Das  ethische  Interesse,  die  Zuversicht,  dass  das,  was  dem 
Sittengesetz  entspricht,  auch  vor  und  für  Gott  das  Heilige  und  Gute  ist,  beherrscht 
Abälard  (daher  auch  sein  besonderes  Interesse  für  die  Moralphilosophie) ,  und  so- 
weit dieses  Interesse  im  13.  Jahrhundert  den  mystischen  Aufriss  der  Glaubenslehre 
corrigirt  hat,  muss  man  an  Abälard  als  Vorläufer  erinnern.    Aber  wenn  man  in 
diesem  Sinne  sagen  darf,  Abälard  habe  den  Grund  zu  den  grossen  Gebäuden  der 
Scholastik  des  13.  Jahrhunderts  gelegt  —  nicht  nur  weil  er  der  Lehrer  des  Lom- 
barden, nicht  nur  weil  er  der  scharfsinnigste  Denker  der  Epoche  gewesen  ist,  son- 
dern weil  er  jene  Ineinsbildung  der  Immanenz-  und  Transcendenz- 
lehre  zuerst  versucht  und  jene  Herabstimmung  der  Erkenntnissprincipien  gelehrt 
hat,  welche  die  Voraussetzung  kirchlicher  Systeme  geworden  sind  — ,  so  kann  mau 
doch  nicht  verkennen,  dass  die  Folgezeit  nicht  direct  an  ihn  angeknüpft  hat.   Was 
er  selbständig  gefunden  hat,  das  lernte  die  Folgezeit  an  Aristoteles,  der  ihr  seit 
der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  mehr  und  mehr  bekannt  wurde  ;  sie  lernte 
es  nur  indirect  oder  gar  nicht  von  Abälard.    Aber  das  kann  seinen  Ruhm  nicht 
schmälern :  er  hat  zuerst  gezeigt,  wie  man  alle  kirchlichen  Lehren  so  behandeln 
kann  und  muss,  dass  die  Principien  der  Moral  (das  Sittengesetz)  ebenso  in  dem 
System  zu  ihrem  Rechte  kommen,  wie  die  Grundgedanken  der  theologi- 
schen Naturspeculation.    Dass  er  diese  Aufgabe  nicht  gelöst  hat,  wird  ihm 
Niemand  zum  Vorwurf  machen;  denn  sie  ist  unlösbar.   Dass  sie  aber  als  Aufgabe 
jeder  kirchlichen  Wissenschaft  gestellt  werden  muss  —  solange  diese  überhaupt 
das  Ideal  des  Welterkennens  für  ihr  Ideal  erklärt — »leuchtet  ein.  Die  Zeitgenossen 
haben  von  Abälard  wenig  lernen  wollen,  und  das  entscheidet  in  der  Regel  für  das 
Mass  der  Wirkungen,  das  einem  Denker  zukommt.    Sie  fühlten  sich  abgestossen 
1)  durch  die  noch  neue  Form  der  Wissenschaft  überhaupt,  2)  durch  manche  Sätze 
Abälard's,  die  doch  nachmals  als  erträglich,  ja  als  einzig  correct  befunden  worden 
sind,  3)  durch  viele  einzelne  negative  oder  kritische  Urtheile,  sowohl  in  Bezug  auf 
die  Geschichte  und  das  Recht  der  eben  herrschenden  Meinung,  als  in  Bezug  auf 


Die  negative  und  positive  Bedeutung  Abälard's.  329 

sich  doch  die  Kirche  den  überweltlichen  Grott  und  die  Selb- 
ständigkeit der  Creatur  stets  vorbehalten  und  hatte  eine  Eeihe  von  Dog- 
men geschaffen,  welche  der  Platonismus  nur  zu  sublimiren,  nicht  aber 
als  den  letzten  adäquaten  Ausdruck  der  Sache  selbst  zu  rechtferti- 
gen vermochte.  Sie  bedurfte  also  der  Hülfe  der  Dialektik  (der  nüchter- 
nen Verständigkeit  und  des  auf  die  gegebenen  Formeln  gerichteten 
juristischen  Scharfsinns)  und  der  Herabstimmung  des  Hochflugs  der 
Speculation,  die  ihr  nur  der  Aristotelismus  gewähren  konnte,  d.  h. 
der  „Aristotelismus";  wie  man  ihn  damals  verstand  und  wie  er  damals 
wirkte,  als  die  Betrachtung  der  Dinge,  nach  der  das  Erscheinende 
und  Creatürhche  nicht  die  transitorische  Ausgestaltung  des  Gött- 
lichen ist,  sondern  der  übernatürliche  Gott  als  Schöpfer  im  eigent- 
lichen Sinn  des  Worts  die  Creatur  geschaffen  und  mit  Selbständigkeit 
begabt  hat.  Sie  bedurfte  der  Hülfe  des  Aristotehsmus,  um  eine  Reihe 
von  Dogmen  in  der  einmal  feststehenden  Fassung  zu  vertheidigen  ^ 
Aber  noch  mehr   sollte  ihr  der  „Aristotelismus"  leisten.    Die  Ver- 


einzelne kirchliche  Lehren,  wo  seine  rechtfertigende  Darstellung  als  bedenklich 
empfunden  wurde  (Sabelliauisches  in  der  Trinitätslehre,  doch  s.  Augustiu ;  starke 
Spannung  in  der  Christologie,  die  so  dem  Nestorianismus  nahe  kam,  doch  s.  ebenfalls 
Augustin).  4)  Darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  Abälard  selbst  der  Wirksam- 
keit seiner  Lehren  durch  viele  Widersprüche  und  durch  das  Unfertige  seiner  Syste- 
matik Eintrag  gethan  hat.  Aber  wie  viel  hätte  man  von  ihm  lernen  können-,  man 
vgl.  nur  seine  ausgezeichneten  Ausführungen  über  die  Liebe,  die  Versöhnung  und  die 
Kirche!  Die  Kirche  hat  zwischen  Augustin  und  Luther  keinen  Genius  besessen-, 
aber  unter  den  Männern  zweiten  Ranges  verdient  Abälard  genannt  zu  werden. 

*  Sehr  richtig  v.  Eicken,  a.  a.  0.  S.  602:  „Die  Bedeutung,  welche  Plato 
und  Aristoteles  in  der  mittelalterlichen  Philosophie  erlangten,  stand  eigentlich  im 
umgekehrten  Verhältnisse  zu  der  Stellung,  welche  beide  in  der  Entwickclungs- 
geschichte  der  griechischen  Philosophie  eingenommen  hatten.  Die  platonische 
Philosophie  hatte  die  Substanz  der  Dinge  in  die  allgemeinen  Ideen  verlegt  und  aus 
dieser  Voraussetzung  die  Transcendcnz  der  letzteren,  insbesondere  der  höchsten 
Idee,  das  ist  Gottes,  gefolgert.  Der  extreme  Realismus  des  INlittelalters  aber  nahm 
die  platonische  Ideenlehre  nicht  desshalb  an,  um  aus  derselben  die  Transcendcnz 
der  höchsten  Idee,  sondern  vielmehr  den  einheitlichen  Zusammenhang  aller  Dinge 
in  der  letzteren  herzuleiten  und  gelangte  eben  von  dieser  Absicht  aus  zu  einer 
Gotteslehre,  welche  im  Vergleiche  mit  der  strengen  Transcendcnz  der  kirchlichen 
Lehre  einen  x^anthcistischen  Charakter  trug.  Andererseits  hatte  die  aristotelische 
Philosophie  die  Wirklichkeit  dvr  allgemeinen  Ideen  in  den  Individuen  behauptet, 
um  die  transcendente  Ideenlehre  Plato's  zu  widerlegen.  Der  aristotelische  Rea- 
lismus jedoch  schloss  sich  der  aristotelischen  Lehre  zu  dem  Zwecke  an,  um  durch 
die  Wahi-ung  des  substanziellen  Charakters  der  Individuen  das  aussergöttliche  Be- 
stehen derselben  und  demnach  die  mit  der  kirchlichen  Lehre  übereinstimmende 
göttliche  Transcendcnz  zu  erweisen.  Diese,  das  geschichtliche  und  logische  Ver- 
häJtnisH  der  platonischen  und  aristotelischen  IMiilosophie  völlig  umkehrende  Auf- 
fassung hat  sich  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters  festgehalten." 


330     (Jeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugiiy's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

miiift  wird  schliesslich  niemals  mit  der  Autorität  pactiren,  wohl  aber 
der  Verstand.  Wer  einmal  in  die  Stimmung  des  All-Einen  gerathen 
ist  und  der  Immanenzlehre  Imldigt,  wird  sich  selbst  als  „Gott"  em- 
pfinden und  daher  jede  Autorität,  wie  beschaffen  sie  auch  immer  sei, 
ablehnen.  Wer  dagegen  seine  Selbständigkeit  neben  anderen  Selb- 
ständigkeiten empfindet,  wird  auch  seiner  Unselbständigkeit  gewiss 
werden.  Er  wird  das  dialektische  Spiel  des  Ueberschlagens  der  Selbst- 
beurtheilung  vom  vollkommenen  Nichts  (als  Individuum)  zum  voll- 
kommenen Sein  (als  Geist)  nicht  mehr  mitmachen ;  sondern  wie  er  in 
gewissen  Grenzen,  vielleicht  mit  grosser  Zähigkeit,  einer  rationellen 
Betrachtung  huldigen  wird,  so  wird  er  bereit  sein,  in  dem,  was  über 
diese  Grenzen  hinausliegt,  Autoritäten  anzuerkennen. 

Doch  bei  dem  grossen  Anßinger  der  mittelalterlichen  Scholastik 
—  bei  Anselm  ist  Alles  noch  naiv  — ,  Abälard,  wogen  die  Elemente 
noch  unklar  durcheinander.  Er  hat  Alles  schon  als  Kraft  geltend  ge- 
macht, was  in  der  Folgezeit,  in  der  Epoche  der  Blüthe  der  Scholastik, 
als  sich  begrenzende  Potenzen  gefasst  wurde  oder  was  dort  als  unter- 
schiedliche Richtungen  auseinander  getreten  ist.  Seine  Zeitgenossen 
haben  noch  nicht  geahnt,  dass  ein  Element,  welches  sie  vornehmlich  an 
ihm  tadelten,  einst  der  Retter  der  Kirchenlehre  werden  würde.  Noch 
war  die  Orthodoxie  und  der  platonische  Reahsmus  in  vollem  Bunde. 
Die  französischen  Mystiker  verketzerten  die  Bestrebungen  der  „Dialek- 
tiker" ;  Aristoteles  wurde  gehasst.  Als  der  grosse  Schüler  Abälard 's, 
Petrus  Lombardus,  seine  Sentenzen  veröffentlichte  und  in  ihnen  in  zweck- 
mässiger Weise  die  Gelehrsamkeit  des  Meisters  in  den  Dienst  der  kirch- 
lichen Theologie  stellte  —  ein  Compendium  zum  Studium  der  Theologie 
hatte  das  Mittelalter  bisher  nicht  besessen  ^  — ,  da  hätte  nicht  viel  ge- 
fehlt, dass  selbst  dieses  Werk,  welches  das  Grundbuch  der  conservativen 
kirchlichen  Theologie  w^erden  sollte,  als  verdächtig  beseitigt  worden 
wäre.  Allerdings  trägt  dieses  Werk,  indem  es  auf  Grund  der  schwan- 
kenden patristischen  Tradition  vielfach  noch  Meinung  neben  Meinung 
stellt,  den  Stempel  einer  Freiheit,  die  nachmals  verloren  gegangen  ist. 
Allein  die  blosse  Thatsache,  dass  es  zum  massgebenden  Compendium 
des  13.  Jahrhunderts  geworden  ist,  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  man  freie 
Prüfung,  dialektische  Untersuchung  und  aristotehsche  Philosophie  jetzt 
kirchlicherseits  ertrug,  nicht  weil  man  innerlich  freier  geworden  war, 
sondern  weil  man  fähiger  geworden  war,  mit  diesen  Mächten  sich  zu 


^  Umfangreichere  Darstellungen  der  Glaubenslehren,  die  übrigens  noch  mannig- 
fach verschieden  sind,  gab  es  erst  seit  Abälard's  Zeiten.  Er  selbst  und  Hugo 
v.  St.  Victor  sind  vorangegangen;  s.  Abälard's  „Introductio" :  Glaube,  Liebe,  Sacra- 
mente  als  Gegenstand  der  Dogmatik. 


Schüler  und  Gegner  Abälard's.  331 

befreunden,  und  weil  man  zu  merken  anfing,  was  die  aristotelische 
Methode  und  Denkweise  dem  Dogma  leisten  könne.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  bahnte  sich  bereits  der  Umschwung  an. 
Die  „frommen"  Theologen  (die  Mystiker)  mussten,  sofern  sie  sich  an 
die  Arbeit  begaben  das  Dogma  auszuführen  und  zu  begründen,  ein- 
sehen, dass  man  mit  dem  consequenten  Realismus  wohl  die  Contem- 
plation  befruchten,  nicht  aber  die  objective  Lehre  vertheidigen  konnte. 
Die  Coalition  des  naiven  Autoritätsglaubens  mit  einer  im  letzten  Grunde 
nicht  unbedenkhchen  Mystik  hörte  auf.  Kirchlicher  Glaube,  Mystik  und 
aristotelisch  eW  issenschaft  schliessen  einen  festen  Bund.  Anderer- 
seits verloren  die  „Dialektiker",  je  mehr  sie  von  der  FormaUstik  des 
Aristotelismus  zu  der  Principienlehre  des  Aristoteles  übergingen  —  die 
sich  steigernde  Kenntniss  dieser  Philosophie  trug  vielleicht  am  meisten 
dazu  bei  — ,  jene  Keckheit,  die  einst  so  viel  Anstoss  gegeben  hatte  und 
die  doch  oft  nur  ein  Zeichen  des  Spiels  mit  Hülsen  gewesen  war.  Aller- 
dings ging  auch  manche  frische  Erkenntniss"  dabei  verloren  ^  Wer  viel 
zu  tragen  hat,  wird  ängsthcher  und  langsamer,  als  w^er  mit  leichtem 
Bündel  marschirt.  Dazu  kam,  dass  die  Autorität  der  Kirche  von  De- 
cennium  zu  Decennium  eine  mächtigere  wurde.  Wuchs  auch  der  Gegen- 
satz, der  zu  bedenklichem  Nachdenken  trieb  (Muhammedaner,  Juden, 
Häretiker,  Kenntniss  der  alten  Klassiker)^,  so  überstrahlte  die  Kirche 
am  Ende  des  12.  Jahrhunderts  Alles  durch  ihren  Glanz.  Ihr  Recht 
in  Leben  und  Lehre  wurde  der  würdigste  Gegenstand  der  Erforschung 
und  Darstellung.  In  diese  Aufgabe  verschmolz  die  andere,  alle  Dinge 
auf  Gott  zu  beziehen  und  die  Welterkenntniss  als  Theologie  zu  con- 
struiren.  Die  Theologie  der  kirchlichen  Thatsachen  drängte 
sich  der  Theologie  der  Speculation  auf.  Unter  welchem  ande- 
rem Zeichen  konnte  dieses  grosse  Gebäude  aufgerichtet  werden,  als  unter 
dem  jenes  aristotelischen  Realismus,  der  im  Grunde  Dialektik 
zwischen  dem  platonischen  Realismus  und  dem  Nominalismus  war,  und 
der  Immanenz  und  Transcendenz,  Geschichte  und  Wunder,  Unveränder- 
lichkeit  Gottes  und  Veränderlichkeit,  Idealismus  und  Realismus,  Ver- 
nunft und  Autorität  angeblich  zu  vereinigen  vermochte  ?   So  bricht  erst 


'  In  den  Schriften  der  älteren  Scholastiker,  d.  h.  vor  Allem  Abälard's,  stecken 
nicht  wenige  Gedanken,  die  dircct  das  Dogma  sei  es  zu  bereichern,  sei  es  zu 
rnodificiren  geeignet  waren.  Aber  damals  nahm  die  Kirche  von  den  Scholastikern 
nichts  an,  und  als  sie  bereit  war,  sich  von  ihnen  die  Lehre  interprctircn  zu  lassen, 
waren  diese  nicht  mehr  frei  und  kühn  genug,  um  der  Kirche  Neues  zu  sagen. 

'■'  Welche  Bedeutung  für  Abalard  die  Auseinandersetzung  mit  dem  Juden  und 
dem  Philosophen  gehabt  hat,  lehrt  der  „Dialog"  (s.  Deutsch  S.  433  fl*.  gegen 
Reuter  IS.  198—221). 


332     Oeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

im  13.  Jahrhuiulert  die  der  Kirche  und  ihrem  Dogma  adäquate,  nun 
nicht  mehr  misstrauisch  betrachtete  Tlieologie  hervor  *,  nachdem  ein 
neuer  Aufschwung  der  Frömmigkeit  (die  Bcttelorden)  dieser  die  höchste 
Kraft  verhehen  hatte,  deren  die  kathohsche  Rehgion  überhaupt  fähig 
ist.  Die  Furcht  des  Herrn  war  auch  dieser  neuen  Weisheit  Anfang. 
Sie  verhält  sich  nach  Form  und  Inhalt,  in  ihrer  Systematik  und  in  der 
erschöpfenden  Fülle  ihres  Stoffs,  zu  der  Theologie  des  12.  Jahrhunderts 
etwa  so,  wie  sich  Origenes  zu  Clemens  Alexandrinus  verhält.  Der  Ver- 
gleich ist  desshalb  mehr  als  ein  solcher,  weil  sich  wirklich  der  Gang  der 
Verhältnisse  wiederholt  hat.  Clemens  der  Anfänger,  der  Kühnere, 
der  weniger  Abgeklärte,  der  noch  nicht  die  volle  Autorität  der  katho- 
lischen Kirche  sich  gegenüber  weiss-,  Origenes  der  Systematische,  Um- 
fassendere, aber  zugleich  der,  welcher  in  höherem  Masse  an  die  Kirche 
und  ihre  Lehre  gebunden  ist.  Dasselbe  Verhältniss  waltet  zwischen  den 
Theologen  des  12.  und  13.  Jahrhunderts.  (Vgl.  den  „aggregierenden" 
Charakter  z.  B.  der  Sentenzen  des  Robert  Pullus  [Deutsch  S.  6  f.J  mit 
den  Stromateis  des  Clemens  und  die  grossen  „Summen"  des  13.  Jahr- 
hunderts mit  Origenes  de  principiis).  Wir  werden  im  nächsten  Capitel 
den  Faden  hier  wieder  aufnehmen.  Wenn  wir  dem  Lombarden  und  vor 
Allem  dem  etwas  älteren,  sachlich  einflussreichsten  Theologen  des 
12.  Jahrhunderts  („alter  Augustinus"),  Hugo,  hier  keine  besondere  Be- 
trachtung widmen,  so  mag  die  Thatsache  zur  Entschuldigung  dienen,  dass 
Beide  eine  dogm  enge  schichtliche  Bedeutung  erst  auf  dem  grossen 
Lateranconcil  und  in  den  Theologen  des  13.  Jahrhunderts  gewonnen 
haben.  Ueber  Hugo's  Sentenzen  s.Denifle  im  Archiv  f.  L.-  u.K.-Gesch. 
des  Mittelalters  IH  S.  634  ff. 

4.  Arbeiten  am  Dogma. 

Die  theologischen  Kämpfe  des  11.  und  12.  Jahrhunderts,  wie  sie 
zwischen  den  Dialektikern  und  ihren  Gegnern  ausgefochten  wurden, 
gehören  nicht  in  die  Dogmengeschichte.  Diese  hat  sich  darauf  zu  be- 
schränken, nachzuweisen,  welche  Stellung  bei  dem  Aufschwung  und  den 
Krisen  der  Tlieologie  das  Dogma  behauptet,  welche  Bereicherungen  es 
etwa  erlebt,  und  inwiefern  der  Schulbetrieb  (resp.  die  theologische  Syste- 
matik) schon  auf  dasselbe  eingewirkt  hat.  AVas  die  erste  Frage  betrifft, 
so  kann  man  sich  ganz  kurz  fassen :  das  Dogma,  wie  es  die  Concihen 


^  Das  schwindende  Misstranen  gegen  die  Theologie  im  Unterschied  von  der 
früheren  Zeit  ist  auch  dadurch  zu  erklären,  dass  das  allgemeine  Niveau  der  Bildung 
des  höheren  Klerus  sich  gehoben  hat.  So  viel  Unvernunft,  wie  sie  die  „Dialektiker" 
des  11.  Jahrhunderts  in  der  breiten  Entwickelung  der  Kirche  zu  bekämpfen  hatten, 
stand  den  Theologen  des  13.  Jahrhunderts  nicht  mehr  gegenüber. 


Der  Berengar'sche  Streit.  333 

festgestellt,  wie  es  Augustin  und  Grregor  1.  beschrieben  hatten  \  war 
die  Voraussetzung  alles  theologischen  Denkens  und  galt  als  unantastbar. 
Vereinzelte  Ausnahmen  waren  ohne  jede  Bedeutung.  Die  dialektischen 
Versuche  am  Dogma  hatten  stets  die  überlieferte  Fassung  desselben 
zur  Grundlage.  Was  die  dritte  Frage  anlangt,  so  lässt  sich  wohl  schon 
im  12.  Jahrhundert  ein  Einfluss  des  Schulbetriebes  und  der  Systematik 
auf  das  Dogma  nachweisen ;  aber  er  ist  noch  so  sehr  in  den  Anfängen, 
dass  man  besser  thut,  erst  bei  dem  13.  Jahrhundert  von  demselben  zu 
handeln'^.  Somit  bleibt  nur  die  Frage  nach  den  „Bereicherungen" 
übrig.  Auch  diese  wäre  streng  genommen  negativ  zu  beantworten^,  läge 
nicht  im  Berengar'schen  Streit  eine  Action  vor,  in  welcher  ein  noch 
immer  controverses  Dogma  zum  relativen  Abschluss  gelegt  ist,  und  hätte 
nicht  Anselm  eine  Satisfactionslehre  aufgestellt,  die  zwar  eine  reine 
Privatarbeit  war  und  auch  wenig  Anhänger  in  der  Folgezeit  gefunden 
hat,  aber  doch  ein  bisher  ungelöstes,  ja  kaum  noch  berührtes  dogmati- 
sches Problem  der  Kirche  vorrückte,  welches  nun  nicht  mehr  verschwin- 
den sollte.  Wir  haben  daher  im  Folgenden  von  diesen  beiden  Actionen 
zu  handeln. 

A.  Der  Berengar'sche  Streit. 

Dieser  Streit*  hat  neben  dem  dogmatischen  auch  ein  philoso- 
phisches^ und  kirchenpolitisches  ^  Interesse.  Das  letztere  dürfen  wir 
hier  ganz  bei  Seite  lassen;  das  erstere  ist  mit  dem  dogmatischen 
eng  verknüpft.    Bei  der  Stellung,   welche   das  Abendmahlsdogma   in 

'  Augustin's  Enchiridion  war,  sofern  es  überhaupt  ein  einzelnes  massgebendes 
Buch  hier  gab,  das  einflussreichste.  Aber  charakteristisch  ist,  dass  A))älard  in 
seinem  systematischen  Werke  })ereits  die  Sacramente  dem  Glauben  und  der  Liebe 
hinzugefügt  hat. 

^  Gedacht  ist  hier  vor  Allem  an  die  Sacramentslehre. 

^  Fast  alles  das,  was  Bach  im  2.  Bande  seines  Werkes  über  die  Dogmenge- 
schichte dos  Mittelalters  dargestellt  hat,  einschliesslich  der  „Geschichte  des  Adopti- 
anismus  im  12.  Jahrhundert"  und  der  „systematischen  Polemik  gegen  die  Dialek- 
tiker" (S.  390  ff.:  Gerhoch  gegen  die  deutschen  Adoptianer;  S.  475  ff.),  gehört 
lediglich  der  Geschichte  der  Theologie  an  und  ist  für  die  Dogmengeschichte  gleich- 
giltig. 

■*  Ausser  Les 8 ing's  bekannter  Arbeit  und  Vi  scher,  De  sacra  coena  adv.  Lan- 
francum  lib.  posterior  1834,  s.Sudendorf,  Berengarius  1850,  Bach  I  S.  364—451, 
Reuter  I  S.  91  ff.  Dieckhoff,  Die Abendinahlslehre  imReform.-Zeitalterl  S.  44  ff 

^  Hier  zuerst  sind  die  Kategorien  „su])iectum"  „(juod  in  su])iecto"  „de  sul)- 
iecto",  die  Unterscheidung  von  „esse"  und  „s(;cundum  (|uod  esse",  kurz  die  dialek- 
tischen Uebungen  am  Substanzbegriff  (nach  Pori)hyrius,  Boethius  u.  s.  w.)  auf  ein 
Dfjgma  im  Abendland  übertragen  worden. 

"  Namcnflicli  Schwalx'  (Studien  zur  Gesch.  <1('S  2.  Al)endmahlHstr(utH  1887, 
B.  Loofs  (iöii.  (iel.-Anz.  1883  Nr.  15)  hat  nach  dc^m  Vorgang  Sudcndori's  die 
äussere  politische  Seite  des  Streits  eingehend  b(;liandelt. 


334     Geschichte  des  Dogmas  imZeitaltor  Clugny's,  Anselm's  und Bornhard's. 

der  Theorie  und  Praxis  der  Kirclie  einnahm,  war  die  Kritik  an  dem- 
selhen  eine  Kritik  an  der  herrschenden  Kirchenlehre  überhaupt.  Indem 
die  junge  AVissenschaft,  vertreten  und  geführt  durcli  Berengar  von 
Tours,  hier  einsetzte,  die  giltige  VorsteUung  des  Unrechts  zieh  und 
die  wissenschal'tUclie  Methodik  auf  das  Abendmahlsdogma  anwandte, 
war  damit  der  Gedanke  ausgesprochen,  dass  man  sich  bei  dem  blossen 
kirchlichen  Herkommen,  bei  dem,  was  heute  gilt,  nicht  beruhigen 
dürfe.  Allein  dieser  Gedanke  wurde  nicht  im  Namen  einer  negativen 
Aufklärung  zum  Ausdruck  gebracht',  sondern  vielmehr  umgekehrt, 
um  die  wahre  Tradition  der  Kirche  aus  den  Armen  einer  üblen  Ge- 
wohnheit zu  befreien,  um  den  Geist  der  Lehre  vor  einem  massiven 
und  superstitiösen  JRealismus  zu  schützen,  um  die  Xo^izy]  Xaipsia  gegen- 
über einer  barbarischen  Mysteriensucht  sicherzustellen,  und  um  das 
Geheimniss  des  Glaubens  nicht  zu  profaniren.  Aber  mit  diesem  keines- 
wegs bloss  vorgeschützten  Interesse  verband  sich  die  Lust  am  Denken 
und  die  kecke  Zuversicht  auf  die  Dialektik  als  auf  „die  Vernunft" 
überhaupt.  Berengar  und  seine  Schüler  waren  als  Theologen  Augustiner, 
aber  daneben  hatte  Berengar  eine  Freude  an  der  Kritik  als  solcher  und 
eine  Zuversicht  zur  „Wissenschaft",  die  nicht  augustinisch  war. 

Berengar,  Leiter  der  Domschule  in  Tours,  seit  c.  1040  Archidia- 
konus  in  Angers  (-j- 1088),  hatte  längst  Studien  über  die  Abendmahls- 
lehre angestellt,  die  Kirchenväter  durchforscht,  sich  mit  dem  ersten 
Abendmahlsstreit  beschäftigt  und  die  Lehre  des  Paschasius  verworfen  ^, 
bevor  es  zu  einem  Streit  kam.  Er  sah  in  der  Lehre,  wie  sie  jetzt  herr- 
schend war,  Abfall  von  den  Kirchenvätern  und  Unvernunft ;  denn  er  sah 
in  ihr  nur  die  Anschauung,  dass  nach  der  Consecration  Brot  und  Wein 
verschwunden  und  dafür  das  wirkliche  Fleisch  und  das  Blut  Christi  in 
so  sinnlich  greifbarer  Weise  vorhanden  seien,  dass  sie  als  Stücke 
(Theile)  seines  blutigen  Leibes  vorliegen,  Er  hatte  Recht  —  so  lehrte 
der  weit  verbreitete  Aberglaube  ^ ;  allein  Paschasius  hatte  doch  die  Ver- 


I 


*  Reuter's  Urtheü  I  S.  97:  „Also  ist  der  2.  Abendmalilsstreit  geworden,  was 
der  erste  nicht  war,  ein  Kampf  um  die  höchsten  Kriterien  der  rehgiösen  "Wahrheit, 
ein  Conflict  der  Tendenz  der  negativen  Aufklärung  unmittelbar  mit  dem  damaligen 
autoritativen  Kirchenthum ,  mittelbar  mit  dem  Christenthum  der  positiven  Offen- 
barung", ist  mir  schlechthin  unbegreiflich.  Selbst  der  überzeugteste  römische  Theo- 
loge wird  Anstoss  nehmen,  diese  Beurtheilung  zu  unterschreiben. 

*  S.  darüber  ReuterlS.  95.  „Paschasius  ineptus  ille  monachus  Corbeiensis." 
Mit  Recht  sieht  Berengar  bei  Paschasius  Widersprüche.  Das  Buch  des  Ratramnus 
galt  damals  für  ein  Werk  des  Johannes  Scotus  und  wurde  als  solches  1050  zuVer- 
celli  verdammt. 

*  Das  Glaubensbekenntniss,  welches  ihm  1059  aufgenöthigt  wurde  (verfasst 
von  Cardinal  Humbert),  enthielt  auch  die  crasse  Anschauung.  Selbst  B  ach  T  S.  Mi^ 


Der  Bereugar'sche  Streit.  335 

Wandelung  auch  geistiger  gemeint,  und  unter  den  autoritativen  Kirchen - 
männern  jener  Zeit  lehrten  nicht  alle  Hervorragenden  eine  solche 
Conversio  ^  Durch  einen  Brief  an  Lanfranc  eröffnete  Berengar  selbst 
den  Streit  ^.  Seine  Lehre  hat  er  in  seinem  Werk  de  sacra  coena  (c.  1073) 
ausführlich  ausgesprochen.  Vernunft  in  die  Kirchenlehre  zu  bringen 
oder  richtiger,  die  Vernunft,  die  in  den  göttlichen  Lehren  der  Kirche 
liegt,  durch  die  Vernunft  ans  Licht  zu  bringen,  war  seine  Losung.  Die 
Dialektik,  die  an  sich  stets  differenzirte,  ist  nirgends  mehr  an  ihrem 
Platze,  als  wo  es  sich  um  zwei  Objecto  handelt,  die  beziehungsweise 
Eins  und  beziehungsweise  verschieden  sind.  So  ist  die  Zweinaturenlehre 
ihr  eigenstes  Gebiet,  so  auch  die  Abendmahlslehre  mit  ihren  irdischen 
Elementen  und  ihrer  himmhschen  Gabe  ^.  Berengar  wies  nach,  dass  die 
Lehre  von  der  leibhaftigen  Verwandlung  absurd  („ineptia")  sei  und  der 
alten  Tradition  sowie  der  Vernunft,  die  wir  als  die  vernünftig  geschaf- 
fenen Ebenbilder  Gottes  nach  Gottes  Willen  brauchen  müssen,  ins  Ge- 


n.  4  erklärt  das  Bekenn tniss  für  „mindestens  ansfössig".  Es  steht  bei  Lanfranc,  de 
corp.  et  sang.  dorn.  2  (Migne  CL) :  „panem  et  vinum  quae  in  altari  ponuntur  post 
consecrationem  non  solum  sacramentum  sed  etiam  verum  corpus  et  sanguinem  J. 
Christi  esse  et  sensuaHter,  non  solum  in  sacramento  sed  in  veritate,  manibus  sacer- 
dotum  tractari  et  frangi  et  fidelium  dentibus  atteri."  Das  Charakteristiscliste  ist, 
dass  die  ganz  Consequenten  selbst  das  Wort  „Sacrament"  für  ungenügend  erklärten: 
„Das  Abendmahl  ist  das  Geheimniss  (Sacrament),  bei  welchem  kein  Geheimniss  ist, 
sondern  Alles  vere  et  sensualiter  stattfindet."  Das  ist  der  Grundgedanke  der  Gegner 
Berengar's.  Dass  dies  ein  Abfall  von  der  Tradition  ist,  steht  ausser  Zweifel.  Aber 
die  Traditionstheologen  sind  bekanntlich  dann  am  fanatischsten,  wenn  dem  Schlen- 
drian, den  sie  Tradition  nennen,  oder  ihren  Einfällen,  welchen  sie  um  ihres  Unver- 
standes willen  den  Schimmer  des  Ehrwürdigen  verleihen,  die  Wahrheit  unterdem 
Schutze  der  wahren  Tradition  entgegengestellt  wird. 

^  Die  Controverse  ist  auch  desshalb  so  unerquicklich,  weil,  wie  gewöhnlich, 
die  Gegner  übertreiben.  Berengar  thut  so,  als  habe  er  nur  die  Lehre  sich  gegen- 
über, dass  Theile  des  blutigen  Leibes  Christi  mit  den  Zähnen  zermalmt  werden; 
seine  Feinde  behaupten,  dass  nach  ihm  die  Elemente  leere  Symbole  seien.  Er  hatte 
in  seiner  Charakteristik  immerhin  mehr  Recht;  aber  nicht  nur  Fulbert  (Bacli  I 
S.  365),  sondern  auch  Spätere  dachten  nicht  an  eine  räumliche  Ausdehnung  des 
Leibes  Christi  in  den  convertirten  Elementen. 

2S.  MansiT.  XDCp.  768. 

"  Natürlich  sind  die  Hauptargumente  Berengar's  der  Schrift  und  der  Tradition 
entnommen.  Auf  sie  legt  er  das  entscheidende  Gewicht.  Die  Unterscheidung,  die 
bereits  Alles  präjudicirt,  zwischen  dem  Sinnenfäiligen,  Siciitbaren  und  dem  Sacra- 
ment, dem  Unsichtbaren  —  Berengar  hatte  sie  zum  Fundament  seiner  Lehre,  zum 
Ausgangspunkt  der  Dialektik  gemacht,  solange  er  denken  konnte  —  stammt  von 
Augustin.  In  dif;  Dialektik  mischen  sich  die  Anfänge  einer  freieren,  kritischen  Ge- 
Hchichtsljetrachtung.  Doch  rüttelt  Berengar  an  keinem  Concils])Cschluss.  Nur  die 
Beschlüsse  in  seiner  Sache  verhölmt  er. 


336     (Toschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

sieht  schlage  *.  Er  stellte  sieh  daher  auf  den  Standpunkt  des  Scotus 
(Ratramnus).  Er  lehrte,  dass  die  AVorte  tropisch  zu  verstehen  seien ; 
aher  er  gab  diesem  Verständniss  eine  grössere  Sicherheit  als  sein  Vor- 
gänger :  in  vielen  Symbolen  wird  von  (Christus  geredet,  daher  ist  auch 
das  Brot  ein  Symbol'-;  die  Schrift  lehrt,  dass  Christus  bis  zur  AVieder- 
kunft  im  Himmel  bleibt'^;  ein  Brotstück  ist  nicht  fähig,  den  von  der 
Jungfrau  geborenen  Leib  in  sich  aufzunehmen,  und  doch  handle  es  sich 
sogar  um  den  ganzen  Christus*;  eine  Zerstörung  des  Subjects  (der 
Elemente)  hat  auch  die  Zerstörung  aller  wesentlichen  Eigenschaften  der 
Elemente  zur  Folge,  denn  in  concreto  lassen  sich  diese  von  dem  Subject 
selbst  nicht  unterscheiden  (nonn'nalistischer  Ansatz)'*.  Allein  die 
tropische  Aufflassung  w^ar  für  Berengar,  da  er  bei  ihr  nicht  stehen 
blieb,  nicht  gleichbedeutend  mit  der  symbolischen.  Diese  lehnte  er 
vielmehr  ausdrücklich  ab,  sofern  er  nach  alter  Ueberlieferung  im 
Abendmahl  ein  Doppeltes  erkannte,  signum  und  sacramentum.  Die 
Elemente  werden  durch  die  Consecration  zum  Sacrament,  und  damit 
ist  bereits  gegeben,  dass  sie  nun  etwas  objectivHeihges  in  sich  schliessen. 
Es  findet  eine  conversio  statt ;  allein  dieser  Ausdruck  hat  bei  Berengar 


*  S.  Vi  sc  her  p.  100  f.:  „maximi  plane  cordis  est,  per  omnia  ad  dialecticam 
confugere,  quia  confugere  ad  eam  ad  rationem  est  confugere,  quo  qui  non  confugit, 
cum  secundum  rationem  sit  factus  ad  imaginem  dei,  suum  honorem  reliquit  nee 
potest  renovari  de  die  in  diem  ad  imaginem  dei." 

^  Berengar  vergleicht  die  Bezeichnungen  Christi  als  Löwe,  Lamm,  Eckstein. 

^  P.  199:  „constabit,  eum  qui  opinetur,  Christi  corpus  coelo  devocatum  adesse 
sensualiter  in  altari,  ipsum  se  deiicere,  quod  vecordium  est,  dum  confirmat  se  manu 
frangere,  dente  atterere  Christi  corpus,  quod  tamen  ipsum  negare  non  possit  im- 
possibile  esse  et  incorruptibile." 

■*  Das  Letztere  ist  für  Berengar  vom  höchsten  Gewicht  gewesen.  Er  versteht 
seine  Gegner  stets  so,  dass  sie  „portiunculae"  des  Leibes  Christi  auf  dem  Altar  an- 
nehmen, und  wendet  dem  gegenüber  ein,  1)  dass  es  sich  um  den  ganzen  Leib 
handle  (s.  p.  148.  199  f.),  2)  dass  der  Leib  Christi  kein  „corruptibile"  sei,  das  be- 
rührt, gebrochen  und  zerbissen  werden  könne.  Dann  aber  ist  das  Brot  nicht  im 
Stande,  einem  solchen  Leibe  Raum  zu  geben,  und  vor  Allem  ist  das  „sensualiter" 
dann  widerlegt.  Die  Licorruptibilität  und  Einzigkeit  des  Leibes  Christi  sind  die 
Voraussetzungen  seiner  Dialektik.  Ein  so  beschaffener  Leib  kann  nicht  sinnlich 
werden,  und  er  kann  nicht  an  tausend  Orten  zugleich  sein.  Auch  die  Auskunft  der 
Neuschaffung  des  Leibes  Christi  hat  er  trefflich  widerlegt;  so  käme  man  zu  zwei 
Leibern. 

^  Hier  hat  Berengar  die  richtige  logische  Erwägung  geltend  gemacht,  „quod 
in  subiecto  erat  superesse  quacuncjue  ratione  non  potest  corrupto  subiecto'*  (p.  93), 
d.  h.  w^enn  die  Substanz  zerstört  ist,  können  die  wesentlichen  Eigenschaften  (Ge- 
schmack, Farbe,  Gestalt)  nicht  nachbleiben;  oder  p.  50:  „non  potest  res  ulla  alicpiid 
esse,  si  desiuat  ipsum  esse."  Auch  protestantische  Historiker  wollen  von  solchen 
Gründen  nichts  wissen. 


Der  Berengar'sche  Streit.  337 

allerdings  einen  ungewöhnliclien  Sinn  ^  Er  soll  besagen,  dass  die 
Elemente  bleiben  was  sie  sind,  aber  zugleich  Sacramente  des  Leibes 
Christi  werden.  Sie  werden  beziehungsweise  etwas  Anderes,  d.h. 
zu  dem  Sichtbaren  tritt  nun  ein  zweites  Element,  welches  real,  aber 
unsichtbar  ist.  Die  consecrirten  Elemente  bleiben  in  einer  Hinsicht 
was  sie  sind,  aber  in  einer  anderen  werden  sie  Sacramente,  d.  h.  sie, 
als  die  sichtbaren,  zeitlichen  und  veränderlichen  Subjecte,  werden 
Garanten  (pignora,  figurae,  signa)  des  Empfangs  des  ganzen  himm- 
lischen Christus  seitens  des  Gläubigen.  Während  der  Mund  somit 
das  „Sacrament"  empfängt,  empfängt  der  wahrhaftige  rechte  Christ 
„in  cognitione"  und  mit  seinem  Herzen  das,  was  die  sacramentalen 
Elemente  abbilden,  nämlich  Christus  als  Speise,  die  Kraft  des  himm- 
hschen  Christus.  Somit  ist  der  Genuss  und  der  Effect  des  Abend- 
mahls ein  geisthcher:  der  innere  Mensch  —  auf  den  Glauben  also 
kommt  es  neben  der  Consecration  an  —  bekommt  den  wahren  Leib 
Christi  und  macht  sich  den  Kreuzestod  Christi  durch  gläubiges  Er- 
innern zu  eigen  ^. 

Augustin  hätte  gegen  diese  Abendmahlslehre  nichts  einzuwenden 
gehabt,  auch  wenn  ihn  einige  dialektische  Argumente  und  Künste  in 
ihr  befremdet  hätten.  Allein  die  Zeitgenossen  perhorrescirten  sowohl 
ihr  Ergebniss  als  zum  Theil  auch  den  Weg  des  Gedankens,  welcher 
zu  diesem  Ergebniss  geführt  hat.  Zu  Rom  und  Yercelli  (1050)  wurde 
die  Lehre  auf  Grund  des  Briefs  an  Lanfranc  in  Abwesenheit  Beren- 
gar's  verdammt.  Neun  Jahre  später,  nachdem  sie  in  Frankreich  mit 
kirchlich  -  politischen  Fragen  künstlich  vermengt,  dadurch  aber  für 
Rom  zeitweilig  erträglicher  geworden  war,  und  ihr  Urheber  durch  Ver- 
leumdung und  Gefängniss  viel  gelitten  hatte,  wurde  Berengar  zu  Rom 
unter  Nicolaus  H.  genöthigt,  eine  Glaubensformel  zu  unterschreiben, 
die  es  deutlich  machte,  dass  seine  schlimmsten  Befürchtungen  in  Be- 
zug auf  die  Tyrannis  des  Aberglaubens  in  der  Kirche  nicht  über- 


*  Man  inuss  annehmen,  dass  er  auf  Accommodation  beruht ;  denn  wenn  auch 
dem  Sacrament  eine  res  sacramcnti  cntspriclit,  die  durch  die  Consecration  ge- 
schaffen wird,  so  handelt  es  sich  docli  nicht  um  eine  Verwandolung.  Auch  bot  die 
alte  Tradition  diesen  Terminus  nicht.  In  der  Sache  ist  Berengar  correctcr  Augu- 
stiner; daher  ist  es  unnöthig,  weitere  Stellen  anzuführen.  Der  zutreficndc  Ausdruck 
für  das,  was  Berengar  meint,  wäre  eine  göttliche  „auctio"  in  den  Elementen,  und 
so  hat  er  sich  auch  p.  98  ausgedrückt.  Dagegen  heisst  es  p.  125:  „i)er  eonsecrati- 
onem  altaris  fiunt  panis  et  vinum  sacramenta  religionis,  non  ut  dcsinant  esse  quac 
fuerant,  sed  ut  sint  quae  erant  et  in  aliud  commuientur." 

^  „Christi  corpus  totum  constat  accipi  ab  interioro  homine,  fidelium  corde, 
non  ore"  (p.  148).  Dabei  auch  PVinnerungsmahl :  „spiritualis  comestio,  quac  fH  in 
mente." 

Harnack,  Dogmengescliichte  III.  22 


338     Croschichto  des  Dogmas  im  Zoitaltor  Cliiorny's,  Anselm's  und  Bernhard'«. 

trieben  waren  *.  Nach  Frankreich  zurückgekehrt,  hielt  er  zuerst  an 
sich;  aber  dann  Hess  es  ihm  keine  Ruhe  mehr.  Er  stellte  sich  mit  seiner 
Lehre,  für  die  er  in  Rom  selbst  einflussreiche  Gönner  hatte,  wieder 
auf  den  Plan,  und  ein  neuer  erregter  litterarischer  Streit  war  die 
Folge.  In  ihm  sind  die  wichtigsten  Schriften  von  beiden  Seiten  ge- 
schrieben w^orden.  Gregor  VIl.  behandelte  die  Controverse  dilatorisch 
und  mit  viel  Schonung  gegen  Berengar,  der  ihm  persönlich  bekannt 
war:  Rom  ist  zu  allen  Zeiten  klug  genug  gewesen,  sich  mit  dem 
Ketzermachen  nicht  zu  beeilen,  und  ein  Papst,  der  bei  derAVeltregierung 
so  oft  durch  die  Finger  sehen  muss,  weiss  auch  Geduld  und  Nach- 
sicht zu  üben,  zumal  wenn  persönliche  Sympathien  nicht  fehlen-. 
Allein  schliesslich  wurde  Gregor  doch  genöthigt,  um  sein  eigenes 
Ansehen  nicht  zu  erschüttern,  Berengar  auf  der  Synode  von  1079 
zur  Anerkennung  der  Verwandelungslehre  zu  zwingen  •'^.  Berengar  unter- 
warf sich  äusserlich  zum  zweiten  Mal ;  der  Papst  war  mit  der  Form 
zufrieden;  aber  die  Sache,  die  der  gebrochene  Gelehrte  vertrat,  ging 
damit  unter. 

Die  Wandelungslehre  des  Paschasius  —  der  Ausdruck  Trans- 
substantiation  soll  zuerst  von  Hildebert  von  Tours  (Anfang  des  12.  Jahr- 
hunderts) im  93.  Sermon  Migne  CLXXI  p.  776  gebraucht  worden 
sein  ^  —  ist  von  den  Gegnern  Berengar's  weiter  ausgebildet  worden  ^. 
Erstlich  wurde  das  Mysterium  noch  sinnlicher,  wenigstens  von  Einigen, 
gefasst  (manducatio  infidelium)^;  zweitens  begann  man,   wenn   auch 

»  S.  oben  S.  334  Anmk.  3. 

'■^  Ueber  das  interessante  Verhältniss  Berengar's  zur  Curie  und  zu  Gregor  VIT. 
S.Reuter  IS.  116  ff.  120  ff. 

^  Die  Formel  (bei  Lanfranc  c.  2)  war  zahmer  als  die  von  1059,  aber  doch  hin- 
reichend deutlich:  „Ego  Berengarius  corde  credo  et  ore  confiteor  panem  et  vinum 
quae  ponuntur  in  altari  per  mysterium  sacrae  orationis  et  verba  nostri  redemp- 
toris  substantialiter  converti  in  veram  et  propriam  et  vivificatricem  carnem  et 
sanguinem  J.  Christi  et  post  consecrationem  esse  verum  corpus  Christi,  quod  na- 
tura est  de  virgine  ...  et  quod  sedet  ad  dexteram  patris  .  .  .  non  tantum  per 
Signum  et  virtutem  sacramenti  sed  in  proprietate  naturae  et 
veritate  substantiae." 

*  Nicolaus  von  Methone  hat  in  seinen  zwei  Abhandlungen  gegen  die  An- 
hänger des  Soterichos,  welche  die  Messe  nicht  dem  Solme,  sondern  nur  dem  Vater 
und  Geist  darbringen  wollten  (v.  J.  1157),  den  Ausdruck  p.£TaaTo:^£i{jü3ic;  gebraucht, 
s.  Hefele  V^  S.  568.  Jene  Abhandlungen  hat  Dimitrakopulos  im  Jahre  1865  ver- 
öffentlicht (s.  Reu  seh,  Theol.  Litt.-Blatt  1866  Nr.  11). 

^  Doch  hat  Alles  erst  im  13.  Jahrhundert  feste  Gestalt  gewonnen:  die  Fragen, 
welche  die  neue  Lehre  zur  Folge  hat,  sind  unübersehbar. 

^  Lanfranc,  1.  c.  c.  20:  auch  die  Sünder  und  Unwürdigen  empfangen  den 
wahren  Leib  Christi.  Nur  in  dieser  Beziehung  hat  Laufranc  die  Lehre  über  Pascha- 
sius fortsrebildet. 


Die  "VVandelungslehre  nach  dem  Berengar'schen  Streit.  339 

vorsichtig,  die  „  Wissenschaft ",  welche  man  bei  dem  Gegner  discreditirte, 
auf  das  Dogma  anzuwenden.  Die  rohen  Vorstellungen  wurden  beseitigt; 
und  man  suchte  die  älteren  Aussagen  der  Tradition  mit  der  neuen 
Wandelungslehre  zu  verbinden  sowie  die  augustinische  Terminologie 
vermittelst  dialektischer  Unterscheidungen  dem  massiv-realistisch  ge- 
dachten Object  anzupassend  Ganz  ohne  Frucht  ist  also  Berengar's 
Kampf  nicht  gebheben ;  allein  diese  Frucht  bestand  wesenthch  darin, 
dass  man  die  Wissenschaft   überhaupt  zuliess,  weil  man  allmähhch 


^  Es  handelte  sich  vor  Allem  darum,  den  ganzen  Christus  in  der  Hostie 
als  gegenwärtig  anzuerkennen,  die  augustinische,  sowie  überhaupt  die  ältere  reiche 
und  mannigfaltige  Auffassung  vom  Abendmahl  mit  der  Wandelungslehre  zu  ver- 
söhnen, das  Verhältniss  von  Element  und  verum  corpus  Christi  durch  dialektische 
Unterscheidungen  von  Accidenz  und  Substanz  rational  zu  machen,  die  Präsenz  des 
Christus  im  Himmel  mit  der  sacramentalen  Präsenz  auszugleichen  und  auch  die 
Kirche  als  corpus  Christi  bei  diesen  Speculationen  nicht  zu  vergessen.  Hier  ist 
besonders  die  Schrift  de  corp.  et  sang.  Christi  veritate  in  eucharistia  Gruitmund's  von 
Aversa  (Migne  CXLIX)  hervorzuheben.  Die  Theorien  anderer  Gregner  ßerengar's 
(Lanfranc,  Adelmann  v.  Brixen,  Hugo  v.  Langres,  Durandus  v.  Troanne,  Alger  von 
Lüttich,  Abälard  [er  lehrte  nicht  wie  Berengar,  s.  D  e  u  t  s  c  h ,  a.  a.  0.  S.  401  f.  405  ff.], 
AValter  v.  St.  Victor,  Honorius  v.  Autun  u.  s.  w.)  s.  bei  Bach  I  S.  382  ff.  Ueber 
die  deutschen  Theologen,  die  sich  mit  der  Abendmahlslehre  beschäftigt  haben,  s. 
ebendort  S.  399  ff.  (die  Reichersberger  Theologen,  Gerhoch,  Rupert  von  Deutz; 
bei  dem  Letzteren  findet  sich  eine  eigenthümliche,  spiritualistische  Consubstantia- 
tionslehre).  Guitmund  hat  jeder  Partikel  den  ganzen  Christus  beigelegt  und  damit 
zu  der  neuen,  zuerst  von  Anselm  ausgesprochenen  Ansicht  übergeleitet,  dass  der 
ganze  Christus  auch  in  einer  Gestalt  enthalten  sei  (ep.  IV,  107):  „in  acceptione 
sanguinis  totum  Christum  deum  et  hominem  et  in  acceptione  corporis  similiter  to- 
tum  accipimus."  Damit  war  die  später  zur  Regel  gewordene  Kelchcntziehung  dog- 
matisch begründet.  Interessant  sind  die  scliücliterncn  Vorsuche,  die  man  gemacht 
hat,  auch  eine  „gewisse"  IncorruptilnUtät  der  Accidentien  der  convcrtirten  Sub- 
stanzen zu  lehren  (diese  Termini  werden  jetzt  auch  von  den  Orthodoxen  gebraucht). 
Allein  der  Augenschein  zeugte  wider  diese  Annahme,  und  zur  Lehre,  dass  auch  hier 
die  Empirie  sich  irre,  konnte  man  sich  doch  niclit  entschliessen.  Dass  lutherische 
Theologen  für  Berengar's  Gegner  Partei  ergreifen  (Thomasius-Seeberg  S.  48: 
„wirklich  religiöse  Position  gegenüber  der  rationalisii-enden  Umdeutung  dieses 
Mannes",  vgl.  Reuter),  obglcicli  ihr  letztes  Argument  die  Allmacht  Gottes  gewesen 
ist,  gehört  zu  den  Eigenthümliclikeitcn  der  romantischen  Tlicologie  des  19.  .Tahr- 
liunder-ts,  Thomasius  (S.  49j  erfreut  sich  Ijesondcrs  an  den  scliücliternen  Ansätzen 
zur  Lehre  von  der  Ubifjuität  der  Substanz  des  Lcüjcs  des  liimnilischen  Cliristus  bei 
Alger  (de  sacram.  corp.  et  sang,  doniini  I,  11-16),  wodurch  die  Schwierigkeiten, 
die  an  der  Vorstellung  der  creatio  des  eucharistischen  Leibes  haften,  beseitigt 
werden  sollen  (Bach  I  S.  389  ff.):  „Christus  kann  cor])oraliter  ü])erall  sein,  wo  er 
will."  Noch  war  man  übrigens  (h.  Lanfranc)  nicht  (larül)ei'  hinausgekommen,  zu 
erklären,  dass  der  eucharistische  Leil)  identisch  sei  mit  dem  zui-  Rechten  (»ottes 
erhöhten  und  doch  nicht  identisch.  Wio  nötliig  war  hiei-  also  die  so  geschmähte 
DiaU'klik  Bfrongar's! 

22* 


340     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Ansolm's  und  Bernhard's. 

einsah,  dass  die  Einfalt  des  Glaubens  gegenüber  der  Last  der  Probleme 
ohnmächtig  war.  In  solenner  Weise  als  Dogma  ist  die  mittelalterliche 
Abendmahlslehre  auf  dem  4.  Lateranconcil  (1215)  in  dem  berühm- 
ten Glaubensbekenntniss  ausgeprägt  worden,  welches  vor  der  professio 
fidei  Tridentinae  das  einflussreichste  Symbol  (nach  dem  Nicäno-(Jon- 
stantinopolitanum)  gewesen  ist  (s.  Mansi  XX  FI  p.  982,  He  feie  V^ 
S.  878  ff.  und  das  Corpus  iuris  canonici,  wo  das  Stück  sub  X,  1  de 
summa  trinitate  [I,  1]  Aufnahme  gefunden  hat).  Das  Wichtige  ist 
hier,  1)  dass  die  Abendmahlslehre  sofort  an  das  Bekenn tniss  7Air 
Trinität  und  Menschwerdung  angeschlossen  ist.  Damit  ist  auch 
im  Symbol  zum  Ausdruck  gekommen,  dass  sie  mit  diesen 
Lehren  aufs  engste  zusammenhängt,  ja  mit  ihnen  eine  Ein- 
heit bildet,  d.  h.  der  auch  für  die  Reformationsgeschichte  verhäng- 
nissvolle Zustand  ist  nun  geschaffen,  dass  die  Realpräsenz  denselben 
Werth  erhalten  hat  wie  die  Trinität  und  die  Zweinaturenlehre,  so  dass 
Jeder  als  kirchlicher  Anarchist  angesehen  wird,  der  sie  in  Abrede 
stellt.  Diese  Schätzung  entspricht  allerdings  der  Ausbildung  der  Abend- 
mahlslehre, sofern  das  Abendmahl  als  die  immerfort  gegenwärtige, 
irdische  Projection  der  Geheimnisse  der  Trinität  und  Christologie 
erscheint,  aber  sie  bringt  das  Evangelium  völlig  um  seinen  geistigen 
Charakter.  2)  Ist  nun  die  Transsubstantiation  ausdrücklich  gelehrt-, 
die  Worte  lauten:  ,,una  vero  est  fidelium  universalis  ecclesia,  extra 
quam  nullus  omnino  salvatur ,  in  qua  idem  ipse  sacerdos  et  sacri- 
ficium  Jesus  Christus,  cuius  corpus  et  sanguis  in  sacramento  altaris 
sub  speciebus  panis  et  vini  veraciter  continentur,  transsubstan- 
tiatis  pane  in  corpus  et  vino  in  sanguinem,  potestate  divina,  ut  ad 
perficiendum  mysterium  unitatis  accipiamus  ipsi  de  suo,  quod  accepit 
ipse  de  nostro  (hier  ist  die  Verbindung  mit  der  Christologie  deuthch). 
Et  hoc  utique  sacramentum  nemo  potest  conficere  nisi  sacerdos,  qui 
fuerit  rite  ordinatus  secundum  claves  ecclesiae,  quas  ipse  concessit 
apostolis  et  eorum  successoribus  Jesus  Christus."  Das  Symbol  fahrt 
dann  unmittelbar  also  fort:  „Sacramentum  vero  baptismi,  quod  ad  invo- 
cationem  individuae  trinitatis  consecratur  in  aqua,  tam  parvuUs  quam 
adultis  in  forma  ecclesiae  a  quocunque  rite  collatum  proficit  ad  salu- 
tem.  Et  si  post  susceptionem  baptismi  quisquam  prolapsus  fuerit 
in  peccatum,  per  veram  paenitentiam  semper  potest  reparari."  Da- 
mit ist  auch  diese  Entwickelung  abgeschlossen  und  zugleich  die  zuge- 
hörige andere  (s.  oben  S.  290),  nach  der  ein  jeder  Christ  vor  dem 
parochus  seine  Sünden  beichten  muss.  Es  heisst  im  21.  Cap. : 
„omnis  utriusque  sexus  fidelis,  postquam  ad  annos  discretionis  pervene- 
rit,   omnia  sua  solus  peccata  confiteatur   fideliter,   saltem   semel    in 


Das  4.  Lateranconcil  und  das  Abendmahl.   Anselm.  341 

anno,  proprio  sacercloti  et  iniunctam  sibi  paenitentiam  stucleat  pro 
viribus  adimplere,  suscipiens  reverenter  ad  minus  in  pascha  eucharistiae 
sacramentum."  Die  Neuerung  im  Symbol  —  die  Heranriickung  des 
Abendmahlsdogmas  an  die  Trinität  und  Christologie  —  ist  die  eigenste 
und  kühnste  That  des  Mittelalters.  Verglichen  mit  dieser  ungeheuren 
Neuerung  wiegt  der  Zusatz  des  „filioque"  sehr  leicht.  Andererseits 
zeigt  aber  doch  auch  das  Symbol  sehr  deutlich,  wie  die  alte  dogma- 
tische Tradition  noch  Alles  beherrscht;  denn  es  enthält  nichts  von 
den  specifischen  augustinisch-abendländischen  Sätzen  über  Sünde,  Erb- 
sünde, Gnade  und  Rechtfertigung.  „Dogma"  im  strengen  Sinn  des 
Worts  ist  die  Trinität,  die  Christologie,  die  Abendmahlslehre,  die  Lehre 
von  der  Taufe  und  dem  Busssacrament.  Alles  Uebrige  ist  höchstens 
Dogma  zweiter  Ordnung.  Auch  dieser  Zustand  ist  für  die  Reformations- 
geschichte von  höchstem  Werthe ;  die  Trinitäts-,  Christus-  und  Sacra- 
mentslehre  (d.  h.  die  Lehre  von  den  drei  Sacramenten,  Taufe,  Busse, 
Abendmahl)  constituiren  das  katholischeChristenthum — nichts  Anderes. 

B.  Anselm's  Satisfactionslehre  und  die  Versöhnungs- 
lehren der  Theologen  des  12.  Jahrhunderts^ 

Schon  seit  den  Tagen,  da  man  den  durch  die  decianische  Verfolgung 
herbeigeführten  grossen  Abfall  zu  bestrafen  suchte,  ohne  die  Kirche  zu 
decimiren,  galt  der  Satz,  dass  eine  in  der  paenitentia  legitima  bestehende 
satisfactio  congrua  den  beleidigten  Gott  wieder  günstig  gegen  den  Sün- 
der zu  stimmen  vermöge.  Seitdem  hatte  diese  Vorstellung  den  weitesten 
Spielraum  erhalten,  verband  sich  später  mit  germanischen  Vorstellungen 
und  beherrschte  das  ganze  Busssystem  der  lürche  '■^.  Mit  ihm  im  Zu- 
sammenhang stand  die  Auffassung  von  „Verdiensten",  d.  h.  von  solchen 
überpflichtmässigen  Handlungen,  die,  wenn  keine  Schuld  vorliegt,  welche 
zu  compensiren  ist,  ein  Anrecht  auf  einen  besonderen  Lohn  begründen. 
Durch  diese  Vorstellung  war  eine  Berechnung  des  Wert  lies  der 
einzelnen  Leistungen  eröffnet,  und  diese  Berechnungen  erfüllten  die 
ganze  Ethik.  Ob  eine  Handlung  pflichtmässig  oder  abundans  oder 
superabundans,  ob  sie  unter  den  gegebenen  Umständen  compensirend 
(satisfactorisch)  oder  meritorisch  sei,  musste  für  jeden  einzelnen  Fall 
festgestellt  werden,  damit  Jeder  wüsste,  wie  seine  Rechnung  mit  dem 
Himmel  stehe.  Die  augustinische  Auffassung  von  der  gratia  gratis  data 
praeveniens,  die  man  allgemein  recipirt  hatte,  änderte  an  dieser  Betrach- 
tungsweise nichts,  sondern  machte  sie  nur  comi)ncirter. 


'  S.  Baur,  Lehre  von  der  Versöhnung;  Hasse,  Anselm;  Ritschi,  Recht- 
fertigung und  Versöhnung  2.  Aufl.  I  8.  31  fi". 
^S.  oben  S.  288  ff". 


342     Geschiclito  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm'ß  und  Bernhard's. 

Allein  weder  von  Gregor  dem  Grossen  noch  von  einem  Theologen 
des  kiuolingischen  Zeitalters  ist  diese  ßetmchtung  auf  das  Werk  Christi 
angewendet  worden.  Zwar  redete  man  vielfach  schon  von  der  „pretii 
c  opi  o  sitas  mysterii  passionis"  (s.  das  4.  Cap.  der  Synode  von  Chiersey) ; 
allein  eine  Theorie  hat  man  nicht  entworfen,  weil  man  üherhaupt  üher 
das  AVesen,  den  speciüschen  Werth  und  den  Eft'ect  der  in  dem  Todes- 
leiden Christi  enthaltenen  Erlösung  nicht  nachsann.  Die  Väter,  Augu- 
stin eingeschlossen,  hatten  dariiher  nichts  Sicheres  überhefert.  Die 
griechischen  Avussten  es  nicht  anders,  als  dass  die  Todesherrschaft  durch 
das  Kreuz  und  die  Auferstehung  (Christi  gebrochen  seien.  Alles,  was 
sie  vom  Opfer  des  Leidens  sprachen,  war  ganz  vage.  Nur  Athanasius 
hat  in  bemcrkenswerther  Klarheit  von  dem  Strafleiden  gesprochen,  wel- 
ches Christus  uns  abgenommen  und  auf  sich  gelegt  hat.  Aber  Alle 
haben  sie  seit  den  Tagen  des  Paulus  das  Zeugniss  abgelegt,  dass 
Christus  für  uns  gestorben  sei.  Das  wurde  als  die  grosse  That  der 
Erlösung  empfunden  ohne  theoretischen  Nachweis.  Ambrosius  und 
Augustin  hatten  dann  mit  Nachdruck  den  Satz  geltend  gemacht,  dass 
Christus  als  Mensch  der  Mittler  sei,  und  in  Einzelheiten  manche  An- 
weisungen gegeben;  aber  die  Frage,  warum  jener  Mensch,  der  zugleich 
Gott  war,  hat  leiden  und  sterben  müssen,  wurde  mit  dem  Hinw^eis 
auf  das  V  0  r  b  il  d  behandelt  oder  durch  die  Recitation  biblischer  Sprüche 
vom  Lösegeld,  Opfer  und  dergl.,  ohne  dass  die  Nothwendigkeit  des 
Todes  deutlich  hervortrat.  Wohl  aber  hatte  Augustin  dadurch  eine 
neue  und  energische  Erfassung  der  Bedeutung  des  Werkes  Christi  be- 
gründet, dass  er  die  Schwere  der  Sünde  so  stark  betont  und  das  Ver- 
hältniss  von  Gott  und  Mensch  in  das  Schema  von  Sünde  und  Gnade 
eingestellt  hatte. 

Hier  setzte  nun  Anselm  ein.  Die  Bedeutung  seiner  Satis- 
faction sichre,  wie  er  sie  in  der  dialogisch  verfassten  Schrift  „Cur 
deus  homo"  lib.  II  ^  entwickelt  hat,  liegt  darin,  dass  er  alle  Momente 
der  augustinischen  Theologie,  soweit  sie  hier  in  Betracht  kamen,  ver- 
werthete,  zugleich  aber  überhaupt  erst  eine  Theorie  sowohl  der 
Nothwendigkeit  der  Erscheinung  eines  Gottmenschen,  als  der  Noth- 
wendigkeit seines  Todes  entwarf,  indem  er  die  Grundsätze  der 
Busspraxis  zum  Grundschema  der  Religion  überhaupt  er 
hob^.    Die  „Nothwendigkeit"  fasste  Anselm  im  Sinne  der  strengsten 


1  Edit.  IL  von  Fritzsche  1886. 

'^  Cr  emer  (die  Wurzeln  des  Anselm'schen  Satisfactionsbegrit!s,  in  den  Stud. 
u.  Krit.  1880  S.  7  ff.)  hat  zeigen  wollen,  dass  die  Grundthese  der  Genugthuungs- 
lehre  Anselm's  (I,  13:  „necesse  est,  ut  aut  ablatus  honor  solvatur  aut  poena  sequa- 
tur."    I,  15:   „necesse  est,  ut  omue  peccatuni  satisfactio  aut  poena  sequatur")  ^or- 


Anselm's  Satisfactionslehre.  343 

Vernünftig keit,  d.  h.  er  will  nachweisen,  dass,  wenn  man  auch 
nichts  von  Christus  wüsste  und  es  nie  einen  solchen  gegeben  hätte, 
die  Vernunft  bekennen  müsse,  dass  die  Menschen  nur  sehg  werden 
können,  wenn  ein  Gottmensch  erscheint  und  für  sie  stirbt  ^  Juden 
und  Heiden  sollen  zur  Anerkennung  dieser  Nothwendigkeit  gezwungen 
werden.  Sie  und  die  ungläubigen  Christen  sollen  einsehen,  dass  es 
Unvernunft  ist,  zu  behaupten,  Gott  hätte  uns  auch  durch  eine  an- 
dere Person  (sei  es  einen  Menschen  oder  Engel),  oder  er  hätte  uns 
durch  seinen  blossen  Willensentschluss  erlösen  können^;  sie  sollen 
erkennen,  dass  die  Barmherzigkeit  Gottes  nicht  Schaden  leidet  durch 
den  Kreuzestod,  und  dass  es  Gottes  nicht  unwürdig  ist,  dass  Christus 
in  die  Niedrigkeit  herabsteigt  und  das  Aeusserste  auf  sich  nimmt. 
Freüich  gilt  es,  dass  wir  zuerst  glauben  und  dann  einsehen^.  Allein, 
wenn  der  Versuch  auch  misslingen  kann  —  der  Glaube  bUebe  natür- 
lich unerschütterlich  — ,  so  muss  man  doch  zum  Erkennen  dessen, 
was  man  glaubt,  vorschreiten,  und  in  diesem  Fall  ist  ein  vollkommenes 
vernünftiges  Erkennen  möghch. 

Im  Eingange  lehnt  Anselm  drei  Vorstellungen  —  die  eine  als 
ungenügend,  die  anderen  als  irrig  —  ab.  Ungenügend  ist  es,  die 
Erlösung  durch  den  Kreuzestod  so  zu  rechtfertigen,  dass  man  das 
„conveniens"  hervorhebt,  d.  h.  die  Correspondenz  der  Person  und 
des  Werkes  Christi  mit  der  Person  und  dem  Fall  Adams;  das  sei 
eine  ästhetische  Betrachtung,  die  richtig  ist,  aber  nichts  beweist,  be- 
vor nicht  das  „necessarium"  festgestellt  ist*.   Irrig  ist  es  zu  meinen, 

manischen  Ursprungs  sei.  Die  Uebereinstimmung  ist  freilich  leicht  nachweisbar ; 
allein  auch  das  römische  Recht  kennt  bei  Privatbeleidigungen  dieses  Dilemma,  und 
darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  die  Kirche  in  ihren  Bussordnungen  längst  nach 
dem  Grundsatz  „aut  paenitentia  legitima  (satisfactio  congrua)  aut  mors  aeterna" 
verfahren  ist,  bevor  sie  germanisches  Recht  kennen  gelernt  hat.  Bei  Tertullian 
freilich  herrscht  noch  eine  andere  Vorstellung,  wenn  er  de  pudic.  2  sagt:  „omne 
delictum  aut  venia  dispungit  aut  poena" ;  allein  die  verhängnissvolle  "Wendung  ist 
schon  angebahnt,  wenn  er  sofort  hinzufügt:  venia  ex  castigatio  ne,  poena  ex 
damnatione." 

*  Augustin  hat  die  Frage  nach  der  absoluten  Nothwendigkeit  der  Erlösung 
durch  das  Mittel  der  Menschwerdung  und  des  Todes  des  Logos  auch  schon  auf- 
geworfen, aber  verneint.  Er  sah  in  diesem  Mittel  nicht  den  einzigen,  wohl  aber 
den  würdigsten  Weg. 

=^  I,  1. 

'  I,  2:  „Sicut  rectus  ordo  exigit,  ut  profunda  christianac  fidei  prius  credamus, 
quam  ea  praesumamus  ratione  discuton;." 

■*  I,  3.  4:  „.  .  .  multa  alia,  quac  studiose  considerata  inenarrabilcm  quandam 
nostrae  redemptionis  hoc  modo  procuratae  pulchritudinem  (s.  Augustin)  osten- 
dunt  .  .  .  sed  si  non  est  aliquid  solidum  super  (^uod  sedeant,  non  vidcnturinfidelibus 
sufficerc." 


34  -1     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Chigiiy's,  Auselm's  und  Beruhard's. 

(lass  uns  auch  ein  Mensch  hätte  erlösen  können;  denn  wir  würden 
dit^  Knechte  dessen  werden,  der  uns  vom  ewigen  Tod  befreit  hätte. 
I  )aniit  wäre  aber  unsere  ursprüngUche  AVürde  nicht  wiederhergestellt, 
kraft  welcher  wir  den  Engeln  gleichartig  und  lediglich  Gottes  Knechte 
waren'.  Irrig  ist  es  endlich  zu  meinen,  dass  durch  die  Erlösung  Rechts- 
ansi)rUche  des  Teufels  an  uns  zu  tilgen  gewesen  wären ;  denn  obgleich 
wir  mit  Recht  um  unserer  Sünde  willen  unter  die  Macht  des  Teufels 
gekommen  sind,  so  herrscht  doch  der  Teufel  nicht  gerechterweise, 
vielmehr  ungerechtervveise.  Er  hat  keinen  Anspruch  auf  uns  erhalten 
und  Gott  gegenüber  schlechterdings  kein  Recht".  Bevor  Anselm  seine 
Beweisführung  beginnt,  sucht  er  noch  —  die  Disposition  ist  höchst 
ungeschickt  —  den  Einwurf  zu  widerlegen,  als  sei  das  Todesleiden 
eines  G  ottmenschen,  eben  weil  er  Mensch  sei,  ohne  Effect,  weil  jeder 
Mensch  zum  Gehorsam  bis  zum  Tode  verpflichtet  sei.  Er  widerlegt 
diese  Auffassung,  die  sich'nur  mit  einem  Scheine  auf  Schriftstellen 
stütze,  der  Tod  Christi  sei  pflichtmässig,  weil  Erfüllung  des  gött- 
lichen Willens  gewesen;  vielmehr  sei  ein  sündloser  Mensch  —  und 
das  ist  der  Gottmensch  —  nur  zur  Beobachtung  der  iustitia  und 
veritas,  nicht  aber  zum  Sterben  verpflichtet  gewesen,  da  der  Tod  nur 
auf  die  Sünde  folge  ^.  Nun  hat  er  sich  freie  Bahn  geschaffen.  Er 
formuhrt  hierauf  die  Frage  so :  Angenommen,  wir  wüssten  gar  nichts 
von  einem  Gottmenschen  und  seinem  Thun  —  was  hat  zu  geschehen, 
wenn  die  zur  Seligkeit  im  Jenseits  erschaffenen  Menschen,  die  diese 
Seligkeit  doch  nur  als  sündlose  erreichen  können,  sämmtlich  Sün- 
der geworden  sind?  Die  nächste  Antwort  ist  —  da  schon  I,  4  ge- 
sagt ist,  dass  es  Gott  nicht  ziemlich  wäre,  seinen  Plan  nicht  durch- 
zuführen^ — :  die  Sünden  müssen  vergeben  werden.  Aber 
wie  hat  das  zu  geschehen?  was  ist  Sündenvergebung?  welchen  Spiel- 
raum hat  sie?  Um  diese  Frage  zu  beantworten,  hat  man  zuerst  zu 
fragen,  was  ist  Sünde  ?^    Damit  beginnt  die  Entwickelung  *^. 


»1,5. 
2 1,  6.  7. 

*  I,  8 — 10.  Im  2.  Buch  wird  c.  10.  11  und  16.  18  dieser  entscheidende  Punkt 
wiederholt  sehr  ausführlich  behandelt. 

*  „Nonne  satis  necessaria  ratio  videtur,  cm*  deus  ea  quae  dicimus  facere 
debuerit:  quia  genus  humanum,  tam  scilicet  pretiosum  opus  eins,  omnino 
perierat  nee  decebat,  ut  quod  deus  de  homine  proposuerat,  penitus 
annihilaretur,  nee  idem  eius  propositum  ad  efiectum  duci  poterat,  nisi  gcnus 
humanuni  ab  ipso  Creatore  suo  liberaretur?"  Der  Gedanke  wird  im  Folgenden  mehr- 
mals wiederholt. 

^  I,  10  fin.  11  init. 

*  In  derselben  nimmt  I,  16 — 18  das  augustinische  Theologumenou,  dass  die 


Anselm's  Satisfactionslehre.  345 

Jede  vernünftige  Creatur  ist  Gott  volle  Unterwürfigkeit  unter 
seinen  AVillen  schuldig.  Das  ist  die  einzige  Ehre,  die  Gott  fordert. 
Wer  sie  leistet,  ist  gerecht;  wer  sie  nicht  leistet,  sündigt-,  ja  die 
Sünde  ist  nichts  Anderes  als  die  Entehrung  Gottes  dadurch,  dass  man 
ihm  das  Seine  entzieht ^  Diesen  Raub  kann  Gott  nicht  dulden;  er 
muss  seine  Ehre  wahren.  Er  muss  also  fordern,  dass  der  Mensch 
sie  ihm  zurückgiebt,  und  zwar  dass  er  „pro  contumelia  illata  plus  red- 
dit  quam  abstulit"  ;  sonst  bleibt  er  „in  culpa"  ^.  Jeder  Sünder  muss 
mithin  eine  satisfactio  leisten  ^.  Diese  kann  Gott  nicht  erlassen  *,  denn 
das  wäre  gleichbedeutend  mit  der  Straflosigkeit  der  Sünde  und  würde 
die  götthche  Ehre  verletzen.  Die  Straflosigkeit  der  Sünde  aber  wäre 
identisch  damit,  dass  Gott  aufhörte  ordinator  peccatorum  zu  sein; 
er  würde  „ahquid  inordinatum  in  suo  regno  dimittere".  Auch  würde 
dann  das  Gerechte  und  das  Ungerechte  gleich  werden,  ja  dieses  würde 
im  Vortheil  sein,  weil  es,  ungebüsst  und  unbestraft,  keinem  Gesetz 
unterworfen  wäre.  Zwar  ist  es  wolil  uns  Menschen  geboten,  denen, 
die  an  uns  sündigen,  einfach  zu  verzeihen.  Allein  das  ist  uns  gesagt, 
damit  wir  nicht  in  die  Prärogative  Gottes  eingreifen:  „ad  nullum 
enim  pertinet  vindictam  facere  nisi  ad  illum."    Auch  darf  man  sich 


zur  Seligkeit  bestimmten  Menschen  an  die  Stelle  der  gefallenen  Engel  treten, 
einen  breiten  Raum  ein.  Es  steht  aber  völlig  ausserhalb  der  Verbindung  mit  der 
Genugthuungslehre.  Von  Augustin  weicht  Anselm  darin  ab,  dass  er  meint,  die  Zalil 
der  seligen  Menschen  sei  grösser  als  die  der  gefallenen  Engel ;  Gott  habe  nämlich 
von  Anfang  an  den  numerus  beatorum  als  aus  Engeln  und  Menschen  bestehend  ins 
Auge  gefasst.  Im  anderen  Fall  wäre  die  Menschenschöpfung  ledigHch  eine  Folge 
des  Sündenfalls  unter  den  Engeln,  und  es  ergäbe  sich  somit  das  inconveniens ,  dass 
wir  Menschen  uns  über  diesen  Fall  freuen  müssten.  Dem  Herzen  Anselm's  macht  diese 
Correctur  der  augustinischen  Lehre  alle  Ehre ;  aber  da  diese  ihr  acumen  in  der 
gleich  grossen  Zahl  der  abgefallenen  Engel  und  der  seligen  Menschen  hat,  so  ist  sie 
in  Wahrheit  durch  Anselm  vernichtet.  Doch  ist  er  selbst  seiner  Sache  nicht  sicher 
gewesen,  s.  I,  18  p.  37. 

^  I,  11 :  „non  est  aliud  peccare  quam  non  reddere  deo  debitum  . .  .  debitum  est 
subiectum  esse  voluntati  deo  .  .  .  haec  est  iustitia  sive  rectitudo  voluntatis,  quae 
iustos  facit  sive  rectos  corde,  i.  e.  voluntatc,  hie  est  solus  et  totus  honor  quem 
debemus  deo  .  .  .  hunc  honorem  debitum  qui  deo  non  reddit,  aufert  deo  quod  suum 
est  et  deum  exhonorat,  et  hoc  est  peccare." 

'^  I,  11 :  „non  sufficit  solummodo  reddere  quodablatum  est,  sed  pro  contumelia 
illata  plus  debet  reddere,  quam  abstulit.  sicut  enim  qui  lacdit  salutem  alterius,  non 
sufficit  si  salutem  restituit,  nisi  pro  illata  doloris  iniuria  recompensct  aliquid,  ita 
qui  honorem  alicuius  violat,  non  sufficit  honorem  reddere,  si  non  secundum  exhono- 
rationis  factam  molestiam  aliquid,  (pod  placeat  illi  quem  exhonoravit,  restituit.  Hoc 
«juoquc  attendendum,  quod  cum  alicjuis  quod  iniustc  abstulit  solvit,  hoc  debet  darc, 
(juod  ab  illo  non  jiOBset  exigi,  si  aheuum  non  rapuisset," 

» I,  11  fin. 


346     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Ansehn's  und  ßernhard's. 

dagegen  nicht  iiuf  die  schrankenlose  Allmacht  und  Güte  Gottes  be- 
rufen und  sagen,  Alles,  was  Gott  thut,  ist  gut,  also  auch  wenn  er 
die  Sünde  einfach  vergiebt ;  denn  Gottes  Macht  und  Güte  sind  durch 
seinen  Willen  bestimmt  („non  ita  intelligendura  est,  ut,  si  deus  velit 
(juodlibet  inconveniens,  iustum  sit,  quia  ipse  vult;  non  enim  sequitur, 
si  deus  vult  mentiri,  iustum  esse  mentiri") ;  daher,  da  Gott  nichts  un- 
gerecht oder  inordinate  machen  will,  liegt  die  straflose  Absolvirung 
eines  Sünders,  der  ihm  das  nicht  wieder  erstattet,  was  er  geraubt 
hat,  nicht  im  Spielraum  der  Freiheit  oder  der  Güte  oder  des  Willens 
Gottes  K  Die  höchste  Gerechtigkeit,  die  nichts  Anderes  ist  als  Gott 
selbst,  verlangt  also  die  Rückerstattung  oder  —  diese  AVendung 
tritt  nun  erst  ein  —  die  Strafe-^.  Auch  die  letztere  nämhch,  als 
Entziehung  der  SeUgkeit  (Verdammniss),  stellt  die  götthche  Ehre 
wieder  her,  sofern  in  ihr  der  Mensch  „invitus  de  suo  solvit  quod  ra- 
puit  .  .  .  sicut  homo  peccando  rapiiit  quod  dei  est,  ita  deus  puni- 
endo  aufert  quod  hominis  est"  ^.  Auch  durch  die  Strafe  wird  die 
pulchritudo  und  der  ordo  universitatis  aufrecht  erhalten,  die  niemals 
erschüttert  werden  dürfen  (von  dem  lionor  dei  an  sich  gilt,  dass  er 
unerschütterlich  ist;  „namque  ipse  sibi  est  honor  incorruptibilis  et 
nullo  modo  mutabilis  ....  deum,  quantum  in  ipso  est,  nullus  po- 
test  honorare  vel  exhonorare")  *.  Allein  es  ist  doch  „valde  alienum 
a  deo",  dass  er  sein  köstlichstes  Werk,  die  creatura  rationabilis,  dem 
völligen  Untergang  preisgiebt^.  Da  er  aber  andererseits  die  sündigen 
Menschen  den  heihgen  Engeln  nicht  beigesellen  kann,  so  muss  die 
Satisfaction  eintreten  („tene  certissime,  quia  sine  satisfactione  id  est 
sine  debiti  solutione  spontanea  deus  non  potest  peccatum  impuni- 
tum  dimittere")^.  Der  Einwurf,  dass  wir  angewiesen  sind,  Gott  um 
Verzeihung  zu  bitten,  was  sinnlos  wäre,  wenn  nur  die  satisfactio 
etwas  hülfe,  wird  damit  abgewiesen,  dass  das  Gebet  um  Ver- 
zeihung selbst  ein  Theil  der  satisfactio  sei^.    Diese  hat  sich 

^  1, 12. 

^  I,  13  s.  oben  S.  342  Anm.  2. 

'I,  14:  „deum  impossibile  est  houorem  smim  perdere:  aut  enim  peccator 
sponte  solvit  quod  debet  aut  deus  ab  invito  accipit." 

*  I,  15. 

^  II,  4  heisst  es  sogar  (vgl.  I,  4):  „Si  nihil  pretiosius  agnoscitur  deus  fecisse 
quam  rationalem  naturam  ad  gaudendum  de  se,  valde  alienum  est  ab  eo,  ut  ullam 
rationalem  naturam  penitus  perire  sinat."   I,  25  p.  52. 

«  I,  19. 

^  I,  19:  Der  Interlocutor  sagt:  „Quid  est,  quod  dicimus  deo:  dimitte  nobis 
debita  nostra,  et  omnis  gens  orat  deum  quem  credit,  ut  dimittat  sibi  peccata?  Si 
erim  solvimus  quod  debemus,  cur  oramus,  ut  dimittat?  Numquid  deus  iniustus  est, 
ut  iterum  exigat  quod  solutum  est  ?  Si  autem  non  solvimus,  cur  l'rusti'a  oramus,  ut 


Anselm's  Satisfactionslelire.  347 

nun  nach  der  doppelten  Regel  zu  richten,  dass  sie  erstens  Rück- 
erstattung und  zweitens  Schmerzensgeld  sein  muss  \  Aber  was  kann 
der  Mensch  Gott  geben,  was  er  ihm  nicht  schon  ohnehin  geben  musste, 
da  alle  Unterwürfigkeit  in  dem  pflichtmässigen  Gehorsam  eingeschlossen 
ist?  „Si  me  ipsum  et  quicquid  possum,  etiam  quando  non  pecco,  illi 
debeo  ne  peccem  (also  an  überpflichtmässige  Leistungen  ist  hier  nicht 
gedacht),  nihil  habeo  quod  pro  peccato  reddam."  Der  Einwurf:  „si 
rationes  considero,  non  video  quomodo  salvus  fieri  possim,  si  autem 
ad  fidem  meam  recurro,  in  fide  christiana  quae  per  dilectionem  opera- 
tur,  spero  me  posse  salvari",  wird  abgelehnt;  denn  eben  um  die  ratio 
handle  es  sich  hier  ^.  Der  Mensch  kann  also  nichts  leisten.  Und 
wie  viel  müsste  er  leisten !  „Nondum  considerasti  quanti  ponderis  sit 
peccatum."  Schon  der  kleinste  Ungehorsam  hat  eine  unendliche 
Schuld  zur  Folge  (man  darf  ja  selbst  um  der  Erhaltung  der  ganzen 
Welt  willen  nicht  die  kleinste  Sünde  thun),  da  die  Schuld  an  dem 
Gott  zu  messen  ist,  der  verachtet  wird  ^.  Der  Mensch  hat  also  eine 
unendlich  grosse  Satisfaction  aufzubringen,  da  die  Regel  bereits  fest- 
steht, Gottes  Ehre  gestatte  es  nicht,  dass  der  Mensch  die  Seligkeit 
empfange,  „si  non  reddit  deo  totum  quod  illi  abstulit,  ut  si- 
cut  deus  per  illum  perdidit,  ita  per  illum  recuperet"  ^.  Die 
Unfähigkeit  der  menschlichen  Natur,  die  Genugthuung  zu  leisten,  kann 
an  diesem  Gesetz,  welches  aus  der  Ehre  Gottes  folgt,  nichts  ändern^. 
Dann  aber  bleibt  nur  ein  Ausweg,  wenn  doch  die  convenientia  die 
Erlösung  verlangt^  —  der  Gottmensch.    Es  muss  Jemand  da  sein, 

faciat  quod,  quia  non  convenit,  facere  non  potest?"  Hierauf  antwortet  Anselm :  „Qui 
non  solvit,  frustra  dicit:  dimitte;  qui  autem  solvit,  supplicat,  quoniam 
hoc  ipsum  pertinetadsolutioncm  ut  supp licet;  nam  deus  nulH  quicquam 
debet,  sedomnis  creaturailH  debet;  et  ideo  non  expedit homini,  ut  agat  cum  deo, 
quemadmo  dum  par  cum  pari."  Leider  hat  Anselm  diesen  letzteren  Gedanken 
bei  seinen  sonstigen  Ausführungen  vergessen. 

1  S.  oben  S.  345  Anm.  2. 

''  I,  20. 
.  ^  S.  die  Ausführung  in  I,  21.  Weil  jode  Sünde  contra  voluntatem  dei  ge- 
schieht, ist  sie  grösser  als  der  Wcrth  der  Welt  —  unendlich  gross.  Ferner  (I,  22), 
weil  der  Mensch  im  Paradies  den  Teufel  Gott  vorgezogen  hat,  so  ist  es  contra  hono- 
rem dei,  ut  homo  reconcilietur  illi  cum  calumnia  huius  contumeliae  deo  irrogatae, 
nisi  prius  honoraverit  deum  vincendo  diabolum,  sicut  inhonoravit  illum  victus  a 
diabolo."   Aber  wie  vermag  er  das? 

*  I,  23. 

'  I,  24. 

*'  I,  4  und  die  stärkste  Stelle  I,  25:  „ai  deo  inconveniens  est,  hominem  cum 
aliqua  macula  perduccre  ad  hoc,  ad  (juod  illum  sine  omni  macula  fecit,  nc  aut  boni 
incepti  paenitere  aut  propositum  implere  non  j)Ossc  vidcatur:  multo  magis 
proptcr  candem  inconvenicntiam  impossibile  est  nullum  hominem 


348     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Ohigny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

„(lui  solvat  deo  pro  peccato  hominis  aliquid  maius  quam  omne  quod 
praetor  doum  est  .  .  .  illum  (juoque,  qui  de  suo  potcrit  deo  dare 
ali(iui(l,  (|uod  superet  omne  quod  sub  deo  est,  maiorem  esse  necesse 
est,  quam  omne,  quod  non  est  deus  .  .  .  nihil  autem  est  supra  omne, 
quod  deus  non  est  nisi  deus  .  .  .  non  ergo  potest  hanc  satisfacti- 
onem  facere  nisi  deus."  Wiederum  „nee  facere  illam  debet  nisi 
homo,  alioquin  non  satisfacit  homo".  Schluss:  „Si  ergo,  sicut  con- 
stat,  necesse  est,  ut  de  hominibus  perficiatur  illa  superna  civitas,  nee 
hoc  esse  valet  nisi  fiat  praedicta  satisfactio,  quam  nee  potest  facere 
nisi  deus,  nee  debet  nisi  homo,  necesse  est,  ut  eam  faciat  deus 
homo  '. 

Dieser  Gott-Mensch  muss  die  beiden  Naturen  unverwandelt  be- 
sitzen (sonst  wäre  er  entweder  nur  Gott  oder  nur  Mensch),  ferner 
unvermischt  (sonst  wäre  er  weder  Gott  noch  Mensch),  aber  auch  un- 
getrennt (sonst  kommt  kein  einheitliches  Werk  zu  Stande)  *,  mithin  muss 
er  sie  „integras  in  una  persona"  besitzen  '^.  Der  Gott  muss  die  mensch- 
liche Natur  von  Adam  und  Eva,  aber  aus  einer  Jungfrau  angenom- 
men haben ^,  und  er  muss  als  Mensch  diese  Natur  freiwillig  in  den 
Tod  gegeben  haben.  Wirklich  war  sein  Sterben  frei,  da  er  sündlos 
gewesen  ist  ^.  Wenn  nun  der  supponirte  Gottmensch  sein  Leben  frei- 
wilhg  Gott  hingiebt,  so  ist  damit  die  gesuchte  Genugthuung  gewonnen. 


1 


ad  hoc  provehi,  ad  quodfactus  est."  II,  4.  5  heisst  es  sogar,  dass  zwar 
Gott  „nihil  facit  necessitate,  quia  niillo  modo  cogitur  aiit  prohibetur  facere  ahquid'', 
dass  aber  doch  eine  innere  selbstgewollte  Nothwendigkeit  für  Gott  besteht,  sein 
"Werk  auszuführen :  „necesse  est,  ut  bonitas  dei  propter  immutabilitatem  suam  per- 
liciat  de  homine  quod  incepit,  quamvis  totum  sit  gratia  bonum  quod  facit." 

'  II,  6. 

''  II,  7. 

*  II,  8 :  das  Erstere ,  weil  die  Nachkommen  Adams  die  Satisfaction  leisten 
müssen;  das  Letztere,  weil  von  den  vier  Weisen,  in  denen  Gott  Menschen  zu  schaffen 
vermag  (aus  Mann  und  Weib  [so  die  Regel] ,  weder  aus  dem  Mann  noch  aus  dem 
Weib  [Adam],  aus  dem  Mann  allein  [Eva],  aus  dem  Weib  allein),  die  vierte  noch 
nicht  dagewesen  ist.  Dass  es  aber  eine  Jungfrau  sein  musste,  wenn  es  ein  AVeib 
sein  sollte,  „non  opus  est  disputare".  Hier  ist  ein  Stück  Scholastik  im  engsten  Sinn 
des  Worts,  und  diese  Art  Beweisführung  setzt  sich  im  folgenden  Capitel  fort,  wo 
bewiesen  wird,  dass  es  die  zweite  Person  der  Gottheit  sein  musste,  die  Mensch 
wurde,  weil  sonst  die  Prädicate  in  der  Trinität  gestört  würden  und  aus  anderen 
gleich  schlagenden  Gründen  („duo  nepotes  essent  in  trinitate,  quia,  si  pater  incai*- 
natus  esset,  esset  nepos  parentum  virginis  per  hominem  assumptum,  et  verbum 
cum  nihil  habeat  de  homine,  nepos  tarnen  esset  virginis,  quia  filii  eins  erit  tilius'', 
n,  9).  Hier  wird  übrigens  überall  mit  dem  „mundius'*  „honestius",  kurz  mit 
relativen  Begriffen  operirt. 

*  Die  umständliche  Beweisführung  II,  10 — 11  hier  und  16  ff.  zeigt,  dass  Auselm 
diesen  Punkt  nicht  völlig  „rational"  zu  machen  verstanden  hat. 


Anselm's  Satisfactionslehre.  349 

Es  muss  sein  Leben  sein;  denn  nur  dieses  ist  er  nicht  verpflichtet, 
Gott  darzubringen;  Alles,  was  er  de  suo  geben  könnte,  musste  er 
so  wie  so  Gott  darbringen.  „Videamus,  si  forte  hoc  sit  dare  vitam 
suam  sive  ponere  animam  suam,  sive  tradere  se  ipsum  morti  ad  ho- 
norem dei.  Hoc  enim  ex  debito  non  exiget  deus  ab  illo,  quoniam 
namque  non  erit  peccatum  in  illo,  non  debebit  mori  .  .  .  si  homo 
per  suavitatem  peccavit,  annon  convenit,  ut  per  asperitatem  satis- 
faciat?  Et  si  tarn  facile  victus  est  a  diabolo,  ut  deum  peccando  ex- 
honoraret,  ut  facilius  non  posset,  nonne  iustum  est,  ut  homo  satis- 
faciens  pro  peccato  tanta  difficultate  vincat  diabolum  ad  honorem  dei, 
ut  maiori  non  possit?  Annon  est  dignum,  quatenus  qui  se  sie  ab- 
stulit  deo  peccando,  ut  se  plus  auferre  non  posset,  sie  se  det  deo 
satisfaciendo,  ut  magis  se  non  possit  dare?  .  .  .  Nihil  autem  asperius 
aut  difficilius  potest  homo  ad  honorem  dei  sponte  et  non  ex  de- 
bito pati  quam  mortem,  et  nullatenus  seipsum  potest  homo 
magis  dare  deo,  quam  cum  se  morti  tradit  ad  honorem  illius." 
Also  muss  der  gesuchte  Mensch  ein  solcher  sein,  der  nicht  ex  necessitate 
stirbt,  weil  er  allmächtig  ist,  nicht  ex  debito,  weil  er  sündlos  ist,  mithin 
sterben  kann,  „ex  libera  voluntate  quia  necessarium  erit"  '.  Der  Werth 
eines  solchen  Lebens  als  Genugthuung  ist  ein  unendlicher.  Weil  die 
kleinste  Antastung  dieses  Lebens  einen  unendlichen  negativen  Werth 
hat,  so  hat  die  freiwillige  Hingabe  einen  unendlichen  positiven.  Weil 
die  Sünden  so  hassens werth  sind  als  sie  schlecht  sind,  so  ist  auch  jenes 
Leben  so  hebenswerth  als  es  gut  ist.  Also  ist  die  acceptio  mortis  eines 
solchen  Gottmenschen  ein  unendliches  Gut  für  Gott  (!),  welches  die  Ein- 
busse  der  Sünde  weit  übersteigt  ^.  Es  kann  aber  die  datio  vitae  nur  „ad 

^  II,  11.  In  II,  12.  13  werden  noch  Nebenfragen  erörtert.  Der  Gottmenscli 
war  nicht  „miser",  obgleich  er  die  incommoda  auf  sich  genommen;  er  war  all- 
wissend, weil  er  sonst  nicht  vollkommen  gut  gewesen  wäre  (!). 

^  n,  14:  „si  omne  bonum  tarn  bonum  est,  quam  mala  est  eius  destructio  (!), 
I>lu8  est  bonum  incomparabiliter  quam  sint  ca  peccata  mala,  quae  sine  aestimatione 
superat  eius  interemptio  .  .  ,  tantum  bonum  tam  amabile  potest  sufficere  ad  solven- 
dum  quod  debetur  jjro  pcccatis  totius  mundi,  immo  plus  potest  in  infinitum 
(II,  17  fin.:  „plus  in  infinitum".  II,  20:  „pretium  maius  omni  debito")  .  .  .  .  si  ergo 
dare  vitam  est  mortem  acciperc(!),  sicut  datio  huius  vitae  pracvalet  omnibus 
hominum  peccatis,  ita  et  acceptio  mortis."  Hierauf  wird  die  Frage  erörtert,  ob 
der  Tod  Christi  auch  seinen  Feinden,  die  ihn  gekreuzigt  ha})en,  zu  Gut  kommen 
könne  (TI,  15:  die  Frage  wird  bejaht;  denn  sie  haben  in  Unwissenheit  gehandelt), 
sodann  wie  Christus  habe  sündlos  sein  können  (II,  16);  denn  wenn  er  auch  „abs(iu(^ 
camalis  delectationis  peccato"  gezeugt  sei  —  die  Bcgattungslust  ist  ja  nach 
Augustin  die  Erbsünde  — ,  so  sei  doch  Maria  nicht  sündlos.  Bei  der  Beantwortung 
dieser  Fragr;  wird  sehr  weit  ausgeholt.  Augenscheinlich  war  Anselm  hier  um  eine 
rationale  Lösung  verlr-gcn.    Er  bringt  schlieHKli(;li        unsicher  —  dio  Auskiinn   vor. 


350     Geschichte  des  Dop^as  im  Zeitalter  Chig^ny's,  Ansehn's  und  Bornhard's. 

honorem  tlei"  erfolgt  sein;  denn  ein  anderer  Sinn  und  Zweck  lässt 
sich  sonst  nicht  fhiden.  Dazu  kommt  allerdings  noch  die  Absicht  des 
Beispiels  für  uns,  damit  wir  uns  durch  keine  Leiden  von  der  Gerechtig- 
keit, die  Gott  gebührt,  a])bringen  lassen.  Zwar  haben  auch  Andere 
solches  Beis])iel  gegeben  ;  aber  seines  ist  das  kräftigste,  weil  er  litt,  ohne 
es  zu  müssen  K  Noch  einmal  erhebt  sicli  nun  der  Einwurf,  ob  er  es 
nicht  doch  musste,  weil  die  Creatur  „totum  deo  debet,  quod  est  et  quod 
seit  et  quod  j)otest".  Zur  Antwort  taucht  plötzlich  die  Lehre  vom  über- 
schüssigen Verdienst  auf.  Wenn  Gott  es  uns  frei  lässt.  Geringeres  oder 
Grösseres  zu  opfern,  so  hat  es  eine  Belohnung  zur  Folge,  wenn  wir  das 
Grössere  geben,  „quia  sponte  damus  quod  nostrum  est".  Auf  den  Gott- 
menschen angewandt,  ergiebt  sich,  dass  er  sterben  musste,  weil  er  wollte, 
zugleich  aber  nicht  sterben  musste,  weil  Gott  es  nicht  forderte.  Sein 
Tod  ist  also  freiwillig'-''.  Nun  endlich  kann  die  langerwartete  Lösung 
gegeben  werden^.  Sic  erfolgt  in  einer  überraschenden  Weise,  vor  Allem 
mit  befremdlicher  Kürze :  der  Gottmensch  handelt  für  sich,  keineswegs 
als  Repräsentant  der  Menschheit.  Aber  der  Vater  muss  ihm  das  ver- 
gelten ^  Nun  aber  kann  dem  Sohne  nichts  gegeben  werden,  da  er 
Alles  hat.  Ein  Frevel  aber  wäre  es^  anzunehmen,  die  ganze  That  des 
Sohnes  bliebe  ohne  Effect.  Also  ist  es  nothwendig,  dass  sie  einem 
Anderen  zu  gut  komme,  und  wenn  der  Sohn  das  will,  so  kann  sich  der 
Vater  nicht  weigern;  denn  er  Aväre  sonst  ungerecht.  „Quibus  autem 
convenientius  fructum  et  retributionem  suae  mortis  adtribuet  quam 
illis,  propter  quos  salvandos,  sicut  ratio  veritatis  nos  docuit,  hominem 
se  fecit,  et  quibus,  ut  diximus,  moriendo  exemplum  moriendi  propter 
iustitiam  dedit?  Frustra  quippe  imitatores  eins  erunt,  simeriti 
eius  participes  non  erunt.  Aut  quos  iustius  faciet  heredes  debiti, 

Maria  sei  vor  ihrer  Geburt  in  Hinblick  auf  den  zukünftigen  Effect  des  Werkes 
Christi  von  Sünden  gereinigt  worden,  d.  h.  Gott  habe  sie  gereinigt.  Darauf  wird 
wiederum  die  Frage  nach  der  Freiwilligkeit  des  Todes  Christi  erörtert ;  denn  wenn 
Maria  nur  in  Hinblick  auf  seinen  Tod  gereinigt  worden  ist,  er  aber  eine  gereinigte 
Mutter  brauchte,  so  musste  er  sterben.  Dieses  Problem  nimmt  wieder  den  breite- 
sten Raum  ein  und  wird  nur  durch  eine  spitze  Dialektik  gelöst,  die  schliesslich 
(n,  17  p.  85)  den  Hülfssatz  nicht  entbehren  kann:  „ad  hoc  valuit  in  Christo  diver- 
sitas  naturarum  .  .  .  ut  quod  opus  erat  fieri  ad  hominum  restaurationem  si  humana 
non posset  natura,  faceret  divina,  etsi  divinaeminime  couveniret,  exhiberet  humana.'" 

^  Dieser  Gedanke  ist  II,  18  mitten  in  die  Ausführung  hineingeschneit. 

2  II,  18. 

^11,  19:  „intueamur  nunc  prout  possumus,  quanta  inde  ratione  sequatur 
humana  salvatio."    Der  Interlocutor :  „Ad  hoc  tendit  cor  meum." 

*  II,  19:  „eum  autem  qui  tantum  domim  sponte  dat  deo,  sine  retributione 
debere  esse  non  iudicabis  .  ,  .  alioquin  aut  iniustus  (!)  videretur  esse  si  nollet,  aut 
impotens  si  non  posset." 


Beurtheilung  der  Anselm'schen  Lehre.  351 

quo  ipse  non  eget,  et  exundantiae  suae  plenitudinis,  quam  parentes  et 
fratres  suos,  quos  aspicit  tot  et  tantis  debitis  obligatos  egestate  tabes- 
cereinprofundomiseriarum,  ut  eis  dimittatur  quod  pro  peccatis 
debent  et  detur  quo  propter  peccata  carent?"  ^  Somit  stösst 
nun  Gott  keinen  zurück,  der  zu  ihm  im  Namen  dieses  Gottmenschen 
kommt,  unter  der  Bedingung,  dass  er  kommt,  wie  es  sich  gebührt,  d.  h. 
so  sich  ihm  naht  und  so  lebt,  wie  es  die  heihge  Schrift  vorschreibt  2. 
Die  göttHche  Barmherzigkeit  ist  also  durch  den  Kreuzestod  nicht  auf- 
gehoben —  so  schien  es,  wenn  man  die  Sünde  und  die  göttliche  Ge- 
rechtigkeit betrachtet  — ,  sondern  sie  erscheint  vielmehr  unausdenklich 
gross  und  zugleich  in  voller  Harmonie  mit  der  Gerechtigkeit.  Spricht 
doch  Gott  zu  dem  Sünder :  „Nimm  meinen  Eingeborenen  und  gieb  ihn 
für  dich",  und  der  Sohn  spricht:  „nimm  mich  und  erlöse  dich"^.  Nur 
die  bösen  Engel  können  nicht  erlöst  werden.  Nicht  als  ob  nicht  „pre- 
tium  mortis  eins  omnibus  hominum  et  angelorum  peccatis  sua  magni- 
tudine  praevaleat",  sondern  der  Zustand  der  Engel  (sie  stammen  nicht 
von  einem  Engel  ab  und  sind  ohne  Verführer  gefallen)  schliesst  die 
Erlösung  aus  ^.  In  dem  grossen  Bewusstsein,  „per  unius  quaestionis 
solutionem  quicquid  in  novo  veterique  testamento  continetur"  vernünftig 
erwiesen  zu  haben,  schhesst  Anselm  ^. 

Weil  sie  das  wirklich  ist,  was  Anselm  im  letzten  Satz  ausgesprochen  hat, 
nämlich  eine  (neue)  Construction  des  ganzen  Dogmas  von  der  Sünde  und  der  Er- 
lösung aus,  und  weil  in  dieser  Construction  zum  ersten  Mal  die  disiecta 
membra  der  augustinisch-mittelalterlichen  Betrachtung  des 
Christenthums  zu  einer  Einheit  zusammengeschlossen  sind,  verdient 
diese  Darstellung  eine  eingehende  Kritik.  Anselm  hat  sich,  auf  den  Schultern 
Augustin's  stehend,  aber  die  „patristischen"  d.  h.  griechischen  Elemente  der  Denk- 
weise desselben  aufhebend,  durch  die  Schrift  „Cur  deus  homo"  als  eigenthümlicher 
Dogmatiker  neben  die  Väter  des  griechischen  Dogmas  (Irenäus,  Athanasius  und 
Origenes)  gestellt.  Dem  Aufriss,  wie  ihn  Johannes  Damascenus  gegeben,  ist  nun 
ein  anderer  Aufriss  zugesellt,  der  freilich  —  und  nicht  zu  seinem  Yortheil  —  von 
dem  alten  noch  immer  abhängig  ist,  aber  doch  von  einem  anderen  Princip  be- 
herrscht erscheint.  Die  Anselm'sche  Darstellunof  verdient  aber  auch  desshalb  eine 
besondere  Beachtung,  weil  sie  den  Anstoss  zur  dauernden  theologischen  Behand- 
lung des  Problems  gegeben  hat,  und  weil  sie  noch  in  unseren  Tagen,  und  zwar  von 
evangelischen  Theologen,  für  wesentlich  mustcrgiltig  gehalten  wird. 

Zunächst  ist  gegenüber  Missverständnissen  zu  sagen,  was  die  Anselm'sche 
Theorie  nicht  ist  und  nicht  sein  will.  Sie  ist  1)  keine  Versöhnungslehre  in  dem 
Sinn,  dass  sie  nachweist,  wie  der  Widerspruch  des  Willens  zwischen  (rott  und  der 
sündigen  Menschheit  aufgelioben  wird ;  sie  ist  2)  keine  Theorie  des  Strafleidens, 
denn  Christus  leidet  nicht  Strafe,  vielmehr  kommt  es  überhaupt  nicht  zum  Strafvollzug, 


»  II,  19  p.  93  sq.  2  11^  19. 

'  IT,  20.  *  TT,  21. 

">  II,  22. 


352     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard's. 

da  Gott  sich  durch  die  acceptio  mortis  Christi  spontaneae  für  befriedigt  erklärt;  sie 
ist  3)  eben  desshulb  keine  Theorie  der  Stellvertretung  im  strengen  Sinn  des  Worts, 
da  Christus  nicht  an  unserer  Statt  Strafe  leidet,  vielmehr  ein  Gut  aufbringt,  dessen 
Werth  nicht  an  der  Grösse  der  Sünde  und  Sündenstrafe,  sondern  an  dem  Werthe 
seines  Lebens  bemessen  wird,  und  welches  Gott  acceptirt,  da  es  ihm  theurer  ist  als 
die  Killbusse,  die  er  durch  die  Sünde  erlitten  (zwischen  der  Sünde  und  dem  Werth 
des  Lebens  Christi  besteht  also  nur  ein  äusseres  Verhältniss ;  beide  sind  unendlich, 
aV)er  dieses  ist  unendlicher;  daher  genügt  es  Gott  mehr  als  hinreichend)*;  sie  ist 
endlich  4)  keine  Theorie,  die  dem  Einzelnen  verbürgt,  dass  er  wirklich  selig 
wird,  vielmehr  will  sie  nur  für  Alle  die  Möglichkeit  nachweisen,  dass 
sie  selig  werden  können;  ob  sie  es  aber  werden,  das  hängt  davon  ab,  „quemad- 
modum  homines  ad  tantae  gratiae  participationem  accedant  et  quomodo  sub  lila 
vivant"  d.  h.  wie  sie  die  Gebote  der  hl.  Schrift  erfüllen  (II,  19  p.  94). 

Schon  aus  dieser  Ueberlegung  (was  die  Anselm'sche  Theorie  nicht  ist  und 
nicht  Inetet)  ergiebt  sich,  wie  unzureichend  sie  ist.  Vor  Allem  zeigt  sich  ihr  un- 
evangelischer Charakter  an  Punkt  4.  Bei  der  Lehre  von  der  Erlösung  in 
dem  Sinne,  dass  die  Möglichkeit  der  Erlösung  des  Einzelnen  von  der 
Sünde  nachgewiesen  wird,  hat  sich  freilich  die  ganze  alte  und  —  wie  Anselm 
zeigt  —  auch  die  mittelalterliche  Kirche  beruhigt;  aber  da  diese  „Möglichkeit" 
keinem  angefochtenen  Gewissen  irgend  welchen  Trost  gewähren  kann,  sondern  nur 
den  Verstand  befriedigt,  so  ist  sie  ein  verwerfliches  Surrogat  einer  wirklichen  Er- 
lösungslehre —  Luther  würde  sagen,  sie  ist  vom  Teufel.  Kann  nicht  an  der  Person 
Christi  nachgewiesen  werden,  dass  wir  wirklich  erlöst  sind,  wird  nicht  die  cer- 
titudo  salutis  aus  ihr  abgeleitet,  so  ist  nichts  gew^onnen,  vielmehr  ist  Alles  ver- 
loren, wo  man  sich  bei  einer  solchen  Lehre  beruhigt  und  ihr,  wie  Anselm  thut, 
den  Schluss  anhängt:  w^enn  du  die  Gebote  der  hl.  Schrift  erfüllst,  dann  hat  diese 
grosse  Veranstaltung  des  Gottmenschen  für  dich  einen  Effect.  Es  ist  eben  bei 
Anselm  die  Frage  der  persönlichen  H*eilsgewisslieit,  die  Grundfrage  der  Religion, 
noch  gar  nicht  erwacht.  Er  ist  ein  antiker,  ein  mittelalterlicher,  mit  einem  Wort 
ein  katholischer  Christ,  indem  er  sich  dabei  beruhigt,  festgestellt  zuhaben,  dass 
kraft  der  Veranstaltung  Christi  aus  der  massa  perditionis  doch  Einige  selig  werden 
können  und  factisch,  weil  sie  fromm  leben,  selig  werden.  Aber  noch  ein  zweites 
Moment  ist  hier  zu  erheben.  Der  Ernst  der  Sünde  (pondus  peccati)  kann  bei  aller 
Anstrengung,  ihn  so  kräftig  wie  möglich  auszudrücken,  doch  nicht  ernst  genug  ge- 
nommen sein,  wenn  der  Gedanke  der  Strafe  und  somit  auch  des  stellvertretenden 
Strafleidens  völlig  eliminirt  wird.  In  der  Vorstellung,  dass  die  Sünde  noch  durch 
etwas  Anderes  compensirt  werden  kann  als  durch  die  Strafe,  liegt  eine  Unter- 
schätzung des  Gewichts  derselben,  die  höchst  bedenklich  ist.  Eine  Anerkennung 
des  tiefen  Satzes,  dass  der  Unschuldige  für  den  Schuldigen  leidet,  dass  die  Strafe 
auf  ihm  liegt,  auf  dass  wir  Frieden  hätten,  findet  sich  in  der  Anselm'schen  Theorie 
nicht.  Sie  bricht  auch  in  dem  warm  empfundenen  Satze  II,  20:  „accipe  unigeni- 
tum  meum  et  da  pro  te"  —  „tolle  me  et  redime  te"  nicht  hervor;  denn  von  einem 
Strafleiden  ist  nicht  die  Rede  (ebensowenig  in  der  ähnlich  warmen  Ausführung 
n,  16  p.  77  sq.). 

Doch  bevor  wir  auf  die  Einwürfe  gegen  die  Theorie  eingehen,  seien  ihre  Vor- 
züge hervorgehoben.   Diese  sind  nicht  gering:  l)muss  es  Anselm  schon  hoch  ange- 


*  Die  Theorie  eines  stellvertretenden  Strafleidens  findet  sich  neben  der  Theorie 
des  Loskaufs  der  Menschen  vom  Teufel  bei  Athanasius,  s.  Bd.  II  S.  175  dieses  Wei-kes. 


Beurtheilung  der  Anselm*schen  Lehre.  35J5t 

rechnet  werden,  dass  er  das  Problem  überhaupt  aufgegriffen  und  zum  Mittelpunkt 
der  Orientirung  über  den  Glauben  gemacht  hat,  2)  dass  er  es  so  gefasst  hat,  dass  es 
sich  um  die  Erlösung  von  einer  Schuld  handelt  (die  Griechen  haben  primär  stets 
an  die  Erlösung  von  den  Folgen  der  Sünde,  der  Todeshaftigkeit,  gedacht) ;  3)  ist  her- 
vorzuheben, dass  er  die  Schuld  ausschliesslich  als  Schuld  gegen  Gott  (Ungehorsam) 
gefasst  und  die  überlieferte  Lehre  (s.  auch  Augustin),  als  handle  es  sich  bei  der  Er- 
lösuno-  (durch  das  Mittel  des  Kreuzestodes  des  Gottmenschen)  um  eine  Befriedigung 
des  Teufels,  gänzlich  abgethan  hat^ ;  4)  dass  er  eine  bloss  ästhetische  Begründung  des 
Kreuzestodes  oder  eine  äusserlich  historisirende  aufgehoben  hat  (Christus  ist  nicht 
desshalb  gestorben,  weil  es  geweissagt  war,  auch  nicht  desshalb,  weil  der  Vollzug 
der  Erlösung  im  Einzelnen  correspondiren  musste  mit  der  Geschichte  Adams  und 
des  Sündenfalls) ;  5)  ist  es  sehr  bedeutsam,  dass  Anselm  sich  ernstlich  bemüht  hat,  die 
sittliche  Nothwendigkeit  gerade  dieses  Modus  der  Erlösung  nachzuweisend  Das, 
was  er  „ratio"  nennt,  ist  wenigstens  in  manchen  Ausführungen  nichts  Anderes  als 
die  strenge  sittliche  Forderimg,  ist  also  hier  durchaus  berechtigt,  und  er  lehnt  es 
ausdrücklich  ab,  der  Untersuchung  einen  Gottesbegriff  der  schrankenlosen  Willkür 
zu  Grunde  zu  legen,  vielmehr,  tiefer  blickend  und  muthiger  als  Augustin,  setzt  er 
überall  voraus,  dass  Gottes  Allmacht  innerlich  gebunden  ist  durch  seinen  heiligen 
Willen.  Eben  desshalb  muss  es  nach  ihm  möglich  sein,  über  Gottes  Veranstaltungen 
richtig  nachzudenken,  weil  man  die  Zuversicht  haben  darf,  dass  die  höchste  Ge- 
rechtigkeit und  die  höchste  Barmherzigkeit,  die  er  ist,  von  uns  als  Gerechtigkeit 
und  Barmherzigkeit  verstanden  werden  kann.  Endlich  6)  ist  nach  Anselm  Jesus 
Christus  in  seiner  geschichtlichen  Person  und  durch  seinen  Tod  für  uns  die  Er- 
lösung. Die  Gnade  Gottes  ist  nichts  Anderes  als  das  erlösend^  Werk  Christi,  d.  h. 
der  Gedanke  der  Gnade  ist  nun  erst  völlig  abgelöst  von  dem  der  Natur  und  in  die 
Geschichte  versetzt,  d.  h.  einzig  an  die  Person  Christi  geknüpft. 

Allein  diesen  Vorzügen  stehen  so  viele  Mängel  entgegen,  dass  die  Theorie 
völlig  unannehmbar  ist.  Dieselben  liegen  zu  einem  grossen  Theile  so  an  der  Ober- 
fläche und  beleidigen  in  gleicher  Weise  die  Vernunft  und  die  Moral  (von  dem 
Attentat  an  dem  Evangelium  zu  schweigen)  so  sehr,  dass,  wenn  die  heutige  Theo- 
logie unter  normalen  Bedingungen  stände,  kein  Wort  über  sie  zu  verlieren  wäre. 
Allein  da  die  landläufige  Theologie  in  dem  Zeichen  des  Traditionsglaubens  und  der 
Romantik  steht  und  alle  Massstäbe  des  Evangeliums,  der  Moral,  der  Logik  und  der 
Bildung  preisgiebt,  wenn  sie  die  „Nothwendigkeit  der  Möglichkeit"  ihrer 
überlieferten  Glaubensobjecte  irgendwie  gerechtfertigt  sieht,  so  werden 
einige  Ausführungen  hier  am  Platze  sein.  Ausser  dem  bereits  oben  Bemerkten 
kommt  noch  Folgendes  in  Betracht: 

Erstlich  enthält  die  Theorie  eine  Reihe  von  Unvollkommenheiten,  resp.Wider- 
sprüchen;  denn  1)  überall  soll  das  necessarium  streng  durchgeführt  werden;  allein 
an  wichtigen  Punkten  kommt  Anselm  nicht  über  das  conveniens  hinaus,  vor  Allem 
an  dem  wichtigsten  Punkt,  dass  das  mcritum  Cliristi  gerade  den  Menschen  zuge- 
wendet wird  (II,  19  p.  93  fin.).  Auch  dass  Gott  den  Tod  des  Gottmenschen  für  die 
Beleidigung  acceptirt,  ist  niclit  mit  strenger  Nothwendigkeit  begründet,  da  die 
Sihide  der  Menschen  und  die  Art  der  Genugthuung  Christi  in  ne  rli  eh  nichts  ge- 


*  Ob  es  freilich  in  jcider  Hinsicht  ein  Vortheil  war,  und  ol)  nicht  das  sclilimmer 
ist,  was  Anselm  an  die  Stelle  gesetzt  hat,  wird  sich  unten  zeigen. 

'  Eine  merkwürdige  Stelle  schon  bei  Tertullian  (de  ieiun.  3):  „homo  porean- 
dem  materiam  causae  deo  satisfacere  debet,  per  (|HiiTn  offendc^at." 

II  ii  iiiiifU  ,  Dogrncii^ftscliiclifc,  III.  28 


354     Geschichte  dea  Dogmas  im  Zeitalter  Clugrny'a,  Anselm's  und  Bernhard's. 

mein  haben  * ;  2)  muss  der  Satisfactioustheorie  eine  ihr  fremde  Spitze  gegeben  wer- 
den, um  überhaupt  einen  Effect  derselben  zu  begründen.  Die  strenge  Theorie  selbst 
führt  nUndich  nur  so  weit,  dass  Gottes  beleidigte  Ehre  wieder  hergestellt  ist  und 
die  Menschen  sich  an  dem  Tode  Clu'isti  ein  Beispiel  nehmen,  auch  unter  den 
schwersten  Leiden  bei  der  Gerechtigkeit  zu  verharren.  Aber  wie  können  sie 
sich  ein  Beispiel  nehmen?  Wird  denn  das  Vorbild  die  Kraft  haben,  sie  zur 
Nacheiferung  anzuregen?  AVerden  sie  nicht  vielmehr  weiter  sündigen?  Dennoch 
nützt  die  ganze  Veranstaltung  nach  Anselm  nur  denen,  die  ihr  Leben  nach  der  hl. 
Schrift  einrichten.  Also  wird  sie  umsonst  sein!  Anselm  hat  das  wohl  gefühlt,  und 
er  ist  desshalb  völlig  aus  seiner  Theorie  herausgetreten,  indem  er  behauptet,  Gott 
sehe  sich  veranlasst,  die  freiwillige  Leistung  des  Gottmenschen  zu  belohnen  und 
wende  diese  Belohnung  den  Menschen  zu,  indem  er  ihnen  als  denVer- 
wandten  Christi  das  Ve rdienst  Christi  anrechne,  ohne  welches 
sie  überhaupt  ChristiNachahmernicht  werden  können.  Diese  Wen- 
dung macht  der  Frömmigkeit  Anselm's  alle  Ehre ;  aber  sie  zerstört  seine  Genug- 
thuungslehre-,  denn  wenn  Christi  Leiden  ein  Verdienst  begründet,  so  enthält  es 
nicht  den  strengen  Ersatz;  enthält  es  aber  die  Genugthuung,  so  begründet  es  kein 
Verdienst.  Anselm  spricht  aber  hier  nicht  etwa  von  einem  überschüssigen  Ver- 
dienst, sondern  ersieht  die  ganzeLcistungChristi  plötzlich  als 
raeritum  an;  dann  aber  ist  sie  nicht  satisfactio.  Ferner,  wenn  die  Menschen 
plötzlich  als  Verwandte  Jesu  in  Betracht  kommen,  so  fragt  es  sich,  warum  nicht 
dieser  Gesichtspunkt,  dass  Christus  als  Haupt  der  erwählten  Menschheit  zu  be- 
trachten sei,  von  Anfang  der  Betrachtung  an  geltend  gemacht  worden  ist.  3)  Völlig 
widerspruchsvoll  sind  die  Begriffe  der  Gerechtigkeit  und  Ehre  Gottes  be- 
handelt. Die  Gerechtigkeit  soll  einerseits  in  der  Strafe  ebenso  zum  Ausdruck  kom- 
men wie  in  der  positiven  Erreichung  des  Heilszwecks,  andererseits  verlangt  die 
Gerechtigkeit,  dass  das  Ziel  erreicht  wird.  Dem  entsprechend  ist  auch  der  Begriff 
der  Ehre  behandelt ;  ja  ein  dreifacher  Begriff  wird  hier  vorausgesetzt.  Einmal  soll 
Gott  persönlich  überhaupt  nicht  beleidigt  werden  können;  seine  Ehre  kann  schlech- 
terdings keine  Beeinträchtigung  erfahren  (I,  15:  „dei  honori  nequit  aliquid,  quautum 
ad  illum  pertinet,  addi  vel  minui.  idem  namque  ipse  sibi  est  horor  incorruptibilis 
et  nullo  modo  mutabilis").  Sodann  wird  behauptet,  dass  sie  wohl  beleidigt  werden 
kann,  dass  sie  aber  in  gleicher  Weise  entweder  durch  poena  (Verdammung  des 
Menschengeschlechts)  oder  durch  satisfactio  hergestellt  werden  kann.  Endlich  wird 
behauptet,  dass  die  Ehre  Gottes  die  Auflösung  seines  Weltplans,  der  in  der  Beseli- 
gung der  vernünftigen  Creatur  gipfelt,  nicht  duldet,  dass  also  Gott  auf  die  Strafe 
verzichten,  die  Beseligung  der  Creatur  eintreten  lassen  und  somit  die  Genugthuung 
erwählen  muss.  4)  Während  im  Allgemeinen  stets  der  Gedanke  durchgeführt  wird, 
Gott  könne  um  seiner  Ehre  willen  den  Menschen  nicht  einfach  verzeihen,  tritt  c.  19 
p.  41  vielmehr  die  Wendung  ein,  Gott  könne  das  um  des  Menschen  willen 
nicht,  weil  ein  mit  Sünden  befleckter  Mensch,  wenn  er  auch  in  das  Paradies  re- 
stituirt  würde,  doch  nicht  so  sei  wie  vor  dem  Fall.  Allein  dieser  wichtigen  Wen- 
dung wird  eine  weitere  Folge  nicht  gegeben.  5)  Von  Gott  wird  behauptet,  dass  er 
über  allem  Wechsel  menschlicher  Verhältnisse  steht  und  alle  Dinge  mit  seiner  heili- 
gen Allmacht  trägt;  desshalb  gelte  die  Regel  (1.  c):  „non  expedit  homini,  ut  agat 


^  Die  strenge  Kritik,  welche  die  heutigen  Katholiken  an  Anselm's  Theorie 
anlegen  (s.  Schwane  S.  296  fl'.),  hat  umgekehrt  ihren  Grund  in  dem  scotistischeu 
Widerwillen  sfeffen  die  unbedingten  Nothwendigkeiten. 


Beurtheilung  der  Anselm'schen  Lehre.  355 

cum  deo  quemadmodum  par  cum  pari."  Allein  mit  dieser  Regel  steht  die  ganze 
Ausführung  im  Widerspruch,  die  sich  nach  dem  Grundsatz  richtet  (I,  23  p.  47) : 
„Nullatenus  debet  aut  potest  accipere  homo  a  deo  quod  deus  illi  dare  proposuit,  si 
non  reddit  deo  totum  quod  illi  abstulit,  ut  sicut  deus  per  illum  perdidit,  ita  per 
illum  recuperet."  Dieser  Grundsatz  stellt  Gott  und  den  Menschen  als  Beleidigten 
und  Beleidiger  völlig  auf  gleichen  Fuss.  Gott  wird  verletzt  wie  ein  Mensch  verletzt 
wird.  Sagt  man  aber,  als  sittliche  AVesen  stünden  sie  in  der  That  auf  gleichem  Fuss, 
so  darf  doch  diese  richtige  Einsicht  das  Grundverhältniss  nicht  alteriren,  dass  Gott 
der  Herr  und  der  Mensch  seine  Creatur  ist.  6)  Ohne  Widerspruch  kann  die  An- 
nahme, dass  Christi  Tod  ein  freiwilliger  in  dem  Sinne  gewesen  sei,  dass  er  ihn  auch 
hätte  lassen  können,  nicht  durchgeführt  werden,  und  doch  kommt,  wie  Anselm 
wohl  wusste,  bei  seiner  Theorie  Alles  auf  diesenIPunkt  an.  Erstlich  vermag  Anselm 
nur  durch  grobe  Sophismen  die  Bibelstellen  zu  beseitigen,  dass  der  Tod  in  den 
Gehorsam  Christi  eingeschlossen  war,  und  dass  er  den  Kelch,  mit  Zittern  den 
Willen  des  Vaters  ausführend,  getrunken  hat.  Zweitens  kann  auch  sachlich  nicht 
nachgewiesen  werden,  dass  der  Gehorsam  Christi  sich  nicht  auf  das  Todesleideu 
erstreckte ;  denn  da  —  nach  Anselm  —  der  Mensch  Christus  gelitten  hat,  so  ist 
auch  der  Tod  eingeschlossen  in  das,  was  er  Gott  schuldig  war,  da  der  Mensch, 
auch  abgesehen  von  der  Sünde,  sich  selbst  ganz  und  gar  Gott  schuldet.  Christus 
hat  aber  nicht  eine  dingliche  Leistung  aufgebracht,  indem  er  „in  honorem  dei" 
starb,  sondern  eine  persönliche.  Zu  jeder  persönlichen  Leistung  „in  honorem  dei" 
aber  ist  der  Mensch  —  auch  nach  Anselm  —  verpflichtet  ^ 

Zweitens  passt  das  altkirchliche  Material,  mit  welchem  Anselm  operirt,  nicht 
zu  den  neuen  Absichten,  denen  er  es  dienstbar  macht.  Die  Zweinaturenlehre  ist 
von  Athanasius  ab,  aber  auch  schon  früher,  so  gefasst  worden,  dass  der  Gott- 
Logos  das  Subject  ist,  und  dass  er  die  menschliche  Natur  in  die  Einheit  seines 
göttlichen  Wesens  aufnimmt.  Nur  diese  Vorstellung  entspricht  dem  Zweck,  um 
den  es  sich  bei  den  Griechen  handelt,  nämlich  die  Wirklichkeit  der  Ueberwindung 
des  Todes  und  der  Vergottung  unserer  Natur  zu  erklären.  Eine  Fülle  von  Gesichts- 
punkten hat  Athanasius  von  hier  aus  im  Einzelnen  entwickelt,  darunter  auch  den, 
dass  der  Gott-Logos  durch  sein  Sterben  —  was  ihm  durch  die  menschliche  Natur 
möglich  war  —  die  Strafe  getragen  und  den  Tod  aus  der  menschlichen  Natur  aus- 
getrieben habe.  Allein  Anselm  will  Alles  auf  die  Genugthuung  zurückführen,  und 
er  hält  sich  streng  an  die  richtige  Theorie  des  Ambrosius  und  Augustin,  dass  der 
Mensch  Jesus  gestorben  sei,  und  dass  er  mithin  unser  Mittler  sei.  Zugleich 
aber  kommt  nun  bei  ihm  die  Unverträglichkeit  dieser  Anschauung  mit  der  Zwei- 
naturenlehre endlich  zum  deutlichen  Ausdruck-,  denn  wo  der  Gott-Logos 
nicht  als  das  Subject  der  Erlöserpersönlichkeit  gilt,  sondern, 
wie  bei  Anselm,  der  Mensch,  da  ist  zwar  nicht  die  Gottheit  Christi, 
wohl  aber  die  Zweinaturenlehre  aufgehoben.  Der  Titel  der 
Gottheit  Christi  kommt  innerhalb  der  strengen  Theorie  bei 
Anselm  nur  al  s  Werthbes  timmung  der  menschlichen  Person  in 
ihrem  Handeln  vor'-*.  (Christus  erscheint  als  der  Mensch,  dessen  Leben 
einen  uDcndlichen  Werth  hat.  Dass  das  etwas  ganz  Anderes  ist  als  die  zweite  Person 
der  Gottheit,  leuchtet  ein".  Wenn  nun  Anselin  die  Zweinaturenlehre  als  geheiligte 


'  S.  Ritschi,  a.  a.  0.  I  S.  44  f. 

''S.  Ritsch  1  T  S.  4:^>  f. 

*  Die  Stimmuriif  gegenüber  Christus  ist  dah<!i-  auclj  l^ci  den  Lateinern  eine 

23* 


35r)     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  Clugny's,  Anselm's  und  Bernhard'«. 

Ueberlieferung'  doch  tbrtbraueht,  so  ist  eine  vollkommene  nestorianische  Zerreissimg 
der  Person  die  Folge  (s.  1,  9.  10),  wie  sie  sich  im  Abendland  seit  Augustin  stets 
eingestellt  hat,  wo  man  die  eigene  Christologie  als  Erlösungslelire  verfolgt  und  doch 
von  jener  Naturenlehre  nicht  lassen  will.  Ferner  aber  erscheint  die  Zweinaturen- 
lehre au(;h  desshalb  noch  willkomnu'n,  weil  man  mit  ihr  schlechthin  jede  Schwierig- 
keit, welche  die  Erl(")sungslehre  bietet,  aufheben  kann;  denn  da  auf  die  Prädicate 
„menschliche  und  göttliche  Natur"  Alles  vertheilt  werden  kann,  was  nur  denkbar 
ist,  so  ist  man  daniit  jeder  Schwierigkeit  gewachsen  und  kann  jeden  Zweifel  nieder- 
schlagen, jede  Denkfaulheit  beschönigen.  Anselm  hat  das  selbst  in  naiver  Weise 
gestanden  (c.  17  p,  85);  „Was  für  den  Menschen  in  Christus  nicht  passt,  soll  man 
auf  den  Gott  schieben;  was  für  den  Gott  unpassend  ist,  auf  den  Menschen."  Damit 
ist  die  ernsthafte,  die  Einheit  des  Gottmenschen  stets  vertretende  griechische  Spe- 
culation  abgethan,  und  so  ist  es  im  Abendland  geblieben.  Wie  viele  von  denen,  die 
heute  die  „Gottheit"  Christi  ausspielen,  denken  daran,  dass  dieser  Titel  sie  ver- 
prtichtet,  die  gottmenschliche  Einheit  nachzuweisen,  und  dass,  wenn  sie  von 
dieser  Verpflichtung  meinen  absehen  zu  können,  ein  Athanasius  und  die  Väter  des 
Dog-mas  sie  als  hohle  Schwätzer  oder  als  Häretiker  verachten  würden?  Diese  wuss- 
ten  sehr  gut,  dass  der  blosse  Titel  „Gottheit  Christi"  gar  nichts  besagt,  ja  häretisch 
ist,  weil  die  Gottmenschheit  nachgewiesen  werden  muss.  Aber  dem  Abend- 
land fällt  das  nicht  mehr  ein;  denn  mit  den  Mitteln  der  Griechen  kann  und  will  es 
sie  gar  nicht  beweisen;  ja  es  befolgt  ein  ganz  anderes  Schema  in  der  Erlösungslehre : 
Christus  ist  der  Mensch,  dessen  Handeln  einen  unendlichen  Werth  hat.  Wenn 
also  der  Titel  der  Zweinaturenlehre  noch  fortgepflanzt  wird,  so  ist  er  bei  denen, 
die  wirklich  über  Christus  als  den  Erlöser  nachdenken,  nach  der  abendländischen 
Auffassung  um  seine  Bedeutung  gekommen.  Er  wird  daher  nur  noch  benutzt  im 
Sinne  „conservativer  Interessen"  oder  um  sich  von  jedem  energischen  Nachdenken 
über  Christus  als  den  Erlöser  durch  die  bequeme  Formel  zu  dispensiren:  dieses 
that  er  als  Gott  und  jenes  that  er  als  Mensch. 

Drittens  ist  ausser  dem  bisher  Ausgeführten  noch  eine  Reihe  der  schwersten 
Einwürfe  gegen  den  Gesammtcharakter  der  Anselm'schen  Lehre  geltend  zu  machen. 
Nur  kurz  seien  sie  angedeutet:  1)  An  vielen  und  zwar  den  wichtigsten  Stellen  ver- 
fährt Anselm  nach  einer  Logik,  mit  der  man  bereits  Alles  beweisen  kann.  Die 
schwersten  Unarten  der  Scholastik  kündigen  sich  schon  bei  ihm  an ;  das  Mass  der 
antiken  Denker,  so  bescheiden  es  bei  den  Patres  ausgeprägt  war,  fehlt  ihm.  2)  Alles 
ist  ganz  abstract  gedacht,  wie  wohl  ein  kluges  Kind  über  solche  Dinge  denkt  und 
spricht.  Diese  Theorie  bringt  es  fertig,  das  Erlösungswerk  durch  Jesus  Christus  zu 
beschreiben,  ohne  einen  Spruch  von  ihm  anzuführen  (was  angeführt  wird,  dient 
nicht  zur  Verdeutlichung,  sondern  besteht  in  We gräumung  wichtiger  Schrift- 
stelleu). Legend  einen  persönlichen  Zug  aus  dem  Bilde  Christi  hervorzuheben,  hält 
Anselm  für  überflüssig;  der  sündlose  Mensch  mit  dem  unendlich  werthvollen  Leben 


ganz  andere  als  bei  den  Griechen.  Diese  blicken  vorherrschend  auf  den  Gott  in  Chri- 
stus, jene  auf  den  Menschen.  R  i  t  s  chl  hat  S.  47  auf  die  merkwürdige,  aber  keines- 
wegs vereinzelte  Stelle  in  Anselm's  Meditationen  (12)  hingewiesen:  „Certe  nescio, 
quia  nee  plene  comprehendere  valeo,  unde  hoc  est,  quod  longe  dulcior  es  in  corde 
diligentis  te  in  eo  quod  caro  es,  quam  in  eo  quod  verbum:  dulcior  in  eo, 
quod  humilis,  quam  in  eo  quod  sublimis  .  .  .  Haec  omnia  (das  Menschliche)  formant 
et  adaugent  magis  ac  magis  exsultationem,  fiduciam  et  consolationem,  amorem  et 
desiderium." 


BeurtheiluDg  der  Ariselm'schen  Lehre.  357 

genügt.  Der  Tod  Christi  ist  von  seinem  Lebenswerk  auf  Erden  völlig  losgerissen 
und  isolirt.  Dieser  Gottmensch  brauchte  nicht  gepredigt  und  kein  Reich  gestiftet, 
keine  Jünger  gesammelt  zu  haben :  er  musste  nur  sterben.  3)  Auf  die  ewige  Er- 
wählung der  Gemeinde  wird  keine  oder  nur  kraftlose  Rücksicht  (s.  I,  16  und  bei 
Maria)  genommen.  "Wie  vom  Reiche  Gottes  nicht  die  Rede  ist,  so  auch  nicht  von 
der  Kirche  und  ihrer  ewigen  Existenz  vor  Gott.  Folgerecht  wird  die  Kategorie 
der  inneren  sittlichen  Noth wendigkeit  des  Guten  und  Heiligen  auch  für  Gott  mit 
jener  ratio  verwechselt,  kraft  der  man  angeblich  auch  einen  Heiden  zwingen  kann, 
an  den  Gottmenschen  zu  glauben,  wodurch  das  Geheimniss  des  Glaubens  profanirt 
wird.  4)  Die  Sünde  wird  wohl  als  Schuld  an  Gott  gefasst;  aber  diese  Schuld  ist 
nicht  der  Mangel  des  Vertrauens  (des  Glaubens)  auf  ihn,  sondern  sie  wird  als  per- 
sönliche Beleidigung  gefasst.  Wie  Jemand  persönliche  Beleidigungen  behandeln 
will,  das  steht  bei  ihm ;  dagegen  die  Schuld,  welche  Mangel  an  kindlicher  Furcht 
und  Liebe  ist  und  die  Welt  Gottes  zerstört,  muss  getilgt  werden,  sei  es  in  Zorn 
oder  in  Liebe.  Das  übersieht  Ansebn.  5)  Damit  ist  das  Schlimmste  an  Anselm's 
Theorie  berührt:  der  mythologische  Begriff  Gottes  als  des  mächtigen  Privatmanns, 
der  seiner  beleidigten  Ehre  wegen  zürnt  und  den  Zorn  nicht  eher  aufgiebt,  als  bis 
er  irgend  ein  mindestens  gleich  grosses  Aequivalent  erhalten  hat;  die  ganz  gnosti- 
sche  Spannung  zwischen  Gerechtigkeit  und  Güte,  sofern  der  Vater  der  Gerechte 
ist  und  der  Sohn  der  Gute ;  die  furchtbare  Vorstellung  (der  gegenüber  die  An- 
schauungen derVäter  und  der  Gnostiker  weit  vorzuziehen  sind),  dass  die  Mensch- 
heit vom  zornigen  Gott  befreit  wird*;  das  Schattenspiel  zwischen  Vater  und 

*  Sehr  richtig  Bigg,  The  Christian  Platonists  of  Alex.  p.  290:  „It  was  reser- 
ved  for  Anselm,  centuries  afterwards,  tho  array  the  Justice  against  the  Goodness  of 
God,  and  thus  to  complete  the  resemblance  of  Christianity  to  its  ancient  deadly 
foe"  (seil,  dem  Gnosticismus).  Allein  der  Gnosticismus  unterschied  zwischen  dem 
gerechten  Gott  (dem  Demiurgen)  und  dem  guten  Gott  als  zwei  feindlichen  Göttern. 
Die  alte  patristische  Theorie  aber  war,  dass  Christus  die  Menschen  durch  seinen 
Tod  von  dem  Teufel  erlöst  hat.  Wenn  man  den  Tod  von  dem  Leben  Christi  isolirt, 
so  ist  dies  in  der  That  die  beste  Theorie;  denn  sie  bringt  keinen  Zwiespalt  in  die 
Gottheit.  Es  ist  freilich  ein  Fortschritt  bei  Anselm,  dass  er  den  Gedanken  durch- 
führen will,  Gott  sei  heilig  und  barmherzig  zugleich.  Allein  dieser  Gedanke  verträgt 
keine  Durchführung  an  dem  als  satisfactio  gedachten,  isolirten  Tode  Christi,  wenn 
diese  satisfactio  Gott  selbst  gelten  soll.  Da  ist  es  immer  noch  besser,  die  satisfactio 
dem  Teufel  gezahlt  sein  zu  lassen,  weil  auch  so  der  Idee  der  Gerechtigkeit  —  frei- 
lich in  mythologischer  Weise  —  Genüge  geschieht  (die  richtige  Betrachtung  wäre 
die,  dass  dem  Bösen  sein  Recht  geschehen  muss,  nämlich  in  der  Strafe),  ohne  dass 
Christus  der  Barmherzige  und  Gott  der  Zornige  in  Spannung  gesetzt  werden,  während 
doch  Christus  Gott  selbst  sein  soll.  Dass  das  nicht  angeht,  hat  übrigens  Augustin 
deutlich  eingesehen,  nachdem  er  die  IMöglichkcit  envogen  hatte.  Bigg  verweist  auf 
de  trinit.Xni,  11 :  „Sed  (juid  est  iustificati  in  sang-uine  ipsius?  Quae  vis  est  sanguinis 
huius,  obsecro,  ut  in  eo  iustificentur  credentesV  Et  quid  est  rcconciliati  per  mortem 
filii  eins?  Itane  vero,  cum  irasceretur  nobis  deus  pater,  vidit  mortem  filii  sui  pro 
nobis  et  placatus  est  nobis?"  Dies  kann  nicht  sein;  „denn  omnia  simul  et  pater  et 
filiu»  et  amborum  Spiritus  pariter  et  concorditer  opcrantur."  Also 
lehnt  er  die  Ansolm'schc  Theorie  im  Voraus  ab.  Diese  ist  auch  nur  so  erklärlich, 
dass  der  Gedanke  Gottes  als  des  uns  nahen  Vaters  im  Mittelalter  zurückgetreten 
ist  und  man  das  alte  Bild  der  Trinität  als  E  i  nh e i  t  nicht  mehr  hatte.  Auch  hier  ist  also 
die  antike  TJeberlieferung  dos  Dogmas  preisgegelion,  der  Titel  Trinität  beibehalten. 


358     Geschichte  des  Dop^mas  im  Zeifalter  Ohiguy's,  Anselm's  und  Eernhard's. 

Sohn,  während  doch  der  Sohn  Eins  ist  mit  dem  Vater;  das  Schattenspiel  des  Sohnes 
mit  sich  selber;  denn  nach  Ansei m  bringt  sich  der  Sohn  sich  selber  dar 
(11,18:  „filius  ad  liouorcm  suuni  seipsuni  sibi  obtulit")^;  die  blasphemischeVorstel- 
hiug,  dass  für  Gott  die  datio  vitae  des  Sohnes  als  acceptio  mortis  ein  Gut  sei;  der 
schreckliche  Gedanke,  dass  Gott  das  grässliche  Vorrecht  vor  den  Menschen  habe, 
nicht  aus  Liebe  vergeben  zu  können,  sondern  stets  eine  Bezahlung  brauche  (I,  12); 
die  corrumpirte  Auflassung  unseres  Vergebungsgebetes  an  Gott,  dass  es  ein  Theil 
unserer  Satisfactionen  sei,  aber  nie  an  sich  den  Effect  der  Vergebung  haben  könne 
(I,  19:  „qui  uon  solvit,  frustra  dicit:  dimitte").  Nimmt  man  nun  hinzu,  dass,  wie 
oben  gezeigt,  bei  dem  Allem  nur  die  Möglichkeit,  dass  wir  selig  werden,  nachge- 
wiesen ist,  dass  der  (icdanke  der  Strafe  der  Sünde  eliminirt  ist  (die  Gerechtigkeit 
Gottes  also  zu  lax  gelasst  ist),  dass  hier  kein  Unschuldiger  Strafe  leidet  für  den 
Schuldigen,  und  dass  in  dem  Effect  auf  uns  nur  der  schwächliche  Gedanke  des 
Vorbildes  zu  deutlicher  Klarheit  kommt,  so  muss  man  sagen,  dass  trotz  der  guten 
Absichten  Anselm's  und  trotz  einiger  richtigen  Erkenntnisse  niemals  vor  ihm  eine 
so  schlimme  Tlieorie  als  kirchliche  producirt  worden  ist.  Aber  vielleicht  vermag 
Niemand  eine  bessere  aufzustellen,  der  den  Tod  Christi  von  seinem  Leben  isolirt 
und  in  diesem  Tode  noch  etwas  Anderes  sehen  will,  als  den  Höhepunkt  des 
„Dienstes'*,  den  er  durch  sein  Leben  geleistet  hat*. 

Die  Anselm'sche  Tlieorie  hat  als  ganze  wenig  gewirkt.  Der  Be- 
griff, den  er  nur  gestreift  hat,  der  Ver dienstlichkeit  des  Wer- 
kes Christi,  trat  sehr  rasch  in  den  Vordergrund  und  machte  seine 
Genugthuungslehre ,  die  ausserdem  mit  der  augustinischen  Ueber- 
lieferung  stritt,  unwirksam.  Dazu  kam,  dass  er  das  Interesse  an  dem 
Nachweis  unserer  Versöhnung  mit  Gott  nicht  befriedigt  hat.  Hier 
setzte  Abälard  ein,  ohne  freilich  eine  zusammenhängende  straffe  Ent- 
wickelung  der  Lehre  zu  geben  ^.  Er  geht,  nachdem  er  die  Beziehung 
des  Kreuzestodes  auf  den  Teufel  noch  entschiedener  als  Anselm  ab- 
gelehnt, von  dem  Grundgedanken  der  Liebe  Gottes  aus  und  macht 
sich  zugleich  klar,  dass  die  Sünde  die  Menschen  von  Gott  getrennt 
hat,  dass  es  also  gilt,  sie  zu  Gott  zurückzuführen  und  ihnen  wieder 
Vertrauen  auf  Gott  einzuflössen.  Femer  hält  er  sich  gegenwärtig,  dass 
die  Frucht  der  Erlösung  sich  auf  die  Erwählten  bezieht,  in  Bezug 
auf  welche  Gott  nicht  erst  umzustimmen  ist.  Somit  darf  die  Mensch- 
werdung und  der  Tod  des  Sohnes  Gottes  nur  als  Liebesthat  gefasst 


^  InKonstantinopelhabeuSynoden vom  Jahrll56f.  entschieden,  dass  dieMesse 
auch  dem  Sohne  dargebracht  werde,  da  er  der  Opfernde  und  Geopferte  zugleich  sei 
und  die  Trinitat  keine  Zerreissung  dulde,  s.  Hefele  V  S.  567. 

*  Dass  übrigens  Anselm  selbst  in  anderen  Schriften  andere  Gedanken  über  die 
Erlösung  durchgeführt  hat,  hat  Ritschi,  a.  a.  0.  I  S.  46  f.  109  gezeigt.  Er  hat  sich 
auch  ohne  solche  Berechnungen  der  Gewissheit  der  Gnade  hingegeben,  andererseits 
den  Begriff  des  Verdienstes  stärker  betont. 

8  S.  Ritschi,  a.  a.  0.  I  S.  48  ff.  Schwane  S.  304  ff".  Deutsch,  Abälard 
S.  366  ff.  Sceberg  in  den  „Mittheil.  u.  Nachricht,  f.  die  ev.K.  in  Russland"^  1888, 
März-April.   Auch  Reuter  im  1.  und  besonders  Bach  im  2.  Bd.  S.  68  f.  77  f.  88  ff. 


Abälard's  Versöhnungslehre.  359 

werden,  und  auch  die  Gerechtigkeit  Gottes  ist  so  zu  bestimmen,  dass 
sie  der  Liebe  untergeordnet  resp.  mit  ihr  identisch  ist.  Christus  also 
hat  den  Zorn  Gottes  nicht  erst  zu  besänftigen  gebraucht.  Gott 
kann  die  Sünde  ebensogut  vergeben,  wie  er  einen  sündlosen  Men- 
schen hervorgebracht  hat,  der  sich  mit  Christus  verbunden  hat.  Aber 
um  uns  wirklich  für  sich  zu  gewinnen,  hat  Christus  uns  den  höch- 
sten Liebesbeweis  gegeben,  der  unsere  kalten  Herzen  entzündet  und 
uns  zum  Vertrauen  und  zur  Liebe  Gottes  zurückführt.  Ferner  — 
die  Eeflexionen  stehen  nicht  in  einem  straffen  Zusammenhang  —  in 
dieser  That  des  Kreuzestodes  Christi  schaut  Gott  uns  an,  d.  h.  er 
vergiebt  uns  die  Sünden,  indem  er  uns  das  Verdienst  Christi  zurechnet, 
weil  Christus  als  Haupt  der  Menschheit  vor  Gott  steht;  ebenso  lässt 
er  uns  das  Verdienst  der  vollkommenen  Gerechtigkeit  Christi  zu  Gut 
kommen;  denn  in  dem  Gehorsam  Christi  ist  Gott  Genüge  ge- 
schehen. Endlich,  fort  und  fort  wirkt  Christus  für  uns ;  denn  indem 
er  für  uns  unablässig  beim  Vater  bittet,  entspricht  es  der  Gerech- 
tigkeit Gottes,  uns  dieses  Verdienst  anzurechnen.  Aber  bei  „Verdienst 
Christi"  denkt  Abälard  nie  „an  eine  Summe  bestimmter  Leistungen, 
sondern  die  Christus  einwohnende  Fülle  der  Liebe  gegen  Gott  ist  sein 
Verdienst".  „Sic  igitur  in  voluntate,  non  in  operibus,  quae  bonis  et 
malis  communia  sunt,  meritum  omne  consistit"^.  Es  ist  also  hier 
nichts  Dinghches  und  nichts  Magisches.  Auch  der  Kreuzestod  wird 
nicht  als  dingliche  Leistung  geschätzt,  sondern  fällt  ganz,  als  ein 
Hauptstück,  unter  die  Liebeserweise  Christi,  die  er  von  Anfang  an 
gezeigt  hat.  Christi  Verdienst  ist  sein  Liebesdienst;  die 
Liebe  aber  ruft  Gegenliebe  hervor,  und  Aver  da  liebt  (weil  ihn  Christus 
zuerst  geUebt  hat),  dem  werden  die  Sünden  vergeben,  ja  in  dem 
Wechsel  von  Liebe  und  Liebe,  die  aus  Christus  entspringt,  liegt  die 
Sündenvergebung  selbst  ''^. 

Abälard  hat  keinen  strengen  Beweis  für  die  Nothwendigkeit  des 
Kreuzestodes  geliefert;  seine  Sätze  sind  ferner  desshalb  ungenügend, 
weil  er  nicht  deutlich  erkannt  hat,  dass  die  Liebe  die  höchste,  ja 
die  einzig  wirksame  ist,  welche,  indem  sie  die  Strafe  auf  sich  nimmt, 
mit  der  Grösse  der  Lossprechung  zugleich  die  Grösse  der  ge- 

^  So  ein  Schüler  Abälard's,  der  seine  Meinung  getroffen  hat;  s.  Seeberg 
S.  7  und  Deutschs.  378  ff. 

^  Ich  schreibe  die  Stellen  hier  nicht  aus,  weil  sie  als  eiii/elne  kein  rechtes  Bild 
geben.  In  Betracht  kommen  vornehmlich  mehrere  Stellen  aus  der  Exposit.  cp.  Rom. 
(bes.  zu  c.  3,  22  ff.,  5,  12  ff.),  aus  dem  Sermo  V.  X.  XII,  theolog-,  christ.  IV  und  dem 
Dialog.  AVie  sehr  Abälard's  ganze  Christologie  und  Erlösungslehre  vom  Gedanken 
der  Liebe  und  Gegenliebe  beherrscht  ist,  wie  ganz  und  gar  die  Liebe  das  „Ver- 
dienst" ist,  würde  man  aus  einzelneu  Citaten  nicht  abnehmen  können. 


3H0      ^  ie^cluuhU'  tlts  Dof^inas  iiu  Zeitalter  Cluj^iiy'K,  Ansclui's  iiu<l  Hcniliarirs. 

tilgton  Schuld  offenbart.  Er  hat  nicht  erkannt,  dass  der  Sün- 
der von  der  Schuhl  nicht  anders  befreit  werden  kann,  als  indem  er  die 
Strafe  der  Schuld  erlebt  und  sieht.  Aber  er  hatte  eine  zu  lebhafte 
Empfindung  für  die  Liebe  seines  Gottes  und  für  die  Einheit  Gottes 
und  Christi,  als  dass  er  dem  gnostischen  (ledanken  bei  sich  Raum 
gegeben  hätte,  Gott  brauche  ein  Opfer  oder  ein  Entgelt,  oder  für  ihn 
sei  der  Tod  C.hristi  ein  Gut.  Und  er  wusste  sich  so  innig  in  leben- 
diger Gemeinschaft  mit  Christus  verbunden,  dass  erst  er  wieder  den 
apostolischen  Gedanken  der  ständigen  Fürbitte  Christi  für  uns  in  die 
Erlösungslehre  eingeführt  und  andererseits  auch  in  dem  irdischen 
Leben  Christ  nicht  einen  liebesbeweis ,  den  Tod,  sondern  eine 
Kette  von  Liebe  gesehen  hat,  in  der  auch  das  „Werk"  Christi, 
nämlich  sein  „Verdienst"  d.  h.  die  Wirksamkeit  seines  Liebeswillens 
enthalten  ist  ^ 

*  Sehr  richtig  Deutsch  S.  382:  „Demnach  ist  der  letzte  und  tiefste  Gedanke 
Abälard's  der,  dass  die  Versöhnung-  in  der  persönlichen  Gemeinschaft  mit  Christo 
beruht.  Er  ist  es,  der,  indem  er  den  Willen  Gottes  als  Mensch  vollkommen  erfüllte, 
damit  die  göttliche  Bestimmung  der  Menschheit  verwirklichte,  in  diesem  Sinne 
Gott  genug  that  und  damit  der  Menschheit  die  verschlossene  Paradiespforte  wieder 
erötfnete.  AVer  ihm  angehört,  der  hat  durch  ihn  Vergebung  der  Sünden  und  mit 
ihm  den  Zugang  zu  Gott,  zugleich  aber  auch  die  Kraft  des  neuen  Lebens,  in  dem  er 
aus  Liebe  die  Gebote  Gottes  erfüllt,  und  soweit  diese  Erfüllung  noch  unvollkommen 
ist,  tritt  die  Gerechtigkeit  Gottes  für  dieselbe  ergänzend  ein."  Dem  gegenüber  hat 
Reuter  (IS.  243)  Abälard's  Lehre  also  misshandelt:  „An  die  Stelle  eines  Voll- 
bringers der  Versöhnung  trat  ein  Verkündiger  des  schon  versöhnten  Gottes 
[Christus  ist  nach  Abälard  kein  blosser  „Verkündiger",  und  Gott  ist  nicht  versöhnt, 
wenn  wir  es  nicht  sind] ;  statt  einer  Passion  des  Sohnes,  welcher  den  Zugang  zum 
Vater  erst  wieder  eröffnet  [aber  das  ist  gerade  Abälard's  Meinung],  wurde  ein 
Märtyrerthum  mit  psychologischer  AVirkung  gefeiert  [das  AVort  „psychologisch" 
soll  hier  den  Eindruck  des  Profanen  erregen;  aber  man  hat  doch  nur  die  AVahl 
zwischen  diesem  oder  dem  physikalisch-chemischen] ;  statt  der  Umstimmung  Gottes 
die  des  Menschen  genannt"  [ist  Gott  die  Liebe  oder  ist  er  verstimmt?  ist  es  nicht 
die  Strafe  des  Menschen,  dass  er  als  Sünder  sich  einen  schrecklichen  Gott 
denken  muss,  und  kann  etwas  Grösseres  im  Himmel  und  auf  Erden  geschehen,  als 
dass  ein  Mensch  umgestimmt,  d.  h.  von  der  Furcht  vor  dem  schrecklichen  Gott  zum 
Vertrauen  und  zur  Liebe  gestimmt  wird?  AVenn  es  möglich  wäre,  dem  Sünder  den 
Gedanken  des  liebenden  Gottes,  zu  dem  er  Vertrauen  haben  kann,  beizubringen, 
während  er  sich  schuldig  fühlt,  dann  freilich  wäre  Christus  vergeblich  gestorben; 
aber  Jenes  ist  eine  contradictio  in  adiecto].  Auch  Seebe  rg  hat  trotz  allen  Bemühens, 
unparteiisch  zu  sein,  aus  Abälard's  Lehre  eine  Carricatur  ins  Rationalistische  ge- 
macht und  dem  entsprechend  Sätze  Bernhard's,  die  sich  theils  ebenso  bei  Abälard 
finden,  theils  glücklich  von  diesem  beseitigt  sind  (die  iusta  potestas  diaboli),  schön 
gefärbt.  Das,  was  bei  Abälard  wirklich  zu  vermissen  ist,  dass  Christus  unsere 
Strafe  getragen  hat,  findet  sich  bei  Bernhard  auch  nicht,  und  das  „Vorbild"  Christi 
wird  von  diesem  viel  unvorsichtiger  geltend  gemacht  als  von  jenem,  der  stets  an 
die  Kraft  der  Liebe  denkt,  die  von  Christus  ausgeht.   Aber  Bernhard  soll  doch 


Die  Versöhnimoslchro  des  Lombarden.  361 

Die  Polemik  gegen  Abälard  hat  sich  auch  gegen  seine  Erlösungs- 
lehre gerichtet;  aber  man  hat  sie  wesentlich  vom  Boden  der  augu- 
stinischen  Erlösungslehre  (Ueberwindung  des  Anrechts  des  Teufels) 
bekämpft,  ohne  dem  Anselm  zu  folgen  K  Dabei  sind  Alle  in  steigen- 
dem Masse  darin  einig,  dass  der  Gesichtspunkt  des  Verdienstes  an- 
zuwenden ist,  und  dass  Christus  als  Erlöser  von  seiner  menschhchen 
Quahtät  aus  zu  betrachten  ist.  In  diesem  Sinne  hat  auch  der  Lom- 
barde seine  zusammenfassende  Darstellung  der  Meinungen  der  Väter 
in  seinem  Lehrbuch  geordnet.  Wie  bei  Augustin  tritt  der  „homo" 
in  Christus  als  sittliche,  von  Gott  erwählte  und  getragene  PersönHch- 
keit  an  die  Spitze,  und  das  ganze  Leben  Christi  wird  von  hier  aus 
verstanden  ^.  Dabei  werden  zum  Verständniss  der  eigenthümlichen  Art 
der  Erlösung  alle  Gesichtspunkte  zusammengestellt,  welche  die  Ver- 
gangenheit bot :  der  Gehorsam,  Erlösung  von  Teufel,  Tod  und  Strafe, 
vor  Allem  aber  das  Verdienst  des  Todes,  dann  auch  das  Opfer. 
Mit  Augustin  wird  die  strenge  Nothwendigkeit  gerade  dieses  Mittels 
(des  Kreuzestodes)  abgelehnt;  mit  ihm  und  den  anderen  Vätern  wird 
der  Teufelskauf  (einschliesslich  der  Täuschung)  behauptet;  mit  Abä- 
lard wird  der  Tod  als  Liebesbeweis,  der  Gegenliebe  weckt,  betrachtet; 
mit  demselben  wird  Christus  als  Vertreter  der  Menschheit  vor  Gott 
angeschaut;  mit  Augustin  wird  die  Nothwendigkeit  einer  Versöh- 
nung Gottes  durch  den  Tod  Christi  abgelehnt  (Gott  liebt  auch  seine 
Feinde;  er  hat  uns  im  Voraus  von  Ewigkeit  geliebt  und  wir  werden 
nicht  mit  dem  zürnenden,  sondern  mit  dem  liebenden  Gott  versöhnt); 
endlich  wird  ein  Strafwerth  des  Todes  Christi  so  behauptet,  dass 
durch  denselben  die  ewige  Strafe  erlassen  (s.  Athanasius),  die  zeit- 
Hche  zukünftig  (nach  dem  Tode)  in  Wegfall  kommt.  Dagegen  ist  die 
Anselm'sche  Theorie  überhaupt  nicht  erwähnt  ^.  Der  Lombarde  zeigt 
also,  dass  die  patristische  Ueberlieferung  noch  immer  der  einzige  Lehr- 
gegenstand war,  und  dass  das  Neue  nur  mit  Mühe  dagegen  aufkam. 


über  Abälard  erhaben  sein,  weil  er  diepassionirte  ChristusHebe  lyrischer  auszudrücken 
vermag,  während  Abälard  nur  an  die  Lehre  und  das  Beispiel  Christi  denke  (!),  und 
weil  angeblich  etwas  „Objectives"  bei  ihm  zu  finden  ist,  was  A])älard  fehlen  soll. 
Bernhard  hat  freilich  auch  nach  Seeberg  dieses  ()l)jective  ganz  falsch  bestimmt; 
aber  das  thut  nichts,  wenn  nur  überhaupt  „Etwas"  da  ist.  Wann  wird  man  sich  im 
Protestantismus  von  diesem  „Etwas"  losmachen,  das  im  besten  Fall  nur  die  „Mög- 
lichkeit" der  Erlösung  sicherstellt,  und  wann  wird  man  zwischen  einem  stellver- 
tretenden »Strafleiden  und  einer  von  (lott  geforderten  (Jenugthuung  unterscheiden! 

'  S.  Bach  II  S.  88 — 132.  Besonders  kommt  neben  Bernhard  Wilhelm  von 
St.  Thierry  in  Betracht. 

''  Sentent.  lib.  III,  dist.  18.  19. 

«Kitsch II  S.  5f)f. 


362     Geschichte  des  Dnj^iiias  im  Zeitalter  Cluguy's,  Ariselm's  und  Bernhardts. 

Doch  war  das  ganze  Unternehmen  der  combinatorischen  Zusammen- 
stellung selbst  neu  (wesshalb  der  Lombarde  vielfach  niisstrauisch  als 
Abälardianer  betrachtet  wurde)  ^  Erst  im  13.  Jahrhundert  traten  die 
neuen  dogmatischen  Impulse  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  materiell, 
wenn  auch  nicht  formell,  gleichbereclitigt  neben  die  Fülle  der  über- 
heferten  patristischen  Sätze.  Durch  diese,  die  sicli  theils  in  einer 
weitschichtigen  exegetischen  Tradition,  theils  in  theologischen,  in  ihrem 
ursprünglichen  Zusammenhang  nicht  mehr  verstandenen  Sätzen  dar- 
stellen, ist  der  Kleinigkeitsgeist  der  mittelalterlichen  Theologie  be- 
fördert worden,  der  sich  wunderbar  mit  ihrer  Energie  und  mit  ihrem 


n 


*  Dies  nicht  ohne  Grimd ;  denn  abgesehen  von  der  objectiven  Erlösung,  die 
in  der  Befreiung  von  den  Banden  des  Teufels  besteht  (doch  wird  auch  dies  subjectiv 
gewendet,  s.  Sentent.  III  Dist.  19  A:  „si  ergo  recte  fidei  intuitu  in  illum  respicimus 
qui  pro  uobis  pepeudit  in  Hgno,  a  vinculis  diaboli  solvimur,  i.  e.  a  peccatis,  et 
ita  a  diabolo  liberamur,  ut  nee  post  hanc  vitam  in  nobis  inveniat  quod  puniat. 
Morte  quippe  sua,  uno  verissimo  sacrificio,  quidquid  culparum  erat,  unde  nos 
diabolus  ad  luenda  supplicia  detinebat,  Christus  exstinxit,  ut  in  hac  vita  tentando 
nobis  non  praevaleat"),  kennt  der  Lombarde  nur  eine  subjective;  1.  c.  „quo  modo 
a  peccatis  per  Christi  mortem  soluti  sumus?  Quia  per  eins  mortem,  ut  ait  apostolus, 
commendatur  uobis  Caritas  dei,  i.  e.  apparet  eximia  et  commendabilis  Caritas  dei 
erga  nos  in  hoc,  quod  filium  suum  tradidit  in  mortem  pro  nobis  peccatoribus.  Ex- 
hibita  autein  tantae  ei'ga  nos  dilectionis  arrha,  et  nos  movemur  accendimurque 
ad  diligendum  deum,  qui  pro  nobis  tanta  fecit,  et  per  hoc  iustificamur,  i.e. 
soluti  a  peccatis  iusti  efficimur.  Mors  ergo  Christi  nos  iustificat, 
dum*per  eam  Caritas  excitatur  in  co  rdibus  uostris".  Doch  daneben  findet 
sich  auch  die  andere  Wendung:  „dicimur  quoque  et  aliter  per  mortem  Christi  iusti- 
ficati,  quia  p  er  fidem  mortis  eius  a  peccatis  mundamur."  Aber  dieser  Ge- 
danke wird  nicht  weiter  verfolgt;  dagegen  heisst  es  wiederum  Dist.  19  F:  „recon- 
ciliati  sumus  deo,  ut  ait  apostolus,  per  mortem  Christi.  Quod  non  sie  intelligendum 
est  quasi  nos  sie  reconciliaverit  Christus,  ut  inciperet  amare  quosoderat, 
sicut  reconciliatur  inimicus  inimico,  ut  deinde  sint  amici  qui  ante  se  oderant,  sed 
iam  nos  diligenti  deo  reconciliati  sumus;  non  enim  ex  quo  ei  reconciliati 
sumus  per  sanguinem  filii  nos  coepit  diligere ,  sed  ante  mundum,  priusquam  nos 
aliquid  essemus.  Quomodo  ergo  nos  diligenti  deo  sumus  reconciliati?  Propter 
peccatum  cum  eo  habebamus  inimicitias,  qui  habebat  erga  nos  cari- 
tatem,  etiam  cum  inimicitias  exercebamus  adversus  eum,  operando  iniquitatem.  Ita 
ergo  inimici  eramus  deo,  sicut  iustitiae  sunt  inimica  peccata,  et  ideo  dimissis  peccatis 
tales  inimicitiae  finiuntur,  et  reconciliamur  iusto  quos  ipse  iustificat.  Christus  ergo 
dicitur  mediator,  eo  quod  medius  inter  deum  et  homines  ipsos  reconciliai  deo.'' 
Nun  aber  setzt  wieder  ein  anderer  Gedanke  ein ,  wenn  der  Lombarde  unmittelbar 
darauf  fortfährt :  „reconciliat  autem,  dum  o  f  f  e  ndiculahominumtollitaboculis 
dei,  id  est  dum  peccata  delet  quibus  deus  offendebatur  et  nos  inimici  eius  era- 
mus." Der  durchschlagende  Gedanke  der  Erregung  der  Gegenliebe,  den  der  Lom- 
barde von  Abälard  übernommen  hat,  findet  sich  schon  bei  Augustin;  s.  z.B.  de  catech. 
rud.  4:  „nulla  est  maior  ad  amorem  invitatio,  quam  praevenire  amando,  et  nimis 
durus  est  animus,  qui  dilectionem  si  nolebat  impendere,  nolit  rependere.'* 


Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden.  363 

juristischen  Scharfsinn  verquickt  hat.  Der  Ansatz  der  scholastischen 
Wissenschaft  ist  durchweg  erhaben  und  gross;  „aber  der  Kleinigkeits- 
geist zog  auch  den  Himmel  herab".  Vom  wissenschaftlichen  Stand- 
punkt und  vom  Standpunkt  des  „juristischen  Denkens"  darf  man  diesen 
Geist  allerdings  nicht  schelten;  denn  verlangt  die  Wissenschaft  nicht, 
dass  man  die  Probleme  bis  zu  den  letzten  Consequenzen  hin  durch- 
denkt? Der  Fehler  liegt  lediglich  in  den  Prämissen  und  in  der  Vor- 
stellung, dass  jenes  Denken  Denken  über  die  Eeligion  sei.  Aber  auch 
das  musste  man  sich  damals  so  vorstellen;  denn  die  Religion  war  ja 
Contemplation ! 

AcMes  Capitel:  Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettel- 
Orden  bis  zum  Anfang  des  16.  Jahrhunderts, 

Wenn  wir  auch  in  diesem  Capitel  wiederum  unsere  Aufmerk- 
samkeit zunächst  der  Geschichte  der  kirchlichen  Frömmigkeit,  des 
kirchhchen  Rechts  und  der  kirchKchen  Wissenschaft  zuwenden, 
so  geschieht  das  weniger  des  Verständnisses  der  Veränderungen 
wegen,  w^elche  das  Dogma  in  diesem  Zeitraum  von  300  Jahren  erlebt 
hat,  als  um  zu  zeigen,  wie  die  Bedingungen,  unter  denen 
dasselbe  gestanden  hat,  dazu  dienten,  es  immer  stabiler 
zu  machen  und  vor  jedem  Eingriff  zu  schützen.  Es  muss 
vor  Allem  nachgewiesen  werden,  wie  es  möglich  gewesen  ist,  dass  die 
ungeheure  kirchliche  Revolution  des  16.  Jahrhunderts  —  die  wieder- 
täuferischen Bewegungen  abgerechnet  —  vor  dem  alten  Dogma  Halt 
gemacht  hat.  Dies  kann  aber  nur  verstanden  werden,  wenn  man  er- 
wägt, welche  Befestigungen  dasselbe  im  13.  bis  15.  Jahrhundert 
erfahren  hat.  Diese  Befestigungen  waren  eine  Folge  der  eigenthüm- 
lichen  Geschichte  der  Frömmigkeit,  des  kirchhchen  Rechts  und  der 
Wissenschaft  in  diesem  Zeitraum.  Sie  aUe  verlangten  nicht  einen  „un- 
bewegten Beweger"  im  Hintergrunde  —  denn  „Beweger"  ist  das 
Dogma  eben  nicht  mehr  gewesen  — ,  sondern  eine  unbewegliche 
Basis.  Sowohl  die  Mystik  als  die  kirchhche  Rechtsentwickelung  als 
die  nominalistische  Theologie  vermochten  nur  auf  der  Grundlage  eines 
autoritativen  Dogmas  sich  zu  entwickeln,  resp.  sich  nur  so  vor  bedenk- 
lichen Consequenzen  zu  schützen. 

Erst  in  zweiter  Linie  kommt  in  Betracht,  inwiefern  die  allge- 
meinen Bedingungen  auch  gewisse  Veränderungen  am  Dogma 
erzeugt  haben,  sodann,  inwiefern  sich  eine  individuelle  Frömmig- 
keit entwickelte,  wie  aus  dieser  das  Bedürfniss  nach  individueller  Heils- 
gewiöslieit  hervorgegangen  ist,  und  wie  dieses  Bedürfniss  sich  zu  einer 


3r)4     (»cscliiclite  des  Dogmas  im  ZintalterdorlUittcloiden  l)is  zum  IH.  .lahrh. 

iniichtigen  Kraft  zusammengefasst  hat.  Es  war  an  sich  stark  p;enug, 
um  eine  Revision  der  gesammten  kirclihchen  Ueberheferung  zu  fordern 
und  zu  leisten.  Aber  es  wird  sich  in  dem  letzten  Buche  (s.  u.)  zeigen, 
dass  es  in  seiner  Entfaltung  niedorgohalten  worden  ist  durch  die  noch 
grössere  Gewalt  einer  fünfzehnhundertjährigen  Entwickelung. 

1.  Zur  Geschichte  der  Frömmigkeit. 

Was  im  12.  Jahrhundert,  dem  Jahrhundert  der  Kreuzzüge, 
keimte  —  jene  Frömmigkeit,  wie  sie  Bernhard  in  sich  erlebt  und 
dargestellt  hat,  die  ihre  Kraft  aus  der  Demuth  gegenüber  Gott  und 
aus  der  Liebe  zu  dem  schmerzensreichen  Erlöser  empfing  — ,  das  hat 
sich  in  dem  heiligen  Bettler  von  Assisi  zu  der  Blüthe  entfaltet, 
„deren  Duft  die  AVeit  erfüllte".  In  Franciskus  kommt  die  mittel- 
alterliche Frömmigkeit  zu  ihrem  klarsten  und  kräftigsten  Ausdruck. 
In  ihm  spricht  sie  sich  am  einfachsten  und  darum  am  gewaltigsten 
und  eindrucksvollsten  aus,  weil  ihr  Accord  „humilitas,  Caritas  und 
obedientia"  hier  am  reinsten  angeschlagen  ist  und  zugleich  die  Klang- 
farbe, die  Franciskus  demselben  verliehen  hat,  die  schmelzendste  war  K 

Humilitas  —  das  ist  die  vollkommene  Armuth.  Die  Ehrfurcht 
vor  dem,  was  unter  uns  ist,  welche  die  Bernhardiner  verkündet  haben, 
verträgt  kein  anderes  Gewand  als  das  der  vollkommenen  Ai-muth  und 
Demuth.  Wohl  hatten  griechische  Mönche  längst,  ja  von  Anfang  an, 
diesem  Ideale  nachgestrebt;  aber  in  ihren  Händen  wurde  es  zur  Fackel, 
die  mit  dem  Körper  auch  die  Phantasie,  den  Sinn  und  den  Reichthum 
des  inneren  Lebens,  aufzehrte.  Sie  sollte  das  Mittel  der  Entkörperung 
sein;  aber  sie  verödete  oft  genug  den  Geist.  Hier  ist  sie  dagegen 
die  Nachahmung  des  armen  Lebens  Jesu,  und  wie  sie  so  ein 
persönliches  Ideal  empfangen  hat,  entwickelte  sie  auch  in  der  un- 
erschöpflich lebendigen  Phantasie  des  hl.  Franciskus  einen  Reichthum 
der  Anschauung  aus  sich  heraus,  der  allen  Gebieten  des  äusseren  und 
inneren  Lebens  zu  Gut  gekommen  ist.  Jüngst  hat  uns  ein  geistvoller 
Forscher  gezeigt,  welche  Wirkungen  vom  hl.  Franciskus  auf  das  Gebiet 
der  Kunst  ausgegangen  sind^.  Aber  in  allen  Sphären  menschlichen 
Lebens  bis  zur  strengen  Wissenschaft  hin  hat  der  neue  Antrieb  gewirkt 
—  die  Gottesfurcht,  die  Gott  allein  die  Ehre  giebt,  die  lebendige  Vor- 
stellung von  Christus,  die  das  Persönliche  in  den  Vordergrund  schob, 
die  heihge  Einfalt,  die  in  die  Herzen  und  in  die  Welt  hineinleuchtete. 
In  dem  sonnigen  Gemüthe  des  heiHgen  Dichters  von  Assisi,  des 
Troubadours  Gottes  und  der  Annuth,  spiegelte  sich  die  AVeit  nicht  als 

^  Müller,  Die  Anfänge  des  Minoritenordens  und  der  Bussbruderschafteu  1885. 
'^  T  h  o  d  e ,  Franciskus  v.  Assisi  und  die  Anfänge  der  Kunst  der  Renaissance  1 885. 


^ 


Die  franciskanische  Frömmigkeit.  365 

der  Kampf  ums  Dasein  oder  als  die  Stätte  des  Teufels,  sondern  als  das 
Paradies  Gottes  mit  unseren  Brüdern  und  Schwestern,  der  Sonne,  dem 
Mond  und  den  Sternen,  dem  Wind  und  dem  Wasser,  den  Blumen  und 
den  Thieren.  In  der  Armuth,  die  nichts  Anderes  ist  als  die  Schwester 
der  Demuth,  durch  welche  die  Seele  wie  das  Auge  wird,  das  Alles 
sieht,  nur  sich  selbst  nicht,  war  ein  neues  Organ  für  die  Betrachtung 
Gottes  und  der  Welt  gewonnen.  Aber  die  Armuth  ist  nicht  nur  Nach- 
ahmung des  armen  Lebens  Jesu,  sondern  sie  ist  auch,  ja  vornehmlich, 
Nachahmung  des  apostolischen  Lebens,  des  bedürfnisslosen,  des 
„predigend  reisenden,  Liebe  beweisenden".  Die  älteste  Begel  des  hl. 
Franciskus  hat  dieses  Ideal  mit  höchster  Klarheit  vorgestellt  ^ 

Mit  jener  Gesinnung,  deren  Bew^eis  die  Armuth  und  Demuth  ist, 
soll  sich  die  Liebe  verbinden.  Die  paarweise  ausziehenden  neuen 
Apostel  sollen  in  demüthiger  Liebe  dienen;  sie  sollen  sich  für  keine 
Arbeit  zu  gering  achten;  sie  sollen  „pro  amore  Jesu  Christi  se  exponere 
inimicis  tam  visibiUbus  quam  invisibilibus" ;  sie  sollen  —  nach  der 
Bergpredigt  —  willig  Unrecht  erdulden;  sie  sollen  vor  Allem  in  Hütte 
und  Haus,  wohin  sie  nur  kommen,  den  Menschen  den  Liebesdienst  der 
Busspredigt  leisten,  ihnen  verkündigen:  „timete  et  honorate,  laudate 
et  benedicite,  gratias  agite  et  adorate  dominum  deum  omnipotentem  in 
trinitate  et  unitate  .  .  .  facite  paenitentiam ,  agite  dignos  fructus  paeni- 
tentiae,  quia  scitote  quod  cito  moriemur.  Date  et  dabitur  vobis, 
dimittite  et  dimittetur  vobis,  et  si  non  dimiseritis,  dominus  non 
dimittet  vobis  peccata  vestra.  Beati  qui  moriuntur  in  paenitentia, 
quia  erunt  in  regno  coelorum  etc."  '^.  Aber  die  Kraft  dieser  Liebe 
strömte  aus  dem  Vorbilde  Christi  und  seines  lebendigen  Jüngers, 
des  hl.  Franciskus,  der  das  Leben  und  das  Leiden  seines  Meisters 
immer  inniger  nachempfand.  Mehr  und  mehr  gnig  sein  Gefühl  in 
einem  einzigen  auf,  in  der  Liebe.  Dieses  Gefühl,  welches  bei  ihm 
so  stark  war,  dass  es  ihn  oft  überwältigte,  so  dass  er  sich  in  ein- 
same Kirchen  und  AVälder  zurückziehen  musste,  um  ihm  freien  Lauf 
zu  lassen,  war  die  Liebe  zu  Christus;  aber  es  vermählte  sich  immer 
inniger  mit  der  schrankenlosen  Hingebung  an  den  Nächsten,  mit  der 
Sorge  für  dessen  geistliches  und  leibhches  Wohl,  mit  dem  warmen 
Mitleid  und  der  Selbsterniedrigung  im  Dienste  der  Brüder.  So  schuf 
er  aus  Demuth  und  Liebe  sein  Leben  zu  einem  Gedicht  —  er,  der 
grösste  Dichter,  der  damals  gelebt;  denn  das  sinnliche  Element  seiner 
lebendigen  Natur  erscheint   schliesslich  nach  heisson  Kämpfen  nic^ht 


>  S.  Müller,  a.  a.  0.  S.  19  ff.    185  ff. 
''  \)W  Hegel  \im  1209,  H.  Miilh^r  S.  187 


366     Oeachichte  des  Dogmus  im  Zeitalter  der  Bettelorden  big  zum  16.  Jahrh. 

ausgetilgt,  sondern  überwunden  und  verklärt,  ja  umgestaltet  zum 
reinsten  Organ  des  Seelischen  '. 

Ein  grosses  Werk  der  inneren  Mission  ist  von  Pranciskus 
nicht  ins  Auge  gefasst,  sondern  begonnen  worden;  er  war  nicht  der 
Erste,  der  es  unternahm,  aber  er  war  der  Erste,  durch  welchen  es 
der  ganzen  Kirche  zu  Gut  kam :  die  Christeidieit  hat  wohl  den  rechten 
Glauben;  aber  sie  ist  nicht,  wie  sie  sein  soll.  Sie  steht  unter  den 
Priestern  und  Sacramenten •,  aber  es  gilt  nun  dem  Einzelnen. 
Er  soll  angefasst  und  zur  Busse  geführt  werden.  Das 
Evangelium  soll  jedem  Menschen  nahe  kommen:  aufs  neue  soll  durch 
einen  gewaltigen  Bussruf  die  Welt  erschüttert  und  von  dem  alten 
Wesen  befreit  werden:  wer  die  Süssigkeit  der  Christushebe  ge- 
schmeckt hat,  wird  sich  mit  Freude  zur  Busse  und  zur  Armuth 
kehren.  Aber  es  handelt  sich  nicht  nur  um  die  Mönche  oder  um  die 
Priester,  sondern  um  die  einzelnen  Christen,  die  Laien;  sie  sollen 
ebenso  für  ein  bussfertiges,  heihges  Leben  gewonnen  werden.  Die 
„Bussbrüder",  welche  dem  hl.  Franciskus  vorschwebten,  und  die  er 
erweckt  hat,  waren,  trotz  des  Verbleibens  im  Familienleben,  wirk- 
liche Asketen ,  die  sich  schroff  von  der  Welt  und  dem  bürgerlichen 
Leben  zurückziehen  und  vor  Allem  keine  Kriegsdienste  leisten  soll- 
ten. Der  gi'osse  Heilige  hat  noch  nicht  mit  der  Welt  capitulirt :  die 
späteren  Tertiarier  sind  so  wenig  seine  Schöpfung  wie  die  späteren 
Franciskaner  '^. 

Von  den  Mönchen  zu  den  Weltpriestern,  von  den  Weltpriestern 
zu  den  Laien  —  das  ist  der  Gang,  der  das  Christenthum  aus  der 
Säcularisirung  befreien  sollte ;  es  ist  zugleich  die  Geschichte  der  Er- 
weckung des  religiösen  Lidividualismus  im  Abendland.  Und  in  dem 
Masse,  als  die  Religion  extensiv  und  intensiv  weltflüchtiger  wird,  er- 
hält sie  —  paradox  und  doch  verständUch  genug  —  eine  höhere 
sociale  und  politische  Bedeutung,  dringt  tiefer  in  das  Volksleben  ein, 
entwickelt  sich  aus  der  aristokratischen  Gestaltung  —  so  war  sie  als 


n 


^  S.  die  schöne  Charakteristik  bei  Thode,  a.  a.  0.  59  ff. 

2  S.  Müller,  S.  117—144.  Eine  treffende  Charakteristik  des  Zwecks  des  hl. 
Franz  bei  Werner  (Duns  Scotus  S.  2):  „Der  ursprüngliche  Zweck  des  vom  hl. 
Franz  von  Assisi  gegründeten  Ordens  war  die  Erneuerung  des  urchristlichen 
Apostolates  mit  seiner  Armuth  und  Weltentsagung,  um  in  Kraft  dieser  Erneuerung 
auch  die  Kirche  selbst  im  apostolischen  Geiste  zu  erneuern,  das  Streben  nach  christ- 
licher Heiligkeit  und  Vollendung  allerwärts  in  den  Seelen  zu  wecken,  das  Beispiel  der 
unmittelbaren  Nachfolge  Christi  in  continuirlicher  lebendiger  Yeranschaulichung 
der  Welt  vor  Augen  zu  halten,  alles  Leid  und  Elend  mit  dem  Tröste  der  christlichen 
Barmherzigkeit  zu  trösten  und  in  aufopfernder  Hingebmig  den  geistlich  Verlassenen 
und  leibhch  Armen  Alles  zu  werden.** 


Die  franciskanische  Frömmigkeit.    Die  Waldenser.  367 

römische  zu  den  barbarischen  Nationen  gekommen  —  zu  einer  volks- 
thümUch-socialen  ^  Je  weiter  die  Monachisirung  fortschreitet,  desto 
mehr  sehen  sich  die  Virtuosen  der  Religion  gezwungen,  in  praktischen 
Aufgaben  sich  zu  bethätigen.  Indem  in  das  Ideal  der  Armuth  und 
asketischen  Entsagung  das  neue  Moment  des  apostolischen  Lebens 
aufgenommen  wurde,  erhielt  dasselbe  eine  immanente  ungeheure  Kraft 
der  Propaganda,  wie  das  Mönchthum  eine  solche  vorher  nie  be- 
sessen hat  und  wie  sie  auch  nicht  —  weder  früher  noch  jetzt  —  zu 
seinem  eigentlichen  Wesen  gehört.  AVo  das  „apostolische  Leben"  die 
Losung  wird,  da  tritt  sofort  die  Wendung  des  Mönchthums  zu 
positiver  Arbeit  im  Volke  hervor.  Im  11.  und  12.  Jahrhundert  han- 
delte es  sich  um  die  grosse  politische  Aufgabe  der  Entstaatlichung 
der  Kirche;  es  galt,  die  grossen  Mächte,  die  Fürstengewalt,  die  Ge- 
walt weltförmiger  Nationalbischöfe,  kurzum  das  Recht  aller  unfügsamen 
politischen  Factoren  zu  brechen.  AmSchluss  des  12.  und  im  13.  Jahr- 
hundert folgt  diesem  Unternehmen  die  positive  Evangelisirung 
und  VerkirchHchung  aller  Verhältnisse,  der  gesammten  Kultur  und 
des  individuellen  Lebens,  unter  dem  Zeichen  des  Apostolischen  auf 
dem  Fusse.  Das  Mönchthum  als  apostolisches  Leben  tritt  in 
diese  neue  Arbeit  ein,  wie  es  einst  in  den  Tagen  Clugny's  in  die  Ar- 
beit der  Entstaatlichung  der  Kirche  eingetreten  ist.  Und  wie  kräftig 
setzte  der  rehgiöse  Individuahsmus  bei  Franciskus  ein ,  wenn  er  es 
wagte,  sich  und  seinen  Jüngern  das  Vorbild  der  Apostel  vorzu- 
halten, und  sich  nicht  scheut,  den  Brüdern  zu  sagen,  dass  sie  sein 
können  und  sein  sollen,  was  die  Apostel  einst  waren,  und  dass  ihnen 
alles  das  gilt,  was  Christus  den  Aposteln  gesagt  hat. 

Er  war  nicht  der  Erste,  der  dieses  „apostolische  Leben"  erweckt 
hat.  AVir  kennen  aus  dem  12.  Jahrhundert  gewaltige  Erscheinungen, 
in   denen   der   neue   Trieb   bereits   zum  Ausdruck   gekommen   ist  ^. 

*  Vgl.  Thode,  a.  a.  0.  S.  521  f.:  „Der  Bettler  von  Assisi  ist  der  Repräsentant 
der  als  Ganzes  zu  einer  in  sich  begründeten,  selbständigen  Stellung  aufstrebenden 
grossen  unteren  Masse  des  Volks,  des  dritten  Standes,  zu  gleicher  Zeit  aber  auch 
der  Repräsentant  jedes  Einzelnen  aus  dieser  Masse,  wie  er  sich  selbst,  seiner  Rechte 
auf  Gott  und  die  Welt  bewusst  wird.  Mit  ihm  und  in  ihm  erfährt  die  mittelalter- 
Hche  Menschheit  die  volle  Gewalt  der  jedem  Einzelnen  innewohnenden  Gefühls- 
kraft, und  diese  innere  Erfahrung  führt  eine  von  den  dogmatischen  Allgemein- 
begriffen sich  befreiende  erste  Erkenntniss  des  eigenen  Wesens  mit  sich." 

'  S.  die  Sectengeschichtc  des  12.  Jahrhunderts,  vor  Allem  die  Waldenser,  vgl. 
Müller,  Die  Waldenser  und  ihre  einzelnen  Gruppen  bis  z.  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts 1880  und  die  ältere  grundlegende  Arbeit  von  Dieckhoff.  Der  Grund- 
gedanke der  waldensischen  Stiftung  ist  unzweifclliaft,  „die  Apostel  nachzuahmen 
und  desshalb  die  Vorschriften  buchstäblich  zu  beobachten,  die  der  Herr  in  der  Aus- 
sendungsrede Mattli.  10  seinen  wanderriden  Jüngern  ertheilt.    Das  Unternehmen 


368     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

Allein  diese  älteren  Bewegungen,  so  zähe  sie  sich  erhalten  haben 
(zum  Theil  trotz  ihrer  Verdammung  sich  katholisch  erhalten  haben), 
waren  zu  früh  gekonnnen  —  noch  war  der  Klerus  nicht  stark  und 
reif  genug,  sie  zu  ertragen,  und  es  fehlte  ihnen  ausserdem  das  Ele- 
ment der  unbedingten  Unterwürfigkeit  unter  die  Kirche,  genauer  unter 
den  Weltklerus,  und  des  grundsiitzlichen  Verzichtes  auf  die  Kritik 
an  der  Kirche '. 

zeigt  daher  überall  die  gleichen  Züge  wie  30  Jahre  später  derselbe  Versuch  des 
Franz  in  seinen  Anfängen :  Vertheilung  des  ganzen  Vermögens  an  die  Armen  und 
Verzicht  auf  alles  fernere  Eigenthum  nach  Matth.  19,  21.  29 ;  dann  die  apostolische 
Predigt  im  steten  Umherziehen  und  die  Einzelheiten  der  apostolischen  Tracht  und 
Methode  des  Wanderns.  Sie  gehen  zwei  und  zwei,  ohne  Schuhe,  nur  Sandalen  aus 
Holz  an  den  Füssen,  in  einfachen  Wollkleidern,  ohne  Geld.  So  ziehen  sie  von  Ort 
zu  Ort,  suchen  Herberge  und  Nahrung  bei  denen,  welchen  sie  das  Evangelium 
predigen  —  denn  der  Arbeiter  ist  seines  Lohnes  werth  —  und  verschmähen  jede  Sess- 
haftigkeit  und  eigene  Statt  in  Nachahmung  des  Menschensohnes,  der  nicht  hatte, 
wo  er  sein  Haupt  hinlegte."  Ein  Einfluss  der  Waldenser  auf  den  hl.  Fi-anz  muss 
stattgefunden  haben. 

^  Schon  von  Lucius  III.  (1184)  wurden  die  „Annen"  mit  dem  Bann  belegt. 
Ueber  ihre  Verbreitung  in  Oberitalien,  wo  sie  durch  den  Orden  der  Humiliateii 
vorbereitet,  aber  erst  durch  Waldes  erweckt  worden  sind,  über  das  Verhältniss  der 
lyoneser  Armen  zu  den  lombardischen  und  über  den  Bruch  zwischen  diesen  und 
Waldes  s.  Müller,  a.  a.  0.  S.  11 — 65.  Die  Ansicht,  dass  die  Wirkungskraft  der 
Sacramente  von  der  Würdigkeit  des  Spendenden  abhänge  —  unter  den  damaligen 
Umständen  ein  Revolutionsprincip  — ,  ist  bei  den  lombardischen  Armen  vor  1211 
aufgekommen.  Sie  war  an  sich  geeignet,  den  Zusammenhang  mit  der  alten  Kirche 
völlig  zu  sprengen  und  ist  vielleicht  mit  ein  Grund  gewesen,  dass  es  zum  Bruch 
zwischen  den  lyoneser  und  den  lombardischen  Armen  kam.  Jene  standen  der  römi- 
schen Kirche  nicht  so  schroft'  gegenüber  wie  diese.  Sie  hielten  sie  nicht  für  das 
Antichristenthum,  rechneten  sie  vielmehr  in  die  grosse  Gemeinschaft  der  Getauften 
ein  und  erkannten  auch  ihre  Sacramentsverwaltung  an.  Allein  sie  machten  es  der 
römischen  Kirche  zum  schweren  Vorwurf,  dass  ihre  Hierarchie  die  apostolischen 
Gewalten  ausübe,  ohne  das  apostolische  Leben  in  Armuth  und  Heimathlosigkeit  auf 
sich  zu  nehmen  (s.  die  Forderung  der  Didache  in  Bezug  auf  die  Qualitäten  der 
Apostel  und  Propheten).  Sie  bestritten  nicht  die  Vollmacht  der  rite  geweihten, 
von  den  Aposteln  ihre  Würde  ableitenden  Bischöfe;  aber  sie  sahen  es  als  eine 
Todsünde  an,  dass  sie  sich  weigerten,  wie  die  Apostel  zu  leben.  Eine  gewisse  Un- 
sicherheit in  der  Stellung  zur  römischen  Kirche  war  die  Folge.  Die  richterlichen 
und  gesetzgeberischen  Vollmachten  der  Hierarchie  wurden  doch  bestritten  oder 
mindestens  eingeschränkt.  Allein  da  die  „Brüder"  die  von  ihnen  gewonnenen 
„Freunde"  (die  „Gläubigen")  nicht  zu  Gemeinden  organisirten,  vielmehr  in  den  alten 
Verbänden  Hessen,  so  war  die  Stellung  der  herrschenden  Kirche  zu  den  Brüdern  und 
ihrem  Anhang  eine  viel  klarere  und  schroffere  als  umgekehrt.  Die  französische 
Stammesgenossenschaft  der  Waldenser  ist  nicht  eine  evangelische,  auf  der  Idee  des 
allgemeinen  Priesterthums  aufgebaute,  neue  Gemeinde,  sondern  „die  Secte  selbst 
ist  gar  nichts  Anderes  als  eine  Hierarchie,  welche  auf  den  Gedanken  des  apostolischen 
Lebens  und  der  Forderung  einer  besouder-en  ethischen  Vollkonnnenheit  gegründet, 


Die  franciskanische  Frömmigkeit.   Die  Waldenser.  369 

Denn  dieses  ist  das  dritte  Element  in  der  Frömmigkeit  des  hl. 
Franciskus  —  die  kindliche  Zuversicht  zu  der  Kirche  und  der  un- 


sicli  der  römischen  Hierarchie  zur  Seite  stellt,  um  in  einer  Organisation,  welche 
wenigstens  die  Grundformen  der  letzteren  theilt,  die  Predigt  zu  treiben,  die  sacra- 
mentale  Busse  zu  spenden  und  in  ihrer  eigenen  engsten  Mitte  das  Abendmahl  zu 
feiera.  Von  dem  allgemeinen  Priesterthum  ist  so  wenig  die  Rede,  dass  die  Laien 
überhaupt  gar  nicht  zur  Secte  gehören,  dass  vielmehr  erst  die  Weihe  zu  einem  der 
drei  hierarchischen  Grade  die  Mitgliedschaft  verleiht"  (s.  Müller  S.  93  ff.  und  vgl. 
als  Parallele  die  Art,  wie  die  Irvingianer  jetzt  Propaganda  treiben  und  sich  zur 
communitas  baptizatorum  stellen).  Die  altüberlieferte  Kirchenlehre  ist  auch  von 
den  Waldensern  nicht  angetastet  worden.  Nur  in  gewissen,  in  das  Praktische  ein- 
schlagenden, übrigens  noch  nicht  sicher  formulirten  Lehren  wichen  sie  ab.  So  ver- 
warfen sie  das  Fegefeuer  und  billigten  daher  auch  die  Kirchenpraxis  nicht ,  welche 
mit  der  Vorstellung  von  demselben  zusammenhing  (d.  h.  alle  Veranstaltungen,  die 
ins  Jenseits  hinüberwirken  sollten).  Die  Verwerfung  des  Schwörens,  des  Kriegs- 
dienstes, der  staatlichen  Gerichtsbarkeit  und  alles  Blutvergiessens  ergab  sich  ihnen, 
wie  so  vielen  mittelalterlichen  Secten,  einfach  aus  der  Bergpredigt.  Dagegen  hat 
die  lombardische  Abzweigung  (die  in  Deutschland  Propaganda  machte)  eine  viel 
radicalere  Stellung  zur  römischen  Kirche  eingenommen  (s.  Müller  S.  100  ff.). 
Blieb  sie  auch  in  der  Hauptsache  auf  dem  Ständpunkt  der  französischen  Stamm- 
gruppe (geschlossene  Genossenschaft,  aber  lediglich  der  apostolisch  lebenden 
Männer  und  Frauen;  Verwaltung  des  Busssacraments ;  Belehrung  der  „Freunde" 
durch  die  Predigt),  so  sah  sie  doch  in  der  römischen  Kirche  lediglich  den  Abfall, 
den  sie  in  späterer  Zeit  auf  die  konstantinische  Schenkung  (vgl.  die  Spiritualen)  zu- 
rückführte. Diese  Kirche  erschien  ihnen  demgemäss  als  die  Synagoge  der  Uebel- 
thäter  und  als  die  Hure,  ihre  Priester  und  Mönche  als  Schriftgelehrte  und  Phari- 
säer, ihre  Mitglieder  als  Verlorene.  Also  sind  auch  alle  Einrichtungen ,  Weihen, 
Sacramente  und  Handlungen  dieser  Kirche  zu  verwerfen.  Schlechthin  Alles,  vor 
Allem  auch  der  Papst  und  die  Messe,  dann  alle  rechtlichen  Einrichtungen  ebenso- 
wohl wie  alle  kultischen  verfallen  dem  Urtheilsspruch.  Man  vermag  also  hier  Zeug- 
nisse in  Fülle  zu  sammeln  für  den  „evangelischen"  Charakter  dieser  Lombarden, 
welche  jede  kirchliche  Gliederung  der  Christengemeinde,  allen  Prunk,  Reichthum, 
Lichter,  Weihrauch,  Weihwasser,  Processionen,  Wallfahrten,  Gewänder,  Ceremonien 
u.  s.  w.  verwerfen  und  dafür  Unterstützung  der  Armen  verlangen,  welche  vom 
Marien-  und  Heiligendienst  nichts  wissen  wollen  und  den  Heiligenwundern  ebenso 
ungläubig  gegenüberstehen,  wie  den  Reliquien,  welche  —  wenigstens  ursprünglich  — 
das  ganze  sacramentale  System  der  Kirche  verworfen  und  sowohl  die  Zahl  der  Sacra- 
mente beschränkt  als  die  Giltigkeit  derselben  nur  unter  der  Bedingung  anerkannt 
haben,  dass  der  Priester  von  einer  Todsünde  frei  sei.  Allein  in  Wahrheit  war  diese 
Stellung  zur  heiTschendcn  Kirche  von  Anfang  an  vielfach  nur  eine  „akademische", 
sofern  der  grosse  Kreis  der  „Freunde",  d.  h.  des  Anhangs,  keineswegs  wirklich  die 
römische  Kirche  so  beurtheilte,  sondern  im  Sacramentsverbande  blieb.  Ferner 
zeigt  die  höchst  mangelhafte  Begründung  dieses  radicalcn  Gegensatzes  bei  den 
Brüdern  selbst,  dass  er  mehr  die  Folge  des  äusseren  aufgezwungenen  Bruches,  resp. 
der  Armuthslehre,  gewesen  ist,  als  das  Ergebniss  einer  sachhchen  religiösen  Kritik. 
Endlich  bestätigt  sich  diese  Auffassung  dadurch,  dass  sich  die  Brüder  nachweisbar 
von  Anfang  an  eine  Hinterthür  gelassen  haben,  um  die  Sacramentsspendung  eines 
Todsünder«  doch  anerkennen  zu  können  (sie  sagten,  der  würdige  Christ  empfange 
Harnack,  DogmengeHchidiff  III.  24 


370     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

bedingte  Gehorsam  gegen  den  Weltklerus.  „Omnes  fratres",  lieisst 
es  in  der  Regel  von  1209,  „sint  catliolici,  vivant  et  loquantur  catho- 
lice  ...  et  omnes  clericos  et  omnes  religiosos  luibeanius  pro  dominis 
in  bis   quae   spectant   ad  saluteni   aniniae  et  a  nostra  religione  non 

dann  direct  von  dem  Herrn  bei  der  Spendung  die  sacramentale  Gnade).  Auch 
haben  sie  sich  in  der  Folgezeit  immer  mehr  der  Kirche  und  ihrer  Sacraments- 
verwaltuug  genähert,  theils  aus  praktischen  Gründen  (um  nicht  erkannt  zu  werden), 
theils  weil  die  Zuversicht  zu  den  eigenen  „apostolischen"  Gewalten  inmier  schwächer 
wurde  und  man  sehnsüchtig  und  mit  mehr  Vertrauen  auf  die  katholischen  Weihen 
sah.  So  ist  die  ganze  Bewegung  im  Grunde  keine  dogmatische  gewesen.  Sie  ist 
einerseits  —  wenn  man  rücksichtslos  die  Consequenzen  ziehen  wollte  —  zu  radi- 
cal,  um  in  der  Dogmengeschichte  eine  Rolle  zu  spielen  (das  Christenthum  ist  das 
apostolische  Ijebcn),  andererseits  zu  conservativ,  du  sie  schlechterdings  nichts 
Katholisches  mit  gutem  Gewissen  und  klarer  Einsicht  beseitigt  hat.  Sie  ist  eine 
Erscheinung  in  der  Geschichte  der  katholischen  Frömmigkeit,  mag  es  auch  inner- 
halb der  Dogmengeschichte  denkw^ürdig  sein,  dass  der  ganze  hierarchisch-sacramen- 
tale  Apparat  der  Kirche  in  Frage  gestellt  wurde.  Wäre  die  Bewegung  ein  Menschen- 
alter später  eingetreten,  so  hätte  die  Kirche  wohl  Mittel  gefunden,  sie,  wie  die 
franciskanische ,  sich  einzugliedern.  Der  Versuch  ist  auch  in  den  „katholischen 
Armen"  des  bekehrten  ehemaligen  französischen  Waldensers  Durandus  von  Huesca 
und  des  bekehrten  lombardischen  Armen  Bernhard  Primus  gemacht  worden;  allein 
es  gelang  nicht  mehr,  die  ganze  Bewegung  durch  diese  approbirten  „  Armen"  in  das 
Bett  der  Kirche  zurückzuleiten  (Müller  S.  16  ff.).  Erst  in  den  Bettelorden  ist  die 
gewaltige  Gegenbewegung  organisirt  und  dauernd  (vgl.  die  ausgezeichneten  Finger- 
zeige Mülle  r 's,  Waldenser  S.  65  ff.,  über  die  Zusammenhänge  der  Bestätigung  der 
Gesellschaft  des  Durandus,  des  Dominikus  und  des  Franciskus,  dess.,  Anfänge  des 
Minoritenordens  S.  43.  69  f.,  und  den  vielleicht  antiwaldensischen  Passus  in  der 
Regel  von  1209  S.  187:  „nulla  penitus  mulier  ab  aliquo  fratre  recipiatur  ad 
obedientiam").  Die  Bettelorden,  voran  der  des  Dominikus,  kehrten  natürlich  nicht 
nur  gegen  die  nicht  approbirten  „Armen"  ihre  Spitze,  sondern  gegen  die  Sectirerei 
überhaupt.  Auf  diese  in  der  Dogmengeschichte  einzugehen,  liegt  kein  Grund  vor; 
denn  so  hoch  ihre  Bedeutung  in  kirchenpolitischer  und  socialer  Hinsicht  anzuschlagen 
ist  und  so  gewiss  sie  auch  ein  Zeugniss  dafür  sind,  dass  sich  die  Frömmigkeit  in  dem 
tyrannischen  Gebäude  der  römisclien  Kirche  und  unter  ihren  Priestern  und  Cere- 
monien  beengt  fühlte,  so  gänzlich  einflusslos  sind  die  mittelalterlichen  Secten  in  Be- 
zug auf  die  Dogmenentwickelung  geblieben.  Man  kann  nicht  einmal  sagen,  dass 
sie  die  Reformation  vorbereitet  haben;  denn  die  Lockerung,  welche  sie  partiell 
herbeiführten,  ist  keine  Vorbedingung  derselben  gewesen.  Diese  hat  vielmehr  in 
den  zwischen  der  römischen  Kirche  und  den  dualistischen  (oder  pantheistischen) 
Secten  schwebenden  Controversen  durchweg  Stellung  auf  Seiten  der  ersteren  ge- 
nommen. Vorbereitend  für  die  Reformation  hat  stets  nur  —  auf  theologischem  Ge- 
biet (von  der  Entwickelung  der  Idee  des  Staates  und  der  natürlichen  Rechte  ab- 
gesehen) —  der  wieder  erweckte  Augustinismus  und  die  mit  ihm  verschwisterte 
Subjectivität  der  Mystik  gewirkt.  Solange  man  es  also  für  zweckmässig  hält,  die 
Dogmengeschichte  nicht  als  Kultur-  oder  Universalgeschichte  zu  behandeln,  wird 
man  von  Erscheinungen,  wie  die  der  Katharer,  Albigenser  u.  s.  w.,  hier  absehen 
müssen. 


Die  franciskanische  Frömmigkeit.  371 

deviant,  et  ordinem  et  officium  eorum  et  administrationem  in  domino 
veneremur"  (s.  die  Regel  von  1221  c.  19).  Dass  eine  Natur  wie  der 
hl.  Franciskus  sich  durch  nichts  Aeusseres  bedrückt  fühltC;  dass 
er  auch  noch  unter  ganz  anderen  Lasten^  als  die  Kirche  sie  damals 
auferlegte,  die  innere  Freiheit  und  reine  Heiterkeit  seiner  Seele  zu 
bewahren  vermocht  hätte,  dass  er  aus  seinem  Wesen  hätte  heraus- 
treten müssen,  wenn  er  irgend  etwas  „aufzulösen"  unternommen 
hätte,  leuchtet  ein.  Ihm  war  der  Gehorsam  gegen  alle  bestehenden 
Ordnungen  ebenso  Bedürfniss  wie  die  Demuth,  und  niemals  ist  wohl 
der  Schatten  eines  Nachdenkens  darüber,  ob  die  Hierarchie  ist  wie 
sie  sein  soll  und  ob  sie  überhaupt  sein  soll,  in  die  Seele  dieses  reinen 
Thoren  gefallen.  Aber  wie  konnte  es  ausbleiben,  dass  das  Ideal  der 
Armuth  und  das  Ideal  des  Gehorsams  in  Spannung  geriethen?  Wir 
können  hier  nicht  die  Geschichte  des  Minoritenordens  aufrollen.  Es  ist 
bekannt,  mit  welchem  Misstrauen  er  Anfangs  beim  Weltklerus,  nament- 
lich in  Frankreich  (aber  auch  bei  den  älteren  Orden),  zu  kämpfen  hatte, 
und  wie  sich  hier  die  Verhältnisse  wiederholt  haben,  welche  man  bei  der 
Einbürgerung  des  Mönchthums  am  Ende  des  4.  und  Anfang  des  5.  Jahr- 
hunderts im  Abendland  beobachtet.  Es  ist  ferner  bekannt,  dass  die 
„Armuth"  das  grosse  Thema  in  der  Geschichte  des  13.  und  14.  Jahr- 
hunderts gewesen  ist,  dass  man  über  sie  ebenso  hartnäckig  und  leiden- 
schaftlich gestritten  hat,  wie  im  4.  bis  6.  Jahrhundert  über  die  Naturen 
Christi,  und  dass  in  diesem  Streit  ebenso  künstliche  und  kluge  Formeln 
aufgetaucht  sind,  wie  zu  Chalcedon  und  Konstantinopel.  Für  Tausende 
war  der  Streit  um  die  Armuth  der  Streit  um  das  Evangelium  selbst. 
Die  Formeln  der  alten  Dogmatik  wurden  durch  diesen  Streit  wenig 
oder  gar  nicht  betroffen;  aber  sie  sanken  so  zu  sagen  in  den  Boden. 
In  eine  praktische  Frage  der  Lebensführung  drängte  sich  die  Frage 
nach  dem  Wesen  des  Evangeliums  zusammen.  Auch  ohne  auf  die  klein- 
meisterliche Behandlung  zu  sehen,  erscheint  uns  die  Fragestellung  selt- 
sam ungenügend.  Allein  die  „Armuth"  war  doch  nur  der  letzte  Aus- 
druck für  die  ganze  Summe  der  Christus  nachahmenden  Tugenden.  Es 
war  ein  ungeheurer  Fortschritt  aus  dem  todten  Glauben  und  dem 
öden  Dienst  der  Ceremonien  und  Werke  zu  geistiger  Freiheit  in  der 
Religion  und  zu  einem  ernsten  persönlichen  Christenthum,  welcher  durch 
die  Losung  der  „Armuth"  bezeichnet  ist.  Der  neue  Orden  ging  bald  in 
verschiedene  Richtungen  auseinander.  In  der  einen  Hauptrichtung, 
der  letztlich  unterwürfigen,  hat  er  gewiss  in  den  ersten  Menschen- 
altem  seines  Bestehens  Unschätzbares  gewirkt.  Seine  Predigt  hat 
ernstes  christliches  lieben  entzündet,  ja  sie  hat  in  vielen  Gegenden 
überhaupt  erst  ein  individuelles  (Jhristenthum  bei  den  Laien  erzeugt  — 

24* 


372     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

SO  in  Deutschland.  Allein  indem  es  aufs  festeste  an  den  Beichtstuhl, 
den  Priester,  die  Sacramente  und  den  Papst  gekettet,  indem  alles 
Freiere  —  gerade  von  den  Bettelorden  —  als  Sectirerei  niedergehalten 
oder  ausgerottet  wurde ,  wurde  dieser  individuellen  Frömmigkeit  der 
Laien  doch  nur  eine  subalterne  Existenz  gestattet.  AVas  die  Minoriten 
der  Hierarchie  an  Opfern  darbringen  mussten  —  nicht  w^eniger  als  das 
Hauptstiick  ihres  ursprünglichen  Ideals,  nur  der  Schatten  blieb  nach 
—  dafür  entschädigten  sie  gleichsam  ihr  Gewissen  durch  die  bisher 
unerhörte  Energie,  mit  der  sie  den  Zwecken  der  weltherrschenden 
Kirche  dienten,  die  Laien  an  sie  banden  und  für  sie  interessirten.  Hier 
auf  dieser  letzten  Stufe  also  war  der  Feind,  den  die  Kirche  in  ihrer 
eigenen  Mitte  hatte,  noch  einmal  bezwungen:  die  ungeheure  Kraft  des 
weltflüchtigen  Christenthums  ^  welches  die  poHtische  Herrschaft  der 
Kirche  bedrohte,  erscheint  als  ihr  dienstbar  gemacht;  der  „eximirte" 
Orden  wird  neben  dem  Predigerorden  ihre  sicherste  Stütze. 

Aber  in  anderen  Richtungen  war  der  Gehorsam  nicht  mächtig 
genug,  um  jene  Kraft  zu  beugen  K  Die  „Armuth"  wandte  sich  gegen 
die  reiche  und  weltförmige  Kirche,  und  als  sie  bedroht  und  geknebelt 
werden  sollte,  brach  sie  aus.  Sie  kündigte  der  Kirche  den  Dienst; 
sie  verband  sich  mit  alten  apokalyptischen  Vorstellungen,  die  lange 
schon  im  Finstern  geherrscht  hatten;  sie  nahm  die  Kritik  der  „lom- 
bardischen Armen"  auf;  sie  kam  den  neuen  socialen  und  sogar  den 
neuen  territorialistischen  Ideen,  den  sich  heranbildenden  Vorstellungen 
von  dem  eigenen  Rechte  der  Völker  und  der  Einzelnen,  der  Staaten 
und  der  Fürsten,  entgegen  ^.  Sie  war,  indem  sie  die  Kirche  für  Babel 
und  die  Hierarchie  für  das  Antichristenthum  erklärte,  nicht  wählerisch 
in  ihrer  Bundesgenossenschaft.  Sie  Hess  die  Dogmatik  der  Kirche 
unangetastet;  aber  sie  erklärte  dieser  selbst  den  Krieg  —  ein  Unter- 
nehmen, so  widerspruchsvoll,  dass  es  nur  im  Mittelalter,  im  Zeitalter 
der  Widersprüche  und  Illusionen,  mögHch  gewesen  ist;  denn  besass 
diese  Kirche  an  ihrer  Dogmatik  nicht  den  sichersten  und  förmlichsten 


*  Es  mischte  sich  freilich  auch  viel  Persönliches  ein,  wie  man  an  dem  inter- 
essantesten älteren  Franciskaner,  Elias  von  Cortona,  studiren  kann. 

-  S.  die  Schriften  Joh.  de  Oliva's  und  Ubertino's  de  Casale  (beide  standen 
unter  dem  Einfluss  der  Schriften  Joachim's  von  Fiore).  Die  staatsfreundliche  Ge- 
schichtsbetrachtung im  Gegensatz  zur  verweltlichten  Kirche  schon  in  der  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  (und  auch  bei  Dominikanern):  s.Voelter  i.  d.  Ztschr.  f.  K.-Gesch. 
IV  H.  3.  Ueber  die  „Spiritualen"  und  die  nicht  mit  ihnen  zu  ideutificirendeu 
„Fraticellen"  sowie  über  die  Kämpfe  z.  Zt.  Johann's  XXII.  und  Lud\A'ig's  des 
Bayern  s.  Ehrle  im  Archiv  f.  Litt.-  u.  K.-Gesch.  des  Mittelalters  Bd.  I.  und  II, 
Müller,  Kampf  Ludwig's  des  Bayern  1879  f.,  ders.  i.  d.  Ztschr.  f.  K.-Gesch.  VT, 
H.  1,  Gudenatz,  Michael  von  Cesena  1876, 


I 


Universalität  der  Bettelordenbewegung.   Folge  für  das  Dogma.  373 

Rechtstitel  ?  Nur  in  einem  Zweige  (den  Fraticellen)  wurde  der  Wider- 
spruch so  radical,  dass  die  Grenzen  gegenüber  den  ketzerischen  Secten 
(Apostelbrüder,  Begharden)  unsicher  wurden. 

Aus  diesen  letztgenannten  Richtungen  hat  sich  nichts  Dauerndes 
entwickelt  ^  Die  universalgeschichtliche  Bedeutung  der  ungeheuren 
Bewegung  der  Bettelorden  lässt  sich  überhaupt  nicht  an  neuen  Lehren 
und  Institutionen  nachweisen,  obgleich  solche  nicht  ganz  gefehlt  haben, 
sondern  sie  liegt  in  der  religiösen  Erweckung^  die  sie  während  eines 
Zeitraums  von  150  Jahren  —  ja,  wenn  man  von  einer  Periode  der 
Erschlajffung  der  Orden  absieht,  eines  Zeitraums  von  300  Jahren  — 
hervorgerufen  haben.  ..Der  Einzelne  begann  über  die  Heilswahrheiten 
der  christlichen  Religion  nachzusinnen,  selbst  in  ein  persönHches  Yer- 
hältniss  zu  derselben  zu  treten."  Das  ist  die  höchste  Bedeutung  der 
Bettelordenbewegung.  In  diesem  Sinne  sind  die  Orden  eine  Vorstufe  der 
Reformation  geworden.  Aber  indem  die  Religion  in  die  Kreise  der 
Laien  hineingetragen  und  hier  selbständiges  rehgiöses  Leben  angeregt 
wurde,  ergab  es  sich  von  selbst,  dass  über  der  Unversehrtheit  des 
alten  Dogmas  nun  mit  doppelter  Aufmerksamkeit  gewacht  werden 
musste.  Solange  sich  dasselbe  in  den  Händen  der  Priester  und 
Theologen  befindet,  kann  es  immer  noch  eine  gewisse  Freiheit  be- 
wahren, ja  diese  ist  ihm  hier  natürlich.  Sobald  aber  die  Laien  für 
das  kirchliche  Christenthum   als  Denkende   interessirt  werden,   wird 

*  Das  Husitenthum  hat  später  einen  grossen  Theil  der  franciskanischen  und 
joachimisch-franciskanischen  Elemente  in  sich  aufgenommen  und  verarbeitet 
(s.  Müller,  Bericht  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Forschung  auf  dem  Gebiet 
der  vorreformatorischen  Zeit,  in  den  Vorträgen  der  theolog.  Conferenz  zu  Giessen 
1887  S.  44),  und  da  es  über  Böhmen  hinaus  unter  dem  dritten  Stand  eine  weite 
Verbreitung  fand,  hat  es  die  grosse  täuferische  Bewegung  und  die  socialen  Revolu- 
tionen des  16.  Jahrhunderts  vorbereitet.  Allein  dauernde  Schöpfungen  sind  hier  so 
wenig  hervorgegangen  wie  nachhaltige  Einflüsse  auf  die  grosse  Kirche.  Aber 
kirchen-  und  kulturgeschichtlich  ist  das  Studium  der  gewaltigen,  im  Grunde  ein- 
heitlichen Bewegung,  die  mit  dem  JoachimiHinus  begann  und  mit  den  Husitcn  und 
Täufern  abschliesst,  von  höchstem  Interesse.  Wie  die  Aufklärung  im  18,  Jahr- 
hundert und  die  romantischen  Ideen  im  19.,  so  zog  der  Joachimismus  im  13.  durch 
Europa  —  keine  neue  Dogmatik,  aber  eine  neue  Betrachtung  der  Geschichte  und  der 
höchsten  Aufgaben,  tröstlich  den  Ernstgesinnten,  weil  er  ihnen  schmeichelte;  vgl. 
z.B.  die  Chronik  Salimbene's  (Michael,  Salimbene  und  seine  Chronik,  Inns- 
bruck 1889).  Wunderbar,  dass  in  der  entlegensten  Landschaft  Südeuropas,  im  Sila 
gebirge,  diese  Bewegung  begonnen  hat!  Sie  ist  noch  immer  zu  wenig  studirt, 
während  sie  doch  für  uns  die  hellste  aller  der  Epochen  ist,  in  welchen  der  Prophetis- 
mu8  eine  Rolle  gespielt  hat.  Wo  Propheten  aufstehen  und  Anklang  finden,  da 
folgen  Fälschungen  auf  dem  Fusse.  Die  Geschichte  des  Joachimismus  ist  aber  die 
typische  Geschichte  alles  Projjhetenthums  überhau])t.  Wie  es  sich  in  der  Welt 
einzurichten  vermag,  auch  dafür  bietet  Salimbene  schöne  Beispiele. 


374     (iescliidite  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jaluli. 

(las  Dogma  ausserordentlich  emptindlich.  Die,  denen  die  Sorge  für 
die  religio  publica  anvertraut  ist,  müssen  —  wie  die  Bettelorden  das 
gethan  haben  —  eifersüchtig  über  demselben  wachen,  soll  nicht  eine 
allgemeine  Verwilderung  der  religiösen  Speculationen  die  Frucht  des 
allgemeinen  Interesses  werden.  Rücksichtslos  muss  nun  der  Mass- 
stab des  kirchlich  fest  Fixirten  überall  zur  Anwendung  kommen,  zumal 
wenn  die  Kirchenpraxis  der  Gegenwart  corrigirt  werden  soll.  Anderer- 
seits verlangen  die  kirchlich  frommen  Laien  selbst,  dass  das  Dogma 
als  ein  rocher  de  bronze  dastehe,  und  sie  empfinden  jede  Bewegung 
oder  Veränderung  desselben  als  eine  Beeinträchtigung  ihres  persön- 
lichen Christenstandes.  Dies  war  die  Situation,  die  sich  in  den  drei 
Jahrhunderten  vor  der  Reformation  immer  sicherer  einbürgerte.  Je 
weitere  Kreise  sich  in  der  Behgion  wirklich  heimisch  zu  machen 
suchten,  um  so  mehr  wuchs  auch  die  Zahl  der  Sectirer  aller  Art, 
um  so  unantastbarer  erschien  aber  auch  den  kirchhch  Treuen  das 
alte  Dogma,  und  um  so  grössere  Anstrengungen  machte  die  Hierarchie, 
alles  „Ketzerische"  niederzuwerfen.  Das  Dogma  war  von  Anfang  an 
auch,  ja  vornehmlich,  als  Rechtsordnung  zu  den  mittelalterlichen  Völ- 
kern gekommen.  Eine  solche  musste  es  um  so  mehr  bleiben,  je 
lebendiger  und  mannigfaltiger  sich  das  geistliche  Leben  entwickelte : 
sonst  war  es  um  die  Einheit  der  Kirche  geschehen.  Mit  aller  Energie 
musste  mindestens  die  fides  implicita  verlangt  werden,  d.  h.  der  respect- 
volle  Gehorsam.  So  ist  die  Erweckung,  die  sich  in  Deutschland  seit 
der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  fort  und  fort  gesteigert  zu  haben 
scheint,  der  ünwandelbarkeit  des  Dogmas  zu  Gut  gekommen.  In  der 
Vorstellung  war  es  stets  unwandelbar  gewesen;  aber  nun  knüpfte  sich 
ein  höchst  actuelles  Interesse  an  die  WirkUchkeit  dieses  Unwandel- 
baren. 

Die  Geschichte  der  Frömmigkeit  in  den  letzten  Jahrhunderten  vor 
der  Reformation  ist  eine  Kette  von  Busspredigten  und  Erweckungen, 
von  Reformen  zur  Verinnerlichung,  welche  die  ganze  Christenheit  er- 
greifen soll.  Nur  in  den  Hauptpunkten  haben  wir  uns  über  sie  zu 
Orientiren.  Hier  kommt  zunächst  der  Bund  der  Bettelorden  mit  der 
Mystik  in  Betracht. 

Unter  Mystik  ist,  wie  oben  ausgefüln-t  worden,  nichts  Anderes  zu 
verstehen,  als  die  theologische  Frömmigkeit  (Contemplation)  mit 
reflexiver  Abz weckung  nach  dem  Muster  Augustinus  und  des  Areopa- 
giten,  befruchtet  (indessen  nicht  durchweg)  durch  die  bernhardinische 
Hingabe  an  Christus.  Dass  diese  Theologie  den  Stimmungen  der  Bettel- 
mönche, sobald  sie  sich  auf  Theologie  überhaupt  einliessen,  congenial 
war,  Hegt  auf  der  H?ind.   Bonaventura,  Albertus  und  Thomas  iVquinas 


I 


^    Die  Bettelorden  und  die  Mystik.  375 

sind  die  grössten  Mystiker  gewesen,  nicht  obgleich,  sondern  weil  sie 
Theologen  und  Bettelmönche  waren  K   Dasselbe  gilt  von  David  von 
Augsburg  und  Theodorich  von  Freiburg.   Man  hat  weitläufige  Unter- 
suchungen angestellt,  um  die  Mystiker  zu  classificiren,  und  eine  scho- 
lastische, eine  romanische  und  eine  deutsche,  eine  katholische,  eine  evan- 
geHsche  und  eine  pantheistische Mystik  unterscheiden  zu  können  gemeint. 
Allein  die  Unterschiede  sind  im  Grunde  ohne  Belang.   Die  Mystik 
ist  immer  dieselbe;  sie  ist  vor  Allem  nicht  national  oder 
confessionell  unterschieden.   Die  Dijfferenzen  betreffen  niemals 
ihr  Wesen,  sondern  stets  nur  entweder  das  Mass,  die  Art  und  die 
Energie  ihrer  Anwendung  oder  das  Vorwalten  der  Abzweckung  auf 
den  Intellect  oder  auf  den  Willen.   Auch  hier  handelt  es  sich  nur 
um  graduelle  Unterschiede,  und  zugleich  zeigt  die  letztgenannte  Diffe- 
renzirung  wiederum  sehr  deutlich  die  volle  Verschwisterung  der  Mystik 
mit  der  objectiven  Theologie;  denn  aus  dieser  stammt  jene  Unterschei- 
dung.  Die  Mystik  ist  die  katholische  Frömmigkeit  über- 
haupt, soweit  dieselbe  nicht  blosser  kirchlicher  Grehor- 
sam,  d.  h.  fides  implicita  ist.    Eben  desshalb  ist  die  Mystik  nicht 
eine  G-estalt  der  vorreformatorischen  Frömmigkeit  neben  anderen  Ge- 
stalten —  etwa  gar  die  latent  evangehsche  — ,  sondern  sie  ist  die 
kathohsche  Ausprägung  der  individuellen  Frömmigkeit  überhaupt. 
Das  reformatorische  Element,  welches  man  ihr  zuspricht,  liegt  hier  ledig- 
hch  darin,  dass  die  Mystik,  d.  h.  die  kathohsche  Frömmigkeit,  in  einer 
bestimmten  Richtung  entwickelt,  zu  der  Erkenntniss  der  eigenen  Ver- 
antwortlichkeit der  Seele  geführt  wird,  die  ihr  keine  Autorität 
mehr  abnehmen  kann,  und  dass  sie  damit  zugleich  sich  vor  die  Frage 
der  certitudo  salutis  gestellt  sieht,  die  für  sie  nun  nicht  mehr  verschwin- 
den kann,  bis  sie  in  der  That  des  Glaubens  gelöst  ist.   Allein  dort,  wo 
jene  Frage  sichergestellt  ist,  weist  die  Mystik  über  sich  selbst 
hinaus;  denn  der  ganze  Aufriss,   in  dem  sie  sich  bewegt, 
gestattet  immer  nur  eine  unendlich  fortschreitende  An- 
näherung an  die  Gottheit,  lässt  aber  niemals  das  stetige 
Gefühl  eines  gcwissenBesitzcs  aufkommen.  Dass  man  als  Christ 
immer  im  Werden  sein  muss,  hat  die  katholische  Frömmigkeit  richtig 
erkannt;  aber  es  ist  ihr  nicht  hell  und  friedevoll  aufgegangen,  dass  dieses 
Werden  an  der  sicheren  Zuversicht  auf  den  gnädigen  Gott,  also  an  der 
Seligkeit,  seinen  festen,  unverherbaren  Grund  haben  kann  und  soll.  Wie 


*  Sehr  richtig  Herrmann  (Verkehr  des  Christon  mit  Gott  S.  100):  „Die 
(heutigen)  Liehhaber  der  Mystik  bieten  in  verkleinertem  Massstab  dasselbe  Schau- 
spiel, wie  die  grossen  Scholastiker :  von  dem  Werke  ihres  Glaubens  wollen  sie  aus- 
ruhen in  einer  mystischen  Frömmigkeit." 


37H     Geschichte  des  Dügniiis  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

dorn  katholischen  Christenthum  heute  der  als  „Fiduzglaube"  betitelte 
evangelische  Glaube  ein  Aergerniss  und  eine  Thorheit  ist,  so  ist  er  auch 
vor  dem  Forum  der  mittelalterlichen  Mystik  ein  Unverstandenes.  Diese 
Mystiker,  die  so  viele  heilige  Paradoxien  aufgestellt  und  erkannt  haben 
—  die  Paradoxie  ist  ihnen  verborgen  geblieben,  dass  man  im  geistlichen 
Leben  nur  das  werden  kann,  was  man  im  Glauben  schon  ist.  Nur  wo 
sie  an  diese  Erkenntniss  herangekommen  sind,  darf  man  sie  als  vor- 
reformatorisch  bezeichnen. 

Entzieht  man  der  katholischen  Kirche  die  Mystik  und  nimmt  sie 
als  „protestantisch"  in  Beschlag,  so  entleert  man  damit  den  Katholicis- 
mus  und  deteriorirt  den  evangelischen  Glauben.  Soll  es  denn  überhaupt 
keine  lebendige  und  individuelle  katholische  Frömmigkeit  geben?  wo 
aber  wäre  diese  zu  suchen,  wenn  nicht  in  der  Mystik?  Wo  ist  denn  nur 
ehie  einzige  Erscheinung  wahrhaften  religiösen  Lebens  in  den  drei  Jahr- 
hunderten vor  der  Reformation,  die  nicht  aus  der  „Mystik"  geflossen 
wäre?  Oder  ist  dieselbe  etwa desshalb  dem Katholicismus  abzusprechen, 
weil  er  vor  Allem  die  Devotion  vor  der  Kirche  und  den  Sacramenten 
verlangt,  und  weil  die  Geschichte  der  Mystik  die  Geschichte  fort- 
gesetzter Spannungen  zwischen  ihr  und  dem  sacramentalen  und  autori- 
tativen Kirchenthum  ist?  Aber  seit  wann  dürfen  solche  Spannungen  als 
ein  Zeugniss  dafür  betrachtet  werden,  dass  der  eine  der  beiden  Factoren 
illegitim  ist?  Besteht  nicht  auch  zwischen  dem  unzweifelhaft  katholi- 
schen Ideal  der  Askese  und  dem  ebenso  unzweifelhaften  Ideal  der  Welt- 
herrschaft eine  Spannung?  Sind  nicht  die  grossen  Mystiker  die  grossen 
Heiligen  der  Kirche?  Oder  soll  wider  den  Augenschein  diese  Kirche 
imfähig  sein,  selbständige  Frömmigkeit  in  ihren  Grenzen  zu  erzeugen 
und  zu  ertragen?  Nun  —  kein  evangeHscher  Christ  wäre  wohl  je  auf 
den  Gedanken  verfallen,  die  Freude  an  dem  regen  innerlichen  Leben, 
welches  das  katholische  Christenthum  in  den  Jahrhunderten  vor  der 
Reformation  aufweist,  mit  der  vollen  Zustimmung  zu  demselben  zu  ver- 
wechseln, wenn  er  sich  —  man  muss  es  leider  sagen  —  klar  gemacht 
hätte,  was  evangelischer  Glaube  ist.  Das  Unvermögen,  zu  diesem  vor- 
zudringen, erzeugt  die  Begehrlichkeit  nach  der  Mystik,  die  dann,  da 
man  nun  einmal  Protestant  ist,  für  den  Protestantismus  reclamirt  wird. 
Zwar  haben  die  Neigungen  für  die  „deutsche"  Mystik  einen  starken 
Stoss  durch  den  urkundlichen  Nachweis  erhalten,  dass,  wer  sich  für  den 
Meister  Eckhart  u.  s.  w.  begeistert  und  sich  an  ihm  erbaut,  sich  viel- 
mehr für  den  heiUgen  Thomas,  resp.  für  den  Areopagiten  und  Augustin, 
zu  begeistern  hat.  Allein  es  wird  noch  stärkerer  Stösse  bedürfen,  um 
eine  Geschichtsbetrachtung  aus  den  Angeln  zu  heben,  die  für  alle  frag- 
mentarischen, in  der  Rehgion,  der  Theologie  und  der  Philosophie  dilet- 


Die  Mystik  als  die  katholische  Frömmigkeit.  377 

tirenden  Naturen  —  ein  Mystiker,  der  nicht  Katholik  wird,  ist  ein  Dilet- 
tant —  die  gewiesene  ist.  Da  schätzt  der  Eine  „den  Individualismus" 
der  Mystiker,  als  sei  in  dieser  Form  bereits  Alles  gegeben,  der  Andere 
das  Gefühl  derselben,  einerlei  wofür  man  „fühlt",  ein  Dritter  die  pan- 
theistische  Metaphysik,  die  sich  aus  der  Mystik  mit  leichter  Mühe  abs- 
trahiren  lässt,  ein  Vierter  die  ästhetischen  Anschauungen  und  die  Auf- 
lösung der  Christologie  in  das  Ecce  homo  oder  in  die  unendliche  Reihe 
der  Christus  in  sich  gebärenden  Menschen,  ein  Fünfter  das  Licht  der 
Aufklärung,  welches  aus  der  Mystik  hervorgebrochen  ist.  Welcher 
Historiker  mit  hellen  Sinnen  wird  an  diesen  Früchten  der  Mystik  theil- 
nahmlos  oder  achselzuckend  vorbeigehen  können,  welcher  Christ  wird 
nicht  mit  herzlicher  Freude  aus  dem  Quell  lebendiger  Anschauungen, 
der  hier  gesprudelt  ist,  schöpfen,  wer  wird  nicht  zuversichtlich  als  Ge- 
schichtsforscher constatiren,  dass  eine  evangelische  Reformation  um 
1200  ebenso  unmöghch  gewesen  wäre,  wie  sie  um  1500  vorbereitet  war? 
Aber  —  wenn  der  Protestantismus  nicht  einst  noch,  soweit  er  überhaupt 
etwas  bedeutet,  völlig  mystisch  werden  wird  —  die  Mystik  wird  man 
niemals  protestantisch  machen  können,  ohne  der  Gescliichte  und  dem 
Kathohcismus  ins  Gesicht  zu  schlagen  \ 


*  Die  richtige  Auffassung  der  Mystik  als  der  katholischen  Frömmigkeit  hat, 
im  Gegensatz  zu  Ullmann's  Vorreformatoren,  Ritschi  (Rechtfert.  und  Versöhn. 
Bd.  I,  Geschichte  des  Pietismus  Bd.  I — III,  Theologie  und  Metaphysik)  gelehrt  und 
die  Fingerzeige  für  die  weitere  Forschung  (Zusammenhang  der  Mystiker  mit  den 
Wiedertäufern,  Husiten  u.  s.  w.)  gegeben.  Ihm  ist  eine  grosse  Anzahl  neuerer  For- 
scher gefolgt.  Ausser  den  oben  S.  314  genannten  Arbeiten,  unter  denen  dieDenifle's 
epochemachend  sind,  weil  sie  gezeigt  haben,  dass  Meister  Eckhart  in  seinen  latei- 
nischen Schriften  ganz  von  Thomas  abhängig  ist,  aber  auch  sonst  das  Beste  ihm 
verdankt  (Archiv  f.  Litt.-  und  K.-Gesch.  des  Mittelalters  II  S.  417—640;  vorgear- 
beitet hatte  hier  schon  Bach  in  seiner  Monographie  über  Eckhart),  s.  Las  so  n, 
Meister  Eckhart  1866,  ferner  die  neueren  Arbeiten  über  Tauler  und  die  Gottes- 
freunde (Denifle),  Pfeiffer's  Ausgabe  der  deutschen  Mystiker  (2  Bdd.  1845.57), 
Seuse's  Werke  hrsg.  von  Denifle  und  das  „Buch  von  der  geistl.  Armuth",  ebenfalls 
hrsg.  von  Denifle  (1877),  dazu  Ritschi  i.  d.  Ztschr.  f.  K.-Gesch.  IV  S.  337  ff. 
Strauch,  Marg.  Ebner  und  Heinrich  v.  NÖrdhngen  1882.  Ueber  die  ältesten 
deutschen  Mystiker  s,  Preger,  Vorarbeiten  z.  einer  Gesch.  der  deutschen  Mystik 
(Ztschr.  f.  die  bist.  Theol.  1869  und  mehrere  Aufsätze  in  den  Abhandl.  der  bist. 
Klasse  d.  bayer.  Akad.  d.  Wissensch.,  die  neben  seiner  umfassenden  Geschichte  der 
Mystik  eine  stoffreiche  Fundgrube  sind).  Ueber  Kuysbroek  vgl.  Engelhardt , 
Rieh.  V.  St.  Victor  und  R.  1838;  über  Thomas  a  Kempis  (?)  „de  imitatione  Christi" 
ist  die  Litteratur  massenhaft,  vgl.  Hirsche,  Prolegomena  z.  einer  neuen  Ausg. 
2  Bdd.  1873.  83,  derselbe  über  die  Brüder  vom  gemeinsamen  Leben  in  der  R.-E.''' 
Tm  Allgomeinen:  Denifle,  Das  geisUiche  Leben.  Blumenlese  aus  den  deutschen 
Mystikern  und  Gottesfreunden.  3.  Aufl.  1880.  Eine  reichhaltige  Darstellung  der 
Mystik  geben  auch  Thomasius-Seeberg,  D.-G.  2.  Aufl.  II,  1  S.  261  ff.,  vgl.  dazu 


378     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Die  individuelle  katholische  Frömmigkeit,  die  wir  Mystik  nennen, 
ist  in  den  drei  Jahrhunderten  vor  der  Reformation  nur  in  Spielarten 
verschieden.  Sie  wurzelt  in  der  neuphitonisch-augustinischen  An- 
schauung von  den  ersten  und  letzten  Dingen,  wie  wir  sie  oben  S.  94  ff. 
gezeichnet  haben:  Gott  und  die  Seele,  die  Seele  und  ihr  Gott;  das 
Kine  und  das  Viele,  Gott  und  die  Creatur.  Die  von  Gott  entfernte 
Seele  muss  zu  ihm  zurückkehren  durch  Reinigung,  Erleuchtung 
und  wesenhafte  Vereinigung;  sie  muss  „entbildet",  „gebildet"  und 
„überbildet"  werden.  Mit  der  sicheren  und  reichen  Anschauung  des 
Erlebten  haben  die  mittelalterlichen  Frommen  geredet  von  der  Ein- 
kehr in  sich  selber,  von  der  Betrachtung  der  Aussenwelt  als  eines 
Werkes  Gottes,  von  der  Armuth  und  Demuth,  auf  die  sich  die  Seele 
stimmen  muss,  von  der  Umkehr  und  der  Zukehr  zu  Gott  und  der 
Schule  der  Leiden.  Aber  sie  haben  auch  den  ganzen  Process  aufs  ge- 
naueste beschrieben.  Er  beginnt  mit  der  Sehnsucht ;  es  folgt  die  Ent- 
äusserung  von  der  Creatur,  aber  auch  von  aller  Selbstgerechtigkeit 
und  allem  Eigendünkel.  Das  ist  die  Reinigung  der  Seele  zu  der  wahren 
christlichen  Armuth.  Was  die  Kirche  an  Mitteln  bietet  —  die  Sacra- 
mente  — ,  soll  gebraucht,  aber  Alles  in  das  innerliche  Leben  aufge- 
nommen werden.  Es  sind  die  Zeichen  der  Liebe  Gottes,  die  es  zu  be- 
trachten gilt.  Und  wie  einst  im  Neuplatonismus  (vgl.  auch  Origenes  und 


Seeberg,  Ein  Kampf  um  jenseitiges  Leben.  Lebensbild  eines  mittelalterlichen 
Frommen.  1889.  Ich  theile  keine  Auszüge  aus  den  Schriften  der  deutschen  mittelalter- 
lichen Mystiker  mit,  weil  ich  auch  den  Schein  des  Irrthums  vermeiden  möchte,  als 
hätten  dieselben  irgend  etwas  ausgesprochen,  was  man  nicht  bei  Origenes,  Plotin, 
dem  Areopagiten,  Augustin,  Erigena,  Bernhard  und  Thomas  lesen  könnte,  oder 
als  bedeuteten  sie  einen  religiösen  Fortschritt,  während  ihre  Tractate  in  Wahrheit  an 
christlichem  Gehalt  meistens  tiefer  stehen  als  die  Schriften  Augustin's  und  Bern- 
hard's.  Die  Bedeutung  jener  Werke  beruht  darin,  dass  sie  deutsch  geschrieben 
sind  und  dass  sie  den  Laien  gelten.  Sie  sind  desshalb  von  unschätzbarem  Wertho 
innerhalb  der  deutschen  Kirchen-  und  Dogmengeschichte.  Aber  in  der  Universal- 
geschichte darf  und  muss  man  sich  mit  einer  Charakteristik  begnügen.  Ob  sie  etwa 
in  der  Geschichte  der  Erkenntnisstheorie  und  Metaphysik  einen  erhebHchen  Fort- 
schritt bedeuten,  auf  diese  Frage  getraue  ich  mir  keine  Antwort  zu  geben,  und  sie 
gehört  auch  nicht  hierher.  Was  die  Idee  der  Wiedergeburt  betrifft,  die  in  vielen 
mystischen  Schriften  stark  betont  wird,  so  muss  man  das  Schweigen  über  die  Sün- 
denvergebung mit  ihr  zusammenstellen,  um  zu  erkennen,  wie  sehr  auch  diese  Idee 
unter  dem  Bann  des  Intellectualismus  stand.  Die  Abklärung,  welche  die  Mystik  des 
14.  Jahrhunderts  im  15.  erfahren  hat,  hat  sich  allerdings  ganz  wesentlich  auf  jenen 
vordringlichen  Intellectualismus  bezogen,  so  dass  die  Frömmigkeit,  wie  sie  sich 
z.  B.  in  dem  berühmten  Buch  de  imitatione  Christi  (Thomas  aKempis?)  ausspricht, 
als  wesentlich  bernhardinisch  ohne  neuplatonischen  Beisatz  bezeichnet  werden  darf, 
allein  eben  nur  als  bernhardinisch.  Ein  neues  kräftiges  Element  der  Freudigkeit  zu 
dem  Gott,  der  Sünde  vergiebt  und  Glauben  schenkt,  sucht  man  vergebens. 


Beschreibung  der  Mystik.  379 

wiederum  den  Areopagiten)  alles  Sinnliche,  auf  welchem  der  Schimmer 
einer  heiHgen  Ueberlieferung  lag,  als  Zeichen  des  Ewigen  und  darum 
als  Mittel  der  Erhebung  hochgeschätzt  wurde,  so  hat  auch  diese 
Frömmigkeit  die  heiligen  Zeichen  nicht  abgethan,  sondern  vermehrt 
und  verstärkt.  Neben  den  Sacramenten  sind  in  steigendem  Masse  die 
Ki'euze,  die  Amulette,  die  Reliquien,  die  Gnadenstätten,  die  Nothhelfer, 
die  Heiligen  u.  s.  w.  in  den  Jahrhunderten  vor  der  Reformation  ge- 
schätzt worden,  wie  die  neueren  Forschungen  uns  bewiesen  haben '. 
Solange  die  Seele  nicht  nach  dem  Fels  der  Gewissheit  sucht,  son- 
dern nach  Mitteln  der  Anregung  der  Frömmigkeit,  wird  sie  sich 
tausend  Heiligthümer  schaffen.  Es  ist  daher  eine  höchst  oberflächliche 
Betrachtung,  welche  die  innerlichste  mystische  Frömmigkeit  und  den 
Kult  der  Idole  für  Gegensätze  hält.  Das  Gegentheil  ist  richtig: 
jene  Frömmigkeit  sucht  nach  heihgen  Zeichen  und  umarmt  sie.  Sie 
kann  dabei  die  Erlösung  durch  Christus  für  den  höchsten,  Alles  um- 
fassenden Liebeserweis  Gottes  halten  '-^ ;  aber  die  Souveränetät  Christi 
ist  ihr  nicht  aufgegangen,  weil  sie  schliessHch  auch  den  höchsten 
Liebeserweis  nur  als  das  Mittel  betrachtet,  durch  welches  die  Mög- 
lichkeit der  individuellen  Beseehgung  gegeben,  d.  h.  der  Trieb  zur 
Nachahmung  verstärkt  ist.  Ebensowenig  streitet  die  innerliche 
Reinigung  mit  der  sacramentalen  des  Busssacraments.  Vielmehr  haben 
die  Mystiker  mit  verschwindenden  Ausnahmen  stets  neben  der  Reue 
auf  die  ganze  Beichte  und  die  vollkommene  Busse,  d.  h.  auf  das 
Busssacrament,  hingewiesen.  Auf  die  Reinigung  folgt  die  Erleuchtung. 
Hier  tritt  nun  die  bernhardinische  Anweisung  ein :  es  gilt  in  Christo 
und  wie  Christus  Gestalt  gewinnen.  Man  muss  sein  armes  Leben 
und  seine  leidende  Menschheit  in  sich  nacherleben,  um  zu  seiner 
Gottheit  zu  gelangen.  Wie  sich  in  dieser  Anweisung  die  zarteste 
Schulung  des  Gemüths  mit  einer  beängstigenden  sinnlichen  Ver- 
anschauhchung  der  Leiden  des  „Menschen"  Jesus  verbunden  hat,  ist 
bekannt.  Die  aus  dem  Mitleid  stammende  Nachfolge,  die  aus 
der  Liebe  quillende  Nachbildung  Christi  wird  verlangt,  wie  sie  nur 
aus   langer  Uebung   und  aufmerksamster   Spannung   aller  Gedanken 


*  S.  die  Arbeiten  Gothein's,  Kolde's,  Kawerau's,  Haupt's  und  vor  Allem 
V.  Bezold's  (Gesch.  der  deutschen  Reformation)  zur  inneren  Lage  des  Katholi- 
cismus  beim  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts.  In  Kürze  zusammenfassend  Lenz, 
Martin  Luther  1883  (Einleitung)  und  Karl  Müller,  Bericht  über  den  gegenwär- 
tigen Stand  u.  s.  w.  1887. 

^  Es  giebt  mehrere  Mystiker  des  14.  Jahrhunderts,  die  an  vielen  Stellen  ihrer 
erbaulichen  Schriften  ebenso  bestimmt  wie  der  hl.  Bernhard  ihren  Trost  allein  auf 
das  Leiden  Christi  gesetzt  haben. 


380     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

hervorgehen  kann.  Diese  Nachbildung  schlägt  dann  nicht  selten  in 
die  Vorstellung  um,  man  müsse  geradezu  ein  Christus  werden, 
Christus  aufs  neue  in  sich  gebären  —  gab  es  doch  Nonnen,  die  da 
wähnten ,  dass  sie  mit  Christus  schwanger  gingen.  Die  dressirte 
Phantasie  und  die  Theorie  sind  an  dieser  Vorstellung  in  gleicher 
Weise  betheiligt.  Jene,  sofern  sie  das  wirklich  erlebt,  was  sie 
passionirt  betrachtet,  diese,  sofern  in  der  neuplatonisch-augustinischen 
UeberHeferung  jene  Vorstellung  von  Gott  und  der  geistigen  Creatur 
enthalten  war,  nach  welcher  die  Erscheinung  des  Logos  in  Christus 
nur  ein  Specialfall  in  einer  langen  Reihe  ist:  mit  ihm  hat  die  Ein- 
wohnung Gottes  in  dem  Menschen  ihren  Anfang  genommen,  und 
dazu  —  alle  Gottesliebe  ist  etwas  so  Souveränes,  dass  sie  die 
Einmischung  eines  Dritten  in  das  Verhältniss,  welches  sie  belebt, 
nicht  zulässt.  Andererseits  aber  vertrug  sich  auch  diese  Betrachtung 
Christi  als  des  Erstlings  doch  wieder  mit  der  Betrachtung  seines 
Todes  als  eines  ausserordentlichen,  die  Versöhnung  mit  Gott  be- 
gründenden Ereignisses ;  denn  wie  diese  Frömmigkeit  kein  äusseres 
sichtbares  Zeichen  preisgiebt,  so  giebt  sie  auch  kein  Stück  der 
heihgen  Geschichte  auf;  sie  lässt  es  nur  nicht  auf  der  höchsten 
Stufe  gelten.  Allein  unzählige  Male  ist  bei  den  bedeutendsten  Mysti- 
kern, wie  schon  beim  hl.  Bernhard,  gerade  auch  auf  den  höchsten 
Stufen  rehgiöser  Empfindung  die  Zuversicht  zu  Christus  hervorge- 
brochen; denn  wie  sie,  namenthch  wo  die  Theologie  des  hl.  Thomas 
eingewirkt  hat,  Alles  von  der  göttlichen  Gnade  ableiteten,  so  wird 
diese  Gnade  in  dem  Christus  erkannt,  der  unsere  Gerechtigkeit  ist. 
Ferner  verbindet  sich  hier  die  trinitarische  Speculation,  wie  sie  aus 
dem  Gedanken  der  Liebe  heraus  entwickelt  wurde.  So  vermag  sich  die 
Frömmigkeit,  wie  Richard  von  St.  Victor  in  älterer  Zeit,  Bonaventura 
und  Andere  in  späterer  bewiesen  haben,  aufs  innigste  an  dies  spröde 
Dogma  von  der  Trinität  und  auch  an  das  andere  von  der  Incar- 
nation  anzuschliessen.  Die  unendliche  Liebe  soll  im  Geheimniss  der 
Trinität  contemphrt  w^erden,  und  der  Höhepunkt  der  Erleuchtung 
des  Geistes  ist  erreicht,  wo  derselbe  sich  betend,  wissend  und 
schauend  in  das  grosse  Mysterium  der  Einigung  der  Gottheit  und 
Menschheit  versenkt  und  die  indifferentia  oppositorum  betrachtet, 
wie  der  Schöpfer  und  die  Creatur,  das  Erhabene  und  das  Niedrige, 
das  Seiende  und  das  Nichtseiende  in  Eins  zusammenfallen.  Aus  allen 
diesen  Speculationen,  in  denen  die  alten  Formeln  in  das  Licht  der 
allmächtigen  Liebe  gestellt  werden,  wo  die  kühnste  und  complicirteste 
Theologie  schHesslich  wieder  auf  das  All-Eine  zurückgeführt  wird  und 
in  das  Gefühl  umschlägt,  ergab  sich  eine  hohe  Steigerung  des  Innen- 


Beschreibung  der  Mystik.  381 

lebens.  Dieses  ist  wieder  entdeckt  und  in  den  beherrschenden  Mittel- 
punkt gestellt.  Aber  es  ist  noch  viel  reicher  als  in  den  Tagen  des 
Neuplatonismus  ausgeprägt;  denn  in  jenen  Jahrhunderten  vor  der 
Reformation  ist  neben  den  furchtbarsten  Selbstquälereien,  ja  mitten 
in  ihnen  (man  denke  an  die  hl.  Elisabeth),  und  neben  spielenden  oder 
wahnwitzigen  Vorstellungen  die  erhebende  Kraft  des  Leidens  und  die 
läuternde  Macht  des  Schmerzes  erprobt  und  verkündet  worden. 
Welch'  eine  Veredelung  des  Gefühls  und  welch'  eine  Verinnerlichung 
des  Gemüths  von  hier  ausgegangen  ist  —  eine  Renaissance  vor  und 
neben  der  Renaissance  — ,  kann  man  nicht  beschreiben.  Man  muss 
die  Schriften  in  Poesie  und  Prosa,  z.  B.  die  Verse  Jacopone's  ^,  oder 
die  Tractate  und  Predigten  der  deutschen  Mystiker  lesen,  um  zu  er- 
kennen, wie  auch  die  Sprache  hier  eine  Wiedergeburt  erlebt  hat. 
Eine  Lyrik,  die  wir  nachempfinden  können,  giebt  es  erst  seit  dem 
13.  Jahrhundert,  und  welche  Kraft  die  lateinische  und  die  deutsche 
Sprache  in  der  Beschreibung  des  inneren  Lebens  zu  entfalten  ver- 
mögen, das  haben  uns  die  Bettelmönche  gelehrt.  Aus  der  Erkenntniss, 
dass  Niedrigkeit  und  Armuth^  Spott  und  Verachtung,  Schmach  und 
Elend,  Leiden  und  Tod  Fördernisse  des  Heihgen  sind,  aus  der  An- 
schauung des  Menschen  Jesus,  aus  dem  Mitleid,  dem  Schmerz  und 
der  Demuth  ist  im  Zeitalter  der  Bettelmönche  der  abendländischen 
Christenheit  jene  innere  Erhebung  und  jene  Bereicherung  des  Ge- 
fühls und  des  sittlichen  Sinns  geworden,  welche  die  Bedingung  für 
alles  das  gewesen  ist,  was  in  der  Folgezeit  wachsen  sollte.  Man 
spricht  von  der  Renaissance  und  Reformation  und  fasst  in  diesen 
beiden  Worten  die  Grundlage  unserer  heutigen  Kultur  zusammen  — 
aber  beide  haben  eine  gemeinsame  starke  Wurzel  in  der  religiösen 
und  ästhetischen  Erhebung  im  Zeitalter  der  Bettelorden. 

Aber  die  katholische  Art  dieser  Erhebung  zeigt  sich  am  deut- 
lichsten darin,  dass  mit  der  Busse,  dem  Glauben  und  der  Liebe  zu 
Christus  der  Process  nicht  abgeschlossen  ist :  der  Mensch  muss  ganz  zu 
nichte  und  aus  sich  selber  entsetzt  werden,  um  schliesshch  in  die  Gott- 
heit aufzugehen.  Gemeint  ist  freilich  damit  auch  die  höchste  geistige 
Freiheit  (s.  z.  B.  die  „Deutsche  Theologie") ;  aber  da  sie  umschlossen 
ist  von  dem  metaphysischen  Gedanken,  dass  Gott  Alles  ist  und  das  In- 
dividuelle Nichts,  so  kann  die  Freiheit  nur  als  Untergang  in  die  Gott- 
heit gedacht  werden.  Erleben  können  soll  nur  der  diese  Vereinigung 
mit  Gott,  der  den  Weg  der  Kirche  und  der  Nachahmung  Christi  ge- 


'  S.  Schlüter  u.  Storok,  Ausgewählte  (»edichte  Jacopone's  1864.  Thüde, 
a.  a   O.  S.  :{98  ff. 


382     Oeschii'hte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

gangen  ist.  Aber  wie  kann  man  gebieten,  an  dem  Historischen  fest- 
zuhalten, wenn  man  alle  Kräfte  der  Phantasie  entfesselt  und  sie  für 
das  Organ  zur  Ineinsbildung  mit  der  Gottheit  erklärt?  Die  kirchlichen 
Mystiker  haben  sich  energisch  der  pantheistischen,  „ausbrüchigen", 
wilden  Frünnnigkeit  zu  erwehren  versucht;  aber  sie  waren  selbst  häufig 
mindestens  nnvorsichtig  bei  ihren  letzten  Anweisungen,  ja  diesen  fehlte 
der  volle  Schwung,  solange  sie  noch  auf  etwas  Kücksicht  nahmen,  was 
ausserhalb  Gottes  und  der  Seele  lag  (selbst  die  Trinität  wurde  hier  als 
etwas  Störendes  empfunden ;  der  Gott,  mit  dem  es  die  Seele  auf  diesem 
Höhepunkt  zu  thun  hat,  ist  der  Einige).  Thomas  selbst,  der  „Normal- 
dogmatiker",  hat  den  kräftigsten  Anstoss  zudieser  Erneuerung  der  aus- 
schweifendsten Mystik  gegeben.  Ihm  sind  Eckhart  und  Andere  gefolgt  K 
Nach  Thomas  kann  die  Seele  schon  hier  auf  Erden  Gott  so  in  sich  auf- 
nehmen, dass  sie  im  vollsten  Sinn  die  \isio  seines  Wesens  geniesst.  Sie 
selbst  weilt  schon  im  Himmel.  Das  Irdische,  was  ihr  noch  anklebt,  ist 
gleichsam  so  wesenlos  wie  das  Irdische  bei  den  consecrirten  Elementen. 
Ist  aber  die  Seele  per  raptum  eines  solchen  Aufschwungs  aus  ihrem 
Nichts  zu  Gott  fähig,  kann  Gott  in  ihr  Innerstes  eintreten,  dann  —  hier 
liegt  der  nothwendige  Umschwung  der  Betrachtung  —  umschliesst  die 
Seele  selbst  in  ihrem  innersten  Wesen  ein  tiefverborgenes  GöttUches. 
Das  Pantheistische  schlägt  in  Selbstvergötterung  um.  Das  Göttliche  ist 
im  Grunde  die  Fähigkeit  der  Seele,  von  allem  Erscheinenden  abstrahiren 
und  sich  befreien  zu  können ;  es  ist  das  reine  Gefühl  der  geistigen  Frei- 
heit und  Erhabenheit  über  alles  Seiende  und  Denkbare.  In  diesem  Ge- 
fühl, welches  als  Begnadigung  auftritt  und  nur  durch  diesen  Stimmungs- 
coefficienten  vor  dem  Hochmuth  des  Selbstgefühls  geschützt  ist,  empfin- 
det sich  die  Seele  als  Eins  mit  dem  göttlichen  Wesen,  welches  nach  der 
katholischen  Betrachtung  in  negativen  Bestimmungen  selbst  am  besten 
charakterisirt  wird.  Die  mittelalterlichen  Mystiker  sind  in  diesen 
noch  viel  weiter  gegangen  als  Augustin  und  der  Areopagite'^.  Man 
muss  bis  zu  Valentin  und  Basilides,  zum  Bo^oc,  der  I^yT]  und  dem  Oox  wv 
ö-söc  zurückgreifen,  um  die  schlagenden  Parallelen  zur  „ab gründlichen 


*  Eckhart  wurde,  trotzdem  er  alles  Unkircliliclie  in  seinen  Schriften  kurz  vor 
seinem  Tode  widerrufen  hatte,  zwei  Jahre  nach  seinem  Tode  der  Process  gemacht, 
d.  h.  es  wurden  28  Sätze  von  ihm  theils  als  häretisch,  theils  als  suspect  verdammt 
(Bulle  Johann's  XXII.  1329).  lieber  diese  Verdammung  und  die  Stellung-  Seuse's  zu 
Eckhart  s.  Denifle  im  Archiv  f.  L.-  u.  K.-G.  des  Mittelalters  II  und  Seeberg,  Ein 
Kampf  um  jenseitiges  Leben.  1889  S.  137  ff.  Auch  Seuse  hat  dem  Vorwurf,  das 
Land  mit  ketzerischem  Unflat  zu  verunreinigen,  nicht  ganz  entgehen  können.  Immer 
waren  es  die  Ultra's,  welche  die  „kirchlichen"  Mystiker,  indem  sie  sich  auf  sie 
beriefen,  discreditirten. 

■^  Vol.  besonders  Eckhart  und  Seuse. 


Beschreibung  der  thomistischen  und  scotistischen  Mystik.  383 

Substanz",  der  „wüsten  Grottheit",  der  „stillen  Stillheit"  u.  s.  w.  zu 
finden.  In  diesem  heissen  Treibhaus  der  Gedanken  ist  im  Grunde  nicht 
die  Religion  gereift,  sondern  der  mittelalterliche  Mensch  ist  zum  Selbst- 
gefühl erweckt  worden.  In  der  thomistischen  Mystik,  die  natürlich  im 
Princip  stets  darauf  hält,  dass  die  wesenhafte  Unterscheidung  von  Gott 
und  dem  Menschen  gewahrt  bleibt,  ist,  wie  der  ganze  Process,  so  auch 
der  Höhepunkt  intellectualistisch  bedingt.  Die  Erkenntniss  ist  das 
Mittel,  zu  der  geistigen  Freiheit  zu  gelangen,  und  der  höchste  Zustand 
ist  nichts  Anderes  als  die  naturgemässe  Folge  der  absoluten,  in  der 
Schauung  gegebenen  Erkenntniss.  Thomas  und  seine  Schüler  halten 
sich  hier  strenge  an  Augustin,  der  auch  keinen  Fortschritt  des  religiösen 
Lebens  zugestand,  ohne  fortschreitende  Erkenntniss,  und  für  den  die 
höchste  Gemeinschaft  mit  Gott  auch  keinen  anderen  Inhalt  hatte  als 
den  der  visio  dei,  d.  h.  der  wesenhaften  Erkenntniss.  Die  zur  Intuition 
sich  erhebende  Contemplation  erleidet  dadurch  keine  qualitative  Ver- 
änderung; denn  die  Intuition  ist  lediglich  diejenige  Form  der  Erkennt- 
niss, in  der  jedes  Medium  weggefallen  ist,  in  der  das  ganz  zumintellect 
gewordene  Subject  das  rein  geistige  Object  unmittelbar  erfasst,  also 
auch,  da  keine  Schranke  mehr  hindert,  mit  ihm  zusammenschmilzt. 
Allein  diese  Fassung  des  Zieles  hatte  die  Anselm'sche  Ueberzeugung 
zur  Voraussetzung,  dass  alle  Glaubensobjecte  hienieden  rational  gemacht 
werden  können,  so  dass  der  ganze  Aufstieg  bis  zum  höchsten  Ziele 
durch  den  Intellect  erfolgen  kann.  Wo  diese  Ueberzeugung  aber 
schwankend  wurde,  da  konnte,  wenn  anders  das  Ziel  der  Vereinigung 
mit  Gott  doch  schon  für  das  Diesseits  gelten  soll,  dasselbe  nicht  mehr 
als  Genuss  Gottes  und  des  ewigen  Lebens  durch  den  Intellect  ins 
Auge  gefasst  werden.  Diese  Vorstellung  war  aber  auch  desshalb  un- 
genügend, weil  die  Thomisten  zugestehen  mussten,  dass  das  so  be- 
schriebene Ziel  immer  nur  per  raptum,  d.  h.  discontinuirlich  und  selten, 
erreicht  werden  könne.  Daher  sehen  wir,  wie  seit  Duns  Scotus  Auf- 
treten und  der  Entwickelung  des  Nominalismus  das  Ziel  anders  be- 
schrieben wird.  Die  Zuversicht  zur  Rationalität  der  Glaubensobjecte 
ist  im  Schwinden,  andererseits  wächst  der  religiöse  Trieb 
nach  stetiger  höchster  Gemeinschaft  mit  Gott —  somit 
wurde  der  Genuss  Gottes  und  des  ewigen  Lebens  in  den  AVillen  ver- 
legt, der  ja  überhaupt  in  der  nominalistischen  Wissenschaft  eine  erhöhte 
Berücksichtigung  erfahren  hat'.    Die  Seligkeit   besteht  in  der 

*  Auf  diesen  Unterschied  der  thomistischen  und  der  quietistischen  (nomina- 
listisohon)  Mystik  hat  Ritschi  zuerst  hingewiesen,  s.  Gesell,  des  Pietismus  J 
8.467f!'.  undZtschr.  f.K.-Gesch.  TV  S.I337fr.,  auch  schon  im  1.  Bd.  der  Rechtfert.- 
u,  Versöhn.-Lehre. 


384     Creschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Willen  sein  lieit  mit  Gott,  in  der  Ruhe,  die  der  creatürliclie  Wille 
an  dem  Willen  Gottes  findet,  also  in  der  Ergebung  und  Gelassenheit. 
1  )ass  diese  Betrachtung  der  Dinge  ebenfalls  eine  excentrische  Ausprägung 
erhalten  hat,  war  bei  dem  mönchischen  Charakter  aller  katholischen 
Frömmigkeit  unvermeidlich.  Allein  hier  war  doch  ein  ausgezeichneter 
Fortschritt  gegeben,  der  für  die  Reformation  direct  vorbereitend  gewirkt 
hat ;  denn  erstlich  war  die  Frömmigkeit  nun  aus  der  Verquickung  mit 
den  speculativen  Ungeheuerlichkeiten  gerettet,  die  schliesslich  doch  nur 
dazu  dienten,  den  schlichten  frommen  Sinn  zu  betäuben  —  die  specula- 
tiven Philosophen  freilich  werden  den  Thomas  stets  dem  Duns  vorziehen 
— ,  zweitens  war  ein  Weg  gewiesen,  auf  welchem  die  Seele  zu  dem  Ge- 
fühl stetiger  Gemeinschaft  mit  Gott  gelangen  konnte.  Diese  „nomina- 
listische"  Mystik  hat  im  15.  Jahrhundert  die  thomistische  mehr  und 
mehr  verdrängt ^ :  man  muss  seinen  eigenen  Willen  in  Gottes 
Willen  schicken.  Freilich  fehlte  gerade  den  Nominalisten  eine  klare 
Erkenntniss  dessen,  wo  der  götthche  Wille  zu  suclien  sei  und  was  er 
sei,  und  eben  desshalb  hat  sich  auch  hier  noch  viel  Wildes  entwickelt. 
Aber  nur  innerhalb  der  nominaHstischen  Frömmigkeit  konnte  die  Frage 
nach  der  certitudo  salutis  entstehen,  weil  man  auf  den  Intellect  nicht 
mehr  baute,  weil  die  Verweisung  auf  die  nackte  Autorität  auf  die  Dauer 
als  ungenügend  empfunden  werden  musste,  und  weil  das  Problem  richtig 
gestellt  war,  nämUch  als  die  Frage  nach  der  Macht,  die  im  Stande  ist, 
den  Eigenwillen  zu  brechen  und  ihn  zu  Gott  zu  führen  '^. 

Dieser  Aufschwung  der  Frömmigkeit  vom  13.  bis  zum  15.  Jahr- 
hundert wäre  nicht  vollständig  beschrieben,  wenn  nicht  zugleich  eine 
Thatsache  kräftig  betont  w^ürde,  die  auf  den  ersten  Blick  sehr  paradox 
erscheint:  der  Aufschwung,  den  das  thätige  Leben  im  Dienst 
des  Nächsten  genommen  hat.  Man  sollte  denken,  dass,  wo  die 
katholische  Frömmigkeit,  d.  h.  die  Mystik,  ihre  Blüthen  treibt,  die 
mönchische  Contemplation  alles  Andere  zurückdrängt.  In  der  That  lag 
hier  ein  schweres  Problem  für  dieselbe  vor.   Allein  die  Art,  wie  es  ge- 


^  Um  1500  scheint  sie  die  herrschende  gewesen  zu  sein ;  vgl.  Staupitz'  und 
Thomas  Münzer's  Haltung.  Auch  die  „deutsche  Theologie",  die  Luther  so  lieb  war, 
ist  quietistisch. 

^  In  dem  Abschnitt  über  die  Geschichte  der  Theologie  wird  die  Eigenthüm- 
lichkeit  und  die  Bedeutung  des  Nominalismus  noch  eine  weitere  Beleuchtung  er- 
fahren. Schon  hier  sei  indess  bemerkt,  dass  der  Nominalismus  seine  richtigere  Ein- 
sicht in  das  Wesen  der  Religion  durch  seine  auf  der  blossen  Autorität  gegründete 
„Positivität"  theuer  erkauft  hat.  Hier  sind  ihm  Anselm  und  Thomas  unzweifelhaft 
überlegen;  allein  diese  sind  durch  den  Intellectualismus  gehindert  worden,  der 
christlichen  Religion  als  einer  geschichtlichen  Grösse  und  Macht  gerecht 
zu  worden. 


I 


Der  Aufschwung  des  thätigen  Lebens.  385 

löst  worden  ist,  zeigt  wiederum  aufs  deutlichste,  dass  wir  es  in  der 
Bettelordenbewegung  mit  einer  Reformation  der  Kirche  zu  thun  haben. 
Diese  Bewegung  hat  in  thesi  die  alte  kathohsche  Position,  dass  das  be- 
schauliche Leben  höher  stehe  als  das  thätige,  bestärkt.  Allein  wie  sie 
sich  im  hl.  Franz  als  eine  aus  der  Liebe  geborene  Bewegung  darstellt, 
so  hat  sie  auch  von  Anfang  an  als  „Nachahmung  des  armen  Lebens 
Jesu"  und  als  „apostolisches  Leben"  die  Liebesthätigkeit  als 
die  höchste  Sphäre  ihrer  Bethätigung  erkannt.  Damit  ist  das 
alte  Mönchthum,  welches  nur  der  Hierarchie,  den  Fürsten  und  der 
päpstlichen  Politik  Liebesdienste  erwies,  sonst  aber  sich  auf  sich  selbst 
zurückzog  und  den  Dienst  am  armen  Bruder  als  opus  supererogationis 
empfand,  abgethan.  Erst  die  Bettelorden  und  ihre  Theologen  haben  im 
Katholicismus  das  Gebot  „Liebe  Deinen  Nächsten  als  Dich  selbst" 
wieder  auf  den  Leuchter  gestellt.  Sie  feierten  das  beschauliche  Leben ; 
sie  wahrten  noch  immer  die  Grenze  zwischen  ihm  und  dem  thätigen; 
aber  sie  zogen  diese  Grenze  so,  dass  der  beschaulich  Lebende  (also  der 
Mönch)  doch  mit  allen  seinen  Kräften  dem  Nächsten  dienen,  und  dass 
der  mitten  im  Leben  stehende  Christ  nie  die  Sorge  um  den  Mitbruder 
ausser  Acht  lassen  sollte.  So  ergab  sich  zwischen  dem  beschaulichen 
und  dem  thätigen  Leben  ein  gleichsam  neutrales  weites  Gebiet,  welches 
beiden  gehörte,  diesem  und  jenem  —  die  aufopfernde  Liebesthätigkeit. 
Die  Gottesliebe  des  Mönchs  und  des  Laien  kann  sich  allein  in  der 
Nächstenliebe  bewähren.  Von  hier  aus  ist  es  zu  verstehen,  dass  die 
enthusiastischen  Mystiker  Aeusserungen  gethan  haben,  die  wie  eine 
Ueberordnung  des  thätigen  Lebens  über  das  beschauliche  klingen:  sie 
meinen  die  ungefärbte  Bruderliebe,  die  Barmherzigkeit,  die  Sanftmuth, 
die  Gesinnung,  welche  Böses  mit  Gutem  vergilt,  und  die  werkthätige 
Hülfe.  Weder  der  „Intellectualismus"  noch  der  „Quietismus"  hat  sie 
an  der  gewaltigen  Predigt  der  Barmherzigkeit  gehindert,  sondern  in  ihr 
bestärkt;  denn  sie  wollten  kein  Mönchthum  und  keinen  Gottesdienst 
mehr  kennen,  welche  vom  Dienst  am  Nächsten  absehen.  Die  Forderung, 
sich  in  der  Liebe  zu  Jedermanns  Knecht  zu  machen,  hat  zuerst  Fran- 
ciskus  wieder  deutHch  gestellt,  und  seitdem  ist  sie  als  der  Höhepunkt 
christlichen  Lebens  von  Thomas  und  Bonaventura,  von  Eckhart, 
Seuse,  Tauler,  Thomas  a  Kempis  und  allen  den  hundert  wirksamen 
Zeugen  christlicher  Frömmigkeit  in  den  Jahrhunderten  vor  der  Refor- 
mation wiederholt  worden  '.  Die  einfache  Beziehung  des  Menschen  zum 
Menschen,  geheiligt  durch  das  christliche  Gebot  der  Liebe  und  durcli 


'  Von  Eokhart  rührt  die  Anweisung  lier,  selbst  die  Verzückung,  und  sei  sie 
HO  gross  wie  die  des  Paulus,  fahren  zu  lassen,  wenn  man  einem  kranken  Menscljen 
auch  nur  durch  ein  Süpplein  helfen  könne. 

U  a )  II  !i  (•  k  ,  DogtnHngfiBchichtc'  IIJ .  26 


386     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

den  Frieden  Gottes,  trat  aus  all'  den  überlieferten  Corporationen  und 
Kasten  des  Mittelalters  hervor  und  schickte  sich  an,  sie  zu  sprengen. 
Auch  hier  ist  der  An})ruch  einer  neuen  Zeit,  in  der  freilich  nur  wenige 
Bliithen  sich  zur  Frucht  entwickelt  hahen,  durch  die  (Teschichte  der 
Kröiumigkeit  herbeigeführt  worden.  Aber  noch  stand  diese  Frömmig- 
keit, obgleich  sie  den  Ruf  nach  Reform  des  Kirchenwx^sens  immer  lauter 
erschallen  liess,  unter  dem  Bann  der  Vorstellung,  dass  Gott  so  viel 
Gnade  giebt,  als  der  Mensch  in  der  Liebe  fortschreitet.  An  welchem 
Punkte  der  Hebel  anzusetzen  sei,  das  ahnte  Niemand. 

Es  ist  in  dem  Vorstehenden  schon  einige  Male  angedeutet  worden, 
dass  durch  die  Bettelorden,  obgleich  sie  die  Grenzen  wahrten,  doch  eine 
Annäherung  der  Mönche  und  Laien  innerlich  (zum  Theil  auch  äusser- 
lich)  zu  Staude  gekommen  ist.  Die  Wirksamkeit  jener  im  Volk  einer- 
seits und  die  Erweckung  eines  lebendigen  rehgiösen  Lebens  der  Laien 
andererseits  führte  zusammen.  Nun  aber  ist  es  überhaupt  das  Charak- 
teristische an  der  uns  beschäftigenden  Epoche,  dass  die  Laien  immer 
mehr  in  den  Vordergrund  rückten  und  im  15.  Jahrhundert  in  ihren 
freieren  religiösen  Verbindungen  den  mönchischen  zur  Seite  traten, 
freilich  in  der  Regel  in  Abhängigkeit  von  den  klösterlichen  Vereinen. 
Die  Zeit  von  1046  — 1200  ist  die  Periode  der  Monachisirung  der 
Priester,  die  von  1200 — 1500  bringt  die  Monachisirung  der  Laien; 
aber  dieser  Process  ist  nicht  ohne  tiefgreifende  Wandelung  des  Mönch- 
thums  selbst  zu  Stande  gekommen,  und  zwar  war  das  charitative 
Element  hier  das  massgebende.  Als  nun  die  Bettelorden  trotz  ernster 
Reformen  (seit  dem  Ende  des  14.  Jahrhunderts)  die  Stellung  und  das 
Vertrauen  doch  nicht  völlig  zurückzuerobern  vermochten,  die  sie  einst 
genossen  hatten,  da  mussten  die  freien  cliristlichen  Vereinigungen  vol- 
lends in  den  Vordergrund  treten.  Aber  sie  haben,  wenn  ich  recht  sehe, 
nur  auf  deutschem  Boden  eine  hohe  Bedeutung  gewonnen.  Was  sie 
den  Deutschen  leisteten,  das  leisteten  den  beweglicheren,  aber  minder 
nachhaltig  zu  bestimmenden  Romanen  die  grossen  Bussprediger,  die 
ihnen  von  Franciskus  ab  bis  zu  Savonarola  in  keiner  Periode  gefehlt 
und  es  auch  verstanden  haben,  mit  der  Busspredigt  politische  und 
nationale  Stimmungen  zu  beleben.  Aber  allein  die  Angelsachsen  und 
Tschechen ,  bisher  von  fremden  Nationen  unterdrückt  und  in  Armuth 
erhalten,  haben  in  unserer  Periode  der  franciskanischen  Armuthslehre  ein 
politisch-nationales  und  ein  kirchliches  Programm  abzugewinnen  ver- 
standen und  eine  grosse  Bewegung  erlebt,  in  der  sich  die  Erhebung  zu 
selbständiger  Frömmigkeit  mit  einer  nationalen  Erhebung  und  Befreiung 
verband.  In  beiden  Ländern  hat  freilich  der  Erfolg  dem  Ansatz  nicht 
entsprochen.  In  England  verlief  die  Bewegung  verhältnissniässig  schnell. 


Die  Belebung  der  Laien.   Skizze  der  Greschichte  der  Erweckung.         387 

und  in  Böhmen  konnten  sich  neben  den  souverän  hervortretenden  natio- 
nalen und  politischen  Zielen  tiefere  religiöse  Motive  nicht  halten,  son- 
dern wurden  wenigstens  zunächst  —  später  arbeitete  sich  das  religiöse 
Element  wieder  hervor  —  durch  kirchliche,  social-revolutionäre  und 
antihierarchische  verdrängt. 

"Wer  mithin  die  Stadien  der  Geschichte  der  Frömmigkeit  in  unserer 
Periode  beschreiben  wollte,  müsste  als  Einleitung  mit  der  Betrachtung 
der  lyoneser,  lombardischen  und  katholischen  Armen  beginnen.  Dann 
folgt  die  Gründung  der  Bettelorden,  welche  das  Mönchthum  durch  die 
Ausbildung  des  Princips  der  Armuth,  des  apostolischen  Lebens  und  der 
apostolischen  Busspredigt,  sowie  durch  die  Verkündigung  der  Caritas 
auf  seinen  Höhepunkt  bringen  und  entschränken,  zugleich  ihm  aber  den 
mächtigsten  Einfluss  auf  die  Laienwelt  geben.  Der  Kirche  gelingt  es, 
diese  Bewegung  in  ihren  Dienst  zu  nehmen,  durch  dieselbe  das  aufstre- 
bende Laienchristenthum  für  die  kirchlichen  Institutionen  zu  interessiren 
und  die  Ketzerei  einzudämmen.  Die  Bettelorden  bemächtigten  sich 
aller  Kräfte  der  Kirche,  vor  Allem  bildeten  sie  die  individuelle  mystische 
Frömmigkeit  durch  schärferes  Erfassen  ihrer  alten  Grundelemente, 
Armuth  und  Gehorsam,  die  Liebe  hinzufügend,  tiefer  aus  und  verliehen 
ihr  eine  mächtige  Anziehungskraft,  die  dem  aufstrebenden  Individualis- 
mus entgegenkam  und  ihn  grosszog.  Durch  eindringliche  Busspredigten, 
die  auf  das  zukünftige  Gericht  wiesen,  wurden  auch  die  weitesten  Kreise 
bewegt,  und  in  mönchsartigen  Verbindungen  (der  dritte  Orden)  schlug 
die  neue  Bewegung  zum  Theil  nieder.  Aber  das  Princip  der  „Armuth" 
umschloss  nicht  nur  ein  religiös-asketisches  Ideal,  sondern  auch  ein 
sociales  und  antihierarchisches,  ja  sogar  ein  politisches,  sofern  der  in- 
differente Staat  als  die  Macht  angesehen  werden  konnte,  welche  der 
Kirche  ihre  Güter  abzunehmen,  resp.  an  der  widerspenstigen  das  Ge- 
richt zu  vollstrecken  habe.  Die  neue  Bewegung  verband  sich  daher 
auch  mit  den  apokalyptischen  Ideen,  die  trotz  Augustin  im  Abendland 
nie  ausgestorben  waren  und  durch  Joachim  und  seinen  Anhang  eine 
neue  Ausbildung  erfahren  hatten.  Theils  im  Orden  theils  ausserhalb 
desselben  erwuchs  eine  apokalyptisch-socialpolitische  Erhebung  in  hun- 
dert verschiedenen  Ansätzen.  Ihr  relatives  Recht  gegenüber  der  welt- 
förmigcn  reichen  Hierarchie  geht  aus  der  universalen  Verbreitung  her- 
vor, die  sie  gewonnen  hat:  sie  taucht  in  allen  Ländern  auf,  und  sie 
dauert,  immer  wieder  aufs  neue  erstarkend,  bis  tief  in  das  Reformations- 
zeitalter. Die  Bettelorden  sind,  wenigstens  in  den  romanischen  Ländern, 
in  der  2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  auf  ihrem  Höhepunkt.  Von  da 
ab  veifallen  sie  bereits:  die  Gesammtb(;\vegung  zersplittert  sich  seit  dem 
Ende  des  .Jahrhunderts   in    die  Wirkungen  einzelner  Männer.    Der 

25* 


388     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrli. 

grosse  Kampf  um  die  Armuth  im  Zeitalter  Johann's  XXII.  hat  als  reli- 
giöser doch  mir  particulare  Bedeutung  gehabt.  In  Deutschland  da- 
gegen beginnt  seit  d(un  Ende  des  13.  Jahrhunderts  die  „deutsche" 
Mystik,  d.  h.  die  Einführung  der  passiom'rten  individuellen  Frömmigkeit 
der  mönchischen  Th(H)logen  in  die  Laienkreise.  Ein  Jahrhundert  lang 
und  mehr  ist  an  der  imieren  Bekehrung  der  Laien  in  Deutschland  ge- 
arbeitet worden,  und  es  sind  ganz  vornehmlich  BettelmÖnche,  nament- 
lich dominikanische,  gewesen,  die  diesen  Dienst  geleistet  haben  (David 
von  Augsburg,  Theodorich  von  Freiburg,  Meister  Eckhart,  Tauler, 
Merswin,  die  „Gottesfreunde",  Seuse,  Heinrich  von  Nördlingen,  Mar- 
garethe  Ebner,  Ruysbroek  u.  s.  w.). 

Während  die  Bettelorden  in  den  romanischen  Ländern  verfielen, 
in  Deutschland  das  religiöse  Leben,  zum  Theil  noch  durch  sie,  sicli 
langsam  hob,    prostituirte  die  weltherrschende  Kirche  sich  selbst  in 
Avignon  und  schien  absichtlich  die  Kirchentreue  der  schon  gefähr- 
deten Frömmigkeit  auf  die  härteste  Probe  stellen  zu  wollen.     Wie 
sehr  das  Papstthum  und  das  Kircheninstitut  doch  noch  die  Gemüther 
und  die  Welt  zusammenhielten,  zeigen  die  Verwirrungen  und  Klagen, 
die  sich,  als  das  grosse  Schisma  hinzutrat,   noch  steigerten.     Unter 
dem  Eindruck  furchtbarer  elementarer  Calamitäten  wurden  die  apo- 
kalyptischen, antihierarchischen  Ideen  die  eigentliche  Gefahr,  zumal 
da  man  selbst  Bettelmönche  als  Gegner  des  Papstthums  sah.    Aber 
nur  in  England  kam  es  damals  zu  einer  grossen  Bewegung.   Das  Ge- 
setz Gottes,  die  Armuth,  die  augustinische  Theologie  —  das  waren 
die  Zeichen,  unter  denen  Wiclif  seine  katholische  Reform  unternahm 
und   der  herrschenden  Kirche   Gericht  und   Umkehr  predigte ,    ein 
zweiter  Franciskus,  verständiger  aber   matter,  umsichtiger  aber  ge- 
bundener.  Ausserhalb  Englands  Var  zunächst  nirgends  eine  ähnliche 
Bew^egung  zu  verspüren;  aber  überall  zeigte  es  sich,  dass  die  Welt  in 
ein  religiöses  Zeitalter  eingetreten  war,  in  welchem  die  Mannigfaltigkeit 
der  Strebungen  Zeugniss  davon  ablegte,  dass  die  Auflösung  des  Be- 
stehenden als  das  Signal  zu  einem  Neubau  empfunden  wurde  —  der 
Spott  und  die  Frivolität  einiger  untergeordneter  italienischer  Poeten 
und  Novellisten  kommt  überhaupt  nicht  in  Betracht.   In  ihren  grossen 
Repräsentanten  fühlte  sich  die  Renaissance,  vor  Allem  die  deutsche, 
die  in  dem  Reiche  des  Gedankens  viel  bedeutender  gewesen  ist  als 
die  italienische,    wieder    der   christlichen  Religion   noch   der   katho 
lischen  Kirche  entwachsen.  Was  sich  wirklich  auflöste,  war  die  mittel- 
alterliche   Gesellschaft,    die    mittelalterlichen    0 r d n u n g e n ,    die 
mittelalterliche  Welt.  Sofern  die  Kirche  mit  dieser  verflochten  war, 
ja  das  Hauptstück  in  ihr  bildete  und  in  dieser  Gestalt  bisher  als  die 


Die  Frömmigkeit  im  14.  und  15.  Jahrhundert.  389 

heilige  gegolten  hatte  —  woran  die  Bettel  or den  nichts  zu  ändern  ver- 
mocht hatten  — ,  war  die  Krisis  gegeben.    Aber  —  man  sagte  sich 
von  ihr  nicht  los;   man  suchte  nach  Mitteln,    sie  politisch  zu  refor- 
miren  (fast  allein  darum  handelte  es  sich  auf  den  Reformconcilien), 
und    das  Mönchthum    schlug    auch    an   seine    eigene  Brust.     Vom 
Ende  des  14.  Jahrhunderts  bis  zur  Reformationszeit  läuft  eine  Kette 
von  wirksamen  Beformen  in  den  älteren  Orden  und  in  den  jüngeren, 
natürhch    auf  der   einmal   gegebenen  Basis.     Täuschen  die  Zeichen 
nicht,    so    haben    sich    namentlich    die    Bettelorden    im    Lauf   de^ 
15.  Jahrhunderts  fortwährend  gehoben  und  an  Einfluss  auf  die  Volks- 
kreise immer  mehr  gewonnen,  in  den  romanischen  Ländern  durch  die 
stossweise  auftretenden  Bussprediger,  in   Deutschland   durch  ernste 
stetige  Arbeit.  Aber  unverkennbar  ist  allerdings  doch,  dass  das  Alles 
nicht  mehr  vollkommen  genügte  und  beruhigte.  Beweis  dafür  ist  neben 
anderen    sectirerischen   Umtrieben,   dass    die  wiclifitische  Bewegung, 
litterarisch  in  das  bereits  apokalyptisch   aufgewühlte   und   franciska- 
nisch  fanatisirte  Tschechenthum  eingeschleppt,  in  Böhmen  durch  Hus 
so  feste  Wurzeln  schlagen  und  eine  so  furchtbare,  das  halbe  Deutsch- 
land erschütternde  Revolution  hervorrufen  konnte.    Aus  dem  wirren 
Durcheinander  „religiöser,   socialer,  nationaler,  joachimisch -apoka- 
lyptischer, chiliastischer,  speciell  wichfitischer  und  waldensischer  Ten- 
denzen,  Gedanken,   Hoffnungen  und  Träumen"  haben  sich  die  Ein- 
zelnen herausgenommen,  was  ihnen  zusagte.   Von  den  wilden  Kriegern 
Gottes,  die  mit  Feuer  und  Schwert  das  Gericht  an  der  Kirche  und 
an    allen  Verächtern  des  göttlichen  Gesetzes  ausübten,    bis  zu    den 
stillen  Brüdern,  die  im  Grunde  ebenso  wegwerfend  über  die  Kirche 
urtheilten  und  ebenso  utopischen  Gedanken  über  die  Gestaltung  der 
menschlichen  Verhältnisse  nachhingen,  aber  in  Geduld  und  Stille  ab- 
warten wollten,   waren  alle  Nuancen  vertreten.    Im  15.  Jahrhundert 
flutheten  die  Ströme  aller  bisherigen  Reformversuche  ineinander;  sie 
konnten  in  ein  Bett  zusammenfliessen ;  denn  im  Grunde  entstammten 
sie  alle  einer  Quelle  -     der  mit  der  Apokalyptik  und  gewissen  au- 
gustinischen  Gedanken  verschwistertcn  Armuthslehre,  also  dem  Ka- 
tholicismus.    „Armuth  stille  geht  und  leise",  hatte  einst  Jacopone  in 
seinem    wunderbaren  Hymnus   gesungen.     Das    war   wahrlich    keine 
Weissagung  auf  die  Zukunft! 

Auch  nachdem  sich  das  Papstthum  durch  eine  Diplomatie  ohne 
Gleichen  den  drückenden  Auflagen  der  Reformconcilien  entzogen 
hatte,  als  die  Völker  um  die  sichere  Aussicht  auf  die  Reform  der 
Kirche  betrogen  waren,  als  die  Päpste  bei  dem  grossen  Unternehmen, 
einen  sicheren  Staat  zu  gewinnen,  in  bisher  beispielloser  Weise  ver- 


390     (^leschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

wilderten  und  der  Reform  Hohn  sprachen,  wurde  die  Frömmigkeit 
an  der  Kirclie  nicht  irre,  sondern  nur  an  ihrer  augenhlicldichen 
Repräsentation  und  an  ihren  verkehrten  Ordnungen.  Es  ist  ein 
falscher  Schhiss  aus  der  Verachtung  der  Pfaffen  und  der  faulen 
Mönche  auf  evangehsche  Stimmung.  Die  lauterste  und  gehorsamste 
katholische  Frömmigkeit  kann  sich  in  ihr  aussprechen.  Diese  ent- 
faltete in  der  2.  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  eine  Stärke  des  leben- 
digen Triebes,  zum  Tlieil  auch  eine  Kraft,  wie  nie  zuvor.  Und  sie 
blieb  unerschütterlich  die  alte  Frömmigkeit.  Sie  zog  die  Laien  mäch- 
tiger an ;  sie  wurde  werkthätiger  und  liebevoller ;  sie  rief  neue  Ver- 
bindungen hervor  5  sie  einigte  Kleriker  und  Laien  zu  gemeinsamen 
frommen  Unternehmungen;  sie  arbeitete  auf  Vertiefung  undVerinner- 
lichung.  Aber  sie  schätzte  eben  desshalb  alle  äusseren  Zeichen  um 
so  höher,  suchte  sie  auf,  vermehrte  sie  und  gab  sich  ihnen  hin.  Man 
mag  darin  ein  Unruhiges,  Unbefriedigtes  entdecken;  aber  man  darf 
nicht  vergessen,  dass  eben  dieses  zur  katholischen  Frömmigkeit  ge- 
hört. Diese  sucht  nicht  nach  einem  Felscngrund,  sondern  nach 
Hülfsmitteln,  und  auch  dort,  wo  sie  die  innerlichste  ist  und  allem 
Aeusserlichen  den  Abschied  gegeben  zu  haben  scheint,  muss  sie  be- 
kennen, dass  sie  offen  oder  heimlich  von  den  Narkosen  und  Stimu- 
lantien  doch  Grebrauch  macht. 

Eine  ungeheure  Umwälzung,  immer  wieder  aufgehalten,  bereitete 
sich  im  L5.  Jahrhundert  vor.  Aber  diese  Umwälzung  drohte 
den  Institutionen,  den  politischen  und  den  kirchlichen; 
sie  drohte  der  Kirche,  nicht  dem  Evangelium ;  sie  drohte  den  neuen 
dogmenartigen  Lehren,  nicht  dem  alten  Dogma.  Dass  sich  eine  Re- 
formation der  Frömmigkeit  im  Sinne  des  Glaubens  anbahnte,  ist 
schlechterdings  durch  nichts  historisch  Greifbares  angedeutet;  denn 
die  radicalsten  Gegner  und  die  treuesten  Anhänger  der  herrschen- 
den Kirche  waren  darin  einig,  dass  bei  Augustin  und  Franciskus 
die  Kräfte  zur  Reform  des  Kirchenwesens  beschlossen  seien.  Die 
Kirchenlehren,  die  controvers  wurden,  waren  im  Grunde  noch  kehie 
Kirchenlehren  ^ ,  und  wiederum  —  auch  das  radicalste  Kirchenpro- 
gramm hatte  an  Elementen  der  vulgären  Kirchenlehre  seine  starken 
Wurzeln  und  seinen  Rechtstitel.  So  blieb  auch  das  Dogma  wesent- 
lich unangetastet.  Wie  konnte  im  Zeitalter  des  Nominalismus  Jemand 
vermuthen,  das  Heil  der  Reform  müsse  aus  der  Lehre  kommen, 
solange   die    Autorität   der    dogmatischen   Ueberlieferung  unberührt 


^  Die  Lehre  vom  Ablass,  von  der  Hierarchie,  vom  freien  Willen  etc.  Aller- 
dings fanden  auch  einige  altüberlieferte  Lehren  Widerspnich  (ewige  Verdammniss, 
Fegefeuer  u.  s.  w.),  aber  keinen  durchgreifenden. 


Die  Frömmigkeit  im  15.  Jahrhundert.  391 

blieb?  Und  doch  wäre  es  eine  sehr  kindhche  Betrachtung,  welche 
die  Reformation  desshalb  für  ein  absolut  Neues  erklären  würde,  weil 
für  sie  directe  Vorstufen  nicht  nachweisbar  sind.  Der  Individualismus, 
die  Macht  des  persönlichen  Lebens,  die  unabweislichen  Forderungen 
der  Umformung  des  staatlichen  Lebens,  die  Bedürfnisse  einer  immer 
unruhiger  werdenden  Frömmigkeit,  das  Misstrauen  gegen  die  Hier- 
archie, das  aufstrebende  Bewusstsein  der  eigenen  Verantwortung  und 
die  Sehnsucht  nach  persönlicher  Gewissheit,  die  Ueberzeugung,  dass 
Christus  in  seiner  Kirche  sei  und  dass  er  doch  nicht  im  Kirchen- 
thum  sei  —  das  Alles  vermochte  nicht  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen 
ohne  eine  Reformation,  die  äusserlich  minder  radical  schien  als  das 
Programm  der  sengenden  und  brennenden  Husiten,  in  Wahrheit  aber 
dieses  weit  hinter  sich  Hess.  Und  die  Frömmigkeit,  d.  h.  der  kirch- 
liche Glaube  selbst,  hatte  unter  den  mannigfachen  Elementen,  die 
er  einschloss,  das  neue  Element  als  eingeborenes  in  seiner  Mitte  —  an 
Sprüchen  Christi  und  an  Lehren  des  Paulus,  an  dem  Lebensbild  jedes 
Christen,  der  in  dem  Vertrauen  auf  die  Gnade  Gottes  in  Christus 
sich  vom  Gesetz  der  Gnadenspendungeri  und  Verdienste  und  vom  Ge- 
setz des  Buchstabens  innerlich  losgelöst  hatte. 

Unter  einer  zum  Gestrüpp  entarteten  Theologie,  aus  den  hunder- 
ten  von  religiös-kirchUchen  Neubildungen,  Vereinen  und  Brüderschaften, 
aus  den  unzähligen  Formen,  in  denen  das  Heilige  beschlossen  und  ge- 
sucht wurde,  aus  den  Predigten  und  der  Erbauungslitteratur  aller  Art 
hört  man  einen  Ruf  deutlich  und  immer  deutlicher  heraus  —  den 
Ruf  nach  lebendigem  religiösem  Leben,  nach  dem  praktischen  Christen- 
thum,  nach  der  Religion,  die  wirklich  Religion  ist.  „Die  animae  meae, 
Salus  tua  ego  sum"  —  dieses  Gebet  Augustin's  ist  die  verborgene 
Kraft  der  Unruhe  der  Völker,  namentlich  der  germanischen,  im 
15.  Jahrhundert  gewesen.  Dogmatisch  ausgedrückt:  man  suchte  nach 
einer  sicheren  Heilslehre  ^  aber  man  wusste  selbst  nicht,  was  man 
suchte.  Auf  die  unsicheren  und  stammelnden  Fragen  erfolgten  nur 
unsichere  und  stammelnde  Antworten.  Man  vermag  sich  dem  Zauber 
auch  heute  nicht  zu  entziehen,  der  gerade  an  solchen  Fragen  und 
solchen  Antworten  haftet;  denn  sie  öffnen  einen  Blick  in  die  lebendige 
Bewegung  der  Herzen ;  aber  wem  die  Religion  so  ernst  geworden  ist, 
dass  er  in  ihr  nicht  nach  Reizen  sucht,  sondern  nach  Nahrung,  der 
wird  Luther's  kleinen  Katechismus  und  seine  Lieder  nicht  mit  der 
ganzen  Fülle,  Schönheit  und  Lebendigkeit  der  deutschen  Erbauungs- 
litteratur des  14.  und  15.  Jahrhunderts  vertauschen  mögend 

*  Da»  hier  Gesagte  gilt  aucli  von  der  Gothik.  Sie  ist  gewiss  das  Grösste,  Vol- 
lendetste und  Einheitlichste,  was  die  Baukunst  seit  dem  griechischen  Tempel  her- 


392     (leschichte  des  Dogmas  im  Zoitaltcr  der  Hettelorcleii  bis  zum  16.  Jahrh. 

2.  Zur  Geschichte  des  kirchlichen  Rechts.     Die  Lehre  von 

der  Kirche. 

„In  den  fünfzig  Jahren,  welche  von  dem  Erscheinen  des  Gratia- 
nischen  Rechtsbuchs  dasselbe  enthält  neben  den  isidorischen  zahl- 
reiche Fälschungen  der  Gregorianer  Deusdedit,  Anselm,  Gregor  von 
Pavia  und  dazu  noch  eigene  Fälschungen  ^  —  bis  zum  Pontificat 
Jnnocenz'  III.  verflossen,  rang  sich  das  päpstliche  System  zu  voll- 
ständiger Herrschaft  durch.    In  den  römischen  Gerichtshöfen  wurde 


vorgebracht  hat,  ja  sie  ist  der  einzige,  Alles  durchdriugende  und  zur  Einheit  zusam- 
menfassende Stil  nach  dem  griechischen  Tempelstil.  Sie  beweist  an  sich,  dass  das 
Mittelalter  auf  seinem  Höhepunkt  eine  einheitlicheKultur  besessen  hat,  die  in  ihrer 
Art  vollkommen  gewesen  ist.  Aber  die  Gothik  ist  eben  desshalb  der  Stil  des  mittel- 
alterlichen katholischen  Christenthums,  der  Stil  der  Mystik  und  Scholastik.  Sie  er- 
weckt genau  die  Empfindungen,  Grefühle  und  Schauer,  welche  die  katholische  Fröm- 
migkeit, aus  der  sie  geboren  ist,  erwecken  will ;  eben  desshalb  ist  sie  auch  romani- 
schen Ursprungs,  und  die  Geschichte  ihrer  Verbreitung  ist  lediglich  eine  Parallele 
zur  Geschichte  der  Verbreitung  romanischer  Frömmigkeit.  Vielleicht  das  Tiefste, 
was  über  die  Gothik,  ihren  unsäglichen  Reiz  und  ihre  ästhetische  Kraft,  gesagt  wer- 
den kann,  aber  auch  wie  protestantische  Frömmigkeit  ihr  gegenüber  reagiren 
muss,  hat  Goethe,  Wahlverwandtschaften  (Hempel'sche  Ausgabe  XV  S.  143. 137. 
173)  zum  Ausdruck  gebracht:  „.  .  .  sie  setzte  sich  auf  einen  der  Stühle  ( —  in  einer 
gothischen  Kapelle  — ),  und  es  schien  ihr,  indem  sie  auf-  und  umherblickte,  als  wenn 
sie  wäre  und  nicht  wäre,  als  wenn  sie  sich  empfände  und  nicht  empfände,  als  wenn 
dies  Alles  vor  ihr,  sie  vor  sich  selbst  verschwinden  sollte,  und  nur  als  die  Sonne  das 
bisher  sehr  lebhaft  beschienene  (bunte  Glas)  Fenster  verliess,  erwachte  sie."  „Aus 
allen  Gestalten  blickt  nur  das  reinste  Dasein  hervor;  alle  muss  man,  wo  nicht  für 
edel,  doch  für  gut  ansprechen.  Heitre  Sammlung,  willige  Anerkennung  eines  Ehr- 
würdigen über  uns,  stille  Hingebung  in  Liebe  und  Erwartung  ist  auf  allen  Ge- 
sichtern, in  allen  Geberden  ausgedrückt.  Der  Greis  mit  dem  kahlen  Scheitel,  der 
reichlockige  Knabe,  der  muntere  Jüngling,  der  ernste  Mann,  der  verklärte  Heilige, 
der  schwebende  Engel  —  Alle  scheinen  selig  in  einem  unschuldigen  Genügen,  in 
einem  frommen  Erwarten.  Das  Gemeinste,  was  geschieht,  hat  einen  Zug  von  himm- 
lischem Leben,  und  eine  gottesdienstliche  Handlung  scheint  ganz  jeder  Natur  an- 
gemessen. Nach  einer  solchen  Region  blicken  wohl  die  Meisten  wie  nach  einem 
verschwundenen  goldenen  Zeitalter,  nach  einem  verlorenen  Paradiese  hin."  Aber 
dagegen:  „Was  mich  betrifft,  so  will  mir  diese  Annäherung,  diese  Vermischung  des 
Heiligen  zu  und  mit  dem  Sinnlichen  keineswegs  gefallen,  nicht  gefallen,  dass  man 
sich  gewisse  besondere  Räume  widmet,  weihet  und  aufschmückt,  um  erst  dabei  ein 
Gefühl  der  Frömmigkeit  zu  hegen  und  zu  unterhalten.  Keine  Umgebung,  selbst  die 
gemeinste  nicht,  soll  in  uns  das  Gefühl  des  Göttlichen  stören,  das  uns  überall  hin 
begleiten  und  jede  Stätte  zu  einem  Tempel  einweihen  kann.  Ich  mag  gern  einen 
Hauptgottesdienst  in  dem  Saale  gehalten  sehen,  wo  man  zu  speisen,  sich  gesellig  zu 
versammeln,  mit  Spiel  und  Tanz  zu  ergetzen  pflegt.  Das  Höchste,  das  Vorzüg- 
lichste am  Menschen  ist  gestaltlos,  und  man  soll  sich  hüten,  es  anders  als  in  edler 
That  zu  gestalten." 

»  S.  Janus  S,  154  ff. 


Das  Kirchenrecht  als  die  Cxrossmacht.   Die  Lehre  von  der  Kirche.        393 

nach  Gratian  Recht  gesprochen,  in  Bologna  nach  ihm  gelehrt,  selbst 
Kaiser  Friedrich  I.  Hess  bereits  seinen  Sohn  Heinrich  VI.  im  Decretum 
und  im  römischen  Recht  unterrichten.  Die  ganze  Decretalengesetz- 
gebung  von  1159 — ^1320  ist  auf  dem  Fundament  Gratian's  erbaut  und 
setzt  ihn  voraus.  Dasselbe  gilt  von  der  Dogmatik  des  Thomas  von 
Aquin  in  den  einschlägigen  Materien,  wie  denn  überhaupt  die  scho- 
lastische Dogmatik  in  Fragen  der  Kirchenverfassung  sich  gänzlich  der 
Lieblingsvvissenschaft  des  damahgen  Klerus,  der  Jurisprudenz,  wie  sie 
Gratian,  Raymund  und  die  übrigen  Decretalensammler  zurecht  gelegt 
hatten,  unterordnete.  Die  Theorie  sowohl  als  die  Texte  und  Belege 
dazu  entlehnten  die  Theologen  aus  diesen  Rechtssammlungen"  ^  In  Be- 
zug auf  das  Wesen  der  Kirche  bürgerte  sich,  neben  der  festgehaltenen 
augustinischen  Definition,  dass  die  Kirche  die  Gemeinschaft  der  Gläu- 
bigen resp.  der  Prädestinirten  sei,  immer  sicherer  die  Vorstellung  ein, 
dass  die  Hierarchie  die  Kirche  sei,  und  dass  der  Papst  als  Nachfolger 
Petri  und  episcopus  universalis  alle  Gewalten  der  Kirche  in  sich  ver- 
einige. Die  deutschen  Könige  selbst  trugen  einen  grossen  Theil  der 
Schuld  an  dieser  Entwickelung ;  denn  indem  sie,  vor  Allem  die  hohen- 
staufischen,  den  Kampf  für  die  Rechte  des  Staats  gegenüber  dem 
Papstthum  führten,  liessen  sie  dasselbe  auf  kirchlichem  Gebiet  in  un- 
verantwortlicher Weise  gewähren.  Erst  als  es  bereits  zu  spät  war,  hat 
Friedrich  II.  in  seinem  Schreiben  ad  reges  Francorum  et  Anglorum 
daraufhingewiesen,  dass  die  Hierarchie  durch  eine  innere  Reform  zur 
ursprünglichen  Armuth  und  Demuth  zurückgeführt  werden  müsse  "^. 
In  der  Entwickelung  des  Papstthums  zur  autokratischen  Herrschaft 
innerhalb  der  Kirche  und  Kirchen  ist  ihm  im  13.  Jahrhundert  nur 
von  Frankreich  eine  sichere  Schranke  (pragmatische  Sanction)  gezogen 
worden. 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  zu  zeigen,  welche  Conse- 
(juenzen  im  Einzelnen  aus  der  Idee  der  Kirche  als  eines  staathchen 
Organismus  des  Rechts  im  13.  Jahrhundert  und  in  der  ersten  Hälfte 
des  14.  von  den  Päpsten  und  iliren  Freunden  gezogen  und  in  welchem 
Masse  sie  wirklich  geworden  sind.  Die  leitenden  Gedanken  waren  fol- 
gende: 1)  Die  hierarchische  Organisation  ist  der  Kirche 
wesentlich,  und  in  allen  Beziehungen  ist  das  Christenthum 
der  Laien  an  die  Vermittelung  der  Priester  (rite  ordinati)  ge- 
bunden, die  allein  die  kirclilic^hen  Handlungen  vollziehen 
können.  Wenn  man  von  Cyprian  zu  Gregor  I.,  von  diesem  zu  Pscudo- 
isidor  und  Gregor  VII.  fortschreitet,  so  kann  man  bei  oberflächlicher 

»  S.  Jamis  S.  162  f. 

»  S.  die  Stelle  bei  Gicseler  11,  2,  4.  Aufl.  S.  153. 


394     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  derBettelordeii  bis  zum  16.  Jahrh. 

Beiirtheilung  meinen,  der  eben  genannte  Grundsatz  sei  längst  mass- 
gebend gewesen.  Allein  wenn  man  auf  das  Einzelne  eingeht  und  die 
kirchliche  Gesetzgebung  seit  Innocenz  IIJ.  ins  Auge  fasst,  so  bemerkt 
man,  wie  viel  noch  an  seiner  strengen  Durchführung  in  der  Theorie 
und  Praxis  bis  zum  Ende  des  12.  Jahrhunderts  gefehlt  hat.  Erst  vom 
4.  Lateranconcil  ab  wird  er,  in  ausgesprochenem  Gegensatz  zu  denkatha- 
rischen  und  waldensischen  Parteien,  mit  aller  Schärfe  geltend  gemachte 
2)  Die  sacramentalen  und  jurisdic tionellen  Gewaltender 
Priester  sind  unabhängig  von  ihrer  persönlichen  Würdig- 
keit. Auch  dies  ist  ein  alter  Grundsatz;  aber  er  wurde  jetzt,  nachdem 
er  lange  latent  war,  scharf  betont,  den  „ketzerischen"  Parteien  ent- 
gegengehalten und  so  ausgebeutet,  dass  die  Hierarchie  sich  durch  den- 
selben vor  jeder  Zumuthung  einer  inneren  Reform  schützte  und  sich 
vor  Allem  der  Anforderung,  das  apostolische  Leben  wiederaufzunehmen, 
entzog.  AVer  von  den  „ketzerischen"  Parteien  in  den  Schoss  der 
Kirche  zurückkehrte,  musste  erklären,  dass  er  die  Sacramentsverwaltung 
sündiger  Priester  anerkenne^.  3)  Die  Kirche  ist  sichtbare  Ge- 
meinschaft mit  einer  ihr  von  Christus  gegebenen  Verfassung 
(auch  als  solche  ist  sie  corpus  Christi);  als  sichtbare^  ver- 
fasste  Gemeinschaft  hat  sie  eine  doppelte  potestas,  näm- 
lich die  potestas  spiritualis  und  temporalis.  Durch  beide 
ist  sie,  die  bis  zum  Weltuntergang  bleiben  soll,  den  ver- 
gänglichen Staaten  überlegen  und  übergeordnet.  Ihr  müssen 
desshalb  alle  Staaten  und  alle  Einzelnen  de  necessitate  sa- 
lutis  gehorsam  sein;  ja  es  erstreckt  sich  die  Gewalt  der  Kirche 
auch  über  die  Ketzer^  und  Heiden^.  Auch  diese  Grundsätze ^ 
haben  ihre  Wurzeln  in  der  augustinischen  Lehre  von  der  Kirche^;  allein 
durch  die  consequente  Ausprägung  und  wirksame  Durchführung,  welche 

^  S.  besonders  das  1.  und  3.  Decret  der  Synode.  Mansi  XXII  p.  982  sq. 
Hefele  V  S.  879  ff.  Ganz  consequent  ist  er  übrigens  nicht  durchgeführt  worden, 
wie  das  zugestandene  Recht  der  Laien,  im  Nothfall  taufen  zu  können,  die  Absol- 
virung  durch  einen  Laien  in  casu  mortis  und  die  Behandlmig  des  Ehesacrameuts 
beweisen. 

''^  S.  z.  B.  das  Bekenntniss  des  Durandus,  Innocent.  III  epp.  XI,  196. 

^  Ueber  die  Inquisition  s.  Janus  S.  254  ff.  und  Thomas,  Summa  See.  See. 
quaest.  11  art.  3  conclusio:  „Haeresis  est  peccatum,  per  quod  meruerunt  per  mor- 
tem a  mundo  excludi" ;  art.  4  coucl. 

*  Augustinus  Triumphus  (f  1328),  Summa  de  potest.  eccl.  ad  Johannem  XXII, 
Quaest.  23  art.  1 :  „pagani  iure  sunt  sub  papae  obedientia." 

^  Die  Hierarchie  zusammen  mit  den  Mönchen  gilt  als  die  eigenthche  Kirche. 

^  Allerdings  konnte  man  bei  Augustin  auch  Stellen  finden,  die  gegen  die  gre- 
gorianischen Ansprüche  der  Kirche  zu  verwenden  waren,  s*Mirbt,  Die  Stellung 
Augustin's  in  der  Publicistik  des  gregor.  Kirchenstreits  1888. 


Das  päpstliche  Kirchenrecht,  395 

sie  zwischen  1050  und  1300  gewonnen  haben,  stellen  sie  sich  doch  als 
eine  unerhörte  Neuerung  dar.  Ihren  formulirten  Abschluss  haben  sie 
durch  Bonifacius  VIII.  erhalten  *;  allein  schon  lange  vor  ihm  haben  die 
Päpste  nach  diesen  Grundsätzen  gehandelt.  Die  schlimmste  Folge  war 
nicht  die  Missachtung  ^,  Niederhaltung  und  Verwüstung  des  staatlichen 
Lebens  —  hier  sind  im  Gegentheil  auch  manche  heilsame  Wirkungen 
zu  Gunsten  der  Völkerfreiheit  zu  constatiren  — ,  sondern  die  unaus- 
bleibliche Profanirung  der  Religion,  sofern  alle  ihre  Ziele  und  Güter 
durch  die  ihnen  fremde  Betrachtung  unter  dem  kirchenrechtlichen 
Gesichtspunkt  verrückt  und  verfälscht  wurden,  und  der  Gehorsam  gegen 
ein  äusserliches  menschhches  Institut,  welches  allen  Fehlern  mensch- 
licher Leidenschaft  und  Sünde  unterlag,  zur  ersten  Bedingung  der  Christ- 
lichkeit erhoben  wurde.  „Diese  Kirche  ist  es,  auf  welche  jene  schwerste 
Verantwortlichkeit  fällt,  die  je  in  der  Geschichte  vorgekommen  ist:  sie 
hat  eine  getrübte  und  zum  Vortheil  ihrer  Allmacht  entstellte  Lehre  mit 
allen  Mitteln  der  Gewalt  als  reine  Wahrheit  durchgesetzt  und  im  Ge- 
fühl ihrer  Unantastbarkeit  sich  der  schwersten  Entsittlichung  über- 
lassen; sie  hat,  um  sich  in  solchem  Zustande  zu  behaupten,  gegen  den 
Geist  und  das  Gewissen  der  Völker  tödtliche  Streiche  geführt  und  viele 
von  den  Höherbegabten,  welche  sich  ihr  innerlich  entzogen,  dem  Un- 
glauben und  der  Verbitterung  in  die  Arme  getrieben"  ^.  4)  Der  Kirche 
ist  von  Christus  eine  streng  monarchische  Verfassung  in 
seinem  Stellvertreter,  dem  Nachfolger  Petri,  dem  römischen 
Bischof  gegeben.  Alles  was  von  der  Hierarchie  gilt,  gilt 
nicht  nur  in  erster  Linie  vom  Papst,  sondern  ihm  sind  alle 
Gewaltenübergeben,  und  die  übrigen  Glieder  der  Hierarchie 
sind  nur  in  partem  sollicitudinis  berufen.  Er  ist  der  epi- 
scopus  universalis;  ihm  gehören  daher  die  beiden  Schwerter, 
und  da  ein  jeder  Christ  die  Heiligung  nur  in  der  Kirche  er- 
reichenkann, dieKirche  aber  die  Hierarchie,  die  Hierarchie 
der  Papst  ist,  so  folgt,  dass  de  necessitate  salutis  alle  Welt 
dem  Papste  unterthan  sein  muss.   Bereits  Gregor  VII.  hat  inzahl- 


*  S.  die  Anmerkung  2  auf  S.  396. 

^  Gregor  VII.  hat  den  Widerspruch  gegen  die  evangelische  Lehre,  dass  die 
(Jhrigkeit  von  Gott  sei,  am  weitesten  getrieben;  s.  epp.  VIII,  21 :  „quis  nesciat, 
reges  et  duces  ab  iis  habuisse  priucipium,  qui  deum  igiioraiites,  superbia,  raplnis,  ! 
perfidia,  homicidiis,  postremo  univcrsis  paeue  sceleribus,  mundi  princii)e  diabolo 
videHcet  agitaute,  dominari  caeca  cupiditate  et  intolerabili  praesumptione  afFecta- 
verunt."  A})or  auch  nach  Innocentius  III.  ist  der  Staat  „per  extorsionem  huma- 
nam"  entstanden.  Andererseits  sind  auch  die  strengsten  Papalisten,  ja  Gregor  VII. 
selbst,  sich  über  die  Abgrenzung  von  Staats-  und  Kirchengcwalt  nicht  klar  gewesen. 

^Burckhardt,  Kultur  der  Kenaissancc.  '6.  Aufl.  2.  Bd.  S.  228. 


396     (ieschichU'  des  Dopfnias  imZeitaltii- (Ut  Hcttclonlcn  Mhzuiii  lf>..Taliili. 

reichen  Briefen  diese  GrundRÜtze  in  einer  Weise  vertreten,  die  nicht 
mehr  zu  überbieten  war  (vgl.  auch  den  sogen,  dictatus  Gregorii).  Allein 
bei  ihm  erscheint  Alles  als  der  AusHuss  einer  mächtigen  Herrscher- 
persünlichkeit,  die  in  einem  furchtbaren  Kampf  zu  den  höchsten  Mitteln 
greift.  In  der  Folgezeit  aber  wurden  seine  Sätze  nicht  nur  aus- 
gesprochen, sondern  wirksam  gehandhabt  und  zugleich,  Dank  einer  er- 
staunlichen Kette  von  Fälschungen,  auch  von  Solchen  gläubig  aufge- 
nommen, die  das  Papstthum  l)ekämpfen  mussten.  In  der  Zeit,  da  sich 
das  Papstthum  einem  schwachen  Kaiserthum  im  Occident  und  einem 
noch  viel  schwächeren  lateinischen  Kaiserthum  im  Orient  gegenüber- 
gestelltsah,  hxirte  sich  (vonlnnocentius  III.  ab)  diese  Anschauung  in  den 
Gemüthern  und  Köpfen  der  Menschen.  Thomas  hat  m.  W.  zuerst  den 
Satz  rund  foi'mulirt:  „subesse  Romano  pontifici  est  de  necessitate  sa- 
lutis"  K  Dann  ist  in  der  Bulle  „Unam  sanctam"  Bonifacius'  VIII. 
(1302)  die  ganze  Theorie  in  unübertrefflicher  AVeise  zusammengefasst 
worden,  nachdem  sich  die  Päpste  ein  Jahrhundert  lang  in  hunderten 
von  kleinen  und  grossen  Fragen  (Fragen  der  Kirchenpolitik,  der  Staats- 
politik, der  Diöcesanverwaltung  u.  s.  w.)  streng  nach  ihr  gerichtet 
hatten  und  in  der  Lage  waren,   alle  Proteste  überhören  zu   dürfen  '^. 

*  Opusc.  c.  eiT.  Graec.  fol.  9.  Den  schwacheu  Griechen  wrirde  überhaupt  das 
Recht  Roms  im  13.  Jahrhundert  in  exorbitanter  Weise  vordemonstrirt,  und  das 
wirkte  auf  das  Abendland  zurück. 

'^  Die  wichtigsten  Sätze  der  Bulle  lauten:  „Unam  sanctam  ecclesiam  catholi- 
cam  et  ipsam  apostolicam  urgente  fide  credere  cogimur  et  teuere.  Nosque  haue 
firmiter  credimus  et  simpliciter  confitemur,  extra  quam  nee  salus  est  nee  remissio 
peccatorum  (nun  wird  die  Kirche  geistlich  beschrieben  mit  ihrem  Haupt  Christus). 
Igitur  ecclesiae  uuius  et  unicae  unimi  corpus,  unum  caput,  non  duo  capita,  (juasi 
monstrum,  Christus  videlicet  et  Christi  vicarius  Petrus  Petrique  successor  (folgt 
Joh.  21,  16;  hier  seien  Petrus  oves  universae  anvertraut  worden).  In  hac  eiusque 
potestate  duos  esse  gladios,  spiritualem  videlicet  et  temporalem,  evangelicis  dictis 
instruimur.  Nam  dicentibus  apostolis :  ecce  glädii  duo  hie  (Lc.  22,  38),  in  ecclesia 
scilicet,  cum  apostoli  loquerentur,  non  respoudit  dominus  nimis  esse,  sed  satis.  Certe 
qui  in  potestate  Petri  temporalem  gladium  esse  negat,  male  verbum  attendit  domini 
proferentis  :  converte  gladium  tuum  in  vaginam  (Mt.  26,  52).  Uterque  ergo  est  in 
potestate  ecclesiae,  spiritualis  scilicet  gladius  et  materialis.  Sed  is  quidem  pro 
ecclesia,  ille  vero  ab  ecclesia  exercendus.  Ille  sacerdotis,  ille  manu  regum  et  mili- 
tum,  sed  ad  nutum  et  patientiam  sacerdotis.  Oportet  autem  gladium  esse 
sub  gladio  et  temporalem  potestatem  spirituali  subici  potestati,  nam  cum  dicat 
apostolus  (folgt  Rom.  13,  1)  .  .  .  non  ordiuatae  essent,  nisi  gladius  esset  sub  gladio 
(die  geistliche  Gewalt  überragt  an  AVürde  und  Adel  jegliche  irdische  Gewalt  so 
sehr  wie  das  Geistliche  das  Irdische).  Nam  veritate  testante  spiritualis  p o tes- 
taste rrenam  potestatem  instituere  habet  et  iudicare,  si  bona  nou 
fuerit  (folgt  Jerem.  1, 10).  Ergo  si  deviat  terrena  potestas,  iudicabitiir  a  potestate 
spirituali,  sed  si  deviat  spiritualis  minor,  a  suo  superiori,  si  vero  suprema,  a  solo 
deo,  non  ab  homine  poterit  iudicari,  testante  apostolo  (I  Cor.  2,  25).   Est  autoni 


Das  päpstliche  Kirchenrecht.   Der  Papst.  397 

Die  Aufrichtung  der  strengen  monarchischen  Gewalt  und  die  Zertrüm- 
merung der  alten  Kirchenverfassung  ist  durch  die  Stadien  Pseudoisidor, 
Gratian  und  die  Bettelorden  bezeichnet;  denn  die  letzteren  zerrütteten 
durch  die  besonderen  Rechte^  die  sie  erhielten,  die  localen  Gewalten 
(Bischöfe^  Presbyterien,  Pfarrer)  vollends  und  waren  ganz  der  päpst- 
lichen Leitung  unterstellt  K  Alle  Prämissen,  aus  welchen  die  Noth- 
wendigkeit  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  folgte,  waren  bei  einander; 
auch  hat  Thomas,  nachdem  neue  Fälschungen  hinzugekommen  waren, 
sie  streng  entwickelt  ^.   Dennoch  —  obgleich  die  Lehre  längst  feststand. 


haec  auctoritas,  etsi  data  sit  homini  et  exerceatur  per  hominem,  non  humana  sed 
potius  divina,  ore  divino  Petro  data  sibique  suisque  suocessoribus  in  ipso  quem  con- 
fessus  mit  petra  firmata,  dicente  domino  ipsi  Petro  (Mt.  16,  19).  Quicunque  igitur 
huic  potestati  a  deo  sie  ordinatae  resistit,  dei  ordinationi  resistit,  nisi  duo  sicut 
Manichaeus  fingat  esse  princijDia,  quod  falsum  et  haereticum  iudicamus,  quia 
testante  Mose  non  in  principiis  sed  in  principio  coelum  deus  creavit  et  terram. 
Porro  subesse  Romano  pontifici  omni  humanae  naturae  declaramus, 
dieimus,  definimus  et  pronuntiamus  omnino  esse  de  necessitate 
salutis." 

*  Janus  S.  166:  „Bereit  allenthalben  als  päpstlich  delegirte,  von  den  Bischöfen 
vÖHig  unabhängige,  die  Woltpriester  und  Pfarrer  an  Vollmacht  übertreftende 
Agenten  aufzutreten  und  einzugreifen,  bildeten  sie  eigene  Kirchen  in  dex  Kirche, 
arbeiteten  für  die  Ehre  und  Grösse  ihrer  Orden  und  für  die  Macht  des  Papstes,  auf 
welcher  ihre  privilegirte  Stellung  beruhte." 

2  Hier  kommen  besonders  die  pseudocyrillischen  Stellen  in  Betracht  5  s.  die 
werthvolle  Untersuchung  von  Reu  seh,  Die  Fälschungen  in  dem  Traetat  des  Tho- 
mas V.  Aquin  gegen  die  Griechen,  Abhandl.  d.  k.  bay.  Akad.  der  Wissensch.  III.  Cl. 
18.  Bd.  3.  Abth.  1889.  Ueber  Thomas  als  den  Normaltheologen  für  die  L.  v.  d.  Un- 
fehlbarkeit s.  Langen,  Das  Vatic.  Dogma.  3  Thl.  S.  99  fl".,  Leituer,  Der  hl.  Tho- 
mas über  das  unfehlbare  Lehramt  des  Papstes  1872,  Delitzsch,  Lehrsystem  der 
römischen  K.  I  S.  194  ff".  Thomas,  Summa  See.  See.  qu.  11  art,  2:  „Sic  ergo  aliqui 
doctores  videntur  dissensisse  vel  circa  ea  quorum  nihil  interest  ad  fidem  utrum  sie 
vel  aliter  teneatur,  vel  etiam  in  quibusdam  ad  fidem  pertinentibus,  quae  nonduni 
erant  per  ecclesiam  determinata.  Postquam  autem  essent  auctoritate  universalis 
ecclesiae  determinata,  si  quis  tali  ordinationi  pertinaciter  repugnaret,  haereticus 
censeretur.  Qua equidem  auctoritas  princip aliter  residet  in  summopon- 
tifice."  See.  See.  qu.  1  art.  10  („utrum  ad  summum  poutificem  pertineat  fidei 
symbolum  ordinäre?"):  Hier  wird,  wie  gewöhnlich,  die  These  zuerst  verneint;  dann 
heisst  es:  „editio  symboli  facta  est  in  synodo  generali,  sed  huiusinodi  synodus  aucto- 
ritate solius  sumrni  pontificis  potest  congregari.  Ergo  editio  symboli  ad  auctorita- 
tem  summi  pontificis  pertinet."  Ferner:  „Nova  editio  symboli  necessaria  est  ad 
vitandum  insurgontes  errores.  Ad  illius  ergo  auctoritatem  pertiuet  editio 
symboli,  ad  cuius  auctoritatem  pert inet  final iter  de t er miuare  ea  quae 
H\n\i  fidei,  u t  ab  o m n i b u s  i n c (j n c u s s a  f i d e  t e n e a n t u r.  H oc  autem  pertinet 
ad  auctoritatem  summi  pontificis,  ad  (|U(!m  maiores  (;t  difiiciliores  ecclesiae  (juaestio- 
nea  referuntur  (folgt  eine  Dec^retaienstelh;).  IJnde  et  dominus  (Lc.  22,  32)  Petro 
dixit,  (juem  Hummurii  pontilicein  eoustituit:   fcJg«;  pro  t(!  i-ogavi  etc.    Et  huius  ratio 


398     (loschithte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

dass  die  römische  Kirche  in  Folge  eines  besonderen  gÖtthchen  Schutzes 
nicht  vöUig  vom  Ghiuhen  abfallen  könne  und  der  gottgesetzte  Hort  der 
Lehrreinheit  und  Lehroinheit  sei  —  hat  sich  ausserhalb  der  Gruppen, 
die  unter  dorn  Einfluss  des  Dominikanerordens  standen,  die  Lehre  von 
der  Unfehlbarkeit  nicht  durcligesetzt.  Die  Geschichte  der  Päpste  war 
noch  zu  bekannt,  selbst  in  dem  kanonischen  Rechtsbuch  war  AVider- 
sprechendes  enthalten  \  und  so  grosse  Päpste  wie  Innocenz  IIT.  haben 
die  IMöglichkeit,  dass  ein  Papst  in  Glaubenssachen  in  eine  Sünde  fallen 
könne,  eingeräumt  und  für  diesen  Fall  die  Zuständigkeit  des  Gerichts 
der  Gesamnitkirche  anerkannt  *.  So  war  es  möglich,  dass  sich  an  der 
Universität  Paris  ein  entschiedener  Widerspruch  festsetzte,  der  z.  B.  in 
Bezug  auf  eine  Lehre  Johänn's  XXII.  zur  Bezichtigung  der  Häresie 
des  Papstes  führte.  Die  Unsicherheit,  in  der  sich  noch  manche  kirch- 
liche Lehren  (und  Theorien  für  die  Praxis,  z.  B.  betreffs  der  Ordination) 
befanden,  und  die  schwankende  Stellung,  welche  die  Päpste  zu  ihnen 
einnahmen,  verhinderte  es  auch,  die  dogmatische  Autorität  derselben 
für  eine  absolute  zu  nehmen  ^.  Obgleich  den  Geschichtsfälschungen 
durch  Herausgabe  von  Geschichtsdarstellungen,  die  den  grossen  Kampf 
des  Papstthums  und  Kaiserthums  in  unglaublicher  Weise  übermalten, 
um  1300  die  Krone  aufgesetzt  wurde '^  und  die  Grundsätze  der  thomi- 
stischen  Politik  ^  sich  immer  mehr  einbürgerten,  so  blieb  die  entschei- 
dende Frage  nach  der  Unfehlbarkeit  ungelöst.  Ja  seit  dem  Jahre  1330 
hörte  jene  Litteratur,  in  der  das  Papalsystem  in  ausschweifendster  Weise 
ausgebildet  wurde,  überhaupt  auf  ^.    Erst  nach  120  Jahren  setzte  sie 


est:  quia  una  fides  debet  esse  totius  ecclesiae  secimdum  illud  I  Cor.  1, 10:  Id  ipsum 
dicatis  omnes,  et  non  siiit  in  vobis  Schismata-  Qu  od  servari  non  posset  nisi 
quaestio  exorta  de terminetur  per  eum,  qui  toti  ecclesiae  praeest, 
ut  sie  eius  sententia  a  tota  ecclesia  firmiter  teneatur,  et  ideo  ad  solam 
auctoritatem  summi  pontificis  pertinet  nova  editio  symboli,  sicut  et  omnia  alia  quae 
pertinent  ad  totam  ecclesiam,  ut  congregare  synodum  generalem  et  alia  huiusmodi." 
Der  Lehrsatz,  dass  jedem  Papst  persönliche  Heiligkeit  zukomme  (Gregor  VII.),  ist 
nicht  mehr  wiederholt  worden,  weil,  wie  Dö  Hing  er  (Janus  S.  168)  vermuthet,  die 
Gefahr  vorlag,  aus  mangelnder  Heiligkeit  auf  die  TJnrechtmässigkeit  eines  Papstes 
zu  schliessen. 

^  S.  den  dem  Bonifaz  zugeschriebenen  Kanon  Gratian's  „Si  Papa",  dist.  6,  40. 

'^  S.  das  Zugeständniss  in  Eymerici  Director.  Inquis.  p.  295  (citirt  nach  Janus 
S.  295). 

'  S.  die  Frage  der  Reordinationen  in  Bezug  auf  „Simonisten". 

*  Martin  von  Troppau  und  Tolomeo  von  Lucca. 

^  Thomas,  de  regimine  principum,  fortgesetzt  von  Tolomeo. 

^  Die  excessivsteu  Werke  sind  die  des  Augustinus  Triumphus  (f  1328)  und 
des  Franciskaners  Alvarus  Pelagius  (f  nach  1340).  Gieseler  IT,  3,  2.  Aufl.  S.  42 ff. 
und  101  ff.,  giebt  aus  der  Summa  de  potestate  eccl.  des  Ersteren  und  aus  dem  Werk 


Die  päpstliche  Unfehlbarkeit.   Landeskirchenthum  und  Concilien.        399 

wieder  ein,  als  es  galt,  dem  Concil  von  Basel  gegenüber  die  alten  An- 
sprüche des  Papstthums  zu  retten  und  durchzusetzen.  Damals  hat  der 
Cardinal  Torquemada  jene  Vertheidigung  des  Papalsystems  geschrieben  \ 
welche  auf  streng  thomistischer  Grundlage  ruhend,  noch  im  Reformations- 
zeitalter für  die  bedeutendste  Leistung  der  päpstlichen  Partei  gegolten 
hat.  Aber  seit  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  war  das  päpstliche  Sy- 
stem überhaupt  wieder  im  Aufschwung,  nachdem  durch  die  glänzende, 
aber  verschlagene  Politik  Eugen's  IV.  der  Sturm  der  Concilien  glück- 
lich beschworen  war.  Nur  die  französische  Nation  behauptete  den  ein- 
mal gewonnenen  Boden  der  Freiheit  gegenüber  dem  Papst  (Pragmatische 
Sanction  von  Bourges  1430).  Die  übrigen  Nationen  kamen  durch  die 
Concordate  wieder  in  die  alte  Abhängigkeit  vom  Autokrator  in  Rom  ^ ; 
ja  sie  wurden  theilweise  geradezu  von  ihren  Landesherren  verrathen,  so- 
fern diese  es  als  vortheilhaft  erkannten,  ihren  Aufstieg  zur  vollkommenen 
Fürstengewalt  dadurch  zu  beschleunigen,  dass  sie  sich  mit  dem  Papste 
in  die  Landeskirche  theüten  ^.  Diesem  Schicksal  verfiel  schliesslich  auch 
(durch  das  Concordat  von  1517)  die  französische  Landeskirche,  so  je- 
doch, dass  der  König  den  Haupttheil  der  Gewalt  über  sie  erhielt.  Wäh- 
rend die  Päpste  beim  Uebergang  des  15.  zum  16.  Jahrhundert  in  Krie- 
gen, Wohlleben  und  gröbster  Sünonie  verwilderten,  führten  Cajetan  und 
Jacobazzi  die  strengste  Papaltheorie,  der  Erstere  einschliesslich  der 
Lehre  von  der  Unfehlbarkeit,  durch  *.    Die  Hoffnungen  der  Völker  auf 

de  planctu  ecclesiae  des  Letzteren  reiche  Auszüge,  die  da  zeigen,  dass  im  19.  Jahr- 
hundert die  Papstverherrlichung  nicht  weiter  getrieben  werden  konnte.  Augustinus 
behauptete  generell :  „nulla  lex  populo  christiano  est  danda,  nisi  ipsius  papae  aucto- 
ritate"  ;  denn  nur  die  päpstliche  Gewalt  sei  immediate  von  Gott  und  sie  umschliesse 
die  iurisdictio  et  cura  totius  mundi.  Alvarus  hat  die  Identificiruno-  Christi  und  des 
Papstes  zum  Blasphemischen  gesteigert  und  zugleich  den  Papst  für  den  recht- 
mässigen Inhaber  des  imperium  Romanum  seit  den  Tagen  des  Petrus  erklärt.  Beide 
unterscheiden  im  Grunde  den  Papst  von  Gott  nur  dadurch,  dass  dem  irdischen 
„dominus  deus  noster  papa"  die  Anbetung  nur  „ministerialiter"  zukomme. 

*  De  Pontifice  Maximo  et  generalis  concilii  auctoritate ;  s.  auch  seine  Summa 
de  ecclesia  und  den  Apparatus  super  decreto  unionis  Graecorum. 

'^  Rom  verstand  aber  diese  Concordate  stets  als  Gnadenacte,  durch  welche  nur 
der  Partner  gebunden  sei.  Diese  Auffassung  ist  schon  früher  von  den  römischen 
Kanonisten  vertreten  und  aus  der  Oberherrlichkeit  des  Papstes  über  alle  Menschen 
abgeleitet  worden. 

'  Man  denke  an  die  Entwickolung  des  Territorialfürstentimms  im  15.  Jahr- 
liundert.  Grosse  (Kaiser  Friedrich  III.)  und  kleine  Tierren  weitteiferten  förmlich 
bis  tief  ins  16.  Jahrhundert  hinein,  die  Selbständigkeit  ihrer  Landeskirchen  zu  schä- 
digen. Den  Vortheil  haben  vorübergehend  die  Landesfürsten  gehabt,  aber  den 
bleiV)enden  Vortheil  der  Papst. 

■*  In  der  Zeit  des  Streits  der  Päpste  mit  den  Concilien  war  die  Frage  nach 
der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  in  (üauljenssachen  zurückgetreten.    Auf  dem  Unions- 


400     Öeschichte  des  Dotrmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

das  Concil  waren  venüchtot,  die  alte  Tyrannei  wieder  aufgerichtet: 
man  klagte  wohl,  dass  die  kirchliche  Despotie  schlinniier  sei  als  die  der 
Türken,  aber  —  man  fügte  sich.  Die  Klagen  waren  um  1 500  vielleicht 
schmerzlicher  als  zu  irgend  einer  Zeit;  aber  der  Abfall  war  gering,  die 
Actionen  seltener.  Die  „Häresie"  schien  sj)iirlicher  und  zähmer  geworden 
als  im  13.  und  14.  Jahrhundert,  zumal  nachdem  sich  die  husitische 
Bewegung  erschöpft  hatte.  Die  „Ketzer"  waren,  so  schien  es,  wirk- 
lich zu  den  Stillen  im  Lande  geworden,  die  den  offenen  Bruch  mit  der 
Kirche  scheuten;  ihre  Frömmigkeit  schien  minder  aggressiv.  „Man 
fühlte  ziendich  allgemein,  es  sei  der  Kirche  mit  der  Reformation,  wie 
ehedem  dem  Könige  von  Rom  mit  den  sibyllinischen  Büchern  ergangen ; 
sie  müsse  nun,  nachdem  die  von  der  Curie  ausgestreute  Saat  der  Cor- 
ruption  seit  50  Jahren  viel  üppiger  emporgeschossen,  und  die  Kirche 
selbst  keine  Anstrengung  mehr  zu  ihrer  Rettung  gemacht,  um  viel 
theuereren  Preis  und  mit  noch  geringerer  Aussicht  auf  Erfolg  erkauft 
werden"  '.  Das  Lateranconcil  am  Anfang  des  1  (5.  Jahrhunderts,  welches 
allen  Wünschen  der  Völker  Hohn  sprach  und  die  Papaltheorie  in  streng- 
stem Sinn  declarirte  ^,  als  hätte  man  nie  zu  Constanz  und  Basel  getagt, 
wurde  stillschweigend  anerkannt.  Aber  es  war  die  Stille  vor  dem  Sturm. 
Ihn  sollte  der  Papst  noch  erleben,  der  sein  Amt  mit  den  Worten  ange- 
treten hatte:  „Yolo,  ut  pontificatu  isto  quam  maxime  perfruamur"^ 
An  dieser  grossartigen  Entwickelung  der  Papaltheorie  ist  die  Theo- 
logie vor  Thomas  gar  nicht,  auch  nach  ihm  nur  gering  betheihgt  gewesen. 
Die  Jurisprudenz  hat  die  Entwickelung  geleitet,  sich  ledig- 
lich auf  äussere,  grösstentheils  gefälschte  historische  Zeugnisse  stützend 
und  mit  dialektischer  Kunst  deducirend.  Der  mangelnde  Antheil  der 
Theologie  ist  aus  einem  Doppelten  zu  erklären.  Erstlich  hatte  Rom  allein 
an  der  ganzen  Theorie  ein  wirkliches  Interesse*,  in  Rom  aber  hat  die 
Theologie  w-eder  im  Alterthura  noch  im  Mittelalter  je  geblüht.    Weder 

coucil  zu  Florenz  wurde  sie  nicht  erwähnt.  Auch  Torquemada  hat  die  MögUchkeit 
zugestanden,  dass  ein  Papst  in  eine  Häresie  fallen  könne;  indessen  daraus  eine 
Ueberordnung  des  Concils  über  ihn  nicht  abgeleitet,  da.  ein  häretischer  Papst  ipso 
facto  von  Gott  abgesetzt  sei.  Diese  undurchführbare  hülflose  Annahme  hat  erst 
Cajetan  abgethau,  indem  er  zu  der  Lehre  des  Thomas,  die  sieh  auf  erdichtete  Väter- 
stellen gründete,  zurückkehrt,  selbst  eine  neue  Fälschung  hinzufügend,  sofern  er  den 
zu  Constanz  festgestellten  Satz:  „error  est,  si  per  Romanam  ecclesiam  intelligat 
universalem  aut  concilium  generale",  unterschlug.  Von  ihm  stammt  auch  der  l)e 
i-ühmte  Satz,  die  katholische  Kirche  sei  die  geborene  Magd  des  Pai)stes. 

^  Janus  S.  365. 

^  Der  Papst,  heisst  es  in  der  Bulle  „Pastor  aeternus",  hat  die  „auctoritas  super 
omnia  concilia"  •,  er  allein  darf  sie  berufen,  versetzen  und  auflösen. 

^  Ueber  die  Ueberlieferuno'  dieses  Worts  a.  Janus  S.  381  n,  407. 


Der  factische  Kirchenbegriff  und  die  Theologie.  401 

um  die  Schriftauslegung  noch  um  die  dogmatischen  Arbeiten  der  Väter 
hat  man  sich  in  Rom  bemüht.  Wer  Theologie  studiren  wollte,  ging 
nach  Frankreich.  An  der  Curie  galt  nur  der  Rechtsgelehrte  etwas;  in 
Rom  bestand  seit  InnocenzIV.  eine  Rechtsschule;  die  grosse  Mehrzahl 
der  Cardinäle  waren  studirte  Juristen,  nicht  Theologen,  und  die  grossen 
Päpste  des  Mittelalters,  Alexander  III.,  Innocenz  III.  und  IV.,  Boni- 
facius  VIII.  u.  s.  w.,  sind  als  geschätzte  Rechtsgelehrte  auf  den  päpst- 
lichen Stuhl  gekommen  ^  Als  es  schon  viel  zu  spät  war,  da  erkannten 
Männer  mit  heUem  Blick,  wie  Roger  Baco,  oder  fromme  Patrioten,  wie 
Dante,  dass  das  Verderben  der  Kirche  von  den  Decretalen  herrühre, 
die  man  statt  der  Kirchenväter  und  der  hl.  Schrift  studire.  Der  Erstere 
besonders  hat  mit  erhobener  Stimme  die  Forderung  gestellt,  dass  die 
Kirche  von  dem  verwelthchten  Kirchenrecht  befreit  werden  müsse,  wel- 
ches sie  vergifte.  Im  14.  und  15.  Jahrhundert  hat  man  stets  wie  über 
das  Papstthum  so  über  das  verdorbene  Kirchenrecht  („Juristen  böse 
Christen")  als  die  eigentliche  Quelle  alles  Uebels  geklagt.  Es  war  der 
Geist  des  alten  Roms,  der  über  dem  mittelalterlichen  lagerte,  jener 
römische  Geist  der  Jurisprudenz,  jetzt  aber  entartet  zu  einem  mit  drei- 
sten Fälschungen  operirenden  Geist  der  Tyrannei.  Allein  der  mangelnde 
Antheil  der  Theologie  an  der  Ausbildung  des  hierarchischen  Kirchen- 
begriffs erklärt  sich  nicht  nur  aus  dem  Mangel  der  Theologie  in  Rom, 
sondern  zweitens  auch  aus  der  glücklichen  Unfähigkeit  der  Theologie 
(bis  über  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts),  sich  auf  diesen  Kirchenbe- 
griff herabzustimmen.  Wer  als  Theologe  über  die  Kirche  nachsann, 
forschte  in  den  Werken  der  Kirchenväter,  vor  Allem  Augustinus.  Da 
aber  trat  der  spirituelle  Kirchenbegriff  (d.  h.  die  Kirche  als  corpus 
Christi,  als  multitudo  fidelium,  als  universitas  Christianorum  u.  s.  w.) 
so  stark  hervor,  dass  er  zunächst  das  Nachdenken  fesselte,  und  man  zu 
dem  hierarchischen  —  vom  papalen  zu  schweigen  —  nicht  sicher  vor- 
drang oder  ihn  nur  streifte.  So  erklärt  es  sich,  dass  alle  die  grossen  \ 
Theologen  vor  Thomas  von  Anselm  ab,  auch  die  gregorianisch  gesinnten, 
als  Theologen  der  Ausbildung  des  hierarchischen  Kirchenbegriffs 
sehr  geringen  Vorschub  geleistet  haben.  Sie  lehren  und  schreiben  wie 
Augustin,  ja  sie  bleiben  sogar  hinter  ihm  in  der  Präcision  der  Kirche 
als  externa  socie^tas  iiocli  zurück-.     Die  Theologie  hat  für  die 

'  8.  liöllinger,  Uel>or  das  Studium  der  deutschen  Geschichte  (Akad.  Vor- 
träge 11  S.  407  fr.  418  f.). 

^  S.  Hü(/o  V.  St,  Victor,  de  sacr.  II,  p.  II  c.  2  sq.  Der  Lombarde  hat  in  seinen 

Sent(!n/.en  das  Pufistthum  seldediirrdin^rH  nicht  Iterührt!    Soweit  auf  die  Kirche 

ül)crhau()t    von    Anderen    eingekauften    wird,    wird    nicht  einmal    die    Sicherlieit 

Cyprian's  in  der  Fassung  des  hierarchischen  Kirchenbegriffs  erreicht.    Stoffreiche 

Harn  a  c  k  ,  Dogrnenßeschichtf;  III.  26 


402     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

Ausbildung  und  Begründung  des  Papalsystems  bis  tief  in 
das  13.  Jahrhundert  hinein  nichts  gethan,  und  es  mag  gleich 
hier  zu  ihrer  Ehre  gesagt  sein,  dass  sie  mit  einer  einzigen,  übrigens  nicht 
vollkommenen,  Ausnahme  (Thomas)  auch  in  der  Folgezeit  nur  halbe  Ar- 
beit geleistet  und  der  nachtridentinischen  Theologie  das  Meiste  zu  thun 
übrig  gelassen  hat  ^  Von  runden  Formeln,  von  systematisch  strenger 
Ausführung  des  Kirchenbegrifi's  (wie  bei  der  Lehre  von  den  Sacra- 
menten)  ist  m.  VV.  in  den  theologischen  Schriften  der  Scholastiker 
nichts  zu  finden.  Dagegen  kann  man,  wie  bei  Hugo  von  St.  Victor,  so 
auch  bei  den  späteren  Scholastikern,  nicht  wenige  grundlegende  Aus- 
führungen in  Bezug  auf  den  Kirchenbegriff  nachweisen,  die  von  den 
„ketzerischen"  Parteien  und  von  Männern  wie  Wiclif  direct  und  unver- 
ändert übernommen  worden  sind  '\  Dies  erklärt  sich  aufs  einfachste 
daraus,  dass  die  patristischen,  vor  Allem  augustinischen  Ausführungen 
noch  immer  die  Theologie  bestimmt  haben.  Jedoch  lässt  sich  nicht 
verkennen,  dass  die  Theologie  seit  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  einen 
gewissen  Antheil  an  der  Ausbildung  des  Kirchenbegritfs  genommen  hat. 
Es  w^aren  —  ein  Hohn  auf  den  hl.  Franciskus  —  gerade  die  Bettel- 
mönche, welche  sich  auch  als  Theologen  für  die  papale  Theorie  zu  be- 
geistern anfingen,  nachdem  sie  mit  so  exorbitanten  Rechten  ausgestattet 
waren,  die  nur  dann  als  legitim  gelten  konnten,  wenn  der  Papst  wirklich 
der  Herr  der  Kirche  war.  Dazu  kam,  dass  die  Theologie  im  13.  Jahrhun- 
dert sich  vor  die  Aufgabe  gestellt  sah,  bei  den  Verhandlungen  mit  den 
Griechen  ihnen  auch  das  Papalsystem  zu  insinuiren.  An  dieser  Auf- 
gabe ist  das  Interesse  der  Theologie  an  dem  hierarchischen 


Nachweisungen  bei  Langen,  Das  vaticanische  Dogma,  2.  Theil.  Wenn  Hugo  sich 
von  den  übrigen  älteren  Theologen  dadurch  unterscheidet,  dass  er  näher  auf  die 
Beschreibung  der  Kirche  eingeht,  so  hängt  das  mit  seinem  Interesse  für  die  Sacra- 
mente  zusammen.  Was  er  über  die  Hierarchie  und  den  Papst  sagt,  bleibt  hinter 
den  gregorianischen  Ideen  zurück,  leistet  ihnen  also  keinen  Vorschub.  Auch  über 
das  Verhältniss  der  Kirche  (des  Papstes)  zum  Staat  hat  er  noch  evangelische  Vor- 
stellungen. Dennoch  muss  er  hier  wie  auch  sonst  in  mancher  Hinsicht  als  Vorläufer 
des  Thomas  gelten. 

*  Es  ist  wunderlich,  dass  Thomasius-Seeberg  (S.  196)  dem  Satze:  „AVie 
überhaupt,  so  stellte  sich  die  Scholastik  auch  hinsichtlich  der  Kirche  die  Aufgabe, 
das  Daseiende  als  das  Seinsollende  zu  erweisen",  den  anderen  sofort  folgen  lassen: 
„Es  muss  hier  zunächst  hervorgehoben  werden,  dass  die  Scholastik  ein  Dogma  von 
der  Kirche  nicht  kennt." 

-  Die  üebereinstimmung  der  „Ketzer"  mit  dem  grundlegenden  katholischen 
Kirchenbegrifl'  ist  von  ihren  katholischen  Gegnern  nicht  selten  constatirt  worden. 
Diese  waren  eben  no(?h  so  naiv,  den  Begriff  der  Kirche  als  societas  unitatis  fidei  für 
ihre  eigene  Basis  zii  halten.  Das  Richtige  bei  (lott schick  (Ztschr.  f.  K. -Gesch. 
VIII  S.  348  f.). 


Die  Theologie  und  der  Kirchenbegriff.   Thomas.  403 

Kirchenbegriff,  der  die  Voraussetzung  des  Papalsystems 
bildete,  erwacht*,  und  der  grosse  Denker,  Thomas  von  Aquin,  hat  nun 
sofort  die  hierarchische  und  papale  Theorie  entwickelt,  zusammen  mit 
einer  kühnen  Theorie  vom  Staat  ^.  Allein  er  hat  den  spirituellen  Kirchen- 

^  Hier  ist  das  Concil  von  Lyon  1274  von  epochemachender  Bedeutung.  Das 
energische  Wiederaufleben  des  Interesses  für  die  theoretisclie  Darlegung  und  Be- 
gründung des  Papalsystems  in  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  ist  ebenfalls  aus  den 
Verhandlungen  mit  den  Griechen  zu  erklären.  So  sind  die  Griechen  dem  Abendland 
ominös  geworden.  Man  wollte  sie  für  das  Papstthum  gewinnen  und  bildete  bei 
dieser  Gelegenheit  die  papale  Theorie  —  grösstentheils  durch  Fälschungen  — 
„wissenschaftlich"  überhaupt  erst  aus ! 

^  Thomas  ent\vickelt  die  Hauptattribute  des  Papstes  (summus  pontifex,  caput 
ecclesiae,  cura  ecclesiae  universalis,  plenitudo  potestatis,  potestas  determinandi  no- 
vum  symbolum).  Die  Ausführungen  über  die  Gliederung  der  hierarchischen  Gewalt 
mögen  hier  auf  sich  beruhen  (auf  die  Entwicklung  des  Begriffs  der  Kirche  als  einer 
Monarchie  hat  Aristoteles  eingewirkt).  Nur  darauf  ist  hinzuweisen,  wie  der  2.  Kir- 
chenbegriff, d.  h.  der  hierarchische,  ganz  von  der  Sacramentslehre  beherrscht  ist. 
Das  Einzelne  im  thomistischen  Kirchenbegriff  ist  zu  seiner  Zeit  kein  Dogma  ge- 
wesen, aber  nachmals  die  Norm  für  die  dogmatische  Ausbildung  geworden.   Dass 
übrigens  Thomas  nicht  den  hierarchischen  Kirchenbegriff  unvermittelt  neben  dem 
spirituellen  bietet,  hat  Gott  schick,  a.  a.  0.  S.  347 — 357  gezeigt.   Doch  darf  man 
nicht  vergessen,  dass  solche  Sätze,  wie  die  augustinischen  von  der  Kirche  (im  Zu- 
sammenhang mit  der  prädestinatianischen  Gnade),  in  ihrer  eigenen  Kraft  fort- 
wirkten, auch  wenn  sie  fremden  Gedanken  untergeordnet  wurden.  Thomas  (Erklä- 
rung des  apostol.  Symbols,  s.  auch  Summa  ITI  qu.  8)  beginnt  mit  der  Darlegung 
der  Kirche  als  religiöser  Gemeinschaft  (congregatio  fidelium,  corpus  mysticum), 
deren  Hau])t  Christus  ist.   Allein  indem  er  sie  so  beschreibt  —  als  Gemeinschaft 
der  mit  Christus  durch  die  von  Gott  stammende  Liebe  Geeinigten  — ,  hebt  er  zu- 
gleich die  sittliche  Art  dieser  Gemeinschaft  als  ein  durch  das  göttliche  Gesetz 
regiertes  Ganze  hervor,  welches  die  Erde,  den  Himmel  und  das  Fegefeuer  umfasst 
und  dessen  Zweck  die  Anschauung  und  der  Gonuss  Gottes  ist.    In  der  näheren  Be- 
stimmung desUmfangs  der  Kirche  unterliegen  die  Nachweisungen  des  Thomas  allen 
den  Schwankungen,  die  wir  schon  bei  Augustin  fanden,  und  die  durch  die  Rück- 
sicht auf  die  prädestinatianische  Gnade  einerseits  (nach  der  alle  Einzelnen  bestimmt 
sind),  auf  die  empirischen  Verhältnisse  andererseits  hervorgerufen  sind.   De  potentia 
sind  nach  ihm  auch  die  reprol^i  in  der  Kirche,  so  lange  sie  nämlich  unter  dem  Ein- 
fliiss  der  virtus  Christi  stehen  oder  durch  ihren  freien  Willen  noch  einen  Zusammen- 
hang mit  ihm  liesitzen.    Sofern  nun  die  Kirche  dem  Einzelnen  die  Gottesliebe  und 
damit  die  Heiligung  zueignet,  ist  sie  eine  äussere  Gemeinschaft  wie  der  Staat,  ist 
an  äusseren  Merkmalen  erkennbar,  ist  durch  eine  äussere  (-irenze  (die  Excommuni- 
cationj  umzogen  und  hat  die  liierarchische  Organisation  nöthig-  denn  diese  ist  die 
Voraussetzung  der  Sacramentsverwaltung.    Verläuft  das  (ilaubensleben  des  Ein- 
zelnen bis  zur  Erreichung  der  Seligkeit  auf  den  Stufen  des  Glaubens  (d.  h.  des  Für- 
wahr-Haltens  auf  Autorität)  und  der   einzelnen   Sacramente,   welche  die  heiiig- 
machend(*   Gnade   einschliessen,  so  ist  schon   damit  gesagt,  dass  es  der  Kirche 
wesentlich   ist,  dass  sie  Lehrautorität  und  Sacramentsverwalterin  ist.   Dies  aber 
kann  sie  nur  sein  als  streng  rechtlich  und  hierarchisch  organisirte  Gemeinschaft. 
So  ist  ])f[  Tliomas  der  2.  Kirclif;n})egiiJV  mit  dfin  ersten  aufs  engste  verknü})ft,  und 

2t>* 


4(J4     Geschichte  des  Dop^mas  im  S^eitalter  der  Bettelorden  \m  zum  Iß.  Jahrb. 

begriff  dabei  keineswegs  aufgegeben  oder  —  wie  das  in  der  nachtriden- 
tiniscben  Zeit  geschehen  ist  —  nach  dem  Hierarchischen  durchgreifend 
corrigirt.  Er  hat  auch  bei  aller  Consequenz  in  der  Durchführung  des 
papalen  Systems  die  Gewalten  der  Bischöfe  und  Priester  keineswegs 
vollständig  aus  der  i)äj)stlichen  abgeleitet',  er  operirt  in  seiner  „Sununa" 
noch  vielfach  mit  dem  Begriff  „ecclesia"  im  Sinne  eines  Centralbegriffs 
und  denkt  dabei  nicht  an  die  Monarchie.  Für  ihn  ist  es  keine  Floskel, 
dass  der  einzelne  Bischof  „sponsus  specialis  ecclesiae  dicitur  sicut  Chri- 
stus" ^  Aber  soweit  Thomas  eingewirkt  hat,  ist  allerdings  eine  Ver- 
mischung der  Jurisprudenz  und  Theologie  auf  diesem  Gebiete  und  die 
Einbürgerung  des  hierarchisch-papalen  Kirchenbegriffs  die  Folge  ge- 
wesen '^.  Jedoch  darf  man  den  Einffuss  nicht  überschätzen.  Die  francis- 
kanische  (nominalistische)  Dogmatik  ist  m.  W.  auf  diese  Entwicklung 
des  Kirchenbegriffs  wenig  eingegangen.  Noch  beim  Anbruch  der  Re- 
formation hatte  die  ganze  hierarchische  und  papale  Theorie  in  der 
Dogmatik  keine  sichere  Stelle  —  sie  war  römisches  De  er  et  al  eu- 
re cht.    Allein  sie  hatte  mehr  erreicht  als  eine  Stelle  in  der  Dogmatik. 


sehr  richtig  macht  Gottschick  (S.  353)  weiter  darauf  aufmerksam,  dass  „der 
Glaube  im  objectiven  Sinne  ein  Bestandtheil  der  Forderungen  des  Gesetzes  ist, 
nach  welchem  die  Kirche  (s.  oben)  geleitet  werden  muss."  Die  Kirche  als  lehrgesetz- 
liche Autorität  und  priesterliche  Sacramentsanstalt  ist  somit  das  „ausschliessliche 
Organ,  durch  welches  das  Haupt  der  Kirche,  Christus,  sich  seine  Glieder  schafft" 
Man  sieht  also,  dass  ein  sehr  spiritueller  Kirchenbegriff,  ja  selbst  der  prädestina- 
tianische,  mit  dem  empirisch-hierarchischen  in  Verbindung  treten  kann  (Summa  III 
qu.  ()4  art.  2:  „per  sacramenta  dicitur  esse  fabricata  ecclesia  Christi").  Da  das  Heil 
ein  unerfahrbares  Geheimniss  ist,  d.  h.  eine  Gewissheit  über  den  Besitz  desselben 
nie  erreicht  werden  kann,  sofern  es  aus  Kräften  besteht,  die  geheimnissvoll  in  der 
der  Reflexion  unzugänglichen  Sphäre  des  Menschen  wirksam  sind,  so  bleibt  nichts 
übrig,  als  sich  der  sacramentalen  Heilsanstalt  einfach  unterzuordnen,  mit  der  das 
abgestufte  Priesterthum  mitgesetzt  ist.  Die  Autorität  des  Klerus  musste  so  eine 
absolute  werden,  und  der  geistige  (prädestinatiänische)  Kirchenbegriflf,  weit  ent- 
fernt hier  zu  corrigiren,  musste  dieser  Steigerung  nur  Vorschub  leisten.  Daher  folgt 
der  Satz  der  Unfehlbarkeit  der  Kirche,  der  in  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  münden 
musste;  denn  —  irgend  ein  Fels  musste  gesucht  und  gefunden  werden.  Liegt  er 
nicht  in  einer  überwältigenden  Gewissheit,  welche  die  Sache  selbst  mit  sich  bringt, 
sofern  sie  die  Absolutheit  der  sittlichen  Forderunjof  umbiegt  zur  absoluten  Gewiss- 
heit  des  in  Christo  gnädigen  Gottes,  so  muss  er  in  einem  Aeusseren  gegeben  sein. 
Dieses  Aeussere  —  die  Unfehlbarkeit  der  lehrenden  und  die  Sacramente  spendenden 
Priesterschaft  —  vermag  freilich  niemals  den  Besitz  des  Heils  dem  Einzelnen  zu 
verbürgen,  sondern  nur  die  Möglichkeit. 

*  Summa  III  suppl.  qu.  40  art.  4  fin. 

^  Die  Stellung  zum  Staate  war  dadurch  gegeben,  dass  nur  der  Priester  das 
Gesetz  Gottes  richtig  zu  lehren  vermag,  dass  aber  auch  die  Staaten  keine  andere 
Aufgabe  haben,  als  durch  Beförderung  der  dem  Gesetze  Gottes  entsprechenden 
virtus  für  das  Seeleuheil  ihrer  Unterthanen  zu  soreen. 


Der  AViderspruch  gegen  den  hierarchischen  Kirchenbegriff.  405 

Sie  wurde  seit  c.  1450  wieder  energisch  von  Rom  aus  gehandhabt, 
und  der  Widerspruch  gegen  sie  erschien  nicht  mehr  so  gewaltig,  wie  ein 
Jahrhundert  vorher  ^ 

lieber  diesen  Widerspruch  haben  wir  uns  noch  zu  orientiren.  Hier 
ist  nun  Allem  zuvor  zu  bemerken,  dass  die  mangelnde  öffentliche  Aus- 
bildung des  Earchenbegriffs  desshalb  sehr  gleich  giltig  war,  weil  in  der 
Sacramentslehre  alles  das  bereits  als  sicherer  Besitz  untergebracht 
war^  was  man  von  einer  Formulirung  des  Kirchenbegriffs  im  hier- 
archischen Interesse  nur  erwarten  konnte.  Hieraus  folgte  dann  weiter, 
dass  der  Widerspruch  gegen  den  hierarchisch-papalen  Kirchenbegriff 
so  lange  —  trotz  alles  Echauffements  —  ein  ungefährlicher  bleiben 
musste,  als  er  die  Sacramentslehre  nicht  beanstandete.  Diese  aber  ruhte 
wiederum  auf  der  eigenthümlichen  Anschauung  vom  Heil  als  der  zur 
visio  dei  führenden  Heihgmachung,  der  (an  dem  Massstab  des  Gesetzes 
Gottes  gemessenen)  activen  Heiligkeit.  Wir  müssen  hier  zurückgreifen^. 

Augustin  hat  den  altkatholischen  Begriff  des  Heils  als  der  visio  et 
fruitio  dei  mit  der  Prädestinationslehre  einerseits,  mit  der  Lehre  von  dem 
regnum  Christi  und  dem  Justificationsprocess  andererseits  verbunden. 
Beides  war  gegenüber  der  griechischen  Auffassung  neu;  allein  die  Ver- 
bindung der  Vorstellung  von  der  Seligkeit  mit  dem  Justificationsprocess 
war  desshalb  leicht  herzustellen,  weil  dieser  ganz  an  den  Sacra men- 
ten  verlaufen  sollte,  die  Sacramente  aber,  wie  die  griechische  Entwicke- 
lung  zeigt,  auch  das  nothwendige  Gorrelat  zur  Seligkeitsvorstellung  bil- 
deten. Wird  an  dieser  nämlich  der  überirdische  Zustand,  in  welchem 
man  sich  befinden  wird,  vor  Allem  hervorgehoben,  so  entsprechen  der  Her- 
beiführung dieses  Zustandes  Mittel,  die  wie  heihge  Naturkräfte  wirken. 
Dass  Augustin  diese  Naturkräfte  als  die  Kräfte  der  Liebe  zur  Gerechtig- 
keit vorgestellt  hat,  war  ein  gewaltiger  Fortschritt ;  aber  er  änderte  im 
Aufriss  nichts,  da  die  Liebe  als  eingegossene  betrachtet  wurde.    Wohl 


*  Daran  zweifelte  kein  guter  katholischer  Christ,  dass  der  Klerus  in  geist- 
lichen Dingen  die  gottgesetzte  Obrigkeit  der  Laien  sei,  dass  diese  Gewalt  aus 
dem  Kccht(!  der  Priester  flicsse,  die  Sacramente  zu  verwalten,  dass  der  Papst  der 
eigentliche  Inhaber  dieser  Gewalt  und  aller  weltlichen  Obrigkeit  weit  überlegen  sei. 
Controvers  war  aber  allerdings  die  Regierungsgcwalt  des  Papstes. 

'"^  Ein  volles  Vcrständniss  des  katholischen  KirchenbegriH's  kann  man  nur  von 
dem  Sacramentsbegriffaus  erreichen,  der,  wie  bemerkt,  von  dci-  Seligkcitsauffassung 
abhängig  ist.  Von  hier  aus  lässt  sich  aber  auch  sageu,  dass  der  katholische  Kirchen- 
begrifldic  nothwendige  Ergänzung  zu  der  unvollkommenen  Vorstellung  vom  Glauben 
bildet.  Das,  was  dem  Glauben  nach  katholischer  Ansicht  mangelt,  nämlich  die 
certitudo  salutis,  das  schafft  die  Lehrautorität  der  Kirche  einerseits,  die  sacramen- 
tale  Kirchenanbtalt  andererseits,  so  jedoch,  dass  es  nur  in  einer  Annäherung  er- 
reicht wird. 


40()     Geschichte  des  Dognuis  im  ZcitaHcr  der  Bettelordeu  bis  /um  Ib.  Jahrh. 

aber  ermöglichte  er  es,  dass  dem  ganzen  Process  auch  eine  sehr  ent- 
schiedene iJichtung  auf  das  Sitthche,  welches  bei  der  griechischen  Be- 
trachtung innerhalb  des  Dogmas  ausfiel,  gegeben  werden  konnte.  Die 
Kräfte  der  Liebe  nämlich  erwirken  es,  dass  hier  auf  Erden  das  Gesetz 
Christi,  welches  sich  in  dem  Gebote  der  Ijiebo  zusammenfasst,  erfüllt 
werden  kann.  Somit  entsteht  aus  den  durch  die  Sacramente  als  durch 
Medien  überlieferten  Liebeskräften  das  Reich  Christi,  in  welchem  die 
Gerechtigkeit  nach  dem  Vorbilde  und  dem  Gesetze  Christi  herrscht. 
Die  Sacramente  haben  mithin  die  doppelte  Wirkung,  dass  sie  zur  visio 
ac  fruitio  dei  vorbereiten,  resp.  sie  stufenmässig  anbahnen,  und  dass  sie 
auf  Erden  die  Kirche  erzeugen,  in  welcher  das  Gesetz  Christi  herrscht 
und  welche  das  „bene  vivere"  erzeugt.  Durch  das  Letztere  ist  die 
Stellung  des  Staates  bestimmt  —  er  hat  sich,  da  das  bene  vivere  sein 
Zweck  ist,  der  Sacramentsanstalt  zu  unterwerfen.  Durch  die  ganze  Vor- 
stellung aber  ist  cjie  Priesterschaft  als  lehrende  und  heiligende  Körper- 
schaft legitimirt^  denn  die  Sacramentsverwaltung  ist  an  einen  bestimm- 
ten Stand  gebunden,  den  Christus  eingesetzt  hat,  und  dieser  Stand  ist 
zugleich  allein  befähigt,  das  Gesetz  Christi  mit  bindender  Autorität  zu 
interpretiren.    Man  hat  sich  ihm  also  zu  unterwerfen. 

Diese  ganze  Betrachtung,  die  freilich  bei  Augustin  noch  keineswegs 
in  straffer  klarer  Ausführung  vorliegt,  gewann  diese  Straffheit  und  Klar- 
heit in  der  Folgezeit  —  w  eniger  durch  die  Bemühungen  der  Theologen 
als  durch  die  Kraft  der  zielbewussten  römischen  Politik.  Diese,  indem 
sie  vor  Allem  die  Monarchie  in  der  Kirche  wollte,  hat  durch  ihr 
siegreiches  Streben  überhaupt  erst  die  allgemeinen  hier- 
archischen Bedingungen  für  die  Existenz  einer  solchenMon- 
archie  zur  Klarheit  gebracht  und  damit  geschaffen.  Allein 
trotz  vieler  Fälschungen  konnte  sie  es  nicht  erreichen,  dass  das  dogma- 
tisch ziemlich  untergeordnete,  praktisch  höchst  wichtige  Moment  der 
hierarchischen  Gliederung  eine  imponirende  Tradition  erhielt; 
denn  bei  Augustin  und  den  Patres  überhaupt  fehlte  es  so  gut  wie  ganz. 
Ferner  aber  hat,  wie  oben  bemerkt.  Augustin  mit  dem  Sehgkeitsdogma 
als  visio  dei  die  Prädestinationslehre  verbunden  und  aus  ihr  enien 
Kirchenbegriff  entwickelt,  der  gegen  Hierarchie  und  Sacrameut  neutral 
war.  Zwar  ist  es  leicht  zu  zeigen,  dass  der  prädestinatianische  und  der 
sacramental  -  hierarchische  Kirclienbegritf  sich  nicht  auszuschliessen 
brauchen,  ja  sich  in  gewisser  Weise  sogar  fordern,  sofern  die  von  Augu- 
stin behauptete  Unsicherheit  des  Einzelnen  über  sehie  Erwählung  ihn 
dazu  treiben  musste,  alle  Mittel  der  Kirche  fleissig  zu  brauchen,  und  die 
Auskunft  auch  nahe  liegt,  Gott  vollziehe  die  Ausführung  des  Prädesti- 
jiationsdecrets  nur  durch  die  empirische  Kirche  sammt  ihren  Sacramenten, 


Augustin  als  Vater  d.  hierarchisch,  u.  d.  gegnerisch.  Kirchenbegriffs.     407 

Allein  Augustin  selbst  hat  das  nicht  behauptet,  und  wenn  auch  in  der 
Folgezeit  dieser  Ausgleich  vielfach  beliebt  wurde,  da  man  die  Prädesti- 
nationslehre nicht  fallen  Hess,  so  lag  in  ihr  doch  ein  Element  beschlossen, 
welches  wie  eine  überhängende  Felsmasse  die  Existenz  des  unter  ihr 
stehenden  Hauses  bedrohte.  Endlich  —  Augustin  hatte  zwar  einen 
siegreichen  Kampf  mit  dem  Donatismus  geführt;  allein  es  gab  doch  noch 
einen  Punkt,  an  welchem  der  donatistischen  These  nicht  leicht  jegliche 
Berechtigung  abgesprochen  werden  konnte  —  das  war  das  Busssacra- 
ment.  Wohl  konnte  man  es  glaublich  machen,  dass  die  Taufe,  das 
Abendmahl,  die  Firmelung,  die  Ordination  giltig  seien,  auch  wenn  sie 
ein  unwürdiger  Priester  spende;  allein  wie  sollte  ein  solcher  über  Heilig 
und  Unheilig  zu  Gerichte  sitzen,  das  Gesetz  Christi  anwenden,  binden 
und  lösen  können,  wenn  er  selbst  von  der  Unwissenheit  der  Sünde  be- 
lastet war?  Es  war  doch  mehr  als  paradox,  es  war  eine  unvollziehbare 
Vorstellung,  dass  der  Blinde  über  Licht  und  Finsterniss  richtig  urthei- 
len  könne.  Sollte  die  von  einem  solchen  Menschen  verhängte  Excom- 
munication  vor  Gott  giltig  sein,  sollte  seine  Absolution  Kraft  besitzen? 
Man  half  sich  freilich  auch  hier  damit,  dass  Christus  binde  und  löse, 
nicht  der  Priester,  der  nur  minister  sei ;  allein  wenn  eine  himmelschi*eiende 
Ungerechtigkeit  vom  Priester  verübt  wurde,  wenn  solche  Fälle  sich 
mehrten  —  was  war  dann  zu  thun  ?  ^ 

Thomas  hat  mit  Aufbietung  eines  grossen  Scharfsinns  den  prä- 
destinatianischen  (spirituellen)  und  den  hierarchischen  KirchenbegrifF 
verbunden  und  die  Punkte  auszukratzen  versucht,  aus  denen  sich  ein 
„ketzerischer"  Kirchenbegriff  entwickeln  konnte;  allein  es  ist  aus  dem 
Mitgetheilten  offenbar,  dass  man  den  augustinisch-thomisti- 

*  Man  beachte  hier  wohl,  dass  gerade  das  strenge  Papalsystem  in  der  Zeit  der 
grossen  Kämpfe  (11.  und  12.  Jahrhundert)  die  grösste  Unsicherheit  über  die  Ordi- 
nationen verbreitet  hatte,  indem  die  Päpste  rücksichtslos  „simonistische"  Weihen, 
ferner  Weihen  kaiserlicher  Bischöfe,  ja  selbst  AVeihen,  bei  denen  ein  einziger  Simonist 
zugegen  gewesen,  cassirten.  Innocenz  II.  hat  sogar  auf  dem  2.  lateranischeu 
Concil  alle  Ordinationen  der  Schismatiker,  d.  h.  der  dem  Papst  Anaclet  II.  anhän- 
genden Bischöfe,  für  uDgiltig  (;rklärt.  Also  sind  die  Päpste  die  Lehrmeister  jeuer 
Secteu  gewesen,  welche  die  höchste  Unsicherheit  über  die  wichtigste  katholische 
Frage,  nämlich  über  die  (iiltigkeit  der  Weihen,  verbreitet  hal)en.  Zur  Zeit  des 
Schismas  führte  der  päi)stliche  Secretär  Coluccio  Salutato  aus,  dass,  da  alle  kirch- 
liche Gewalt  vom  Papste  ausgehe;  und  ein  fehlerhaft  gewählter  Papst  selbst  keine 
(fcwalt  habe,  er  auch  keine  geben  könne;  so  seien  denn  auch  die  seit  dem  Tode 
Gregorys  XL  geweihten  Bischöfe  und  Priester  unfähig,  die  Sacramente  zu  ge- 
währen. Wenn  demnach  ein  Gläubiger  die  von  einem  im  Schisma  ordinirten  Priester 
consecrirte  Eucharistie  adorirt,  so  betet  er  ein  Idol  an,  sagt  Coluccio  (in  einem 
Schreiben  an  Jost  von  Mähren  bei  Martene,  Thes.  Anecd.  II  p.  1159  citirt  nach 
JanuH  S.  '6iH). 


408     (it'Bchichte  des  Dogmas  im  ^Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jalirh. 

sehen  Kirchen  begriff  mit  seinen  Prämissen  (Lehre  vom 
Heil  und  den  Sacramenten)  wesentlich  zu  recipiren  ver- 
mochte und  doch,  gemessen  an  den  Ansprüchen,  welche 
die  mittelalterliche  Kirche  auf  ihrem  Höhepunkte  stellte, 
„ketzerisch"  werden  konnte,  wenn  man  nämlich  entweder 
1)  die  hierarchische  Gliederung  des  Priesterstandes  be- 
stritt, oder  2)  die  in  dem  Prädestinationsgedanken  gesetzte 
religiöse  Idee  der  Kirche  übergreifen  Hess  über  den  Be- 
griff der  empirischen  Kirche,  oder  3)  die  Priester,  und  da- 
mit die  kirchlichen  Autoritäten,  an  dem  Gesetz  Gottes 
mass,  bevor  man  ihnen  das  Recht  einräumte,  den  Binde- 
und  Löseschlüssel  zu  verwalten. 

Allerdings  hat  es  während  des  ganzen  Mittelalters  Secten  gegeben, 
welche  den  katholischen  Kirchenbegriff  in  seinen  Wurzeln  angriffen-, 
allein,  so  wichtig  sie  für  die  Kulturgeschichte  sein  mögen,  in  der  Dog- 
mengeschichte spielen  sie  keine  Bolle ;  denn  da  sich  ihr  Widerspruch 
in  der  Begel  aus  dualistischen  oder  pantheistischen  Voraussetzungen 
entwickelte  (Nachwirkungen  alter  gnostischer  oder  manichäischer  Be- 
trachtungen), so  standen  sie  ausserhalb  der  gemeinen  Christenheit  und 
wirkten  wohl  auf  viele  einzelne  Glieder  derselben,  nicht  aber  auf  die 
Kirchenlehre  ein^  Dagegen  darf  man  behaupten,  dass  alle  die  Bewe- 
gungen, welche  als  „vorreformatorisch"  bezeichnet  werden  und  die  den 
sich  einbürgernden  römischen  Kirchenbegriff  zeitweise  nicht  ohne  Erfolg 
bekämpft  haben,  von  dem  augustinischen  Kirchenbegriff  ausgegangen 
sind,  die  Entwickelung  desselben  aber  von  den  drei  Punkten  aus  bean- 
standet haben,  die  oben  präcisirt  worden  sind.  Mag  man  nun  auf  die 
Avaldensische ,  die  lombardische,  die  apokalyp tisch -joacliimische,  die 
franciskanische,  die  imperialistische,  die  conciliare,  die  wiclifitische,  die 
husitische,  ja  selbst  auf  die  humanistische  Opposition  gegen  den  neuen 
Kirchenbegriff  blicken  —  durchweg  haben  wir  dasselbe  Schauspiel.  Auf 
den  ersten  Blick  erscheint  der  Widerspruch  radical,  ja  contradictorisch. 
Da  schwirren  zornige  Flüche  —  Antichrist,  Babel,  Teufelskirche, 
Teufelspriester,  u.  s.  w.  —  durch  die  Luft.  Sieht  man  aber  näher  zu, 
so  ist  der  Gegensatz  in  AVahrheit  ein  viel  zahmerer.   Jener  kathohsche 


*  Gemeint  sind  hier  Secten  wie  die  der  Katharer  und  Albingenser,  ^Patarener", 
„Bulgaren",  ferner  die  Anhänger  Amab-ich's  von  Bena,  die  —  mit  den  Waldonsern 
zusammenhängenden  —  Ortlieber,  die  Secte  des  neuen  Geistes,  die  Secte  des  freien 
Geistes  und  viele  ähnliche  Bewegungen;  s.  Hahn,  Gesch.  der  Ketzer  im  Mittelalter 
3Bdd.,  Reuter,  Aufklärung  Bd. II,  die  verschiedenen  Arbeiten  von  Ch.  Schmidt, 
Jundt,  Preger,  Haupt;  Staude,  Urspr.  d.  Katharer  (Ztechr.  f.  K.-Gesch.  V,  1); 
Pöllinger,  Beiträge  z.  Sectengesch.  des  Mittelalters  1890. 


Unkräftiger  Widerspruch  gegen  den  hierarchischen  Kirchenbegriff.      409 

Grundbegriff  der  Kirche  als  sacramentaler  Anstalt  wird  nicht  bean- 
standet, weil  der  Grundbegriff  vom  Heil  und  von  der  Seligkeit  unbe- 
anstandet bleibt.  Mag  auch  alle  hierarchische  Gliederung  verworfen 
werden  —  der  Begriff  des  hierarchischen  Priesterthums  bleibt  bestehen; 
mag  die  Kirche  als  die  Gemeinschaft  der  Prädestinirten  gefasst  werden 
—  jeder  Christ  muss  sich  doch  unter  den  Einfluss  der  von  der  Kirche 
gespendeten  Sacramente  stellen  und  sie  aufs  fleissigste  brauchen,  denn 
durch  diese  vollzieht  sich  die  Erwählung;  mögen  die  sacramentalen 
Handlungen  unwürdiger  Priester  ungiltig  sein  —  man  braucht  doch 
Priester,  siesollen  aber  nach  dem  Gesetz  Christi  leben;  mag  die  Kirche 
als  Gemeinschaft  der  Prädestinirten  nur  Gott  bekannt  sein  —  die  em- 
pirische Kirche  ist  doch  die  wahre,  wenn  das  apostolische  Leben  in  ihr 
herrscht,  und  eine  solche  wahre,  empirische  Kirche  ist  schlechthin  noth- 
wendig  und  kann  durch  Reformen  hergestellt  werden;  mögen  endlich 
alle  weltlichen  Rechte  dem  Papst  und  der  Priesterschaft  abzuerkennen 
sein  —  aber  das  weltliche  Recht  ist  überhaupt  etwas,  was  allmählich 
zu  verschwinden  hat.  Die  Kritik  an  dem  römischen  Kirchenbegriff  ist 
also  durchweg  eine  Kritik  aus  der  Mitte  heraus. 

Sie  soll  desswegen  nicht  unterschätzt  werden;  sie  hat  doch  Grosses 
geleistet;  das  Geistige  und  Sittliche  hat  in  ihr  die  Herrschaft  über  das 
RechtUche  und  Empirische  erlangt,  und  Luther  war  glücklich,  als  er 
Hus'  Lehre  von  der  Kirche  kennen  lernte.  Allein  desshalb  darf  man 
sich  darüber  nicht  täuschen,  dass  der  Kirchenbegriff  der  gesammten 
Oppositionsparteien  nur  eine  durch  das  waldensisch-franciskanische  Ideal 
des  apostolischen  Lebens  (nach  dem  Gesetz  Christi)  modificirte  Gestalt 
des  augustinischen  Kirchenbegriffs  ist.  Die  Mischungen  der  Elemente 
sind  in  den  Programmen  der  Oppositionsparteien  sehr  verschieden: 
bald  überwiegt  das  prädestinatianische  Element,  bald  ein  apokalyptisch- 
gesetzliches,  bald  das  franciskanische,  bald  das  biblicistische  (der  lex 
Christi),  bald  sind  sie  alle  in  ein  Gleichgewicht  gestellt.  Besonders  weil 
diese  Oppositionsparteien  von  der  Prädestinationslehre  aus  den  Begriff 
der  „unsichtbaren  Kirche"  in  Geltung  gesetzt  und  den  Massstab  der 
hl.  Schrift  an  Alles  angelegt  haben,  werden  sie  als  evangelische  ge- 
priesen. Allein  sehr  richtig  ist  jüngst  daraufhingewiesen  worden  ',  dass 
sie  auf  den  Begriff  einer  empirischen  wahren  Kirche  keineswegs  ver- 
zichtet haben,  zu  dem  sie  die  individuelle  Unsicherheit  über  die  Erwäh- 
lung trieb,  und  ihr  Standpunkt  auf  dem  Boden  der  Schrift  ist  der  katho- 
hsch-gesetzliche,  wie  ilin  Augustin,  Bernhard  und  Franciskus  eingenom- 
men haben. 

*  S.   GottHohick   in   dem   oben   citirtcn  Aufsatz  und  K.  Müller,   Be- 
richt u.  8.  w,  S.  37  f. 


4  1  ()     (leschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrb. 

Unter  solchen  Umständen  genügt  es,  den  Kirclienlicgriff  der 
einzelnen  Kichtnngen  mit  einigen  Striclien  zu  eluirakterisiren.  Die 
Waldenser  bestritten  weder  den  katholischen  Kultus  noch  die  Sacra- 
mente  und  die  hierarchische  Verfassung  an  sich,  sondern  sie  protestir- 
ten  1)  dagegen  als  gegen  eine  Todsünde,  dass  die  katholischen  Geist- 
lichen die  Hechte  der  Nachfolger  der  Ai)ostel  ausübten,  ohne  das 
apostolische  Leben  auf  sich  zu  nehmen,  2)  gegen  die  umfangreiche  Re- 
gierungsgewalt des  Papstes  und  der  Bischöfe,  also  gegen  die  römische 
Hierarchie  mit  ihrer  Gliederung.  Allein  die  französischen  AValdenser 
bestritten  trotzdem  nicht  die  Giltigkeit  der  von  unwürdigen  Priestern 
gespendeten  Sacramente,  wohl  aber  thaten  das  die  lombardischen  '.  Bei 
den  AValdensern  greift  also  der  Begriff  des  Gesetzes  Christi,  wie 
es  in  der  hl.  Schrift  verzeichnet  ist  und  den  Priestern  das  apostolische 
Leben  vorschreibt,  über  alle  anderen  Merkmale  der  Kirche  hinaus  (bei 
den  italienischen  hat  sich  daraus  das  donatistische  Element  entwickelt). 
Dasselbe  ist  der  Fall  bei  einem  Theil  der  Franciskaner,  die  in  die 
Opposition  übergingen.  In  der  scharfen  Polemik  gegen  Rom  seitens  der 
Joachimiten  tritt  neben  das  gesetzliche  Element  das  apokalyptische: 
Klerus  und  Hierarchie  werden  vom  Standpunkte  des  emancipirten 
Mönchthums  und  der  hereinbrechenden  Endzeit  aus  beurtheilt'-^.  Kein 
Wunder,  dass  eben  diese  Betrachtung  den  Beifall  nicht  weniger  Fran- 
ciskaner fand,  dass  sie  sich  bis  hoch  in  den  Norden  hinauf  in  allen 
Schichten  des  Volkes  verbreitete^,  und  dass  sie  eine  staatsfreundliche 
(ghibellinische)  Wendung  nahm.  Li  dieser  Modification  befreite  sie  sich 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  den  wilden,  apokalyptischen  Elementen 
und  ging  in  die  imperialistische  Opposition  über.  Auch  hier  w^aren  es 
noch  Franciskaner,  Avelche  mitgingen,  ja  zum  Theil  den  Widerstand 
gegen  die  Papstgewalt  leiteten  (Occam).  In  dieser  Opposition  handelte 
es  sich  ganz  und  gar  nicht  um  die  Kirche  als  Sacramentsanstalt  und 
Priesterthum,  sondern  lediglich  um  die  Berechtigung  der  hierarchischen 
Gliederung  (einschliesslich  des  Papstes,  dessen  götthche  Einsetzung 
Occam  bestritten  hat)  und  um  die  Regierungsgewalten  der  Hierarchie, 
die  ihr  abgesprochen  werden.  Aber  sie  wurden  ihr  abgesprochen  im 
Namen  der  franciskanischen  Anschauung,  dass  die  Kirche  keine  welt- 

*  S.  oben  S.  368 f.  und  Müller,  Waideuser  S.  93  ff.  und  passim. 

'S.  Reuter,  a.  a.  0.  II  S.  191  ft".  und  Archiv  f.  Litt.-  uud  K.-Gesch.  des 
Mittelalters  I  S.  105  ft". 

^  Protocolle  von  Ivetzerprocessen  sind  in  den  letzten  Jahren  zahlreicher  als 
früher  veroft'entlicht  worden;  s.  "Wattenbach  i.  d.  Sitzungsberichten  der  Berliner 
Akademie  1886  IV  und  Döllinger ,  a.  a.  0.  Bd.  2.  Sehr  verständlich  ist  es,  dass 
den  Ketzern  vor  Allem  der  Vorwurf  gemacht  worden  ist,  sie  höben  die  Sacra- 
mente auf. 


Der  Kirchenbegriff  der  Oppositionsparteien.  411 

liehe  Verfassung  vertrage,  und  dass  die  Hierarchie  arm  und  rechtlos 
sein  müsse.  Die  Zuweisung  der  ganzen  Rechtssphäre  an  den  Staat 
ist  im  Grunde  ein  Ausdruck  der  Verachtung  dieser  Sphäre ,  freilich 
nicht  bei  allen  litterarischen  AVidersachern  der  Päpste  im  14.  Jahr- 
hundert, aber  doch  bei  nicht  wenigen  K  Die  imperialistische  (3pposition 
wurde  abgelöst  durch  die  conciliare.  Reform  der  Kirche  an  Haupt 
und  Gliedern  war  die  Losung  —  allein  die  Pariser  Professoren,  welche 
sich,  wie  die  deutschen  Professoren  in  den  40er  und  50er  Jahren  un- 
seres Jahrhunderts,  der  Dlusion  hingaben,  am  Webstuhl  der  Geschichte 
zu  sitzen,  verstanden  unter  dieser  „Reform"  ledighch  eine  national- 
liberale Reform  der  Kirchenverfassung  (nach  dem  Muster  der  Ver- 
fassung der  Pariser  Universität),  die  Einschränkung  der  tyrannischen 
und  speculativen  päpstlichen  Rechte,  die  Ueberordnung  des  Concils 
über  das  Papstthum'^  und  die  Befreiung  der  Landeskirchen  vom  päpst- 
lichen Druck  zu  gi'össerer,  sei  es  vollkommener,  sei  es  relativer,  Selb- 
ständigkeit. Die  kirchenpolitische  Tragweite  dieser  Ideen  und  die 
Sympathie,  welche  man  dem  Idealismus  jener  Professoren  zollen  muss, 
darf  über  die  Nichtigkeit  ihrer  Reformbestrebungen,  die  von  dem  Bei- 
fall der  Völker  und  Fürsten  getragen  waren,  nicht  täuschen.  Sie  haben 
die  gregorianische  (pseudoisidorische)  Entwickelung  der  Kirchenver- 
fassung und  des  Papstthums  an  der  Wurzel  angegriffen;  aber  sie  haben 
sich  nicht  gesagt,  dass  sich  diese  Entwickelung  mit  Nothwendigkeit 
immer  wieder  einstellen  muss,  wenn  man  die  Wurzel,  die  Lehre  von 
den  Sacramenten  und  vom  Priesterthum,   unbeanstandet  lässt.    Wie 

^  Neben  Occani  sind  vor  Allem  Marsilius  von  Padua  und  Johann  von  Jandun 
hier  zu  nennen;  vgl.  Riezlcr,  Die  lit. Widersacher  der  Päpste  z.  Z.  Ludwig's  des 
Bayern  1874,  K.  Müller,  Der  Kampf  Ludwig's  d.  B.  mit  der  rom.  Curie,  2  Bdd. 
1879  f.,  Friedberg,  Die  Grenzen  zwischen  Staat  und  Kirche  1882,  ders.,  Die 
mittelalterlichen  Lehren  über  d.  Verh.  v.  St.  u.  K.  1874;  Dorncr,  Das  Vcrhältniss 
von  K.  u.  St.  nach  Occam  (Stud.  u.  Krit.  1885  IV).  Wie  kräftig  die  Staatsidee  im 
14.  .Jahrhundert  sich  regte  (vgl.  auch  schon  Dante),  ist  bekannt. 

^  Vgl.  die  berühmten  Decrete  der  4.  und  5.  Sitzung  des  Constanzer  Concils: 
„Jedes  rechtmässig  berufene  ökumenische,  die  Kirche  repräsentirende  Concil  hat 
seine  Autorität  unmittelbar  von  Chi-istus  und  in  Sachen  des  Glaubens,  in  der  Bei- 
legung der  Spaltung  und  der  Reformation  der  Kirche  an  Haupt  und  Gliedern  ist 
.Jedermann,  auch  der  Papst,  ihm  unterworfen."  Selbst  die  Cardinäle  wagten  nicht, 
ihre  Zustimmung  zu  versagen.  Der  thomistische  Kirchenbegrifl' war  eben  noch  kein 
Dogma;  er  wurde  durch  die  Beschlüsse  von  Constanz  stillschweigend  —  leider  nur 
stillschweigend  —  als  Irrthum  bezeichnet;  aber  auf  dem  Concil  ei-liob  sich,  soviel 
bekannt,  keine  Stimme  für  ihn,  und  Martin  V.  stellte  sich  Anfangs  auf  den  neuge- 
schaffenen Boden,  aber  nur  für  einen  Augeul)lick.  Dass  das  Basler  Concil  die  Con- 
stanzer Decj-etf;,  im  P]invernehm(!n  mit  dem  ]*aj)st,  von  Neuem  vei-kündet  hat,  ist 
bekannt.  Allein  Eugen  IV.  hat  dann  selbst  und  wohlweislich  den  Bruch  herbei- 
geführt. 


412     (ieschiclitc  des  Doß^mas  i^n  Zeitalter  dci'  Bettcloidou  bis  zum  16.  Jahrh. 

konnte  man  diese  Jjehren  aber  antasten,  wenn  man  doch  mit  den 
Curialisten  in  der  Auffassung  von  dem  Heile  und  vom  Gesetze  Christi 
einig  war?  Die  Vorstellung,  man  könne  die  Schäden  der  Kirche  da- 
durch heilen,  dass  man  das  päpstliche  Finanzsystem  lahmlegte  und 
das  Concil  für  die  gottgesetzte  höchste  Instanz  in  der  Kirche  er- 
klärte, war  Angesichts  der  factischen  Zustände,  die  sich  während 
vieler  .Jahrhunderte  in  der  Kirche  herausgebildet  hatten,  eine  Utopie, 
deren  Verwirklichung  während  weniger  Decennien  doch  nur  eine  schein- 
bare gewesen  ist.  Es  hat  etwas  Rührendes  zu  sehen,  mit  welcher  Zähig- 
keit die  Menschen  im  15.  und  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  an  der 
Hoffnung  festgehalten  haben,  dass  ein  Concil  den  Schaden  Israels  heilen 
und  die  Kirche  von  der  Tyrannei  des  Papstes  befreien  könne.  Die  Hei- 
lung ist  auch  gekommen,  aber  in  einer  Weise,  in  der  man  sie  nicht 
erwartete,  während  sie  doch  die  einzig  mögliche  war,  die  ein  Concil 
dauernd  bringen  konnte  —  auf  dem  Tridentinum  und  Vaticanum  *. 

Schon  vor  dem  Beginn  der  grossen  conciliaren  Oppositions- 
bewegung gegen  das  Papalsystem  hat  die  wichtigste  mittelalterliche 
Reformbestrebung  eingesetzt,  die  wiclifi tische,  die  sich  in  der 
h  u  s  i  t  i  s  c  h  e  n  fortgepflanzt  hat.  Die  wichfitisch-husitische  Bewegung, 
in  die  manche  der  älteren  Bestrebungen  eingemündet  sind,  muss  trotz  der 
wilden  Ausschreitungen  doch  als  die  reifste  Ausgestaltung  der  mittel- 


^  lieber  den  Kirchenbegriff  der  Pariser  Theologen  und  ihrer  Freunde  —  sie 
meinten,  nicht  ohne  Grund,  den  altkatholischen  wiederherzustellen,  allein  unter 
gänzlich  veränderten  Verhältnissen  wird  das  Alte  ein  Neues  —  s.  Schwab,  Ger- 
son  1858,  Tschackert,  d'Ailly  1877,  Hartwig,  Henricus  de  Langenstein  1858. 
Brock  haus,  Gregor  v.  Heimburg  1861,  Brockhaus,  Nicolai  Cusani  de  concilii 
univ.  potest.  sentent.  1867.  Dazu  die  Arbeiten  über  Clemange  und  die  italienischen 
und  spanischen  EpiskopaUsten.  Im  Einzelnen  sind  die  Vertreter  der  conciliaren 
Ideen  damals  und  später  weit  auseinander  gegangen,  und  namentlich  hat  Jeder  das 
Verhältniss  des  Papstes  zum  Concil  und  zur  Kirche  anders  bestimmt;  es  gab  solche, 
welche  das  Papstthum  überhaupt  für  entbehrlich  erachteten,  und  solche,  die  ihm 
nur  einen  kleinen  Aderlass  wünschten.  Die  grosse  Mehrzahl  rüttelte  an  seiner  Exi- 
stenz keineswegs,  sondern  wollte  es  nur  reinigen  und  beschränken;  s.  die  guteUeber- 
sicht  über  das  Episkopalsystem  bei  Delitzsch,  Lehrsystem  der  röm.  K.  S.  165  ff. 
Janus  S.  314  ff.  Daran  braucht  wohl  nur  erinnert  zu  werden,  dass  das  Episkopal- 
system aus  der  furchtbaren  Noth  des  Schismas  entstanden  ist,  als  die  Italiener  das 
Papstthum  den  Franzosen  wieder  entreissen  wollten.  Die  Beseitigung  des  Schismas 
war  ein  wirklicher,  aber  auch  der  einzige  bleibende  Erfolg  der  Concilieu.  Doch 
darf  nicht  verkannt  werden,  dass  in  den  Definitionen  der  Kirche,  wie  die  Episkopa- 
listen  sie  gegeben  haben,  reformatorische  Elemente  vorhanden  waren,  die  freihch 
fast  sämmtlich  dem  Augustin  zu  entnehmen  waren;  denn  Augustin  hat  den  Satz 
wiederholt,  dass  die  Schlüssel  nicht  einem  Einzelnen,  sondern  der  Kirche  gegeben 
seien,  und  er  hat  in  seinen  dogmatischen  Ausführungen  stets  die  geistige  Einheit 
der  Kirche  ihrer  verfassungsmässigen  übergeordnet. 


Der  Kirchenbegriflf  von  Wiclif  und  Hus.  413 

alterlichen  Reformbewegungen  gelten.  Allein  es  wird  sich  zeigen,  dass 
auch  sie  zwar  Vieles  gelockert  und  vorbereitet,  jedoch  keinen  refor- 
matorischen Gedanken  zum  Ausdruck  gebracht  hat:  auch  sie  hält 
sich  auf  dem  augustinisch-franciskanischen  Boden,  dem  nur  ein  kräf- 
tiges nationales  Element  beigesellt  ist.  Wichf  s  Theorie,  die  Hus  ein- 
fach abgeschrieben  hat^,  ist  jedoch  desshalb  so  hoch  zu  schätzen, 
weil  sie  die  einzige  zusammenhängende  theologische  Theorie  ist, 
die  das  Mittelalter  der  thomistischen  entgegengestellt  hat.  Alle  die 
anderen  mittelalterlichen  Widersacher  des  römischen  Kirchensystems 
operiren  mit  blossen  Richtlinien  oder  mit  Fragmenten. 

Bhckt  man  auf  das,  was  WicHf  und  Hus  beanstandet  oder  ver- 
worfen haben,  so  möchte  man  vermuthen,  dass  hier  eine  radicale  Kritik 
am  kathohschen  Kirchenbegriff  vollzogen  und  eine  neue  Vorstellung  von 
der  Kirche  gegeben  sein  müsse.  Nach  der  hl.  Schrift  soll  Alles  geord- 
net werden;  die  kultische  und  sacramentale  Praxis  wird  überall  als  ver- 
fälscht und  durch  Menschensatzungen  beschwert  betrachtet;  gegen  die 
Lehre  vom  Ablass,  gegen  die  Praxis  der  Ohrenbeichte,  gegen  die 
Transsubstantiationslehre  (Wiclif),  gegen  die  manducatio  infidelium, 
gegen  die  absolute  Schlüsselgewalt  der  Priester  wird  ebenso  geeifert, 
wie  gegen  den  Heihgen-,  Bilder-  und  Reliquiendienst,  die  Privat- 
messen und  die  vielen  Sacramentalien.  Schlichtheit,  Einfachheit  und 
Verständlichkeit  des  Gottesdienstes  wird  verlangt ;  das  Volk  soll 
wirklich  innerhch  und  geistig  erbaut  werden  (daher  die  Bevorzugung  der 
Landessprache)'-^.  Der  durchgreifenden  Reform  des  Kultus  und  der 
Sacramentsverwaltung  soll  aber  auch  eine  Reform  der  Hierarchie  ent- 
sprechen. Auch  diese  soll  auf  die  ursprüngliche  Einfachheit  zurück- 
geführt werden.  Das  Papstthum ,  wie  es  war ,  galt  als  ein  Stück 
Antichristenthum,  nicht  minder  das  verweltlichte  Bettelmönchthum  (in 


'  Wiclif's  Werke  worden  erst  jetzt  vollständig  zugänglich  gemacht ;  vgl.  den 
von  Le  chlor  odirten  Trialogus,  die  von  Bu  d  den  si  eg  veröffentlichten  Streit- 
schriften und  vor  Allem  die  von  Losorth  edirto  Schrift  de  ecclesia  (Wyclif-Society 
seit  1882j.  Monographie  von  Lechler,  2  P>dd.  1872  (und  in  Herzog's  R.-E.)  und 
von  Buddonsieg  1885.  Die  Einsicht,  dass  Hus  die  wiclifitische  Lehre  einfach 
und  grösstenthoils  wörtlich  ülxirnommon  hat,  verdankt  man  Losorth  (Hus  und 
Wiclif  1884),  s.  auch  desselben  Einleitung  zur  Schrift  de  ecclesia.  Die  fiJrgebnisse  der 
Abhandlung  dottschick' s  über  Hus'  Lehre  von  der  Kirche  (Ztsclir.  f.  K. -Gesch. 
Vni  S.  .'i45  ff.)  troffen  also  auch  völlig  auf  Wiclif  zu.  Wie  weit  Wesel  und  Wossel 
von  Hus  booinflusHt  sind,  dariilior  erlaube  ich  mir  kein  Urtheil,  Savonarola  hat  die 
Opposition  der  Bottelmönche  im  alten  Stil  fortgoeetzt. 

*  Die  Bibelübersetzung  war  eine  grosse  That  Wiclif 's;  al)er  man  darf  ni(dit 
vorgoHSon,  <IasH  auch  di(;  Kirche  dos  15.  Jahrhunderts  für  Bibelübersetzungen  ge- 
sorgt hat,  wie  neuere  Forschungen  dies  bewiesen  haben. 


414     (roschichtp  dos  Doofmns  im  Zeitalter  dor  Bettolonlon  liis  zum  16.  Jahrh. 

den  Kampf  gegen  beide  ist  Wiclif  erst  gegen  Ende  seines  Lebens 
energisch  eingetreten,  wie  Lechler  gezeigt  liat ;  ursjirüngHch  stand  er 
den  Bettelorden  freundUcher  gegenüber).  Der  Papst,  der  dem  Gesetz 
(v'hristi  znwiderhandelt,  ist  der  Widerchrist,  und  in  der  Streitschrift 
„de  Ohristo  et  suo  adversario  Antichristo"  wird  bewiesen,  dass  der 
Papst  in  zwölf  Stücken  von  dem  (jieset/  und  der  Tjchre  (^lu^isti  ab- 
i^efallen  sei.  Das  Haupt  der  Kirche  ist  (^hristus,  niclit  der  Papst*, 
dieser  ist  als  Bischof  von  Rom  erst  durcli  Konstantin  gross  geworden. 
Also  muss  der  römische  Bischof  wieder  zum  apostolischen  Dienen  zu- 
rückkehren. Er  ist  nicht  der  unmittelbare  und  nächste  Statthalter 
Christi,  sondern  er  ist  ein  Diener  Christi,  wie  die  anderen  Bischöfe 
auch.  Ueberhaupt  ist  der  Priesterstand  ein  Stand  des  Dienens  in  De- 
muth  und  Armuth;  zu  herrschen  hat  nur  der  Staat.  Die  unveräusser- 
liche Voraussetzung  des  priesterlichen  Dienstes  ist  die  Nachahmung 
des  leidenden  Menschen  Jesus.  Setzt|  ein  Priester  diese  ausser  Acht 
und  dient  der  Sünde,  so  ist  er  kein  Priester,  so  sind  aucli  alle  seine 
geistlichen  Handlungen  vergeblich. 

Allein  hinter  allen  diesen  grcJsstentheils  schon  von  den  älteren 
Reformparteien  her  bekannten  Sätzen  liegt  zwar  ein  geschlossener,  aber 
kein  neuer  Kirchenbegriff,  vielmehr  nur  eine  Spielart  des  thomistischen. 
Wiclif  s  Kirchenbegriff  kann  vollständig  aus  dem  augustinischen  (Tho- 
mas' von  Bradwardina,  des  Augustiners,  Einfluss  auf  Wiclif)  abgeleitet 
werden,  wenn  man  die  eigenthümliclien  nationalen  und  politischen  Be- 
dingungen ins  Auge  fasst,  unter  denen  er  gestanden  hat^,  sowie  den 
Eindruck,  den  das  franciskanische  Ideal  —  sogar  bis  zum  Communis- 
mus  —  auch  auf  ihn  gemacht  hat.  Hus  stand  unter  ganz  ähnlichen  Be- 
dingungen, und  konnte  desshalb  den  Wiclifismus  einfach  acceptiren. 

WicHf  geht  von  der  augustinischen  Definition  der  Kirche  als  der 
(Tesamnitheit  der  Prädestinirten  im  Himmel  und  auf  Erden  aus.  Zu 
dieser  Kirche  gehören  die  bloss  praesciti  nicht,  ja  sie  gehören  nicht 
einmal  in  der  Zeit  zu  ihr,  wo  sie  Gerechte  sind,  während  umgekehrt 
jeder  Prädestinirte  jVfitglied  in  ihr  ist,  auch  wenn  er  zur  Zeit  noch 
nicht  unter  der  Gnade  steht,  resp.  Heide  oder  Jude  ist.  Niemand  kann 
ohne  eine  revelatio  specialis  von  sich  sagen,  dass  er  zu  dieser  Kirche 
gehöre.  Dieser  folgenschwere,  die  ganze  weitere  Ausführung  beherr- 
schende Satz  ist  ein  deutliches  Zeichen  dafür,  dass  Wiclif  und  Hus  auf 
dem  Boden   des  KathoHcismus  stehen,  d.  h.   dass  die  Bedeutung  des 


*  Diese  hatnamentlich  Buddensieg,  a.a.O.,  ins  Auge  gefasst.  Auch  bei  Wiclif, 
wie  bei  allen  oppositionellen  Bewegungen  des  13.  bis  15.  Jahrhunderts,  ist  an  die 
grosse  natioualökonomische  Umwälzung  Europas  zu  erinnern.  Zuglei^'h  ist  die 
angelsächsische  Art  Wiclif's  im  Gegensatz  zur  romanischen  nicht  zu  übersehen. 


Der  Kirchenbeg^riff  von  Wiclif  und  Hus.  415 

Glaubens  gänzlich  verkannt  ist.  In  der  That  ist  die  Definition  der 
Kirche  als  congregatio  fidehuin  ein  blosser  Titel;  denn,  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  nicht  der  Glaube  ist  das  Entscheidende;  er  kommt 
vielmehr  innerhalb  des  Kirchenbegriffs  nur  als  ein  empirisches  Merkmal 
(=  Gemeinschaft  der  Getauften)  in  Betracht.  Ferner,  da  feststeht,  dass 
Niemand  seiner  Erwählung  gewiss  sein  kann  —  denn  wie  kann  man  sich 
hier  auf  Erden  dem  stetigen  Gefühl  der  Seligkeit  hingeben,  w^elches  aus 
der  Anschauung  und  dem  Genuss  Gottes,  nachdem  alle  anderen  Gefühle 
zum  Schweigen  gebracht  sind,  quillt  ?  wie  ist  es  möglich,  diese  Stimmung 
schon  jetzt  zu  erlangen?  — ,  so  giebt  es  entw^eder  überhaupt  kein  Merk- 
mal, um  die  Existenz  der  Kirche  zu  bestimmen,  oder  man  kann  die  Zu- 
versicht haben,  dass  dort  die  Kirche  Christi  ist,  wo  die  Hinterlassen- 
schaft Christi,  die  Sacramente  und  das  Gesetz  Christi,  herrscht. 
Dieses,  nicht  Jenes  ist  die  Meinung  von  Wiclif  und  Hus.  Die  wahre 
Kirche  Christi  ist  do  rt,  w- o  das  Gesetz  Christi  herrscht,  d.h. 
dasGesetz  der  Liebe, Demuth  und  Armuth,  also  das  apostolische 
Leben  in  Nachahmung  Christi,  und  wo  demgemäss  auch  die  Sacramente, 
welche  das  jenseitige  Leben  vorbereiten,  in  dem  Geiste  Christi  verwal- 
tet werden.  Die  Prädestinationslehre  wird  also  nicht  in  Wirk- 
samkeit gesetzt,  um  dem  Glauben  Raum  zu  schaffen  gegen- 
über den  Sacramenten  oder  um  eine  lediglich  unsichtbare 
Kirche  zu  construiren  —  welches  Interesse  hätten  dann  Wiclif  und 
Hus  an  der  Reform  der  empirischen  Kirche  gehabt?  ^  — ,  sondern  sie 
wird  in  Wirksamkeit  gesetzt,  um  den  Ansprüchen  der  Hierarchie 
als  gottlosen  Anmassungen  begegnen  und  das  Gesetz  Christi 
als  die  wahre  nota  ecclesiae  catholicae  aufrichten  zu  kön- 
nen. Denn  aus  dem  Ausgeführton  folgt,  dass  es  in  der  Kirche  keine 
Rechte  geben  könne,  die  nicht  aus  der  anerkannten  Herrschaft  des  Ge- 
setzes Christi  fliessen.  Um  die  Aufrichtung  dieses  Gesetzes  handelt  es 
sich  ganz  und  gar.  Der  Glaube  wird  übersprungen.  Es  kommt  auf  die 
fides  caritate  formataan,  d.  li.  auf  die  Caritas,  d.  h.  auf  das  Gesetz  der 
Bergpredigt  (consilia)  ''^.  Was  liostritten  wird,  ist  nicht  nur  die  hierar- 
chische Gliederung,  sondern  das  vorgegebene  selbständige  Recht  des 
Klerus,  die  Repräsentation  der  Kirche  und  der  Verwalter  der  Gnaden- 
mittel zu  sein,  ohne  das  Gesetz  (Christi  zu  beobachten-'.    Wie  kann  ein 

»  S.  Gottscliiok,  a  a.  O.  S.  360  lY. 

2  H.  RitHolil,  R(!c}itfV!rtiguii{/  und  Vnrsöhnung  2.  Aufl.  I.  8.  134. 

•  Hus  hat  den   kailiolischon  Unterschied  von  Klerus  und  Laien  streng  fest- 
gehalten.   Wiclif  liat  von  Christus  unmittelbar  berufene   Laien  zu   priesterlicheru 
Handeln  für  befähij/l  erachtet.  Allein  dass  eine  unniittelban^ Einsetzung  durch  Chii 
stusOiliigkeil  liat,  könnte  ijuch  ein  ritniiselierdeoner Wieli^^;  scliwerlieh  hevtreiteu. 


416     (ieschichte  des  Dop^mas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

solches  Recht  bestehen,  wenn  die  Kirche  nichts  Anderes  als  die  Gemein- 
schaft der  Prädestinirten  ist  und  sie  als  solche  kein  anderes  Merkmal 
haben  kann  als  das  Gesetz  Christi?  Wie  können  ferner  Handlungen 
von  Priestern  giltig  sein,  wenn  die  Voraussetzung  alles  Handelns  in  der 
Kirche  und  für  die  Kirche  ihnen  fehlt  —  der  Geliorsani  unter  dem  Ge- 
setz Christi?  Dieses  Gesetz  aber  hat  seine  Quintessenz  in  der  Berg- 
predigt und  im  Vorbild  des  armen  Lebens  Jesu,  jedoch  —  echt  augu- 
stinisch  —  die  ganze  hl.  Schrift  ist  zugleich  das  Gesetz  Christi.  Also 
muss  dieser  Massstab  an  alles  Icirchliche  Handeln  angelegt  werden.  In- 
dessen in  seiner  Anwendung,  die  ja  völlig  willkürlich  werden  muss,  so- 
bald man  wirkhch  den  Versuch  macht,  die  tausend  Anweisungen  buch- 
stäblich zu  erfüllen,  ist  Alles  dem  Gebot  der  dienstfertigen  Liebe  in 
Armutli  und  —  dem  herrschenden  Dogma  unterzuordnen.  Mit  Aus- 
nahme der  Transsubstantiationslehre,  die  nur  Wiclif  beanstandet  hat, 
haben  beide  Reformer  das  Dogma  vöhig  unangetastet  gelassen,  ja  es 
verstärkt.  Was  sie  reformiren  wollten  und  reformirt  liaben,  sind  die 
kultischen  und  sacramentalen  Ordnungen,  welche  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten entstanden  waren  und  von  ihnen  mit  Recht  als  Hemmungen 
der  vollen,  unmittelbaren  Wirksamkeit  von  Wort  und  Sacrament  empfun- 
den wurden.  Dabei  haben  sie  die  Auffassung  nicht  aufgegeben,  dass  der 
numerus  praedestinatorum  in  einer  empirischen  wahren  Kirche  seine 
irdische  Ausgestaltung  finden  könne.  Allerdings  konnte  es  nicht  aus- 
bleiben, dass  in  der  husitischen  Bewegung  —  nachdem  einmal  die 
Losung  wieder  kräftig  ausgegeben  war.  Alles  müsse  nach  dem  Gesetz 
der  hl.  Schrift  reformirt  werden  —  der  Unfug  und  der  Schrecken  alt- 
testamentlicher,  socialistischerund  apokalyptischer  Ideen  in  die  Kirchen 
eingeführt  wurde;  allein  solche  Dinge  überdauern  selten  die  dritte  Ge- 
neration und  überdauerten  sie  auch  damals  nicht.  Man  kehrte  zur  Ge- 
duld zurück,  und  der  einstige  aggressive  Enthusiasmus  verwandelte  sich 
in  stilles  Misstrauen  und  Scheu. 

Wie  man  diesen  wiclifitischen  Kirchenbegriff,  der  im  Grunde  nur 
beim  Papst  und  beim  Busssacrament  in  Spannung  mit  dem  römischen 
geräth  und  aus  einer  Ueberspannung  des  gut  katholischen  Princips 
der  lex  Christi  entstanden  ist,  „evangelisch"  nennen  kann,  ist  schwer 
zu  begreifen.  Er  geht  an  dem  Glauben  im  Sinne  Luther's  ebenso 
vorüber  wie  der  Kirchenbegriff  des  Thomas,  uiid  seine  Voraussetzung 
bildet  neben  der  Prädestinationslehre  der  katholische  SeligkeitsbegriÜ', 
der  katholische  Sacramentsbegriff  und  das  katholische  Armuthsideal. 


Es  kann  sich  dann  nur  darum  handeln,  ob  eine  solche  Einsetzung  constatirbar  ist. 
Also  ist  die  Behauptung,  Wiclif  und  Hus  hätten  das  allgemeine  Priesterthum  dem 
Priesterstande  entgegengesetzt,  unrichtig. 


I 


Der  Kirchenbegriff  von  Wiclif  und  Hus.  417 

Er  schafft  die  Priester  ab,  welche  die  Welt  regieren ;  aber  er  schafft  die 
Priester  nicht  ab,  welche  die  Sacramente  spenden,  das  Gesetz  Gottes 
auslegen  und  es  allein  —  durch  das  apostolische  Leben  —  vollkommen 
erfüllen.  Werden  jene  weltregierenden  Priester  nicht  wiederkehren, 
wenn  es  doch  das  höchste  Interesse  der  Menschen  sein  muss,  sich  auf 
das  Jenseits  durch  die  Sacramente  vorzubereiten,  da  es  durch  den  Glau- 
ben allein  nicht  zu  erreichen  ist  und  auch  der  sichere,  klare,  vollständige 
Glaube  nicht  Jedermann's  Ding  ist?  ^  Aber  so  gewiss  die  Antwort  auf 
diese  Frage  nur  bejahend  ausfallen  kann  —  solange  die  Sacramente  in 
der  Kirche  die  Hauptrolle  spielen,  wird  der  Priester  ein  Gewaltiger  auf 
Erden  sein,  und  solange  der  Buchstabe  der  hl.  Schrift  als  das  Gesetz 
Christi  gilt,  werden  die  berufsmässigen  Interpreten  in  der  Kirche  herr- 
sehen  — ,  so  gewiss  ist  doch,  dass  der  wiclifitische  Kirchenbegriff  einen 
grossen  Fortschritt  bezeichnet.  Es  ist  hier  der  Versuch  gemacht,  He- 
ligiöses  und  Weltliches  zu  trennen ;  es  ist  ferner  der  Werth  des  Gesetzes 
Christi,  eines  Geistigen,  dem  Werth  der  Sacramente  gleichgesetzt,  ja  die 
Wirksamkeit  alles  kirchlichen  Handelns  von  der  innerhchen,  christlichen 
Gesinnung  abgeleitet;  es  ist  das  ganze  „objective"  Recht  einer  Hier- 
archie in  der  Kirche  erschüttert^;  es  sind  die  Christen  aufs  ki'äftigste 

*  S.  Gottschick,  a.  a.  0.  S.  364 f.:  „Hus  besitzt  keine  andere  Anschauung 
vom  Heil  als  die  gemeinkatholische.  Das  Ziel  des  Menschen  ist  die  Vereinigung 
mit  Gott  durch  die  visio  dei  und  die  dadurch  bedingte  Liebe.  Auf  Erden  wird  man 
dazu  vorbereitet  durch  den  Glauben  und  die  verdienstliche  Erfüllung  des  Gesetzes 
der  Liebe.  Der  Glaube  ist  durchaus  als  theoretisches  Fürwahrhalten  eines  Quan- 
tums von  Lehren  gemeint;  es  genügt  für  einen  guten  Theil  dieses  Quantums  die 
fides  implicita.  Die  Hauptsache  ist,  gemäss  dem,  dass  der  Glaube  nur  als  fides 
caritate  formata  "Werth  hat,  die  Erfüllung  des  Gesetzes.  Die  Befähigung  hierzu 
hängt  aber  davon  ab,  dass  auf  Grund  des  Verdienstes  Christi  die  die  Sünde  aus- 
tilgende Kraft  der  Gnade  eingegossen  wird.  Und  Hus  nennt  nirgend  einen  anderen 
Weg,  auf  welchem  dies  geschieht,  als  die  Predigt  und  die  Sacramente,  speciell 
Taufe  und  Abendmahl  oder  Messopfer."  Vgl.  die  von  Gott  schick,  a.  a.  0.,  aus  der 
Schrift  de  ecclesia  angeführten  Stellen,  unter  denen  die  über  die  fides  implicita  be- 
sonders lehrreich  sind.  I,  38:  „Christianus  debet  fidem  aliqualiter  cognoscere." 
62:  „Quantum  oporteat  fidelem  de  necessitate  salutis  explicite  credere,  non  est 
meum  pro  nunc  discutere,  cum  deus  omnipotens  suos  electos  secundum  gradum  fidei 
rnultiplicem  ad  se  trahit."  259:  „Quicunque  habuerit  fidem  caritate  formatam  . . . 
in  communi  sufficit  cum  virtute  perseverantiae  ad  salutem  .  .  .  Non  exigit  deus,  ut 
omnes  filii  sui  sint  continue  pro  viatione  sua  in  actu  cogitanti  particulari  de 
«jualibct  fidei  particula  (also  immer  (juantitativ  beurthcilt),  sed  satis  est,  quod 
poflt  posita  desidia  habeant  fidem  in  habitu  formatam."  Wiclif  urtheilte  ebenso 
(„omnia  sacramenta  scnsibilia  rite  administrata  [dazu  gehört  aber  auch  und  vor 
Allem  der  apostolisch  lebende  Priester]  habent  efficaciam  salutarem"). 

'  Das  Constanzer  Concil  hat  die  wiclifitisch-husitischen  Sätze  gegen  den  Papst 
V>e8tritten,  auch  die  ausschliessliche  Definition  der  Kirche  als  universitas  praedesti- 
natorum. 

Harnack,  DofiTnengeflchichte  III.  27 


418     Geachiclite  dea  Doj^as  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .1  ahrh. 

daran  erinnert,  dass  das  Evangelium  eine  Sache  des  Lebens  ist.  Und 
das  ist  nicht  ausserhalb  der  Theologie  geschehen,  als  wären  es  Einfälle, 
sondern  vom  Boden  und  im  Namen  der  wahrhaft  kirchlichen  Theologie. 

Um  1500  hatte  der  Husitismus  als  grosse  Bewegung  ausgespielt. 
Aber  er  hat  doch  eine  unermessliche  Wirkung  ausgeübt :  er  hat  den 
liierarchisch-papalen  KirchenbegrilV  in  den  Gemüthern  und  Köpfen 
gelockert  und  den  grossen  Umschwung  vorbereiten  helfen.  Unter  den 
wahrhaft  P^rommen  im  Lande  herrschte  freilich  beim  Anbruch  der 
Reformation  die  grösste  Unklarheit:  man  wollte  den  Papst  nicht 
fahren  lassen,  aber  episkopalistische  (conciliare)  und  waldensisch-husi- 
tische  Ideen  waren  weit  verbreitet  ^  Eline  Klärung  war  nothwendig : 
entweder  die  Aufrichtung  des  Papalsystems  oder  eine  neue  Be- 
trachtung der  Kirche,  die  im  Stande  wäre,  für  die  zalilreichen  und 
schweren  Angriffe  auf  jenes  System  einen  festen  Boden  zu  schaffen. 
Der  empirisch -monarchische  Kirchenbegritf  ist  durch  die  Epi- 
skopalisten  beanstandet  worden,  der  juristische  durch  Wiclif  und 
Hus  —  das  ist  die  höchste  Bedeutung  dieser  Männer.  Aber  an  die 
Stelle  des  juristischen  Begriffs  haben  sie  einen  moralistischen  ge- 
setzt. Aus  diesem  wird  sich  jener  immer  wieder  entwickeln.  Was 
fehlte,  war  der  Begriff  einer  Kirche,  zu  der  man  durch  den  lebendigen 
Glauben  gehört.  Das  blosse  Kritisiren  an  der  Hierarchie  —  so  gross 
auch  der  Muth  w^ar,  der  dazu  gehörte  —  thut  es  noch  nicht.  Auch 
damit  ist  es  noch  nicht  gethan,  dass  die  Rechtsordnungen  der  Kirche 
auf  ihre  sittlichen  Bedingungen  zurückgeführt  werden.  Man  kann  diese 
That  Wiclif 's  und  Hus'  nicht  hoch  genug  preisen.  Aber  man  darf 
darüber  nicht  vergessen,  dass  die  Kirche  Christi  die  Richtlinien  ihrer 
Selbstbeurtheilung  aus  Rom.  5 — 8  zu  nehmen  hat.  Das  Eine  aber 
und  für  unsere  Zwecke  Wichtigste  wird  aus  dieser  ganzen  Ueber- 
sicht  hervorleuchten,  dass  die  mannigfaltige  Entwickelung  des  Kirchen- 
begriffs in  unserer  Periode,  weit  entfernt,  das  alte  Dogma  zu  be- 
drohen, es  nur  immer  fester  sich  einbürgern  liess,  freilich  nicht  als 
lebendige  Autorität,  aber  als  die  Basis  und  Grenze.  Wohin  wären 
die  Waldenser,  die  Wiclifiten  und  Husiten  bei  ihren  Berufungen  auf 
die  lex  Christi,  die  Schrift  und  die  Apokalypse  gerathen,  wenn  nicht 
die  stille  aber  starke  Macht  des  alten  Dogmas   sie  gefesselt  hätte? 

An  dieser  Stelle  aber  darf  die  Betrachtung  noch  um  einen 
Schritt  w^eiter  gehen.  Sind  denn  wirklich  nur  die  sog.  Vorrefor- 
matoren  die   Yorreformatoren ,    oder  zeigt  sich  nicht  vielmehr,  dass 

^  S.  ausser  den  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Verbreitung  des  Husitismus  (bes. 
von  Bezold,  Zur  Gesch.  des  Husitenthums  1874  und  die  Studien  von  Haupt)  die 
Arbeiten  von  L.  Keller,  die  aber  mit  grösster  Vorsicht  zu  benutzen  sind. 


Der  Wahrheitskern  im  hierarchischen  Kirchenbegriff.  419 

dieser  Titel  nur  dann  einen  guten  Sinn  hat^  wenn  man  ihn  nicht  für 
irgend  eine  der  mittelalterlichen  kirchlichen  Erscheinungen^  sondern 
für  die  mittelalterliche  Kirche  überhaupt  in  Anwendung  bringt? 
Für  die  höchste  Stufe  der  Betrachtung  liegt  zwischen  dem  Christen- 
thum  der  alten  Kirche  und  dem  reformatorischen  das  Christenthum 
des  Mittelalters  als  die  Zwischenstufe,  d.  h.  als  die  Yorreformation. 
Keine  seiner  Hauptrichtungen  kann  in  dem  Bilde  entbehrt  werden. 
Auch  die  hierarchische  nicht.  Das  zeigt  gerade  der  KirchenbegriiF. 
Denn  die  Gegner  der  „Vorreformatoren"  vertraten  mit  ihrem  Kirchen- 
ideal die  Grewissheit,  dass  Christus  ein  Reich  auf  Erden  hinterlassen 
habe,  in  welchem  er  als  der  Erhöhte  gegenwärtig  ist  und  dessen 
Heihgkeit  nicht  abhängt  von  der  moralischen  Güte  seiner  Glieder. 
Sie  haben  diesen  Gedanken  freihch  geschändet  un^  verweltlicht,  aber 
man  darf  doch  nicht  sagen,  dass  er  ihnen  nur  als  geschändeter  werth- 
voll  gewesen  ist.  Nein  —  auch  er  ist  bei  Vielen  wirklich  ein  Aus- 
druck christlicher  Frömmigkeit  gewesen;  sie  dachten  an  den  leben- 
digen und  herrschenden  Christus,  wenn  sie  an  den  Papst  und  an 
seine  Gewalt,  an  die  Bischöfe  und  an  die  Kirche  dachten,  welche 
sich  die  "Welt  unterwerfen.  In  dieser  Gestalt  war  dieser  Glaube  ein 
nothwendiges  Complement  zu  dem  individualistischen  Christenthum  der 
Mystiker,  und  die  Reformation  hat  mit  ihrer  These  von  der  lieihgen 
Gemeinde  und  dem  Reiche  Gottes,  welche  Christus  in  ihrer  Mitte 
haben,  an  den  katholischen  Gedanken  Augustin's  und  des  Mittel- 
alters direct  angeknüpft,  nachdem  sie  von  Paulus  und  Augustin  ge- 
lernt, geistliche  Dinge  geistlich  zu  richten. 

3.  Zur  Geschichte  der  kirchlichen  Wissenschaft. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Geschiebe  der  Frömmigkeit  haben 
wir  schon  auf  die  Geschichte  der  Theologie  eingehen  müssen;  denn 
Frömmigkeit  und  Theologie  gehören  im  Mittelalter  auf  das  engste 
zusammen.  Auch  ist  in  dem  vorigen  Capitel  (S.  312  ff.)  eine  Skizze  der 
Geschichte  der  Wissenschaft  bis  zum  Ausgang  des  12.  Jahrhunderts 
gegeben  worden.  Aus  dem  ungeheuren  Stoff  des  13.  bis  15.  Jahr- 
hunderts sollen  nur  einige  Hauptpunkte  hervorgehoben  werden  K 

*  »S.  die  Geschichten  der  Philosophie  von  Erdmann,  Ueberweg-Heinze 
(wo  die  reichhaltigsten  Litteraturangaben),  Stöckl  und  Werner  (Monographie 
über  Thomas  v.  Aqu.,  Verschiedene  Abhandlungen  zu  Duns  »Scotus,  Die  Scholastik 
des  späteren  Mittelalters  in  drei  Bdd.  1881  f^.:  1)  Johannes  Duns  Scotus.  2)  Die 
nachscotistische  Scholastik.  S.DerAugustinisnius  des  späteren  Mittelalters).  Baur, 
Yorles.  über  dir;  christl.  Dogmengesch.  2.  Bd.  S.  199  flT.  Eint;  sclume,  durch  tiefes 
Wissen  und  R(;ichthuni  der  (lesichtspunkte  ausgezeichnete  Abhandlung  über  Alber- 
tus M.  verdanken  wir  Bach. 

27* 


420     (Jescliichte  tles  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrb. 

Der  hohe  Aufschwung  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  seit  dem 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  ist  hedingt  1)  durch  den  grossartigen 
Triumph  der  Kirche  und  des  Papstthums  unter  Innocenz  III.  und 
seinen  Nachfolgern,  2)  durch  die  Erhebung  der  Frömmigkeit  in 
P^lge  der  Bettelordenbewegung ',  3)  durch  die  Bereicherung  und  Er- 
weiterung der  allgemeinen  Kultur,  die  theils  eine  Folge  innerer  Ent- 
wickelungen  gewesen,  theils  aus  dem  Contact  mit  dem  Orient  in 
Palästina,  Konstantinopel  und  Spanien  entstanden  ist^.  Hier  ist  vor 
Allem  die  nun  erst  gewonnene  Bekanntschaft  mit  dem  wahren 
Aristoteles,  dem  Logiker,  dem  Physiker,  dem  Ethiker  und  Poli- 
tiker, von  der  höchsten  Bedeutung  geworden.  Seine  Philosophie,  als 
Dogmatismus  verstanden  ^,  wurde  wie  ein  Evangelium  oder  doch  wie 
die  nothwendige  Vorstufe  desselben  begrüsst  („praecursor  Christi  in 
naturalibus"),  und  durch  ihn  empfing  die  Wissenschaft  des  13.  Jahr- 
hunderts einen  fast  unermesslichen  Stoff  und  vor  Allem  Antriebe  zur 
Bewältigung  des  Stoffes. 

*  Ueber  den  Eintritt  des  Minoritenordens  in  die  wissenschaftliche  Bewegung 
8.  Werner,  Duns  Scotus  S.  4ff. 

^  Vgl.  das  6. — 8.  Buch  der  Geschichte  der  Aufklärung  von  Reuter,  im  Be- 
sonderen die  Abschnitte  über  die  Averrhoistische  Aufklärung  sowie  über  die  Bedeu- 
tung der  arabischen  und  jüdischen  Zwischenträger,  ferner  über  die  Einwirkung  der 
Naturwissenschaften  und  über  die  Universität  Paris  im  13.  Jahrhundert.  Die  Araber 
Avicenna  (flGBT)  und  Averrhoes  (f  1198),  jener  supranaturalistisch,  dieser  panthei- 
stisch  gerichtet,  waren  die  bedeutendsten  Commentatoren  des  Aristoteles,  deren 
Werke  durch  die  Vermittelung  der  spanischen  Juden  dem  Abendland  bekanntwur- 
den. Aber  durch  Averrhoes,  der  eine  grosse  Anziehungskraft  ausübte,  wurde  Aristo- 
teles zunächst  discreditirt,  so  dass  mehrere  kirchliche  Verbote  gegen  ihn  ergingen. 
Allein  bald  erkannte  man,  dass  Aristoteles  in  Wahrheit  dem  Pantheismus  keinen 
Vorschub  leiste,  sondern  ihn  widerlege.  Averrhoes  und  Scotus  Erigena  galten  nun 
als  die  eigentlichen  Feinde  des  kirchlichen  Dogmas.  Ueberhaupt  wurde  der  natu- 
ralistische Pantheismus  nun  vor  Allem  verfolgt  und  im  Gegensatz  zu  ihm  entnahm 
mau  dem  Aristotelismus  die  supranaturalistischen  Elemente  und  gab  diesem  Aristo- 
telismus  den  weitesten  Spielraum  (s.  Schwane,  Dogmengesch.  des  Mittelalters 
S.  33  £f.).  Unter  den  jüdischen  Gelehrten  ist  es  namentlich  Maimonides  gewesen, 
der  auf  die  Scholastiker  des  13.  Jahrhunderts  eingewirkt  hat.  Thomas  verdankt 
ihm  sehr  viel  und  hat  ihn  theilweise  ausgeschrieben  (s.  Merx,  Prophetie  des  Joel 
1879).  Dadurch  ist  das  juristisch  -  casuistische  Element  der  Scholastik  noch  ver- 
stärkt und  es  sind  pharisäisch-talmudistische  Theolognmena  in  die  mittelalterliche 
Theologie  eingeschleppt  worden,  die  ihrerseits  wiederum  theilweise  bis  in  die 
persische  Zeit  des  Judenthums  zurückführen.  Doch  ist  auch  neuplatonisches  und 
aristotelisches  Material  den  Scholastikern  aus  den  Uebersetzungen  der  Juden  zu- 
geflossen, w^elche  die  arabischen  Versionen  der  griechischen  philosophischen  Schriften 
ins  Lateinische  übertrugen;  s.  Barden hewer,  Die  Schrift  de  causis  1882. 

'  In  dem  Sinne,  in  welchem  Kant  den  Dogmatismus  aufgedeckt  und  wider- 
legt hat.  Nur  Roger  Baco  strebte  im  13.  Jahrhundert  aus  diesen  Fesseln  kräftig 
heraus;  s.  Reuter  II  S.  67  fl*. 


Aristoteles.    Der  gomildertcre  Realismus.  421 

Die  beiden  neuen  Grossmäclite  des  Zeitalters,  die  Bettelorden 
und  Aristoteles,  haben  sich  ihren  Platz  erst  erkämpfen  müssen.  Die 
alten  Orden  und  die  mit  ihnen  verbündeten  Lehrer  und  Unversitäten 
waren  ihnen  Anfangs  feindlich  gesinnt.  Man  wehrte  sich  gegen  beide. 
Der  neue  Aristoteles  wurde  sogar  durch  kirchliche  Verbote  betroffen, 
und  den  Bettelordentheologen  wollte  man  den  Zugang  zu  den  Ka- 
thedern versagen.  Auch  gab  es  noch  immer  Solche,  bei  denen  die 
Angriffe  auf  die  wissenschaftlich-dialektische  Theologie  überhaupt, 
wie  sie  von  Johann  von  Salisbury  und  Walter  von  St.  Victor  aus- 
gegangen waren,  nachwirkten  ^  Aber  mit  einer  unwiderstehlichen  Ge- 
walt setzte  sich  der  neue  Aufschwung  durch  und  brachte  das  Wider- 
strebende zum  Schweigen. 

Allein  dies  war  doch  nur  möglich,  weil  die  neuen  Factoren  in 
Wahrheit  nichts  Neues  heraufführten,  sondern  den  Triumph  der 
Kirche  über  alles  Geistige  zum  Abschluss  brachten.  Der  neue 
Aristoteles,  wie  man  ihn  verstand,  lehrte  die  Erkenntnisstheorie, 
Metaphysik  und  Politik,  welche  eine  sichere  Begründung  des  Dogmas 
gegenüber  den  Gegensätzen,  wie  sie  früher  —  z.  B.  in  Wilhelm  von 
Champeaux  und  Roscellin  —  hervorgetreten  waren,  \ erstattete  und 
die  Gefahren  eines  excentrischen  Realismus  ebenso  abwehrte,  wie  die 
einer  empirischen  Betrachtungsweise.  Darf  man,  ja  muss  man  die 
Universalien  einerseits  als  die  den  Kosmos  der  Ideen  im  Gedanken 
Gottes  ausprägenden  Urbilder  auffassen,  so  bestehen  sie  ante  rem ; 
muss  man  sie  andererseits  (Kategorien  und  Formen)  als  lediglich 
in  den  Dingen  verwirklicht  ansehen ,  so  sind  sie  in  re  *,  ist  es  end- 
lich unleugbar,  dass  nur  die  Anschauung  der  Dinge  sie  gewinnt,  dass 
also  der  Intellect  sie  der  Erfahrung  entnimmt,  so  sind  sie  post  rem. 
Hierdurch  war  es  möglich,  an  jedes  Dogma  die  erkenntnisstheoretische 
Betrachtungsweise  heran  zu  bringen,  die  zur  Vertheidigung  desselben 
als  die  geeignetste  schien.  Der  „gemilderte"  Beahsmus,  der  die  ver- 
schiedensten Formen  annehmen  konnte  und  den  schon  Abälard,  frei- 
lich mehr  im  Sinne  skeptischer  Zurückhaltung  als  zum  Zweck  specu- 
lativer  Constructionen,  vertreten  hatte,  wurde  im  13.  Jahrhundert 
herrschend.  Das  Wichtigste  aber  war,  dass  die  grossen  Theologen,  die 
ihn  ausbildeten,  mit  noch  grösserer  Energie  als  ihre  Vorgänger  ihr 
ganzes  Gedankengebäude  dem  Principe  unterwarfen,  alle  Dinge 
durch  die  Zurückführung  auf  Gott  zu  verstehen. 

Die  Zurückführung  auf  Gott  war  aber  gleichbedeutend 
mit  der  Unterwerfung  aller  Erkenntnisse  unter  die  Auto- 

'  Vgl.  /.  h.  für  die  Zeit  um  1250  die  Chronik  Salimbene's  und  Michael, 
a.  a.  0.  S.  39  f. 


422     Geschichte  tles  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

rität  der  Kirche.  Dieselbe  Wissenschaft,  welche  eine  erstaunliche 
Energie  des  Denkens  an  den  Tag  gelegt  und  durch  Gelehrte,  wie  Tho- 
mas, in  den  ethischen  und  politischen  Wissenschaften  wirklich  bedeu- 
tende Fortschritte  über  das  Alterthum  hinaus  gemacht  hat,  erscheint 
in  mancher  Hinsicht  noch  gebundener  als  die  AVissenschaft  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts;  denn  nicht  nur  das  alteDogma  („articuhfidei"), 
sondern  das  gesammte  Gebiet  des  kirchlichen  Handelns, 
dessen  Principien  auf  die  articuli  fidei  zurückgeführt  werden,  ist  für 
sie  schlechthin  Autorität,  und  sie  verfährt  viel  unbefangener 
als  früher  nach  dem  Grundsatz,  dass  in  Einzelfragen  jede 
Autorität  soviel  wiegt  wie  eine  verständige  Ueberlegung. 

Erst  im  13.  Jahrhundert  —  durch  die  Bettelordentheologen  — 
ist  der  gesammte  Bestand  des  Kirchenthums  theologisch  gerechtfertigt 
und  sind  die  jüngsten  und  bedenklichsten  Theile  desselben  ebenso  wie 
die  ältesten  und  wichtigsten  durch  die  „AVissenschaft"  für  unantastbar 
erklärt  worden;  erst  im  13.  Jahrhundert  hat  sich  jene  vollkommene 
Ineinanderschiebung  von  Autoritätsglauben  und  Wissenschaft  ein- 
gestellt, die  auf  einer  und  derselben  Fläche  bald  mit  dem  „credo",  bald 
mit  dem  „inteUigo"  operirt  —  bei  Anselm  z.  B.  findet  sie  sich  so  noch 
nicht.  Zwar  wird  in  thesi  festgehalten,  dass  die  Theologie,  auf  der 
Offenbarung  ruhend,  eine  (speculative)  Wissenschaft  sei  K  Allein  man 
hält  es  nicht  für  geboten,  auch  nicht  für  möghch,  auf  dem  Grunde  des 
Glaubens  ein  rein  rationales  Gebäude  aufzurichten,  sondern  man  wechselt 
zwischen  auctoritas  und  ratio :  sie  gelten  als  Parallelen,  mit  denen  man 
operirt.  Der  Zweck  bleibt  freilich  die  Erkenntniss,  die  in  der  visio  dei 
gipfelt;  aber  man  ist  nun  nicht  mehr  Willens,  beim  Fortschreiten  der 
Erkenntniss  das  Element  des  Glaubens  (der  Autorität)  immer  mehr  zu 
ehminiren,  um  zuletzt  das  reine  Erkennen  zu  behalten,  sondern  auf  allen 

^  S.  die  erste  Quaestio  in  der  Pars  I  der  Summa  des  Thomas;  Art.  I:  „utrum 
sit  uecessarium  praeter  philosophicas  disciplinas  aliam  doctrinam  haberi.''  Art.  II: 
„Utrum  Sacra  doctrina  sit  scientia."  Antwort:  „sacram  doctrinam  esse  scientiam. 
Sed  sciendum  est  quod  duplex  est  scientiarum  genus.  Quaedam  enim  sunt,  quae 
procedunt  ex  principiis  notis  lumine  naturali  intellectus  sicut  Arithmetica;  quae- 
dam vero  sunt  quae  procedunt  ex  principiis  notis  lumine  superioris  scientiae,  sicut 
Perspectiva  procedit  ex  principiis  notificatis  per  Geometriam  ...  Et  hoc  modo  sacra 
doctrina  est  scientia,  quia  procedit  ex  principiis  notis  lumine  superioris  scientiae, 
quae  seil,  est  scientia  dei  et  beatorum,  Unde  sicut  Musicus  credit  principia  revelata 
sibi  ab  Arithmetico,  ita  doctrina  sacra  credit  principia  revelata  sibi  a  deo."  Art.  III: 
„Utrum  sacra  doctrina  sit  una  scientia?"  Conclusio:  „Cum  omnia  considerata  in 
sacra  doctrina  sub  una  formali  ratione  divinae  revelationis  considerentur,  eam 
unam  scientiam  esse  sentiendum  est."  Artic.  IV:  „Utrum  s.  doctrina  sit  scientia 
practica?"  Conclusio:  „Tametsi  s.  theologia  altioris  ordinis  sit  practica  et  specula- 
tiva,  eminenter  utramque  contineus,  speculativa  tarnen  magis  est  quam  practica."  etc. 


Die  Wissenschaft  i.  13.  Jahrh.  reicher  aber  gebundener.  423 

Stufen  ist  das  Element  der  Autorität  bereclitigt  und  nothwendig.  Ja 
man  ist  nun  überzeugt,  dass  es  zwei  Gebiete  giebt,  das  der  natürlichen 
Theologie  und  das  der  specifischen  (geoffenbarten).  Beide  werden  aller- 
dings in  innigster  Harmonie  gedacht  ^  aber  die  Ueberzeugung  ist  doch 
gewonnen,  dass  es  Erkenntnisse  —  und  zwar  die  allerwichtigsten  — 
giebt,  die  lediglich  der  geoffenbarten  Theologie  angehören  und  mit  der 
natürlichen  wohl  vermittelt,  nicht  aber  mit  ihr  identificirt  werden  können. 
Auch  die  natürliche  Theologie  soll  sich  der  geoffenbarten  unterordnen; 
denn  die  Theologie  hat  ihr  Fundament  an  der  Offenbarung.  In  Wahr- 
heit wechselt  aber  der  Dogmatiker  zwischen  Vernunft  und  Offenbarung, 
und  der  Stil  seines  Gebäudes  richtet  sich  nach  jener;  denn  der  Inhalt 
der  Offenbarung  wird  im  Einzelnen  nicht  nur  aus  dem  Erlösungsgedan- 
ken gewonnen  —  so  sehr  derselbe  als  visio  dei  das  Ziel  ist  — ,  sondern 
stellt  sich  auch  in  tausend  losen  Stücken  dar,  die  nichts  Anderes  sind 
als  verschiedenartige  Fragmente  eines  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Welterkennens.  Eben  jene  Fassung  des  Ziels  der  Erlösung  als  visio 
dei  brachte  es  mit  sich,  dass  die  Vorstellung  von  dem  Inhalt  der  Offen- 
barung sich  in  eine  unübersehbare  Eeihe  von  Erkenntnissen  aufzu- 
lösen drohte  und  trotz  des  festgehaltenen  Titels  den  Charakter  eines 
natürlichen  Wissens  übernatürlicher  Dinge  erhielt.  Demgemäss  stellte 
sich  nun  auch  die  Vorstellung  von  articuH  mixti  ein,  d.  h.  von  solchen 
Erkenntnissen,  die  sowohl  auf  natürlichem  Wege  als  durch  die  Offen- 
barung —  hier  nur  in  vollkommenerer  Weise  —  gegeben  sind.  Was 
bereits  bei  Tertullian  als  die  Eigenart  der  abendländischen  Theologie  an- 
gelegt erscheint  (s.  Cap.  1),  das  ist  nun  zu  vollendeter  Blüthe  gekommen. 
Durch  den  neuentdeckten  Aristoteles  gewannen  die  Gelehrten  den 
Muth,  von  der  Zusammenstellung  blosser  ^Sentenzen"  zur  Aufrichtung 
ganzer  Lehrgebäude  vorzuschreiten.  Auch  mag  hier  die  imponirende  Ge- 
stalt der  Kirche  in  ihrer  einheitlichen  Machtentfaltung  mitgewirkt  haben; 
denn  die  Scholastik  des  13.  Jahrhunderts  bietet  auf  dem  Gebiete  des 
Erkennens  dasselbe  Schauspiel,  wie  die  Kirche,  der  sie  dient,  auf  den 
Gebieten  des  gesammten  mensclilichen  Lebens.  Hier  wie  dort  soll 
Alles  unterworfen  werden;  hier  wie  dort  ist  Alles  in  ein  einheithches 
System  gestellt,  hier  wie  dort  gilt  der  Satz,  ausgesprochen  oder  ver- 
schwiegen, dass  die  Kirche  Christus  ist  und  Christus  die  Kirche.  So 
kann  man  die  theologische  Wissenschaft  des  13.  Jahrhunderts  charak- 
terisiren  als  die  dialektisch-systematische  Bearbeitung  des 
kirchlichen  Dogmas  und  des  kirchlichen  Handelns  zu  dem 
Zweck,  dasselbe  zu  einem  alles  im  höchsten  Sinn  Wissens- 
würdige umspannenden,  einheitlichen  System  zu  entfalten, 
es  zu  beweisen  und  so  alle  Kräfte  des  Verstandes  und  den 


424     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  IH.  Jahrh. 

gesammten  Ertrag  der  Wissenschaft  der  Kirche  dienstbar 
zu  machen.  Mit  diesem  Zweck  aber  ist  der  andere,  dass  der  Theologe 
auf  diesem  Wege  die  visio  (fruitio)  dei  erreiche,  aufs  engste  ver- 
bunden, ja  sie  liegen  i  neinander;  denn  alle  Erkenntniss  der 
kirchlichen  Lehre  und  des  kirchlichen  Handelns  ist  Gottes- 
erkenntnis s  —  so  lehrte  die  Kirche  von  sich  selber.    Ist  nun  die 
stufenmässige  Gotteserkenntniss  das  einzige  Mittel  für  den  Einzelnen, 
zur  Sehgkeit  (visio  dei)  zu  gelangen,  so  füllt  der  objective  Zweck  mit 
dem  subjectiven  in  der  Theologie  einfach  zusammen :  man  dient  der 
Kirche,  indem  man  sich  selber  dient  und  umgekehrt.   Die  grossen  Scho- 
lastiker fühlten  sich  keineswegs  als  Sklavenarbeiter,  die  nothgedrungen 
für  ihren  Herrn  sich  abmühen.    Deutlich  schwebte  ihnen  sogar  nur  das 
Ziel  vor,  sich  selbst  in  der  Gotteserkenntniss  zu  fördern ;  aber  als  treue 
Söhne  in  der  Kirche  stehend,  der  alle  Gewalt  im  Himmel  und  auf  Erden 
gegeben  ist,  mussten  ihre  Speculationen  —  mit  mehr  oder  weniger  Ab- 
sichtlichkeit —  dazu  dienen,  die  Macht  der  Kirche  zu  verherrlichen 
und  all'  ihr  Thun  zu  apotheosiren.    Dennoch,  wie  viele  Erkenntnisse 
haben  sie  gewonnen,  deren  Wahrheit  ganz  unabhängig  ist  von  der  Wahr- 
heit der  kirchlichen  Theorie  und  Praxis,  wie  notliwendig  und  fördersam 
ist  auch  diese  Epoche  in  der  allgemeinen  Geschichte  der  Wissenschaft 
und  der  Theologie  gewesen,  und  wie  viel  Keime  haben  die  grossen  Scho- 
lastiker ausgestreut,  von  deren  Entwickelung  sie  sich  selbst  nichts  haben 
träumen  lassen!  Noch  ist  in  der  Welt  keine  Wissenschaft  je  unfruchtbar 
gewesen,  die  in  wahrhaftiger  Hingebung  Gott  gedient  hat.  Zum  Hemm- 
niss  ist  die  Theologie  immer  erst  geworden,  wenn  sie  den  Glauben  an 
sich  selber  verlor  oder  unsicher  wurde.   Wir  werden  sehen,  dass  sich  das 
auch  in  der  mittelalterlichen  Theologie  bewahrheitet  hat. 

Denn  Alles,  was  wir  bisher  ausgeführt  haben,  gilt  nur  von  der  vor- 
scotistischen  Scholastik;  es  gilt  vor  Allem  von  Thomas.  Er  hat  auch 
auf  die  Folgezeit  nachhaltig  eingewirkt  und  wii'kt  noch  bis  heute  fort. 
Seine  Vorgänger  und  Zeitgenossen  sind  in  ihm  untergegangen.  Die 
thomistische  Wissenschaft,  wie  sie  vor  Allem  in  der  „Summa"  nieder- 
gelegt ist,  ist  durch  Folgendes  charakterisirt :  1)  durch  die  üeber- 
zeugung,  dass  Religion  und  Theologie  wesentlich  speculativer  (nicht 
praktischer)  Art  sind,  dass  sie  also  geistig  vermittelt  und  angeeignet 
werden  müssen,  dass  es  möghch  ist,  sie  sich  so  anzueignen,  und  dass 
schliesslich  kein  Widerstreit  entstehen  kann  z^vischen  Vernunft  und 
Offenbarung,  2)  durch  strenges  Festhalten  an  dem  Augustinismus, 
speciell  an  der  augustinischen  Lehre  von  Gott,  der  Prädestination,  der 
Sünde  und  der  Gnade  \  3)  durch  eine  tiefeindringende  Kenntniss  des 

*  Als  Augustiner  erweist  sich  Thomas  auch  durch  seine  Würdigung  der  hl. 


J 


Wesen  der  Scholastik  auf  ihrem  Höhepunkt.   Thomas.  425 

Aristoteles  und  durch  eine  umfangreiche  und  energische  Anwendung 
der  aristotehschen  Philosophie,  soweit  der  Augustinismus  eine  solche 
irgend  gestattet  (beim  Gottesbegriff  wird  der  areopagitisch-augustinische 
nur  leise  limitirt),  4)  durch  eine  kühne  Rechtfertigung  der  höchsten 
kirchlichen  Ansprüche  vermöge  einer  genialen  Theorie  vom  Staate  und 
einer  wunderbar  aufmerksamen  Beobachtung  der  empirischen  Tendenzen 
des  päpstlichen  Kirchen-  und  Sacramentssystems.  Der  Politiker  Aristo- 
teles und  der  Theologe  Augustin,  zwei  Feinde,  haben  in  Thomas  einen 
Bund  geschlossen  —  das  ist  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des 
Thomas.  Er  ist,  weil  Theologe  und  Augustiner,  noch  immer  ein 
absoluter  Denker  voll  Zuversicht  —  und  doch  darf  nicht  verschwiegen 
werden,  dass  sich  schon  bei  ihm  die  Keime  zur  Zerstörung  der  absolu- 
ten Theologie  angedeutet  finden.  Wenn  auch  verborgen,  so  hat  sich 
doch  bei  ihm  bereits  Arbiträres  und  Relatives  eingestellt.  Er  will  noch 
Alles  in  den  festen  und  sicheren  Kategorien  der  Majestät  der  Alles 
durchwaltenden  Gottheit  zum  Ausdruck  bringen  und  die  strenge  Noth- 
wendigkeit  aller  theologischen  Aussagen  nachweisen :  die  christliche 
Religion  wird  geglaubt  und  aus  Principien  bewiesen  ;  allein  an  nicht 
wenigen  Punkten  versagte  die  Kraft  doch,  und  der  Denker  musste  sich 
auf  die  Autorität,  welche  das  Probable  stützt,  zurückziehen,  wenn  er 
auch  für  das  Ganze  den  Eindruck  des  absolut  Giltigen  aufrechtzu- 
erhalten verstand  \ 

Schrift.  Nur  die  hl.  Schrift  ist  ihm  absolut  sichere  Offenbarung  ge- 
wesen. Alle  übrigen  Autoritäten  galten  ihm  nur  als  relative.  Sehr  viele  Stellen 
lassen  sich  aus  Thomas  beibringen  zum  Zeugniss,  dass  das  „Formalprincip  der 
Reformation"  an  dem  grossen  Scholastiker  einen  Vertreter  besessen  hat. 

^  Anselm  beweist  z.  Th.  die  articuli  fidei,  Thomas  lehnt  das  (Pars  I  Quaest.  I 
Art.  8)  im  Princip  ab  •,  allein  die  ratio  fusst  auf  den  articuli  fidei,  um  Anderes  zu  be- 
weisen. Wir  werden  sehen,  wie  im  Fortschritt  der  Entwickelung  die  Scholastik  der 
ratio  in  göttlichen  Dingen  immer  weniger  zutraut.  —  Eine  kurze  Beschreibung  der 
„Summa"  mag  hier  am  Platze  sein  (s.  Portmann,  Das  System  der  theol.  Summe 
des  hl.  Thomas,  Luzern  1885).  Der  1.  Thcü  (119  Quaest.)  handelt  von  Gott  und 
dem  Ausgang  der  Dinge  aus  Gott,  der  2.  Theil  (1.  Abth.)  von  der  allgemeinen 
Moral  (114  Quaest.),  der  2.  Theil  (2.  Abth.)  von  der  speciellcn  Moral  (189  Quaest.) 
ui»ter  dem  Gesichtspunkt  der  Rückkehr  der  vernünftigen  Creatur  zu  Gott,  der 
3.  Theil  von  Christus  und  den  Sacramenten  (90  Quaest.).  Als  Supplementum  hat 
man  aus  dem  Commentar  zum  Lombarden  den  Schluss  der  Sacramentslehre  und 
die  Eschatologie  ergänzt  (102  Quaest.).  J(;de  Quaestio  enthält  eine  Anzahl  von 
articuli,  und  Jeder  articulus  ist  in  drei  Theile  zerlegt.  Zuerst  werden  die  difficul- 
tates  angeführt,  welche  die  gestellte  Frage  zu  verneinen  scheinen,  dann  die  Autori- 
täten (eine  oder  mehrere,  unter  ihnen  hie  und  da  auch  Aristoteles),  dann  folgt  die 
Hpeculative,  principielle  Erörterung  und  nun  die  Lösung  der  einzelnen  Schwierig- 
keiten (die  corichisionoH  sind  nicht  von  Thomas  selbst  foniiulirt,  sondern  von  seinen 
Comracntatoreu).  Der  Aufriss  entspricht  dem  paulinisch-augustinischen  Gedanken: 


426     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zuip  16.  Jahrh. 

Aber  war  der  Kirche  mit  der  strengen  Nothwendigkeit  überhaupt 
gedient?  Musste  es  ihr  nicht  vielmeln-  willkommen  sein,  wenn  der  Ver- 

„von  Gott  zu  Gott".  Die  Eiuleitung  (quaest.  1)  umfasst  die  Fragen  nach  der  Theolo- 
gie als  Wissenschaft,  über  das  Subject  (Objcct)  der  Theologie  —  Gott  und  alles 
Andere  sub  rationo  dei  ,  über  die  Metlioden  (auctoritas  und  ratio,  die  Theologie 
als  doctrina  urgumentativa,  sed  „haec  doetrina  non  argunientatur  ad  sua  principia 
probanda,  quae  sunt  articuli  fidei,  sed  ex  eis  procedit  ad  aliquid  aliud  proban- 
dum  .  .  .  nam  licet  locus  ab  auctoritate  quae  fundatur  super  ratione  humana  sit  in- 
firniissinius,  locus  tarnen  ab  auctoritate  quae  fundatur  super  revelatione  divina  est 
efHcacissinuis.  Utitur  tanien  sacra  doctrina  etiani  ratione  humana,  non  quidem  ad 
probandam  fidam  (q  u  i  a  per  hoc  t  o  1 1  e  r  e  t  u  r  m  e  r  i  t  u  m  f  i  d  e  i),  sed  ad  maui- 
festandum  aliqua  alia,  quae  traduntur  in  liac  doctrina.  (Jum  enim  gratia  non  tollat 
uaturam,  sed  perficiat,  oportet  quod  naturalis  ratio  subserviat  fidei,  sicut  et  natu- 
ralis inclinatio  voluutatis  obsequitur  caritati  .  .  .  Sacra  doctrina  utitur  philosopho- 
rum  auctoritatibus  quasi  extraneis  argumentis  et  probabilibus,  auctoritatibus  autem 
canonicae  scripturae  utitur  proprie  et  ex  necessitate  arguendo,  auctoritatibus  autem 
aliorum  doctorum  ecclesiae  quasi  argumentando  ex  propriis  sed  probabiliter.  Inni- 
titur  enim  fides  nostra  revelationi  apostolis  et  prophetis  factae,  qui 
canonicos  libros  scripserunt,  non  autem  revelationi,  si  qua  fuit  aliis 
doctoribus  facta"),  über  die  Auslegung  der  hl.  Schrift  u.  s.  \v.  Quaest.  2 — 27  des 
1 .  Theils  handeln  von  Gottes  Existenz  (fünf  Gottesbeweise),  dem  Wesen  Gottes  (pri- 
mum  movens,  cns  a  se,  perfectissimum,  actus  purus),  den  Eigenschaften,  der  Ein- 
heit und  Einzigkeit,  der  Erkennbarkeit,  den  Namen  Gottes,  ferner  von  der  inneren 
Lebensthätigkeit  in  Gott  (von  seinem  Erkennen,  seiner  Ideenwelt,  seinem  Verhält- 
niss  zur  Wahrheit,  seinem  Leben,  seinem  Willen,  den  Ausprägungen  seines  Willens, 
der  Vorsehung  und  Prädestination),  endlich  von  der  äusseren  Thätigkeit  Gottes 
oder  der  göttlichen  Allmacht  und  von  der  göttlichen  Seligkeit.  Sodann  folgt  in 
Q.  27 — 44  die  Untersuchung  de  processione  divinarum  personarum  (Trinität), 
endlich  Q.  44 — 119  die  Schöpfimgslehre  und  zwar  1)  die  Erschaffung  der  Dinge 
(Schöpfung  aus  Nichts,  Zeitlichkeit  der  Welt),  2)  die  Gliederung  der  Schöpfung 
(Engellehre,  Lehre  von  der  Körperwelt,  Lehre  vom  Menschen,  hier  genaue  Unter- 
suchungen über  die  Substanz  der  Seele,  über  die  Verbindung  von  Leib  imd  Seele, 
über  die  Seelenvermögen,  über  die  menschliche  Erkenntniss ;  sodann  über  die  Er- 
schaffung des  Menschen,  die  Gottebenbildlichkeit,  das  Paradies  und  den  Urständ), 
3)  die  Lehre  von  der  göttlichen  Weltregierung  (über  die  Engel  als  Mittel  der  Vor- 
sehung u.  s.  w,).  —  Der  IL  Theil  1.  Abth.  ist  ganz  auf  der  aristotelischen  Ethik  ge- 
gründet. Er  beginnt  mit  einer  Einleitung  über  das  Ziel  des  Menschen  (das  bonum 
=  beatitudo  =  deus  ipse  =  visio  dei),  sodann  wird  von  der  Freiheit,  dem  Wesen 
der  freien  Willensacte,  der  Gutheit  und  Schlechtheit  der  AVillensacte  (zur  Gutbeit 
gehört  die  Vemünftigkeit  des  Willensactes)  und  von  dem  V^erdieust  und  der  Schuld 
gehandelt  (Q.  6 — 21).  Daran  reihen  sich  Untersuchungen  über  das  menschliche 
Triebleben  (passiones),  das  genau  analysirt  wird  (Q.  22—  48).  Nun  erst  folgt  die 
Darlegung  der  Principien  des  sittlichen  Handelns,  des  „habitus"*  oder  der  Quali- 
täten der  Seele.  Nach  einer  Einleitung  (Q.  49  sq.)  wird  die  Tugendlehre  auseinander- 
gesetzt (eingetheilt  nach  dem  Object  in  intellectuelle,  moralische  und  theologische 
Tugenden),  die  Ursache  der  Tugenden,  die  Eigenthümlichkeiten  derselben  (die  Tu- 
gend als  das  Masshalten  oder  die  „Mitte''  zwischen  zwei  Excessen)  und  der  Höhe- 
punkt der  Tugenden  in  den  Gaben  des  hl.  Geistes  (die  acht  beatitudiues  und  die 


Die  Summe  des  Thomas.  427 

stand  seine  Unfähigkeit  einsah,  den  Feststellungen  der  Autorität  nach- 
zukommen, und  desshalb  die  Segel  strich.    Man  wird  diese  Frage  zwar 

Früchte  des  Geistes).  Hierauf  folgt  die  Lehre  vom  Wesen  der  Sünde  (vernunft- 
und  naturwidrig),  der  Eintheilung  der  Sünden,  dem  Verhältniss  der  Sünden  zu  ein- 
ander, dem  Subject  (der  Wille),  den  Ursachen  (inneren  und  äusseren)  der  Sünde, 
der  Erbsünde  und  den  Wirkungen  derselben  (die  Verschlechterung  der  Natur,  die 
Verfinsterung  =  macula,  der  reatus  poenae,  Todsünden  und  lässliche  Sünden).  Dies 
Alles  gehört  zu  den  inneren  Principien  des  sittlichen  Handelns.  Den  Beschluss 
dieses  Theils  bildet  die  Erörterung  der  äusseren  Principien,  nämlich  des  Gesetzes 
und  der  Gnade.  Das  „Gesetz"  wird  nach  allen  Seiten  erörtert,  als  ewiges  Gesetz 
(das  ist  das  Gesetz,  nach  welchem  Gott  selbst  handelt  und  dessen  Abstrahlungen 
alle  für  dieCreaturen  giltigen  Gesetze  sind),  als  Naturgesetz,  als  menschliches  Gesetz, 
als  alttestamentliches,  als  neutestamentliches  Gesetz  und  als  Gesetz  der  „Räthe"  zu 
besonderer  Vollkommenheit.  Das  neutestamentliche  Gesetz  ist  aber,  da  es  im  Grunde 
ein  inneres,  durch  die  Gnade  eingegossenes  ist,  das  Gesetz  der  Gnade,  und  somit  ist 
der  Uebergang  zu  dem  zweiten  äusseren  Princip  der  sittlichen  Handlungen  ge- 
wonnen —  zur  Gnade,  welche  den  Menschen  zum  Guten  unterstützt.  Die  Gnade 
ist  das  äussere  Princip  des  übernatürlich  Guten;  sie  ist  auf  intellectuellem  Ge- 
biet nicht  nothwendig  zur  Erkenntniss  der  natürlichen  Wahrheiten,  wohl  aber  zur 
Erkenntniss  der  übernatürlichen  Wahrheiten;  ebenso  ist  sie  nöthig,  um  das  über- 
natürlich Gute  thun  zu  können.  Hier  wird  scharf  gegen  den  Pelagianismus  polemi- 
sirt :  der  Mensch  kann  sich  auch  nicht  durch  natürlich  gute  Acte  auf  die  Gnade 
genügend  vorbereiten;  er  kann  sich  weder  selbst  bekehren,  noch  je  selbständig 
im  Guten  beharren.  Eine  Untersuchung  über  das  Wesen,  die  Eintheilung,  die  Ur- 
sachen und  die  Wirkungen  der  Gnade  (Rechtfertigungslehre,  Lehre  von  der  Ver- 
dienstlichkeit der  guten  Werke)  bildet  den  Beschluss.  —  Der  IL  Theil  2.  Abthei- 
lung enthält  nun  die  specielle  Ethik,  nämlich  erstlich  die  genaue  Darlegung  der 
theologischen  Tugenden  (Glaube,  Hoffnung  und  Liebe),  die  Gebote  dieser  Tugenden 
und  die  Sünden  wider  dieselben,  sodann  die  Erörterung  der  Cardinal tugenden  Klug- 
heit, Gerechtigkeit  (hier  ist  Q.  57 — 123  die  ausführlichste  Darlegung  gegeben,  sofern 
auch  die  ganze  Religiosität  unter  diesen  Titel  gestellt  ist),  Muth  und  Massigkeit, 
endlich  die  Erörterung  der  besonderen  Tugenden,  d.  h.  der  Gnadengaben  und 
Standespflichten  (Q.  171 — 189).  Unter  diesem  Titel  werden  a)  die  Charismen,  b)  die 
Ijciden  Lebensformen  (das  beschauliche  und  das  thätige  Leben),  c)  die  Stände  der 
Vollkommenheit  (nämlich  der  Stand  der  Bischöfe  als  der  Virtuosen  der  Nächsten- 
liebe und  der  Stand  der  Mönche  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Bettelmönche) 
besprochen.  —  Der  JH.  Theil  soll  nun  nachweisen,  durch  welcheVeranstaltung  und 
Mittel  die  Rückkehr  der  vernünftigen  Crcatur  zu  Gott  auf  dem  Wege  des  Glaubens, 
der  Hoffnung  und  der  Liebe  möglich  geworden  ist,  nämlich  durch  Christus  und  die 
Sacramente.  Hieran  soll  sich  die  Eschatologie  schliessen.  Daher  wird  hier  1)  ge- 
handelt von  Christus  und  zwar  von  seiner  Menschwerdung  und  seinen  Naturen. 
Nach  einer  Erörterung  der  Nothwendigkeit  der  Menschwerdung  (um  der  Sünde 
willen,  und  da  eine  satisfactio  de  condigno  erforderlich  war)  zur  Wegschaffung  der 
Erbsünde  wird  die  personale  Einheit,  die  göttliche  Person  Christi  und  die  mensch- 
liche Natur  desselben  dargelegt  (wobei  Q.  8  auf  die  Kirche  als  auf  den  mystischen 
Leib  Christi  hingewiesen  und  der  Gedanke  „Christus"  das  Haupt  der  Menschheit 
stark  betont  wird);  sodann  werden  die  Consefpienzen  der  personalen  Union  (Idi- 
omencommunication)  und  alle  Verhältnissbcziehungen  des  Gottmenschen  auseiuan- 


428     (iescliichtt'.  ilcs Dogiiuis  im  Zeilalter  derÜettelonlen  bin  zum  1«>.  Jalirh. 

nicht  unbodingt  bejahen,  aber  noch  viel  weniger  verneinen  dürfen.  Die 
Kirche,  wie  sie  damals  schon  war  und  wie  sie  heute  noch  ist,  braucht 
Beides;  sie  kann  es  nicht  entbehren,  dass  man  ihre  articuli  fidei  und 
IVaktiken  auch  beweist  und  die  Vernunft  derselben  ans  Licht  stellt, 
aber  sie  kann  es  noch  viel  weniger  entbehren,  dass  man  sich  ihrer  Au- 
toi'ität  blindlings  unterwirft. 

In  dieser  Beziehung  hat  Thomas  offenkundig  noch  zu  wenig  gethan. 
Die  Verliältnissbestimmung  von  ratio  und  auctoritas  ist  freilich  bei  ihm 
ganz  besonders  verworren,  die  Ansprüche  des  Glaubens  (als  Autoritäts- 
glauben) und  des  Wissens  sind  schlechterdings  nicht  geklärt  oder  gar 
ausgeglichen,  und  er  hat  nicht  wenige  Sätze  ausgesprochen,  in  denen  er 
sich  der  Autorität  völlig  unterwirft,  damit  dem  „Glauben"  sein  „Ver- 
dienstliches" nicht  abhanden  komme  (s.  den  oben  citirten  Satz:  „Utitur 
tamen  sacra  doctrina  etiam  ratione  humana,  non  quidem  ad  probandam 
tidem,  quia  per  hoc  tolleretur  meritum  fidei").  Allein  sein  eigentliches 
Interesse  an  der  Theologie  ist  doch  noch  dasselbe  wie  das  Augustinus. 
Die  Theologie  ist  Gotteserkenntniss  im  strengen  Sinne,  die  Noth- 
wendigkeit,  die  in  Gott  hervorgehoben  wird,  soll  auch  die  ganze  Er- 
kenntniss  von  ihm  durchdringen.  Die  articuli  fidei  und  alle  Ergebnisse 
des  Welterkennens  sollen  in  die  Einheit  dieser  die  Seele  wahrhaft  be- 
freienden und  zu  Gott  zurückführenden  Erkenntniss  eingeschmolzen 
werden.  Im  letzten  Grunde  ist  das  grandiose  und  complicirte  System 
doch  höchst  einfach.  Wie  der  vollkommene  gothische  Dom,  weil  ein  in 
Wahrheit  organischer  Stil  in  ihm  ausgeprägt  ist,  einen  einzigen  archi- 
tektonischen Gedanken  ausdrückt  und  ihm  Alles  unterwirft,  auch  alle 
praktischen  Bedürfnisse  des  Kultus  ihm  dienstbar  macht,  ebenso  kündet 


dergesetzt.  Hierauf  folgt  2)  ein  Abschnitt  über  das  Werk  Christi,  der  aber  fast  gar 
keine  Speculation  enthält,  sondern  die  Geschichte  Christi  von  seinem  Eintritt  in 
die  Welt  au  erbaulich  erläutert  (Q.  27 — 31  die  Lehre  von  der  Maria).  Bei  dem 
Leiden  und  Tod  Christi  tritt  der  Gesichtspunkt  des  „conveniens"  im  Unterschied 
von  dem  „necessarium"  stark  hervor.  Unmittelbar  an  das  Werk  Christi  wird  die 
Sacramentslehre  (Q.  60  sq.)  angeschlossen;  denn  die  Erlösung  wird  den  Einzelneu 
nur  durch  die  Sacramente  zu  Theil,  die  von  Christus  ihre  Wirksamkeit  haben  und 
durch  die  die  Menschen  in  Christus  incorporirt  werden.  Die  Darlegung  beginnt  mit 
der  allgemeinen  Sacramentslehre  (Wesen,  Nothwendigkeit,  Wirkung,  Ursache,  Zahl, 
Zusammenhang) ;  dann  folgt  die  Erörterung  der  Taufe,  Firmelung,  Eucharistie  und 
Busse.  Hier  hat  Thomas  die  Feder  niederlegen  müssen.  Es  war  ihm  nicht  vergönnt, 
seine  „Summe"  zu  Ende  zu  führen.  Das  Fehlende  ist,  wie  bemerkt,  aus  seineu  übri- 
gen Werken  später  ergänzt  worden ;  dieses  Supplement  aber  lässt  die  Straffheit 
der  von  ihm  selbst  in  der  Summe  gegebenen  Ausfühnmgen  etwas  vermissen,  da  es 
wesentlich  aus  Bemerkungen  und  Einzehmtersuchungen  zum  Text  des  Lombarden 
geflossen  ist.  Schliesslich  sei  bemerkt,  dass  in  der  Summe  Wiederholungen  nicht 
nur  nicht  vermieden  sind,  sondern  in  ungemessener  AVeise  begegnen. 


Thomas.   Duns  Scotus.  429 

dieser  Gedankenbau,  obgleich  alle  kirchlichen  Lehren  unterwürfig  und 
treu  berücksichtigt  sind,  doch  von  dem  einen  Gedanken,  dass  die  Seele 
von  Gott  ausgegangen  ist  und  zu  ihm  durch  Christus  zurückkehrt,  und 
selbst  die  augustinisch-areopagitische  Wendung  dieses  Gedankens,  dass 
Gott  Alles  in  Allem  ist,  ist  von  Thomas  nicht  verleugnet. 

Aber  diese  Haltung  ist  gefährlich.  Aus  ihr  wird  sich  immer  wieder 
die  „Aftermystik",  wie  die  Katholiken  sie  nennen,  entwickeln,  in  der 
das  Subject  seine  eigenen  Wege  zu  gehen  trachtet  und  die  voll- 
kommene Abhängigkeit  von  der  Kirche  vermeidet.  Doch  der  Gang  der 
wissenschaftlichen  Entwickelung  ist  der  Kirche  zu  Hülfe  gekommen, 
und  fast  kann  man  sagen,  dass  sie  auch  hier  Feigen  von  den  Dornen 
eingesammelt  hat.  Das  hingebende  Studium  des  Aristoteles  und  der 
durch  die  Philosophie  und  die  Beobachtung  geschärfte  Sinn  lähmten 
die  Zuversicht  der  Theologen  in  Bezug  auf  die  Bationabilität  und 
strenge  Nothwendigkeit  der  geoffenbarten  Glaubensartikel.  Sie  be- 
gannen darauf  zu  verzichten,  sie  mit  der  Vernunft  zu  bearbeiten  und 
sie  als  Glieder  eines  Systems  einem  einheitlichen  Gedanken  unter- 
zuordnen. Ihr  wissenschaftlicher  Sinn  war  erstarkt,  und  indem  sie  sich 
nun  den  geoffenbarten  Sätzen  zuwandten,  fanden  sie  in  denselben  nicht 
Nothwendigkeit,  sondern  Willkür.  Ferner,  je  weiter  sie  in  der  Psycho- 
logie und  Weltwissenschaft  kamen  und  lernten,  was  wirkliche  Erkennt- 
nisse sind,  um  so  skeptischer  wurden  sie  gegen  das  „Allgemeine": 
„latet  dolus  in  generalibus".  Sie  fingen  an,  das  innere  Interesse  für 
dasselbe  und  den  Glauben  an  dasselbe  einzubüssen.  Die  „Idee",  welche 
„Substanz"  sein  soll,  und  die  „Nothwendigkeit"  der  Allgemeinheiten  ver- 
schwand ihnen;  sie  verloren  die  Zuversicht  zu  jenem  Wissen,  das  Alles 
weiss.  Das  Einzelne  in  seiner  concreten  Ausprägung  gewann  für  sie 
Interesse :  der  Wille  regiert  die  Welt,  der  Wille  Gottes  und  der  Wille 
der  Einzelnen,  nicht  eine  unfassHche  Substanz  oder  ein  construirter 
Universalintellect.  Diesen  ungeheuren  Umschwung  bezeichnet  in  der 
mittelalterlichen  Wissenschaft  Duns  Scotus,  der  scharfsinnigste 
scholastische  Denker*,  aber  erst  seit  Occam  ist  er  vollendet. 


*  H.  Baur,  a.  a.  0.  II  8.235:  „Die  durchgängige  Rationabilität  des  kh'clilichen 
Glaubens  oder  die  Ueberzeugung,  dass  sich  für  alle  Lehren  des  kirchlichen  Systems 
irgend  welche  rationes  auffinden  lassen,  durch  die  sie  auch  für  die  denkende  Ver- 
nunft festgestellt  werden,  war  die;  (Trundvoraussetzung  der  Scholastik.  Aber  in 
dieser  Voraussetzung  wurde  die  Scholastik,  nachdem  sie  in  Thomas  und  Bonaventura 
ihren  Culminationspunkt  erreicht  hatte,  selbst  wieder  irre.  Diesen  für  die  Geschichte 
der  Scholastik  sehr  bedeutenden  Wendepunkt,  von  welchem  aus  sie  immer  mehr  in 
sieh  zu  zerfallen  begann,  bezeichnet  Duns  Scotus."  (Ti(i)ire  von  der  doppelten  Wahr- 
heit als  Folge  des  Sündenfalls!).  Nebc-n  und  nach  Duns  Scotus  ist  es  namentlich  der 
doctor  resolutissimus  Durandus  gewesen,  der,  zuerst  Thomist,  zum  Noniinalismus 


430     Oeacliichte  des  Dopfmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  ])i8  zum  16.  J ahrh. 

Man  sollte  erwarten ,  dass  die  Folge  dieses  Umschwungs  entweder 
der  Protest  gegen  die  Kirchenlehre  oder  der  Versuch,  sie  auf  ihre 
Grundlagen  zu  prüfen  und  kritisch  umzugestalten,  gewesen  wäre.  Allein 
es  hat  200  Jahre  gedauert,  bis  diese  Folgen  im  Socinianismus  einer- 
seits, in  der  reformatorischen  Theologie  andererseits  eintraten.  Zu- 
nächst geschah  etwas  ganz  Anderes:  man  steigerte  die  Autorität 
der  Kirche  und  schob,  sich  ihr  völlig  unterwerfend,  ihr  die 
Verantwortung  der  Glaubensartikel  und  der  Principieu 
ihre s  Handelns  zu  ^  Was  ehist  die  ratio  im  Bunde  mit  der  auctoritas 
getragen  hatte,  sollte  jetzt  die  letztere  allein  tragen.  Aber  man  em- 
])fand  diese  Verschiebung  keineswegs  als  einen  Act  der  Verzweiflung, 
sondern  als  einen  selbstverständlichen  Act  des  Gehorsams  gegenüber 
der  Kirche,  so  vollkommen  beherrschte  dieselbe,  mochte  sie  auch  in 
der  Gegenwart  im  Staube  liegen,  die  Gemüther. 

Indem  der  Nominalismus  die  Herrschaft  in  der  Theologie  und  in 
der  Kirche  gewann,  war  der  Boden  für  die  dreifaltige  Entwickelung  der 
Lehre  in  der  Zukunft  gewonnen :  der  nachtridentinische  Katholicismus, 
der  Protestantismus  und  der  Socinianismus  sind  von  hier  aus  zu  ver- 
stehen 2. 

Der  Nominalismus  zeigt  einerseits  eine  Reihe  bedeutender  Vor- 
züge :  es  ist  ihm  aufgegangen,  dass  die  Religion  etwas  Anderes  ist  als 
die  Erkenntniss  und  Philosophie;  es  ist  ihm  ferner  die  Bedeutung  des 
Concreten  gegenüber  den  Hohlheiten  der  Abstractionen  aufgegangen, 

übergegangen  ist  und  die  Denkweise  desselben  eingebürgert  hat  (s.  seinen  Com- 
mentar  zum  Lombarden).  Er  wirkte  im  ersten  Drittel  des  14.  Jahrhunderts,  s.  über 
ihn  Werner  im  2.  Bd.  der  „Scholastik  des  späteren  Mittelalters". 

^  Auch  an  der  Sufficienz  der  Bibel  hat  Duns  (gegen  Thomas)  gezweifelt. 

^  Der  Nominalismus  hat  sich  erst  nach  einem  harten  Kampf  in  der  Kirche 
durchgefochten.  Seit  den  Tagen  Roscellin's  galt  er  als  verdächtig,  und  das  Ein- 
treten Occam's  für  ihn  konnte  nicht  günstig  sein  (Occam's  Schriften  1339  von  der 
Pariser  Universität  verboten).  Allein  seit  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  setzte  er 
sich  durch,  und  selbst  Dominicaner  —  obgleich  der  Streit  der  Thomisten  und 
Scotisten  fortdauerte  —  traten  für  ihn  ein.  Ja,  als  Wiclif  und  andere  Reformer 
(Augustiner)  sich  wiederum  des  Realismus  annahmen,  wandte  sich  das  Blatt.  Der 
Realismus  wurde  nun  seit  dem  Ausgang  des  14.  Jahrhunderts  kirchlich  verdächtig 
(des  Spiritualismus,  des  Determinismus  und  der  iutellectualistischen  Mystik  wegen, 
die  das  Kirchenthum  zu  gefährden  schienen).  Die  wichtigsten  Vertreter  der  nach- 
scotistischen  Scholastik  sind  Petrus  Aureolus,  Johann  von  Baconthorp,  Durandus 
und  Occam.  Ueber  die  „theologische  Denkauffassung  und  den  allgemeinen  Denk- 
habitus" dieser  Gelehrten  s.  Werner,  Nachscotist.  Scholastik  S.  21  ff.  Ueber  die 
durch  Capreolus  geübte  thomistische  Censur  an  der  nachscotistischen  Scholastik 
8.  ebendort  S.  438  ff.  Dass  der  Nominahsmus  trotz  seines  dogmatischen  Probabilis- 
mus  das  Dogma  wenigstens  Anfangs  nicht  erweicht  hat,  dafür  bietet  der  fanatische 
Angriff  auf  die  Sonderlehre  des  Papstes  Johann  XXIT.  das  beste  Beispiel. 


Der  Nominalismus,  431 

und  er  hat  diese  Erkenntniss,  z.  B.  in  der  Psychologie,  in  glänzender 
Weise  zum  Ausdruck  gebracht^;  er  hat,  indem  er  die  Bedeutung  des 
Willens  erkannte,  auch  in  Gott  dieses  Moment  hervorgehoben,  die 
Persönlichkeit  Gottes  streng  betont  und  somit  jener  areopagitischen 
Theosophie,  welche  immerfort  in  Gefahr  stand,  die  Welt  und  die  ver- 
nünftige Creatur  in  Gott  aufgehen  zu  lassen,  ein  Ende  bereitet^;  er  hat 
endlich,  indem  er  die  Speculation  einschränkte,  die  Positivität  der 
historischen  Religion  deutlicher  hervortreten  lassen.  Allein  dieser 
Fortschritt  in  der  Erkenntniss  Avurde  durch  zwei  schwere  Opfer  theuer 
erkauft :  der  Nominalismus  hat  erstens  mit  der  Zuversicht,  zu  einem 
absoluten  einstimmigen  Wissen  zu  gelangen,  auch  die  Zuversicht  zum 
kategorischen  Imperativ,  zur  strengen  Nothwendigkeit  des  Sittlichen 
in  Gott  und  des  Sittengesetzes  eingebüsst,  und  er  hat  zweitens  in  die 
geschichtlichen  Grössen,  unter  die  er  sich  beugte,  die  Kirche  mitsammt 
ihrem  ganzen  Apparat  eingerechnet  —  die  Gebote  des  Religiösen 
und  Sittlichen  sind  arbiträr,  aber  die  Gebote  der  Kirche 
sind  absolut.  Der  Ruhepunkt  in  den  Zweifeln  und  Unsicherheiten 
des  Verstandes  und  des  Gemüthes  ist  die  Autorität  der  Kirche. 

Weder  dieses  noch  jenes  war  eine  Neuerung  im  strengen  Sinn^. 
Durch  das  Bussinstitut  war  längst  eine  Unsicherheit  über  das  Sittliche 
verbreitet:  es  galt  nur  in  der  Theorie  auszusprechen,  was  seit  Jahrhun- 
derten Grundgedanke  der  Praxis  geworden  war  —  das  souveräne 
Recht  der  Casuistik'*.   Femer,  durch  das  contradictorische  Ver- 

*  S.  Sieb  eck,  Die  Anfäng^e  der  neueren  Psychologie  in  der  Scholastik,  i.  d, 
Ztschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik  1888.  1889. 

^  Duns  hat  auch  die  thomistische  Idee,  dass  in  den  geschöpflichen  Dingen  die 
absolute  göttliche  Urform  abgebildet  sei,  aufgegeben  und  ist  zu  einer  naturalisti- 
schen Lehre  von  der  Welt  an  der  Haud  des  Aristoteles  übergegangen. 

*  Noch  weniger  ist,  wie  vielfach  geschieht,  der  Jesuitenorden  mit  seiner 
casuistischen  Dogrnatik  und  Ethik  hier  verantwortlich  zu  machen,  als  habe  er  die 
Neuerung  erst  gebracht.  Dieser  Orden  ist  lediglich  in  das  Er])e  des  mittelalterlichen 
Nominalismus  eingetreten. 

*  An  die  Stelle  der  speculativen  Scholastik  trat  die  empiristisch-casuistische. 
Die  Nominalistcn  suchten  mit  einem  ungeheuren  Aufwand  von  Scharfsinn  und  — 
Speculation  zu  zeigen,  dass  es  eine  speculative  Scholastik  nicht  geben  könne.  Als 
sie  diesen  „Beweis"  geliefert  hatten,  blieben  lauter  hohle  Formen  nach,  die  noth 
wendig  zusammenstürzen  mussten  oder  nur  durch  den  Zwang  einer  mächtigen  An- 
stalt aufrecht  erhalten  werden  konnten.  AVas  dem  Nominalisinus  trotz  aller  seiner 
Fortschritte  nicht  aufgegangen  ist,  war  die  Idee  der  Persönlichkeit  (s.  erst 
die  Renaissance),  darum  auch  nicht  die  Person  Christi  (s.  die  Reformation)  und 
vorAllem  nicht  die  Geschichte  (s.  das  18. und  19.  Jahrhundert).  An  der  Stelle  der 
(reschichte  steht  ihm  noch  immer  die  starre  Kirch(\  Nicht  anders  verhält  es  sich 
noch  heute  mit  der  Wissenschaft  der  .Jesuiten.  Folgerecht  spielen  sie  mit  der  Ge- 
schichte und  wissen  sie  amüsant  im  Tone  des  Weltmanns  und  mit  leichtem  Spott  zu 


432     üewchichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelonlen  bis  zum  16.  Jahrh. 

fahren,  welches  die  grossen  Scholastiker,  Thomas  an  der  Spitze,  dem 
Geist  der  Jurisprudenz  folgend,  an  jedes  einzelne  Dogma  und  an  jeden 
ethischen  Satz  herangehracht  hatten,  musste  die  Zuversicht,  dass  es 
ein  ahsolut  Giltiges  gehe,  erschüttei-t  werden.  Wenn  —  man  schlage 
jede  heliebige  Seite  bei  Thomas  auf  —  für  jede  Häresie  und  viele  un- 
sittliche Behauptungen  2 — 12  (Gründe  angeführt  werden  können,  wenn 
z.  B.  ein  Dutzend  Gründe  dafür  sprechen,  dass  die  simplex  fornicatio 
keine  Todsünde  sei  (Thomas),  wie  kann  sich  dem  gegenüber  der 
Glaube  felsenfest  behaupten,  dass  sie  doch  für  eine  solche  erachtet 
werden  muss?  Wird  aus  dem  Widerstreit  des  Sic  et  Non  stets  die 
Gewissheit  für  die  Antwort  hervorgehen,  welche  der  Dogmatiker  be- 
vorzugt? Wie  kann  man  überhaupt  auf  Gewissheit  rechnen,  solange  für 
die  Gegenthese  auch  nur  noch  ein  Grund  spricht  und  solange  man 
nicht  den  einen  Grund  aufweisen  kann,  der  allein  giltig  ist?  Der  No- 
minalismus setzte  hier  nur  fort,  was  der  Realismus  begonnen;  er  diffe- 
renzirte  und  distinguirte  nur  noch  mehr;  er  übertrug  die  giltige 
Methode  advocatorischen  Scharfsinns  auf  immer  neue  Gebiete,  auf  die 
Gotteslehre,  die  Schöpfungs-  und  Vorsehungslehre,  auf  die  Heiligkeit 
und  die  Ehre  Gottes,  auf  die  Sünde  und  die  Versöhnung,  und  er  kam 
überall  zu  dem  Schluss,  1)  dass  Alles  relativ  und  arbiträr  sei  —  aber 
auch  in  Thomas'  Dogmatik  ist  schon  manches  sehr  Wichtige  in  der 
Religionslehre  nur  „conveniens" — ,  2)  dass  die  Lehren  der  geoffenbarten 
Religion  mit  der  natürlichen  Theologie,  dem  verständigen  Denken  über 
Gott  und  die  AVeit,  streiten  (Lehre  von  der  zwiefachen  Wahrheit). 
Endhch,  w^enn  der  Nominalismus  lehrte,  dass  man  sich,  da  credere  und 
intellegere  nicht  zu  reimen  seien,  der  Autorität  der  Kirche  blind  unter- 
werfen müsse,  imd  dass  eben  in  diesem  blinden  Gehorsam  wie  das  Wesen 
so  auch  das  Verdienst  des  Glaubens  bestünde,  so  hat  er  auch  hier 
nur  einen  allgemein  katholischen  Ansatz  zur  Reife  entwickelt;  denn 
TertuUian  so  wenig  wie  Thomas  hat  daran  gezweifelt,  dass  aller  Glaube 
mit  der  Unterwerfung  beginnt.  Mochte  man  dann  auch  —  seit  Augu- 
stin —  noch  so  viele  Erwägungen  in  Geltung  gesetzt  haben,  um  den 
ursprünglichen  Ansatz  zu  modificiren  und  den  Glauben  in  den  inneren 
assensus  und  in  die  Liebe  umzuwandeln:  die  alte  These  blieb  doch  be- 
stehen, dass  er  ursprünglich  Gehorsam  sei  und  daran  sein  anfangendes 
Verdienst  habe.  Ist  er  aber  Gehorsam,  so  ist  er  fides  implicita, 
d.h.  es  genügt  die  Unterwerfung.  Indem  der  Nominalismus  in 
steigendem,  selbst  vor  d  em  Frivolen  nicht  zurückscheuen- 
den Masse  die  Sufficienz  der  fides  implicita  bekannt  oder 

behandeln,  sobald  sie  die  Praestanda,  welche  der  KirchenbegTift'verlanot,  praestirt 
haben. 


Der  Nominalismus.   Die  fides  implicita.  433 

sie  seinen  theologischen  Erwägungen  zu  Grunde  gelegt  hat, 
weil  viele  Glaubenswahrheiten  überhaupt  oder  für  Einzelne  einen  anderen 
Modus  der  Aneignung  nicht  zulassen,  hat  er  nur  einen  alten  katho- 
lischen Gedanken  zur  consequenten  Aussage  gebracht'*, 
denn  die  Gefahr,  die  Religion  in  ein  kirchliches  Reglement  zu  verwan- 
deln, hat  dem  abendländischen  Katholicismus  zu  keiner  Zeit  gefehlt  ^. 


^  Die  juristischen  Päpste  von  Gregor  VII.  ab,  namentlich  die  Päpste  des 
13.  Jahrhunderts,  haben  die  nominalistische  Doctrin  von  der  fides  implicita  anti- 
cipirt:  „Innocenz  TV.  hat  in  seinem  Commentar  über  die  Decretalen  zwei  folgen- 
reicheRegeln  aufgestellt.  Erstens:  dass  es  für  die  Laien  genüge,  einen  ver- 
geltenden Gott  zu  glauben,  in  allem  Uebrigen  aber,  Dogma  und 
Sittenlehre,  implicite  nur  zu  glauben,  nämlich  zu  denken  und  zu 
sagen,  ich  glaube  was  die  Kirche  glaubt.  Zweitens,  dass  ein  Geist- 
licher auch  dem  eine  Ungerechtigkeit  befehlenden  Papst  gehorchen 
müsse"  (DöUinger,  Akad.  Vorträge  II  S.  419). 

^  Auf  die  Philosoi^hie  des  Duns  Scotus  (s.  Werner,  a.a.O.  und  die  Uebersicht 
in  dem  Artikel  von  Dorner  in  Herzog's  R.-E.  2.  Aufl.)  und  des  Occam  (s.  Wage- 
mann i.  d.  R.-E  )  kann  ich  mich  hier  nicht  weiter  einlassen.  Wichtige  theologische 
Lehren  derselben  werden  im  folgenden  Abschnitt  zur  Sprache  kommen.   Dass  Duns 
selbst  noch  nicht  Nominalist  gewesen  ist,  aber  diese  Erkenntnisstheorie  in  ihrer 
Anwendung  auf  die  Dogmatik  vorbereitet  hat,  ist  bekannt.   Er  hat  bereits  die  Selb- 
ständigkeit der  weltlichen  Wissenschaften  (auch  der  Metaphj-sik)  gegenüber  der 
Theologie  betont,  wie  er  überhaupt  die  Selbständigkeit  der  Welt  (in  steten  Aus- 
einandersetzungen mit  Thomas)  gegenüber  Gott  viel  deutlicher  hervortreten  lässt. 
Dafür  giel)t  er  der  Willkür  Gottes  gegenüber  der  Welt  einen  grossen  Spielraum. 
Um  jedoch  durch  diese  Annahme  nicht  Alles  ins  Ungewisse  zu  versenken,  wird  die 
Götteserkenntniss  aus  der  Offenbarung  (im  Unterschied  von  der  vernünftigen)  kräftig 
accentuirt.    Bei  Duns  erkennt  man  noch  das  Ringen   des  Princips  der  Vernunft 
mit  dem  Princip  der  durcli  die  Offenbarung  tempcrirten  und  fassbar  gemachten 
Willkür;  bei  Occam  hat  das  letztere  gesiegt.    Dem  Verstand,   den  Occam   dem 
Dogma  gegenü])er  aufbietet,  ist  lediglich  die  Aufgabe  zugewiesen,  zu  zeigen,  dass 
Logik  und  Physik  auf  die  Glaubensartikel  und  die  ihnen  entsprechenden  übernatür- 
lichen Objecte  keine  Anwendung  finden.    Alle  Glaubenslehren  sind  widerspruchs- 
voll; a!)er  so  mnss  es  nach  Occam  auch  sein;  denn  nur  so  erweisen  sie  sich  als  Aus- 
sagen über  eine  übersinnliche  Welt,  die  dem  Verstände  ein  Wunder  ist.   Man  hat 
diesen  Dogmatiker  missverstanden,  wenn  man  aus  seiner  Kritik  der  Dogmen  die 
Ironie  des  Zweiflers  heraushören  wollte.    Wenn  er   die  Transsubstantiationslehre, 
nachdem  er  ihre  Unmöglichkeit  nachgewiesen,  schliesslich  doch  für  probabler  hält, 
wie  jede  andere  Lehre,  weil  die  Kirche  sie  fixirt  hat  und  weil  die  Allmacht  Gottes 
in  ihr  am  schrankenlosesten  erscheint,  d.  h.  weil  sie  die  denkbar  widervernünftigste 
ist,  HO  ist  f'S  ihm  damit  liittrer  Ernst.    Und  was  von  der  Abendmahlslelire  gilt,  gilt 
auch  von  allen  anderen  kirchlichen  Hau[)tleliren.    D(U' Widersinn  und  die  Autorität 
sind  gewissennassen  der  Stemi>el  der  Wahrh(!it.  Das  ist  auch  ein  Positivismus,  aber 
der  Positivismus  in  seiner  Sünden  Blüthe.   Auch  hier  gilt  es,  dass  ein  Abgrund  den 
anderen  ruft.  Die  vornoniinalistische  Therdogie  liatte  der  ratio  eineLasts])eculativer 
Ungcheuerlif^likeiten  aufgebürdet  und  ihr  danc'ben  zugemuthet,  das  ganze  Schwer- 
gewicht der  Religion  zu  tragen;  die  ernüchij'rte  ratio  giebt  den  Gedanken  einer 
Harnafk  ,  Dogrnengescliiolilc  III.  oy 


434     Oeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Was  oben  schon  kurz  angedeutet  ist,  mag  hier  deutlich  ausge- 
sprochen sein  —  es  handelte  sich  um  die  Ausmerzung  des  Augu- 
st i  n  i  s  m  u  s  aus  d  e  r  K  i  r  c  h  e  n  1  e  h  r  e.  Die  ganze  Wendung  des  Realis- 
mus zum  Nominalismus  kann  theologisch  unter  diesen  Titel  gesetzt 
worden.  Augustin  füllt  und  Aristoteles  steigt  —  angeblich  zwar  nicht 
in  der  Theologie,  sondern  nur  auf  dem  (lebiete  des  Weltwissens,  factisch 
aber  auch  in  der  Theologie;  denn  Niemand  vermag  es,  Metaphysik  und 
Theologie  völlig  auseinander  zu  halten,  und  die  theologischen  Lehren 
der  Nominalisten  beweisen,  dass  sie  wohl  vor  den  alten  Dogmen,  nach- 
dem sie  ihre  Unvernunft  nachgewiesen,  mit  einer  Reverenz  Halt  ge- 
macht, dagegen  den  Umkreis  der  neuen,  eigentlich  lebendigen  Lehren 
(Sacramente,  Heilsaneignung)  neumodisch  bearbeitet  haben.  Diese 
Arbeit  richtete  sich  gegen  Augustin,  indem  sie  sich  gegen  Thomas 
richtete. 

Wir  haben  schon  häufig  darauf  hingewiesen,  dass  die  Geschichte 
der  Kirchenlehre  im  Abendland  eine  vielfach  verdeckte  Geschichte 
des  Kampfes  gegen  Augustin  ist.  Sein  Geist  und  seine  Frömmigkeit 
ragten  doch  über  das  Durchschnittliche  des  Kirchenthums  weit  hinaus, 
und  die  neuen  Erkenntnisse,  die  er  gebracht,  waren  der  Kirche  als 
Kirchenanstalt  vielfach  unbequem  und  harmonirten  nicht  mit  ihren 
Tendenzen.  Wohl  hatte  sie  den  Augustinismus  acceptirt,  aber  mit  dem 
geheimen  Vorbehalt,  ihn  in  ihre  Denkweise  uinzuschmelzen.  Wir  haben 
gesehen,  in  welchem  Masse  das  bereits  in  jenen  Perioden  gelungen  ist, 
die  mit  Gregor  dem  Grossen  endigen  und  anheben.  Schon  Gottschalk 
hat  es  erfahren,  was  es  im  Katholicismus  kostet,  den  Augustinismus  zu 
vertreten.  In  der  Folgezeit  bildete  sich  im  sacramentalen  und  im  Buss- 
System  eine  Praxis  und  Denkw^eise  aus,  die  immer  deutlicher  mit  dem 
Augustinismus  stritt.  Um  so  wichtiger  war  es,  dass  der  Dominicaner- 
orden, vor  Allem  Thomas,  die  Theologie  Augustinus  zu  repristiniren 
versuchte.  Duns  Scotus  und  die  nominalistische  Theologie  richteten 
sich  zunächst  gegen  die  Religionsphilosophie  Augustinus,  gegen  jene 
Lehren  von  den  ersten  und  letzten  Dingen,  die  so  stark  zum  Pantheis- 
mus gravitirten.  Aber  indem  sie  dieselben  widerlegten  und  die  Zuver- 
sicht zur  Lehre  von  Gott  dem  All-Einen  erschütterten,  erschütterten  sie 
bei  sich  und  Anderen  auch  die  Zuversicht  zu  der  augustinischen  Gnaden- 
und  Sündenlehre,  die  allerdings  aufs  engste  mit  seiner  Gotteslehre  zu- 
sammenhing. Diese  Nominalisten,  die  (nach  Duns  Scotus)  immer  wieder 
betonten,  dass  die  Vernunft  sich  auf  das  Gebiet  des  Weltlichen  beziehe, 

Xo^ixT)  Xatpeia  überhaupt  preis,  ist  bereit,  den  Köhlei'glauben  als  die  Religion  an- 
zuerkennen und  zieht  sich  selbst  auf  das  Weltwissen  zurück.  Ueber  Biel  s.  Linseu- 
mann  i.  d.  Tüb.  Quartalschr.  1865. 


Der  Nominalismus :  Probabilismus  und  Pelagianismus.  435 

und  dass  man  in  geistlichen  Dingen  lediglich  der  überlieferten  Autorität 
der  Offenbarung  zu  folgen,  den  Verstand  also  ausser  Spiel  zu  lassen 
habe,  haben  in  Wahrheit  doch  höchst  energisch  und  höchst  „verständig" 
im  Rahmen  der  Kirchenlehre  gearbeitet.  „Nicht  zu  speculiren"  führt 
unter  Umständen  auch  zu  einei'  Metaphysik  oder  hindert  doch  nicht, 
eine  überlieferte  Speculation  in  vielem  Einzelnen  und  damit  auch  im 
Ganzen  zu  corrigiren  und  umzusetzen.  Jedenfalls  hat  dieser  Grundsatz 
die  nominalistischen  Theologen  nicht  gehindert,  das  unter  dem  Schutz 
der  Autorität  stehende  Dogma  zu  bearbeiten.  Aber  diese  Arbeit  er- 
hielt nun  nicht  nur  einen  ganz  und  gar  äusserlichen,  formalistischen 
Charakter,  sondern  auch  die  Principien  einer  arbiträren  Sittlichkeit, 
ferner  des  conveniens,  des  Zweckmässigen  und  des  Relativen  wurden 
nun  in  Alles  hineingetragen.  Man  möchte  sagen :  die  Grundsätze  einer 
weltbürgerlichen  Religions-  und  Sittlichkeitsdiplomatie  wurden  auf  die 
objective  Religion  und  die  subjective  Religiosität  angewandt.  Gott  ist 
nicht  ganz  so  streng  und  nicht  ganz  so  heilig,  wie  man  ihn  sich  wohl 
vorstellen  könnte;  die  Sünde  ist  nicht  ganz  so  schlimm,  wie  sie  dem 
zartesten  Gewissen  erscheint ;  die  Schuld  ist  nicht  unermesslich  gross ; 
die  Erlösung  durch  Christus  ist  im  Ganzen  und  in  den  Einzelheiten 
recht  zweckmässig,  aber  nicht  eigentlich  noth wendig;  der  Glaube  braucht 
nicht  völlige  Hingebung  zu  sein,  und  auch  für  die  Liebe  genügt  schliess- 
Hch  ein  gewisses  Mass.  Das  ist  der  „Aristotelismus"  der  nominahsti- 
schen  Scholastiker,  den  Luther  für  die  Wurzel  alles  Unheils  in  der 
Kirche  erklärt  hat;  aljer  das  ist  auch  der  „Aristotelismus",  der  der 
Hierarchie  am  willkommensten  sein  muss ;  denn  hier  behält  sie  das  Heft 
in  Händen,  indem  sie  bestimmt,  wie  streng  Gott,  wie  schwer  die  Sünde 
ist,  u.  s.  w.  Dass  sie  daneben  den  Augustinismus  (Thomismus)  nicht 
ganz  fallen  lassen  kann  und  will,  wurde  schon  bemerkt.  Aber  sie  be- 
stimmt, wo  derselbe  einzutreten  hat,  und  sie  hat  gezeigt,  dass  sie  eifer*- 
süchtig  über  das  Mass  seiner  Anwendung  wacht. 

In  dem  Pelagianismus  und  Pro})abihsnius  des  Nominalismus  liegt 
der  ausgesprochene  Abfall  von  Augustin '.  Aber  eben  weil  er  so  deut- 
lich war,  konnte  eine  gewisse  —  allerdings  nicht  mehr  energische  — 
Reaction  in  der  Kirche  nicht  fehlen.  Nicht  nur  hat  d(T  Dominicaner- 
orden fort  und  fort  mit  der  Theologie  seines  grossen  Lehrers  Thomas, 
die  er  verthcidigte,  auch  den  Augustin  vertheidigt  (wenn  auch  in  der 
Regel  nicht  an  d(;n  wichtigsten  I^unkten),  sondern  es  sind  aucli  im  14. 
und  L5,  Jahrhundert  Männer  aufgetreten,  welche  die  ])elagianische 

'  Auch  von  (lor  altoii  Kirch«  und  vom  Dof^rna  in  seinem  ursprünglichen  Sinn 
überhaupt.  Wer  all«'  I)f)frrnatik  und  p]tliik  in  Casuisfik  uniset/t,  hcwcist  damit,  das« 
er  nicht  mehr  innerlich  gebunden  ist,  sondern  nur  noch  äuHseriich. 

28* 


436     Geschichte  dos  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Tendenz  des  Nominalismus  bemerkt  und  ihr  energisch  im  Sinne  Augu- 
stin's  entgegengewirkt  haben  K  Hier  ist  in  erster  Linie  Bradwardina 
zu  nennen  (-j-  1349),  der  den  ganzen  Augustin  mitsammt  der  Präde- 
stinationslehre der  pelagianischen  Strömung  des  Zeitalters  kräftig  ent- 
gegengestellt hat"-.  Von  ihm  ist  AViclif  als  Theologe  abhängig  gewesen, 
und  sofern  Hus  alle  seine  theologischen  (Tcdanken  von  Wiclif  über- 
nommen und  nach  Böhmen  und  Deutschland  weitergegeben  hat,  ist 

*  Es  ist  ein  Verdienst  von  Werner,  im  3.  Bande  seiner  „Scholastik  des 
späteren  Mittelalters"  die  Reaction  des  Augustinismus  zur  Darstellung  gebracht  zu 
lial)en.  Jedoch  sind  seine  Ausführungen  keineswegs  vollständig.  Er  behandelt 
S.  1 — 232  „die  Repräsentation  des  scholastischen  Augustinismus  durch  die  mittel- 
alterliche Augustiner- Eremitenschule",  d.h.  fast  ausschliessHch  die  Lehre  des 
Aegidius  (f  1315),  des  grossen  Vertheidigers  des  Thomas,  und  (xregor's  von  Rimini; 
sodann  S.  234 — 306  Bradvvardiua's  Lehre.  Auf  den  Augustinismus  des  15.  Jahr- 
hunderts geht  auch  Stöckl  ein,  aber  in  seiner  Weise.  Uebrigens  will  Werner  vom 
repristinirten  Augustiuismus  nichts  wissen.  „Die  älteren  und  neueren  Versuche  um 
die  Gewinnung  eines  specifischeu  Augustinismus  fallen  unter  verschiedene  Gesichts- 
punkte, je  nachdem  sie  eine  Reaction  gegen  die  Verflachung  und  Veräusserlichung 
des  christlich-kirchlichen  Heilsgedankens  oder  die  unter  den  Schutz  des  Namens 
Augustin's  gestellte  Opposition  eines  resuscitirten  einseitigen  Piatonismus  gegen  den 
Aristotelismus  bedeuten,  oder  endlich  auf  der  unklaren  Fusion  des  universalkirch- 
lichen Ansehens  Augustin's  mit  der  Autorität  des  Hauptes  und  Führers  einer  be- 
sonderen Schule  entsprangen.  Einer  solchen  unklaren  Fusion  verdankte  die  mittel- 
alterliche Ordenstheologie  der  Augustiner-Eremiten  (?)  ihr  Entstehen ,  welche  als 
schola  Aegydiana  ins  Leben  trat  und  unter  mancherlei  Wandelungen  ihr  Dasein  bis 
ins  vorige  Jahrhundert  herab  fortsetzte"  (S.  8  f.). 

^  S.  Lechler,  Wiclif  L  Bd.  und  desselben  Monographie  über  Bradwar- 
dina 1863.  Bradwardina  suchte  wieder  darnach,  eine  dem  christlichen  Gottes- 
begriff adäquate  Philosophie  zu  schaffen  und  kehrte  desshalb  zu  der  augustinisch- 
anselm'schen  Speculation  in  Bezug  auf  ein  absolut  uothwendiges  und  vollkommenes 
Sein  zurück,  aus  welchem  Alles,  was  ist  und  sein  kann,  gefolgert  werden  soll, 
-allein  er  zeigt  sich  doch  darin  von  Duus  abhängig,  dass  er  Gott  und  Welt  aus- 
schliesslich in  den  Gegensatz  von  Nothw«ndigem  und  Contingentem  stellt  (s.  seine 
Schrift  de  causa  dei  adv.  Pelag.,  Werner  S.  245  ff.  299),  und  auch  sonst  sind  bei 
ihm  sehr  starke  Einflüsse  des  Nomiualisnius  nachzuweisen.  Allein  sie  verschwinden 
hinter  der  Haupttendenz,  die  „unmittelbare  Einheit  und  Coincidenz  des  theo- 
logischen und  philosophischen  Denkens"  nachzuweisen  und  die  Gnadenlehre  Augu- 
stin's wieder  herzustellen  mitsammt  dem  Determinismus  („jedes  Wollen  in  Gott  ist 
absolute  Substanz").  Werner  will  nachgewiesen  haben,  dass  Bradwardina  kein 
Thomist  ist,  sondern  auf  die  vorthomistische  Scholastik  zurückgreift.  Das  ist  inso- 
fern richtig,  als  Bradwardina  consequenterer  Augustiner  ist.  Allein  Werner  hat  ein 
Interesse,  die  peripatetischen  Elemente  bei  Thomas  möglichst  zu  betonen;  denn  nur 
wenn  man  diese  einseitig  betont,  kann  TJiomas  der  Normaltheologe  bleiben.  „Die 
aristotelische  Grundlage  war  nach  »allgemeinem  Gefühle  <  für  die  Zwecke  einer 
methodisch  betriebenen  theolog.  Schulwissenschaft  und  als  »rationaler  Halt  gegen 
die  falsche  Verinnerlichung«  des  christlich-kirchlichen  Glaubensbewusstseius  nicht 
zu  entbehren"  (S.  305). 


Au^ustinismus  und  Humanismus  gegen  den  Nominalismus.  437 

schliesslich  Bradwarclina  als  der  Theologe  zu  feiern,  der  den  Anstoss 
zu  den  augustinischen  Reactionen  gegeben  hat,  welche  die  Kirchenge- 
schichte bis  zu  Staupitz  und  Luther  begleitet  und  die  Reformation  vor- 
bereitet liaben.  Zahlreich  und  zum  Theil  auch  einflussreich  sind  im 
15.  Jahrhundert  die  Männer  gewesen,  welche,  auf  Augustinus  Schultern 
stehend,  gegen  den  Pelagianismus  Front  gemacht  liaben.  Allein  den 
Fels  der  nominalistischen  Doctrin,  die  Autorität  der  Kirche,  haben  sie 
nicht  umgestürzt  und  nicht  umstürzen  wollen.  Der  Augustinismus  hat 
ferner  vielfach  in  die  Reformparteien  und  -secten  eingewirkt;  aber  wie 
es  zu  keiner  neuen  Theologie  kam,  so  kam  es  durch  alle  diese  Be- 
strebungen auch  nicht  zu  einer  Reformation.  Die  Augustiner  Hessen 
der  fides  implicita  und  den  Sacramenten  noch  einen  weiten  Spielraum, 
weil  auch  sie  an  das  Idol  der  Kirchenautorität  glaubten.  Die  herrschende 
Theologie  bheb  unerschüttert,  solange  man  nicht  ihre  Wurzeln  an- 
tastete. Selbst  so  energische  Angriffe,  wie  die  Wesel's  und  Wessel's, 
verliefen  ohne  allgemeine  Wirkung.  Aber  unverkennbar  ist  die  That- 
sache,  dass  die  nominalistische  Scholastik  im  Laufe  des  15.  Jahrhunderts 
immer  mehr  der  Verachtung  verfiel.  Während  das  Zeitalter  in  neuen 
frischen  Eindrücken  und  Erkenntnissen  schwelgte,  wurde  sie  immer 
formalistischer,  und  ihre  öde  Formalistik  wurde  immer  lebhafter  empfun- 
den. Der  Geist  der  Renaissance  und  des  Humanismus  war  ihr  im 
Innersten  feind-,  denn  er  wollte  nicht  Formeln,  Syllogismen  und  Autori- 
täten ;  er  wollte  weder  die  Finsterniss  noch  die  Aufklärung  der  „aristo- 
telischen" Scholastik,  sondern  er  trachtete  nach  Leben,  das  nach- 
empfunden werden  kann,  und  nach  Erkenntnissen,  welche  über  die 
geraeine  Welt  und  die  gemeine  Lebenskunst  erheben.  Den  Poeten  und 
Humanisten  —  wenn  auch  nicht  allen,  so  doch  den  meisten  von  ihnen 
—  war  die  kirchliche  Theologie  in  dem  Schulbetrieb  der  Scholastiker 
abgestandenes,  schmutziges  AVasser.  Aber  noch  immer  suchte  man  die 
Erlöser  in  der  Antike.  Plato,  nun  der  wahre  Plato,  wurde  entdeckt, 
verehrt  und  vergöttert.  Es  ist  nicht  zufällig,  dass  die  platonische  Re- 
action  im  15.  Jahrhundert  mit  der  augustinischen  zusammentrifft;  denn 
die  beiden  grossen  Geister  der  alten  Zeit  sind  wahlverwandt  -  Plato's 
Dialoge  und  Augustin's  Confcssionen  sind  nicht  unvereinbar.  Unter 
dem  Zeichen  Plato's  und  Augustin's  stand,  was  sich  im  15.  Jahrhundert 
auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft  und  Theologie  auflehnte  wider  ehie 
Scholastik,  die  trotz  ihrer  reichen  Erkenntnisse  verknöchert  und  hohl 
geworden  war  und  den  Contact  mit  den  Bedürfnissen  des  inneren  licbens 
und  der  Gegenwart  verloren  hatte.  Ernsthafter  war  das  Nachdenken 
der  Deutschen  als  der  Italiener  und  Franzosen.  Deutschland  trat  im 
15.  Jahrhundert  an  die  Spitze  der  Denker  und  Gelehrten.   Einen  Mann 


438     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

wie  Nicolaus  von  Kus  oder  wie  Enismus  haben  im  15.  Jahrhundert 
die  romanischen  Völker  nicht  hervorgebracht  ^  Nicolaus  ist  der  An- 
fänger und  Vorlaufer  jdler  der  bedeutenden  Männer,  die  im  folgenden 
Jahrhundert,  ausgehend  von  der  platonischen  Weltbetrachtung,  einen 
so  gewiütigen  und  frischen  Zug  wirklicher  Aufklärung  in  die  Welt  ge- 
bracht haben.  Vielfach  phantastisch  und  sogar  in  Magie  und  Spuk 
versenkt,  ist  doch  von  ihnen  die  Erneuerung  des  wissenschaftlichen 
Denkens  ausgegangen,  und  sie  haben  die  wissenschafthche  Natur- 
beobachtung begründet.  Die  Zuversicht  zu  der  Einheit  aller  Dinge  und 
der  kühne  Schwung  der  Phantasie  —  Beides  war  der  Schulweisheit  ab- 
handen gekommen  —  haben  die  neue  Wissenschaft  ermöglicht.  Diese 
ist  keineswegs  so  entstanden,  dass  der  Nominalismus  oder  die  Philo- 
sophie des  grossen  Naturforschers  Aristoteles,  wie  man  sie  betrieb,  im- 
mer empirischer  geworden  wäre  und  sich  allmählich  zur  exacten  AVissen- 
schaft  entwickelt  hätte,  sondern  ein  neuer  Geist  fuhr  über  die  dürren 
Blätter  der  Scholastik  ,  zerstäubte  sie  kühn  in  die  vier  Winde  und 
schöpfte  Zuversicht  und  Kraft,  auch  der  Natur  ihre  Geheimnisse  abzu- 
gewinnen, aus  den  lebendigen,  den  ganzen  Menschen  erfassenden  Specu- 
lationen  Plato's  und  aus  dem  Umgang  mit  dem  Lebendigen. 

Der  Theologie  ist  im  15.  Jahrhundert  freilich  wenig  davon  zu 
Gut  gekommen.  Die  italienischen  Humanisten  beschäftigten  sich  mit 
ihr  so  gut  wie  gar  nicht  —  höchstens  dass  sie  einige  historische  Unter- 
suchungen anstellten,  um  die  Pfaffen  und  Mönche  zu  ärgern  (Schen- 
kung Konstantin's,  Ursprung  des  Symb.  Ap.)  —  und  auch  die  deutschen 
brachten  keine  wirkliche  Förderung.  Allen  anderen  Wissenschaften 
konnte  man  helfen,  indem  man  auf  das  Alterthum  zurückging,  aber 
nicht  der  Theologie.  AVas  sie  von  Plato  und  den  Neuplatonikern  lernen 
konnte,  das  hatte  sie  längst  gelernt.  Wenn  Männer  wie  Nicolaus  von 
Kus  sie  aus  den  Umarmungen  der  Scholastiker  zu  befreien  versuchten, 
so  wussten  sie  selbst  für  sie  doch  keine  bessere  Gestalt,  als  die,  welche 
ihr  Augustin  und  Mystiker  wie  Eckhart  gegeben  hatten.  Mit  dieser 
Gestalt  aber  hatte  man  es  längst  versucht.  Eben  weil  sie  ungenügend 
erschien  und  man  in  diesem  lichten  Nebel  nicht  länger  athmen  wollte, 
war  man  einst  zum  Nominalismus  übergegangen.  Jetzt  sollte  man  wie- 
der zum  Anfang  zurückkehren;  ein  anderes  Recept  wurde  nicht  geboten. 
Die  Theologie  schien  verdammt  zu  sein,  sich  in  einem  Kreislauf  hülflos 
zu  bewegen:  im  Grunde  blieb  sie,  wie  sie  war;  denn  die  eherne  Kirchen- 


^  S.  Stock  1,  a.a.  0.,Jaiissen,  Gesch.  des  deutschen  Volkes  Bd.  I,  Clemens, 
Giordano  Bruno  u.  N.  v.  K.  1847.  Storz,  Die  specul.  Gotteslehre  des  N.  v.  K.  i.  d. 
theol.  Quartalschr.  1873  I.  Laurentius  Valla  ist  als  Kritiker  dem  Nicolaus  über' 
le^en,  aber  sonst  nicht  ebenbürtig. 


Der  Humanismus.    Die  scholastische  Dogmatik.  439 

autorität  blieb.  Da  kam  die  Hülfe  nicht  von  Aristoteles,  auch  nicht 
von  Plato  und  Augustin,  sondern  aus  dem  Gewissen  eines  Bettelmönchs. 
Aber  was  die  Renaissance  und  der  Humanismus  in  dir  e  et  der 
Theologie  geleistet  haben,  soll  nicht  verkannt  werden.  Haben  sie  die- 
selbe auch  weder  wirklich  aufgelöst  und  noch  viel  weniger  neu  gebildet, 
so  haben  sie  doch  der  zukünftigen  Neubildung  die  erspriesslichsten 
Dienste  geleistet.  Die  Quellen  der  Geschichte  wurden  aufgedeckt,  und 
der  Humanist  Erasmus  hat  die  wissenschaftliche  Patrologie  nicht  nur 
begründet,  sondern  sofort  zu  hoher  Blüthe  geführt.  Aus  dem  Sinn  für 
das  Originale  erwuchs  die  Kritik.  Was  mit  Origenes,  ja  zum  Theil 
schon  vor  Origenes  in  der  Kirche  abgestorben  war  oder  was  sich  im 
Grunde  —  wenige  Antiochener  ausgenommen  —  nie  kräftig  entwickelt 
hatte,  geschichtlicher  Sinn  und  geschichtliche  Exegese,  das  entwickelte 
sich  nun.  Es  sollte  der  Reformation  zu  Gut  kommen,  aber  es  sollte 
auch  bald  wieder  von  ihr  verschlungen  werden.  Für  die  Geschichte 
der  Theologie  und  der  Dogmen  im  engsten  Sinn  des  Worts  war  übrigens 
der  Humanismus  ganz  unfruchtbar.  Er  schob  sie  bei  Seite,  kühl  und 
überlegen  oder  keck  und  spottend.  Mit  ernsthafter  Kritik  ist  er  nie- 
mals an  sie  gegangen.  Als  die  Refonnation  anbrach,  beurtheilte  er  den 
Ablassstreit  als  Mönchsgezänk  oder  als  eine  erfreuliche  Verlegenheit, 
die  den  Pfaffen  bereitet  wurde.  Als  es  dann  ernst  wurde  und  man  sich 
entscheiden  musste,  zeigte  es  sich,  dass  das  franciskanische  Ideal  in  den 
meisten  Gemüthern  fester  haftete  als  die  evangelische  Neigung.  Auch 
wollte  der  stille  Gelehrte  sich  nicht  durch  den  Lärm  der  „lutherischen 
Buben"  stören  lassen.  Theologische  „Lehre"  hielt  man  für  etwas  Gleich- 
giltiges.  Der  Rächer  sollte  auf  dem  Eusse  folgen :  den  erschreckten 
Gelehrten  haben  die  folgenden  150  Jahre  gezeigt,  dass  die  Theologie 
sich  nicht  spotten  lässt. 

4.  Die  Ausprägung  der  Dogmatik  in  der  Scholastik, 

In  der  Scholastik  des  13.  Jahrhunderts  hat  die  lateinische  Kirche 
das  erreicht,  was  die  griechische  im  8.  Jahrhundert  erlangt  hat  —  eine 
einheitliche  systematische  Darstellung  ilires  Glaubens.  Diese  Dar- 
stellung hat  zu  ihrer  Voraussetzung  erstens  die  hl.  Schrift  und  die 
articuh  fidei,  wie  sie  auf  den  Concilicn  ausgeprägt  waren,  zweitens 
den  Augustinismus,  drittens  die  kirchlichen  (päpsthchen)  Feststel- 
lungen und  die  gesammte  Entwickelung  des  Kirchenthums  seit  dem 
9.  Jahrhundert,  viertens  die  aristotcHsche  Philosophie. 

Wir  haben  in  dem  3.  und  4.  Capitel  dieses  Bandes  gezeigt,  wie 
der  alte  Aufriss  der  Glaubenslehre  eine  tiefgreifende  Umänderung  durch 
Augustin  erfahren  hat,  wie  er  aber  im  letzten  Grunde  —  was  den  finis 


440     Ueschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

religionis  et  thcülogiae  bctrift't  nicht  ausser  KiJil't  gesetzt,  sondern 
viehuelir  cünii)licirter  gestaltet  worden  ist:  indem  Augiistin  die  in  den 
Sacranienteii  wirksamen  Gnadenkriilte  als  die  Kriilte  der  Liebe  be- 
zeichnete, liess  er  die  alte  Betrachtung  derselben,  dass  sie  nämlich  auf 
den  Genuss  Gottes  vorbereiten  und  ihn  herbeiführen  helfen,  bestehen. 
Aber  er  gab  zugleich  den  kräftigsten  Anstoss  zu  einer  dualen  Ent- 
wickelung  der  Frömmigkeit  und  der  Kirchenlehre ;  denn  die  in  den 
8acramenten  wirksamen  Liebeskräfte  stellen  auch  das  regnum  iustitiae 
auf  Erden  her,  erzeugen  so  das  der  lex  Christi  entsprechende  Leben  in 
der  Liebe  und  berähigen  den  Einzelnen  zu  jenen  guten  Werken,  welche 
ein  Verdienst  vor  Gott  begründen  und  einen  Anspruch  auf  Sehgkeit 
Schäften. 

In  dieser  letzten  AVendung  hatte  Augustin  seine  neue  Betrachtung 
der  göttlichen  Gnade  als  einer  gratia  gratis  data  der  alten,  vorzüghch 
abendländischen  Betrachtung  der  Rehgion  als  eines  Gefüges  von  Ge- 
setz, Leistung  und  Lohn  untergeordnet  (durch  den  Uebergangs- 
gedanken  „nostra  merita  dei  munera"),  und  diese  Unterordnung  hat  in 
der  Folgezeit  immer  weitere  Fortschritte  gemacht.  Die  Gnade  (in 
der  Form  der  Sacramente)  und  das  Verdienst  (Gesetz  und 
Leistung)  sind  die  beiden  Centren  der  Curve  der  mittel- 
alterlichen Auffassung  vom  Christenthuni.  Diese  Curve  ist  aber 
ganz  eingebettet  in  dem  Glauben  an  die  Kirche*,  denn  da  —  was  man 
nicht  bezweifelte  —  ihr  die  Sacramente  und  die  aus  ihnen  resultirende 
Schlüsselgewalt  verliehen  war,  so  war  sie  nicht  nur  die  Autorität  für 
das  ganze  Gefüge,  sondern  recht  eigentlich  die  Fortsetzung  Christi 
selbst  und  der  Leib  Christi,  der  ihm  enhypostatisch  verbunden  ist.  In 
diesem  Sinn  ist  die  mittelalterliche  Theologie  Ecclesiastik,  obgleich 
sie  nicht  viele  Worte  über  die  Kirche  gemacht  hat.  Aber  andererseits 
ist  dieser  Theologie,  wenigstens  bis  zum  Siege  des  Nominalismus,  nie- 
mals die  augustinische  Grundabsicht:  „Deum  et  animam  scire  cupio. 
Nihilneplus?  Nihil omnino",  aus  dem  Sinn  gekommen,  d.h.  sie  hat  die 
Betrachtung  nicht  aufgegeben,  dass  es  sich  in  aller  Theologie  letztlich 
ausschliesslich  um  die  Erkenntniss  Gottes  und  des  Verhältnisses  der 
Einzelseele  zu  ihm  handelt  ^  Das  Ineinander  der  Theologie  als  Eccle- 
siastik und  als  Seelenspeise  ist  es,  was  der  mittelalterlichen  Scholastik 
ihre  Spannungen  und  ihren  Reiz  verliehen  hat.   Aus  diesem  Ineinander 


*  In  dem  Nominalismus  wurde  das  anders.  Die  Darlegung  der  Kirchenlehiv 
wurde  mehr  und  mehr  Selbstzweck  und  aus  der  Verbindung  mit  der  Religiouspliilo- 
sophie  herausgeführt.  Dass  dadurch  die  Originalität  und  Selbständigkeit  der  christ- 
lichen Religion  als  einer  historischen  Erscheinung  wieder  deutlicher  hervortrat,  ist 
nicht  zu  verkennen. 


Die  scholastische  Dogmatik.   Einleitung.  441 

erklärt  sich  auch  der  doppelte  Zweck,  unter  welchen  die  christliche 
Rehgion  hier  gestellt  ist,  wenn  auch  den  Theologen  nur  der  eine  be- 
wusst  vorschwebt:  Rehgion  und  Theologie  sollen  einerseits  den  Ein- 
zelnen zur  Sehgkeit  (visio  dei  oder  Gelassenheit  des  WiUens)  führen, 
sie  sollen  aber  andererseits  das  Reich  der  Tugend  und  Gerechtigkeit, 
welches  die  empirische  Kirche  ist,  auf  Erden  bauen  und  alle  Mächte 
diesem  Reich  unterwerfen  ^ 

Augustin  hat  die  überlieferten  articuli  lidei  in  ganz  neuer  Weise 
verwerthet;  sie  sind  ihm  nicht  mehr  der  Glaube  selbst,  sondern  er 
baut  mit  ihnen,  sie  vielfach  umschleifend,  den  Glauben  auf.  Aber  ihre 
Autorität  wurde  dadurch  nicht  erschüttert,  sondern  in  gewisser  Weise 
noch  vermehrt,  sofern  die  äussere  Autorität  in  dem  Masse  stieg,  als 
die  innere  —  dass  der  Glaube  sich  ausschliesslich  mit  ihnen  identi- 
licirte  —  abnahm.  Dies  wirkte  genau  so  in  dem  Mittelalter  weiter. 
Dogmen  im  strengen  Sinn  sind  nur  die  articuli  hdei  des  kirchlichen 
Alterthums.  Allein  der  Transsubstantiationslehre  gelang  es,  die  gleiche 
Dignität  mit  den  alten  Dogmen  durch  das  quid  pro  quo  zu  gewinnen, 
dass  sie  in  der  Incarnationslehre  mitgesetzt  sei.  Indem  so  die  Trans- 
substantiationslehre neben  die  alten  Dogmen  trat  ^ ,  war  im  Grunde 


'  Bei  der  Bestimmung  der  Seligkeit  oder  des  finis  theologiae  erweisen  sich 
alle  Scholastiker  als  mystisch,  d.  h.  augustiuisch,  d.  h.  altkatholisch  bestimmt.  Die 
fruitio  dei  gilt  als  letzter  Zweck,  mag  sich  dieselbe  nun  im  Intellect  oder  in  der 
Quiescirung  des  Willens  in  Gott  vollziehen.  Für  diese  individualistische,  gegen  die 
sittliche  Bestimmung  des  Menschen  indifferente  Fassung  der  Seligkeit  kommt  die 
Kirche  gar  nicht  oder  lediglich  als  Mittel  und  als  Hülfsanstalt  in  Betracht.  Nur 
sofern  sich  der  Mensch  als  irdisches,  an  die  Zeit  gebundenes  Wesen  fasst  und  sich 
erziehen  soll,  sind  alle  seine  Ideale  und  die  ihm  hülfreichen  Kräfte  in  der  Kirche 
beschlossen  (die  Seligkeit  in  der  Zeit  ist  die  Seligkeit  in  der  Kirche),  und  er  hat 
die  Kirche,  wie  sie  ist,  als  die  Mutter  des  Glaubens,  als  die  Heilsaustalt,  ja  als  das 
regiium  Christi  zu  verehren.  Aber  dieses  regnum  hat  im  Jenseits  eine  von  der 
jetzigen  Gestalt  total  verschiedene  Form.  In  dieser  ganzen  Anschauung  ist  die 
Scholastik  nirgends  über  Augustin  hinausgekommen.  Das  Ziel  der  Realisirung  der 
irdischen  und  das  Ziel  der  Realisirung  der  himmlischen  Kirche  sind  gar  nicht  ver- 
mittelt. Der  römische  Katholicismus  war  damals  und  ist  auch  heute  letztlich  keine 
eindeutige  Erscheinung,  wie  die  griechische  Kirche  es  ist,  und  wie  der  Protestantis- 
mus es  sein  könnte.  Er  weist  seine  Glieder  bald  auf  eine  in  Erkeuntniss,  Liebe  und 
Askese  verlaufende  Contemplation,  die  ebenso  neutral  gegen  die  Kirche  ist,  wie 
gegen  jede  Verbindung  der  Älenschcn  untereinander  und  gegen  alles  Irdische,  bald 
weist  er  sie  an,  in  der  irdischen  Kirche  ihre  höchsten  Güter  und  ihren  eigenen  Zweck 
anzuerkennen.  Diese  Anweisungen  lassen  sich  nur  abwechselnd  befolgen,  aber 
nicht  in  (xemeinsamkeit.  In  Folge  hiervon  hält  der  römische  Katholicismus  auch 
zwei  Kirchenbegriffe  aufrecht,  die  gegen  einander  neutral  sind,  die  unsichtbare 
Gemeinschaft  der  Erwählt(^n  und  die  Papstkirche. 

•'  S.  das  Symbol  v.  1215. 


442     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  1 6.  Jahrh. 

Alles  gewonnen ;  denn  an  diesem  Haken  liess  sich  das  ganze  sacramen- 
tale  System  zur  Hohe  der  absoluten  (ilaubenslehre  hinaufziehen.  Dies 
ist  denn  auch  geschehen,  obgleich  im  Einzelnen  die  Abgrenzung  dessen, 
was  zum  1  )ogma  gehört  und  was  lediglich  Bestandtheil  der  Theologie 
ist,  vor  dem  Tridentinum  nie  erfolgt  und  auch  nach  dem  Trideutinum 
von  der  Kirche  wohlweislich  vermieden  worden  ist.  So  erklärt  es  sich, 
dass  mn  1500  Niemand,  ausser  den  entschlossensten  Papisten,  anzu- 
geben vermochte,  wie  weit  sich  der  Bereich  des  nothwendigen  Glaubens 
in  der  Kirche  eigentlich  erstreckt. 

Die  Aufgabe  der  Scholastik,  soweit  sie  Dogmatik  war,  war  eine 
dreifache.  Sie  hatte,  in  Nachfolge  des  Augustin,  die  alten  articuli  fidei 
so  zu  schleifen,  dass  sie  sich  in  die  um  das  Sacrament  und  das  Ver- 
dienst gezogene  elliptische  Linie  einfügten ;  sie  hatte  die  Sacraments- 
lehre  zu  bearbeiten,  die  in  einer  höchst  unvollkommenen  Gestalt  von 
Augustin  zu  ihr  gekommen  war  ^ ,  und  sie  hatte  der  kirchlichen  Praxis 
der  Gegenwart  die  Principien  abzulauschen  und  diese  mit  den  zur 
Theologie  erhobenen  articuli  fidei  und  der  Sacramentslehre  einerseits, 
mit  dem  Augustinismus  andererseits  in  Einklang  zu  setzen.  Dieser 
grossen  Aufgabe,  die  dadurch  noch  complicirter  wurde,  dass  die 
Scholastiker  durchweg  die  Dogmatik  mit  der  Religionsphilosophie  ver- 
banden und  somit  alle  Fragen  der  Metaphysik  nach  dem  jeweihgen 
Stande  der  allgemeinen  Kenntnisse  in  sie  hineinzogen,  ist  die  mittel- 
alterliche Theologie  wirklich  gere  cht  geworden.  Sie  hatden 
Ansprüchen  entsprochen,  die  man  an  sie  gestellt  hat;  ja  es  hat  wahr- 
scheinUch  nie  eine  Periode  in  der  Geschichte  gegeben,  in  welcher  die 
Theologie  nach  heisser  Arbeit  so  sicher  auf  der  Höhe  der  Situation, 
d.  h.  ihrer  Zeit,  gestanden  hat,  wie  damals.  Dabei  verstand  sie  es,  sich 
den  Eindruck  einer  gewissen  Geschlossenheit  und  Einheithchkeit  bis 
in  das  15.  Jahrhundert  hinein  zu  erhalten,  und  bot,  wie  der  Gegensatz 
der  franciskanischen  und  dominikanischen  Dogmatiker  zeigt,  doch 
Raum  für  verschiedene  Entfaltungen.  Allein  andererseits  lässt  sich 
nicht  verkennen,  dass  das  ausgesprochene  Urtheil  keineswegs  gilt, 
wenn  wir  auf  das  Verhältniss  von  Frömmigkeit  und  Theologie  bhcken. 
Zwar  noch  bei  Thomas  decken  sich  die  Ansprüche  dieser  und  jener, 
wenn  auch  nicht  mehr  in  so  vollkommener  AVeise  wie  in  der  griechischen 
Kirche  zur  Zeit  der  Kappadocier  und  Cyrills.  Aber  vom  Ausgang  des 
13.  Jahrhunderts  ab  gerathen  die  Frömmigkeit  und  die  Theologie 
augenscheinhch  in  immer  grössere  Spannung.  Jene  erkennt  sich  in 
dieser  immer  weniger  wieder.   Zwar  sind  sie  im  letzten  Grunde  (finis 

^  Hierin  liegt  die  höchste  Bedeutung  der  Scholastik  innerhalb  der  Dogmen- 
geschichte. 


I 


Die  Bearbeitung  der  überlieferten  articuli  fidei.  443 

religionis^  Autorität  der  Kirche)  einig ;  auch  die  hingehendste  Frömmig- 
keit vermag  nicht  recht,  sich  aus  diesen  Banden  zu  hefreien.  Aber  von 
dem  gemeinsamen  Fundament  aus  schlug  die  Theologie  eine  Richtung 
auf  das  Heilige  als  ein  Autoritatives,  Aeusserliches,  durch  die  Kirche 
bequem  Gemachtes  ein,  welche  die  Frömmigkeit  in  steigendem  Masse 
misstrauisch  machte  und  verletzte.  In  der  Sacraments-  und  Gnaden- 
lehre, wie  sie  die  Scholastik  — •  Keime  entwickelnd,  die  selbst  bei 
Thomas  nicht  fehlen  —  ausbildete,  kam  die  Spannung  zwischen  Theo- 
logie und  Frömmigkeit  zum  deutlichsten  Ausdruck.  Die  augustinischen 
E-eactionen  seit  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts,  bald  geräuschvoll  ver- 
laufend, bald  in  der  Stille  nachhaltig  wirkend,  sind  die  Folge  dieser 
Spannung.  Die  officielle  Theologie  des  15.  Jahrhunderts  ist 
nur  in  bedingter  Weise  als  der  Ausdruck  der  wahrhaften 
katholischen  Frömmigkeit  des  Zeitalters  anzuerkennen. 
So  ist  es  auch  im  tridentinischen  Katholicismus  und  bis  heute  geblieben. 
Die  Lehre,  wie  sie  ist,  ist  nicht  die  Sphäre,  in  der  der  lebendige  katho- 
lische Glaube  lebt.  Aber  weil  ihre  Grundlagen  auch  die  Grundlagen 
dieses  Glaubens  sind,  darum  lässt  er  sich  diese  Lehre  schHesslich  gefallen. 

Da  wir  es  nicht  mit  der  ReHgionsphilosophie  zu  thun  haben,  so 
haben  wir  uns  hier  darauf  zu  beschränken,  im  Folgenden  die  scho- 
lastische Bearbeitung  der  alten  articuli  fidei,  die  scholastische  Sacra- 
mentslehre  und  die  scholastische  Auseinandersetzung  zwischen  dem 
Augustinismus  und  den  neuen  Kirchenprincipien  darzustellen,  die 
schliesslich  zu  einer  vollkommenen  Zersetzung  der  paulinisch-augusti- 
nischen  Lehre  geführt  hat.  An  dem  ersten  Punkte  können  wir  uns  ganz 
kurz  fassen,  da  es  sich  bei  der  Bearbeitung  der  alten  articuli  fidei  um 
theologische  Lehren  handelt,  die  in  ihrer  wissenschaftlichen  Explicirung 
niemals  eine  universell-dogmatische  Bedeutung  erlangt  haben,  und  da 
diese  Bearbeitung  vielfach  in  die  Religionsphilosophie  hinüber  führt. 

A.  Die  Bearbeitung  der  überlieferten  articuli  fidei. 

1.  Der  Artikel  „de  deo"  war  der  Grund-  und  HauptartikeP.  In 
der  streng  realistischen  Scholastik  galt  der  areopagitisch-augustinischc 
Gottesbegriff:  Gott  als  die  absolute  Substanz.  Wo  dieser  Begriff  fest- 
gehalten wurde,  wurde  auch  die  absolute  Denknoth wendigkeit  desselben 
behauptet  (Anselm's  ontologischer  Beweis  '•^)  und  den  Gottesbeweisen 


*  S.  die  treffliche  Auswahl  von  (^ucllcnstcllcn  bei  Münschcr-Coclln  11,  1 
§  118.  119.   Schwane,  a.  a.  O.  S.  122  IT. 

'^  Die  Ausführungen  Anselm's  über  den  Gottesbegriff,  die  einen  ersten  Fort- 
schritt über  den  areopagitischcn  enthalten,  sind  vom  Lombarden  gar  nicht  berück- 
sichtigt worden,  der  sich  einfach  an  die  patristischc  Ueberlieferung  gehalten  hat. 
Erst  Thomas  nimmt  Ansclm'«  Spcculationcu  auf. 


444     (beschichte  des  Doo^iias  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

ein  hoher  Wertli  beigeiiiesscii.  Durch  die  Bekanntschaft  mit  Aristoteles 
wurde  aber  der  areoj)a^itische  Gottesljegriti'  eingeschränkt,  der  sich 
bei  Scotus  Erigena,  Aniah'ich  von  JJena  und  David  von  Dinanto  sowie 
bei  den  Anhängern  des  averrlioistischen  Aristotelismus  zum  Pantheis- 
mus entwickelt  hatte.  Die  kosnu)logisclien  Beweise,  die  man  mehr  und 
mehr  bevorzugte ',  lührten  auch  eine  strengere  Unterscheidung  zwischen 
(lott  und  der  (/reatur  herauf,  und  Thomas  selbst,  obgleich  bei  ihm 
der  areopagitisch-augustinische  Gottesbegriff  noch  zu  Grunde  liegt, 
hat  den  Pantheismus  energisch  bestritten  ^.  Thomas  hat  auch ,  in 
Nachfolge  des  Anselm,  den  Begriff  Gottes  als  der  absoluten  Substanz 
mit  dem  des  selbstbewussten  Denkens  verknüpft,  ferner  von  Aristoteles 
die  Detinition  Gottes  als  actus  purus  übernommen  und  damit  den  Be- 
griff lebendiger  und  personaler  gestaltet.  Allein  er  hatte  daneben  das 
entschiedenste  Interesse,  die  absolute  Sufficienz  und  die  Nothwendig- 
keit  in  Gott  zu  betonen;  denn  nur  das  Nothwendige  kann  sicher  erkannt 
werden;  von  der  sicheren  Erkenntniss  aber  hängt  die  Seligkeit  ab, 
d.  h.  die  visio  dei.  Thomas  fasste  nun  demgemäss  Gott  nicht  nur  als 
das  nothwendige  Sein,  sondern  auch  als  Selbstzweck,  so  dass  die  Welt, 
welche  er  aus  Güte  schafft,  seinem  eigenen  Zweck  völlig  untergeordnet 
ist,  der  sich  freilich  auch  ohne  die  Welt  realisiren  könnte^.  Allein 
schon  Duns  bestritt  (gegen  Richard  von  St.  Victor,  s.  auch  Anselm, 
Monolog.)  den  Begriff  eines  nothwendigen  Seins  aus  sich 
selbst  und  warf  damit  im  Grunde  alle  Gottesbeweise  über  den 
Haufen  ^ :  das  Unendliche  ist  nicht  durch  Demonstration  erkennbar ;  also 
kann  es  nur  auf  Autorität  geglaubt  werden.  Ebenso  energisch  ging 
Occam  dem  „primum  movens  immobile"  zu  Leibe  und  zog  sich  gleich- 
falls auf  die  Autorität  zurück.  Mit  der  Unmöglichkeit,  das  Unendliche 
zu  demonstriren  und  durch  Speculation  dem  Begriff  des  „necessarium 
ex  se  ipso"  zum  Leben  zu  verhelfen,  fiel  aber  für  den  Nominalismus 
auch  der  Begriff'  der  Nothwendigkeit  der  inneren  Bestimmtheit  des  un- 
endlichen AVesens,  welches  die  Autorität  lehrte,  dahin.    Gott  ist  nicht 


^  S.  Thomas  P.  I  Q,.  2  Art.  o,  wo  das  kosmologischo  Argument  iu  dreifacher 
Gestalt  auftritt. 

'*  Kitschi,  Gesch.  Studien  z.  christl.  L.  v.  Gott,  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol. 
1865  S.  277 f['.,  Joh.  Delitzsch,  Die  Gotteslehre  des  Thomas  1870.  Ritschi  hat 
gezeigt  (s.  auch  Rechtfert.-  u.  Versölmungslehre  Bd.  I  2.  Autl.  S.  58  ö'.j,  dass  be- 
reits auf  Thomas  der  aristotelische  Gottesbegriff  stark  eingewirkt  hat. 

8  Summa  P.  I  Q.  19  Art.  1.  2. 

■*  In  Seutent.  Lomb.  I  Dist.  2.  Q.  2  Art.  1.  lieber  die  Erkenntniss-  undAVlssseii- 
schaftslehre  des  Duns  s.  AVerner,  Duns  Scotus  S.  180  ll". ;  ebendort  S.  331  ff.  über 
seine  Gotteslehre,  die  nur  eine  aposteriorische  Ermittelung  der  Bestimmtheiten  des 
göttlichen  AVesens  zulässt. 


Die  Gotteslehre.  445 

siimmiim  esse  und  summa  intelligentia  im  Sinne  der  der  Creatur  zu- 
stehenden Intelligenz,  sondern  er  ist,  gemessen  an  dem  creatürlichen 
Verstände,  der  schrankenlos  allmächtige  Wille,  dieUrsache  der  Welt,  die 
aber  auch  ganz  anders  wirksam  sein  könnte,  als  sie  es  ist.  Gott  ist  also 
absolut  freier  Wille,  der  lediglich  will,  weil  er  es  will,  d.  h.  ein  erkenn- 
barer Grund  des  Willens  ist  nicht  vorhanden.  Von  hier  aus  wird  die 
Gotteslehre  ebenso  unsicher,  wie  vor  Allem  die  Gnadenlehre.  Occam 
ist  dazu  fortgeschritten,  den  Monotheismus  nur  für  probabilior  als  den 
Polytheismus  zu  erklären;  denn  streng  beweisen  lasse  sich  entweder 
nur  der  Begriff  eines  einzigen  höchsten  Wesens,  nicht  aber  die  Existenz, 
oder  die  Existenz  relativ  höchster  Wesen,  nicht  aber  die  Einheit.  Dem- 
gemäss  wurden  auch  die  Eigenschaften  Gottes  in  der  thomistischen  und 
scotistischen  Schule  ganz  verschieden  bearbeitet.  Dort  werden  sie 
streng  aus  einem  nothwendigen  Princip  abgeleitet,  um  schliesslich  als 
identisch  in  der  einen  Substanz  wieder  aufgehoben  zu  werden,  hier  wer- 
den sie  relativ  bestimmt;  dort  wird  —  entsprechend  der  These  des 
summum  esse  —  ein  virtuelles  Sein  Gottes  in  der  Welt  angenommen 
und  im  letzten  Grunde  zwischen  dem  Sein  Gottes  für  sich  und  für  die 
Welt  nicht  unterschieden,  hier  ward  —  da  die  Welt  ein  gänzlich  von 
Gott  losgelöstes,  freies  Product  seines  Willens  ist  —  nur  eine  ideelle 
Gegenwart  Gottes  gelehrt.  Wie  man  leicht  erkennt,  ist  der  Gegensatz 
letztlich  durch  eine  andere  Auffassung  von  der  Stellung  des  Menschen 
und  von  der  Religion  bestimmt.  Dort  ist  sie  Abhängigkeit  von 
Gott  selbst,  der  alle  Dinge  umfasst  und  trägt,  hier  ist  sie  Selb- 
ständigkeit gegenüber  Gott.  Es  ist  gewiss  ein  bedeutender  Fortschritt 
über  Thomas  hinaus,  dass  Gott  von  Duns  streng  als  Wille  und  Person 
gefasst  und  von  der  Welt  unterschieden  wird ;  aber  dieser  Fortschritt 
schlägt  in  dem  Moment  zu  einem  Nachtheil  aus,  wo  man  sich  auf  diesen 
Gott  nicht  mehr  verlassen  kann,  weil  es  nicht  gestattet  ist,  ihn  sich 
nach  den  höchsten  Kategorien  sittlicher  Nothwendigkeit  handelnd  zu 
denken  ',  und  wo  desshalb  die  Regel  gilt,  dass  das  Gutsein  der  Creatur 
in  der  Unterwerfung  unter  den  seinen  Motiven  nach  unerforschlichen, 
seinem  FnliMlt  nach  in  der  Off(mbarung  deutlichen  Willen  Gottes  be- 
steht (so  Duns)'^.  Die  Auff[issung,  welche  Gott,  weil  als  Wille,  auch  als 

'  Werner,  a.  a.  O.  S.  408:  „Es  ist  ein  echt  scotistischer  Gedanke,  dass  der 
jt)iSfj|iite  f/öttlielie  Wille  nieht  iiiifcr  das  Mass  unserer  etliiselicn  Denkoewohn- 
heiten  (l)  j(eHtelit  werden  könnc!." 

'  Dem  ^egenül)er  hatte  Thomas  g^ololirt  (T*.  T  (^.  l'J  Art.  12),  dass  zwar  „ex 
seriHihiliuni  cofrnitione  non  potest  tota  dei  virtus  c.otruoHrÄ  et  ])er  eonsequens  nee 
eiiiH  esseritia  vith'ri",  dass  aher  sowold  die  F^xistcn/  (iottes  als  „ea  (|uae  necesse 
e«t  ei  eon  venire"  erkannt  werd(;n  könne.  Duns  und  seinfiSehühir  k'U}j;neten  dies; 
aber  andererseits  behaupteten  sie,  dass  Gott  erkc^nnbarer  sei,  als  die  Tliomisten  dies 


44G     Geschichte  des  Dot^mas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Willkür  fasst,  geräth  schliesslich  in  dieselbe  Nothlage,  wie  die,  welche 
ihn  als  die  Alles  deterniuiirende  Substanz  fasst;  denn  in  beiden  Fällen 
ist  Dunkelheit  über  sein  Wesen  verbreitet.  Aber  den  schmalen  Weg, 
der  zu  einer  sicheren  und  trostreichen  Erkenntniss  Gottes  führt, 
den  Weg  des  (Glaubens  an  Gott  als  den  Vater  .lesu  (yhristi,  haben  die 
Scholastiker  nicht  gehen  wollen.  Desshalb  ist  ihre  gesammte  Gottes- 
lehre, mag  sie  nun  thomistisch  oder  scotistisch  lauten,  in  der  Dogmatik 
nicht  zu  brauchen.  Denn  diese  muss  an  diesem  Punkte  auf  ihr  Erkennt- 
nissgebiet, niünlich  den  geschichtlichen  Ghristus,  halten  und  darf  den 
Vorwurf  eines  „Köhlerglaubens"  nicht  scheuen,  wenn  es  ein  Köhler- 
glaube ist,  dass  Gott  nur  an  persönlichem  Leben  —  und  in  Ueberzeugung 
erweckender  Weise  nur  an  dem  persönlichen  Leben  Christi — empfun- 
den und  erkannt  werden  kann.  Damit  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass 
die  thomistische  Mystik  die  Phantasie  lebhaft  zu  erwärmen  und  den 
Verstand  über  die  Bodenlosigkeit  der  Speculation  sanft  zu  täuschen 
vermag.  Wie  weit  sich  das  mittelalterliche  Denken  im  Nominalismus 
in  Bezug  auf  den  Gottesbegriff  von  jenem  Denken  entfernt  hat,  das  einst 
in  der  Kirche  den  articulus  de  deo  theologisch  fixirte,  das  wird  man  am 
besten  erkennen,  wenn  man  die  Gotteslehre  des  Origenes,  Gregor  von 
Nyssa  oder  Johannes  Damascenus  mit  der  des  Duns  oder  Occam  ^ 
vergleicht.  Von  dem  Gottesbegriff  ist  aber  die  gesammte  Dogmatik 
abhängig;  denn  er  bestimmt  die  Vorstellung  von  der  Seligkeit  ebenso 
wie  die  Vorstellung  von  der  Versöhnung^.  —  Schliesslich  ist  daraufhin- 
zuweisen, dass  die  mittelalterliche  Theologie  den  Begriff  Gottes  als  des 
Richters  stark  betont,  ihn  aber  nicht  in  die  Speculationen  über  das 
Wesen  Gottes  hineingezogen  hat. 

2.  Stürmische  Kämpfe  über  das  richtige  Verständniss  und  die 
richtige  Fassung  der  Trinitätslehre  ^  waren  schon  abgelaufen,  als  die 
Bettelorden  in  die  Wissenschaft  eintraten.  Die  kühnen  Versuche,  das 
Geheimniss,  sei  es  durch  Annäherung  an  den  Tritheismus  (Roscellin)  ^, 

zugeben  wollten.  Diese  stellten  eine  adäquate  (wesenhafte)  Erkenntniss  Gottes  (cog- 
nitio  quidditativa)  in  Abrede ;  die  Scotisten  behaupteten  sie,  weil  es  sich  überhaupt 
nicht  um  die  Erkenntniss  einer  unendlichen  Intelligenz,  sondern  um  die  Erkennt- 
niss des  Gottes  handelt,  der  Wille  ist  und  seinen  AVillen  manifestirt  hat. 

^  lieber  diese  und  die  scharfsinnige  Kritik  an  der  aristotelischen  Gotteslehre 
s.  Werner,  Nachscotistische  Scholastik  S.  216  ft*. 

*  Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  von  Ritschi,  in  seinem  grossen  dogmeu- 
historischen  Werke  überall  den  Gottesbegriff  in  seiner  grundlegenden  Bedeutung 
nachgewiesen  zu  haben. 

^  S.  Münscher  §  120,  Schwane,  a.  a.  O.  S.  152  ff,  Bach,  Dogmengesch. 
Bd.  IT.,  Baur,  L.  v.  d.  Dreieinigkeit,  Bd.  IT. 

*  Anwendung  der  nominalistischen  Denkweise;  gegen  ihn  Ansehn;  s,  Keuter 
I  S.  134  f.    Deutsch,  Abälard  S.  256  f. 


Die  Trinitätslehre.  447 

sei  es  durch  den  Uebergang  zum  Modalismus  (Abälard)  verständ- 
licher zu  machen,  waren  im  Zeitalter  Anselm's  und  Bernhard's 
(gegen  Gilbert)  abgewiesen  ^  Wo  Augustin's  Schrift  de  trinitate 
studirt  und  befolgt  wurde,  stellte  sich  überall  ein  feiner  Modalis- 
mus ein-^,  und  leicht  war  es  für  Jeden,  der  verketzern  wollte,  dem 
augustinisch  beeinflussten  Gegner  Sabellianismus  vorzuwerfen.  Selbst 
dem  Lombarden  wurde  vorgehalten,  dass  er  die  divina  essentia  zu  sehr 
verselbständige  und  so  eine  Quaternität  resp.  sabelHanisch  lehre  ^.  Im 
13.  Jahrhundert  hatte  man  aus  diesen  Erfahrungen  gelernt,  das  trini- 
tarische  Dogma  durch  ein  noch  grösseres  Aufgebot  von  terminolo- 
gischen Distinctionen  zu  schützen,  als  ein  solches  von  Augustin  herbei- 
gezogen war.  Die  Ausführung  der  Trinitätslehre  blieb  die  hohe  Schule 
der  Logik  und  Dialektik.  Im  Thomismus  bheb  ihr  eine  Beziehung  zur 
Weltidee,  sofern  die  Hypostase  des  Sohnes  nicht  scharf  gegen  die  Welt- 
idee in  Gott  abgegrenzt  wurde.  Auch  musste  der  Thomismus  noth- 
wendig  die  Neigung  zum  Modalismus  behalten,  da  der  Gottesbegriff 
die  Annahme  von  Unterschieden  in  Gott  im  Grunde  nicht  gestattete, 
sondern  die  Unterschiede  zu  Relationen  herabsetzte,  die  selbst  wiederum 
zu  neutralisiren  waren.  Dagegen  hielt  die  scotistische  Schule  die  Per- 
sonen scharf  auseinander.  Aber  diese  Schule  hätte,  namentlich  in 
späterer  Zeit,  die  Quaternität  oder  jede  beliebige  andere  Gotteslehre 
ebenso  gut  vertheidigen,  resp.  sich  ihr  unterwerfen  können.  Allein 
schon  vorher  war  die  ganze  Lehre  zum  blossen  Schulproblem  gewor- 


^  Auch  Tritheismus  wollte  man  bei  Abälard  bemerken;  über  seine  Trinitäts- 
lehre s.  Deutsch  8.  259  fr.  Abälard  wollte  die  Roscellin'sohe  Fassung  ebenso  ab- 
lehnen, wie  den  strengen  Sabellianismus,  aber  er  kommt  doch  nicht  über  einen  feinen 
Modalismus  hinaus  (s.  Deutsch  S.  280  ff.).  Bemerkeuswerth  ist,  dass  er,  ähnlich 
wie  Luther  zu  Worms,  im  Prolog  zu  seiner  Introductio  in  theolog.  erklärt  hat,  dass 
er  bereit  zu  Correcturen  sei,  „cum  quis  me  fidelium  vel  virtute  rationis  vel  auctori- 
tate  scrijjturae  correxerif*  (s.  M  ü  n  s  c  h  e  r  S.  52). 

2  So  bei  Anselm  und  den  Victorinern,  besonders  Richard,  welche  die  augusti- 
nischen  Analogien  der  Trinität  (die  Kräfte  des  menschlichen  Geistes)  wiederholen 
und  ausführen. 

"  .Joachim  von  Fiore  hat  den  Vorwurf  erhoben,  das  4.  Jjateranconcil  c.  2  den 
Lombarden  in  Schutz  genommen  und  decretirt:  „Nos  (seil,  der  Papst)  sacro  et  uni- 
versali  concilio  approbantecredimus  etconfitemur  cumPetro  (scil.Lombardo),  (juod 
una  quacdam  summa  res  est,  inc()m[)r('hensibilis  r(uidem  et  in('flu])ilis,  quae  veraciter 
est  pater  et  filius  et  Spiritus,  tres  simul  jjcrsonae,  ac  siiigulatim  (juaelibet  earundem. 
Et  ideo  in  deo  trinitas  est  solummodo,  non  (juaternitas,  (piia  (|uaelibet  trium  per- 
Honarum  est  illa  res,  videlicet  suljstantia,  essentia  sive  natura  divina,  quae  sola  est 
universorum  prineipium,  praeter  (|U()d  aliud  invcmiri  non  potest.  Et  illa  res  non  est 
generans  netjuc  genita  nee  [)rocedens,  sed  est  pater  <\m  generat,  filius  rjui  gignitui-, 
et  Spiritus  sanctus  ()ui  proeedit,  ut  distinctiones  sint  in  personis  et  unitas  in  natura." 


448     Oesnhiohte  des  Doormas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

eleu  uhiie  jede  Beziehunj^  zum  lebendigen  Glauben.  Die  Verehrung,  die 
man  ihr  zollte  als  dem  Grunddogma  der  Kirche,  steht  in  schreiendem 
(jlegensatz  zu  dem  Unvermögen,  sie  in  der  theologischen  Behandlung 
über  das  Niveau  eines  logischen  Mysteriums  zu  erheben.  Wie  schon 
Augustin,  so  legen  die  abendländischen  Theologen  des  Mittelalters 
Zeugniss  davon  ab,  dass  sie  dieses  Dogma  nicht  aufgestellt  hätten, 
wenn  es  nicht  überliefert  gewesen  wäre,  und  das  Decret  des  Lateran- 
concils  (s.  S.  447  Anm.  3),  welches  eine  „res  non  generans  neque  genita 
nee  procedens"  hinter  die  Personen  setzt,  verwandelt  diese  factisch  in 
blosse  Modalitäten  y.rtx  sTi'.voiav,  resp.  in  innere  Vorgänge  in  Gott.  Oder 
ist  es  noch  eine  Trinitätslehre,  wenn  das  immanente  Denken  und  das 
immanente  AV ollen  in  Gott  als  generare  und  spirare  definirt  und  objec- 
tivirt  werden  ?  Im  Nominalismus  wurde  aber  die  Behandlung  dieses 
Dogmas  nicht  besser.  Die  thomistische  Schule  befolgte  doch  noch 
einen  concreten  Gedanken,  wenn  sie  die  Trinität  aus  den  Analogien 
verständlicher  machen  wollten ;  denn  nach  ihnen  zeigt  die  endliche 
Welt  und  besonders  die  vernünftige  Creatur  Spuren  des  götthchen 
Wesens  und  der  göttlichen  Eigenschaften.  Aber  diese  Vorstellung 
hatte  der  Scotismus,  die  Dreipersönlichkeit  als  geoffenbarte  Thatsache 
betonend,  aufgegeben.  Seine  „subtilen  Untersuchungen",  bekennt  sogar 
Schwane  ',  „verloren  sich  zu  sehr  in  das  Gebiet  eines  Formalismus 
und  wurden  zu  einem  Spielen  mit  Begriffen". 

3.  Die  Lehre  von  der  Ewigkeit  der  Welt  -  wurde  nilgemein  be- 
stritten und  die  Schöpfung  aus  Nichts  als  Glaubenslehrsatz  festgehalten. 
Allein  erst  die  nachthomistischen  Scholastiker  haben  die  Zeithchkeit 
der  Welt  und  die  Schöpfung  aus  Nichts  in  strengen  Formeln  zum  Aus- 
druck gebracht.  Obgleich  Thomas  den  Pantheismus  der  neuplatonisch- 
erigenistischen  Denkweise  ablehnt,  so  findet  sich  bei  ihm  doch  noch  ein 
Rest  der  Vorstellung,  dass  die  Schöpfung  die  Actualisirung  der  gött- 
lichen Ideen  sei,  d.  h.  der  Uebergang  derselben  in  die  creatürliche  Sub- 
sistenzform.  Ferner  nimmt  er  auf  Grund  des  areopagitischen  Gottes- 
begriffs an,  dass  Alles,  was  ist,  „participatione  eins,  qui  solum  per  se 
ipsum  est"  sein  Dasein  hat.  Beide  Gedanken  verdunkeln  aber  den  Be- 
griff der  Schöpfung^.    Daher  ist  charakteristisch,  dass  Thomas,  der 

^  A.  a.  (3.  >S.  179. 

2  S.  Münscher  §  121.  122,  Schwane  S.  179—226. 

^  Füi"  eine  pantlieistisolie  Vorstellung  von  der  Schöpi'ung  ])oi  Tliomas  darf  man 
sieh  aber  schwerlich  auf  das  häufio- von  ihm  pjebrauchte  Wort  „enianatio"  (processio) 
creaturarum  a  deo  lierufen;  denn  er  verwendet  es  doch  nicht  in  pantheistischem  Sinn. 
Wenn  er  P.  I  Q.  45  Art.  1  sagt:  „emanationem  totius  entis  a  causa  universali,  (]uae 
est  deus,  designamus  nomine  creationis",  so  zeigt  er  eben  desshalb  im  Fi>loenden, 
dass  „creatio,  quae  est  emanatio  totius  esse,  est  ex  non  ente,  ipiod  est  niliil." 


Die  Lehre  von  der  Schöpfung  und  der  Welt.  449 

sonst  in  der  Regel  strenge  Nothwendigkeit  findet,  darauf  verzichtet;  den 
Anfang  der  Welt  als  denknothwendige  Lehre  zu  erweisen ;  Summa  P.  I. 
Q.  46  Art.  2:  „Dicendum,  quod  mundum  non  semper  fuisse,  sola  fide 
tenetur  et  demonstrative  probarinon  potest:  sicut  et  supra  de  mysterio 
trinitatis  dictum  est  .  .  .  mundum  incepisse  est  credibile,  non  autem 
demonstratibile  vel  scibile.  Et  hoc  utile  est  ut  consideretur,  ne  forte 
aliquis  quod  fidei  est  demonstrare  praesumens,  rationes  non  necessarias 
inducat ,  quae  praebeant  materiam  irridendi  infidelibus ,  existimantibus 
nos  propter  huiusmodi  rationes  credere  quae  fidei  sunt."  Hätte  Thomas 
diese  herrlichen  Worte,  die  sich  übrigens  gegen  Bonaventura  und 
Albertus  Magnus  richten,  die  den  zeitlichen  Anfang  der  Welt  als  eine 
Vernunftlehre  zu  beweisen  unternahmen,  doch  stets  beherzigt !  Duns 
Scotus  und  seine  Schule  folgten  hier  natürlich  Thomas,  indem  sie  für 
die  Zeitlichkeit  der  Welt  ledigHch  die  Autorität  des  Glaubens  gelten 
Hessen  ^  Allein  die  Ansicht  des  Albertus  erhielt  sich  doch  daneben  in 
der  Kirche.  Den  Zweck  der  Weltschöpfung  sahen  alle  Scholastiker  in 
der  Beweisung  der  Liebe  (bonitas)  Gottes,  welche  sich  anderen  Wesen 
mittheilen  will.  Auch  Thomas  hat,  den  areopagitischen  Gottesbegriff  cor- 
rigirend,  die  Schöpfung  der  Welt  nicht  mehr  für  ein  nothwendiges,  son- 
dern nur  für  ein  contingentes  Mittel  erklärt,  damit  Gott  seinen  Selbst- 
zweck erfülle.  Allein  er  hat  doch  den  Selbstzweck  Gottes,  der  sich  in 
der  Schöpfung  frei  realisire,  als  obersten  Gedanken  hingestellt:  „divina 
bonitas  est  finis  rerum  omnium"  -,  d.  h.  dass  Gott  seine  eigene  Seligkeit 
will,  umschliesst  überhaupt  alle  Actionen  des  Seienden,  dass  er  sie  ver- 
mittelst der  Weltschöpfung  will,  ist  sein  freier  Wille ;  aber  da  er  sie 
einmal  so  gewollt  hat,  so  ist  der  Zweck  der  Creatur  ganz  eingeschlossen 
in  den  göttlichen  Zweck;  jene  hat  keinen  eigenen  Zweck,  sondern 
realisirt  den  götthchen,  der  ja  selbst  nichts  Anderes  als  Verwirklichung 
der  bonitas  ist.  Damit  ist  doch  der  pantheistische  Akosmismus  nicht 
ganz  verbannt,  während  umgekehrt  in  der  These  des  Thomas,  dass  Gott 
die  Idee  der  Welt  mit  Nothwendigkeit  von  Ewigkeit  her  gefassthabe, 
weil  diese  mit  seinem  Erkennen  und  darum  auch  mit  seinem  Wesen  zu- 
sammenfalle, der  pankosmistische  Gottesbegriff  nicht  sicher  aus- 
geschlossen ist.  In  der  scotistischen  Schule  ist  der  Selbstzweck  Gottes 
und  der  Zweck  der  Oreaturen  scharf  geschieden  worden^.   In  Bezug 


*  Scotus  hält  die  Möglichkeit  eines  göttlichen  Scliaffcns  von  Ewigkeit  her 
nicht  für  undenkbar,  aber  wendet  sich  doch  gegen  die  Argumente,  durch  welche 
Thomas  die  Unerweislichkeit  eines  zeitlichen  Anfangs  der  Schöpfung  zu  erhärten 
sucht,  8.  Werner,  Duns  Scotus  S.  380  ff. 

'  r.  I  Q.  44  Art.  4;  s.  auch  Q.  14.  19.  4«.  104. 

^  Hier  wäre  die  Stelle,  von  der  Engellehre  der  Scholastiker  zu  handeln;  aber 
Harnack,  Dogmengeschichto  HI.  29 


450     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrli. 

auf  die  göttliche  Vorsehung  sind  von  Ansehn  und  Ahähird  ah  alle  die 
Fragen  wieder  hehandelt  worden,  die  einst  Origenes  hehandelt  hat; 
aher  sie  erhielten  seit  Thomas  eine  ausserordentliche  Erweiterung,  so 
dass  ganz  neue  Terminologien  hier  geschafl'en  wurden'.  Die  Frage,  ob 
diese  Welt  die  beste  sei,  hat  Thomas  verneint,  nachdem  sie  Ansehn 
bejaht  hatte;  doch  meint  auch  Thomas,  dieses  Universum  köime  niclit 
besser  sein,  indessen  hätte  Gott  andere  Dinge  schaffen  können,  die  noch 
besser  seien '"^.  In  Folge  seiner  Grundbetrachtung  nimmt  Thomas  an, 
dass  Gott  alle  Dinge  immediato  lenkt ;  allein,  je  grössere  Selbständig- 
keit der  Welt  verheben  wurde,  um  so  stärker  wurde  dieser  These  wider- 
sprochen. Auch  in  der  Theodice,  die  im  13.  Jahrhundert  gegenüber 
den  dualistischen  Secten  wieder  kräftig  bearbeitet  wurde ,  hat  sich 
Thomas  enger  an  Augustin  angeschlossen.  Er  hat  den  Gedanken  nicht 
gescheut,  dass  Gott  „quasi  per  accidens"  die  corruptiones  rerum  be- 
W'irkt;  denn  die  „perfectio  rerum  universitatis  requirit,  ut  non  solum 
sint  entia  incorruptibilia,  sed  etiam  corruptibilia",  daraus  folge  aber, 
dass  die  perfectio  Universi  Wesen  verlangt,  welche  vom  Guten  abfallen 


da  diese  Materie  —  der  Tummel-  und  Kampfplatz  der  Theologen,  die  hier  mehr 
Freiheit  hatten  als  anderswo  —  mit  der  Dogmatik  sehr  lose  zusammenhängt  und 
zugleich  einer  ernsthaften  Betrachtung  nicht  würdig  ist,  so  sei  sie  übergangen;  s. 
Thomas,  P.  I  Q.  50—65,  Schwane  S.  194—217. 

^  S.  Summa  P.  I  Q.  103 — 117:  de  gubernatione  rerum,  eingetheilt  nach  den 
Gesichtspunkten  des  finis  gubernationis,  der  conservatio  und  mutatio  rerum.  Bei 
dem  ersteren  wird  speculativ  festgestellt,  dass  der  iinis  rerum  „quoddam  bonum 
extrinsecum"  sein  müsse,  wT.il  der  finis  universalis  rerum  als  das  letzte  Ziel  das 
„bonum  universale"  sein  müsse,  dieses  aber  könne  nicht  in  der  Welt  eingeschlossen 
sein,  da  diese  kraft  ihrer  creatürlichen  Eigenart  stets  nur  ein  participative  bonum 
einzuschliesseu  vermag;  also  ist  Gott  selbst  der  finis  gubernationis  (s.  oben).  Ferner 
werden  in  der  allgemeinen  Gubernationslehre  die  Fragen,  ob  es  überhaupt  eine 
gubernatio  giebt,  ob  sie  von  Einem  ausgeht,  ob  ihr  Effect  ein  einheitlicher  oder 
ein  mehrfacher  ist,  ob  Alles  unter  ihr  steht,  ob. sie  überall  eine  unmittelbare 
ist,  ob  etwas  praeter  ordinem  gubernationis  geschehen  könne,  und  ob  etwas  „reniti 
possit  contra  ordinem  gubernationis  dei",  behandelt.  Die  „conservatio"  wird  (q.  104 
art.  1)  nur  als  ein  fortgesetztes  Schaffen  definirt,  wesshalb  es  am  Schluss  des  Ar- 
tikels (ad  4)  heisst :  „conservatio  rerum  a  deo  non  est  per  aliquam  novam  actionem, 
sed  per  continuationem  actionis  quae  dat  esse,  quae  quidem  actio  est  sine  motu  et 
tempore,  sicut  etiam  conservatio  lumiuis  in  aere  est  per  continuatum  influxum  a 
sole."  Diese  nicht  unbedenkliche  Definition  erfährt  ihre  Anwendung  in  mancherlei 
Weise.  So  wird  das  Wunder,  sofern  der  ordo  rerum  a  prima  causa  abhängt,  für 
unmöglich  erklärt,  dagegen  zugelassen  in  Rücksicht  auf  die  causae  secundae  (art.  6). 
Nach  Thomas  aber  sind  die  eigentlichen  Wunder,  obgleich  sie  niclit  so  genannt 
werden,  die  Schöpfung  der  Welt  und  der  Seelen,  sowie  die  iustificatio  impiorum; 
denn  sie  sind  praeter  ordinem  naturalem.  Das  Wunder  aller  Wunder  ist  Gott,  quod 
habet  causam  simpliciter  et  omnibus  occultam. 

2  P.  I  Q.  25  Art.  C. 


Die  Lehre  von  der  Person  Christi.  45 1 

können,  „ex  quo  sequitur  ea  interdum  deficere"  '.  Auch  in  diesen 
Lehren  wurde  man  vorsichtiger,  je  schärfer  man  Gott  und  die  mit 
eigener  Willensbewegung  begabte  Creatur  trennte  ^. 

4.  Mit  der  Christologie  verhielt  es  sich  wie  mit  der  Trinität sichre. 
Im  12.  Jahrhundert  war  noch  lebhaft  über  sie  gestritten  worden,  da 
man  sich  bei  dem  gegen  den  Adoptianismus  aufgestellten  griechischen 
Schema  nicht  überall  beruhigte  (Abälard's  nestorianische  Christologie 
ist  ein  Protest  gegen  die  Lehre  des  Damascenus  und  Alcuin's  und 
wirkte  weiter)  ^.  Selbst  noch  der  Lombarde,  obgleich  er  mit  Alcuin 
leugnet,  der  Logos  habe  eine  menschliche  Person  angenommen^,  gravitirt 
insofern  nach  der  nestorianischen  Seite  hinüber,  als  er  im  Interesse  der 
Unveränderhchkeit  Gottes  in  Abrede  stellte,  dass  Gott  durch  die 
Menschwerdung  irgend  etwas  „geworden"  sei,  vielmehr  sei  ihm  die 
Menschheit  nur  wie  ein  Kleid  gewesen  ^.  Gegen  diese  als  Nihilianismus 
bezeichnete,  von  den  Dialektikern  aufgenommene  Lehre  (Christus  war 
als  Mensch  non  aliquid)  erhob  sich  aber  im  Zeitalter  Alexander's  III. 
ein  starker  Widerspruch,  namentlich  von  deutschen  Gelehrten  (Gerhoch) ; 
es  wurde  ihr  gegenüber  die  vollkommenste  und  reale  Durchdringung 
von  Gottheit  und  Menschheit  in  Christus  behauptet  (s.  Alcuin)  und 
des  Lombarden  Lehre  auch  öffentlich  als  bedenklich  bezeichnet^.  Mit 
dieser  nota  gegen  den  „Nihihanismus"  ist  die  Zweinaturenlehre  zu  den 
grossen  Scholastikern  gekommen,  und  das  Problem  der  „hypo statischen 
Union"  wurde  nun  ebenso  der  Tummelplatz  der  scharfsinnigsten  Er- 
wägungen wie  das  Problem  der  Trinität^.  Dabei  wird  von  Allen  die 
Idiomencommunication  so  gefasst,  dass  in  Christus  eine  für  sich  exi- 
stirende  menschliche  Person  ausgeschlossen  zu  denken  ist.    Aber  es  er- 


»  P.  I  Q.  48  Art.  2. 

^  Selir  beachtenswerth  ist  die  Kritik  des  Duns  an  Augustin's  und  Anselm's 
Lehre  vom  malum;  s.  Werner,  a.  a.  O.  S,  402  fi\ 

"  S.  Deutsch,  a.  a.  0.  S.  289—318.  A])älard's  Lehre  ist  ein  sehr  tüchtiger 
Versuch,  im  Rahmen  des  ül)erlieferten  Dogmas  der  Menschheit  Christi  ihr  Recht 
zu  geljen.  Aber  dieser  Versuch  ist  als  häretisch  empfunden  worden,  und  er  ist  in 
der  That  })edenklich,  wenn  man  erwägt,  dass  er  die  Einheit  der  Person  Christi  er- 
schüttert, auf  die  Alles  ankommt,  die  man  aber  damals  freilich  nur  in  den  unvoll- 
ziehbaren Kategorien  der  Naturen  zum  Ausdruck  ])ringen  konnte. 

*  Sentent.  III  dist.  5  C. 

^  Sentent.  ITT  dist.  6.  Do(;h  ha])en  erst  die  Schüler  den  hingeworfenen  Ge- 
danken des  Lehrers  ausgebeutet.  Uebrigens  besagt  di(!  Ijehre  nichts  Anderes,  als 
was  Cyrill  mit  dem  |j.ejA£VTjxev  Zntp  yjv  in  Bezug  auf  die  Menschwerdung  des  Logos 
ausgesagt  hatte. 

ß  S.  Jiach,  a.  a.  ().  Bd.  IT,  Hefele,  Conoiliengeseh.  V^  S.  BlfUr.  (Synode 
von  Tours  1163)  u.  S.  719  f.  (3.  Lateransynode  1179). 

'S.  Schwanes.  251— 296. 

29* 


452     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

gaben  sich  doch  auch  hier  bedeutende  Differenzen  zwischen  den  Thomisten 
und  Scotisten ;  denn  Thomas  liat  das  höchste  Bestreben,  den  göttlichen 
Factor  so  übergreifen  zu  hissen,  dass  das  Menschliche  nur  zu  einem 
E^assiven  und  Accidentelleu  wird ;  er  setzt  recht  eigentlich,  wie  er  areo- 
pagitisch  bestimmt  ist,  auch  die  griechische  monophysitische  Christo- 
logie  fort,  und  es  fehlt  ihm  auch  nicht  der  areopagitische  Hintergrund, 
dass  der  Logos  mit  der  ganzen  menschhchen  Natur  in  eben  dasselbe 
Verliiiltniss  getreten  ist,  in  welches  er  mit  der  menschlichen  Natur  Jesu 
getreten  ist.  Dem  gegenüber  hat  Scotus  in  sehr  bescheidener  Weise 
und  mit  Aufbietung  verblüffend  complicirter  Terminologien  etwas  mehr 
von  der  Menschheit  Christi  retten  wollen.  Aber  er  bekommt  da- 
für von  modernen  katholischen  Dogmatikern  das  Urtheil  zu  hören,  „er 
habe  sich  keine  Lorbeeren  errungen,  vielmehr  auf  diesem  Gebiete  mit 
seinen  kritischen  Ausstellungen  (an  dem  engelischen  Lehrer)  am  meisten 
Fiasko  gemacht"  K  Sein  Bestreben,  auch  der  menschlichen  individuellen 
Natur  Christi  Existenz  beizulegen ,  wird  verworfen.  Ebenso  werden 
seine  zahmen  Versuche  abgelehnt,  dem  menschhchen  Erkennen  Christi 
gewisse  Grenzen  zu  stecken  und  die  Sündlosigkeit  des  menschlichen 
Willens  Jesu  nicht  aus  der  hypostatischen  Union,  sondern  aus  der 
„plenissima  fruitio  quam  liabuit  Christus",  d.  h.  aus  der  vollendeten 
Willenshingabe,  abzuleiten  '^.  Auf  diesem  Gebiet  blieb  der  Thomismus 
siegreich.  Den  Scotisten  gelang  es  nicht,  die  Anerkennung  einer  be- 
sonderen Seinsweise  für  die  individuelle  menschhche  Natur  Christi 
durchzusetzen^. 


*  Schwane  S.  288;  vgl.  die  ausführliche  Darstellung  Werner^s,  a.  a.  0. 
S.  427  ff.  Duns  lehrte  eine  doppelte  Filiation  und  hat  sich  auch  in  den  Report. 
Paris,  ausdrücklich  zur  Probabilität  des  Adoptianismus  bekannt ;  s.  S.  439  f.  Ueber 
die  gleichartige  Christologie  der  nachscotistischen  Scholastik  s.  "Werner  II 
S.  330  f. 

2  S.  Werner  S.  440  ff. 

'  Die  Lehre  vom  hl.  Geist  hat  eine  weitere  Entwickelung  in  der  Scholastik 
nicht  erfahren.  Wohl  aber  wurde  seit  den  Tagen  des  lateinischen  Kaiserthums  im 
Orient  bis  zur  Synode  von  Florenz  in  unendlichen  Tractaten  mit  Griechen  über  den 
Ausgang  des  hl.  Geistes  gestritten  und  verhandelt.  Die  Unionsverhandlungeu 
dauerten  mit  Unterbrechungen  fast  250  Jahre,  und  sie  gewährten  desshalb  zeit- 
weilig eine  gewisse  Aussicht,  weil  es  seit  dem  13.  Jahrhundert  im  Orient  eine  kleine 
lateinische  Partei  gab,  die  aber  zuletzt  stets  von  derGesammtkirche  des  Orients  des- 
avouirt  worden  ist.  Zu  Lyon  1274  (can.  1)  erkannten  Griechen  an,  dass  der  hl.  Geist 
vom  Vater  und  Sohn  („non  tamquam  ex  duobus  principiis,  sed  tamquam  ex  uno  prin- 
cipio,  unica  spiratione")  ausgehe,  und  zu  Florenz  (Mansi  XXXI  p.  1027  sq.)  einigte 
man  sich  in  einer  complicirten  Formel,  die  aber  das  „filioque"  ausdrücklich  recht- 
fertigte. Allein  schon  1443  wurde  das  Florentiner  Concil  auf  einer  jerusalemischeu 
Synode  von  dem  antiochenischen,  alexandrinisehen  und  jerusalemischeu  Patriarchen 


Die  Lehre  von  Christus  und  vom  hl.  Geist.    Das  Werk  Christi.  453 

Der  Sieg  der  in  den  chalcedonensischen  Formeln  verhüllten  mono- 
physitischen  Christuslehre  ^  ist  um  so  auffallender,  als  man  praktisch- 
rehgiös  gar  keinen  Gebrauch  von  ihr  machte,  vielmehr  das  wirkliche 
Interesse  an  Christus  einerseits  in  der  Vorstellung  vom  armen  Leben 
Jesu  und  dem  Ecce  homo,  andererseits  in  der  Yersöhnungs-  und  Sacra- 
mentslehre  zum  Ausdruck  brachte^.  Die  Yersöhnungslehre  aber  hat 
nur  scheinbar  die  griechische  Christologie  sammt  der  Zweinaturenlehre 
zu  ihrer  Voraussetzung.  Dies  ist  bereits  oben  bei  der  Versöhnungslehre 
Anselm's,  Abälard's  und  des  Lombarden  gezeigt  worden^.  Es  erübrigt 
hier  die  Gedanken  der  späteren  Scholastiker  über  das  "Werk  Christi 
kurz  zu  präcisiren  ^. 

Der  Lombarde  hatte  das  Verdienst  Christi  in  den  Vordergrund 
geschoben;  daneben  alle  möghchen  Gedanken  über  die  Erlösung  durch 
Christus  —  mit  Ausnahme  der  Anselm'schen  Theorie  —  zum  Ausdruck 


verdammt.  Die  lateinisch  gesinnten  Griechen  bekannten  entweder  reuemüthig  ihren 
„  Verrath  am  Glauben"  oder  zogen  es  vor,  in  Italien  zu  bleiben  und  römische  Würden- 
träger zu  werden. 

*  Dieser  Sieg  ist  freilich  nicht  in  der  Scholastik  zu  Stande  gekommen,  son- 
dern in  der  Kirche.  Die  Scholastik  ist  vielmehr  durch  Occam  zur  vollkommenen 
Auflösung  der  Gottmenschheit  Christi  geführt  w^orden,  so  dass  dem  Socinianismus 
nichts  mehr  zu  thun  übrig  blieb  (s.  Werner  II  S.  353 ff.).  Certilog.,  concl.  6  schreibt 
Occam :  „Est  articulus  fidei,  quod  deus  assumpsit  naturam  humanam.  Non  includit 
contradictionem ,  deum  assumere  naturam  asininam;  pari  ratione  potest 
assumere  lapidem  vel  lignum."  Dazu  (1.  c.  concl.  62):  „Christo  könne  das  Prädicat 
Gottessohn  nur  insofern  attribuirt  werden,  als  in  ihm  das  Verbum  divinum  mit  der 
Menschennatur  vereinigt  erscheint;  von  einem  Filiationsvcrhältniss  des  Verbum 
divinum  an  sich  wisse  die  Mcnschenvemunft  nichts" ;  ebenso  sei  die  Lehre  von  der 
Trinität  vernunftwidrig  (I  Dist.  9  Q.  1).  Wenn  dem  gegenüber  auf  die  fides  ver- 
wiesen wird,  so  ist  lediglich  die  Unterwerfung  unter  die  Autorität  gemeint.  Fiel 
diese  nun  aus  irgend  einem  Grunde  weg,  so  war  der  Socinianismus  fertig. 

2  Es  wiederholt  sich  hier  also  dasselbe,  was  wir  schon  bei  der  Trinitätslehre 
beobachtet  haben.  Bei  beiden  Dogmen  schlägt  die  theoretische  Speculation  Wege 
ein,  die  mit  den  Wegen,  welche  der  Glaube  wandelt,  kaum  mehr  verbunden  sind. 
Man  kann  sich  keinen  grösseren  Gegensatz  denken,  als  den,  dass  in  der  Lehre  von 
der  Person  Christi  der  „homo"  fast  ganz  elimirt  wird,  und  dass  dann  in  der  Lehre 
von  dem  Werk  Christi  dieser  „homo"  souverän  hervortritt.  Durch  Worte  und 
Terminologien  lassen  sich  freilich  alle  Klüfte  überbrücken-,  aber  es  sind  eben  nur 
Worte.  V 

3  S.  S.  341  ff. 

'  S.  RitHchl,  Bd.  IS.  55  ff.,  Münscher  §  135,  Schwane  S.  29«— 333.  Die 
passio  Christi  beherrscht  die  ganze  abendländisclic  Theologie.  Nennt  Joh.  Damas- 
cenus  (s.  Bd.  II  S.  157)  die  Incamation  das  allein  Neue  unter  der  Sonne,  so  giobt 
Walter  v.  d.  Vogelweide  die  allgemeine  Ueberzeugung  des  Abendlandes  wieder, 
wenn  er  in  einem  seiner  bekanntesten  Gedichte  das  Leiden  Christi  als  das  Wunder 
aller  Wunder  preist. 


454     (ireschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

gebracht  und  sich  enge  an  Augustin  und  Abälard  („reconciliati  sumus 
deo  diligenti  nos'^)  angeschlossen.  Die  Wendung  im  13.  Jahrhundert 
besteht  nun  darin,  dass  im  Gegensatz  zu  Abälard  und  in  einem  gewissen 
Anschluss  an  Anselm  die  objective  Erlösung  (in  der  Richtung  auf  Gott) 
in  den  Vordergrund  tritt,  dabei  aber  der  Gesichtspunkt  des  Ver- 
dienstes, den  Anselm  nur  angedeutet  hatte,  stärker  betont  wird. 
Jene  Wendung  zeigt  sich  schon  bei  Alexander  Halesius  und  Albertus; 
aber  erst  Thomas  hat  eine  ausführliche,  streng  durchdachte  Erlösungs- 
lehre gegeben.  Allerdings  wechselt  auch  er  zwischen  den  Gesichts- 
punkten, was  stets  ein  Zeichen  ist,  dass  der  Gesichtspunkt  nicht  sicher 
getroffen  ist;  denn  wo  der  zureichende  Grund  fehlt,  stellen  sich  die 
Gründe  ein.  Der  zureichende  Grund  fehlte  dem  Thomas  aber;  denn 
P.  in  Q.  46  Art.  1  —  3  wird  die  Nothwendigkeit  des  Todes  Christi  aus- 
drücklich abgelehnt  —  Gott  hätte  uns  kraft  seines  freien  Willens  auch 
die  Sünde  einfach  erlassen  können  — ,  der  gewählte  Weg  der  liberatio 
per  mortem  Christi  ist  nur  der  schicklichste,  weil  uns  so  mehr  und 
Grösseres  zu  Theil  wird,  als  wenn  wir  sola  voluntate  dei  erlöst  würden. 
Es  sind  vornehmHch  drei  Gesichtspunkte,  die  Thomas  in  Anwen- 
dung gebracht  hat.  Erstlich  hat  er  (Q.  46)  eine  grosse  Reihe  von  Argu- 
menten geltend  gemacht,  die  beweisen  sollen,  dass  der  Tod  Christi  mit 
allen  Umständen  seines  Leidens  die  schicklichste  Form  der  Erlösung 
gewesen  ist.  In  diesem  Rahmen  kommen  bereits  viele  sachliche  Ge- 
sichtspunkte vor.  Vor  Allem  aber  wird  der  unendliche  Schmerz,  den  er 
erduldet,  betrachtet.  Sein  Leiden  (während  des  ganzen  Lebens  und  im 
Tode)  wird  als  die  Summe  alles  denkbaren  Leidens  dargestellt,  und  zwar 
im  Sinne  des  eigenen  Schmerzes  und  des  Mitleidschmerzes  wegen  unserer 
Sünde.  Hier  kommt  die  abälardisch-augustinische  Ueberheferung  zu 
ihrem  Rechte,  dass  das  Leiden  Christi,  des  mittlerischen  Menschen, 
insofern  erlöst,  als  es  uns  die  Liebe  Gottes  zu  Gemüthe  führt,  uns  ein 
Beispiel  wird,  uns  von  der  Sünde  abruft  und  als  Motiv  die  Gegenliebe 
erweckt.  Aber  andererseits  wird  auch  schon  hier  das  convenientius  in 
objectivem  Sinn  ausgeführt,  sofern  der  Tod  Christi  das  schicklichste 
Mittel  war,  um  durch  denselben  für  die  Menschen  die  gratia  iustificans 
und  die  gloria  beatitudinis  zu  erwerben  ^ 


*  Q.  46  Art.  3:  „Tanto  aliquis  modus  convenientior  est  ad  assequendum  finem, 
quanto  per  ipsum  plura  concurrunt,  quae  sunt  cxpedientia  fmi.  Per  hoc  autem  quod 
homo  per  Christi  passionem  liberatus,  multa  concurrcnmt  ad  sahitem  hominis  per- 
tinentia  praeter  libcrationemapeccato:  Primo  enim  per  hoc  homo  coguoseit, 
quantum  hominem  deus  diligat,  et  per  hoc  provocatur  ad  eum  diligendum,  in  quo 
perfectio  humanae  sahitis  consistit.  Unde  Apostohis  dicit:  „Commendat  suam 
caritatem  deus  etc."    Secundo  quia  per  hoc  nobis   dedit  exemplum   obedicutiao 


I 


Die  Lehre  vom  "Werk  Christi.    Thomas.  455 

In  der  48.  Q.  werden  nun  unter  dem  Titel  „de  modo  passionis 
Christi  quantum  ad  effectum"  neue  Gesichtspunkte  eingeführt.  Der 
hypothetische  Charakter  tritt  hier  hinter  dem  nothwendigen  Erfolg 
des  Leidens  zurück.  Beherrscht  aher  ist  die  ganze  Untersuchung 
durch  den  Grundgedanken:  „Christus  non  est  passus  secundum  divi- 
nitatem,  sed  secundum  carnem",  dem  die  Gottheit  zugesellt  war. 
Hier  wird  der  Tod  Christi  unter  den  Gesichtspunkt  des  Verdienstes 
(Art.  1),  der  Satisfaction  (Art.  2),  des  Opfers  (Art.  3),  der  Redemp- 
tion  (Art.  4  und  5)  und  der  „efficientia"  (Art.  6)  gestellt.  Daran  reiht 
sich  in  der  49.  Q.  die  Untersuchung  darüber,  inwiefern  der  Tod 
Christi  uns  von  der  Sünde  (Art.  1),  von  der  Macht  des  Teufels 
(Art.  2),  und  a  reatu  poenae  (Art.  3)  befreit  habe,  ferner  ob  wir 
durch  denselben  mit  Gott  versöhnt  sind  (Art.  4),  ob  uns  durch  ihn 
der  Zugang  zum  Himmel  eröffnet  ist  (Art.  5),  und  ob  Christus  durch 
ihn  erhöht  worden  ist  (Art.  6).  Aus  diesen  Gesichtspunkten  treten 
(zweitens)  der  der  Satisfaction  und  (drittens)  der  des  Verdienstes 
als  besonders  wichtig  hervor. 

Der  Begriff  der  satisfactio  wird  so  gewonnen,  dass  (gegen  An- 
selm)  die  Freiwilligkeit  des  Leidens  Christi  im  strengsten  Sinn  ge- 
nommen und  nun  dieses  freiwillige  Leiden  nach  der  Begel  als  satis- 
factio definirt  wird,  dass  eine  solche  stets  in  einer  Gabe  besteht, 
welche  der  Beleidigte  mehr  liebt,  als  er  die  Beleidigung  hasst.  Dies 
wird  an  dem  Leiden  Christi  nachgewiesen,  welches  (s.  oben)  nicht 
nur  als  das  Todes-,  sondern  auch  als  das  Lebensleiden  beschrieben 
wird '  und  seinen  Werth  an  dem  gottmenschlichen  Leben  des  Mitt- 
lers hat.  Eben  desshalb  ist  die  satisfactio  nicht  nur  zureichend, 
sondern  superabundans  ^;  d.  h.  sie  ist  nicht  nur  aequalis  omnibus 

et  hiimilitatis  et  constantiac,  iustitiae  et  ccterarum  virtutum  in  passionc  Christi 
ostensarum,  quac  sunt  neccssaria  ad  humanam  sahitem.  Undc  dicitur  1.  Pct.  2: 
„Christus  passus  est  pro  nobis,  nobis  rclinqucns  cxemphim  etc."  Tertio  quia 
Christus  per  passionem  suam  non  solum  hominem  a  peccato  liberavit,  sed  ctiam 
gratiam  iustificantom  et  gloriam  beatitudinis  ei  p romer uit,  ut  infra 
dicetur  (Q.  48).  Quarto,  quia  per  hoc  est  homini  inducta  maior  necessitas,  sc 
immunem  a  peccato  conservandi,  (pii  se  sanguine  Christi  redemptum  cogitat  a 
peccato,  secundum  illud  I  Cor.  6:  „p]mpti  estis  pretio  etc."  Q,uinto  quia  hoc  ad 
maiorcm  dignitatem hominis  cessit,  ut  sicuthomo  victus  fucrat  et  deceptus  a  diabolo, 
ita  (itiam  homo  esset  qui  diabolum  vincerot,  et  sicuthomo  mortem  meruit, 
ita  homo  moriendo  mortem  supcraret.  P]tideo  conveiiicntius  fuit  (juod  per  passionem 
Christi  liljcraremur,  quam  per  solam  dei  voluntatem."  In  dei-  (^.  47  setzt  sich  die 
ßehandhing  der  Erlösung  unter  dem  Gesichtspunkt  des  convenicntissimum  fort. 

*  p]s  ist  ein  Fortschritt  des  Thr>mas,  dass  er  sich  nicht  nur  auf  den  Tod  Christi  be- 
schränkt, sondern  sein  ganzes  Leben  als  ein  Leiden  mit  in  die  Betrachtung  hineinzieht. 

'^  Q.  48  Art.  2:  „Respondeo  dicendum,  quod  ille  proprio  satisfacit  pro  oflensa, 


456     (ieschichte  des  Dogmas  im  Zeit.alter  der  Hettelorden  bis  zum  IH.  .Itihrh. 

peccatis  hiimani  generiS;  sondern  ihnen  positiv  überlegen.  Damit  ist 
eine  Vorstellung  gewonnen,  die,  scheinbar  unbedenklich  und  würdig, 
zu  den  traurigsten  Speculationen  Anlass  geben  sollte.  Ein  stellver- 
tretendes Strafleidon  im  strengen  Sinn  des  Worts  kennt  auch  Tho- 
mas nicht,  weil  er  der  iustitia  dei  in  der  ganzen  Frage  nur  einen 
geringen  Spielraum  gelassen  hat^  Doch  streifen  einige  Ausführun- 
gen in  der  49.  Q.  an  jenen  Gedanken  heran  *. 


qui  exhibet  offenso  id  quod  acque  vcl  magis  diligit,  quam  odcrit  offensam.  Christus 
autem  ex  caritate  etobedientia  patieiido  maius  aliquid  deo  exhibuit,  quam  exigeret 
recompensatio  totius  offensae  humani  generis :  primo  quidem  propter  raagnitudincm 
caritatis  ex  qua  patiebatur,  secundo  propter  dignitatem  vitac  suae  quam  pro  satis- 
factione  ponebat,  quao  erat  vita  dei  et  bomiuis;  tertio  propter  gener  alitat  em 
passionis  et  magnitudincm  doloris  assumpti,  ut  supra  dictum  est  (Q,.  46  Art.  6).  Et 
ideo  passio  Christi  uon  solum  sufficiens,  sed  etiam  superabundans  satisfactio 
fuit  pro  peccatis  humani  generis." 

*  Auf  diese  satisfactio  superabundans  kommt  Thomas  im  4.  Art.  (redemi^tio) 
zurück :  ^respondeo  dicendum,  quod  per  peccatum  dupliciter  homo  obligatus  erat, 
primo  quidem  Servitute  peccati,  quia  qui  facit  peccatum,  servus  est  peccati  . . .  Quia 
igitui'  diabolus  hominem  superaverat,  inducendo  ad  peccatum,  homo  servituti  diaboli 
addictus  erat.  Secundo,  quantum  ad  reatum  poenae,  quo  homo  erat  obligatus  secun- 
dum  dei  iustitiam.  Et  hoc  etiam  est  servitus  quaedam;  ad  servitutem  enim  perti- 
net  quod  aliquis  patiatur,  quod  non  vult,  cum  liberi  hominis  sit  uti  se  ipso  ut  vult. 
Quia  igitur  passio  Christi  fuit  sufficiens  et  superabundans  satisfactio  pro  peccato  et 
reatu  poenae  generis  humani,  eins  passio  fuit  quasi  quoddam  pretium  per 
quod  liberati  sumus  ab  utraquc  obligatione.  Nam  ipsa  satisfactio  qua  quis  satisfacit, 
sive  pro  se  sive  pro  alio,  pretium  quoddam  dicitur,  quo  seipsum  vel  alium 
redimit  a  peccato  et  a  poena . . .  Christus  autem  satisfecit  non  quidem  pecuniam  dando 
aut  aliquid  huiusmodi,  sed  dando  id  quod  fuitmaximum,  seipsum  seil,  pro  nobis.  Et 
ideo  passio  Christi  dicitur  esse  nostra  redemptio."  —  Eine  nicht  unwichtige  Wendung 
findet  sich  dort  (Q.47,  2;  48,  3),  wo  das  Leiden  Christi  unter  den  Gesichtspunkt  des 
Opfers  gestellt  wird.  Hier  wird  nämlich  nicht  nur  im  Allgemeinen  die  Liebe  als  das 
im  freiwilligen  Opfer  "Wirksame  bezeichnet,  sondern  genauer  noch  der  Gehorsam: 
,,Convenientissimum  fuit,  quod  Christus  ex  obedientia  pateretur  . . .  obedientia  vero 
Omnibus  sacrificiis  antefertur  . . .  miles  vincere  non  potest  nisi  duci  obediat,  et  ita 
homo  Christus  victoriam  obtinuit  per  hoc  quod  deo  fuit  obediens  .  .  .  Quia  in  morte 
Christi  lex  vetus  consummata  est,  potest  intelligi  quod  patiendo  omnia  veteris  legis 
praecepta  implevit:  moralia  quidam,  quaein  praeceptis  caritatis  fundantur,  implevit, 
in  quantum  passus  est  et  ex  dilectione  patris  et  etiam  ex  dilectione  proximi,  caere- 
monialia  vero  praecepta  legis,  quae  ad  sacrificia  et  oblatioues  praecipue  ordinantur, 
implevit  Christus  sua  passione,  in  quantum  omnia  antiqua  sacrificia  fuerunt  figurae 
illius  veri  sacrificii,  quod  Christus  obtulit  moriendo  pro  nobis  .  .  .  Praecepta  vero 
iudicialia  legis,  quae  praecipue  ordinantur  ad  satisfaciendam  iniuriam  passis,  implevit 
Christus  sua  passione,  permittens  se  ligno  affigi  pro  pomo  quod  de  ligno  homo  rapu- 
erat  contra  dei  mandatum." 

^  S.  Art.  3  und  4:  „Respondeo  dicendum,  quod  per  passionem  Christi  liberati 
sumus  a  reatu  poenae  dupliciter.  Uno  modo  directe,  in  quantum  seil,  passio  Christi 
fuit  sufficiens  et  superabandans  satisfactio  pro  peccatis  totius  humani  generis-,  ex- 


Die  Lehre  vom  Werk  Christi.   Thomas.  457 

Was  das  Verdienst  betrifft,  so  soll  unter  diesem  Titel  eine 
deutliche  Vorstellung  gewonnen  werden,  inwiefern  das  Leiden  Christi 
real  den  Einzelnen  zu  Gut  kommt.  Es  ist  werthvoll^  dass  Thomas 
den  griechischen  Gedanken,  der  seine  Lehre  von  der  Person  Christi 
beherrscht,  dass  nämlich  die  Menschheit  Christi  an  sich  die  Menschen - 
natur  überhaupt  ist,  bei  Seite  schiebt  und  nicht  weiter  verwerthet.  Mit 
dieser  mechanischen  Vorstellung  von  der  Sache  begnügt  er  sich  nicht. 
Man  sieht  auch  hier,  dass  die  Lehre  von  der  Person  Christi  und 
von  seinem  Werke  ganz  auseinanderklaffen.     Nur  einmal  *  streift  er 


hibita  autem  satisfactione  sufficienti  tollitur  reatus  poenae  (dies  ist 
freilich  keine  Strafübernahme).  Alio  modo  indirecte,  in  quantum  seil,  passio  Christi 
est  causa  remissionis  peccati,  in  quo  fundatur  reatus  poenae.  Dem  Einwurf,  dass 
den  liberatis  nocb  poenae  satisfactoriae  von  der  Kirche  aufgelegt  werden,  beant- 
wortet er  so:  „Ad  hoc  quod  consequemur  effectum  passionis  Christi,  oportet  nos  ei 
configurari.  Configuramur  autem  ei  in  baptismo  sacramentaliter,  secundumRom.  6,4: 
„Consepulti  sumus  ei  per  baptismum  in  mortem."  Unde  baptizatis  nulla  poena 
satisfactoria  imponitur,  quia  sunt  totaliter  liberati  per  satisfactionem  Christi.  Quia 
vero  Christus  semel  tantum  pro  peccatis  nostris  mortuus  est,  ut  dicitur  I  Pet.  3,  18, 
ideo  non  potest  homo  secundario  configurari  morti  Christi  per  sacramentum  bap- 
tismi.  Unde  oportet  quod  illi,  qui  post  baptismum  peccant,  configurentur  Christo 
patienti  per  aliquid  poenalitatis  vel  passionis  quam  in  se  ipsis  sustineant  (!).  Quae 
tarnen  multo  minor  sufficit,  quam  esset  condigna  peccato,  cooperante  satisfactione 
Christi."  Eine  wunderbare  Illustration  zur  satisfactio  superabundans !  Auch  im 
4,  Art.  wird  die  reconciliatio  dei  nicht  auf  die  Erduldung  des  Strafleidens,  sondern 
auf  das  „sacrificium  acceptissimum"  zurückgeführt.  Gott  wird  versöhnt,  1)  weil  die 
passio  Christi  peccatum  renovat,  2)  weil  sie  Opfer  ist;  „est  enim  hoc  proprie  sacri- 
ficii  effectus,  ut  per  ipsum  placetur  deus ;  denn  wie  der  Mensch  propter  aliquod 
obsequium  acceptum  die  Beleidigung  vergiebt,  „similiter  tantum  bonum  fuit,  quod 
Christus  voluntarie  passus  est,  quod  propter  hoc  bonum  in  natura  humana 
inventum  deus  placatus  est  super  omni  offcnsa  generis  humani,  quantum  ad  eos 
qui  Christo  passo  coniunguntur."  Von  einer  Umstimmung  Gottes  will  auch  Thomas 
nichts  wissen,  obgleich  er  sich  vorsichtiger  als  der  Lombarde  ausspricht.  „Deus 
diligit  omnes  homines  quantum  ad  naturam  quam  ipse  fecit,  odit  tamen  cos  quan- 
tum ad  culpam  .  .  ,  non  dicendum,  quod  passio  Christi  dicitur  quantum  ad  hoc,  deo 
nos  rcconciliasse,  quod  de  novo  nos  amare  inciperet,  sed  quia  per  passionem  Christi 
sublata  est  odii  causa,  tum  per  ablationcm  peccati  tum  per  rccompensationem 
acceptabilioris  bencficii."  In  dem  5.  Art.  wird  ausdrücklich  die  passio  Christi 
sowohl  auf  das  peccatum  commune  totius  humanae  naturae  (et  quantum  ad  culpam 
et  quantum  ad  reatum  poenae),  als  auch  auf  die  peccata  propria  singulorum,  qui 
communicant  cius  passioni  ])er  fidcm  et  caritatcm  et  fidei  sacramenta,  bezogen.  Doch 
wird  bei  den  letzteren  die  Auf heljung  des  reatus  poenae  nicht  ausdrücklich  hervor- 
gehoben. Die  deutlichste  Stelle  über  den  Strafwerth  des  Todes  Christi  steht  Q.  47 
Art.  3:  „in  quo  ostenditur  et  dei  soveritas,  qui  peccatum  sine  poena  dimittere 
noluit."  Aber  eine  zusammenhängende  Ansicht  ist  von  hier  aus  nicht  entworfen, 
während  sie  bei  Bernhard  nachgewiesen  werden  kann. 
'  S.  die  vorige  Anmerkung. 


45H     GeBcbichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zuui  It).  Jahrh. 

den  Gedanken,  Gott  sei  versöhnt,  weil  er  nun  in  der  Menschen natiir 
das  Gute  gefunden  habe.  Sonst  hat  er  eine  ganz  andere  Betrach- 
tung, die  er  sogar  an  die  Spitze  seiner  Ausführungen  gestellt  (Q.48,  1) 
und  auch  im  Fortgang  derselben  nie  aus  den  Augen  verloren  hat. 
Es  ist  die  von  Anselm  angedeutete,  dass  Christus  durch  sein  frei- 
williges Leiden  die  Erhöhung  verdient  hat  (Q.  49,  6),  dass  sie  aber 
nicht  ihm  zugewendet  werden  kann,  sondern  von  ihm  als  dem  Haupte 
der  Kirche  auf  diese  übergeht '.  Die  Ausführlichkeit,  mit  welcher 
Thomas  diesen  Gedanken  dargestellt  und  wiederholt  hat,  bürgt  da- 
für, dass  er  ihm  ein  höchst  werthvoUer  gewesen  ist.  Er  hat  ihn  auch 
so  dargestellt  (Q.  48,  Art.  2) :  „caput  et  membra  sunt  quasi  una 
persona  mystica,  et  ideo  satisfactio  Christi  ad  omnes  fidel  es  pertinet, 
sicut  ad  sua  membra."  Hier  ist  endlich  auch  der  Begriff  der  fidel  es 
(als  der  ecclesia)  in  die  Frage  nach  dem  Effect  und  den  Beziehun- 
gen der  Erlösung  eingeführt;  aber  nur  im  1.  Art.  der  49.  Q.  ist 
Thomas  auf  den  Glauben  näher  eingegangen,  jedoch  um  sofort  auf 
die  Liebe  überzuschwenken :  „Dicendum  quod  etiam  per  fidem  appli- 
catur  nobis  passio  Christi  ad  percipiendum  fructum  ipsius,  secundum 
illud"  Rom.  3:  »Quem  proposuit  deus  propitiatorem  per  fidem  etc.« 
Fides  autem  per  quam  a  peccato  mundamur,  non  est  fides  informis, 
quae  potest  esse  etiam  cum  peccato,  sed  est  fides  formata  per  cari- 
tatem,  ut  sie  passio  Christi  nobis  applicetur,  non  solum  quantum  ad 
intellectum,  sed  etiam  quantum  ad  effectum." 

Ueberblickt  man  die  Ausführungen  des  Thomas,  so  kann  man 
sich  des  Eindrucks  des  Verworrenen  nicht  erwehren  (multa,  non  mul- 
tum).  Das  Schwanken  zwischen  der  hypothetischen  und  der  noth- 
wendigen  Betrachtung,  zwischen  der  objectiven  und  der  subjectiven 
Erlösung,  ferner  zwischen  den  verschiedenen  Gesichtspunkten  der 
Erlösung,  endlich  zwischen  einer  satisfactio  superabundans  und  der 
Behauptung,  dass  wir  für  die  Sünden  nach  der  Taufe  die  Leistung 


*  Q.  48  Art.  1 :  „Christo  data  est  gratia  non  solum  sicut  singulari  personae. 
sed  in  quantum  est  caput  ecclesiae,  ut  seil,  ab  ipso  redundaret  ad  membra.  Et  ideo 
opera  Christi  hoc  modo  se  habent  tam  ad  se  quam  ad  sua  membra  sicut  se  habent 
opera  alterius  hominis  in  gratia  constituti  ad  ipsum"  ...  Q.  49  Art.  1 :  „Passio 
Christi  causat  remissionem  peccatorum  per  modum  redemptionis,  quia  enim  ipse 
est  Caput  nostrum,  per  passiouem  suam  quam  ex  caritate  et  obedientia  sustinuit, 
liberavit  nos  tamquam  membra  sua  a  i>eccatis,  quasi  per  pretium  suae  passionis, 
sicut  si  homo  per  aliquod  opus  meritorium,  quod  manu  exerceret,  redimeret  se  a 
peccato  quod  pedibus  commisisset.  Sicut  enim  naturale  corpus  est  unum  ex  mem- 
brorum  diversitate  constans,  ita  tota  ecclesia,  quae  est  mysticum  corpus  Christi, 
computatur  quasi  una  persona  cum  suo  capite,  quod  est  Christus",  u.  a.  St.,  bes. 
P.  III,  Q.  8. 


Die  Lehre  vom  Werk  Christi.   Thomas.   Duds  Scotus.  459 

Christi  zu  ergänzen  haben^  lässt  keinen  sicheren  Eindruck  aufkom- 
men. Es  lag  nur  in  der  Consequenz  der  Entwickelung,  dass  Duns 
Scotus  dazu  fortschritt,  vollends  Alles  ins  Relative  zu  ziehen.  Wie 
überall,  wo  man  dem  Wirklichen  an  einem  vermeintlich  metaphysisch- 
Nothwendigen  einen  sicheren  Rückhalt  geben  will,  präsentirt  sich 
dieses  Wirkliche  schliesslich  nur  als  das  Mögliche  und  desshalb 
bald  auch  als  das  Irrationale.  An  die  sittliche  Nothwendigkeit  der 
Strafe  hat  Niemand  gedacht. 

Duns  Scotus  zieht  die  wahre  Consequenz  der  Satisfactionstheorie 
(im  Unterschied  von  der  Idee  des  stellvertretenden  Strafleidens),  in- 
dem er  Alles  auf  die  „acceptatio"  Gottes  zurückführt.  Jegliche  Satis- 
faction  und  jegliches  Verdienst  empfängt  seinen  Werth  aus  der  ar- 
biträren Schätzung  des  Empfängers.  Also  ist  der  Werth  des  Todes 
Christi  so  hoch,  als  ihn  Gott  taxiren  wollte.  Aber  von  Unendlichkeit 
im  strengen  Sinn  kann  überhaupt  hier  nicht  geredet  werden;  denn 
1)  ist  die  Sünde  selbst  nicht  unendlich,  da  sie  von  endlichen  Wesen 
gethan  wird  (sie  ist  höchstens  quasi  unendlich,  wenn  man  sie  nämlich, 
was  nicht  nothwendig  ist,  nach  der  Beleidigung  des  unendlichen  Gottes 
bestimmt),  2)  ist  das  Verdienst  Christi  nicht  unendlich,  da  er  nach 
seiner  menschlichen  (endlichen)  Natur  gelitten  hat  ^,  3)  bedarf  es  in 
keinem  Sinn  eines  unendlichen  Verdienstes,  weil  Gott  jegliches  Ver- 
dienst so  hoch  taxiren  kann,  wie  er  will;  denn  an  sich  ist  nichts 
verdienstlich,  weil  ja  auch  an  sich  nichts  gut  ist,  sondern  der  sou- 
veräne götthche  Wille  declarirt,  was  er  will,  als  gut  und  verdienstHch. 
Desshalb  hat  auch  Duns  sich  nicht  gescheut,  zu  erklären,  dass  ein 
Engel  oder  auch  ein  purus  homo,  der  von  der  Erbsünde  freigeblieben 
und  mit  der  Gnade  ausgerüstet  wäre,  uns  hätte  erlösen  können. 
Handelt  es  sich  ja  doch  nur  um  den  ersten  Anstoss ;  das  Uebrige 
muss  sich  jeder  Mensch  doch  zusammen  mit  der  Gnade  selbst  er- 
werben. Diese  muss  ihn  so  zu  sagen  nur  über  den  „todten  Punkt" 
bringen.  Natürlich  ist  Duns  im  Weiteren  doch  bestrebt,  das  con- 
veniens  des  Todes  des  Gottmenschen  darzulegen,  und  er  führt  hier 
wesentlich  dieselben  Gedanken  aus  wie  Thomas.  Allein  in  die  strenge 
Dogmatik  gehört  das  nicht  mehr.  Dieser  ist  Genüge  geschehen  durch 
den  Nachweis,  dass  Gott  kraft  seines  willkürlichen  Willens  eine  be- 
stimmte Anzahl  zur  Seligkeit  bestimmt  hat,  kraft  desselben  willkürhchen 
Willens  vor  der  Wcltschöpfung  schon  festgestellt  hat,  dass  sich  die 

'  In  kScnt.  III  Dist.  19  n.  7:  „Mcritum  Christi  fuit  finitum,  (juia  a  priucipio 
fiüito  essentialiter  dopendens,  etiam  accipiorido  ipsum  cum  omnibus  respcctibus,  sive 
cumreßpectu  ad  suppositum  Verbi,  sivc  cum  respcctu  adfinem,  quia  omnes  respectus 
isti  crant  fmiti." 


460     Uesohichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

ErvvUhlung  durch  das  Leiden  des  Grottmenschen  vollziehen  soll,  und 
nun  diesen  Plan  durchführt,  indem  er  das  Verdienst  des  Gottmenschen 
acceptirt,  die  gratia  prima  den  Erwählten  verh^iht  und  nun  das 
Uebrige  von  ihrer  Selbstthätigkeit  erwartet.  Christus  ist  im  Grunde 
hier  desshalb  gestorben,  weil  es  geweissagt  worden  ist  (s.  Justin), 
und  es  ist  geweissagt  worden,  weil  Gott  es  so  beschlossen  hat.  Alles 
„Unendliche'^,  welches  doch  der  Ausdruck  für  das  Göttliche  und 
Einzigartige  ist,  ist  hier  weggeräumt;  in  Wahrheit  würde  hier  mensch- 
liches Thun  auch  genügt  haben;  denn  nichts  ist  noth wendig  im  sitt- 
lichen Sinn,  und  nirgends  zeigt  sich  mehr  als  eine  quasi-Unendlich- 
keit  K  Diese  aus  der  Rücksicht  auf  die  uncontrolirbare,  prädesti- 
nirende  Willkür  Gottes  (und  auf  die  Werkgerechtigkeit)  geborene 
Theorie  steht  neben  einer  —  ausgeführten  Zweinaturenlehre !  '^  Sie 
ist  aber  darin  ganz  besonders  irreligiös,  dass  sie  das  Werk  Christi 
einschränkt  auf  die  Gewinnung  jener  „gratia  prima",  die  nichts  An- 
deres ist  als  die  Herstellung  einer  Art  von  Möglichkeit,  damit 
der  Mensch  die  Wirklichkeit  seiner  Erlösung  selbst  besorge^. 

1  S.  Ritschi  I  S.  73—82.  Werner  S.  454  ff.  In  Scntent.  III  Dist.  19  Q.  1. 
Die  20.  Dist.  ist  ganz  der  Widerlegung  Anselm's  gewidmet.  Einige  Hauptsätze  seien 
hier  augeführt:  „Sicut  omue  aliud  a  dco  ideo  est  bonum,  quia  a  deo  volitum,  et  non 
e  converso,  sie  meritum  illud  tantum  bonum  erat,  pro  quanto  acceptabatur  et  ideo 
meritum,  quia  acceptatum,  non  autem  e  converso  quia  meritum  est  et  bonum,  ideo 
acceptatum"  .  .  .  Christi  passio  electis  solum  primam  gi^atiam  disponentem  ad 
gloriam  consummatam  efficaciter  meruit.  Quantum  vero  adtinet  ad  meriti  sufficien- 
tiam,  fuit  profecto  illud  finitum,  quia  causa  eins  finita  fuit,  vid.  voluntas  naturae 
assumptae  et  summa  gloria  illi  collata.  Non  enim  Christus  quatenus  deus  meruit, 
sed  in  quantum  homo.  Proinde  si  exquiras,  quantum  valuerit  Christi  meritum 
secuudum  sufficientiam,  valuit  procul  dubio  quantum  fuit  a  deo  acceptatum.  Si  qui- 
(lem  diviua  acceptatio  est  potissima  causa  et  ratio  omnis  meriti.  Omne  enim  aliud  a 
deo  ideo  est  bonum  quia  a  deo  dilectum,  et  non  e  contrario  ....  deus  non  acceptat 
opus  idcirco  quod  sit  meritorium  aut  bonum.  Tantum  ergo  valuit  Christi  meritum 
sufficienter,  quantum  potuit  et  voluit  ipsum  trinitas  acceptare.  Verum  tarnen  ex 
sua  ratione  formali  et  de  condigno  non  potuit  in  infinitum  seu  pro  infinitis  accop- 
tari,  quia  nee  illud  in  se  fuit  formaliter  infinitum.  Nihilosecius  si  spectes  suppositi 
merentis  circumstantiam  et  dignitatem,  habebat  quandam  extrinsecam  rationem, 
propter  quam  de  congruo  in  infinitum  extensive,  id  est  pro  infinitis,  potuit  accep- 
tari.  Sed  quid  meruit  Christus?  Meruit  sane  primam  gratiam  omnibus  qui  eam 
recipiunt,  quae  et  absque  nostro  merito  confertur.  Nam  licet  in  adultis  qui  bapti- 
zantur  non  desideretur  aliqua  dispositio,  nihilominus  non  merentur  illam  gi'atiam 
per  suam  dispositionera  .  .  ,  nullus  actu  ingreditur  regnum  coeleste,  nisi  cooperetur, 
si  habuerit  facultatem,  et  utatur  prima  gratia,  quam  sibi  Christus  promcruit." 

^  Allerdings  ist  diese  Zweinaturenlehre  durch  ihren  Nestorianismus  auch  schon 
auf  die  Aufhebung  der  Gottheit  Christi  angelegt. 

^  Auch  Schwane  S.  327  ff.  kritisirt  die  Erlösungslehre  des  Scotus,  die,  dia- 
lektischbetrachtet, durch  ihre  Geschlossenheit  der  thomistischen  überlegen  ist,  sehr 


Die  Lehre  vom  Werk  Christi.   Das  14.  und  15.  Jahrhundert.  461 

Scotus  hat  es  erreiclit;  auch  diese  Lehre  dem  Glauben  zu  ent- 
reissen  und  sie  ganz  zu  einem  dialektischen  Problem  umzugestalten. 
Darin  liegt  die  Zersetzung  der  Dogmatik  durch  den  Scotismus.  Tri- 
nitätslehre,  Christologie  und  Erlösungslehre  sind  nun  glücklich  dem 
Gebiete  des  innerlich  nothwendigen,  tröstlichen  Heilsglaubens  ent- 
nommen. Dabei  blieb  es  in  der  nominalistischen  Schule.  Nur  an 
dem  einzigen  Punkte,  der  aber  stets  unter  dem  Titel  des  conveniens 
untergebracht  wurde,  dass  die  im  Tode  Christi  bewiesene  Liebe  Gottes 
Motiv  zur  Gegenhebe  wird,  blieb  ein  dürftiger  Eest  eines  erwärmen- 
den Gedankens.  Während  im  14.  Jahrhundert  die  scotistische  Theorie 
der  satisfactio  secundum  acceptationem  immer  mehr  Anhänger  ge- 
wann, hin  und  her  durch  den  Formalismus  der  Dialektik  selbst  bis 
zum  Blasphemischen  gesteigert  wurde  und  auch  auf  die  Thomisten 
eimvirkte,  lassen  sich  im  15.  Jahrhundert  Spuren  nachweisen,  dass 
sich  eine  ernsthaftere  und  sachliche  Erwägung  wieder  einzustellen 
beginnt.  Es  steht  das  unzweifelhaft  im  Zusammenhang  mit  dem 
"Wiederaufleben  des  Augustinismus,  vielleicht  auch  mit  einem  er- 
neuten Studium  des  hl.  Bernhard,  und  es  begegnet  mehr  in  den 
praktisch  religiösen  Ausführungen  als  in  den  systematischen,  ja  in 
jenen  wd  wohl  der  Gedanke,  dass  Christus  um  der  Gerechtigkeit 
Gottes  willen  die  Strafe  der  Sündenschuld  getragen  hat,  überhaupt 
nie  ganz  untergegangen  sein.  Ritschi  verweist  auf  Gerson  ^  „Gerson 
erklärt  die  Sünde  für  das  Verbrechen  der  Majestätsbeleidigung  und 
findet  Gottes  Gerechtigkeit  so  gross,  dass  er  aus  Barmherzigkeit 
seinen  unschuldigen  Sohn  der  Strafe  unterwirft,  so  die  üeberein- 
stimmung  zwischen  seiner  Gerechtigkeit  und  seinem  Erbarmen  be- 
währt und  die  Sünde  aufliebt  unter  der  Bedingung,  dass  man  durch 
den  Glauben,  d.  h.  den  Gehorsam  und  die  Nachahmung,  sich  mit 
Christus  verbindet^.  In  der  nominalistischen  Schule  begegnet  die- 
selbe Ansicht  noch  bei  Gabriel  BieP.  Endlich  kommt  auch  Johann 

scharf,  hebt  aber  nicht  den  pelagianischen  Zug  hervor.  Er  spricht  von  „flacher  Auf- 
fassung der  Incarnation  und  von  Abschwächung  der  Begriffe  von  Gerechtigkeit  und 
Verdienst". 

»  A.  a.  O.  I  S.  85. 

2  Expos,  in  pass.  dorn.  (Opp.  ed.  du  Pin  III.  p.  1157. 1187. 1188):  „Per  laesae 
maiestatis  crimen  morti  es  obnoxius.  Rex  tarnen  adeo  iustus  fuerit,  quod  nee  ullo 
pacto  crimen  tuum  dimittcro  velit  ini])unitum,  altera  vero  ex  parte  tarn  benignus  et 
miscricors,  quod  proi)rium  filiuni  suuni  innocentem  doloribus  committat  et  morti, 
et  quidorn  sponte  sua,  ut  iustitiam  concordet  cum  misericordia  fiatque  criminis 
emendatio  ....  Nunquam  deus  malum  impunitum  pcrmitteret,  eaproptcr  omnia 
peccata  et  delicta  nostra  Jesu  Christo  suj)posuit.  Ideo  ipse  est  iustitia  et  redemptio 
TioMtr;i,  modo  nos  iunxerimus  ei  et  per  fidem  graiiamque  ei  adhaeserimus." 

S.Thoma8iu8,ChristiPersonu.W('rkIII,lS.24i)ff.  Seeberg, a.a.O.S.  147. 


46  2     beschichte  de«  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

Wessel  darauf  zurück/-  Ritschl  vermutliet  aber,  dass  die  Idee  des 
Strafwerthes  des  Todes  Christi,  die  vou  Athanasius  ab  sporadisch 
iiMinor  wieder  in  der  Kirche  aufgetaucht  ist,  uiclit  von  Biel  und 
Wessid  zu  den  Kelornuitoren  gehingt  sei  '. 

B.  Die  scholastische  Sacranientslehre-. 

Die  Unsicherlieit  der  8chohistiker  in  Bezug  auf  die  Erlösungs- 
lehre und  die  Beobachtung,  dass  sie  die  Behandlung  derselben  ebenso 
der  Schule  überlassen  konnten,  wie  die  Lehren  von  der  Trinität  und 
von  den  Naturen  in  Christo,  erklärt  sich  daraus,  dass  in  der  Sacraments- 
lehre  das  festgestellt  wurde,  was  der  Glaube  an  die  göttliche  Gnade 
in  Christus  bedurfte.  In  den  Sacramenten  stellt  sich  diese  Gnade  dar, 
und  speciell  im  Abendmahlssacrament  ist  sie  deutHch  und  fassbar  — 
durch  die  Transsubstantiationslehre  —  auf  die  IMenschwerdung  und 
den  Tod  Christi  zurückgeführt.  Das  genügte.  Jene  Thatsachen  bilden 
nunmehr  nur  die  V  o  r  a  u  s  s  e  t  z  u n  g  e  n ;  der  Glaube  1  e  b  t  in  der  Anschau- 
ung und  im  Genuss  der  Sacramente.  Diese  aber  sind  der  Kirche  über- 
geben und  werden  von  der  Hierarchie  (als  Diener,  Priester  und  als 
Richter)  verwaltet.  So  ist  der  Anschluss  an  Christus,  der  durch  die 
Sacramente  allein  zu  Stande  kommt,  zugleich  durch  die  Kirche  ver- 
mittelt, ja  Christus  und  die  Kirche  sind  geradezu  in  Eins  gesetzt,  so- 
fern dieselbe  Kirche,  welche  die  Sacramente  verw^altet,  auch  als  der 
mystische  Leib  Christi  mit  ihm  gleichsam  eine  mystische  Person  ist. 
Dies  ist  der  Grundgedanke  des  mittelalterlichen  Katholicismus,  der 
auch  von  den  Meisten  unter  denen  festgehalten  worden  ist,  w^elche  der 
herrschenden  Hierarchie  Opposition  gemacht  haben. 

Die  Sacramentslehre  der  Scholastiker  "svurzelt  in  der  Augustin's ; 
aber  sie  geht  weit  über  dieselbe  (formell  und  materiell)  hinaus.  Vor  Allem 
trat  im  Mittelalter  nicht  nur  der  Zusammenhang  zwischen  verbum  und 
sacramentum,  den  Augustin  so  energisch  geltend  gemacht  hatte,  sondern 
das  verbum  überhaupt  hinter  dem  sacramentalen  Zeichen  zurück.  Die 
Auffassung  wurde  noch  magischer  und  desshalb  anstössiger.  Andererseits 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  der  Katholicismus  in  seinen  sieben  Sacra- 
menten ein  pädagogisch  sehr  wirksames  und  eindrucksvolles  Institut  ge- 

*  Auf  die  Geschichte  der  Lehre  von  der  Schrift  hat  man  im  Rahmen  der 
Dogmengeschichte  nicht  einzugehen,  da  die  Lehre  sich  nicht  geändert  hat,  auch  die 
Unsicherheiten  ül)er  den  Kanon  nicht  weggeräumt  worden  sind,  und  die  geringen 
Unterschiede  in  der  Fassung-  des  luspirationsbegTifPs  nicht  ins  Gewicht  fallen.  Die 
Geschichte  des  Bibelverhots,  resp.  der  Einschränkung  des  Gebrauchs  der  Bibel 
bei  den  Laien,  aber  gehört  nicht  hierher. 

-  Münscher  §  11^8 — 152.  Hahn,  Lehre  v.  d.  Sacramenten  1864;  derselbe. 
Doctr.  romanae  de  num.  sacram.  septennario  i'ationes  bist.  1859.  Schwane,  a.  a.  O. 
S.  579—693. 


Die  Sacramentslehre.    Allgemeines.  463 

schaffen  hat,  welches  aber  in  Wahrheit  nicht  der  Heilsgewissheit  des  Ein- 
zelnen dient,  sondern  seiner  Erziehung  als  Gliedes  der  Kirche.  Und  doch 
muss  man  die  mittelalterliche  Sacramentslehre  als  die  c  o  n  s  e  q  u  e  n  t  e  Aus- 
gestaltung der  altkatholischen  Grundauffassung  betrachten,  wenigstens 
in  der  thomistischen  Form;  denn  die  Definition  der  Gnade  bei  Thomas 
(P.  III  Q.  62  Art.  1)  :  „gratia  nihil  est  aliud  quam  participata 
similitudo  divinae  naturae,  secundum  illud  II  Pet.  1:  magna 
nobis  et  pretiosa  promissa  donavit,  ut  divina  simus  consortes  natura", 
lässt  überhaupt  keine  andere  Form  der  Gnade  zu,  als  die 
magisch-sacramentale.  Augustin's  Auffassung,  die  übrigens  im 
letzten  Grunde  jene  eben  genannte  nicht  negirt,  ist  hier  zurückgedrängt 
und  kommt  nur  so  weit  in  Betracht,  als  sie  mit  der  „participata  simi- 
litudo divinae  naturae"  vermittelt  werden  kann.  Daher  die  weitere 
Zurückschiebung  des  Verbums,  welches  schon  bei  Augustin  —  obgleich 
er  das  Verdienst  hat,  es  beachtet  zu  haben  —  nicht  zu  seinem  vollen 
Rechte  gekommen  ist. 

Eine  straff  ausgebildete  Sacramentslehre  konnte  es  so  lange 
nicht  geben,  als  nicht  die  Zahl  der  Sacramente  fest  bestimmt  war. 
Hier  aber  herrschte,  da  das  Alterthum  nichts  Sicheres  überliefert  hatte, 
Jahrhunderte  hindurch  das  grösste  Schwanken  —  so  schwierig  war  es, 
etwas  zu  bestimmen,  was  nicht  schon  die  Ueberlieferung  der  alten  Zeit 
bestimmt  hatte.  Die  Sacramentslehre  hat  sich  demgemäss  unter  der 
Erschwerung  entwickelt,  dass  man  nicht  sicher  ^\^lsste,  auf  welche  hl. 
Handlungen  die  allgemeinen  Begriffe  anzuwenden  seien.  Doch  operirte 
die  Theologie  schon  längst  mit  der  Siebenzahl,  bevor  die  Kirche  sie  in 
officieller  Weise  anerkannt  hatte. 

Die  Siebenzahl  hat  sich  in  folgender  Weise  entwickelt:  Aus  dem 
kirchhchen  Alterthum  waren  als  hl.  Handlungen  im  eminenten  Sinn  nur 
Taufe  und  Abendmahl  überliefert,  die  Taufe  schloss  aber  das  Chrisma 
ein.  Dieses  konnte  man  besonders  zählen  oder  nicht.  Daneben  gab  es 
eine  unbestimmte  Menge  hl.  Handlungen,  die  ganz  verschieden  gezählt 
wurden  (die  Zählung  des  Areopagiten  war  nicht  massgebend).  Bernhard 
z.  B.  redet  von  vielen  Sacramenten  und  nennt  selbst  zelm  '.  Auch  Hugo 
v.  St.  Victor  weist  der  Taufe  und  dem  Abendmahl  eine  ganz  besondere 
Stelle  an.  Allein  gerade  er  hat  zui*  Erweiterung  des  Begriffs  beigetragen. 
Sowohl  bei  ihm'^'  nämlich  als  b(^i  Abälard"'  werden  als  die  sacramenta 
rnaiora  oder  spiritualia  die  Tiiuf(;,  Eucharistie,  Gonfimiation,  (3elung'* 

'  S.H  ahn  S.  lOBf.  und  üborhauj)!  die  ausführlichon  NaohweisungenS.79 — 133. 
'^  Suirinia  .scntciit  tract.  5-   7.  "  S.  Doutsoli,  Abälard  S.  401  \)\ 

*  b'w.  letzte  ()eiun(/  kann  unter  dem  Titel  „Sacrament"  nicht  höher  als  bis  zu 
Innocenz  1.  (ei>,  ad  Decent.)  hinaufgeführt  werden. 


464     üeschichte  des  Doormas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jalirh. 

und  Ehe  *  aufgezählt.  Wie  diese  Zusammenstelkuig  entstanden  ist,  ist 
unbekannt.  Sie  blieb  aber  in  der  Schule  Abälard's  bestehen,  d.  h.  sie 
wurde  nicht  wieder  vermindert,  sondern  nur  noch  vermehrt.  Hier  mag 
Robert  Pnllus  eingewirkt  haben  '\  der  in  seinen  Sentenzen  nicht  die  Oelung 
und  Ehe,  sondern  die  Beichte^  und  Ordination^  nel)en  den  drei  anderen 
Sacramenten  aufzählt.  Aus  der  Oondjination  dieser  Zählungen  mag  die 
Siebenzahl  der  Sacramente  entstanden  sein''.  Die  heihge  Zahl  hat  wohl 
auch  gerade  diese  Zusammenstellung  sichergestellt^.  Sie  findet  sich 
zuerst  in  dem  Sentenzenbuch  Alexander's  III.,  als  er  noch  Magister 
Rolandus  war^,  und  dann  bei  dem  Lomljarden^.  Dieser  aber  trägt  sie 
nicht  als  anerkannten  Lehrsatz  vor,  sondern  ohne  besondere  Betonung 
als  seine  Ansicht.  Auch  blieb  das  Schwanken  in  der  Folgezeit  bestehen. 
Die  Beschlüsse  der  grossen  ConciUen  von  1179  und  1215  setzen  noch 
den  Zustand  voraus,  dass  über  die  Zahl  der  Sacramente  nichts  bestimmt 
ist.  Allein  die  grossen  Scholastiker  des  13.  Jahrhunderts,  welche  vom 
Lombarden  abhängig  sind,  haben  sämmtlich  die  Siebenzahl  der  Sacra- 
mente recipirt  und  zum  Theil  auch  schon  —  wenn  auch  unter  Hervor- 
hebung der  Taufe  und  namenthch  des  Abendmahls,  welches  z.  B.  von 
Thomas  als  das  „potissimum  inter  aha  sacramenta  sacramentum"  be- 
zeichnet wird  —  ^  innerlich  zu  begründen  versucht  ^^.   Erst  zu  Florenz 


*  Die  Ehe  ist  natürlich  von  ältester  Zeit  her  auf  Grund  des  Epheserbriefs  sehr 
oft  Sacrament  genannt  worden. 

''  Sentent.  V,  22.  24;  YII,  14. 

^  Wie  allmählich  das  „Busssacrament"  entstanden  ist,  hat  unsere  ganze  Dar- 
stellung in  den  früheren  Capiteln  gezeigt;  s.  Steitz,  Das  römische  Busssacrament 
1854.  Gregor  I.  nannte  die  reconciliatio  des  Sünders  ein  Sacrament.  Seit  Petrus 
Damiani  (69.  orat.)  ist  die  Beichte  oft  so  bezeichnet  worden,  z.B.  auch  von  Beruhard. 

**  Die  Ordination  ist  seit  Augustin  sehr  häufig  „Sacrament"  genannt  worden; 
aber  auch  Fürsten  Salbungen,  Bischofsweihe,  Kirchweihe  u.  s.  w.  galten  als  Sacramente. 

^  Vorübergehend  findet  sich  auch  eine  Sechszahl.  Die  Erwägungen  über  die 
Sacramente  stehen  übrigens  im  12.  Jahrhundert  im  engsten  Zusammenhang  mit 
dem  Kampf  gegen  die  Häretiker  (Katharer).  Es  mag  sein,  dass  es  späterer  For- 
schung gelingt,  die  Fixirung  der  Siebenzahl  als  die  directe  Folge  dieses  Kampfes 
nachzuweisen. 

6S.  Hahn  S.  113  f. 

'  Denifle  i.  Archiv  f.  Litt.-  u.K.-Gesch.  d.  Mittelalters  Bd.  I  S.  437.  460.  467. 

^  Sentent.  IV  dist.  2  A.  Die  frühere  Annahme,  schon  Otto  von  Bamberg  habe 
die  Siebenzahl,  ist  widerlegt;  s.  Hahn  S.  107. 

^  P.  III  Q.  65  Art.  4:  „sacramentum  eucharistiae  est  potissimum  inter  alia 
sacramenta.  Gründe :  1)  weil  in  ihm  Christus  substantialiter  enthalten  ist,  nicht 
nur  eine  virtus  instrumentalis  participata  a  Christo,  2)  weil  alle  anderen  Sacramente 
auf  dieses  Sacrament  sicut  ad  finem  abzwecken  (dieses  wird  nun  an  jedem  einzelnen 
nachgewiesen),  3)  weil  fast  alle  sacramenta  in  eucharistia  consummantur." 

'"  L.  c.  werden  die  Sacramente  nach  ihrem  "Werth  abgestuft:  „aliorum  sacra- 


Die  Sacramentslehre.   Die  Siebenzahl.  465 

(1439)  ist  eine  sichere  kirchliche  Erklärung  über  die  Siebenzahl  der 
Sacramente  erfolgte 

mentorum  (d.  h.  die  Eucharistie  als  höchstes  Sacrament  vorweggenommen)  compa- 
ratio  ad  invicem  potest  esse  multiplex.  Nam  in  via  necessitatis  baptismus  est  potis- 
simum  sacramentorum,  in  via  autem  perfectionis  sacramentum  ordinis;  medio  autem 
modo  se  habet  sacramentum  confirmationis.  Sacramentum  vero  paenitentiae  et 
extremae  unctionis  sunt  inferioris  gradus  a  praedictis  sacramentis,  quia,  sicut  dictum 
est,  ordinantur  ad  viam  Christianam  non  per  se,  sed  quasi  per  accidens,  seil,  in  re- 
medium  supervenientis  defectus.  Inter  quae  extrema  unctio  comparatur  ad  paeni- 
tentiam,  sicut  confirmatio  ad  baptismum;  ita  seil,  quod  paenitentia  est  maioris  ne- 
cessitatis, sed  extrema  unctio  est  maioris  perfectionis."  Aber  Q.  65  Art.  1  ist  die 
Siebenzahl  ausführlich  gerechtfertigt.  Die  Sacramente  sind  eingesetzt  „adperficien- 
dum  hominem  in  his  quae  pertinent  ad  cultum  dei  secundum  religionem  Christianae 
vitae  et  in  remedium  contra  defectum  peccati.  Utroque  modo  convenienter  ponun- 
tur  VII  sacramenta.  Vita  enim  spiritualis  conformitatem  aliquam  habet  ad  vitam 
corporalem."  In  dem  körperlichen  Leben  des  Einzelnen  kommt  sein  individuelles 
Wohl  und  sein  "Wohl  als  sociales  AVesen  in  Betracht.  Dieses  wdrd  nun  scholastisch 
in  mehreren  Untertheilen  ausgeführt,  und  nun  gezeigt,  dass  im  geistlichen  Leben  die 
Taufe  die  Geburt  (Wiedergeburt)  bedeute,  die  Confirmation  das  augmentum  (robur), 
die  Eucharistie  die  Nahrung,  die  Busse  die  Heilung  bei  eingetretenen  Krankheiten, 
die  letzte  Oelung  die  Wegräumuug  der  „reliquiae  peccatorum".  Diese  5  Sacramente 
beziehen  sich  auf  das  Individuum.  Auf  den  Menschen  als  animal  sociale  auch  in 
geistlichen  Dingen  bezieht  sich  der  Ordo  und  —  die  Ehe.  Beweis :  die  potestas 
regendi  multitudinem  et  exercendi  actus  publicos  ist  im  geistlichen  Leben  nöthig, 
und  die  Ehe  besorgt  die  propagatio  tam  in  corporali  quam  in  spirituali  vita.  In 
derselben  AVeise  wird  nun  gezeigt,  dass  auch  contra  defectum  peccati  jedes  einzelne 
Sacrament  seine  Bedeutung  hat  und  die  Siebenzahl  conveniens  ist  (z.  B.  der  ordo 
contra  dissolutionem  multitudinis  und  die  Ehe  in  remedium  contra  concupiscentiam 
personalem  et  contra  defectum  multitudinis,  qui  per  mortem  accidit).  Dazu  erwähnt 
Thomas  noch  eine  andere  Betrachtung,  die  er  bei  Anderen  gefunden  hat:  „fidei 
respondet  baptismus  et  ordinatur  c.  culpam  originalem,  spei  extrema  unctio  et  or- 
dinatur  c.  culpam  venialem,  caritati  eucharistia  et  ordinatur  c.  poenalitatem  mali- 
tiae,  prudentiae  ordo  et  ordinatur  c.  ignorantiam,  iustitiae  paenitentia  et  ordinatur 
c.  peccatum  mortale,  temperantiae  matrimonium  et  ordinatur  c.  concupiscentiam, 
fortitudini  confirmatio  et  ordinatur  c,  infirmitatem."  Man  mag  diese  Versuche  be- 
lächeln ;  aber  man  wird  doch  nicht  leugnen  können,  wie  zweckmässig  diese  Zusam- 
menstellung von  7  Sacramenten  ist,  welche  das  Leben  begleiten.  Besonders  ist  die 
Einordnung  des  Ordo  einerseits,  der  Ehe  andererseits  ein  Meisterstreich  einer  viel- 
leicht unbewussten  Politik. 

'  Eugen  IV.  in  der  Bulle  „Exultate  deo«  (Mansi  XXXT  p.  1054):  „(Sacra- 
mentorum Septem  novae  legis)  quinque  prima  ad  spiritalem  uniuscuiusque  hominis 
in  se  ipso  perfectionem,  duo  ultima  ad  totius  ecclesiae  regimen  multiplicationemque 
ordinata  sunt  (ganz  nach  Thomas,  s.  oben);  per  baptismum  enim  spiritualiter  rena- 
Bcimur,  por  confirmationem  augemur  in  gratia  et  roboramur  in  (ide,  renati  autem  et 
roborati  nutrimur  divina  eucharistiae  alimonia.  Quod  si  per  peccatum  aegritudinem 
incurrimus  animae,  per  paenitentiam  spiritualiter  sanamur,  spiritualiter  etiam  etcor- 
poraliter,  prout  animae  expedit,  perextremamunctionem-,  per  ordinem  veroecclesia 
gubernatur  et  multiplicatur  spiritualiter,  per  matrimonium  corporaliter  augetur." 
H  a  I  n  a  c  k  ,  DofpfiiengeHchichte  III.  3q 


4H6     Geschichto  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeii  bis  zum  16.  Jahrh. 

Die  technische  Bearbeitung  des  Begriffs  des  Sacranients  beginnt 
bei  Hugo  v.  St.  Victor.  Er  geht  von  der  augustinischen  Definition:  „rei 
sacrae  Signum"  („invisibilis  gratiae  visibiHs  forma")  aus,  aber  sie  er- 
scheint ihm  ungenügend,  weil  zu  weit.  Er  fügt  ein  Doppeltes  hinzu: 
erstens  dass  das  Sacrament  mit  der  heiligen  Sache,  die  es  bedeute,  eine 
natürliche  Aehnlichkeit  haben  müsse ;  zweitens  dass  es  auch  Träger 
dieser  heiligen  Sache  sei  und  sie  dem  Empfänger  des  Zeichens  mit- 
theile. Daher  (de  sacram.  christ.  fid.  I,  9,  2):  „Sacramentumest  corpo- 
rale  vel  materiale  elementum  foris  sensibiliter  propositum  ex  similitudine 
repraesentans,  ex  institutione  significans  et  ex  sanctificatione  con- 
tinens  aliquam  invisibilem  et  spiritalem  gratiam",  oder 
(Summa  tract.  TV,  1) :  „sacramentum  est  visibilis  forma  invisibilis  gratiae 
ineocollatae,  quam  seil,  confert  ipsum  sacramentum,nonenim 
est  solummodo  sacrae  rei  signum  sed  etiam  efficacia."  Das  Sacrament 
hat  ferner  von  der  Natur  die  similitudo,  durch  die  Einsetzung  die  signi- 
ficatio,  die  efficacia  durch  das  Weihewort  des  Priesters,  oder  die  erste 
vom  Schöpfer,  die  zweite  von  Christus  ^  und  die  dritte  vom  Dispensator  (!). 
Dieser  „deutsche  Mystiker"  ist  mithin  der  Erste  gewesen,  der  die  ver- 
derbliche Definition  fixirt  hat,  welche  das  Sacrament  so  traurig  ver- 
äusserlichte  und  das  verbum  elimirte.  Die  augustinische  Unterscheidung, 
von  sacramentum  und  dem  Heilsgut  im  Sacrament  (res  sacramenti  oder 
res  cuius  sacramentum  est)  hat  Hugo  beibehalten. 

Hugo's  Definition  ging  auf  den  Lombarden  über  und  ist  in  der 
Kirche  nicht  mehr  verdrängt  worden.  Durch  sie  sind  die  Sacramente 
im  engeren  Sinn  aus  dem  Bereich  der  „Sacramentalien"  herausgehoben 
worden :  die  Sacramente  sind  nicht  nur  signa,  sondern  sie  sind  Träger 
und  causae  der  Heiligung.  Der  Lombarde  definirt  (Sent.  IV,  Dist.  1  B) : 
„Sacramentum  proprie  dicitur,  quod  ita  signum  est  gratiae  dei  et  in- 
visibilis gratiae  forma,  ut  imaginem  ipsius  gerat  et  causa  existat.  Non 
ergo  significandi  tantum  gratia  sacramenta  instituta  sunt,  sed  etiam 
sanctificandi.  Quae  enim  significandi  gratia  tantum  instituta  sunt,  solum 
signa  sunt  et  non  sacramenta,  sicut  fuerunt  sacrificia  carnalia  et  obser- 
vantiae  ceremoniales  veteris  legis."  Es  sind  aber  ferner  die  Sacramente 
„signa  data"  (non  naturalia),  nämlich  in  dem  Sinn,  dass  sie  auf  freier 
gÖttHcher  Einsetzung  beruhen.  Von  Hugo  unterscheidet  sich  der  Lom- 
barde somit  darin,  dass  er  nicht  ein  corporale  vel  materiale  elementum 
für  nothwendig  hält,  sondern  nur  irgend  ein  signum,  welches  also  auch 
in  einer  Handlung  bestehen  kann,  und  ferner  darin,  dass  er  nicht  sagt, 


'  Aber  Hugo  verzichtete  noch  darauf,  alle   Sacramente   auf  die  Einsetzung- 
Christi  zurückzuführen. 


Die  Sacramentslehre.   Wesen  der  Sacramente.  467 

die  Sacramente  enthalten  die  Gnade^  sondern  —  vorsichtiger  —  sie 
bewirken  sie  ursächlich. 

Diese  Definition  des  Lombarden  liegt  im  Allgemeinen  den  späteren 
Definitionen  zu  Grunde.  Allein  je  sicherer  sich  die  Siebenzahl  der  Sacra- 
mente einbürgerte,  desto  deutlicher  empfand  man  die  Schwierigkeit,  die 
gegebene  Definition  auf  alle  einzelnen  anzuwenden.  Daher  ist  es  nicht 
wunderbar,  dass  die  nominalistischen  Theologen  mehr  und  mehr  auf 
eine  Universaldefinition  realer  Art  verzichteten '. 

Thomas  beginnt  (III  Q.  60)  seine  Darstellung  der  Sacraments- 
lehre mit  den  Worten:  „Post  considerationem  eorum  quae  pertinentad 
mysteriaVerbi  incarnati  considerandum  est  de  ecclesiae  sacramentis, 
quae  ab  ipso  Yerbo  incarnato  efficaciam  liabent"  ^.  Damit  ist  die  un- 
vorsichtige Bestimmung  Hugo's  zurückgewiesen.  Er  lässt  nun  bis  zur 
65  Q.  die  generelle  Sacramentslehre  folgen.  Hier  ist  bemerkenswerth, 
dass  Thomas,  noch  über  den  Lombarden  hinausgehend,  die  massive 
Vorstellung  Hugo's  („continet")  abmildert.  Er  will  sogar  nicht  das 
„causa  existit"  des  Lombarden  ohne  Cautelen  gelten  lassen.  Zwar  lehnt 
er  die  Meinung  Bernhard's  u.  A.  ausdi'ücklich  ab,  dass  Gott  nur  „ad- 
hibitis  sacramentis"  wirke;  damit  käme  man  über  eine  bloss  signi- 
ficative  Bedeutung  derselben  nicht  hinaus ;  allein  dann  führt  er  aus, 
dass  man  von  den  Sacramenten  nur  „per  aliquem  modum"  sagen  könne, 
dass  sie  „gratiam  causant".  Die  causa  principalis  der  Gnade  ist  viel- 
mehr Gott,  der  da  wirkt  wie  das  Feuer  durch  seine  Wärme,  d.  h.  in 
der  Gnade  seine  eigene  Natur  mittheilt;  die  Sacramente  sind  die 
causa  instrumentalis;  diese  aber  „non  agit  per  virtutem  suae  formae 
sed  solum  per  motum  quo  movetur  a  principali  agente.  Unde  effectus 
non  assimilatur  securi,  sed  arti  quae  est  in  mente  artificis.  Et  hoc 
modo  sacramenta  novae  legis  gratiam  causant;  adhibentur  enim  ex 
divina  ordinatione  hominibus  ad  gratiam  in  eis  causandam  .  .  .  Dicen- 
dum,  quod  causa  principalis  non  proprio  potest  dici  signum  effectus 


»  Biel,  Sentent.  IV  Dist.  1  Q.  1  dub.  1  (s.  Hahn,  a.  a.  0.  S.  18  f.):  „Scien- 
dum  quod  duplex  est  definitio.  —  Una  est  oratio  exprimens  quid  rei,  aha  est  oratio 
f;xprimens  quid  nominis.  Primo  modo  nihil  defiuitur,  iiisi  sit  res  una  li.  e.  tcrminus 
significans  unam  rem  (das  ist  consequentcr  Nominalismus).  Definitione  quid  nominis 
potest  omnis  terminus  categorematicus  definiri,  (juicquid  significet  in  recto  vel  in 
obliquo.  Nam  pro  omni  nomine  possunt  poni  plura  nomina  disiincte  siguificantia 
illa,  quae  significantur  per  illud  unum  nomen  tarn  in  lecto  (juani  in  obliquo.  Ad  pro- 
positum  dicitur,  quod  sacramcntum  non  potest  definiri  primo  modo  h.  e.  defmitioiu^ 
quid  rei,  quia  saeramentum  non  est  res  una,  sed  aggregatum  ex  pluribus  .... 
sed  tantum  defmitur  definitione  quid  nominis. 

'^  Genauer  (|.  62  Art.  5:  „sa(;ramenta  novae  legis  liabent  virt,utem  ex  passione 
Christi."    Daher  ist  auch  die  incorporatio  in  Chiisto  der  ElVect  ((^.  62  Art.  1). 

30* 


468     (leschiclite  des  Doomas  im  Zeitfvlter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

licet  occulti,  etiamsi  ipsa  sit  sensibilis  et  manifesta,  sed  causa  instrumen- 
talis,  si  sit  manifesta,  potest  dici  signum  elfectus  occulti,  eo  quod  non 
solum  est  causa,  sed  etiam  quo  dämm  odo  eft'ectus,  in  quantum  movetur 
a  principali  agente.    Et  secundum  hoc  sacramenta  novae  legis  simul  sunt 
causa  et  signa,  et  inde  est  quod  sicut  communiter  dicitur:  efficiunt 
quod  figurant."     Das  „causae  et   signa"  ist  altkatholisch  gedaclit; 
aber  der  AVidersprucli  zwischen  ehier  spirituahstischen  und  einer  mas- 
siven Mystik  ist  hier  ganz  besonders  deutlich.  In  der  Folgezeit  machte 
die  Lockerung  zwischen  Gnade  und  Sacrament  im  Sinne  einer  blossen 
Zuordnung  noch  weitere  Fortschritte,  aber  nicht  desshalb,  weil  man 
für  eine  spiritualistischere  Auffassung  eintrat  (wie  Thomas)  oder  weil 
man  auf  das  „verbum"  Gewicht  legte ',  sondern  weil  der  Gottesbegritf, 
der  freihch  auch  bei  Thomas  —  nur  in  anderer  Weise  —  wirksam  war, 
nur  eine  Zusammenordnung  kraft  göttlicher  AVillkür  erlaubte.    Schon 
Bonaventura^  hatte  geleugnet,  sowohl  dass  die  Sacramente  die  Gnade 
substantialiter  enthalten,  als  auch  dass  sie  sie  causaliter  bewirken;  Gott 
habe  seine  Gnade  nicht  an  die  Sacramente  gebunden,  sondern  ex  decreto 
bestimmt,  dass  man  sie  von  dem  obersten  Arzt  Christus  „per  sacra- 
menta" schöpfen  solle.    Auf  dieser  Linie  ist  Scotus  weiter  gegangen. 
Er  definirt  das  Sacrament^  als  „signum  sensibile,  gratiam  dei  vel  efFec- 
tum  dei  gratuitum  ex  institutione  divina  efficaciter  significans,  ordinatum 
ad  salutem  hominis  viatoris".  Allein  die  zw^eideutige  Formel,  die  er  auch 
sonst  braucht:  „significans  efficaciter  effectum  dei  gratuitum",  hat  fac- 
tisch  den  Sinn,  dass  Gottes  Gnade  neben  den  Sacramenten  wirkt;  denn 
die  causa  der  Gnade  ist  ausschliesslich  der  göttliche  Wille,  diese  causa 
wird  von  dem  Sacrament  abgebildet,  indem  dasselbe  sie  begleitet 
(concomitatur).   Nicht  liegt  in  den  Sacramenten  eine  intrinseca  virtus 
supernaturaHs  "*,  sondern  (in  Sentent.  IV,  Dist.  1  Q.  5) :   „susceptio 

^  Dieses  Gewichtlegen  hätte  umgekehrt  dazu  führen  m.üssen,  eine  viel  engere 
Verbindung  zwischen  dem  Sacrament  und  der  Gnade  anzunehmen;  denn  das 
Wort  als  Wort  der  Sündenvergebung  ist  selbst  die  Gnade.  Der  Fehler  bei  Thomas 
imd  dem  Lombarden  liegt  also  nicht  darin,  dass  sie  die  Sacramente  zu  eng  mit  der 
Gnade  verbinden,  indem  sie  sie  causae  nennen  (vielmehr  ist  sogar  der  Satz  des  Hugo 
„continent  gratiam"  richtig),  sondern  der  Fehler  liegt  in  der  Bestimmung  der  Gnade 
als  „participata  similitudo  divinae  naturae"  ;  denn  eine  so  gefasste  Gnade  als  Inhalt 
oder  als  Wirkung  der  Sacramente  zu  bezeichnen,  heisst  das  Sacrament  in  ein  ma- 
gisches Mittel  verwandeln.  Man  versteht  das  relative  Recht,  welches  demgegenüber 
die  Nominalisten  hatten,  die  so  gefasste  Gnade  nur  neben  dem  Sacrament  einher- 
gehen zu  lassen ;  aber  damit  wurde  nun  die  Sicherheit  und  der  Trost  der  Gnaden- 
darbietung Gottes  schwankend. 

'^  Breviloq.  p.  VI  c.  1. 

« In  Sentent.  IV  Dist.  2  Q.  2. 

*  Darin  ist  ein  erfreulicher  Protest  gegen  das  Magische  ausgesprochen 


Die  Sacramentslehre.   Verhältniss  von  Gnade  und  Sacrament.  469 

sacramenti  est  clispositio  necessitans  ad  effectum  signatum  per  sacramen- 
tum,  non  quidem  per  aliquam  formam  intrinsecam  .  .  .  sed  tantum  per 
assistentiam  dei  causantis  illum  effectum,  non  necessario  absolute, 
sed  necessitate  respiciente  ad  potentiam  ordinatam.  Disposuit  enim 
deus  universaliter  et  de  hoc  ecclesiam  certificavit  (aber  inwie- 
fern?) *,  quod  suscipienti  tale  sacramentum  ipse  conferret  effectum 
signatum."  Ebenso  lehrten  Occam  und  Biel  ^.  Diese  Betrachtung  richtet 
sich  aber  direct  gegen  Thomas,  der  da  behauptet  hatte,  dass  in  dem 
Sacrament  selbst  innerlich  eine  „virtus  ad  inducendum  sacramentalem 
effectum"  vorhanden  sei.  Die  nominalistische  These  war  in  sich  haltlos; 
denn  sie  ist  ganz  formalistisch  und  lässt  die  concrete  Art  der  Gnaden- 
wirkung ausser  Betracht.  Von  ihr  aus  ist  eine  dreifache  Entwicke- 
lung  möglich.  Entweder  man  kehrt  zum  altkatholischen  Realismus  des 
Thomas  zurück  (dies  hat  Biel  bereits  begonnen,  und  der  spätere  Katho- 
licismus  ist  ihm  gefolgt),  oder  man  fasst  die  Sacramente  streng  als  signa 
(so  viele  mittelalterhche  Secten  und  Zwingli),  oder  man  bestimmt  den 
Inhalt  des  Gnadenwillens  Gottes  neu,  nämhch  als  Wort  des  Evange- 
liums, und  zeigt,  dass  dieses  Wort  auch  den  Inhalt  des  Sacraments 
bildet,  beide  also  zusammenfallen.  Jedenfalls  kann  darüber  kein  Zweifel 
sein,  dass  das  Motiv  der  sog.  „evangelischen"  Opposition  vieler  Secten 
und  „Vorreforaiatoren"  gegen  die  herrschende  Sacramentsvorstellung 
in  dem  consequenten  Nominahsmus  zu  suchen  ist,  sich  also  im  Grunde 
gegen  die  thomistische  Praxis  richtete.  Das  „verbum"  als  Inhalt  des 
Sacraments  und  des  göttlichen  Willens  ist  m.  W.  nicht  erkannt. 

Im  Einzelnen  gab  es  nun  noch  eine  fast  unübersehbare  Beihe  von 
Fragen  in  Bezug  auf  die  Sacramente^,  in  deren  Beantwortung,  wie  ge- 


*  Scotuß  spricht  auch  geradezu  von  einem  „pactum  dei  initum  cum  ecclesia", 
dass  er  mit  seinem  Wirken  stets  bei  den  Sacramenten  dabei  sein  wolle. 

^  Doch  bemüht  sich  Biel,  durch  künstliche  Distinctionen  über  die  Vorstellung 
von  der  blossen  Concomitaiiz  hinauszukommen  und  das  „pactum  cum  ccclcsia"  so 
zu  fassen,  dass  (lott  kraft  desselben  die  Sacramente  zu  causae  secundac  der  Gnade 
macht,  wie  ja  Alles,  was  in  der  Welt  geschieht,  durch  causae  secundac  verursacht 
ist,  die  ihre  Wirkung  an  der  causa  prima  haben;  s.  Di  eckhoff,  Ev.  Abcudmahls- 
lehre  S.  219. 

•  Hahn  hat  folgende  Hauptfragen  unterschieden:  der  Begriff,  dicNothwendig- 
keit,  die  Zweckmässigkeit,  die  Verschiedenheit  in  den  verschiedenen  Perioden  der 
Menschheit,  der  Begriff'  der  neutestameutlichen  Sacramente,  die  Bestandtheile, 
die  Einsetzung,  der  Minister  der  einzelnen  Sacramente,  die  Bedingungen,  unter 
denen  die  Sacramente  zu  Stande  kommen,  die  Wirkung  (der  character  indelebilis, 
die  Gnadenwirkung  a)  nach  ihrem  Wesen,  b)  Verhältniss  der  verschiedenen  Sacra- 
mente hinsichtlich  der  Gnadenwirkung,  c)  nähere  Bestimmung  der  Gnadenwirkung 
der  einzelnen  Sacramente),  Entstehung  und  Bedingungen  der  SE^cram entlichen 
Wirkung. 


470     Cfi-schichte  des  Dogmas  im  Zeitaltor  der  Buttolorden  bis  zum  16.  Jaliih. 

wohnlich,  die  Thomisten  und  Scotisten  verschiedener  Meinung  waren. 
Zunächst  schied  Thomas  (nach  Augustin)  scharf  zwischen  den  Sacra- 
menten  des  alten  und  neuen  Bundes.  Jene  haben  die  Gnade  nur  vor- 
gebildet, diese  causiren  sie.  Allein  schon  Bonaventura  und  dann  Scotus 
meinten,  dass  gewisse  alttestamentliche  Institutionen  (Beschneidung) 
wirkliche  Sacramente  gewesen  seien.  Doch  machte  Bonaventura  noch 
den  Unterschied,  dass  nur  die  neutestamentlichen  per  se  wirksam  ge- 
wesen seien  (die  alttestamentlichen  nur  „per  accidens",  d.  h.  vermittelst 
des  hinzukommenden  Glaubens ! !)  \  während  Scotus  die  Beschneidung 
für  ein  ex  opere  operato  (effectu  passionis  Christi)  wirksames  Sacrament 
erklärte.  Allein  auf  dem  Florentiner  Concil  wurde  Thomas  Recht  ge- 
geben '" :  „novae legis  sacramenta  multum  a  sacramentis  differunt  antiquae 
legis.  lila  enim  non  causabant  gratiam,  sed  eam  solum  per  passionem 
Christi  dandam  esse  figurabant,  haec  vero  nostra  et  continent 
gratiam  et  ipsam  digne  suscipientibus  conferunt"  (voller  Rückgang 
zu  Hugo  und  Thomas). 

Im  Folgenden  sind  die  Hauptpunkte  der  thomistischen  Lelire  dar- 
gestellt, weil  diese  schHesslich  die  Oberhand  behalten  hat : 

In  genere  sind  die  Sacramente  überhaupt  zum  Heil  nothwendig, 
aber  in  specie  gilt  das  im  strengsten  Sinn  nur  von  der  Taufe.  Die  an- 
deren Sacramente  fallen  theils  unter  die  Regel  „non  defectus  sed  con- 


^  Auch  Thomas  macht  in  sentent.  IV  Dist.  2  Q.  1  Art.  4  diese  Unterscheidung, 
und  zwar  findet  sich  hier  der  Ausdruck  „ex  opere  operato",  den  man  an  der  paral- 
lelen Stelle  in  der  Summe  vergeblich  sucht,  obgleich  er  (Q.  61  Art.  IV  und  sonst) 
die  Sache  hat.  Im  Commentar  zum  Lombarden  heisst  es:  „Sacramenta  veteris  legis 
non  habebant  aliquam  efficaciam  ex  opere  operato  sed  solum  ex  fide;  non  autem 
ita  est  de  sacramentis  novae  legis,  quae  ex  opere  operato  gratiam  conferunt."  lieber 
den  Ausdruck  „ex  opere  operato"  s.  R.-Encykl.  ^  XIII  S,  277  f.  Er  war  schon  im 
12.  Jahrhundert  (nicht  beim  Lombarden)  im  Gebrauch,  bevor  man  ilm  auf  die  Sa- 
cramente anwandte.  Im  Unterschied  von  dem  Ausdruck  „ex  opere  operantis  oder 
operanti"  besagt  er,  dass  die  Handlung  als  solche  gemeint  ist,  nicht  der 
Handelnde.  Ein  Effect  ex  opere  operato  ist  somit  ein  solcher  Effect,  der  ledig- 
lich aus  der  vollzogenen  Handlung  selbst  hervorgeht,  unabhängig  von  jeder  Mit- 
wirkung dessen,  der  die  Handlung  vollzieht  oder  dem  sie  zu  Gut  kommt.  Peter  von 
Poitiers  soll  zuerst  in  der  Sacramentslehre  den  terminus  gebraucht  haben  (er  fügt 
noch  „ut  liceat  uti")  hinzu.  "Wilhelm  von  Auxerre  sagt:  „opus  operans  est  ipsa 
actio  (oblatio)  vituli,  opus  operatum  est  ipsa  caro  vituli  sc.  ipsum  oblatum,  ipsa  caro 
Christi."  Dazu  Albertus  M.  zu  .loh.  6,  29:  „Dixerunt  antiqui  dicentes,  quod  est 
opus  operans  et  opus  operatum.  Opus  operans  est,  quod  est  in  operante  virtutis 
opus  vel  a  \drtute  elicitum  vel  quod  est  essentialis  actus  virtutis,  et  sine  illo  nihil 
valet  virtus  ad  salutem.  Opus  autem  operatum  est  extrinsecum  factum  quod  apothe- 
lesma  vocant  saneti,  sicut  operatum  legis  est  sacrificium  factum  vel  circumcisio  facta 
vel  tale  aliquid." 

«MansiXXXIp.  1054, 


Die  thomistische  Sacrameutslehre.    Wirkung  der  Sacramentc.  47 1 

temptus  damnat",  theils  sind  sie  nur  unter  bestimmten  Verhältnissen 
nothwendig  (ordo,  Ehe,  extrema  unctio,  auch  das  Busssacrament).  Die 
Verlegenheit,  welche  sich  hier  ergieht,  erscheint  aber  noch  grösser, 
wenn  die  Sacramente  nach  ihrem  Effect  betrachtet  werden.  Hier  er- 
giebt  sich  nänüich,  dass  sie  nach  der  augustinischen  Unterscheidung  von 
sacramentum  und  res  sacramenti  sämmtlich  einen  dreifachen  Effect 
haben  müssten,  nämhch  erstlich  einen  signiiicativen  (sacramentum), 
zweitens  einen  (gemessen  an  dem  realen  Heilsgut  der  Gnade)  neutralen 
resp.  präparatorischen  (sacramentum  et  res)  —  Augustin  hat  ihn  cha- 
racter  genannt  und  mit  der  corporalis  nota  mihtiae  verghchen  —  und 
drittens  einen  heilsmässigen  (res  sacramenti).  Diese  Unterscheidung 
hat  nun  auch  Thomas  befolgt.  Er  weist  nach,  dass  die,  welche  zum 
Dienst  Gottes  bestimmt  sind,  allem  zuvor  eine  gewisse  Abstempelung 
erfahren  müssen,  ^vie  die  Soldaten.  In  dieser  Abstempelung  liegt  eine 
gewisse  B  efähigung,  nämhch  zur  receptio  et  traditio  cultus  dei;  daher 
ist  der  Charakter  der  „character  Christi".  Derselbe  wird  nicht  in  die 
essentia,  sondern  in  die  potentia  der  Seele  eingepflanzt  und  ist  als  par- 
ticipatio  sacerdotii  Christi  „indelebiliter"  der  Seele  eingesenkt,  daher 
auch  nicht  Aviederholbar.  Allein  nicht  alle  Sacramente  theilen  einen 
solchen  Charakter  mit,  sondern  nur  die,  welche  den  Menschen  „ad  re- 
cipiendum  vel  tradendum  ea  quae  sunt  divini  cultus"  befähigen,  das  sind 
aber  die  Taufe,  die  Confirmation  und  der  ordo.  Die  Einwendung,  dass 
doch  alle  Sacramente  den  Menschen  „particeps  sacerdotii  Christi" 
machen,  also  einen  Charakter  ertheilen  müssten,  wird  durch  die  künst- 
liche Unterscheidung  zwischen  jener  Formel  und  der  anderen:  „depu- 
tari  ad  agendum  aliquid  vel  recipiendum  quod pertineat  ad  cultum 
sacerdotii  Christi"  (Taufe,  Ordo,  Confirmation)  beseitigt  ^  Ebenso  wird 
der  schwere  Einwurf:  „in  quolibet  sacramento  novae  legis  est  ahquid 
quod  est  res  tantum  et  aliquid  quod  est  sacramentum  tantum  et  ahquid 
quod  est  res  et  sacramentum",  also  sei  bei  jedem  Sacrament  ein  cha- 


*  P.  m  Q.  63  Art.  2 — 6;  cf.  1:  „sacramenta  novae  legis  ad  duo  ordinantur, 
vid.  ad  remedium  c.  pcccata  et  ad  p(3rficicndani  animam  in  his  quae  pcrtinent  ad 
cultum  dei  secundum  ritum  Christianae  vitae.  Quicumque  autcm  ad  aliquid  certum 
deputatur,  consuevit  ad  illud  consignari,  sicut  milites  qui  adscribebantur  ad 
militiam  antiquitus  solebant  cjuibuedarn  characteribus  corporalibus  insigniri,  co  quod 
deputabantur  ad  aliquid  corporalc,"  Davon  wird  dann  die  Anwendung  auf  das 
(ircistlichc  gemacht,  s.  Art.  2:  „sacramenta  novae  legis  characterera  imprimunt,  in 
quantum  per  ea  deputantur  homines  ad  cultum  dei  secundum  ritum  Christianae 
roligionis."  Dazu  Art.  3:  „Totus  ritus  christianae  rchgionis  derivatur  a  saccrdotio 
Christi,  et  ideo  manifestum  est,  quod  charactcr  sacramcntalis  specialiter  est  character 
Christi,  cuius  sacerdotio  configurantur  fidcles  secundum  sacramentales  characteres, 
qui  nihil  aliud  sunt  quam  quacdam  participationes  sacerdotii  Christi." 


472     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

racter  anzunehmen,  da  dieser  eben  res  et  sacramentum  sei  —  durch  die 
Auskunft  abgewiesen,  dass  das,  was  res  und  sacramentum  zugleich  sei, 
nicht  inmier  ein  character  zu  sein  brauche'.  Diese  ganze  Theorie  ist 
zu  Florenz  (1.  c.)  gebilhgt  worden:  „Inter  sacramenta  tria  sunt,  quae 
characterem  i.  e.  spirituale  (luoddam  signum  a  caeteris  distinctivum 
imprimunt  in  anima  indelebile;  unde  in  eadem  persona  non  reiterantur. 
Rehqua  vero  quattuor  characterem  non  imprimunt  et  reiterationem  ad- 
mittunt." 

Auf  die  Frage  ^Quid  sit  sacramentum"  '^^  wird  die  Antwort  gegeben: 
es  ist  1)  ein  signum,  2)  nicht  quodvis  rei  sacrae  signum,  sondern  ein 
solches  Signum  rei  sacrae,  welches  den  Menschen  heilig  macht,  3)  dieses 
„sanctificare"  ist  dreifach  zu  betrachten:  „ipsa  causa  sanctificationis 
nostrae  est  passio  Christi,  forma  sanctificationis  consistit  in  gratia  et 
virtutibus,  ultimus  finis  eins  est  vita  aeterna."  Daher  nun  die  vollstän- 
dige Definition:  „Sacramentum  est  signum  rememorativum  eins  quod 
praecessit,  seil,  passionis  Christi,  et  demonstrativum  eins  quod  in  nobis 
efficitur  per  Christi  passionem,  seil,  gratiae,  et  prognosticum  i.  e.  prae- 
nuntiativum  futurae  gloriae",  4)  muss  das  Sacrament  stets  eine  „res 
sensibilis"  sein,  da  es  dem  Wesen  des  Menschen  entspricht,  durch  die 
sensibilia  ad  intelligibilium  Cognitionen!  zu  gelangen,  5)  müssen  diese 
sensibilia  „res  determinatae"  sein,  d.  h.  Gott  muss  diese  Dinge  ausge- 
wählt und  bestimmt  haben:  „in  usu  sacramentorum  duo  possunt  con- 
siderari,  seil,  cultus  divinus  et  sanctificatio  hominis,  quorum  primum 
pertinet  ad  homines  per  comparationem  ad  deum,  secundum  autem  e 
converso  pertinet  ad  deum  per  comparationem  ad  hominem ;  non  autem 
pertinet  ad  ahquem  determinare  illud  quod  est  in  potestate  alterius,  sed 
solum  id  quod  est  in  sua  potestate,  also  —  „in  sacramentis  novae  legis, 
quibus homines sanctificantur, oportet uti rebus  ex  divina  institutione 
determinatis",  6)  ist  es  sehr  angemessen,  dass  auch  „Worte"  bei  den 
Sacramenten  gebraucht  werden,  weil  sie  eben  dadurch  dem  verbum  in- 
carnatum  „quodammodo  conformantur"  und  die  res  sacras  so  deutlicher 
abzubilden  vermögen  ^,  und  zwar  sind  7)  „verba  determinata"  nöthig, 
ebenso  wie  —  ja  noch  in  höherem  Grade  als  —  „res  sensibiles  deter- 
minatae"  nöthig  sind;  daher  „qui  corrupte  profert  verba  sacramentalia, 
sihoc  exindustriafacit,  non  videtur  intendere  facere  quod  facit 
ecclesia,  ita  non  videtur  perfici  sacramentum",  ja  auch  ein  unabsichthcher 
lapsus  linguae,  welcher  den  Sinn  der  Worte  aufhebt  (z.  B.  wenn  Einer 


*  Das  eigentliche,  wenigstens  das  ursprüngliche  Motiv  ist  hier,  die  Objectivi- 
tät  des  Sacraments  gegenüber  dem  ungläubigen  Empfang  zu  retten. 
2  Q.  60. 
'  Also  nur  darum  ist  das  Wort  beim  Sacrament  nöthig. 


Die  thomistische  Sacramentslehre.   Wesen  und  Nothwendigkeit.  473 

„in  nomine  matris"  sagt),  lässt  das  Sacrament  nicht  perfect  werden, 
ebenso  hebt  8)  jeder  Zusatz  oder  Abzug  das  Sacrament  auf,  wenn  er 
mit  der  Intention  geschieht,  einen  anderen  Ritus  einzuführen  als  den 
kirchHchen.  Es  werden  aber  die  res  sensibiles  als  die  materia,  die 
verba  als  die  forma  (aristotelisch)  des  Sacraments  bezeichnete 

Auf  die  Frage  nach  der  Nothwendigkeit  der  Sacramente  '^  wird 
1)  geantwortet,  dass  sie  aus  drei  Gründen  nothwendig  sind,  a.  ex  con- 
ditione  humanae  naturae  (der  Mensch  muss  durch  das  Körperliche  zum 
Intelhgibeln  geführt  werden),  b.  ex  statu  hominis  (medicinale  remedium 
contra  morbum  peccati),  c.  ex  studio  actionis  humanae  (der  Mensch 
hängt  nun  einmal  am  Sinnlichen,  und  es  wäre  zu  hart,  ihn  ganz  davon 
abzuziehen).  Auf  den  Einwurf  aber,  die  passio  Christi  an  sich  sei  ja  hin- 
reichend zum  Heile,  wird  die  Antwort  gegeben,  dass  die  Sacramente 
desshalb  nicht  unnütz  seien,  „quia  operantur  in  virtute  passionis 
Christi,  et  passio  Christi  quodammodo^  applicatur  homini- 
buspersacramenta".  2)  Im  Stande  der  Unschuld  hatte  der  Mensch 
die  Sacramente  weder  pro  remedio  peccati  noch  pro  perfectione  animae 
nöthig,  3)  im  Stande  der  Sünde  vor  Christus  waren  gewisse  Sacramente 
nöthig,  „quibus  honio  fidem  suam  protestaretur  de  futuro  salvatoris  ad- 
ventu",  4)  im  christlichen  Stande  sind  Sacramente  nöthig,  „quae  signi- 
ficant  ea  quae  praecesserunt  in  Christo".  Durch  diesen  AVechsel  in 
den  Sacramenten  wird  die  Unveränderlichkeit  Gottes  nicht  betroffen, 
der  wie  ein  guter  Hausvater  „pro  temporum  varietate  diversa  praecepta 
familiae  suae  proponit".  Die  Väter  wurden  erlöst  per  fidem  Christi  ven- 
turi,  wir  werden  erlöst  per  fidem  Christi  iam  nati  et  passi;  dort  han- 
delte es  sich  um  Sacramente^  „quae  fuerunt  congrua  gratiae  praefiguran- 
dae",  hier  dagegen  um  „sacramenta  congrua  gratiae  praesen- 
tialiter  demonstrandae"  *, 


*  Schon  Hugo  und  der  Lombarde  hatten  die  „AVorte"  als  die  Form  be- 
zeichnet. Kirchlich  fixirt  ist  diese  Betrachtung  ebenfalls  durch  die  Bulle  Eugeu'sIV. : 
„Haec  omnia  sacramenta  tribus  perficiuntur,  vid.  rebus  tamquam  materia,  verbis 
tamquam  forma,  et  persona  ministri  conferentis  sacramcntum  cum  intentionc  faci- 
endi (juod  facit  ecclesia." 

'  Q.  61. 

'  Man  l)eachte  dieses  Wort ;  Thomas  ist  Mystiker. 

*  Vgl.  hierzu  auch  Q.  62  Art.  6:  „Sacramenta  vetcris  legis  non  contulerunt  gra- 
tiam  iustificantcm  per  sc  ipsa  i.  e.  propria  virtute,  quia  sie  non  fuisset  necessaria 
pasßio  Christi  .  .  .  Manifestum  est,  (juod  a  ])a88ione  Christi,  quae  est  causa  humanae 
iustificationis,  convenicnter  dcrivatur  vir  tu  s  iustificativa  ad  sacra- 
menta novae  legis,  non  autem  ad  sacramenta  vetcris  legis  .  .  .  Patet,  quod  sacra- 
menta veteris  legis  non  habebant  in  se  aliquam  virtutem  qua  operarentur  ad  con- 
ferendam  gratiam  iustificantcm,  sed  solum  significabant  fidem,  per  quam  iustifica- 
bantur."* 


474     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  ßettelorden  bis  zmii  16.  Jahrli. 

Auf  die  Frage  nach  dem  Eifect  der  Sacramente  *  wird  geantwortet, 
dass  man  zwischen  gratia  und  cliaracter  zu  unterscheiden  liabe.  lieber 
letzteren  ist  schon  oben  gehandelt  worden ;  auch  über  die  Sacramente 
ids  causae  instrumentales  neben  der  causa  principalis  (G  ott)  haben  wir 
die  Ansicht  des  Thomas  (S.467)  bereits  kennen  gelernt.  Aber  Thomas 
hat  noch  genauere  Bestimmungen  über  den  Effect  gegeben.  ErstUch 
nändich  wird  (Art.  2)  festgestellt,  dass  die  sacramentale  Gnade  über 
die  gratia  virtutum  et  donorum  noch  etwas  hinzufüge,  nämlich  „quod- 
dam  divinum  auxilium  ad  consequendum  sacramenti  finem"  ^.  Zweitens 
wird  der  Satz  „sacramenta  signant  et  continent  (causant)  gratiam" 
näher  (Art.  3)  ausgeführt.  Drittens  wird  daraus  bewiesen,  dass  in  den 
Sacramenten  „quaedam  instrumentahs  virtus  ad  inducendam  gratiam, 
(]uae  est  sacramenti  effectus,  proportionata  instrumento"  enthalten  ist 
(Art.  4),  und  zwar  „in  verbis  et  rebus",  dass  sie  ex  benedictione  Christi 
et  applicatione  ministri  ad  usum  sacramentalem  stammt  und  auf  den 
agens  principalis  zurückzuführen  ist.  Viertens  wird  das  Yerhältniss  der 
sacramentalen  Gnade  zur  passio  Christi  näher  bestimmt  (Art.  5): 
„Principalis  causa  efficiens  gratiae  est  ipse  deus,  ad  quem  comparatur 
humanitas  Christi  sicut  instrumentum  coniunctum  (z.  B.  wie  die  Hand 
instr.  coniunctum  ist),  sacramentum  autem  sicut  instrumentum  separa- 
tum  (z.  B.  wie  ein  Stock).  Et  ideo  oportet,  quod  virtus  sakitifera  a 
divinitate  Christi  per  eius  humanitatem  in  ipsa  sacramenta  derivetur. 
Gratia  autem  sacramentahs  ad  duo  praecipue  ordinari  videtur,  vid.  ad 


'-  Q.  62. 

^  „Gratia  virtutum  et  donorum  sufficienter  pei-ficit  essentiam  et  potentias  aui- 
mae,  quantum  ad  generalem  ordinatiouem  actuum  animae,  sed  quantum  ad  quosdam 
effectus  speciales,  qui  requiruntur  in  vita  Chi'istiana,  requiritur  sacramentalis  gratia. 
—  Per  virtutes  et  dona  excluduntur  sufficienter  vitia  et  peccata,  quantum  ad  prae- 
sens et  futunim,  in  quantum  seil,  impeditur  homo  per  virtutes  et  dona  a  peccando ; 
sed  quantum  ad  praeterita  peccata,  quae  transeunt  actu  et  permanent  reatu,  adhi- 
betur  homini  remedium  specialiter  per  sacramenta.  —  Ratio  sacramentalis  gratiae 
se  habet  ad  gratiam  communiter  dictam,  sicut  ratio  speciei  ad  genus,  unde  sicut 
uon  aequivoce  dicitur  animal  communiter  dictum  et  pro  homine  sumptum,  ita  non 
aequivoce  dicitur  gratia  communiter  sumpta  et  gratia  sacramentalis."  Die  prote- 
stantische Polemik  musste  hier  einsetzen  und  zeigen,  dass  die  gratia  virtutum  et  do- 
norum als  gratia  fidei  die  einzige  ist,  und  dass  die  sacramentale  Gnade  in  jedem  Sinn 
nichts  Anderes  ist  als  die  Erscheinung  der  gratia  virtutum  et  donorum,  resp.  der 
allgemeinen  und  einzigen  Gnade.  Von  dieser  heisst  es  (1.  c.) :  „gratia  secuudum  se 
considerata  perficit  essentiam  animae  in  quantum  participat  quandam  similitudi- 
nem  divini  »esse«;  et  sicut  ab  essentia  animae  fluunt  eius  potentiae,  ita  a  gratia 
fluunt  quaedam  perfectiones  ad  potentias  animae,  quae  dicimtur  virtutes  et  dona, 
quibus  potentiae  perficiuntur  in  ordine  ad  suos  actus."  Dazu  aber:  „Ordinantur 
autem  sacramenta  ad  quosdam  speciales  effectus  necessarios  in  vita  Ohristiuna.'* 


Die  thomistische  Sacramentslehre.   Der  Effect  und  die  Ursache.  475 

tollendos  clefectus  praeteritorum  peccatorum,  in  quantum  transeunt  actu 
et  remanent  reatu,  et  iterum  ad  perficiendam  animam  in  his  quae  per- 
tinent  ad  cultum  dei  secundum  religionem  vitae  Christianae.  Manifestum 
est  autem  ex  his  quae  supra  dicta  sunt,  quod  Christus  Hberavit  nos  a 
peccatis  nostris,  praecipue  per  suam  passionem  non  solum  sufficienter 
et  meritorie  sed  etiam  satisfactorie.  Simihter  etiam  per  suam  passionem 
initiavit  ritum  Christianae  rehgionis,  offerens  se  ipsum  oblationem  et 
hostiam  deo,  ut  dicitur  Ephes.  5.  Unde  manifestum  est,  quod  sacramenta 
ecclesiae  specialiter  habent  virtutem  ex  passione  Christi,  cuius  virtus 
quodammodo  nobis  copulatur  persusceptionem  sacramentorum,  in  cuius 
Signum  de  latere  Christi  pendentis  in  cruce  fliLxerunt  aqua  et  sanguis, 
quorum  unum  pertinet  ad  baptismum,  aHud  ad  eucharistiam,  quae  sunt 
potissima  sacramenta''  '. 

Auf  die  Frage  nach  der  causa  sacramentorum  (sive  per  auctori- 
tatem  sive  per  minist erium)  wird  Folgendes  geantwortet^:  1)  da  der 
interior  effectus  der  Sacramente  die  iustilicatio  ist,  so  scheint  nur  Gott 
denselben  herbeiführen  zu  können;  allein  „per  modum  ministri'^  kann 
auch  der  Mensch  (der  Priester)  causa  instrumentalis  des  Effects  sein. 
Ob  er  mehr  oder  weniger  gut  ist,  kommt  dabei  nicht  in  Betracht ;  der 
Effect  der  Sacramente  bleibt  immer  derselbe,  ja  selbst  in  Bezug  auf  die 
„Annexa",  die  Priestergebete,  macht  es  keinen  Unterschied,  wie  der 
Priester  beschaffen  ist;  denn  sie  werden  ex  parte  ecclesiae,  non  ex  parte 
singularis  personae  Gott  dargebracht.  2)  Gott  allein  ist  „institutor 
sacramentorum",  von  dem  auch  die  virtus  derselben  allein  herrührt. 
Daher  folgt :  „illa  quae  aguntur  in  sacramentis  per  homines  instituta. 


*  Ich  habe  die  ganze  Stelle  hierher  gesetzt,  weil  sie  deutlicher  als  irgend  eine 
andere  zeigt,  dass  die  katholische  Sacramentslehre  im  letzten  Grunde  nichts  Anderes 
ist,  als  eine  Verdoppelung  der  Erlösung  durch  Christus,  resp.  ein  zweiter  Bau 
über  den  ersten  Bau,  der  diesen  in  den  Boden  hinabdrückt.  Da  man  die  Gnade 
physisch  fasste,  diese  physische  Gnade  aber  nicht  dircct  an  den  Tod 
Christi  anknüpfen,  resp.  von  ihm  ableiten  konnte,  so  musste  Gott, 
dem  Erlöser,  ausser  dem  instrumentum  coniunctum  (der  Gottmensch 
Jesus)  noch  ein  weiteres  instrumentum  separatum  (die  Sacramente)  zu- 
geordnet werden.  Kann  man  dapregen  solch' ein  Verständniss  des  Lebens  und 
des  Todes  Christi  gewinnen,  dass  dieses  selbst  als  die  Gnade  und  als  das 
Sacra  ment  erscheint,  so  ist  die  Verdoppelung  unnütz.  Das  ist  der  evangelisch- 
protestantische  Standpunkt,  sollte  es  wenigstens  sein.  Freilich  ist  es  dann  nicht 
mehr  möglich,  die  Gnade  physisch  zu  fassen;  denn  in  dem  Momente  muss  sich 
die  katholische  Sacramentslehre  wieder  einstellen,  die  jedoch  eine  pure  Erfindung 
der  Menschen  ist  ohne  Anhalt  an  der  evangelischen  Geschichte.  Dies  gilt  trotz  der 
Einsetzung  des  Abendmahls  durch  Jesus ;  denn  wo  steht  es  geschrieben,  dass  die 
consccrirtcn  Elemente  „causant  et  contincnt  gratiam  ex  opcrn  operato"  ? 


476     Geschichte  des  Doß^mas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

non  sunt  de  necessitate  sacramenti,  sed  pertinent  ad  quandam  solemni- 
tatein  ...  ea  vero  quae  sunt  de  necessitate  sacramenti,  ab  ipso 
Christo  instituta  sunt,  qui  est  deus  et  homo.  Et  licet  non  sint 
oninia  tradita  in  scripturis,  habet  tanien  ea  ecclesia  ex  famihari  aposto- 
loruni  traditione,  sicut  apostohis  dicit  I  Cor.  11:  Cetera  cum  venero 
disponam"'.  Auf  den  Einwurf,  dass  die  Apostel  „vicem  dei"  auf  Erden 
geführt  hätten,  also  auch  institutores  sacranientorum  sein  koinitün,  wird 
erwiedert,  dass  es  ihnen  doch  nicht  erlaubt  gewesen  sei,  eine  andere 
Kirche  einzurichten,  ebenso  „non  licet  eis  alia  sacramenta  instituere, 
per  sacramenta  (enim)  dicitur  esse  fabricata  ecclesia  Christi".  3)  wird 
festgestellt,  dass  Christo  als  Gott  die  auctoritas  in  sacramentis  zu- 
kommt, dass  er  aber  als  Mensch  „potestatem  ministerii  principalis 
habuit  seu  excellentiae  et  operatur  meritorie  et  efficienter".  4)  wird 
nachgewiesen,  dass  Christus  diese  potestas  ministerii  (nicht  die  auctori- 
tas) anderen  Dienern  übertragen  konnte  „dando  seil,  eis  tantam  gratiae 
plenitudinem,  ut  eorum  meritum  operaretur  ad  sacramentorum  effectus, 
ut  ad  invocationem  nominum  ipsorum  sanctificarentur  sacramenta  et  ut 
ipsi  possent  sacramenta  instituere  et  sine  ritu  sacramentorum  effectum 
sacranientorum  conferre  solo  imperio".  Aber  er  hat  diese  potestas  ex- 
cellentiae den  Dienern  nicht  übertragen,  um  das  „inconveniens"  zu  ver- 
meiden, dass  nicht  viele  Häupter  in  der  Kirche  seien;  „si  tamen  com- 
municasset,  ipse  esset  caput  principaliter,  ahi  vero  secundario".  5)  wird 
gezeigt,  dass  die  Sacramente  auch  durch  schlechte  Diener  giltig  ver- 
waltet w^erden  können,  da  diese  nur  instrumentaliter  thätig  sind  und  das 
„instrumentum  non  agit  secundum  propriam  formam  aut  virtutem,  sed 
secundum  virtutem  eins  a  quo  movetur";  aber  freilich  (6)  begehen  die 
schlechten  Diener  eine  Todsünde,  wenn  sie  die  Sacramente  verwalten, 
die  indessen  nicht  auf  den  Empfänger  übergeht,  „qui  non  communicat 
cum  peccato  mali  ministri,  sed  cum  ecclesia".  7)  wird  (Art.  8  und  9)  von 
der  intentio  und  fides  des  minister  gehandelt.  Jene  braucht  er  noth- 
wendig"^,  diese  dagegen  nicht:  „sicut  non  requiritur  ad  perfectionem 


I 


^  Wenn  die  necessaria  in  sacramentis  sämmtlich  auf  den  institutor  Christus 
zurückgeführt  werden  sollen,  so  reicht  man  mit  der  Bibel  nicht  mehr  aus,  sondern 
die  Tradition  muss  angerufen  werden ;  aber  wo  ist  dann  die  Grenze? 

^  Genauer:  „Quando  aliquid  sc  habet  ad  multa,  oportet  quod  per  aliquid  deter- 
minetur  ad  unum,  si  illud  effici  debeat.  Ea  vero  quae  in  sacramentis  aguntur  pos- 
sunt  diversimode  agi,  sicut  ablutio  aquae  quae  fit  in  baptismo  potest  ordiuari  ad 
munditiam  corporalem  et  ad  ludum  et  ad  multa  alia  huiusmodi.  Et  ideo  oportet  ut 
determinetur  ad  unum,  i.  e.  ad  sacramentalem  effectum  per  inten- 
tionem  abluentis.  Et  haec  intentio  exprimitur  per  verba  quae  in  sacramentis 
dicuntur,  puta  cum  dicit:  Ego  te  baptizo  in  nomine  etc."  Eni  instrumentum  iuani- 
matum  empfängt  „loco  intentionis  motum  a  quo  movetur",  aber  ein  instrumentum 


Die  thomistische  Sacramentslehre.   Scotus  und  Andere.  477 

sacramenti  quod  minister  sit  in  caritate,  sed  possunt  etiam  peccatores 
sacramenta  conferre,  ita  non  requiritur  ad  perfectionem  sacramenti  fides 
eius,  sed  infidelis  potest  verum  sacramentum  praebere,  dummodo  cetera 
adsint,  quae  sunt  de  necessitate  sacramenti."  So  können  auch  die  Häre- 
tiker die  Sacramente  überliefern,  d.  h.  sacramentum,  non  rem  sacra- 
menti; denn  die  „potestas  ministrandi  sacramenta  pertinet  ad  spiritualem 
characterem,  qui  indelebilis  est  (confert,  sed  peccat  conferendo)". 

Diese  Lehren  des  Thomas^  die  in  trauriger  Weise  die  Rücksicht 
auf  die  fides  vermissen  lassen  ^  und  überhaupt  an  der  Frage  nach  den 
Bedingungen  des  heilsamen  Empfangs  der  Sacramente  sehr  schnell 
vorübergehen,  haben  in  der  späteren  Zeit  von  Scotus  ab  sehr  grosse 
Modificationen  erlitten^.  In  manchen  Punkten  waren  die  thomistischen 
Thesen  auch  Neuerungen  und  setzten  sich  daher  nicht  ohne  "Weiteres 
durch.  So  hat  erst  Thomas  die  Herkunft  aller  Sacramente  von  Christus 
behauptet.  Noch  Hugo  ^  und  der  Lombarde  waren  unbefangen  genüge 
mehrere  „Sacramente"  nicht  auf  ihn,  sondern  auf  die  Apostel  zurück- 
zuführen, resp.  auf  die  vorchristliche  Zeit  (Ehe),  und  sich  damit  zu  be- 
gnügen, dass  alle  Sacramente  jetzt  in  potestate  Christi  verwaltet  wer- 
den. Erst  mit  Alexander  Halesius  beginnt  eine  genauere  Untersuchung 
des  Ursprungs  der  Sacramente.  Allein  bis  Thomas  findet  sich  noch  viel 
Schwanken.  Man  zieht  sich  auf  die  allgemeine  Behauptung  der  gött- 
lichen Einsetzung  zurück  oder  lehrt  eine  „gewisse"  Einsetzung  durch 
Christus  ^,  wobei  man  bei  den  verschiedenen  Sacramenten  sehr  verschie- 
dene Verlegenheitshypothesen  machte.  Fort  und  fort  (bis  ins  16.  Jahr- 
hundert) gab  es  aber  solche,  welche  einzelne  Sacramente  ledighch  auf 
apostolische  Einsetzung  zurückführten  ^. 

Die  Hauptfragen  der  Folgezeit  waren  neben  dem  Problem,  inwie- 
weit die  Wirkung  an  das  Sacrament  gebunden  sei  (s.  oben),  die  nach 

animatum  muss  die  intentio  habon,  seil,  „faciondi  qiiod  facit  Christus  et  ecolesia". 
Allein  Thomas  stellt  sich  nun  weiter  auf  die  Seite  der  Laxen,  d.  h.  er  bestreitet, 
dass  eine  mentalis  intentio  nöthi^  sei.  Es  genügt  vielmehr,  da  der  minister  in 
loco  totius  ecclesiae  handelt,  die  in  den  saeramentalen  Worten,  die  er  spricht, 
factisch  ausgedrückte  intentio  der  Kirche,  „nisi  contrarium  exterius  exprimatur 
ex  parte  ministri  vel  recipientis  sacramentum". 

*  Daher  der  13.  Art.  der  Augustana:  „Damnant  illos,  ()ui  doccnt,  (juod  sacra- 
menta ex  opere  operato  iustificent,  nee  docent  fidem  requiri  in  usu  sacramentorum, 
quae  credit  remitti  peccata." 

'^  Doch  steht  Scotus  selbst  dem  Thomas  in  der  Sacramentslehre  recht  nah. 
'  Ueber  seine  Inconsequenzen  s.  Hahn  S.  155. 

*  S.Hahn  S.  158  fi". 

'"'  S.  H  ahn  S.  163  1".  Christus  hat  (bireli  die  IJebertragung  der  potestas  excel- 
lentiae  dio  A|)OHtf'l  lu-lahigt,  Sacramente  einzusetzen. 


478     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

dem  minister  sacramenti  und  nach  den  Bedingungen  des  heilsamen 
Empfangs.  Wohl  war  man  darin  einig,  dass  es  Sacramente  giebt,  deren 
minister  nicht  schon  durch  die  Einsetzung  Christi  vorgeschrieben  ist, 
und  dass  man  zwischen  den  Sacramenten  untersclieiden  müsse,  die  nur 
ein  getaufter  Ohrist,  ein  Priester  oder  ein  Bischof  giltig  verwalten  könne; 
allein  in  der  Anwendung  auf  jedes  einzelne  Sacrament  und  in  der  Ver- 
hiütnissbestimmung  des  minister  und  des  Empfängers  zum  Sacrament 
herrschten  grosse  Controversen  (ist  der  die  Ehe  segnende  Priester  oder 
sind  die  Brautleute  der  minister  des  Ehesacraments?  auch  in  Bezug  auf 
die  Eucharistie  u.  a.  Sacramente  wirkten  die  alten  Vorstellungen,  und 
zwar  nicht  immer  nur  bei  erklärten  Häretikern,  nach;  ferner,  über  die 
Confirmation  war  man  zweifelhaft,  ob  die  ausschliessliche  Befugniss  der 
Bischöfe  auf  göttlicher  oder  auf  kirchlicher  Bestimmung  beruhe,  wobei 
dann  die  ganze  alte  Streitfrage  wieder  auftauchte,  ob  Presbyter  und 
Bischöfe  ursprünglich  identisch  gewesen  seien,  u.  s.  w.  u.  s.  w.). 

Enschneidender  war  die  Controverse  in  Bezug  auf  die  Bedingungen 
des  heilsamen  Empfangs;  denn  hier  musste  es  sich  zeigen,  in  welches 
Verhältniss  die  beiden  Pole  der  römischen  Auffassung  vom  Christen- 
thum  zu  setzen  seien,  ob  der  Factor  des  Verdienstes  über  den 
Factor  des  Sacra ments  übergreifen  würde  oder  umgekehrt. 
Die  Entwickelung  in  der  nominahstischen  Theologie  ist  die  gewesen,  dass 
das  Verdienst  immer  mehr  die  Oberhand  behielt,  und  dass  dem  ent- 
sprechend die  Bedingungen  immer  laxer  gefasst,  zugleich  aber  die  herab- 
gesetzten Wirkungen  des  Sacraments  immer  magischer  vorgestellt 
wurden.  Im  Grunde  wurde  von  diesem  Punkte  aus  (den  Bedingungen), 
den  Thomas  nur  gestreift  hatte,  die  ganze  Sacramentslehre  wieder  con- 
trovers,  resp.  war  neu  zu  behandeln.  Die  Hauptpunkte  sind  folgende:  ^ 
1.  Alexander  Halesius  und  Thomas  hatten  zwar  nicht  von  allen 
Sacramenten  einen  Oharakter  abgeleitet,  wohl  aber  von  allen  behauptet, 
dass  sie  eine  von  der  subjectiven  Beschaffenheit  des  Empfängers  unab- 
hängige W^irkung  ausüben.  Allein  Scotus  und  die  Späteren  stellten 
dies  für  die  Busse  und  die  letzte  Oelung  in  Abrede,  indem  sie  lehrten, 
dass  diese  Sacramente  ohne  alle  Wirkung  bleiben,  wenn  sie  ohne  die 
erforderliche  Disposition  empfangen  würden. 

2.  In  älterer  Zeit  nahm  man  an,  dass  gegenüber  unwürdig  Empfangen- 
den die  Kraft  der  Sacramente  eine  verderbenbringende  werde.  Das 
stellten  die  Nominalisten  in  x^brede.  Sie  sahen  umgekehrt  in  der  wür- 
digen Disposition  und  in  dem  Charakter  bereits  eine  positive  dispositio 
ad  gratiam  und  erklärten  folgerecht,  dass  bei  den  Unwürdigen  der  heil- 


'  S.  Halm  8.  392  ff. 


Die  Sacramentslehre.   Bedingungen  des  heilsamen  Empfangs.  479 

same  Effect  ex  opere  operato  nicht  zu  Stande  komme ',  der  Zorneffect 
aber  nicht  Wirkung  des  Sacraments  sei,  sondern  aus  der  Sünde  des 
Empfangenden  stamme,  also  nicht  ex  opere  operato,  sondern  ex  opere 
operante  sei. 

3.  Dass  eine  Diposition  zum  heilsamen  Empfang  gehöre,  war  so- 
mit allgemeine  Meinung;  allein  w esshalb  sie  nöthig  sei,  darüber  war 
man  verschiedener  Ansicht.  Die  Einen  sahen  in  der  Disposition  nicht  die 
positive  Bedingung  der  sacramentalen  Gnade,  sondern  nur  die  conditio 
sine  qua  non,  d.  h.  die  Disposition  kommt  nicht  als  Würdig- 
keit in  Betracht,  vielmehr  wirken  die  Sacramente  des  neuen  Bundes 
im  Unterschied  von  denen  des  alten,  wo  die  fides  nöthig  war  (also  das 
opus  operans),  ex  opere  operato  ^.  Damit  war  nicht  die  Nothwendigkeit 
der  dispositio,  wohl  aber  ihre  causative  Bedeutung  ausgeschlossen.  Im 
vollen  Gegensatz  zu  dieser  Anschauung  steht  die  andere,  die  aber  nur 
von  Wenigen  vertreten  wurde,  dass  die  Sacramente  nur  dann  Gnade 
vermitteln  können,  wenn  die  innere  Reue  und  der  Glaube  vorhanden 
seien,  so  dass  alle  heilsmässige  Gnade  alleinige  Folge  der  bussfertigen 
Gesinnung  und  des  Glaubens  sei ;  diese  aber  würden  als  interiores  motus 
von  Gott  gewirkt,  so  dass  man  desshalb  nicht  eine  Rechtfertigung  ex 
opere  operante  anzunehmen  habe ;  die  Sacramente  declariren  nun  diese 
innere  Gottesthat,  machen  den  Menschen  über  den  Empfang  der  Gnade 
gewiss  und  stärken  den  Glauben,  dass  er  die  effective  Gnade  auf  den 
ganzen  Menschen  überleitet  und  ihm  zueignet.  Diese  Auffassung 
kommt  der  evangelischen  des  16.  Jahrhunderts  sehr  nahe  ;  aber  sie 
unterscheidet  sich  von  ihr  dadurch,  dass  die  Gnade  selbst  noch  immer 
katholisch  vorgestellt  wird  als  die  participatio  divinae  naturae,  und  dass 
demgemäss  der  Glaube  schliesslich  doch  nur  als  ein  Vorläufiges  gilt, 
d.  h.  es  ist  noch  nicht  erkannt,  dass  der  motus  fiduciae  in  deum  die 
Form  und  das  Wesen  der  Gnade  selbst  ist.   Ferner  ist  zu  beachten. 


*  Zu  Stande  kommt  also  nur  das  Sacrament  als  äusserlicher  Seelenschmuck 
(der  Ungläubige  erhält  einen  Charakter,  geniesst  den  Leib  des  Herrn,  steht  in  einer 
unauflöslichen  Ehe  u.  s.  w.),  nicht  aber  die  Gnaden  Wirkung.  Diese  tritt  aber  nach- 
träglich sofort  ein,  wenn  die  Indisposition  weicht. 

2  Der  Ausdruck  „ex  opere  operato"  hat  in  seiner  Anwendung  im  Sacrament 
Reibst  eine  Geschichte  erlebt,  die  zu  verfolgen  hier  zu  weitläufig  wäre,  s.  Schätzler, 
Die  L.  v.  d.  Wirks.  d.  Sacr.  ex  opere  operato  1860.  Jf^denfalls  ist  die  Behauptung, 
der  Ausdruck  besage  nur,  dass  die  Sacrairionte  wegen  des  von  Christus  vollbrachten 
Werkes  wirken  oder  dass  Christus  in  ilmcn  wirkt,  falsch,  d.  h.  eine  a])ologetische 
Neuerung  Möh  1er 's,  resp.  schon  einiger  Theologen  des  16.  Jahrhunderts.  Viel- 
rrifihr  ist  der  leitende  Gedanke  der  Scholastik  der  gewesen,  dass  das  Sacrament 
selbst  das  opus  oj)eratum  ist,  und  von  hier  aus  schritt  man  dazu  fort,  die  äussere 
Handlung  opus  operatum  zu  nennen,  die  innere  CJesinnuiig  i)\)UH  oj^TanH. 


480     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

dass  die  Vorstellung  rein  und  deutlich  bei  keinem  Scholastiker  aus- 
geprägt ist  *.  Nach  der  dritten  Ansicht,  die  immer  mehr  Anhänger  ge- 
wann und  immer  laxer  ausgeprägt  wurde,  ist  die  heilsame  Gnade  ein 
Product  des  Sacraments  und  des  reuevollen  Glaubens,  so  dass  das 
Sacrament  an  sich  nur  über  den  todten  Punkt  erhebt  und  einen  Keim 
setzt,  der  erst  durch  die  Cooperation  von  Reue  und  Glauben  zur  heils- 
mässigen  Wirkung  kommt.  Hier  nun  wurde  die  Frage  erst  wichtig, 
wie  denn  diese  lleue  und  dieser  Glaube  beschaffen  seien,  resp.  welches 
die  Gemüthsverfassung  sein  müsse,  die  den  Empfänger  in  den  Stand 
setzt,  die  sacramentale  Gnade  zu  ihrer  vollen  Wirkung  kommen  zu 


^  Hahn  (S.  401  f.)  nennt  als  Vertreter  dieser  Ansicht  Robert  Pulleyn,  Wil- 
helm von  Auxerro  und  Johann  Wessel,  und  als  solche,  die  diese  Ansicht  wenigstens 
in  Bezug  auf  das  Busssacrament  hegten,  eine  grosse  Reihe  von  Tlieologen,  unter 
denen  der  Lombarde,  Alexander  von  Haies,  Bonaventura  und  Heinrich  von  Gent 
angeführt  werden.  In  der  That  lehrten  diese  Männer,  dass,  wo  wahre  contritio  vor- 
handen sei,  die  Absolution  unmittelbar  von  Gott  erfolge,  nicht  erst  bei  dem  Buss- 
sacrament, welches  in  diesem  Fall  nur  declarire.  Diese  Inconsequenz  ist  in  der 
That  sehr  merkwürdig  und  zeigt,  wie  lange  evangelische  Anschauungen  nachgewirkt 
haben  gegenüber  dem  Mechanismus  des  sacramentalen  Systems  •,  so  sagt  Alexander 
von  Haies  (Summa  IV  Q.  14  M.  2  Art  1  §  3):  „Duplex  est  paenitentia;  quaedam 
quae  solummodo  consistit  in  contritione,  quaedam  quae  consistit  in  contritione,  con- 
fessione,  satisfactione ;  utraque  est  sacramentum.  Sed  primo  modo  sumpta  non 
est  sacramentum  ecclesiae,  sed  secundo  modo,  Sacramentum  paenitentiae  est  Sig- 
num et  causa  et  quantum  ad  deletionem  culpae  et  quantum  ad  deletionem  poenae. 
Contritio  enim  est  signum  et  causa  remissioni  s  peccati  et  quantum 
ad  culpam  et  quantum  ad  poenam"  (die  Hinzufügung  des  Erlasses  der  zeit- 
lichen Sündenstrafen  tritt  aber  erst  durch  das  priesterliche  Sacrament  ein).  An 
diese  Auffassung  der  Busse  hat  bekanntlich  die  Reformation  angeknüpft.  Die  aus- 
schliessliche Zusammengehörio-keit  von  fides  und  sacramentum  für  alle  Sacramente 
hat  Robert  Pulleyn  und  AVessel  betont  (Jener  Sent.  1.  octo  P.  V  c.  13 :  „quod  fides 
facit,  baptismus  ostendit;  fides  peccata  delet,  baptismus  deleta  docet,  unde  sacra- 
mentum dicitur."  VI,  61:  „Absolutio,  quae  peracta  confessione  super  paenitentem 
a  sacerdote  fit,  sacramentum  est,  quoniam  rei  sacrae  signum  est.  Et  cuius  sacrae 
rei  est  signum,  nisi  remissionis  et  absolutionis  ?  Nimirum  confitentibus  a  sacerdote 
facta  a  peccatis  absolutio  remissionem  peccatorum,  quam  antea  peperit  cordis  con- 
tritio, designat.  A  peccatis  ergo  presbyter  solvit,  non  utique  quod  peccata 
dimittat,  sed  quod  dimissa  sacramento  pandat."  Dieser,  de  commuu. 
sanct.  [edit.  Groning.  1614]  p.  817:  „Effectus  sacramentorum  sunt  secundum  dispo- 
sitionem  suscipientis  et  secundum  requisitam  illi  intentioni  dispositionem  ....  Dis- 
positio  vero  requisita  huic  sacramento,  ut  efficax  fiat,  est  fames  et  sitis  huius  vivifici 
cibi  et  potus.  Unde  quanto  minus  eum  esurit  et  sitit,  pro  tanto  minorem  etiani 
effectum  consequitur",  818:  „Semper  sacramenta  fidei  sunt  instrumenta,  tanto  sem- 
per  efficacia,  quanto  est  fides  negotiosa").  Allein  mau  hat  sich  bei  diesen  werth- 
vollen  Sätzen,  wie  oben  bemerkt,  stets  zu  erinnern,  dass  bei  näherem  Zusehen  hinter 
und  über  die  fides  eine  geheimnissvolle  gratia  gestellt  ist,  welche  jene  zu  einem 
Mittel  herabdrückt. 


Die  Sacramentslehre.   Bedingungen  des  heilsamen  Empfangs.  481 

lassen.  Zunächst  wurde  hier  allgemein  mit  Augustin  geantwortet,  der 
Empfänger  dürfe  nicht  „obicem  contrariae  cogitationis  opponere". 
Allein  welches  ist  dieser  obex  oder  dieses  impedimentum  ?  Man  er- 
wiederte,  der  Empfänger  dürfe  nicht  „cum  Actione"  das  Sacrament  em- 
pfangen. Aber  wann  ist  er  ein  Heuchler?  Die  älteren  Theologen  ver- 
langten einen  „bonus  motus  interior"  ,  d.  h.  eine  wirklich  fromme 
Gesinnung  in  Sehnsucht  nach  der  Gnade,  Reue  und  Glauben,  also,  so- 
fern jeder  bonus  motus  in  gewisser  Weise  verdienstlich  ist ,  gewisse 
Verdienste.  Der  obex  ist  hier  also  das  Fehlen  solch'  einer  positiven 
guten  Gesinnung.  So  lehrten  der  Lombarde,  Alexander,  Thomas  ^  und 
eine  grosse  Reihe  von  Theologen,  und  sie  statuirten  weiter,  dass,  da 
jedes  Verdienst  belohnt  wird,  der  Empfang  des  Sacraments  eine  doppelte 
Gnade  zur  Folge  habe,  nämlich  1)  ex  opere  operato,  2)  aber  auch  ex 
opere  operante ;  die  letztere  sei  von  der  sacramentalen  Gnade  verschie- 
den, trete  aber  stets  zu  ihr  hinzu  (exmerito  um  der  Disposition  willen  und 
grösser  oder  kleiner,  je  nach  dem  Mass  der  Disposition).  Schon  hier 
ist  also  das  Verdienst  in  bedenklicher  Weise  eingemischt.  Allein  die 
späteren  Theologen  (von  älteren  Albertus)  verlangten  nur  die  Ab- 
wesenheit einer  unfrommen  Gesinnung ;  als  obex  gilt  hier  lediglich  das 
Vorhandensein  eines  motus  contrarius  malus,  d.  h.  die  Verachtung  des 
Sacraments,  der  positive  Unglaube  oder  eine  unvergebene  Todsünde  ^. 
Sie  sagten,  dies  sei  eben  die  Würde  der  neutestamentlichen  Sacramente, 
dass  sie  keine  positive  Disposition  voraussetzen,  während  alle  andere 
Gnade  eine  solche  voraussetzen  müsse.  Daher  definirt  Scotus:  „ad 
primam  susceptionem  gratiae  (der  nicht  sacramentalen)  requiritur 
aliquis  modus  meritorius  de  congruo,  ad  secundam  autem  (der  sacra- 
mentalen) non  requiritur  nisi  voluntaria  susccptio  baptismi  et  sine 
fictione,  h.  e.  cum  intentione  suscipiendi  quod  confert  ecclesia,  et  sine 
actu  vel  voluntate  peccati  mortalis,  ita  quod  in  primo  requiritur  aliquod 
opus  intrinsecum  aliquo  modo  acceptum  tamquam  meritum  de  congruo, 
in  secundo  solum  requiritur  opus  exterius  cum  amotione  interioris  im- 
pedimcnti."  Man  sieht,  hier  ist  die  Sacramentslehre  bereits  ganz  in 
die  (pelagianische)  Justificationslehre  hineingezogen  und  ihr  untergeord- 
net, während  scheinbar  die  Kraft  des  Sacraments  gesteigert  ist,  sofern  es 
auch  dort  wirksam  sein  soll,  wo  tabula  rasa  besteht.   Allein  mit  der  ge- 


*  Tn  Sent.  IV  Dist.  4  (^.  3  Art.  2:  „Indispositus  rcputatur  et  qui  non  credit  et 
(jui  iiidevotus  accedit  ...  in  sacramentis  praeeipuc  fides  operatur  .  .  .  idco  delbctus 
fidei  speoialius  i)ertinet  ad  fictionem." 

'•*  »Sootus,  Tn  Sent.  IV  Dist.  1  Q.  0:  „Saeramentum  ex  virtute  o])eris  opei-ati 
coiifcri  gratiarn,  ita  quod  non  r('(|uiritur  i))i  })onus  motu«  interior  (|ui  mereatnr  gra- 
tiani,  fl(;d  Hulficit  quod  suscipiens  non  fionat  oluceni." 

Harnöf, k,  Dof^nengeHcliicIitc  III.  jj| 


482     (Tpschiohte,  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrli. 

steigorten  Kraft  contrastirt  der  factiscli  geringe  Heilseffect,  der  viel- 
mehr auf  die  acceptatio  nieritorum  hominis  übergelit.  Zwischen  diesen 
beiden  Ansichten  gab  es  nun  noch  eine  dritte,  welche  der  letztgenannten 
allerchngs  ganz  nahe  stellt,  hiUilig  mit  ihr  verschmolz  und  später  die 
Oberhand  erhalten  sollte ;  sie  begnügt  sich  weder  mit  der  Abwesenheit 
des  malus  motus,  noch  verlangt  sie  den  bonus  motus,  sondern  sie  for- 
dert, dass  eine  „gewisse"  Keue  dem  Sacramentsempümg  vorhergehe, 
die  nicht  aus  den  höchsten  Motiven  zu  entspringen  braucht,  sondern  aus 
niederen,  z.  B.  aus  der  Furcht  vor  Strafe  oder  dergleichen.  Diese  „Reue" 
wird  als  attritio  bezeichnet^,  und  von  ihr  wird  gesagt,  dass  das 
Sacrament,  wenn  man  sich  redlich  bemüht,  sie  zur  contritio  erheben 
könne.  Allein  Andere  gingen  nun  noch  weiter  und  lehrten,  dass  das 
Sacrament  ex  opere  operato  die  attritio  zur  contritio  um- 
setze. Nach  dieser  höchst  verbreiteten  Ansicht  kann  der  Mensch 
selig  werden,  der  sich  vor  der  Hölle  fürchtet,  wenn  ihm 
auch  sonst  jeder  innere  Zusammenhang  mit  der  christlichen  Religion 
fehlt;  er  muss  nur  das  Busssacrament  in  der  Meinung,  dass  es  ihn  vor 
der  Hölle  schützen  kann,  fleissig  brauchen.  Doch  braucht  auch  diese 
„Meinung"  kein  sicherer  Glaube  zu  sein;  er  darf  die  Wirkung  des 
Sacraments  nur  nicht  für  unmöglich  halten :  „attritio  superveniente 
sacramento  virtute  clavium  efficitur  sufficiens^. 

Eine  ganz  magische  Auffassung  vom  Sacrament  concurrirt  hier 
in  perniciöser  Weise  mit  jener  Lehre  vom  „Verdienst",  kraft  wel- 
cher Gott  per  acceptationem  das  für  voll  nimmt,  was  nur  ein  An- 
fang ist,  ja  nicht  einmal  ein  Anfang,  da  die  Motive  jener  „verdienst- 
lichen" Handlungen  religiös  neutrale  sein  können.  Wir  kommen  bei 
der  Lehre  von  der  Justification  auf  diesen  schlimmsten  Punkt,  der 
das  ganze  praktische  und  theoretische  System  des  Kathohcismus  im 

'  Scotus  hat  auf  dieses  sehr  richtig  beobachtete  Gebilde  der  gemeinen  Mensch- 
lichkeit zuerst  sein  Augenmerk  gerichtet  und  es  in  der  angegebenen  Weise  für  die 
Lehre  vom  Heil  zu  verwerthen  begonnen,  s.  Hahn  S.  413  f. 

*  Oder:  „attritus  accedit  ad  confessionem,  ex  quo  ibi  fit  contritus,  unde 
fugatur  fictio.  Et  sie  non  habet  dubium,  quia  et  sacramentum  suscipit  et  effec- 
tum  eins  seil,  remissionem  peccatorum."  Zahlreiche  Stellen  bei  Hahn,  a.  a.  0. 
Von  hier  aus  konnte  sogar  der  blosse  Entschluss  zur  Theilnahme  am  Sacrament, 
resp.die  Theilnahme  an  sich  als  etwas  anfangend -Verdienstliches  angesehen  werden, 
und  in  der  That  ist  das  schon  vom  Lombarden  ab  geschehen  und  wurde  eine  g-anz 
verbreitete  Meinung.  Ja,  wie  wenn  sich  das  Uewisseu  und  der  helle  Verstand 
gegenüber  der  Sacramentsmagie  geregt  hätte,  erklärt  der  Lombarde,  dass  die  humi- 
liatio  vor  den  sinnlichen  Materien  im  Sacramente  ein  Verdienst  begründe  (Sentent. 
IV  Dist.  1  C) :  „propter  humiliationem  (juidem,  ut  dum  homo  sensibilibus  rebus, 
quae  natura  infra  ipsum  sunt,  ex  praecepto  creatoris  se  reverendo  subicit,  ex  hac 
humilitate  et  obedientia  deo  magis  placeat  et  apud  eum  mereatur." 


Die  Sacramentslehre.   Bedingungen  des  heilsamen  Empfangs.  483 

Beginn  des  Reforinationszeitalters  beherrschte^  zurück  K  Aber  gewiss 
ist  schon  hier  deuthch,  dass  die  so  gefasste  und  so  ausmündende 
Sacramentslehre  nicht  sowohl  Trost  gewährte  als  Beschwiclitigung. 
Diese  Lehre  ist  ursprünglich  entworfen  von  der  überschwänglichen 
Vorstellung  der  participatio  divinae  naturae  aus  und  zeigt  diese 
Grundlage  noch  immer  in  den  ersten  Sätzen  ihres  Aufbaues.  Aber 
sie  endet  damit,  den  gemeinen  Menschen  in  seiner  halbschlächtigen 
Moral  und  in  seiner  unkräftigen  Frömmigkeit  zu  bestärken.  Der 
ernste  Katholik  mag  diese  Schlussfolgerungen  nicht  für  sich  in  An- 
wendung bringen,  er  mag  sich  an  den  ursprünglichen  Ansatz  halten, 
was  ihm  nicht  verwehrt  ist  —  aber  dem  Leichtsinnigen  hat  die  Kirche 
einen  breiten  Weg  gebahnt  und  eine  weite  Pforte  aufgethan.  Sie  mag 
damit  relativ  manches  Gute  wirken;  denn  ihr  System  ist  dem  Leben 
abgelauscht:  es  giebt  eine  pädagogische  Anweisung  auf  die  Frage, 
wie  man  den  nicht  völKg  Gedankenlosen,  den  nicht  völlig  Stumpf- 
sinnigen, den  nicht  völhg  in  den  irdischen  Genuss  Versunkenen 
stützen  und  in  eine  bessere  Gesellschaft  mit  besseren  Sitten  einführen 
kann;  aber  sobald  man  erwägt,  dass  es  die  christliche  Religion 
sein  soll,  um  die  es  sich  hier  handelt,  die  Religion  mit  ihrem  Ernst 
und  ihrem  Trost,  erscheint  dieses  Gebilde  aus  dem  opus  operatum, 
der  attritio  und  dem  meritum  wie  ein  Hohn  auf  alles  Heihge^. 


*  Apol.  Confess.  Aug.  13:  „Hie  damnamus  totum  populum  scholasticorum 
doctorum,  qui  docent,  quod  sacramenta  non  ponenti  obicem  conferant  gratiam 
ex  opere  operato  sine  hono  motu  utentis.  Haec  simpliciter  iudaica  opinio  est  sen- 
tire  quod  per  ceremoniam  iustificemur,  sine  bono  motu  cordis,  hoc  est,  sine  fide. 
Ex  tarnen  haec  impia  et  perniciosa  opinio  magna  auctoritate  docetur  in  toto  regno 
jjontificio.'* 

2  Ueber  die  Sacramentslehre  des  Duns  Scotus  s.  Werner,  Scotus  (1881) 
8.462 — 496,  der  nachscotistischen  Scholastik  vgl.  ebendenselben.  Die  nach- 
scotistische  Scholastik  (1883)  S.  380  ff.  Als  besonders  wichtige  Eigenthümlichkeiten 
der  scotistischen  Sacramentslehre  seien  folgende  hervorgehoben:  1)  die  Ablehnung 
der  inneren  Noth wendigkeit  der  Sacramente,  da  Gott  die  Heilsgnade  auch  ohne 
Vermittelung  jener  äusseren  Zeichen  verleihen  kann  (um  so  sicherer  wird  die 
äussere  Nothwendigkeit  auf  (Irund  der  positiven  göttlichen  Anordnung  festge- 
halten), 2)  die  Ablehnung  einer  natunioth wendigen  AVirkung  der  Medien  der  sa- 
cramentalen  Gnade,  3)  die  starke  Betoniing  dvv  Sacramente  als  notae  ecclesiae, 
4)  die  Behaujjtung,  dass  es  seit  dem  Sündenfall  ex  opere  operato  wirksame  Sacra- 
mente gegeben  habe,  5)  die  Ablehnung  der  virtus  supranaturalis  i  n  den  Sacra- 
menten,  6)  die  Ablehnung  d(^s  Satzes,  dass  der  Jntellect  Träger  des  sacramentalen 
Charakters  sei,  7)  die  Behauptung,  dass  die  Unwiederhollnirkeit  der  Taufe  nur  aus 
der  positiven  Anordnung  Gottes  abzuleiten  sei,  8)  die  Behauptung,  dass  der  reatus 
culpae  nach  dem  Act  der  Sünde  keine  reatio  realis  sei,  d.  h,  dass  in  der  Seele 
nichts  von  der  Wirkung  der  Sünde  zurückbleibt,  was  abermals  Sünde  wäre;  denn 
der  habituH  vitiosus  sei  nicht  Sünde,  da  er  auch  in  den  Gerechtfertigten  bleibe; 

81* 


484     Geschichte  des  Dof^maa  im  Zeitalter  clor  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Die  einzelnen  Sacramente.  1.  Die  Taufet  Dieses 
Sacramenf^  ist  die  Medicin  in  Bezug  auf  die  Folgen  des  Sünden- 
falls und  begründet  das  neue  Leben;  es  hat  mithin  eine  negative 
und  eine  positive  Wirkung  3.  Die  erstere,  in  der  sich  bereits  die 
gratia  als  perfectissima  *  darstellt,  bezieht  sich  auf  die  Erbsünde.  So- 
fern diese  in  der  Schuld,  der  Strafe  und  der  Concupiscenz  besteht, 
schafft  die  Taufe  dieses  Alles  mit  der  gcsammten  Sünde  weg,  d.  h. 
die  Scliuld  (Schuld  der  Erbsünde  und  der  vorher  begangenen  That- 
sünden  ohne  Ausnahme)  ^  wird  getilgt,  die  Strafe  erlassen  (und  zwar 
die  ewige  Strafe  total,  die  zeitliche,  sofern  sie  in  poenae  determinatae 
besteht,  ebenfalls;  sofern  sie  aber  in  den  Strafübeln  des  irdischen  Lebens 
zum  Ausdruck  kommt,  bleibt  sie)  und  die  Concupiscenz  wird  geord- 
net. In  dem  letzteren  Punkt  liegt  eine  Neuerung,  da  erst  in  der 
Scholastik  deutlich  zwischen  sündiger  und  unschuldiger  Concupiscenz 
unterschieden  wird.  Die  Meinung  ist  die,  dass  durch  die  Sünde  die 
sündige  Concupiscenz  als  Unordnung  der  niederen  Triebe,  resp.  als 


also  steht  nichts  vermittelnd  zwischen  dem  sündigen  Act  und  der  obligatio  ad  poe- 
nam;  die  letztere  ist  also  nur  eine  relatio  rationis  des  göttlichen  Intellects  oder 
Willens,  welche  in  dem  „Ordnerwillen"  Gottes  ihren  Grund  hat;  hiernach  richtet 
sich  die  Auffassung  vom  Busssacrament.  —  Occam  entleerte  die  Sacramente  jeg- 
lichen inneren  und  speculativen  Gehalts;  sie  haben  lediglich  eine  Bedeutung,  weil 
Gott  sie  so  angeordnet  hat;  man  weiss  aber  nicht  warum.  Auch  hier  steht  es 
so,  dass,  sobald  die  Autorität  der  Kirche  fiel,  nicht  nur  die  Sacramentslehre  in 
jedem  Sinn  wegfallen  musste  —  das  war  kein  Schade  — ,  sondern  auch  jegliche 
Lehre  von  der  Gnade;  denn  dass  eine  solche  unabhängig  von  den  Sacramenten  be- 
stehen könne,  dafür  hatte  Niemand  vorgesorgt. 

'  S.  die  ausführliche  Darstellung  des  Thomas  P.  III  Q.  66 — 71.  Schwane 
S.  605—622. 

^  Nach  allgemeiner  Ansicht  (ähnlich  schon  Tgnatius  v.  Antiochien)  hat  Christus 
bei  seiner  eigenen  Taufe  dem  Wasser  die  Weihe  und  Kraft  verliehen.  Daher  bedarf 
das  Wasser  keiner  besonderen  Weihe  mehr,  wie  die  Materie  bei  anderen  Sacra- 
menten sie  nöthig  hat. 

'  Nach  scholastischer,  aber  nicht  von  Allen  getheilter  Ansicht  ist  eine  Aus- 
tilgung der  Sünde  an  sich  möglich  ohne  Eingiessung  der  heiligmachenden  Gnade 
(so  Thomas). 

*  Gabriel  Biel  (nach  Hahn  S.  334):  „Licet  gratia  baptismalis  sit  incipientium 
et  ita  imperfecta  quantum  ad  habilitandum  ad  bonum,  tamen  quantum  ad  libe- 
randum  a  malo  habet  vim  gratiae  perfectissimae  .  .  .  restituit  perfectam  innocen- 
tiam." 

°  Dagegen :  „baptismus  non  est  institutus  ad  delendum  omuia  peccata  futura, 
sed  tamen  praeterita  et  praesentia."  Daher  die  Regel :  „baptismus  delet  quidquid 
invenit."  Diese  Scheu,  die  sündentilgeude  Taufgnade  auf  die  Zukunft  zu  beziehen, 
war  ursprünglich  aus  dem  Interesse  an  der  menschlichen  Freiheit  und  au  dem  Ernst 
der  christlichen  Moral  entsprungen.  Allein  in  der  scholastischen  Zeit  will  mau  vor- 
nehmlich das  kirchliche  Busssacrament  schützen. 


Die  Taufe.  485 

Herrschaft  derselben  über  die  höheren  Triebe  und  über  die  Actions- 
sphäre  des  Menschen,  zu  Stande  gekommen  ist,  wodurch  sich  ein 
immerwährender,  mit  einer  gewissen  Nothwendigkeit  wirkender  fomes 
peccati  entwickelt  hat.  Die  Taufe  hat  nun  die  "Wirkung,  dass  die 
Unordnung  der  Triebe  verbessert  und  der  fomes  peccati  demgemäss  er- 
mässigt  wird,  so  dass  der  Mensch  nun  im  Stande  ist,  der  Concu- 
piscenz,  die  mit  seinem  irdischen  Wesen  gesetzt  und  daher  an  sich 
unschuldig  ist,  zu  widerstehen,  resp.  sie  in  geordneten  Schranken 
zu  halten.  Diese  Betrachtung  des  natürlichen  Lebens,  die  keine 
rehgiöse  ist,  wird  uns  noch  im  nächsten  Abschnitt  (sub  C)  beschäf- 
tigen. Hier  genügt  es,  zu  constatiren,  dass,  um  die  Absolutheit  der 
negativen  Taufwirkung  als  einer  effectiven  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
der  Begriff  einer  unschuldigen  Concupiscenz  zugelassen  ist*.  Die 
positive  Wirkung  der  Taufe  ist  in  dem  Titel  sacramentum  regene- 
rationis  zusammengefasst.  Allein  während  hier  im  Allgemeinen  keine 
Veranlassung  vorlag,  über  die  altkirchliche  Fassung  hinauszugehen 
(auch  der  besondere  Zusammenhang  von  baptismus  und  fides  wird 
noch  immer  betont),  so  erhob  sich  doch  an  zwei  Punkten  ein  Bedenken. 
Ist  die  positive  Gnade  in  der  Taufe  perfectissima,  und  erhalten  auch 
die  Kinder  diese  Gnade  ebenso  vollkommen  wie  die  erwachsenen 
Täuflinge  ?  Obgleich  man  im  Allgemeinen  erklärte,  die  Taufe  sei  das 
Sacrament  der  Justification  und  der  Täufling  erhalte  durch  sie,  falls  er 
sie  nicht  schon  hat  (in  diesem  Fall  tritt  nur  eine  Vermehrung  ein),  die 
gratia  operans  et  cooperans,  so  beurtheilte  man  factisch,  namentlich  seit 


*  Lombard.,  Sentent.  II  Dist.  32  A.  B. :  „Licet  reinaneat  concupiscentia  post 
baptismum,  non  tarnen  domiuatur  et  rcgnat  sicut  ante,  immo  per  gratiam  baptismi 
mitigatur  et  minuitur,  ut  post  dominari  non  valcat,  nisi  quis  reddat  vires  hosti  eundo 
post  concupiscentias.  Nee  post  baptismum  remanet  ad  reatum,  quia  non  imputatur 
in  peccatum,  sed  tantum  poena  peccati  est,  ante  baptismum  vero  poena  est  et 
culpa  .. .  Per  gratiam  baptismi  vitium  concupiscentiae  debilitatur  atque  extenuatur, 
ita  ut  iam  non  regnet,  nisi  conscnsu  reddantur  ei  vires,  et  quia  reatus  ipsius  solvi- 
tur."  Thomas  definirt  den  fomes  (nach  dem  Sündenfall)  in  der  27.  Q.  P.  III.  als 
„rebellio  infcriorum  virium  ad  rationcm"  oder  als  „inordinata  concupiscentia  sensi- 
bilis  appetitus";  durch  die  (inadc  aber  wird  er  gescliwächt  und  verliert  den  reatus. 
Gedacht  wurde  auch  damals  noch  (s.  Augustin)  fast  ausschliesslich  an  den  Geschlechts- 
trieb und  die  Zeugung.  Auch  desshalb  kann  von  einer  Beseitigung  der  Concupiscenz 
nicht  die  Rede  sein,  und  Thomas  erklärt:  „baptismus  non  aufert  actu  infectionem, 
prout  afficit  personam,  quod  i)at(;t  ex  hoc,  quod  baptizatus  per  actum  naturac  ori- 
ginale transmittit  in  prolem."  Er  sagt  auch  P.  il,  1  (|.  74  Art.  3:  „Transit  peccatum 
originale  reatu  et  remanet  actu  (so  schroff  ist  das  später  nicht  behauptet  worden). 
Sed  talis  corruptio  fomitis  non  impedit,  quin  homo  rationabili  voluntatc  possit  re- 
primcre  singulos  motus  inordinatos  sensualitatis,  si  pracscntiat,  puta  divcrtcndo 
cogitationem  ad  alia." 


48H     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

der  Zeit  des  NoniinMlismus,  die  Taufe  doch  nur  als  Initiationssacrament 
für  die  Justitieatiou  '.  Desshalb  war  man  auch  in  steigendem  Masse  be- 
reit, den  Kindern  die  vollkommene  Ai)plication  der  Taufgnade  zuzu- 
sprechen '^,  während  man  in  älterer  Zeit  annahm,  den  Kindern  werde 
vollkommen  nur  die  Reinigung  von  der  Erbsünde  zu  Theil,  während 
die  positive  Gnade  erst  später  successive  ihnen  eingeflösst  werde  ^.  Den 
Glauben  der  Kinder  anlangend,  so  gab  es  darüber  keine  sichere  Mei- 
nung ;  die  Meisten  scheinen  angenommen  zu  haben,  dass  der  Glaube 
der  Kirche  (resp.  der  Pathen)  vicarirend  eintrete  und  dadurch  die  Heils- 
wirkung ermöglicht  werde*.  So  begründet  die  Taufe  den  Justifications- 
process  nur  oder  sie  setzt  ihn  in  habitu,  aber  nicht  in  actu  (dass  Maria 
hiervon  ausgenommen  gedacht  wurde,  versteht  sich  nach  katholischer 
Auffassung  von  selbst;  denn  ihr  konnte  durch  die  Taufe  nichts  ge- 
schenkt werden,  was  sie  nicht  schon  vor  der  Taufe  besessen  hätte)  ^. 

Die  Taufe  ist  absolut  nothwendig  (Ersatz  durch  Bluttaufe),  ver- 
leiht einen  Charakter,  ist  unwiederholbar,  ist  giltig,  wenn  sie  mit  Was- 
ser (materia)  und  mit  den  Einsetzungsworten  (forma)  ^  vollzogen  wird, 
und  wird  regelmässig  vom  Priester  gespendet.  Doch  kann  im  Nothfall 
ein  Diakon,  ja  selbst  ein  Laie  taufen.  Die  Erwägungen  über  die  Sacra- 
mentalien,  welche  die  Taufe  begleiteten,  gehören  nicht  in  die  Dogmen- 
geschichte ' ;  ebensowenig  die  secundären  Folgen  der  Taufe,  wie  z.  B. 
die  geistliche  Verwandtschaft  u.  s.  w. 

Da  die  Kirche,  besonders  vom  13.  Jahrhundert  ab,  wider  solche 

1  S.  die  Aum.  4  auf  S.  484. 

^  In  der  Regel  allerdings  mit  dem  Zusatz,  dass  der  habitus  ligatus  est  propter 
pueritiam,  dass  er  aber  ebenso  vollständig  mitgetheilt  sei,  wie  der  schlafende  Mensch 
ein  lebendiger  Mensch  ist.  So  schon  Thomas.  Auf  dem  Concil  zu  Vienne  1311  wurde 
die  Ansicht,  dass  die  Taufe  den  parvulis  sowohl  die  remissio  culpae  als  die  collatio 
gratiae  verursache  (quoad  habitum,  etsi  non  pro  illo  tempore  quoad  usum)  d.  h.  die 
gratia  informans  et  virtutes  verleihe,  für  die  sententia  probabilior  erklärt  und  ap- 
probirt  (Mansi  XXV  p.  411). 

•''  Lonibardus,  IV  Dist.  4  H:  „de  adultis,  qui  digne  recipiunt  sacramentum, 
non  ambigitur  quin  gratiam  operantem  et  cooperantem  perceperint  .  .  .  de  parvu- 
lis vero,  qui  nondum  ratione  utuntur,  quaestio  est,  an  in  baptismo  receperint  gra- 
tiam qua  ad  maiorem  venientes  aetatem  possent  velle  et  operari  bonum?  Videtur, 
quod  non  receperint,  quia  gratia  illa  Caritas  est  et  fides,  quae  voluntatem  praeparat 
et  adiuvat.  Sed  quis  dixerit,  eos  acccpisse  fidem  et  caritatem!'' 

*  Nach  Augustin  Thomas  III  Q.  68  Art.  9 ;  die  parvuli  sunt  in  utero  matris 
ecclesiae  und  werden  so  ernährt. 

^  Hier  giebt  es  grosse  Controversen,  auf  die  später  kurz  eingegangen  werden  soll. 

*  Thomas  P.  III  Q.  66  Art.  6  erklärt  (gegen  Hugo)  die  Taufe  auf  den  Namen 
Christi  allein  für  ungiltig;  doch  durften  sich  die  Apostel  eine  solche  Taufe  erlauben. 

'  S.  Schanz,  Die  Wirksamkeit  der  Sacramentalien,  Tub.  Theol.  Quartalschr. 
1886  H.  4. 


Die  Taufe.   Die  Firmung.  487 

Secten  und  Richtungen  zu  kämpfen  hatte,  welche  aus  verschiedenen 
Gründen  —  in  der  Regel  aus  Opposition  gegen  das  herrschende  Sacra- 
mentssystem,  hie  und  da  auch  gegen  das  Sacramentssystem  überhaupt 
—  das  Recht  der  Kindertaufe  bestritten  oder  die  Nothwendigkeit  der 
Taufe  überhaupt  in  Abrede  stellten,  so  war  eine  apologetisch-polemische 
Erörterung  des  Taufsacraments  nöthig.  Doch  ist  man  hier  niemals  an- 
nähernd so  ausführlich  gewesen  wie  bei  der  Darlegung  des  Abendmahls- 
sacraments  ^ 

2.  Die  Firmung ''^.  Dieses  Sacrament  hat  seine  selbständige  Exi- 
stenz lediglich  durch  die  abendländische  Praxis  bekommen,  sofern  es  nur 
der  Bischof^  verwalten  darf.  Daher  ergab  es  sich  von  selbst,  dass  es 
von  der  Taufe  abgerückt  wurde,  die  übrigens  seine  Voraussetzung  bildet* 
und  mit  der  es  die  Eigenschaft,  einen  Charakter  zu  verleihen,  also  un- 
wiederholbar  zu  sein,  theilt.  Die  Materie  ist  das  vom  Bischof  geweihte 
Chrisma,  die  Form  die  sacramentalen  Worte:  „consigno  te  etc."  Die 
Wirkung,  die  natürhch  neben  der  Taufe  entweder  nicht  sicher  ausge- 
drückt werden  kann  oder  die  Bedeutung  der  Gnadenmittheilung  in  die- 
ser beschränkt,  ist  die  Kraft  (robur)  zum  Wachsthum,  die  Stärke  zum 
Kampf  gegen  Glaubensfeinde  (militärisch),  die  Gaben  die  hl.  Geistes, 
resp.  auch  —  als  Bestandtheil  des  Justificationsprocesses  —  die  gratia 
gratum  faciens^.    Zweifel  an  diesem  Sacrament,  welches  nach  Thomas 


*  S.  die  Polemik  gegen  die  Katharer'(Moneta),  Petrobrusianer,  u.  s.  w. 

''  Thomas  P.  ni  Q.  72,  S  c  h  w  a  n  e  S.  622  -  627. 

^  Weil  nur  die  Apostel  die  Gewalt  gehabt  haben,  durch  Handauflegung  den 
hl.  Geist  zu  ertheilen. 

^  Nicht  nur  die  Voraussetzung,  „sed  est  maioris  necessitatis",  Thomas.  1.  c. 
Art.  12.  In  Bezug  auf  die  Voraussetzung  heisst  es  Art.  6:  „si  aliquis  non  baptizatus 
confirmaretur,  nihil  recij^eret." 

^  „Robur"  resp.  „potestas  ad  pugnam  spiritalem"  ist  der  Hauptbegriff;  die 
Taufe  unterscheidet  (iläubige  und  Ungläubige,  die  Firmung  Neugeborene  und  Er- 
starkte. Daneben  suchte  Thomas  (Art.  7)  die  Firmung  in  den  Justificationspro- 
cess  einzustellen,  was  freilich  übel  genug  gelang:  „datur  baptisato  spiritus  sanctus 
ad  robur  .  .  .  missio  seu  datio  spiritus  s.  non  est  nisi  cum  gratia  gratum  faciente. 
Unde  manifestum  est,  quod  gratia  gratum  faciens  confertur  in  hoc  sacramento  .  .  . 
gratiae  gratum  facientis  primus  effectus  est  remissio  culpae,  habet  tamen  et  alios 
effectus  quia  sufficit  ad  hoc  quod  promoveat  hominem  per  omnes  gradus  usque  in 
vitam  aetemam  ...  et  ideo  gratia  gratum  faciens  non  solum  datur  ad  remissionem 
culpae,  sed  ctiam  ad  augmentum  et  firmamcntum  iustitiae,  et  sie  confertur  in  hoc 
sacramento,"  Aber  dann  liess(;n  sich  Ixslicbig  viele  Sacramento  einschieben!  Die 
Zusammenfassung  der  Hauptbostimniungen  über  das  Sacrament  bei  Eugen  IV. 
(I.  c.  p.  1055),  wo  es  vom  Effect  heisst:  „datur  S.  S.  ad  robur,  ut  vid.  Christianus 
audacter  Christi  confiteatur  nomen."  Uebrigens  will  der  Papst  wissen,  dass  per 
apostolicae  sedis  dispensationem  auch  gew(')linliche  Priester  das  Sacrament  ver- 
waltet haben,  jedoch  nur  mit  Gel,  welches  ein  Bischof  geweiht  hat.  Dies  bleibt  seit- 


-188     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  Jahrh. 

„etiam  a  iion  ieiunis  clari  vel  accipi  potest"  ',  sind  nie  erloschen;  Wiclif 
hat  sie  wieder  nachdriickhch  geltend  gemacht;  denn  ein  haltbarer  Be- 
weis aus  der  Tradition  konnte  nicht  gewonnen  werden'^.  Thomas  vermag 
das  conveniens  in  den  Riten  schliesslich  nicht  anders  zu  vertheidigen  ^, 
als  durch  den  Satz:  „firmiter  tenendum  est,  quod  ordinationes  ecclesiae 
(hrigantur  secundum  sa})ientiam  Christi.  Et  propter  hoc  certum  esse 
debet,  ritus  quos  ecclesia  observat  in  hoc  et  in  aliis  sacramentis  esse 
convenientes."  Stellt  man  sich  nicht  auf  den  dogmatischen  Standpunkt, 
sondern  auf  den  praktisch-pädagogischen,  so  kann  man  die  Zweckmäs- 
sigkeit dieser  Handlung,  zumal  neben  der  Kindertaufe,  sowohl  hinsicht- 
lich der  plebs  Christiana  als  hinsichtlich  des  Bischofs,  der  auf  diese 
Weise  jedem  Gliede  seiner  Diöcese  nahe  tritt,  nicht  verkennen^. 

3.  Die  Eucharistie  ^  Am  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  stand 
nach  den  Kämpfen  des  11.  und  manchen  Unsicherheiten  des  12.  Jahr 
hunderts  die  Transsubstantiationslehre,  sowie  das,  was  von  ihr  abgeleitet 
wurde  oder  mit  ihr  zusammenhängt,  wesentlich  fest.  Das  Lateranconcil 
(s.oben  S.340)  vom  Jahr  1215  hatte  die  Entwickelung  zum  Abschluss 
gebracht  und  dem  Sacrament  die  denkbar  höchste  Stellung  verliehen. 


dem  katholische  Anschaiumg,  resp.  Praxis.  Diese  besouderc  Hcranrückimg  der  Fir- 
muDQf  au  die  Gewalt  des  Papstes  geht  auf  Thomas  zurück.  Er  hat  die  folgenschwere 
Theorie  gebildet,  dass  die  Sacramente  der  Eucharistie  und  des  Ordo  sich  auf  den 
wahren  Leib  Christi  beziehen,  die  übrigen  auf  den  mystischen  (die  Kirche).  Dess- 
halb  kommt  bei  der  Verwaltung  dieser  5  Sacramente  ausser  der  potestas  ministerii 
überhaupt  die  Jurisdictionsgewalt  der  Kirche  (bei  dem  einen  in  höherem  Masse, 
bei  dem  anderen  in  geringerem)  in  Betracht,  d.h.  der  Papst.  In  Folge  hiervon 
hat  er  bei  der  Firmung  das  Recht,  gewöhnliche  Priester  zu  delegiren ;  in  Sentent.  IV 
Dist.  7  Q.  3  A.  1:  „Sciendum  est,  quod  cum  episcopatus  non  addat  aliquid  supra 
sacerdotium  per  relationem  ad  corpus  domini  verum,  sed  solum  per  relationeni  ad 
corpus  mysticum,  papa  per  hoc  quod  est  episcoporum  summus  non  dicitur  habere 
plenitudinem  potestatis  per  relationem  ad  corpus  domini  verum,  sed  per  relationem 
ad  corpus  mysticum.  Et  quia  gratia  sacramentalis  descendit  in  corpus  mysticum  a 
capite,  ideo  omnis  operatio  in  corpus  mysticum  sacramentalis,  per  quam  gratia  da- 
tur,  dependet  ab  operatione  sacramentali  super  corpus  domini  verum,  et  ideo  solus 
sacerdos  potest  absolvere  in  loco  paenitentiali  et  baptizare  ex  officio.  Et  ideo  di- 
cendum,  quod  promovere  ad  illas  perfectiones,  quae  non  respiciunt  corpus  domini 
verum,  sed  solum  corpus  mysticum,  potesta  papa  qui  habet  plenitudinem  pontifi- 
cialis  potestatis  committi  sacerdoti." 

1  Thomas,  1.  c.  Art.  12. 

''*  Eine  Stelle  aus  Pseudoisidor  (ep.  episc.  Melchiadis)  spielte  eine  bedeutende 
Rolle,  sowie  der  falsche  Dionysius. 

'  Thomas,  1.  c. 

*  Die  Einsetzung  durch  Christus,  zuerst  von  Albertus  behauptet,  hat  selbst 
Thomas  nur  so  „bewiesen",  dass  er  erklärte,  Christus  habe  das  Sacrament  Joh.  16,7 
„promittendo"  eingesetzt. 

^  Thomas  P.  III  Q,  73—83,  Schwane  S.  628—661. 


Das  Abendmahl.  489 

sofern  es  die  Aussage  über  dasselbe  in  das  Symbol  eingerückt  hatte  ^ 
Aber  der  „häretische"  AViderspruch  hatte  diese  Aussage  nöthig  ge- 
macht. Er  ist  niemals  verstummt,  ja  in  den  Kreisen  der  kirchlichen 
Theologie  selbst  wurden  in  späterer  Zeit  Fassungen  der  Transsub- 
stantiation  aufgestellt,  welche  sie,  streng  genommen,  aufhoben. 

Auch  hier  ist  es  Thomas  gewesen,  dessen  Fassung  des  Sacra- 
ments  in  dem  Katholicismus  klassisch  geworden  ist.  Die  Modificationen, 
welche  sich  der  Nominalismus  erlaubte,  sind  untergegangen;  die  Lehre 
des  Thomas  ist  geblieben.  Thomas  hat  den  Unsicherheiten,  die  noch  der 
Lombarde  an  einigen  Punkten  zeigt  ^,  ein  Ende  gemacht,  und  er  hat 
in  vollendeter  Form  dem  Sacrament  die  dialektische  Behandlung  zu 
Theil  werden  lassen,  die  einst  so  viel  Anstoss  erregt  hatte.  Er  ver- 
mochte zuversichtlich  mit  dem  Sacrament  zu  schalten,  da  er  Realist 
war,  und  Duns  Scotus  vermochte  das  ebenfalls  (zum  Theil  in  noch  vol- 
lendeterer Form),  weil  auch  er  einer  realistischen  Erkenntnisstheorie 
huldigte.  Aber  dann  erhielt  diese  Zuversicht  einen  Stoss;  denn  die 
nominalistische  Denkweise  vermag  sich  nur  gezwungen,  resp.  gar  nicht, 
mit  der  Transsubstantiation  abzufinden.  Sie  muss  sie  entweder  fallen 
lassen  oder  für  ein  potenzirtes  Mirakel  erklären,  durch  welches  ein 
zweifach  Unmögliches  wirklich  wird. 

In  dem  Abendmahlssacrament  und  der  Lehre  von  ihm  brachte 
die  Kirche  Alles  zum  Ausdruck,  was  sie  hochschätzte,  ihre  Dogmatik, 
ihr  mystisches  Verhältniss  zu  Christus,   die  Gemeinschaft  der  Gläu- 


*  Sehr  richtig  macht  B  aur  (Vorles.  II  S.  475)  darauf  aufmerksam,  dass  Thomas 
zu  beweisen  sucht,  das  Christenthum  sei  ohne  die  Transsubstantiation  nicht  die  ab- 
solute Religion. 

^  Nur  die  Thatsache  der  conversio  stand  dem  Lombarden  fest,  nicht  aber  der 
Modus,  8.  Sentent.  IV  Dist.  IIA:  „si  quaeritur,  qualis  sit  ista  conversio,  an  formalis 
an  subsiantialis  vel  altcrius  gencris,  dcfinire  non  sufficio;  formalem  tarnen  uon  esse 
cognosco,  quia  species  rerum  quac  ante  fueraut,  rcmanent,  et  sapor  et  pondus.  Qui- 
busdam  videtur  esse  substantialis,  dicentibus  sie  substantiam  converti  in  substan- 
tiam,  ut  hacc  essentialiter  fiat  illa."  Doch  ist  das  im  Grunde  auch  die  Meinung 
des  Lombarden,  da  er  unzweideutig  lehrt  (Dist.  12  A),  dass  die  Accidcnzcn  nach 
der  Verwandelung  „sine  subiccto"  sind.  In  der  Lehre  von  der  Messe  hat  der  Lom- 
barde noch  nicht  die  Höhe  des  Realismus  erreicht-,  altkirchlichc  Vorstellungen 
wirkten  bei  ihm  noch  nach;  s.  Sentent.  IV,  Dist.  12  F:  „quaeritur,  si  quod  gerit 
sacerdos  proprio  dicatur  sacrificium  vel  immolatio,  et  si  Christus  quotidic  immolatur 
vel  semcl  tan  tum  immolatus  sitV  Ad  hoc  l)rcvitcr  dici  potest,  illud  quod  ofiertur  et 
consecratur  a  sacerdote  vocari  sacrificium  et  ol^lationom,  quia  memoria  est  et  re- 
praesentatio  sacrificii  veri  et  sanctae  immolationis  factae  in  ara  crucis.  Et  semel 
Christus  mortuus  est  in  cruce,  ibique  immolatus  est  in  semetipso,  quotidie  autem 
immolatur  in  sacramento,  quia  in  sacramcnto  recordatio  fit  illius  quod  factum 
est  semel," 


490     Geschichte  des  Dogmas  im  ?Jeitalter  der  Bettelorden  bio  zum  16.  Jabrh. 

higen,  den  Priester,  das  Opfer,  die  Wundermacht,  welche  Gott  seiner 
Kirche  gegehen,  die  Befriedigung  des  sinnlichen  Triebes  der  Fröm- 
migkeit u.  s.  w.,  nur  niclit  den  Glauben,  der  Gewissheit 
sucht  und  dem  sie  verliehen  wird.    Dies  zeigt  sich  sehr  deut-  J 

lieh  bei  der  Beschreibung  der  Wirkungen  der  Eucharistie  als  Sacra- 
ment  und  als  (3|)fer.  Das  Sacrament  wurde  allgemein  als  das  vor- 
nehmste, als  die  Sonne  unter  den  Sacramenten  u.  s.  w.  gefeiert,  weil 
hier  res  und  sacramentum  zusammenfallen  (die  Materie  wird  selbst 
zu  Christus),  weil  die  Menschwerdung   und   der  Kreuzestod   in  ihm  i 

wirksam  repräsentirt,  resp.  wiederholt  sind,  und  weil  es  sich  über  die 
Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  erstreckt.  Allein  die  Wir- 
kungen, welche  unter  dem  Titel  der  Ernährung  des  geistlichen 
Lebens  der  Seele  zusammengefasst  und  als  Incorporation  in  Christus, 
Incorporation  in  die  Kirche,  Gemeinschaft  der  Glieder  unter  einander, 
Vergebung  der  lässlichen  Sünden,  Beharren  im  Glauben,  Stärkung 
der  menschlichen  Schwachheit,  Labsal,  Vorgeschmack  und  Vorfeier 
der  himmlischen  Seligkeit,  Anbahnung  der  ewigen  Gemeinschaft  mit 
Gott  u.  s.  w.  auseinandergelegt  werden,  reichen  doch  an  die  Wirkung 
des  Busssacraments  nicht  heran.  Ebensowenig  wird  der  Eucharistie 
als  Opfer  eine  specifische  Bedeutung  beigelegt,  ja  unter  diesem  Titel 
drängt  sich  vielmehr  das  eigene  Verdienst  kräftig  vor.  Bei  dem  Mess- 
opfer bezeugt  man  seinen  Gehorsam  gegen  Gott;  wie  alles  Opfer  ist 
es  eine  Leistung,  die  einen  Lohn  beanspruchen  kann.  So  sind  hier 
alle  Wirkungen  zugleich  vom  Empfänger  abhängig.  Diese  scheinen 
in  höchster  Weise  bemessen  zu  sein,  ist  doch  das  Messopfer  eine 
stete  Erneuerung  des  Kreuzestodes;  aber  diese  stete  Wiederholung 
bezieht  sich  doch  nur  auf  die  täglichen  Sünden,  auf  die  Strafübel 
und  die  leibliche  Noth.  Wohl  greift  sie  in  ihrer  Wirkung  auch 
über  das  irdische  Leben  hinaus  —  in  praxi  wurde  die  Beziehung  des 
Messopfers  auf  die  Strafen  im  Fegefeuer  fast  die  wichtigste  — ,  allein 
es  giebt  auch  andere  Mittel,  die  schhesslich  nicht  weniger  wirksam 
sind  als  die  Messend 


*  Ueber  den  Effect  der  Eucharistie  s.  Thomas  Q.  79.  Im  1.  Art.  zeigt  er,  dass 
es  Gnade  mittheilt,  im  2.  dass  es  zum  ewigen  Leben  verhilft,  im  3.  dass  es  Tod- 
sünden nicht  tilgt,  da  es  den  geistlich  Lebendigen  gegeben  ist,  indessen  unter  Um- 
ständen eine  unbewusste  Todsünde  wegschafft,  im  4.  dass  es  die  peccata  venalia 
tilgt,  im  5.  dass  es  die  Sündenstrafe  nicht  ganz  tilgt,  sondern  nur  „secuudum  quan- 
titatem  devotionis  sumcntium",  im  6.  dass  es  die  Menschen  vor  zukünftigen  Ver- 
brechen schützt,  im  7.  dass  es  als  Sacrament  nur  den  Creniessendcn  nützt,  als  Sa- 
crificium  aber  auch  den  Zuschauern:  „In  quantum  in  hoc  sacrameuto  repraoson- 
tatur  passio  Christi,  qua  Christus  obtulit  se  hostiam  deo,  habet  rationem  sacrificii 
in  quantum  vero  in  hoc  sacramento  traditur  invisibilis  gratia  sub  visibili  specie, 


Das  Abendmahl.  491 

Die  materia  des  Sacraments  sind  Waizenbrot  ^  und  Wein^.  Ueber 
die  Zweckmässigkeit  dieser  und  zwar  dieser  doppelten  Form  ist  sehr 
eingehend  gehandelt  worden.  Die  uralte  Symbolik  der  vielen  Körner, 
die  zu  einem  Brote  werden,  wird  auch  von  den  Scholastikern  wieder- 
holt^. Die  forma  sind  die  Consecrationsworte,  die  im  Namen  Christi 
(nicht  im  Namen  des  Ministers)  gesprochen  werdend  Dabei  erklärt 
Bonaventura  das  „hoc"  als  das  Brot,  Thomas  als  die  Accidenzen 
des  Brotes  („hoc  sub  his  speciebus  contentum",  d.  h.  das,  was  hier 
vorliegt,  ist  nicht  Brot,  sondern  mein  Leib).  Die  forma  ist  aber  nicht 
nur  eine  Aufforderung  an  Gott  (Bonaventura,  Duns),  damit  er  die 
Transsubstantiation  vollziehe,  sondern  eine  effective  Kraft,  sobald  der 
Priester  die  Intention  hat,  das  Geheimniss  zu  bewirken^. 

Aber  die  schwierige  Frage  war  nun  die,  wie  hat  man  sich  die 
Transsubstantiation  zu  denken?'^  Hier  ist  nun  schon  vom  Lombarden 
1)  die  Vorstellung  einer  Neuschöpfung  des  Leibes  Christi  abgelehnt 
worden  —  denn  Christi  Leib  existirt  bereits  — ;  2)  aber  ist  von  ihm 
auch  die  Annahme  verworfen  worden,  dass  Christus  das  Brot  und  den 
Wein  zu  seinem  Leibe  mache,  so  dass  sie  zum  Sacramentum  würden, 
sei  es  durch  assumptio  sei  es  durch  Consubstanzialität;  vielmehr  sei  eine 
solche  conversio  zu  glauben,  dass  die  Substanzen  der  Elemente  in  die 
Substanzen  des  Leibes  Christi  übergegangen  seien,  die  Accidenzen  aber 
subjectlos  nachbHeben^;  was  mit  der  Substanz  der  Elemente  geschehe, 

habet  rationem  sacramenti  .  .  .  hoc  sacrificium,  quocl  est  memoriale  dominicac  pas- 
sionis,  non  habet  effectum  nisi  in  illis  qui  coniunguntur  huic  sacramento  per  fidem  et 
caritatem.  Unde  et  in  Canonc  Missae  non  oratur  pro  his  qui  sunt  extra  eeclesiam ; 
ilh's  tarnen  prodest  plus  vel  minus  secundum  modum  devotionis  eorum."  Also  die 
Messe  nützt  nur  denen,  welche  schon  fides  und  Caritas  haben,  im  Siime  eines  aug- 
mentum  fidei,  rcsp.  eines  .Strafnachlasses,  und  stets  nach  dem  Masse  ihres  Ver- 
dienstes. Die  Eucharistie  ist  das  Sacrament  und  Opfer,  welches  den  Justifications- 
process,  sofern  er  schon  begonnen  hat  und  durch  keine  Todsünde  gestört  wird, 
begleitet  und  die  höheren  Stufen  desselben  herbeiführt. 

'  Streit  über  das  gesäuerte  Brot  mit  den  Griechen. 

^  Beigemischtes  Wasser  ist  die  Regel. 

^Thomas,  Q.  74  Art.  1. 

*  Q.  78  Art.  1. 

^  Thomas,  inSentent.lV  Dist.  8  Q.2  Art.  3:  „in  verbis  praedictis  sicut  et  in 
aliis  formis  sacramentorum  est  aliqua  virtus  a  deo,  sed  haec  virtus  non  est  qualitas 
habens  esse  completum  in  natura  .  . .  sed  habet  esse  incompletum,  sicut  virtus  quae 
est  in  instrumento  ex  iiitentionc  y)rincipalis  agcTitis." 

®  Kino  traditionelle  Lehre  hatte  man  hier  üb(>r]iiiupt  nicht;  konnte  doch  für 
die  Thatsachc  der  Transsubstantiation  selbst  ein  Beweis  aus  älterer  Zeit  nicht  er- 
bracht werden.   Man  berief  sich  besonders  auf  Pscudo-Ambrosius. 

'  Sentent.  IV  Dist.  12  A:  „si  vero  quaeritur  de  accidcntibus ,  quae  rema- 
nent,  seil,  de  specicijus  et  de  sapore  et  pondere,  in  ([uo  subiccto  fundantur,  potiua 


492     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  ßettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

resp.  ob  sie  sich  auflöse  und  vernichtet  würde,  das  erklärte  der  Lom- 
barde nicht  zu  wissen.  x\lexander  Halesius  lehnt  die  Consubstanzialität 
und  die  Vernichtung  deutlich  ab  und  s})richt  von  einem  „Uebergang". 
Kr  fügt  aber  bereits  hinzu,  dass  nach  der  Verwandelung  der  ganze 
(^iiristus  gegenwärtig  sei,  sofern  per  concomitantiam  stets  die  mensch- 
liche Seele  und  die  Gottheit  Christi  dort  sei,  wo  sein  Fleisch  ist.  Das 
Fortbestehen  der  Accidenzen  ohne  Subject  erklärte  er  für  ein  Wunder  *. 
Bonaventura  hat  Gewicht  darauf  gelegt,  dass  die  conversio  sowohl  hin- 
sichtlich der  materia  als  der  forma  des  Brotes  zu  Stande  kommt  (sonst 
wäre  sie  unvollständig) ;  indessen  habe  man  bei  jener  nicht  an  die  materia 
prima  (an  die  Materie  als  der  potentia  aller  materiellen  Substanzen)  zu 
denken^.  In  Bezug  auf  die  erste  A^bendmahlsfeier  —  ihre  Behandlung  ist 
die  schwerste  crux  der  ganzen  Theorie  —  nahm  man  zwar  allgemein 
an,  dass  Christus  sich  selbst  gegessen  habe  (zum  Beispiel  und  zum 
Genuss  der  Liebe,  nicht  zur  Vervollkommnung),  aber  während  Halesius 
meinte,  Christus  habe  schon  damals  seinen  verklärten  Leib  gegessen, 
lehrte  Bonaventura  (ihm  folgte  Thomas),  Christus  habe  seinen  sterb- 
lichen Leib  genossen,  der  jedoch  als  eucharistischer  bereits  impassibiliter 
gegenwärtig  war.  An  die  Parallele  der  Schöpfung  und  Incarnation 
dachten  Alle  und  suchten  von  dort  aus  das  Geheimniss  zu  erläutern. 
Thomas  nun  hat  in  abschliessender  Form  von  den  Accidenzen  ge- 
handelt, die,  da  ihnen  das  Subject  nach  der  conversio  fehlt,  von  Gott 
als  der  causa  prima  existent  erhalten  werden  ^.  Er  hat  aber  zugleich, 
Bonaventura  folgend,  den  Grund  gelegt  zu  einer  höchst  complicirten 
Lehre  von  der  Form  aller  Materie,  welche  Duns  und  die  Nominalisten 
dann  ausgesponnen  haben.  Da  sich  nändich  das  Brot  hinsichtlich  der 
Materie  und  der  Form  verwandelt,  so  muss  beides  auch  in  dem  Trans- 
substanziirten  nachgewiesen  werden.  Da  aber  die  Seele  Christi  (Form) 


mihi  videtur  fatendum  existere  sine  subiecto,  quam  esse  in  subiecto,  quia  ibi  non 
est  substantia  nisi  corporis  et  sanguinis  dominici,  quae  non  afficitur  illis  acciden- 
tibus.  Non  enim  corpus  Christi  talem  in  se  habet  formam,  sed  qualis  in  iudicio 
apparebit.  Remanent  ergo  illa  accidentia  per  se  subsistentia  ad  mysterii  ritum,  ad 
gustus  fideique  suffragium,  quibus  corpus  Christi  habens  formam  et  naturam  suam 
tegitur." 

'  Summa  IV  Q.  38.  40. 

'■^  Eine  Sondermeinung  Bonaventura's  ist,  dass  die  Substanz  des  Brotes  zu- 
rückkehre, wenn  die  Accidenzen  zerstört  würden. 

^  Thomas  III  Q.  77.  Im  1.  Artikel  wird  die  Frage  erörtert:  „utrum  accideutia 
quae  remanent,  sint  sine  subiecto" ;  sie  wird  bejaht,  da  sie  nicht  Accidenzen  des 
Leibes  Christi  werden  können.  Im  2.  Artikel  wird  gefragt :  „utrum  quantitas  dimen- 
siva  sit  subiectum  aliorum  accidentium"  ;  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Schon  hier  beginnen  die 
logischen  Untersuchungen  über  den  Raum. 


Das  Abendmahl.  493 

nur  per  concomitantiam  präsent  erscheint,  so  muss  der  Leib  Christi  an 
sich  eine  Form  haben  ^  So  wird  Thomas  zur  Vorstelhing  einer  forma 
corporeitatis  geführt;  die  weder  mit  der  Seele  noch  mit  der  äusseren 
Gestalt  identisch  ist,  sondern  als  der  Grund  der  Qualitäten  des  Leibes 
erscheint.  Ferner  fasst  Thomas  demgemäss  die  conversio  als  Ueber- 
gang  im  strengen  Sinn  (keine  Vernichtung  =  an  nihilatio  der  Elemente)^. 
Das  Wunder  ist  insofern  mit  einem  Schöpfungswunder  identisch,  als 
dort  wie  hier  die  beiden  Zustände  nicht  durch  ein  gemeinschaftliches  Sub- 
ject  (Substanz)  verbunden  sind ;  denn  das  Fortbestehen  der  Accidenzen 
ist  kein  wirkHches  Band.  Duns  hat  diesen  Faden  fortgesponnen  und 
ist  zur  Annahme  einer  Mehrheit  von  Formen  in  der  Materie  gekommen. 
Er  brauchte  diese  Annahme,  da  er  dem  hl.  Thomas  mit  Erwägungen  zu 
Leibe  ging,  die  von  der  Voraussetzung  aus  gewonnen  sind,  dass  das 
Abendmahl  denkbarer  Weise  in  der  Zeit,  da  Christus  im  Grabe  lag,  ge- 
feiert worden  sein  könne.  Für  diesen  Fall  sei  die  thomistische  Lehre 
nicht  eingerichtet,  da  sie  eine  forma  substantialis  nur  für  den  leben- 
digen Leib  annehme.  Also  wäre  nach  Thomas  damals  nur  eine  unvoll- 
kommene Transsubstantiation  zu  Stande  gekommen,  nämlich  nur  eine 
solche  in  die  Materie  des  Leichnams.  Duns  selbst  —  zuversichtlicher  an 
die  göttliche  Allmacht  appellirend.  die  allgemeine  Möglichkeit,  dass  Gott 
Alles  verwandeln  könne  (auch  das  Materielle  in  Geistiges  und  umge- 
kehrt), voranstellend,  und  eine  qualitätslose  Materie,  die  zu  Allem  fähig 
sei,  statuirend  —  kommt  der  Fassung  der  Transsubstantiation,  dass  eine 
Substanz  vernichtet  und  eine  andere  eingesetzt  wird,  sehr  nahe.  Vor 
Allem  aber  hat  seine  These,  dass  Gott  selbst  —  wie  auf  Grund  eines  Ver- 
trages—  stets  dieConversion  bewirke,  so  dass  dieConsccrationsworte  nur 
den  Anlas  s  bilden,  bei  allen  Nominalisten  nachgewirkt.  Von  hier  aus 
aber  trat  dann  consequenter  Weise  auch  eine  Wendung  des  Verständ- 
nisses der  Transsubstantiation  in  der  Richtung  auf  die  Impanation  und 
Consubstanzialität  ein.  Denn  es  lag  nahe  anzunehmen,  dass,  wenn  die 
Gotteswirkung  den  Spruch  des  Priesters  (also  die  forma  sacramenti) 
nur  begleitet,  sie  auch  die  Elemente  (die  materia)  nur  begleitet 
(„moralische"  V'erbindung  durch  den  freien  Willen  Christi).  Diese 
Doctrin  wurde  zuerst  als  Möglichkeit  angedeutet  und  dann  als  Möglich- 
keit behauptet.   War  aber  einmal  die  Vorstellung  von  der  conversio 

*  Summa  P.  111  (^.  75  Art.  (5:  „Forma  suLsiantialis  panis  non  remanot"  (was 
ausführlich  nachf/ewios(;n  wird).  Dennoch  bezieht  «ich  das  Br(;chen  nicht  aui'  den 
Leib  Christi,  sondern  auf  die  species  sacramentalis  („corpus  Christi  non  frangitur"); 
H.  Q.  77  Art.  7. 

'^  Auch  Thiere  ^eniessen  nadi  Thomas  den  Leib  des  Herrn  (Q.  80  Ai-t.  8). 
Hf>riHventiira  will  Acv  f>pinio  honcstior  folgen,  dass  dies  nicht  geschieht. 


494     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

durch  eine  logische  Distinction  in  zwei  Acte  zerlegt,  in  den  der  annihilatio 
und  den  des  Eintretens  des  Leibes  Christi  an  die  Stelle  des  vernichteten 
Suhjects,  so  konnte  der  erste  Act  auch  wegfallen.  Das  Wunder  wird  nur 
grösser,  wenn  Substanz  neben  Substanz  steht.  Zugleich  war  nun  das 
Signal  gegeben  zu  Untersuchungen  über  den  Kaum  in  seinem  Ver- 
hiiltniss  zur  Substanz,  die  von  Scotus  ab  nicht  ohne  Früchte  für  die 
Lehre  vom  Raum  geblieben  sind.  Das  menschliche  Denken  denkt  nicht 
weiter,  ohne  ein  bestimmendes  Motiv  aus  der  praktischen  Sphäre  zu 
erhalten:  an  der  Gotteslehre  ist  die  Lehre  vom  Denken  und  vom  Willen 
erwachsen,  an  der  Trinitätslehre  die  Lehre  vom  Kosmos,  an  der  Abend- 
mahlslehre die  Lehre  vom  Kaum.  Wurde  man  schon  durch  die  Frage 
nach  dem  Yerhältniss  des  Leibes  Christi  zum  Element  auf  Raumunter- 
suchungen geführt,  so  in  noch  höherem  Masse,  sobald  man  sich  die 
Frage  stellte,  wie  sich  der  eucharistische  Leib  zu  dem  verklärten  Leibe 
Christi  im  Himmel  verhalte.  Die  spinösen  Untersuchungen  hierüber  ge- 
hören nicht  mehr  dem  Dogma  im  strengen  Sinn  an.  Da  die  Neu- 
schöpfung ausgeschlossen  war,  so  handelte  es  sich  um  die  Präsenz 
des  bereits  im  Himmel  vorhandenen  Leibes  im  Sacrament.  Da  ferner 
der  Leib  als  ganzer  gleichzeitig  in  jeder  selbständigen  Partikel  des 
geweihten  Brotes  erscheint,  so  musste  man  eine  raumlose  Gegenwart 
lehren.  Damit  hat  Thomas  begonnen^;  aber  erst  die  Nöminalisten 
haben  die  Frage  virtuos  behandelt  (besonders  Occam),  sind  jedoch  nicht 
sicher  auf  die  Lehre  von  der  Ubiquität  des  Leibes  Christi  gekommen. 
Dagegen  sind  sie  —  nämlich  Johannes  von  Paris  und  Occam  --  es  ge- 
v/esen,  welche  die  lutherische  Lehre  von  der  Realpräsenz  im  Brote 
vorweggenommen  haben  ^.   Ein  energischer  Gegner  der  Transsubstan- 


'  q.  76  Art.  3—6. 

^  Johann  von  Paris  (De  modo  existendi  corpus  Christi  etc.,  gedruckt  London 
1686)  erklärte,  dass  die  Deutung  der  Kealpräsenz  als  conversio  nicht  unter  seinen 
Glaubeu  falle,  ist  aber  zur  Revocation  bereit,  wenn  ihm  nachgewiesen  wird,  dass 
die  Kirche  (der  Papst)  sie  defiuirt  habe.  Nachdem  er  dann  die  Berengar'sche  Lehre 
abgewiesen,  da  sie  nicht  zu  einer  Idiomencommunication  des  Brotes  und  des  Leibes 
führe,  hält  er  folgende  Auffassung  für  unbedenklich  (p.  86):  „ut  substantia  pauis 
maneat  sub  accidentibus  suis  non  in  proprie  supposito,  sed  tracta  ad  esse  et  suppo- 
situm  Christi,  ut  sie  sit  unum  suppositum  in  duabus  naturis."  Die  Vorstellung  ist, 
wie  M  uns  eher  (S.  257)  richtig  entwickelt,  hier  diese,  dass  sich  das  Brot  und  der 
Leib  Christi  zu  einer  Substanz  vereinigen,  vermöge  einer  ähnlichen  Gemeinschaft 
der  Eigenschaften,  wie  man  sie  bei  Vereinigung  der  beiden  Naturen  in  Christo 
zur  Einheit  der  Person  glaubte  annehmen  zu  müssen.  Man  kann  also  auch  sagen, 
die  orthodoxe  katholische  Ansicht  vom  Abendmahl  ist  monophysitisch,  die  Beren- 
ffarische  ist  nestorianisch  und  die  des  Johann  von  Paris  ist  chalcedonensisch.  Auch 
Occam  erklärte,  dass  in  der  Schrift  darüber  nichts  stehe,  dass  die  Substanz  des 
Brotes  nicht  bleibe  (de  sacram.  alt.  5),  und  er  sagt  über  die  Auflassuuo-  der  Real- 


Das  Abendmahl.  495 

tiationslehre  war  Wiclif  (aber  auch  er  kam  über  die  Impanation  nicht 
sicher  hinaus,  und  wenn  ihn  der  Götzendienst,  der  mit  der  Hostie  ge- 
trieben wurde,  gereizt  hat,  so  waren  es  doch  auch  Yernunftgründe  — 
das  Unding  substanzloser  Accidenzen  — ,  die  ihn  zum  Widerspruch 
bewegten)  ^  Von  ihm  sind  nicht  Wenige  (aber  nicht  Hus)  '^  zum  Ab- 
fall von  der  monströsen  Lehre  bewogen  worden,  und  im  15.  Jahrhundert 
findet  man  den  Widerspruch  gegen  dieselbe  nicht  selten  ^.  Doch  blieb 
sie  die  herrschende  Anschauung;  die  Opposition  erklärter  Ketzer  konnte 
ihr  nur  günstig  sein  ^. 

präsenz,  nach  welcher  „corpus  Christi  in  eodem  loco  cum  substantia  panis  et  vini 
raanet",  sie  sei  „multum  rationalis,  nisi  esset  determinatio  ecclesiae  in  contrarium, 
quia  illa  salvat  et  vitat  omnes  difficultates  quae  secuntur  ex  separatione  accidentium 
a  subiecto"  (denn  diese  widerspricht  der  nominalistischen  Erkenntnisstheorie).  Aber 
er  zieht  sich  schliesslich  darauf  zurück,  der  Kirche  möge  wohl  die  Lehre  von  der 
conversio  offenbart  sein. 

^  Trial.  IV,  2 :  „Inter  omnes  haereses,  quae  unquam  in  ecclesia  pullularunt, 
nunquam  considero  aliquam  plus  callide  per  hypocritas  introductam  et  multiplicius 
populum  defraudantem,  nam  spoliat  populum,  facit  ipsum  committere  idololatriam, 
negat  fidem  scripturae  et  per  consequens  ex  infidelitate  multipliciter  ad  iracundiam 
provocat  veritatem."  In  c.  4  führt  er  dann  die  Ansicht  durch,  dass  panis  und  Leib 
Christi  zugleich  vorhanden  seien.  Doch  will  er  davon  nichts  wissen,  dass  jeder  be- 
liebige —  also  auch  ein  sündhafter  —  Priester  Christum  hervorbringen  könne.  Die 
Impanationslehre  hat  bei  ihm  eine  spiritualistische "Wendung,  ohne  dass  sie  dadurch 
gänzlich  aufgehoben  würde.  Gegen  die  grobe  Form  derselben  polemisirt  er  und 
kommt  Berengar  nahe. 

*  In  seiner  während  der  Gefangenschaft  geschriebenen  Schrift  de  corpore 
Christi  stimmt  Hus  der  Transsubstantiation  bei.  Man  muss  aber  nach  seinen  anderen 
»Schriften  annehmen,  dass  er  nicht  der  Meinung  war,  dass  ein  sündiger  Priester  sie 
bewirken  könne  (s.  oben  seinen  Kirchenbegriff  S.  416). 

"  Wesel  ist  Anhänger  der  Impanationslehre  gewesen. 

*  Das  Decret  über  das  Abendmahl  in  der  Bulle  Eugen's  IV.  „Exultate  deo" 
lautet:  „Tertium  est  eucharistiae  sacramentum,  cuius  materia  est  panis  triticeus  et 
vinum  de  vite,  cui  ante  consecrationem  aqua  modicissima  admisceri  debet  (folgt 
eine  ausführliche  Rechtfertigung  dieser  Beimischung  gegenüber  der  armenischen 
Praxis).  Forma  huius  sacramenti  sunt  verba  salvatoris,  quibus  hoc  conficit  sacra- 
mentum. Nam  ipsorum  verborum  virtute  substantia  panis  in  corpus  Christi  et  sub- 
stantia vini  in  sanguinem  convcrtuntur,  ita  tarnen,  quod  totus  Christus  continetur 
8ub  specie  panis  et  totus  sub  specie  vini.  8u1j  cpialibet  quoque  parte  hostiae  con- 
secretae  et  vini  consecrati,  separatione  facta,  totus  est  Christus.  Huius  sacramenti 
effectus,  quem  in  anima  operatur  digne  sumentis,  est  adunatio  hominis  ad  Christum. 
Et  quia  per  gratiam  homo  Christo  incorporatur  et  membris  eius  unitur,  consequens 
est,  quod  per  hoc  sacramentum  in  sumentiljus  digne  gratia  augeatur,  omnemque 
effectum,  (juem  materialis  cibus  et  potus  (juoad  vitam  agunt  corporalem  susten- 
tando,  augendo,  reparando  et  delectando,  sacramentum  hoc  (juoad  vitam  operatur 
spiritualem,  in  fjuo,  ut  infjuit  Urbaiius  Papa,  gratam  salvatoris  nostri  recensemus 
memoriam,  a  rnalo  retrahimur,  confortairnir  in  ])ono  et  ad  virtutum  et  gvatiaruni 
proficimus  incrementum.'* 


49f)     Geschiclite  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Die  Folgen  der  Transsubstantiationslehre  waren  mannigfaltig  und 
von  einschneidender  Bedeutung;  folgende  seien  erwähnt: 

1)  das  Aufliüren  der  Kinderconnnunion ', 

2)  die  Steigerung  des  Ansehens  der  Priester,  welche  täglich  Ohristum 
herbeizaubern  und  ihn  oi)fern, 

3)  die  Kelchentziehung  —  seit  dem  Lombarden  stand  es  fest,  dass 
in  jeder  species  der  ganze  Christus  enthalten  sei,  und  zwar  (nach  der 
besonders    von    Thomas    ausgebildeten   Lehre)  ^  per  concomitantiam 

I  (yhristus  nach  Leib  und  Seele  sowie  nach  seiner  Gottheit.    Dann  aber 

war  es  unbedenklich,  ja  sicherer  (damit  der  Wein  nicht  verschüttet 
werde  und  das  Sacrament  keine  Unbill  leide)  und  hinsichtlich  der  Her- 
vorhebung der  Würde  des  Priesters  conveniens,  dass  der  Laie  Christus 
nur  sub  specie  panis  erhalte,  der  Priester  aber  im  Namen  Aller  den 
Kelch  trinke^.  Zu  Constanz  wurde  dies  fixirt, 

4)  die  Adoration  der  erhobenen  Hostie,  das  Herumtragen  der 
Hostie  und  das  Fronleichnamsfest  (1264.  1311);  denn  der  Leib  Christi 
ist  ja  nicht  nur  im  Moment  des  Genusses  vorhanden,  sondern,  durch 
die  Consecration  erzeugt,  bleibt  er  so  lange,  bis  die  Accidenzen  sich 
auflösen'*.  Gegen  diese  Abgötterei  erhob  sich  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert viel  Widerspruch,  der  jedoch  unkräftig  blieb. 

Es  wurde  schon  oben  darauf  hingewiesen,  dass  der  Lombarde  in 
Bezug  auf  die  Vorstellung  vom  Abendmahl  als  Ojifer  noch  von  dem  alt- 
kirchlichen Motiv  der  recordatio  bestimmt  gewesen  ist.  Allein  aus  dem 
kirchlichen  Alterthum  war  doch  auch  die  Vorstellung  von  der  Wieder- 
holung des  Opfertodes  Christi  herübergekommen  (Gregor  L),  und 
diese  musste  sich  nun  auf  Grund  der  Transsubstantiationslehre  sicher 
einbürgern.  Der  römische  Messkanon ,  der  ursprünglich  die  Idee  der 
unblutigen  Wiederholung  des  Opfertodes  Christi  nicht  enthielt  und  noch 
heute  Spuren  zeigt,  dass  er  sie  nicht  enthalten  hat,  hat  in  seinen  jüngsten 
Bestandtheilen  die  neue  Idee.   Auf  dem  Lateranconcil  von  1215  ist  sie 


^  Dasselbe  hatte  freilich  auch  noch  andere  Gründe;  aber  ein  Grund  lag  in  den 
ausschweifenden  Vorstellungen  von  dem  Inhalt  des  Sacraments. 

2  P.  m  Q.  76  Art.  1  u.  2. 

^  Thomas,  P.  III  Q.  80  Art.  12:  der  Priester  muss  das  sacramentum  per- 
fectum  gemessen,  da  er  es  vollzieht;  zu  billigen  ist  die  Sitte  einiger  Kirchen  —  so 
vorsichtig  drückt  sich  Thomas  noch  aus  — ,  den  unvorsichtigen  Laien  den  Kelch  zu 
entziehen.  Die  Praxis  machte  dann  reissende  Fortschritte;  die  Geschichte  dieses 
Processes  und  des  Widerspruchs  gehört  nicht  hierher,  da  es  sich  nicht  um  ein 
Dogma  handelt. 

*  Q.  76  Art.  6:  „Corpus  Christi  manet,  (juousque  species  sacramentales  ma- 
nent." 


Das  Abendmahl.  497 

vorausgesetzt  und  kurz  markirt  worden*,  und  die  Scholastiker,  obgleich 
sie  ausgesponnene  Lehren  hier  nicht  bringen,  wissen  es  nicht  anders,  als 
dass  der  Priester  den  Leib  des  Herrn  opfert^.  Die  Eucharistie  als  Opfer, 

»  Cap.  1. 

*  Auch  für  die  Eucharistie  als  AViederholung  des  Opfertodes  Christi  war  nur 
ein  schlechter,  zum  Theil  gefälschter  Traditionsbeweis  zu  erbringen.  Thomas  be- 
handelt die  Frage  Q.  83  Art.  1.  Seiner  Gewohnheit  gemäss  erhebt  er  am  Anfang 
drei  —  sehr  triftige  —  Bedenken  gegen  den  Satz,  dass  Christus  in  diesem  Sacrament 
geopfert  werde.  Er  beruft  sich  erstens  auf  die  Hebräerbriefstelle  vom  einmaligen 
Opfer,  zweitens  darauf,  dass  Christus  in  der  Messe  nicht  gekreuzigt  werde,  drittens 
auf  den  augustinischen  Satz,  dass  beim  Opfer  Christi  „idem  est  sacerdos  et  hostia", 
das  trifft  aber  in  der  Messe  nicht  zu.  Allein  er  führt  dann  aus,  dass  1)  das  eine 
Opfer  nicht  berührt  werde  durch  die  Wiederholung,  denn  es  bleibe  in  der  Wieder- 
holung immer  dasselbe,  2)  dass  der  Altar  „repraesentativum  crucis"  sei,  und  3)  dass 
der  Priester  „gerit  imaginem  Christi",  daher  gelte  auch  für  das  Messopfer,  dass 
„quodammodo  idem  est  sacerdos  et  hostia."  Die  positive  Ausführung  ist 
höchst  schwach,  selbst  wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  Thomas  stellt,  und' 
zeigt  deutlich,  dass  man  in  der  Theorie  die  Wiederholung  des  Opfertodes  Christi 
im  Grunde  gar  nicht  zu  rechtfertigen  vermochte.  Aber  es  steht  hier  wie  bei  der 
Lehre  von  der  Kirche.  Die  Praxis  rechtfertigt  sich  selbst  durch  ihre  Existenz !  Was 
Thomas  angeführt  hat,  ist  Folgendes:  „Duplici  ratione  celebratio  huius  sacramenti 
dicitur  immolatio  Christi.  Primo  quidem  quia,  sicut  dicit  Augustinus  ad  Simplic, 
solent  iraagines  earum  rerum  nominibus  appellari,  quarum  imagines  sunt  .  .  .  cele- 
bratio autem  huius  sacramenti,  sicut  supra  dictum  est  (Q.  79  Art.  1.  3)  imago  quae- 
dam  est  repraesentativa  passionis  Christi  quae  est  vera  eins  immolatio.  Et  ideo 
celebratio  huius  sacramenti  dicitur  Christi  immolatio  (hier  ist  also  nur  Symbol  und 
Erinnerung  ausgedrückt).  Alio  modo  quantum  ad  effectum  passionis  Christi,  quia 
seil,  per  hoc  sacramentum  participes  efficimur  fructus  dominicae  passionis,  unde  in 
quadam  dominicali  oratione  secreta  dicitur:  Quoties  huius  hostiae  commemoratio 
celebratur,  opus  nostrae  redemptionis  exercetur.  Quantum  igitur  ad  primum  mo- 
dum  poterat  dici  Christus  immolari  etiam  in  figuris  Veteris  Testamenti  .  .  .  .,  sed 
quantum  ad  secundum  modum  proprium  est  huic  sacramento,  quod  in  eius  celebra- 
tione  Christus  immolatur."  Man  sieht  leicht,  dass  ein  Beweis  für  die  Wiederholung 
des  Opfertodes  Christi  nicht  im  Geringsten  gegeben  ist.  Auch  an  anderen  Stellen, 
an  denen  Thomas  von  der  Eucharistie  als  Opfer  redet,  habe  icli  nicht  mehr  gefunden 
als  blosse  Behauptungen  und  zum  Theil  eine  völlige  Unsicherheit  über  das  Verhält- 
niss  des  eucharistischen  Oi)fors  zu  dem  wahrhaftigen.  Dazu,  wie  schwach  es  mit 
dem  Effect  dieses  Opfers  ])estellt  ist,  zeigt  Q.  79  Art.  5:  „sacramentum  effectum 
sacrificii  in  eo  qui  offert  habet  vcl  in  his,  pro  quil)us  offertur."  Es  Ist-eigentlich  als 
Sacrament  eingesetzt ;  denn  „non  est  institutum  ad  satisfaciendum,  sed  ad  spiritua- 
liter  nutriendum  per  unionem  ad  Christum",  a})er  „per  concomitantiam"  wird  auch 
ein  gewisser  Straferlass  herl)eigeführt.  „In  (juantum  est  sacrificium,  habet  vim 
satisfactivam,  sed  in  satisfactione  magis  attenditur  affectus  offerentis 
(|uam  quantitas  oblationis.  Quamvis  ergo  haec  oblatio  ex  sui  quantitate  suf- 
ficiat  ad  satisfaciendum  pro  omni  poena,  tamen  sit  satisfactoria  illis,  pro  quibus 
offf-rtur,  vel  fliarn  offcrentibus,  secundum  (|uaiititatem  suae  devotionis  et  non  pro 
toia  poena.  Mau  darf  es  keint^sfalls  als  Zufall  beurtlicileri,  dass  Thomas  die  ver- 
wegenen Sätze  Hugo 's  und  Albertus'  (erst  hat  der  Vater  den  Sohn  für  uns  geopfert, 
Jlariiar;k,  Doj^mengeschichte  III.  32 


498     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

wie  sie  den  Mittelpunkt  des  Gottesdienstes  bildete,  war  dem  Volke  viel 
wichtiger  als  das  Sacrament.  Knüpfte  die  strenge  Theorie  auch  nur 
bescheidene  Erfolge  an  dieselbe  (s.  oben),  so  bemächtigte  sich  die  miss- 
leitete Frönnnigkeit  dieser  Handlung  vollkommen  und  sah  in  ihr  ihren 
eigentlichen  Schutz  im  Leben  und  im  Tode.  Der  Unfug  der  Still-  und 
Seelenmessen  ist  ebenso  eine  Folge  des  ungestümen  Drängens  der 
Laien  nach  möglichst  vielen  Messen  als  des  priesterlichen  Selbstgefühls 
gewesen;  denn  in  der  Messe  erscheint  der  Priester,  der  hier  nicht 
minister,  sondern  autor  ist,  recht  eigentlich  als  der  Mittler  zwischen 
Gott  und  den  Menschen,  und  seine  Würde  tritt  als  sacerdos  corporis 
Christi  am  deutlichsten  zu  Tage.  Die  Messe  ist  als  unbiblisch  von  Wiclif 
angegriffen  worden.  Auch  sonst  hat  sich  gegen  die  Still-  und  Seelen- 
messen im  14.  und  15.  Jahrhundert  ein  Widerspruch  erhoben,  der  sich 
aber  in  der  Regel  nur  gegen  den  abusus  gerichtet  hat. 

4.  Die  Bussel  Obgleich  in  der  Theorie  die  Taufe  und  die 
Eucharistie  zusammengestellt  und  als  die  beiden  vorzüglichsten  Sacra- 
mente  hervorgehoben  wurden,  so  waren  doch  in  Wahrheit  die  Taufe 
und  die  Busse  („secunda  tabula  post  naufragium"  —  so  zuerst  Tertullian 
de  paenit.,  nach  ihm  viele  Lehrer)  die  beiden  zusammengehörigen  Haupt- 
sacramente.  Sofern  aber  die  Taufe  nur  einmal  gespendet,  das  Buss- 
sacrament  dagegen  wiederholt  ertheilt  wird  und  nahezu  jeder  Getaufte 
in  die  Lage  kommt,  dies  durch  kein  anderes  Sacrament  zu  ersetzende 
Sacrament  zu  bedürfen,  wird  es  in  praxi  zum  wichtigsten  Heils- 
mittel. Da  nun  die  Kirche  dieses  Sacrament  völlig  mit  ihrem  hier- 
archischen Geiste  getränkt  und  zugleich  ihre  verflachte  Lehre  von  der 
Sünde,  der  Gnade  und  dem  Verdienst  mit  ihm  verbunden  hat,  so  ist 
damit  das  mchtigste  Heilsmittel  den  niederen  kirchlichen  Tendenzen 
untergeordnet. 

Die  hierarchische  Praxis,  welche  die  Laien  selbst  zur  Versicherung 
der  Gnade  forderten,  ist  derTheorie  Jahrhunderte  lang  vorangegangen. 
Diese  blieb  an  diesem  Punkte  besonders  spröde  und  hielt  sich  auf  der 
evangelischen  Spur,  dass  die  wahrhaftige  Reue  des  Christen  an  sich 
„sacramental"  sei  (s.  oben).  Trotz  der  Anläufe  Hugo's,  das  Buss- 
sacrament  in  einem  strengeren  kirchlichen  Sinn  zu  fixiren  (der  Priester 
bewirkt  die  Vergebung;   aber  Hugo  fordert   andererseits   noch  voll- 


daun  opfern  wir  ihn  für  den  Vater)  nicht  repetirt  hat.  Thomas  hat  nur  den  Titel 
der  Vera  immolatio  stehen  lassen,  weil  er  annahm,  dass  die  „Kirche"  sie  lehre.  In 
der  Bulle  Eugen's  IV.  (s.  oben)  ist  auch  von  einer  Wiederholung  nicht  die  Rede. 

'  Thomas,  Summa  P.  IH  Q.  84—90,  Suppl.  Q.  1—28.   Sohwaue  S.  661  ff. 
Steitz,  Das  römische  Busssacrament  1854. 


Das  Busssacrament.  499 

kommene  contritio)^  blieb  der  Lombarde  bei  der  altkirchlichen 
Theorie^.  Gratian  stellte  die  alte  und  die  neue  Betrachtung  neben 
einander,  ohne  sich  zu  entscheiden^.  Das  Lateranconcil  von  1215 
legte  auch  hier  den  Grund  zur  sicheren  Lehre.  Diese  findet  sich  in  voll- 
kommener Gestalt  noch  nicht  bei  Alexander  Halesius,  wohl  aber  bei 
Thomas.  Thomas  zeigt  zuerst  (in  der  Q.  84),  dass  die  Busse  ein 
Sacrament  sei.  Im  1.  Art.  erhebt  er  die  Einwürfe,  es  seien  keine  cor- 
p  orales  res  vorhanden,  die  Busse  werde  nicht  a  ministris  Christi  aus- 
getheilt,  sondern  innerlich  von  Gott  bewirkt,  endlich  man  könne  bei 
ihr  nicht  zwischen  sacramentum,  res  und  res  et  sacramentum  unter- 


^  De  sacram.  11 1. 14.  Hugo  setzt  übrigens  auch  noch  voraus,  dass  die  priester- 
liche Sündenvergebung  unter  Umständen  keine  Vergebung  vor  Gott  bewirkt.  Dass 
die  Sacramente  im  Grunde  überhaupt  nur  die  Heilsmöglichkeit  bewirken  —  der 
verborgene  Hauptgedanke  der  katholischen  Sacramentslehre  — ,  bezeugt  Hugo  in 
folgendem  höchst  bemerkenswerthen  Satze  (c.  8) :  „Ubique  magis  virtus  sacramen- 
torum  exprimitur,  nee  quod  per  ea  quilibet  participantes  salvandi  sint,  sed  quod 
salvaripossint,  significatur."  Eine  höchst  verderbliche  Wirkung  auf  die  Bil- 
dung der  neuen  Theorie  und  Praxis  der  Busse  hat  die  im  11.  Jahrhundert  ent- 
standene pseudoaugustinische  Schrift  de  vera  et  falsa  paenitentia  ausgeübt. 

^  Er  ist  desshalb  den  modernen  katholischen  Theologen  an  diesem  Punkte 
missliebig.  Man  rechnet  es  ihm  zwar  an,  dass  er  die  drei  Stücke  contritio  (com- 
punctio)  cordis,  confessio  oris,  satisfactiooperis  neben  einander  gestellt  hat,  aber  dass 
er  eine  vollkommene  contritio  (caritate  perfecta)  verlangt  und  die  priesterliche 
Absolution  nicht  für  schlechthin  noth wendig  erachtet  hat,  gilt  als  ein  bedeutender 
Mangel.  In  derThat  hat  er  die  contritio  verbunden  mit  dem  votum  confitendi  für 
genügend  erklärt;  ihr  folgt  die  göttliche  Sündenvergebung,  die  Eingiessung  der 
Gnade  und  der  Erlass  der  ewigen  Strafe  „ante  oris  confessionem  et  satisfactionem" 
(Sentent.  IV,  17  A).  Daher  auch  folgende  Beurtheilung  der  priesterlichen  Abso- 
lution als  einer  bloss  declarativen,  resp.  einer  nur  kirchlichen  im  Unterschied 
von  der  göttlichen  Vergebung,  18  E:  „Ecce  quam  varia  a  doctoribus  super  his  tra- 
duntur,  et  in  hac  tanta  varietate  quid  tenendum  sit?  Hoc  saue  dicere  ac  sentire 
possumus,  quod  solus  deus  peccata  dimittit  et  retinet,  et  tamen  ecclesiae 
contulit  potestatem  ligandi  et  solvendi.  Sed  aliter  ipse  solvit  vel  ligat, 
aliter  ecclesia.  Ipse  enim  per  se  tantum  ita  dimittit  pcccatum,  quia  et  animam 
mundat  ab  interiori  macula  et  a  debito  aeternae  mortis  solvit."  18  F :  „Non  autem 
hoc  sacerdotibus  concessit,  quibus  tamen  tribuit  potestatem  ligandi  et  solvendi 
i.  e.  Osten  de  ndi  homines  ligatos  et  s  olu  tos  ...  Quia  ctsi  aliquis  apud  dcum 
sit  solutus,  non  tamen  in  facic  ecclesiae  solutus  habetur  nisi  per  iudicium 
«acerdotis.  In  solvendis  ergo  culpis  et  retincndis  ita  operatur  sacerdos  evangelicus 
et  iudicat,  sicut  olim  legalis  in  illis  qui  contaminati  erant  Icpra,  quac  peccatum 
significat."  Nel)en  der  Dcclaration  der  Vergebung  als  kirchliclier  Act  (für  die  Ge- 
meinde) besteht  das  Binden  und  Lösen  der  Priester  nach  dem  Lombarden  lediglich 
darin,  dass  sie  die  Busswerke  auferlegen,  resp.  erleichtern  und  erlassen.  Hier  ist 
also  noch  ein  volles  Verständniss  des  Unterschiedes  der  innerlichen  Vergebung  und 
der  kirchb'clien  lleconciliation  vorhanden. 
»  De  paenit.  1'.  II  c.  33  q.  3  dist.  1. 

32* 


500     Cleschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh, 

scheiden.    Allein  er  beseitigt  diese  Einwürfe,  indem  er  auf  die  sicht- 
baren Handlungen  des  Pänitenten  und  des  absolvirenden  Priesters  hin- 
weist und  in  j(»nen,  die  durch  diese  completirt  werden,  die  Materie  des 
Sacraments  erblickt.  Im  2.  Art.  zeigt  er,  dassjene  Handlungen  die materia 
proxima  sind,  während  die  peccata  detestandaet  destruenda  als  matoria 
remota  zu  gelten  haben.    Im  3.  Art.  folgt  der  verhängnissvoUe  Nach- 
weis, dass  die  Worte  „Ego  te  absolvo"  die  forma  des  Sacraments  seien ; 
denn  „hoc  sacramentum  perficitur  per  ea  quae  sunt  ex  parte  sacerdotis"; 
dieses  priesterliche  Wort  sei  aber  durch  (Jhristus  eingesetzt  (Mt.  16). 
Da  die  Sacramente  „efficiunt  (^uod  figurant" ,   so  reicht  es  bei  der 
sacramentalen  Absolution  nicht  aus,  zu  sagen:  „misereatur  tui  deus"; 
„praemittitur  tamen  etiam  in  sacramentali  absolutione  talis  oratio,   ne 
impediatur  effectus  sacramenti  ex  parte  paenitentis".    Die  allgemeine 
Regel,  dass  Gott  allein  Sünden  vergiebt,  werde  durch  die  priesterUche 
Absolution  nicht  durchbrochen;    denn  die  Priester  seien  autorisirte 
ministri  (dies  ist  eine  Verlegenheitsauskunft).    Im  4.  Art.  wird  von  der 
Handauflegung  bei  der  Beichte  gehandelt  (sie  ist  nicht  nothwendig,  da 
es  sich   um  Sündenvergebung,    nicht  um  Erlangung  positiver  Gnade 
handelt).  Im  5.  Art.  wird  die  Nothwendigkeit  der  sacramentalen  Busse 
für  jeden  Todsünder  dargelegt:    „salus  peccatoris   —  quod  peccatum 
removeatur  ab  eo  —  non  potest  sine  paenitentiae  sacramento,  in  quo  ope- 
ratur  virtus  passionis  Christi,  per  absolutionem  sacerdotis  simul  cum 
opere  paenitentis,  qui  cooperatur  gratiae  ad  destructionem  peccati." 
Hierzu  noch  Folgendes:  „Ex  quo  ahquis  peccatum  incurrit,  Caritas, 
fides  et  misericordia  non  liberant  hominem  a  peccato  sine 
paenitentia  (als  ob  sie  ohne  Busse  überhaupt  bestehen  könnten!) ; 
requirit   enim   Caritas,    quod   homo    doleat   de    offensa    in   amicum 
commissa  et  quod  amico  homo  studeat  satisfacere ;  requirit  etiam  ipsa 
fides,   ut  per  virtutem  passionis  Christi,    quae  in  sacramentis  eccle- 
siae  operatur,    quaerat  iustificari  a  peccatis;   requirit   etiam  et  ipsa 
misericordia  ordinata,  ut  homo  subveniat  paenitendo  suae  miseriae, 
quam  per  peccatum  incurrit"  (aber  damit  ist  die  Nothwendigkeit  der 
sacramentalen  Busse  nicht  bewiesen).  Im  6.  Art.  wird  gezeigt,  dass 
die  Busse  die  secunda  tabula  post  naufragium  ist.  Im  8.  Art.  wird  dar- 
gelegt,  dass  die  „paenitentia"  nicht  bis  zum  Ende  des  Lebens  anzu- 
dauern brauche,   sondern  nur  ad   determinatum  tempus  pro  mensura 
peccati;  jedoch:    „duplex   est   paenitentia  seil,    interior  et  exterior; 
interior  quidem  paenitentia  est,  qua  quis  dolet  de  peccato  commisso,  et 
talis  paenitentia  debet  durare  usque  ad  finem  vitae  .  .  .  paenitentia  vero 
exterior  est,  qua  quis  exteriora  signa  doloris   ostendit  et  verbo  tenus 
peccata  sua  confitetur  sacerdoti  absolventi  et  iuxta  eins  arbitriumsatis- 


Das  Busssacrament.  501 

facit;  et  talis  paenitentia  non  oportet  quocl  duret  usque  ad  finem  vitae, 
sed  usque  ad  determinatum  tempus  secundum  mensuram  peccati."    Im 
9.  Art.  wird  gezeigt ,  dass  eine  paenitentia  continua  secundum  actum 
unmöglich  sei,  secundum  habitum  aber  pfiichtmässig.   Im  10.  Art.  wird 
die  Wiederholbarkeit  der  sacramentalen  Busse  begründet ;   die  Liebe 
kann  durch  den  freien  Willen  verloren  gehen,  aber  Gottes  Barmherzig- 
keit wiU  sie  immer  wieder  herstellen.   In  der  85.  Q.  folgt  nun  eine  aus- 
führliche Untersuchung  der  Busse  als  virtus,  und  in  der  86.  Q.  wird  der 
eifectus  der  Busse  behandelt  quoad  mortalium  peccatorum  remissionem. 
Hier  wird  im  4.  Art.  ausgeführt,   dass  mit  der  Vergebung  der  Schuld 
und  der  Aufhebung  der  ewigen  Strafe  nicht  aller  reatus  poenae  getilgt 
ist  („potest  remanere").   Ist  nämHch  die  Sünde  Abkehr  von  Gott  als 
dem  höchsten  Gut  und  conversio  inordinata  ad  commutabile  bonum,  so 
folgt  aus  dem  Ersten  die  ewige  Schuld  und  Strafe,  aus  dem  Letzten  die 
zeitliche.  Räumt  nun  auch  die  Busse  die  ewige  Schuld  und  Strafe 
sowie  die  zeitliche  Schuld  total  weg,  so  kann  doch  die  zeitliche  Strafe 
bleiben;  denn  „in  baptismo  consequitur  homo  remissionem  reatus  totius 
poenae,   in   paenitentia  vero   consequitur   virtutem   passionis  Christi 
secundum  modum  propriorum  actuum  (dies  ist  also  der  letzte 
Grund  der  seltsamen  und  anstössigen  Betrachtung),  qui  sunt  materia 
paenitentiae ;  et  ideo  non  statim  per  primum  actum  paeniten- 
tiae  quo  remittitur  culpa,  solvitur  reatus  totius  poenae, 
sed  completis  omnibus  paenitentiae  actibus"  K  In  der  87.  Q., 
wo  die  Vergebung  der  lässlichen  Sünden  durch  die  Busse  behandelt 
wird,  wird  gezeigt,  dass  dem  Todsünder  keine  lässlichen  Sünden  ver- 
geben werden,  solange  die  Todsünde  nicht  getilgt  ist  (Art.  4).  Von  der 
90.  Q.  an  beginnt  die  Untersuchung  über  die  „partes  paenitentiae". 

Wie  alle  diese  Gedanken  des  Thomas  wohl  schon  zu  seiner 
Zeit  Gemeingut  waren,  so  sind  sie  es  auch  bei  den  Scholastikern  ge- 
blieben. Die  Nothwendigkeit  der  priesterlichen  Absolution,  daher  auch 
die  Beichte  vor  dem  Priester,  ferner  die  Vorstellung  von  dem  effectiven 
Handeln  des  Priesters  beim  Sacrament  standen  fest  ^,  Die  innere  Reue 


*  Daher  auch  im  5.  Artikel  folgende  Ausführung :  „Pcccatum  mortale  ex  parte 
conversionis  inordinatac  ad  bonum  commutabile  quandam  di8i)()sitioncm  causat  in 
anima  vel  ctiam  habitum,  si  actus  frequcntcr  iterctur.  Sicut  autem  dictum 
est,  culpa  peccati  mortalis  remittitur,  in  quantum  toUitur  per  gratiam  aversio  men- 
tis  a  dco.  Sublato  autcm  eo,  (juod  est  ex  parte  aversionis,  nihilominus  rcmancre 
potest  id  quod  est  ex  parte  conversionis  inordinatae,  cum  hanc  contingat  esse  sine 
illa  (!),  sicut  prius  dictum  est;  et  ideo  nihil  prohibet,  quin  rcmissa  culpa  remaneant 
dispositioncfi  ex  praeccdentibus  actibus  causatac,  quae  dicuntur  peccati  reliquiae 
.  .  .  sicut  ctiam  remanct  fomes  post  bai)tismum. 

^  Indessen  bleibt  insofern  doch  eine  laconsequenz,  als  viele  Scholastiker  daran 


502     (reschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bottelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

galt  {illerdiiigs  als  res  und  sacramentum  (die  res  sacramenti  ist  die 
Sündenvergebung,  das  sacramentum  sind  die  äusserliclien  Handlungen 
des  Pänitenten  und  des  Priesters,  s.  Thomas  111  Q.  84  Art.  1);  aber 
sie  reicht  nicht  aus,  und  eben  weil  sie  noch  nicht  ausreicht,  so  konnte 
sich  leicht  ex  contrario  die  perverse  Meinung  einschleichen,  dass 
zwar  zu  der  nicht  sacramentalen  Busse  vollkommene  Reue  nöthig  sei, 
dass  aber  bei  der  sacramentalen  Busse  das  hinzutretende  Sacra- 
ment  die  nicht  vollkommene  lleuo  ergänze.  Diese  Meinung  hat  sich 
nicht  nur  eingesclüichen,  sondern  ist  geradezu  herrschend  geworden. 
Aber  überhaupt  hat  sich  bei  der  Bestimmung  der  ehizelnen  partes 
paenitentiae  eine  Verkehrung  in  schlimmster  Weise  eingestellt,  deren 
Keime  freilich  schon  bei  Thomas  zu  finden  sind  ^ 

Was  die  Reue  betrifft,  so  wusste  man  es  (s.  oben  S.  479  ff.)  bis 
zum  13.  Jahrhundert  nicht  anders,  als  dass  nur  vollkommene,  d.  h. 
von  der  Liebe  motivii-te  Bussgesinnung  vor  Gott  in  Betracht  kommt. 
Die  Reue  als  innere  Stimmung  und  innerer  Habitus  wurde  als  eine 
wesenthche  christHche  Tugend  gefeiert  und  als  „Tugend"  ausführlich 
behandelt^.   Allein  Halesius  machte  bereits  darauf  aufmerksam,  dass 


festhalten,  dass  vollkommene  Reue  verbunden  mit  dem  votum  sacramenti  die 
Sündenvergebung  sofort  zur  Folge  hat  —  ein  Satz,  der  m.  W.  auch  heute  noch  in 
der  katholischen  Kirche  gilt. 

*  AVie  sehr  auch  die  grundlegende  Theorie  bedroht  war —  doch  ist  die  des 
Thomas  in  Geltung  geblieben  — ,  zeigen  die  Vorschläge  des  Duns  Scotus  und  Du- 
randus  (s.  Schwane  S.665),  das  Sacrament  nicht  sowohl  „Busse"  als  „Beichte"  zu 
nennen.  Durandus  wollte  nur  die  Beichte  und  Absolution  als  Materie  und  Form 
des  Sacraments  bezeichnet  wissen;  denn  Reue  und  Genugthuung  seien  nicht Theile 
desselben,  sondern  die  Vorbereitung  auf  die  Sündenvergebung  (Durandus,  In 
Seut.  IV  Dist.  16  Q.  1).  Dieser  Vorschlag  ist  ganz  consequent,  zeigt  aber  die  Ver- 
äusserlichung,  welche  die  Busse  dadurch  erlebt  hat,  dass  sie  Sacrament  geworden 
ist,  sehr  deutlich.   Diese  Veräusserlichung  musste  nothwendig  fortwirken. 

-  Thomas,  Summa  III  Suppl.  Q.  1 :  die  contritio  im  Gegensatz  zur  superbia, 
die  da  initium  omnis  peccati  ist.  Höchst  künstliche  und  inhaltslose  Unterscheidung 
der  contritio  als  virtus  und  als  sacramentaler  Q.  5  Art.  1 :  „Contritio  potest  dupli- 
citer  considerari,  vel  in  quantum  est  pars  sacramenti  vel  in  quantum  est  actus  vir- 
tutis,  et  utroque  modo  est  causa  remissionis  peccati,  sed  diversimode :  quia  in  quan- 
tum est  pars  sacramenti  primo  operatur  ad  remissionem  peccati  instrumenta- 
liter,  sicut  et  de  aliis  sacramentis  patet;  in  quantum  autem  est  actus  virtutis  sie 
est  quasi  causa  materialis  remissionis  peccati,  eo  quod  dispositio  est  quasi  neces- 
sitas  ad  iustificationem,  dispositio  autem  reducitur  ad  causam  materialem."  Auf  die 
Frage,  warum  denn  das  Sacrament  nöthig  ist,  wenn  die  contritio  genügt,  antwortet 
Thomas  (1.  c.  Art.  1) :  „Quam vis  possit  tota  poena  per  contritionem  dimitti,  tarnen 
adhuc  necessaria  est  confessio  et  satisfactio,  tum  quia  homo  non  potest  esse  certus 
de  sua  contritione,  quod  fuerit  ad  totum  tollendum  sufficiens,  tum  etiam  quia  con- 
fessio et  satisfactio  sunt  in  praecepto." 


Das  Busssacrament.   Die  Reue.  503 

Gott  den  Menschen  in  der  Kirche  die  Wege  erleichtert  habe  ^,  und 
er  unterscheidet  die  attritio  (timor  servilis)  und  contritio.  Diese  Unter- 
scheidung hat  Thomas  aufgenommen.  Er  erklärt  jedoch:  „attritio, 
ut  ab  Omnibus  dicitur,  non  est  actus  virtutis."  Allein  er  definirt 
sie  dann  in  demselben  Artikel  als  „in  spiritualibus  quaedam  displi- 
centia  de  peccatis  commissis,  sed  non  perfecta,  (quae  est)  accessus 
ad  perfectam  contritionem"  ^.  Schon  vor  ihm  hatte  Bonaventura  ge- 
sagt^: „ad  sacramentum  paenitentiae  non  est  necesse,  quod  accedat 
habens  caritatem  vel  dispositionem  ad  caritatem  sufficientem  secun- 
dum  veritatem,  sed  sufficit  secundum  probabilitatem;  haec  autem 
dispositio  attritio  est,  quae  frequenter  ob  confessionem  superadiunc- 
tam  et  absolutionem  sacerdotis  formatur  per  gratiam,  ut  fiat  con- 
tritio, sive  ut  ad  ipsam  contritio  subsequatur."  Diesen  Gedanken 
nahm  Thomas  nicht  auf,  lehnte  ihn  vielmehr  stillschweigend  ab  und 
hat  sich  überhaupt  in  den  QQ.  1 — 5  über  die  contritio  und  ihre 
Nothwendigkeit  streng  und  ernst  ausgesprochen.  Allein  die  Er- 
wägungen des  Halesius*  und  Bonaventura  wirkten  fort.  Es  ist  be- 
sonders Scotus  gewesen,  der  die  Auffassung  eingebürgert  hat,  dass 
die  an  sich  ungenügende  attritio  für  den  Empfang  des  Busssacra- 
ments  ausreicht,   da  das  Sacrament  selbst  durch   die  infusio  gratiae 


*  Summa  IV  Q.  59  m.  2  A.  4:  „expeditius  et  melius  liberatur  peccator  per 
sacramentum  paenitentiae  quam  per  paenitentiae  virtutem." 

^  P.  in  Suppl.  Q.  1  Art.  2.  Ohne  das  "Wort  „attritio"  zu  gebrauchen,  giebt 
er  schon  die  Sache  in  P.  III  Q.  85  Art.  5,  wo  eine  höchst  wichtige,  den  Abstand  der 
katholischen  von  der  evangelischen  Auffassung  klar  erweisende  Darlegung  der 
Stufen  der  Busse  gegeben  wird:  „De  paenitentia  loqui  possumus  dupliciter.  Uno 
modo  quantum  ad  habitum.  Et  sie  immediate  a  deo  infunditur  sine  nobis  principa- 
liter  operantibus  .  .  .  Alio  modo  possumus  loqui  de  paenitentia  quantum  ad  actus 
quibus  deo  operanti  in  paenitentia  cooperamur.  Quorum  actuum  primum  princi- 
pium  est  dei  operatio  convertentis  cor,  secundus  actus  est  motus  fidei,  tertius  est 
motus  timoris  servilis,  quo  quis  timorc  suppliciorum  a  peccatis  retrahitur" 
(dazu :  „peccatum  prius  incipit  homini  displicere  [maxime  peccatori]  propter  suppli- 
cia,  quae  respicit  timor  servilis,  quam  propter  dei  offensam  vel  peccati  turpitudinem, 
quod  pertinet  ad  caritatem  .  .  .  ipse  etiam  motus  timoris  proccdit  ex  actu  dei  con- 
vertentis cor").  „Quartus  actus  est  motus  spei,  quo  quis  sub  spe  veniae  consequen- 
dae  assumit  propositum  emendandi.  Quintus  actus  est  motus  caritatis,  quo  alicui 
peccatum  displicet  secundum  sc  ipsum  et  non  iam  propter  supplicia"  (das  ist  die 
contritio).  „Sextus  est  motus  timoris  filialis,  (juo  propter  rcverentiam  dei  aliquis 
emendam  deo  voluutarius  offert." 

»  In  Sentent.  IV  Dist.  17  p.  2  a.  1  q.  4. 

*  Summa  IV  Q.  60  A.  3:  „si  autem  paenitens  pracparatus  quantum  in  se  est 
accedat  ad  confessionem  attritus,  non  contritus  .  .  .  confessio  cum  subicctione  ar- 
bitrio  sacerdotis  et  satisfactio  paenitentiae  iniunctae  a  sacerdotc  est  signum  et  causa 
deletionis  culpac  et  pocnae,  quia  sie  subicieudo  se  et  satisfaciendo  gratiam  acquirit." 


504     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16,  Jahrh. 

die  Reue  vervollkommnet  *.    Das  Tridentinum  ist  hier  bedingt  auf  die 
Seite  der  Scotisten  getreten". 


n 


*  S.  Reportt.  IV  Dist.  14  Q.  4  schol.  2  (citirt  nach  Schwane  S.  666):  „Dico, 
quod  bonus  motus  praecedens  sacramentum  paenitentiae  tautum  est  attritio  et  dis- 
positio  de  congruo  ad  deletionem  culpae  et  infusionem  gratiae,  (juac  remissio  culpae 
et  collatio  gratiae  sunt  in  viitute  sacramenti  i)ueniientiae  et  non  in  virtute  attri- 
iionis  tantum,  uisi  dispositive.  Sed  haec  attritio  post  collatiouem  gratiae,  quae  con- 
fertur  in  susceptioue  sacramenti,  fit  contritio  formata." 

'  Sess.  XIV  de  paenit.  c.  4:  „attritio  peccatorem  ad  dei  gratiam  in  sacramento 
paenitentiae  impetrandani  disponit.'*    In  neuerer  Zeit  haben  nach  Lämmer  (Vor- 
trident.  Theologie)  Eratke  (Luther's  95  Thesen  und  ihre  dogmeuhistor.  Voraus- 
setzung 1884)  und  Di  eckhoff  (Der  Ablassstreit,  dogmongesch.  dargestellt  1886) 
ausführlich  über  die  scholastische  Lehre  von  der  Busse  im  Zusammenhang  mit  der 
Ablasslehre  gehandelt,  nachdem  durch  das  grosse  Janssen 'sehe  Werk  ein  Streit 
über  die  Ablasstheorie  ausgebrochen  war  (s.  Kolde,  Die  deutsche  Augustiner-Con- 
gregation  u.  Johann  v.  Staupitz  1879,  derselbe  in  der  ThLZ.  1882  Nr.  23,  ferner 
Abhandlungen  von  Kawerau,  Köstlin,  Schweitzer  und  Janssen  „An  meine 
Kritiker").  Schon  Bratke  hat  gegenüber  Köstlin  die  Ablassthcorie  in  ein  helleres 
Licht  gerückt.  Besonders  aber  gebührt  Di  eck  ho  ff  das  Verdienst,  die  Theorie  auf 
die  laxe  Auffassung  von  der  Busse  zurückgeführt  und  gezeigt  zu  haben,  dass  hier 
der  Sitz  des  Uebels  zu  suchen  ist.   Es  kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  dass  die 
Lehre  von  der  attritio  mehr  und   mehr   das  Hauptberuhigungsmittel  der 
Kirche  geworden  ist.  Wohl  fehlte  der  Widerspruch  nicht,  und  er  verstärkte  sich  in 
manchen  Kreisen  im  15.  Jahrhundert  (augustinisch-thomistische  Reaction,  s.  B  r  a  t  k  e 
S.  59  ff.  n.  sonst);  aber  wenn  man  z.B.  die  Ausführungen  des  Johann  vonPaltz,  des 
älteren  Zeitgenossen  und  Augustiuerbruders  Luther's,  liest  (Kolde,  a.  a.  0.),  so  ist 
man  erschreckt,  welch'  eine  Verwüstung  der  Religion  und  der  einfachsten  Moral 
die  Folge  der  „attritio"  (der  „Galgenreue")  gewesen  ist.  Da  wird  der  Priester  aus- 
schweifend gefeiert  (in  der  Schrift  „Coelifodina");  denn  er  sei  die  nothwendigste 
Person,  weil  nur  sehr  wenige  Menschen  wahrhaft  reuig  seien;  dagegen  könne  es  zu 
einer  unvollkommenen  Reue  schliesslich  jeder  bringen;  er,  der  Priester,  nun  wandle 
durch  das  Busssacrament  diese  unvollkommene  Reue  in  vollkommene  („paucissimi 
sunt  vere  contriti,  ergo  paucissimi  salvarentur  sine  sacerdotibus;  possunt  autem 
omnes  aliquo  modo  fieri  attriti,  et  tales  possunt  sacerdotes  iuvare  et  eorum  mi- 
nisterio  facere  contritos  et  per  consequens  possunt  eos  salvare").  Oder  —  auf  einen 
kundigen  Priester  kommt  Alles  au,  findet  Einer  den,  so  kann  es  ihm  nicht  fehlen 
(„non  potest  esse  peccator  adeo  desperatus,  quia  posset  consequi  indulgentias,  si 
habuerit  intelligentem  et  fidelem  informatorem  et  voluerit  facere,  quod  potest,  et 
habeat  attritionem  aliqualem,  quae  tunc  in  sacrameutis  sibi  succurritur  et 
imperfectum  eins  tollitur,  et  informis  attritio  i.  e.  caritate  carens  formatur  per  gra- 
tiam sacramentalem") ;  s.  Kolde  S.  187.  191,  Di  eckhoff  S.  14,  Bratke  S.  53  fl\ 
111  ff.  128  ff.  Der  Letztere  giebt  ein  reiches  Material,  aus  welchem  hervorgeht,  dass 
Paltz  keineswegs  allein  gestanden  hat.   Ueberall  heisst  es,  dass  es  im  neuen  Bund 
leichter  sei,   zum  Heil  zu  gelangen  wegen  der  wunderbaren  Wirksamkeit  des 
Kreuzes  Christi.   Dabei  fehlte  die  Klarheit  darüber  nicht,  dass  attritio  nicht  nur 
quantitativ,  sondern  auch  qualitativ  etwas  Anderes  sei  als  contritio.  Gabriel  Biel, 
der  allerdings  ernster  als  Paltz  über  die  Reue  denkt,  weiss  sehr  wohl,  dass  die 
attritio  unter  Umständen  aus  unsittlichen  Motiven  entspringt,  also  keineswegs 


Das  Busssacrament.   Pie  Beichte.  505 

Der  Theologe  der  Beichte  (vor  dem  Priester)  ist  Thomas,  nach- 
dem ,  wie  kathohsche  Gelehrte  sich  ausdrücken,  der  Lombarde  den 
Zusammenhang  der  Beichte  mit  dem  Sacrament  und  ihre  Noth- 
wendigkeit  verdunkelt  und  auch  Halesius  dieses  Dunkel  noch  nicht 
vollständig  wieder  beseitigt  hatte*.  In  der  6.  Q.  (P.  III  Suppl.)  hat 
Thomas  ausführlich  von  der  Nothwendigkeit  der  Beichte  gehandelt. 
Im  1.  Art.  wird  die  absolute  Nothwendigkeit  aus  der  Natur  der  Sache 
begründet^;  im  2.  wird  gezeigt,  dass  die  Beichte  iuris  divini  sei;  im 
3.  wird  nachgewiesen,  dass,  wenn  auch  allein  die  Todsünder  nach 
götthchem  Recht  zur  Beichte  verpflichtet  seien,  so  doch  nach  posi- 
tivem Recht  alle  Christen  mindestens  einmal  im  Jahr  beichten  müs- 
sen^; im  4.  Art.  wird  festgestellt,  dass  man  nicht  Sünden  beichten 
dürfe,  deren  man  sich  nicht  schuldig  weiss;  im  5.  wird  erklärt,  dass 
es  nicht  de  necessitate  salutis  sei,  seine  Sünden  sofort  zu  beichten, 
dass  aber  der  Aufschub  nicht  ohne  Gefahr  und  dass  die  Beachtung 
der  kirchlichen  Ordnungen  (Beichtzeiten)  rathsam  sei;  im  6.  endliche 
wird  nachgewiesen,  dass  eine  Dispensation  von  der  Beichte  (für  immer) 


eine  pars  contritionis  ist,  dazu  in  der  Regel  nur  eine  vorübergehende  Stimmung  dar- 
stellt (Bratke  S.  46  f.).  Andere  haben  das  auch  gewusst,  aber  dennoch  ruhig  ihre  in 
den  Himmel  führenden  Theorien  auf  diese  attritio  aufgebaut.  Ja  einige  haben  gerade- 
zu Instructionen  gegeben,  wie  man  Gott  im  Himmel  und  sein  heiliges  Gesetz  betrügen 
könne,  um  in  den  Himmel  zu  kommen,  wenn  man  sich  nur  einen  Tag  im  Jahr  oder 
eine  Stunde  vor  Todsünden  hüte  und  in  dieser  Spanne  aliquam  attritionem  aufweise 
(s.  Petrus  de  Palude  bei  Bratke  S.  84  ß'.,  bes.  S.  87  n.  1).  So  ist  die  Lehre  von  der 
attritio,  die  den  ganzen  Christenstand  beherrscht,  der  eigentliche  Grund- 
schaden des  katholischen  Lehrsystems;  denn  in  ihr  ist  Beides  wirksam,  die  magische 
und  daher  gottlose  Vorstellung  von  der  Wirksamkeit  des  Sacraments  und  die  nicht 
mehr  pelagianische,  sondern  bis  zur  Negation  alles  Sittlichen  getriebene  Vorstellung 
von  dem  „Verdienst,  welches  in  jedem  beliebigen  motus,  der  nur  Abkehr  von  der 
Sünde  ist,  anerkannt  wird. 

^  Da  nach  Halesius  der  Priester  noch  immer  nur  zeitliche  Strafen  erlassen, 
aber  nicht  Sünden  vergeben  kann,  so  kann  schon  desshalb  die  Nothwendigkeit  der 
Beichte  noch  nicht  sicher  begründet  werden.  Auch  Bonaventura  hat  sich  nicht 
getraut,  das  Beichtgebot  auf  eine  Einsetzung  und  Promulgation  Christi  zurückzu- 
führen. 

^  „Sicut  aliquis  per  hoc  (juod  baptismus  petit  sc  ministris  ccclesiac  subicit,  ad 
i\uo6  pcrtinet  dispcnsatio  sacramenti ,  ita  etiam  per  hoc  quod  confitetur  peccatum 
suum  sc  ministro  ecclesiae  subicit,  ut  per  sacramcntum  paenitentiao  ab  co  disi^en- 
satum  remissioncm  consequatur,  qui  congruum  remedium  adhiberc  non  potest,  nisi 
j)cccatum  cognoscat,  quod  fit  per  confessionem  peccantis.  Ed  ideo  confcssio  est  de 
necessitate  salutis  eius,  qui  in  peccatum  actualc  mortale  cecidit." 

'  Das  „positive"  Recht  ist  der  Beschluss  des  Coucils  von  1215;  ferner  muss 
»ich  ja  Jeder  als  einen  Sünder  erkennen;  weiter  soll  man  beichten,  um  mit  grösserer 
Ehrfurcht  zur  Eucharistie  hinzuzutreten;  endlich  damit  der  Hirt  seine  Hcerde  über- 
schauen und  vor  dem  Wolf  schützen  könne. 


506     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitaltei-  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

schlechterdings  nicht  statttinden  könne ;  selbst  der  Papst  kann  von 
der  Beichte  so  wenig  dispensiren,  wie  er  erklären  kann,  Jemand 
könne  auch  ohne  Taufe  selig  werdend  Die  7.  Q.  handelt  von  der 
„quidditas  confessionis",  d.  h.  von  ihrem  Wesen  als  „aperitio  latentis 
niorhi  spe  veniae"  ;  ferner  als  „actus  virtutis"^  und  als  „actus  virtutis 
paenitentiae".  Die  8.  Q.  ist  besonders  wichtig;  denn  sie  entwickelt 
die  Jjehre  vom  minister  confessionis.  Hier  heisst  es  gleich  im  1.  Art.: 
„Gratia,  quae  in  sacramentis  datur,  a  capite  in  membra  descendit, 
et  idco  solus  ille  minister  est  sacramentorum,  in  quibus  gratia  datur, 
qui  habet  ministerium  super  corpus  Christi  verum,  quod  solius  sacer- 
dotis  est,  qui  consecrare  eucharistiam  potest,  et  ideo  cum  in  sacra- 
mento  paenitentiae  gratia  conferatur,  solus  sacerdos  minister  est  huius 
sacramenti,  et  ideo  ei  soh  facienda  est  sacramentalis  confessio,  quae 
ministro  ecclesiae  iieri  debet."  Allein  im  2.  Art.  wird  zugestanden, 
dass  „in  necessitate  etiam  laicus  vicem  sacerdotis  supplet,  ut  ei  con- 
fessio fieri  possit"  ^.  Die  Nothwendigkeit,  die  lässlichen  Sünden  dem 
Priester  zu  beichten,  wird  in  Abrede  gestellt  (Art.  3),  und  dabei  ist 
es  geblieben,  da  auch  Duns  Scotus  dieser  Auffassung  beitrat.  Die 
Beichte  hat  vor  dem  Parochus  zu  geschehen;  nur  „ex  superioris  pri- 
vilegio"  darf  davon  abgegangen  werden,  sowie  in  casu  mortis 
(Art.  4  —  6).  In  der  9.  Q.  de  qualitate  confessionis  ist  besonders 
der  2.  Art.,  der  von  der  integritas  confessionis  handelt*  und  der  3., 
welcher  verbietet,  „per  alium  vel  per  scriptum"  zu  beichten,  von 
Wichtigkeit^.  Die  10.  Q.  handelt  vom  Effect  der  Beichte  und  die  11. 
von  der  Verschwiegenheit  des  minister,  die  sehr  streng  eingeschärft 
wird  („deus  peccatum  illius,  qui  se  subicit  per  paenitentiam,  tegit;  unde 
et  hoc  oportet  in  sacramento  paenitentiae  significari,  et  ideo  de 
necessitate  sacramenti  est,  quod  quis  confessionem  celet,  et 
tamquam  violator  sacramenti  peccat,  qui  confessionem  revelat"). 

Diese  Bestimmungen  des  Thomas  haben  zwar  in  der  scotisti- 

^  „Sicut  non  potest  dispensari  iu  iure  naturali,  ita  nee  in  iure  positive  divino". 
^  Art.  2:  „ad  virtutem  pertinet,  ut  aliquis  ore  confiteatur,  quod  corde  tenet." 
^  Doch  ist  eine  solche  Beichte  keine  sacramentale  im  strengen  Sinn. 
*  Wie  man  die  ganze  Krankheit  dem  Arzt  offenbaren  muss  und  dies  die  Vor- 
aussetzung der  Heilung  ist,  so  ist  es  auch  bei  der  Beichte.    „Ideo  de  necessitate 
confessionis  est,  quod  homo  omnia  peccat a  confiteatur,  quae  in  memoria  ha- 
bet, quod  si  non  faciat,  non  est  confessio,  sed  confessionis  simiüatio."   Vergessene 
Todsünden  sind  in  der  folgenden  Beichte  zu  bekennen. 

^  Zur  Beschreibung  der  Qualitäten  der  Beichte  ist  der  Schulvers  gebildet 
(s.  Art.  4):  „Sit  simplex,  humilis  confessio,  pura,  fidelis, 

Atque  frequens,  nuda,  discreta,  libeus,  verecunda. 
Integra,  secreta,  lacrimabilis,  accelerata, 
Fortis  et  accusans  et  sit  parere  parata." 


Das  Busssacrament.   Die  Absolution.  507 

sehen  Schule   manche  Modificationen  erfahren,   aber  im   Wesent- 
lichen sind  sie  geblieben. 

Die  Beichte  wird  vor  dem  Priester  abgelegt;  ihr  folgt  die  Ab- 
solution. Es  ist  schon  daraufhingewiesen  worden,  wie  lange  es  ge- 
dauert hat,  bis  sich  die  neuen  Vorstellungen  einbürgerten,  1)  dass  vor 
dem  Priester  gebeichtet  werden  müsse  ^ ,  2)  dass  der  Priester  die  Ab- 
solution von  sich  aus  (in  göttlicher  Vollmacht)  ^  als  eine  wirksame  ertheilt 
(Mtth.  16,  Job.  20).  Complicirt  erscheint  die  Absolutionsgewalt,  welche 
jedem  Priester  verliehen  ist,  desshalb,  weil  sie  mit  der  Jurisdictions- 
gewalt  (in  ihrer  Anwendung)  zusammenhängt,  die  bekanntlich  eine  ab- 
gestufte ist.  Thomas  hat  auch  hier  zuerst  die  Theorie  geliefert;  denn 
selbst  bei  Halesius  und  Bonaventura  sind  noch  Unsicherheiten,  die  sich 
aus  dem  Nachwirken  der  älteren  Auffassung  erklären.  Summa  P.  III, 
Suppl.  Q.  17 — 24  hat  Thomas  die  Lehre  von  derpotestas  clavium  ent- 
wickelt und  gezeigt,  dass  die  priesterliche  Absolution  die  causa  Instru- 
mentalis (im  physischen  Sinn)  der  Sündenvergebung  sei.  Allein  in  der 
scotistischen  Schule,  die  ja  überhaupt  den  Zusammenhang  von  Sacra- 
ment  und  res  sacramenti  gelockert  hat,  wurde  nur  eine  moralische 
Vermittelung  der  Sündenvergebung  durch  die  absolutio  angenommen, 
sofern  der  Priester  vermittelst  derselben  Gott  zur  Erfüllung  seines 
„Vertrages"  bewegt.  Auf  die  Jurisdictionsgewalt  des  Priesters  ist 
Thomas  auch  eingegangen,  und  man  hat  sie  seitdem  stets  mit  der  Theorie 
der  Absolution  zusammen  behandelt,  obgleich  sie  in  eine  ganz  andere 
Richtung  führt,  ja  schliesslich  geeignet  ist,  die  Zuversicht  zu  der  Ab- 
solutionsgewalt jedwedes  Priesters  zu  schwächen.  Es  wurde  nämlich 
von  den  Meisten,  wenn  auch  nicht  von  Allen,  behauptet,  dass  die  Juris- 
dictionsgewalt auch  ex  iure  divino  sei,  und  dass  desshalb  die  Einschrän- 
kungen in  Bezug  auf  die  erlaubte  Ertheilung  der  Absolution  nicht  nur 
kirchliche  Anordnungen  seien,  sondern  göttlichen  Rechts.  Nun  aber 
hatte  sich  im  Mittelalter  ein  ungeheures  System  von  speciellen  Erlaub- 
nissen, Reservationen  u.  s.  w.  herausgebildet  auf  Grund  arbiträrer  Ent- 
scheidungen der  Päpste.  Der  Satz,  obgleich  lebhaft  bestritten,  wurde 
in  Geltung  erhalten,  dass  die  kirchlichen  Vorgesetzten  „bei  der  Ueber- 
tragung  der  richterlichen  Gewalt  in  foro  interno  beliebige  Einschrän- 
kungen hinsichthch  der  Dauer,  des  Orts  und  des  Objects  durch  Reser- 
vation machen  können"  —  musste  nicht  durch  solcli'  ein  Verfahren,  in 
dem  sich  der  Laie  nicht  zurechtfinden  konnte,  nothwendig  Verwirrung 
und  Unsicherheit  in  Bezug  auf  das  Sacrament  entstehen?  ^ 

*  Ueber  die  Ausnahme  s.  oben. 

'-^  Nicht  ex  potcstatc  auctoritatis  oder  cxccllcntiao,  sondern  ministerii. 

'  Die  wichtigsten  Sätze  des  Thomas  über  die  Absolution  sind  folgende:  Suppl. 


508     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  1 6.  Jahrh. 

Der  Absolutio  geht  die  Auferlegung  der  satisfactio,  wenn  solche 
nicht  etwa  schon  geleistet  ist,  vorher.    Hier  wirkt  der  Priester  als  medi- 


Q.  17  Art.  1 :  „lu  corporalibus  clavis  dicitiir  iustrumeutum,  (|uo  ostiura  aperitur, 
regui  autem  ostium  uobis  per  peccatum  clauditiir  et  quantum  ad  maculam  et  quan- 
tum  ad  reatum  poenae,  et  ideo  potestas,  cpia  tale  o])staciilum  rcmovetur,  dicitur 
clav  is.  Haec  autem  potestas  est  in  divina  trinitate  per  auetoritatem,  et  ideo  dici- 
tur a  quibusdam,  (piotl  habeat  clavem  auctoritatis,  sed  in  Christo  homine  fuit 
haec  potüstas  ad  removeudum  praedictum  obstaculum  per  meritum  passionis 
quae  etiam  dicitur  ianuam  aperire.  Et  ideo  dicitur  secuudum  quosdam  habere  cla- 
vem exeellentiae.  Et  (juia  ex  latere  Christi  dormientis  in  crucc  sacramenta  fluxerunt, 
ex  quibus  ecclesia  fabricatiir,  ideo  in  sacramentis  occlesiae  efficacia  passionis  manet, 
etpropter  hoc  etiam  ministris  ecclesiae,  qui  sunt  dispensatores  sa- 
crameutorum,  i)ote8tas  aliqua  ad  praedictum  obstaculum  removen- 
dumestcüllata,nün  propria,  sed  virtute  divina  et  passionis  Christi,  et  haec  potestas 
metapliorice  clavis  ecclesiae  dicitur,  quae  est  clavis  ministerii."  Besonders 
wichtig  ist  Q.  18  Art.  1 :  „Sacramenta  continent  ex  sanctificatione  invisibilem  gra- 
tiam.  Sed  huiusmodi  sanctificatio  quandoque  ad  necessitatem  sacramenti  requiritur 
tam  in  materia  quam  in  ministro,  sicut  patet  in  confirmatione.  Quandoque  autem  de 
necessitate  sacramenti  non  requiritur  nisi  sanctificatio  materiae,  sicut  in  baptismo, 
quia  non  habet  ministrum  determinatum  quantum  ad  sui  necessitatem,  et  tunc  tota 
vis  sacramentalis  consistit  in  materia.  Quaudocjue  vero  de  necessitate  sacramenti 
requiritur  consecratio  vel  sanctificatio  ministri  sine  aliqua  sanctificatione  materiae, 
et  tunc  tota  vis  sacramentalis  consistit  in  ministro,  sicut  est  in  paeni- 
tentia .  .  .  Per  paenitentiae  sacramcntum  numquam  datur  gratia,  nisi  praeparatio 
adsit  vel  prius  fuerit.  Unde  virtus  clavium  operatur  ad  culpae  remissionem,  vel  in 
voto  existens,  vel  in  actu  se  exerccns  .  .  .  sed  non  agit  sicut  principale  agens,  sed 
sicut  instrumentum,  non  quidem  pcrtingens  ad  ipsam  gratiae  susceptionem  causan- 
dam  etiam  instrumentaliter,  sed  disponens  ad  gratiam,  per  quam  fit  remissio  cul- 
pae. Unde  solus  deus  remittit  per  se  culpam  et  in  virtute  eius  agit .  .  .  sacerdos  ut 
instrumentum  animat um  .  .  .  ut  minister.  Et  sie  patet,  quod  potestas  clavium 
ordinatur  aliquo  modo  ad  remissionem  culpae  non  sicut  causans,  sed  sicut  disponens 
ad  eam-,  unde  si  ante  absolutionem  aliquis  non  fuisset  perfccte  dispositus  ad  gratiam 
suscipiendam,  in  ipsa  confessione  et  absolutione  sacrameutali  gratiam 
consequerctur,  si  obicem  non  poneret.  Im  Folgenden  wird  nun  bewiesen,  dass 
sich  die  priesterliche  clavis  unmöglich  nur  auf  den  Straf erlass  („ut  quidam  dicunt") 
beziehen  könne.  Im  2.  Art.  wird  sodann  gezeigt,  dass  „ex  vi  clavium  non  tota  poena 
remittitur,  sed  aliquid  de  poena  tcmporali,  cuius  reatus  post  absolutionem  a  poena 
aetema  remanere  potuit,  nee  solum  de  poena  illa.  quam  paenitens  habet  in  confi- 
tendo,  quia  sie  confessio  et  sacramentalis  absolutio  non  esset  nisi  in  onus,  quod  non 
competit  sacramentis  novac  legis,  sed  etiam  de  illa  poena,  quae  in  purgatorio  debe- 
tur,  aliquid  remittitur."  Man  unterschied  in  Bezug  auf  die  AVirksamkeit  der  abso- 
lutio wohl  auch  so :  Gott  tilgt  den  reatus  culpae,  Christus  den  reatus  poenae  aetor- 
nae;  Beides  wird  effectiv  vom  minister  sacramenti  in  göttlicher  Vollmacht  bewirkt, 
und  er  hat  zugleich  von  sich  aus  das  Recht,  den  reatus  poenae  tcmporalis  bei  seiner 
Absolution  abzumildern.  Q.  19  Art.  3  zeigt  Thomas,  dass  die  clavis  ordinis  nur  dem 
Priester  gegeben  ist,  die  clavis  iurisdictionis  —  quae  non  clavis  coeli  est,  sed  qua- 
dam  dispositio  ad  eam!  —  auch  Anderen  verliehen  werden  kann.  Q.  19  Art.  5  wird 
ausgeführt,  dass  auch  der  schlechte  Priester  die  Schlüssel  behält;  dagegen  hoisst  es 


J 


Das  Busssacrament.  Die  Satisfaction.  509 

cus  peritus  und  iudex  aequus.  Die  Praxis  der  Satisfactionen  (Kirchen- 
bussen) ist  uralt  (s.  oben  S.  239 f.  288 ff.);  die  Mechanisirung  und  Ueber- 
schätzung  —  dass  sie  neben  die  contritio  als  ein  Theil  der  Busse  ge- 
stellt werden  —  als  Theorie  verhältnissmässi^  jung.  Die  Idee  ist  jetzt 
diese,  dass  die  satisfactio  als  Bestandtheil  des  Busssacraments  die  noth- 
wendige  Offenbarung  der  Reue  in  solchen  Werken  ist,  die  geeignet  sind, 
dem  beleidigten  Gott  eine  gewisse  Genugthuung  zu  gewähren  (und  da- 
durch die  Veranlassung  zur  Abkürzung  auch  der  zeitlichen  Strafen 
werden).  In  der  Taufe  wird  die  Sünde  sammt  der  Strafe  ohne  alle  Genug- 
thuung  vergeben;  aber  von  dem  Getauften  verlangt  Gott  eine  gewisse 
Genugthuung  —  obgleich  dort  wie  hier  das  Verdienst  Christi  das  Ent- 
scheidende ist  — ,  theils  weil  der  Mensch  eine  gewisse  Satisfaction 
leisten  kann,  theils  weil  sie  seiner  Besserung  dient  und  ihn  vor  ferneren 
Sünden  zu  schützen  geeignet  ist.  Diese  Satisfaction  ist  aber  nur  dann 
wirklich  werthvoll,  wenn  sie  im  Stande  der  Gnade  (caritas)  geleistet 
wird.  Somit  muss  der  Todsünder  erst  absolvirt  sein,  um  dann  die  Ge- 
nugthuung auszuführen,  die  ihm  auferlegt  worden  ist,  und  die  er  zu 
leisten  vor  der  Absolution  versprochen  hat.  Allein  einen  gewissen 
Werth  haben  auch  solche  Werke,  die  nicht  im  Stande  der  Caritas  aus- 


Art.  6  von  den  häretischen  und  schismatischen  Priestern,  dass  in  ihnen  „manet  cla- 
vium  potestas  quantum  ad  essentiam,  sed  usus  impeditur  ex  defectu  materiae.  Cum 
enim  usus  clavium  in  utente  praelationem  recjuirat  respectu  eins  in  quem  utitur, 
propria  materia  in  quam  exercetur  usus  clavium  est  homo  subditus.  Et  quia  per 
ordinationem  ecclesiae  unus  subditur  alteri,  ideo  etiam  per  ecclesiae  praelatos  potest 
subtrahi  alicui  ille,  qui  erat  ei  subiectus.  Unde  cum  ecclesia  haereticos  et  schisma- 
ticos  et  alios  huiusmodi  privet  su])trahendo  sul)ditos  vel  simplicitcr  vel  quantum  ad 
ahquid,  quantum  ad  hoc  quod  privati  sunt,  non  possunt  usum  clavium  habere."  In 
Q.  20  Art.  1  wird  ausgeführt,  dass  nur  der  Papst,  da  er  die  indistincta  i)otestas 
super  omnes  besitzt,  die  Anwendung  der  Gewalt  der  Schlüssel  in  Bezug  auf  Alle 
besitzt,  dass  dagegen  die  Anderen  die  »Schlüssel  „non  in  quolibot  uti  possunt,  sed 
in  eos  tantum,  (jui  eis  in  sortem  venerunt,  nisi  in  neccssitatis  articulo".  Aber  auch 
seinen  subditus  kann  der  Priester  nicht  stets  absolviren;  denn  aliqua  peccata  — 
wenn  ihm  nicht  die  Gewalt  ertheilt  ist  —  unterliegen  der  Behandlung  des  Superior 
(Art.  2).  Ein  Priester  kann  auch  einen  Bischof  absolviren;  denn  „i)otcstas  clavium, 
quantum  est  de  se,  sc  extendit  ad  omnes"  (Art.  3).  Die  Q.  21 — 24  handeln  von  der 
Excommunication,  an  der  die  Jurisdictionsgewalt  besonders  betheiligt  ist  (Q.  21 
Art,  4:  Auch  eine  ungerechte  Excommunication  habet  effcctum  suum;  bei  einer 
Todsünde  muss  sie  respectirt  werden;  sed  si  quis  })ro  falso  crimine  in  iudicio  pro- 
bat«) excommimicatus  est,  tunc,  si  humiliter  sustinet,  humilitatis  meritum  re(;()m- 
l)en8at  excommunicationis  darnnum."  Q.  22  Art.  1 :  Von  den  Priestern  können  nur 
Bischöfe  und  maiorea  praelati  excommuniciren,  „qui  habent  iurisdictionem  in  foro 
iudiciah',  ad  quod  specfat  causa,  (|ua(;  obligat  hominem  in  comparatione  ad  alios 
homines";  aber  auch  Nicht -IViester  können  excommuniciren  jweil  es  sich  nicht 
um  die  gratia  handelt],  wenn  sie  die  iurisdictio  in  foro  contentioso  haben). 


510     Geschichte  des  Doj^mas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

geführt  sind;  auch  sie  sind  nicht  ohne  satisfactorische  Bedeutung  und 
können  die  zeitHchen  Sündenstrafen  abkürzen.  Die  satisfactorischen 
Werke  sind  vornehniHch  Gebet,  Fasten  und  Ahnosen;  denn  sie  befreien 
den  Menschen  von  dem  natürlichen  Sinn.  Die  Scholastiker  haben  aber 
auch  die  aus  den  rohen  Zeiten  der  germanischen  Kirche  stammende 
Praxis  gerechtfertigt,  dass  die  Satisfactionen  unter  Umständen  von 
Anderen  geleistet  werden  können,  weil  die  Christen  als  Glieder  eines 
Leibes  mit  einander  verbunden  sind.  Das  führt  zu  dem  Ablass 
hinüber  K 


*  Thomas  behandelt  Suppl.  Q.  12 — 15  die  satisfactio.  Q.  12  Art.  1  und  2  wird 
die  satisfactio  als  actus  virtutis  et  iustitiae  nachgewiesen,  Art.  3  die  alte  Definition 
gerechtfertigt,  satisfacere  sei  sowohl  „honorem  debitmn  deo  impendere"  als  „prae- 
servare  culpam  futuram".  Q.  13  wird  gezeigt,  dass  der  Mensch  nicht  im  Stande  ist, 
Gott  genugzuthun  quoad  aequalitatem  quantitatis,  wohl  aber  quoad  aequalitatem 
proportionis  („ex  hoc  quod  per  liberum  arbitrium  agit,  deo  satisfacere  potest,  quia 
quamvis  dei  sit  prout  a  deo  sibi  concessum,  tarnen  libere  ei  traditum  est,  ut  eius 
dominus  sit");  im  2.  Art,  folgt  der  Nachweis,  dass  Einer  für  den  Anderen  die  satis- 
factio leisten  kann-,  doch  ist  die  These  verclausulirt  („Poena  satisfactoria  est  ad 
duo  ordinata,  seil,  ad  solutionem  debiti  et  ad  medicinam  pro  peccato  vitando". 
In  letzterer  Hinsicht  kann  Einer  dem  Anderen  nur  per  accidens  helfen,  sofern  er 
dem  Anderen  durch  gute  Werke  ein  augmentum  gratiae  verschaffen  kann ;  sed  hoc 
est  per  modum  meriti  magis  quam  per  modum  satisfactionis.  Sed  quantum  ad  solu- 
tionem debiti,  unus  potest  pro  alio  satisfacere,  dummodo  sit  in  caritate,  ut  opera 
eius  satisfactoria  esse  possint").  In  der  14.  Q.  wird  die  Qualität  der  satisfactio  be- 
handelt ;  hier  werden  die  Fragen  nach  der  Nothwendigkeit,  dass  der  Mensch  im  Zu- 
stand der  Caritas  sei,  besprochen  und  noch  strenge  entschieden  („Quidem  dixerunt" 
—  Art.  2  — ,  quod  postquam  omnia  peccata  per  praecedentem  contritionem  remissa 
sunt,  si  aliquis  ante  satisfactionem  peractam  in  peccatum  decidat  et  in  peccato 
existens  satisfaciat,  satisfactio  talis  ei  valet,  ita  quod  si  in  peccato  illo  morere- 
tur,  in  inferno  de  illis  peccatis  non  puniretur.  Sed  hoc  non  potest  esse,  quia  in  sa- 
tisfactione  oportet  quod  amicitia  restituta  etiam  iustitiae  aequalitas  restituatur, 
cuius  contrarium  amicitiam  tollit.  Aequalitas  autem  in  satisfactione  ad  deum  non 
est  secundum  aequivalentiam,  sed  magis  secvmdum  acceptationem  ipsius.  Et  ideo 
oportet,  etiamsi  iam  offensa  sit  dimissa  per  praecedentem  contritionem,  quod 
opera  satisfactoria  sint  deo  accepta,  quod  dat  eis  Caritas,  et  ideo  sine  caritate 
opera  facta  non  sunt  satisfactoria";  aber  im  5.  Art.  wird  zugestanden,  dass 
bona  opera  extra  caritatem  facta  diminuunt  poenam  infenii,  d.  h.  die  Verdammung, 
wie  Augustin  sagt,  mildern  und  die  zeithchen  Strafen  verkürzen).  Die  15.  Q.  handelt 
von  den  Mitteln  der  satisfactio  („satisfactio  sive  referatur  ad  praeteritam  offensam 
sive  ad  futuram  culpam  per  poenalia  opera  fieri  asseritur").  Hier  wird  folgende 
abschreckende  Rechtfertigung  der  drei  satisfactorischen  Strafinittel  gegeben 
(Art.  3) :  „Satisfactio  debet  esse  talis,  per  quam  aliquid  nobis  subtrahamus  ad  honorem 
dei,  nos  autem  non  habemus  nisi  tria  bona,  seil,  bona  animae,  bona  corporis  et 
bona  fortunae,  seil,  exteriora.  Ex  bonis  quidem  fortunae  subtrahimus  nobis  ali- 
quid per  eleemosynam,  sed  ex  bonis  corporis  per  ieiunium.  Ex  bonis  autem  animae 
non  oportet  quod  ali(iuid  subtrahamus  nobis  quantum  ad  essentiam  vel  quantum  ad 
diminutionem  ipsorum,  quia  per  ea  efficimur  deo  accepti,  sed  per  hoc  quod  ea  sub- 


Das  Busssacrament.  Der  Ablass.  511 

Der  Ablas s.  Die  Lehre  vom  Ablass  steht  innerlich  in  engster 
Beziehung  zur  Lehre  von  der  attritio,  äusserlich  erscheint  sie  als  eine 
Folge  der  Lehre  von  der  satisfactio  K  In  der  Theorie  hat  sie  mit  dem 
reatus  culpae  und  dem  reatus  poenae  aetemae  nichts  zu  thun;  in  der 
Praxis  haben  sich  nicht  nur  im  Mittelalter  schwere  Missstände  einge- 
stellt;  welche  die  Katholiken  (das  Concil  von  Trident)  zugestehen,  son- 
dern diese  Missstände  dauern  noch  immer  fort,  und  es  geschieht  nichts, 
um  der  Ueberschätzung  der  Ablässe  zu  wehren^. 

Die  Scholastik  fand  die  Ablässe,  die  namentlich  im  Zeitalter  der 
Kreuzzüge  einen  grossen  Aufschwung  genommen  hatten,  bereits  vor. 
Sie  ist  mit  ihrer  Theorie  ledighch  der  Praxis  gefolgt.  "War  schon  die 
Lehre  von  der  Satisfaction  eine  höchst  willkürliche,  welche  nothwendig 
—  trotz  aller  Cautelen  —  die  Bedeutung  der  Busse  gefährden  musste,  so 
wurde  die  Lehre  vom  Ablass  die  potenzirte  Willkür  und  übte  einen 
höchst  verderblichen  Einfluss  auf  die  Religion  und  die  Moral  aus.  Man 
kann  die  Praxis  und  Theorie  der  Ablässe  allerdings  auch  ideahsiren,  ja 
es  ist  möghch,  der  idealisirten  Praxis  sogar  ein  gewisses  Recht  beizu- 

mittimus  deo  totaliter,  et  hoc  fit  per  orationem  .  .  .  Secundum  quosdam  du- 
plex est  oratio;  quaedam  quae  est  contemplativorum,  quorum  con- 
versatio  in  coelis  est,  et  talis  quia  totaliter  est  delectabilis  non  est 
satisfactoria.  Alia  est,  quae  pro  peccatis  gemitus  fundit  et  talis  habet 
poenam  et  est  satisfactionis  pars.  Vel  dicendum  et  melius,  quod  quaelibet 
oratio  habet  rationem  satisfactionis,  quia  quamvis  habet  suavitatem 
Spiritus,  habet  tarnen  afflictionem  carnis."  In  der  Theorie  tritt  übrigens 
bei  Thomas  die  Bedeutung  der  Satisfactionen  als  Abbüssung  der  zeitlichen  Sün- 
denstrafen, die  nicht  erlassen  sind,  neben  den  anderen  Zwecken  derselben  nicht 
besonders  hervor.  Wird  doch  auch  in  abstracto  zugestanden,  dass  die  contritio  so 
vollkommen  sein  könne,  dass  alle  Strafe  von  Gott  geschenkt  werde.  Allein  fac- 
tisch  wurden  die  Satisfactionen  fast  ausschliesslich  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Abbüssung  der  Sündenstrafen  (und  zwar  vornehmlich  der  zukünftigen  im  Fegfeuer) 
betrachtet.  Hier  setzten  die  Ablässe  ein,  und  hier  stellte  sich  das  sehr  verzeihliche 
Miss  Verständnis«  der  Laien  ein,  dass  die  Satisfactionen  an  sich  von  allen  Sünden- 
strafen befreien  —  und  nur  um  diese  Befreiung  ist  es  den  Meisten  zu  thun  gewesen. 

*)  Die  Litteratur  s.  oben  S.  504  Anmk.  2.  Dazu  Schneider,  Die  Ablässe. 
7.  Aufl.  1881.  Thomas,  Suppl.  Q.  25—27. 

^  Dass  auch  in  der  Theorie  im  Mittelalter  gefehlt  worden  ist,  gestehen  ka- 
tholische Stimmen  selbst  zu  (s.  Schneider  S.  10  n.  2):  „Es  find(3n  sich  gewisse  Ab- 
lassbriefe, die  zugleich  von  Vergebung  der  Schuld  und  der  Strafe  reden  (a  culpa  et 
a  poena);  allein  nach  der  Meinung  Benedicts  XIV.  sind  diese  Erlasse  falsch  und 
müssen  jenen  Almosensammlern  zugeschrieben  werden,  welche  vor  der  Synode  von 
Trident  Ablässe  verkündigten  und  dabei  Almosen  einsammelten."  Natürlich  beruft 
man  sich  katholischerseits  gerne  darauf,  dass  „peccatum"  auch  für  „Sündenstrafe" 
„Sündonsühnung"  geljraucht  worden  sei.  Diese  Bedeutung  ist  in  der  That  nach- 
weisbar; ob  sie  aber  für  alle  die  Fälle  zutrifft,  wo  Aljlässe  und  Sünde  in  Verbindung 
gebracht  sind,  ist  mehr  als  fraglich. 


512     (xeBchic'hto  des  Doß^mas  im  Zoitaltor  clor  Bottelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

legen  *  ^  wäre  das  nicht  möglich,  so  wäre  es  nnglauhhcli,  dass  so  viele 
ernste  Christen  die  Ahlässe  vertheidigt  hahen  — ,  allein  die  scholastische 
Theologie  hat  sie  keineswegs  idealisirt. 

Die  Praxis  der  Ahlässe  wurzelt  in  den  Oommutationen.  Die 
Vertauschung  schwererer  Bussleistungen  mit  geringeren  hiess  indul- 
gentia'-.  Die  Bussleistungen  kamen  hier  in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Ahhüssung  zeithcher  Sündenstral'en  in  Betracht.  Die  schwersten  zeit- 
lichen Sündenstrafen  waren  die  des  Fegfeuers;  denn  die  irdischen  Sün- 
denstrafen waren  theils,  wie  die  Erfahrung  lehrte,  nicht  ahzuwenden, 
theils  fielen  sie,  mochte  man  auch  an  Jahre  lange  Busse  denken,  nicht 
ins  Gewicht  gegenüher  den  langen  und  schmerzhchen  Strafen  im  Feg- 
feuer. Es  war  eine  raffinirte  Praxis  der  Kirche,  die  sich  allmählich 
herausgehildet  hatte,  die  Menschen  durch  die  Gnade  (Busssacrament) 
üher  die  Hölle  in  bequemer  AVeise  zu  trösten,  aber  sie  andererseits 
durch  das  Fegfeuer  zu  schrecken.  War  dieses  Fegfeucr  denn  nicht  auch 
eine  Hölle  V  Aber  wie  fein  war  die  ganze  Vorstellung  den  moralischen 
Empfindungen  der  homines  attriti  abgelauscht !  ^  An  die  Hölle  glauben  sie 
im  Grunde  nicht,  weil  ihnen  die  Schwere  der  Sünde  nicht  aufgegangen 
ist,  und  weil  sie  demgemäss  zu  einem  Leben  in  Gott  nicht  zu  bew^egen 
sind.  Daher  schliesst  die  Kirche  durch  das  Busssacrament 
die  Hölle.  Aber  dass  es  ihnen  einst  eine  lange  Zeit  hindurch  sehr 
schlecht  gehen  werde,  und  dass  sie  ihre  Sünden  sämmtlich  einmal  abbüssen 
müssen,  das  glauben  sie.  Darum  eröffnet  die  Kirche  das  Feg- 
feuer'*.    Dass  dieses  Fegfeuer  abgemildert  und  verkürzt  werden  kann. 


'  Gleichzeitig^  sowohl  die  Satisfactionen  als  die  Ablässe  zu  vertheidigen,  ist 
freilich  schwer.  Entspringen  jene  aus  dem  freudigen  Drange  des  von  der  Schuld 
befreiten  Herzens,  die  geschenkte  Liebe  zu  bethätigen,  so  wird  der  Gedanke  des 
Ablasses  nicht  aufkommen.  Sind  umgekehrt  die  Ablässe  Erlass  der  zeitlichen  Sün- 
denstrafen, so  darf  man  sie  nicht  auf  die  idealisirten  Satisfactionen  beziehen. 

2  Solche  Vertauschuugen  stellten  sich  mit  Nothwendigkeit  auch  desshalb  ein, 
weil  die  alten  Bussforderungen  zum  Theil  exorbitant  hohe  waren. 

^  Die  Ablässe  waren  recht  eigentlich  die  Zuflucht  der  halbschlächtigen  Christen, 
wenn  auch  die  frömmsten  sich  ihrer  bedienten.  Von  Tetzel  wird  erzählt,  er  habe,  als 
in  der  kleinen  Stadt  Belitz  bei  Berlin  Niemand  bei  ihm  Ablässe  kaufen  wollte,  un- 
muthig  gesagt,  entweder  müssten  in  dem  Städtlein  „gar  fromme  Leute  oder 
verzweifelte  Buben"  sein.  So  erzählt  Creusing  in  seiner  märkischen  Fürstenchronik 
hrsg.  von  Holtze  S.  159  nach  einer  Mittheilung  des  Belitzer  Müllers,  Meister 
Jakob  (s.  Heidemann,  Die  Reform,  in  der  Mark  Brandenburg  S.  77). 

'*  Nachdem  diese  Worte  längst  niedergeschrieben  waren,  stioss  ich  auf  Rous- 
seau's  Charakteristik  der  dämonischen  Frau  von  Waren  in  seinen  Bekenntnissen. 
Hier  heisst  es  (Deutsche  Ausgabe  von  Denhard  IS.  291):  „  .  .  .  Seltsamerweise 
Hess  sie  sich,  o))gleich  sie  nicht  an  eine  Hölle  glaubte,  doch  den  (ilauben  an  das 
Fesffeuer  nicht  nehmen."  Rousseau  hat  das  als  eine  Seltsamkeit  btnirtheilt,  weil  er 


Das  Busssacrament.   Der  Ablass.  513 

das  glauben  diese  liomines  attriti  ferner  sehr  gern;  denn  sie  leben 
sämmtlich  in  der  Vorstellung,  dass  gute  Leistungen  Verfehlungen  ein- 
fach compensiren,  und  die  „Galgenreue"  ist  auch  nicht  so  nachhaltig, 
dass  sie  die  Menschen  bestimmen  könnte,  ernsthafte  Busse  —  auch  nur 
im  Sinne  anhaltender  Enthaltungen  und  heroischer  Werke  —  zu  thun. 
Daher  eröffnet  die  Kirche  die  Ablässe.  In  ihnen  zeigt  sie  dem 
gemeinen  Mann  ihre  eigentlichen  Kräfte;  denn  die  Magie  des  Buss- 
sacraments  beruhigt  ihn  doch  nicht  ganz.  Er  hat  den  Restmorahscher 
Empfindung,  dass  etwas  von  seiner  Seite  geschehen  muss,  damit  die 
Vergebung  glaublich  und  sicher  werde.  Fides  und  contritio  kann  und 
will  er  nicht  leisten;  aber  irgend  etwas  will  er  gerne  thun.  Hier  tritt 
nun  die  Kirche  ein  und  sagt  ihm,  dass  seine  erbärmliche  Leistung  durch 
die  Macht  der  Kirche  in  eine  sehr  hohe  umgesetzt  und  verwandelt  wird, 
in  eine  so  hohe,  dass  damit  die  Sündenstrafen  im  Fegfeuer  getilgt  wer- 
den. Mehr  will  der  Mensch  nicht  wissen.  Was  dann  noch  kommt,  das 
kann  ihn  wenig  kümmern,  und  die  Kirche  selbst  sagt  ihm,  dass  ihn  das 
Folgende,  w^enn  er  mit  dem  Busssacrament  wohl  versehen  ist,  nicht 
treffen  werdet  Attritio,  sacramentum  paenitentiae,  indulgentia:  das  ist 

sich  trotz  seines  Uebertritts   niemals  von  den  protestantischen  Einflüssen  seiner 
Jugend  ganz  zu  befreien  vermocht  hat. 

*  Die  Lehre  vom  Fegfeuer  (purgatorium)  stand  den  Scholastikern  fest  und 
wurde  im  13.  bis  15.  Jahrhundert  den  Griechen  gegenüber  energisch  vertheidigt. 
Dieses  purgatorium  besteht  für  die  abgeschiedenen  Seelen,  welche  absolvirt 
sind,  aber  nicht  für  alle  Sünden  Genugthuung  geleistet  haben,  nach  lateinischer 
Auffassung  bis  zum  Weltgericht  (die  Griechen,  soweit  sie  es  überhaupt  anerkannten, 
setzten  es  hinter  das  Weltgericht),  resp.  kürzere  Zeit.  Die  Seelen  der  Gerechten, 
welche  keiner  Läuterung  mehr  bedürfen,  gelangen  sofort  zur  Anschauung  Gottes 
(die Gegenlehre  Johann's XXII.  wurde  verworfen).  Genauer  lehrten  die  Scholastiker, 
dass  es  fünf  AVohnorte  der  abgeschiedenen  Seelen  gebe:  1)  die  Hölle,  wohin  die 
Todsünder  sofort  kommen,  2)  der  limbus  infantium,  d.  h.  der  ungetauft  gestorbenen 
Kinder,  3)  der  limbus  patrum,  d.  h.  der  alttestamentlichen  Frommen,  4)  das  pur- 
gatorium, 5)  der  Himmel;  s.  die  genaue  Ausführung  bei  Thomas  Suppl.  Q.  69.  Dass 
die  Seelen  der  Frommen  von  den  Vorgängen  auf  Erden  Kenntniss  haben  und  für 
die  irdischen  Brüder  eintreten,  hat  der  Lom})arde  (Sent.  IV,  Dist.  45  G)  ausge- 
führt: „Cur  non  credamus  et  animas  sanctorum  dei  faciem  contemplantium  in 
eins  veritate  intclligere  preces  liominum,  quac  et  implendac  sunt  vel  non?  . . .  Inter- 
cedunt  ergo  pro  nobis  ad  deum  sanoti,  et  merito,  dum  illorum  merita  suffragantur 
nobis,  et  affcctu,  dum  vota  nostra  cupiunt  impleri  .  .  .  Oramus  ergo,  ut  inter- 
cedant  pro  nobis,  i.  c.  ut  merita  eorum  suffragentur  nobis,  et  ut  ipsi  velint  bo- 
num  noHtrum,  quia  eis  volenti))US  dcus  vult  et  ita  fiet"  ;  ebenso  Thomas,  Suppl.  Q.  73 
vel  74  Art.  1.  Die  Existenz  des  Fegfeuers  wird  von  Tliomas  (1.  c.  Q.  69  Art.  7)  also 
y)egründet:  „Satis  potest  constare  ])urgatorium  esse  post  hanc  vitam ;  si  enim  per 
contritionem  deleta  culpa  non  tollitur  ex  toto  reatus  pocnac  nee  ctiam  sempcr  veni- 
alia  dimissis  mortaliljus  tf>lluntur,  et  iustitia  lioc  exigit,  ut  peccatum  per  poenam 
de))itam  ordinetur,  oportet  quod  ille,  <jui  post  contritionoTn  de  peccato  et  a])solu- 
llarnack,  Do^^eiiKeschiclite  III.  33 


514     Geschichte  des  Dof^mas  im  Zeitalter  der  Bettclorden  bis  zum  16.  Jahrb. 

die  katholisclie  Trias.  Das,  was  für  den  Ablass  7AI  leisten  ist,  ist  hierbei 
das  einzig  Bedrückende;  aber  eben  dies  wurde  sehr  leicht  gemacht.  So 
wurde  der  Ablass  eine  Persiflage  des  Christenthums  als  der  Religion 
der  Erlösung  durch  Christus. 

Die  Theorie  der  Scholastiker  ist  folgende :  Nachdem  man  noch  bis 
tief  in  das  13.  .Fahrhundert  hinein  darüber  geschwankt  hatte,  ob  sich  die 
Ablässe  nicht  nur  auf  die  vom  Priester  auferlegten  Kirchenstrafen  be- 
ziehen, stellte  Thomas  fest,  dass  sie  auf  den  reatus  temporalis  poenae 
überhaupt  (in  terris  und  in  purgatorio)  Anwendung  finden.  Die  Ge- 
rechtigkeit Gottes  fordert,  dass  keine  Sünde  „inordinata"  bleibe,  und 
dass  der  Mensch  auch  das  leiste,  was  er  leisten  kann.  Hiernach  ist  er 
zur  Ableistung  der  zeitlichen  Sündenstrafen  auch  als  Absolvirter  ver- 
pflichtet. Allein,  was  das  Verdienst  Christi  an  sich  und  direct  nicht 
leistet,  sofern  es  im  Sacrament  nur  den  reatus  culpae  et  poenae  aeter- 
nae  tilgt,  das  leistet  es  ausserhalb  des  Sacraments  als  Ver- 
dienst. Christus  hat  nämlich  durch  sein  Leiden  mehr  gethan,  als  was 
zur  Erlösung  erforderlich  war,  und  auch  viele  Heilige  haben  sich  Ver- 
dienste erworben,  die  Gottes  Gnade  belohnt.  Dieses  überschüssige 
Verdienst  (thesaurus  operum  supererogatoriorum)  muss  nothwendig, 
da  es  Christus  und  den  Heiligen  nicht  weiter  zu  Gut  kommen  kann,  der 
Kirche  als  dem  Leibe  Christi  zu  Gut  kommen.  Eine  andere  Wirksam- 
keit aber  kann  es  neben  dem  Busssacrament  nicht  finden,  als  dass  es 
die  zeitlichen  Sündenstrafen  abmildert,  verkürzt  oder  tilgt.  Zugewandt 
kann  es  nur  Solchen  werden,  die  in  bussfertiger  Gesinnung  nach  Ablegung 
der  Beichte  absolvirt  sind,  und  verwaltet  wird  es  in  erster  Linie  vom 
Papst  als  dem  Haupt  der  Kirche.  Doch  kann  derselbe  Anderen  eine 
partielle  Verwaltung  übertragen.  Die  Zuwendung  geschieht  regelmässig 
so,  dass  für  den  Ablass  eine  verhältnissmässig  sehr  kleine  Leistung  ver- 
langt wird  („eleemosynae",  d.  h.  Geldbussen)  ^ 


tionem  decedit  ante  satisfactionem  debitam  post  hanc  vitam  puniatur.  Et  ideo  illi 
qui  purgatorium  negant,  contra  divinam  iustitiam  locuntur,  et  propter  hoc  erro- 
neum  est  et  a  fide  alienum  (Folgt  eine  gefälschte  Stelle  aus  Gregor  von  Nyssa's 
Werken,  die  besagen  soll,  dass  die  ganze  Kirche  so  lehrt).  Quod  non  potest  nisi  de 
illis,  qui  sunt  in  purgatorio,  iutelligi ;  ecclesiae  autem  autoritati  quicunque  resistit, 
haeresim  incurrit."  Dennoch  hat  ein,  im  14.  und  15.  Jahrhundert  sehr  lebhaft  wer- 
dender Widerspruch  gegen  diese  Lehre  nicht  aufgehört.  Wiclif  und  Wessel  haben 
den  Widerspruch  der  mittelalterlichen  Secten  energisch  aufgenommen. 

^  Einen  thesaurus  meritorum,  welchen  die  Kirche  verwaltet,  hat  zuerst  Ha- 
lesius  angenommen  (s.  die  Stellen  bei  Münscher,  a.  a.  0.  S.  290  ff.).  Die  Theorie 
ist  fest  ausgebaut  worden  von  Albertus  und  Thomas.  Suppl.  Q.  25  Art.  1  führt 
dieser  Folgendes  aus:  „Ab  oranibus  conceditur  indulgentias  aliquid  valere,  quia 
impium  esset  dicere,  quod  ecclesia  aliquid  vane  facerot.    Sod  quidam 


Das  Busssacrament.   Der  Ablass.  515 

Diese  Theorie  liess  nun  noch  im  Einzelnen  —  von  der  Praxis 
ganz  abgesehen  —  sehr  verschiedene  Nuancen  zu.    Auch  sie  konnte 


dicunt,  quod  non  valent  ad  absolvendum  a  reatu  poenae,  quam  quis  in  purgatorio 
secundum  iudicium  dei  meretur,   sed  valent  ad  absolvendum  ab  obligatione  qua 
sacerdos  obligavit  paenitentem  ad  poenam  aliquam  vel  ad  quam  etiam  obligatur  ex 
canonum  statutis.  Sed  haec  opinio  non  videtur  vera,  Primo  quia  est  expresse  contra 
Privilegium  Petro  datum  cui  dictum  est,  ut  quod  in  terra  remitteret,  in  coelo  remit- 
teretur.   Unde  remissio,   quae  fit  quantum  ad  forum  ecclesiae  valet,  valet  etiam 
quantum  ad  forum  dei.   Et  praeterea  ecclesia  huiusmodi  indulgentias  faciens  magis 
damnificaret,  quam  adiuvaret,  quia  remitteret  ad  graviores  poenas,  seil,  purgatorii, 
absolvendo  a  paenitentiis  iniunctis.   Et  ideo   aliter  dicendum,   quod  valent  et 
quantum  ad  forum  ecclesiae  et  quantum  ad  iudicium  dei,  ad  remissio- 
nem  poenae  residuae  post  contritionem  et  confessionem  et  absolu- 
tio nem,  sive  sit  iniuncta,  sive  non.   Ratio  autem,  quare  valere  possint,  est  unitas 
corporis  mystici,  in  qua  multi  in  operibus  paenitentiae  supererogaverunt  ad  men- 
suram  debitorum  suorum  .  .  .  quorum  meritorum  tanta  est  copia,  quod  omnem  poe- 
nam debitam  nunc  viventibus  excedunt  et  praecipue  propter  meritum 
Christi,  quod  etsi  in  sacramentis  operatur,  non  tarnen  efficacia  eins 
in  sacramentis  includitur,  sedsuainfinitateexcedit  efficaciam  sacra- 
mentorum.  Dictum  est  autem  supra,  quod  unus  pro  alio  satisfacere  potest;  sancti 
autem,  in  quibus  superabundantia  operum  sanctificationis  invenitur,  non  determi- 
nate  pro  isto  qui  remissione  indiget,  huiusmodi  opera  fecerunt,  alias  absque  omni 
indulgentia  remissionem  consequerentur,  sed  communiter  pro  tota  ecclesia,  sicut 
apostolus  ait  (Coloss.  1),  et  sie  praedicta  merita  sunt  communia  totius  ecclesiae.  Ea 
autem  quae  sunt  alicuius  multitudinis  communia,  distribuuntur  singulis  de  multi- 
tudine  secundum  arbitrium  eins  qui  multitudini  praeest."    Dazu  die  vor- 
sichtigen Bemerkungen :  „Remissio  quae  per  indulgentias  fit,  non  tollit  quantitatem 
poenae  ad  culpam,  quia  pro  culpa  unius  alius  sponte  poenam  sustinuit."  —  «IUe 
qui  indulgentias  suscipit,  non  absolvitur,  simpliciter  loquendo,  a  debito  poenae,  sed 
datur  ei,  unde  debitum  solvat."  —  „Non  est  in  destructionem  indulgentias  dare, 
nisi  inordinate  dentur.   Tamen  consulendum  est  eis  qui  indulgentias  consequuntur, 
ne  propter  hoc  ab  operibus  paenitentiae  iniunctis  abstineant,  ut  etiam  ex  his  reme- 
dium  consequentur,  quamvis  a  debito  poenae  esse  immunes,  et  praecipue  quia 
quandoque  sunt  plurium  debitores  quam  credant."  Im  2.  Artikel  werden 
diejenigen  widerlegt,  welche  behaupten,  dass  die  Indulgenzen  „non  tantum  valent, 
quantum  pronuntiantur",  vielmehr  dem  Einzelnen  nur  soweit  gelten  „quantum  fides 
et  devotio  sua  exigit".   Es  wird  nachgewiesen,   „indulgentiae  simpliciter  tantum 
valent  quantum  praedicantur,  dummodo  ex  parte  dantis  sit  auctoritas  et  ex  parte 
recipientis  Caritas  et  ex  parte  causae  pietas".  Dazu:  „(juaecun(|ue  causa  adsit,  quae 
in  utilitatem  ecclesiae  et  honorem  dei  vergat,  sufficiens  est  ratio  indulgentias  fa- 
ciendi .  .  .  (nam)  merita  ecclesiae  semper  auperabundant."    Ferner  wird  gezeigt, 
dass  die  Indulgenzen  zu  der  clavis  iurisdictionis  gehören  (nicht  sacramental  sind) 
und  daher  „offectus  eius  arbitrio  hominis  subiacet"  (auch  autorisirte  legati  non  sacer- 
dotes  können  die  Ablässe  ertheih^n).    Auf  die  Frage,  ob  die  Indulgenzen  pro  tem- 
I)orali  subsidio  ertheilt  werden  können,  wird  im  3.  Artikel  geantwortet,  dass  dies 
simpliciter  nicht  möglich  ist,  „sed  i)r()  temporalibus  ordinatis  ad  spiriiualia,  sicut 
est  repressio  inimieorum  ecclesiae,  qui  })a(;ern  eoch'siae  perturbant,  sicut  constnictio 
ecclesiarum  et  pontium  et  aliaruni  eleemosynarum  largitio".  Die  2H.  Q.  handelt  von 

33* 


516     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

strenger  und  laxer  gefasst  werden.  Namentlich  konnte  die  Forderung, 
dass  man  reuemütliig  sein  müssO;  ausserordentlich  herabgestimmt  wer- 
den *.  Allein  nicht  nur  das  ist  geschehen,  sondern  die  Praxis  schlug,  wie 
schon  angedeutet,  ganz  andere  Wege  ein.   Sie  Hess  mit  mehr  oder  we- 


denjenigen,  die  Tndulgeiizen  erthcilen  können  („papa  potest  facere  prout  vult"), 
die  27.  (^.  von  den  Empfängern  der  Indulgcnzen.  Hier  wird  Artikel  1  die  These 
derer  widerlegt,  die  behaupten,  Todsündern  hülfe  der  Ablass  zwar  nicht  zur  Ver- 
gebung, jedoch  ad  acquirendam  gratiam :  „in  omnibus  indulgentiis  fit  mentio  de  vere 
contritis  et  confessis."  In  Artikel  3  wird  gezeigt,  dass  der  Ablass  dem  nicht  gelte, 
der  das  nicht  leistet,  wofür  der  Ablass  gegeben  ist.  Hierzu  ist  ferner  die  Q.  74  zu 
vergleichen,  wo  im  10.  Artikel  die  Frage  beantwortet  wird,  ob  die  Ablässe  den  Ver- 
storbeneu nützen.  Die  Antwort  lautet,  dass  sie  direct  nicht  nützen,  da  die  Todten 
das  nicht  leisten  können,  wofür  die  Ablässe  gegeben  werden.  Dagegen  indirect 
wohl,  wenn  nämlich  die  Indulgenzformel  lautet:  „Quicumque  fecerit  hoc  vel  illud, 
ipse  et  pater  eins  vel  quicumque  alius  ei  adiunctus  in  purgatorio  detentus,  tantum 
de  indulgentia  habebit."  „Talis  indulgentia  non  solum  vivo  sed  etiam  mortuo  pro- 
derit.  Non  enim  est  aliqua  ratio  quare  ecclesia  transferre  possit  communia  merita 
quibus  indulgentiae  innituntur  in  vivos  et  non  in  mortuos."  Die  Ablässe  sind  aber 
nicht  lediglich  per  modum  suffragii  wirksam,  sondern  effectiv.  Doch  soll  die  Will- 
kür des  Errettens  der  Seelen  aus  dem  Fegfeuer  seitens  des  Papstes  dadurch  eine 
Beschränkung  erfahren,  dass  stets  eine  causa  conveniens  indulgentias  faciendi  vor- 
handen sein  muss ;  eine  solche  aber  findet  sich  immer.  —  Es  ist  übrigens  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  die  Annahme  eines  thesaurus  meritorum  eine  lange  religions- 
geschichtliche Vorgeschichte  hat;  s.  Siegfried  in  Hilgenfeld's Ztschr.  1884  Heft  3 
S.  356 :  „Die  Lehre  von  einem  Schatz  der  guten  Werke,  aus  welchen  Entschädi- 
gungen für  die  Sünden  Anderer  entnommen  werden  können,  ist  ursprünglich  durch 
eranische  Einflüsse  in  das  Judenthum  gekommen,  wie  bekanntlich  so  manches 
Andere  in  der  spätjüdischen  Dogmatik.  Wenn  man  das,  was  in  Spiegel' s  era- 
nischer  Alterthumskunde  II  151  ff.  hierüber  steht,  vergleicht  mit  dem,  was  in 
Web  er 's  System  der  altsynagogalen  paläst.  Theol.  1880  S.  280  ff.  sich  findet,  wird 
man  daran  nicht  zweifeln  können.  Da  nun  diese  Lehre  ihre  Geltung  innerhalb  der 
katholischen  Kirche,  nachdem  sie  Alexander  von  Haies  zuerst  aufgestellt  hatte, 
besonders  dem  Thomas  von  Aquin  verdankt,  dieser  aber  bekanntlich  den  Maimo- 
nides  ausschrieb  (Merx,  DieProphetie  des  Joel  1879  S.  354 — 367),  so  entsteht  von 
vornherein  der  Verdacht,  dass  man  auch  diese  Lehre  aus  jüdischen  Quellen  ent- 
lehnte. Den  näheren  Nachweis  für  die  Thatsächlichkeit  dieses  Verhältnisses  be- 
halten wir  uns  vor,  da  derselbe  hier  zu  weit  führen  würde." 

*  Sehr  viel  Material  in  Bezug  auf  die  laxe  und  die  strenge  Theorie  bei  B  r  atk  e , 
a.  a.  0.  Einen  Hauptunterschied  bildete  die  Frage,  ob  die  Ablässe  nicht  auch  Tod- 
sündern ad  acquirendam  gratiam  von  Nutzen  seien,  resp.  ob  man  sie  ihnen  nicht  im 
Voraus  geben  könne,  damit  sie  sie  gebrauchen,  wenn  sie  disponirt  sind.  Natürlich 
sind  auch  hier  die  Differenzen  der  Thomisten  und  Scotisten  über  attritio  und  con- 
tritio  wichtig.  Die  Ausführungen  über  den  Jubelablass  bei  Bratke  S.  201  ff.  2401V. 
scheinen  mir  theils  auf  Missverständnissen  zu  beruhen,  tlieils  übertrieben  zu  sein. 
Lehrreich  ist  die  Darstellung  der  Ablasstheorie  der  kirchlichen  Reformpartei 
S.  234  ff.  (Cajetau),  sowohl  um  des  Verständnisses  der  ältesten  Position  Luther's 
willen,  als  um  zu  erkennen,  wie  wehrlos  diese  Reformpartei  gewesen  ist. 


Das  Busssacrament.   Der  Ablass.  517 

niger  Absichtlichkeit  ein  Dunkel  darüber  bestehen,  was  denn  eigentlich 
durch  den  Ablass  getilgt  werde  (s.  den  amphibolischen  Ausdruck  „zum 
Heil  der  Seele"  u.  ä.  a.);  sie  ersetzte  die  Forderung  wahrer  Reue  und 
aufrichtigen  Entschlusses  der  Besserung  durch  Hinweis  auf  das  Buss- 
sacrament oder  verschwieg  die  Forderung  ganz;  sie  gab  dem  Ablass 
eine  Deutung,  in  welcher  die  Macht  der  Kirche  und  des  Priesters  die 
theoretische  Begründung  auf  das  Verdienst  Christi  verdrängte,  und  sie 
leistete  endlich  dem  entsetzKchen  Wahne  Vorschub,  dass  der  Mensch 
sich  durch  die  Mittel  der  Religion  zeitliche  Vortheile  verschaffen  könne, 
und  dass  ausserdem  die  Kraft  und  der  Sinn  der  Religion  in  der  Ver- 
hütung gerechter  Strafen  aufgehe.  Bei  dem  Allen  ist  der  verderbliche 
Effect,  den  die  häufig  schmähliche  Verwendung  der  Ablassgelder  und 
das  ganze  Speculationssystem  der  Curie  zur  Folge  haben  musste,  noch 
nicht  erwähnt.  Das  Busssacrament  gipfelte  leider  in  jenen  Ablässen, 
und  man  kann  das  Schlusswort  dieses  Systems,  ohne  sich  einer  Verhöh- 
nung schuldig  zu  machen,  dahin  zusammenfassen:  Jeder  Mensch,  der 
sich  der  katholischen  Kirche  unterwirft  und  der  aus  irgend 
einem  Grunde  mit  der  inneren  Verfassung  seines  Herzens 
nicht  ganz  zufrieden  ist,  kann  selig  und  von  allen  ewi- 
gen und  zeitlichen  Strafen  frei  werden  —  wenn  er  klug 
verfährt  und  einen  geschickten  Priester  findet^ 

Gegen  diese  Theorie  reagirte  nicht  nur  der  wiedererstarkte  augu- 
stinische  Thomismus,  indem  er  die  sittUch-religiösen  Erfordernisse  für 
den  Empfang  des  Ablasses  kräftig  betonte,  sondern  es  erhob  sich  auch 


^  Die  Ablassthcoric  ist  zusammcngcfasst  in  der  Extravagante  Unigenitus  Cle- 
mens VI.  vom  Jahre  1349:  „Unigenitus  dei  filius  .  .  .  sanguine  nos  redemit,  quam  in 
ara  crucis  innocens  immolatus,  non  guttam  sanguinis  modicam  (quae  tarnen  propter 
unionem  ad  verbum  pro  redemptione  totius  humani  generis  suffecisset),  sed  copiosc 
velut  quoddam  profluvium  noscitur  effudisse  .  .  .  Quantum  ergo  exinde,  ut  nee 
supervacua,  inanis  aut  superflua  tantae  effusionis  miseratio  redderetur,  thesaurum 
militanti  ecclesiae  acquisivit,  volcns  suis  thesaurizarc  filiis  pius  pater,  ut  sie  sit  infi- 
nitus  thesaurus  hominibus,  quo  qui  usi  sunt  dei  amicitiae  participes  sunt  effecti. 
Quem  quidem  thesaurum  non  in  sudario  repositum,  non  in  agro  absconditum,  sed 
per  beatum  Petrum  .  .  .  eiu8([ue  suceessores  suos  in  terris  vicarios  commisit  fide- 
libus  sahibriter  dispensandum,  et  i)r()priis  et  rationaljilibus  causis:  nunc  pro  totali, 
nunc  pro  partiali  remissione  poenae  temi)oralis  pro  peccatis  debitae,  tam  genera- 
liter  quam  spccialitcr  (prout  cum  deo  exj)edirc  eognoscerent)  verc  paenitenti- 
bus  et  confessis  miscricorditer  applicandum.  Ad  cuius  (juidcm  thesauri  cumulum 
b.  dei  genetricis  omnium(|ue  eleetonim  a  primo  iusto  usque  ad  ultimum  merita  ad- 
miriiculum  praestare  nosountur,  de  cuius  consumptione  seu  minutionc  non  est  ali- 
qnatenua  formidandum  (!),  tam  propter  infinita  Christi  merita  quam  i)ro  eo  quod, 
quanto  plures  ex  cius  applicatione  trahuntur  ad  iustitiam,  tanto  magis  accroscit 
ipHorum  cumulus  mcritorum." 


518     Geschichte  des  Dog^mas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

—  von  den  Secten  abgesehen  -  im  14.  Jahrhundert  ein  radicaler 
Widerspruch,  der  ebenfalls  von  augustinischer  (und  biblischer)  Grund- 
hige  ausging.  Gegen  keine  andere  kirchUche  Praxis  und  Theorie  ist 
AViclil'  so  energisch  aufgetreten,  wie  gegen  die  Ablässe.  Er  erbhckte 
in  ihnen  nichts  als  Willkür,  eingerissen  erst  in  der  neueren  Zeit  \  die 
Bibel  wüsste  nichts  von  den  Ablässen,  die  in  die  Prärogative  Gottes 
eingreifen  und  daher  geradezu  blasphemisch  seien.  Er  hat  auch  den 
Schaden  der  Ablässe,  dass  sie  von  der  Befolgung  des  Gesetzes  Christi 
abhalten,  klar  erkannt;  allein  er  hat  eine  befriedigende  Lehre,  wie 
ein  angefochtenes  Gewissen  zu  trösten  sei,  nicht  aufgestellt.  Für 
ihn  und  für  seinen  Schüler  Hus  Hegt  das  Verderbliche  der  Ablässe 
lechglich  in  dem  Unbiblischen,  in  der  Anmassung  der  Hierarchie  (des 
Papstes)  und  in  der  sittlichen  Corruption.  Man  kann  aber  die  Ab- 
lässe nicht  durch  Schärfung  der  Gewissen  und  Bekämpfung  der 
Priestermacht  allein  aus  den  Angeln  lieben  ^. 

Nicht  minder  energisch  als  der  AViderspruch  Wiclif  s  und  Hus' 
gegen  die  Ablässe  waren  die  Angriffe  AVe sei's  und  AVessel's. 
Beide  haben  ebenfalls  vom  Standpunkte  Augustin's  aus  wider  die  Ab- 
lässe geschrieben.  Die  Alleinwirksamkeit  Gottes,  die  Majestät  der 
göttlichen  Strafgerechtigkeit,  die  gratia  gratis  data  (caritas  infusa) 
sind  die  Hebel,  mit  denen  sie  die  auch  von  ihnen  als  unbibhsch  be- 
zeichnete, von  aller  Tradition  verlassene  Theorie  umstürzen.  Die 
Strafen,  die  Gott  verhängt,  kann  der  Mensch  nicht  abwenden;  nur 
die  Strafen  des  positiven  Rechts  resp.  die  Kirchenstrafen  kann  der 


^ 


1  S.  Buddensieg,  "Wiclif  S.  201  ff.,  Trialogus  IV,  32:  „Fateor  quod  indiil- 
gentiae  papales,  si  ita  se  habeant  ut  dicimtur,  sapiunt  manifestam  blasphemiam. 
Dicitur  enim,  quod  papa  praetendit,  se  habere  potentiam  ad  salvandum  singulos 
viatores,  et  quantumcunque  viantes  deliquerint,  nedum  ad  mitigandum  poenas  ad 
suffragandum  eis  cum  absolutionibus  et  indulgeütiis,  ne  unquam  veoiant  ad  purga- 
torium,  sed  ad  praecipiendum  sanctis  angelis,  ut  auima  separata  a  corpore  indilate 
ipsam  deferaut  in  requiem  sempiternam  .  .  .  Contra  istam  rüdem  blasphemiam  in- 
vexi  alias,  primo  sie :  nee  papa  nee  etiam  dominus  Jesus  Christas  potest  dispensare 
cum  aliquo  nee  dare  indulgentias,  nisi  ut  aeternaliter  deitas  iusto  consilio  diffinivit. 
Sed  non  docetur,  quod  papa  vel  homo  aliquis  potest  habere  colorem  iustitiae  (darauf 
fällt  das  Hauptgewicht)  taliter  faciendi ;  igitur  non  docetur,  quod  papa  talem  habeat 
potestatem  .  .  .  Item  videtur  quod  illa  opinio  multipliciter  blasphemat  in  Christum, 
cum  extollitur  supi'a  eins  humanitatem  atque  deitatem  et  sie  super  omne  quod  dici- 
tur deus  .  .  .  Sed  eia,  milites  Christi,  abicite  prudenter  haec  opera  atque  fictitias 
principis  tenebrarum  et  induimini  dominum  Jesum  Christum,  in  arniis  suis 
fideliter  confidentcs,  et  excutite  ab  ecclesia  tales  versutias  antichristi,  docentes  po- 
pulum,  quod  in  ipso  solo  cum  lege  sua  et  membris  debet  confidere  et 
operando  illis  conformiter  ex  suo  opere  bono  salvari,  specialitei*  si  anti- 
christi versutias  fideliter  dctestetur." 


Das  Busssacrament.   Der  Ablass.  519 

Papst  erlassen.  Gott  flösst  seine  Gnade  sine  merito  ein,  aber  nur 
denen,  die  sich  vollkommen  für  dieselbe  disponiren.  Wesel  lockert 
dabei  auch  den  Zusammenhang  von  Sacrament  und  Gnadenmittheilung 
(nominalistisch :  „propter  pactum  institutum  cum  sacerdotibus").  Im 
Grunde  unterscheidet  sich  seine  Sacramentslehre  von  der  vulgären 
nicht.  Er  vermag  nur,  weil  er  Gottes  Majestät  sicherer  empfindet,  die 
Consequenz  der  Ablässe,  die  er  mit  Anderen  „piae  fraudes"  nennt, 
nicht  zu  ziehen  ^    Die  Kirche  ging  über  diese  "Widersprüche  hinweg^. 

^  Eine  Reihe  von  Stellen  aus  den  Disput,  adv.  indulgentias  Wesel's  hat  Hauck 
S.  303  f.  abgedruckt.    Im  Grunde  ist  bei  "Wesel  Alles  nur  scheinbar  radical.   Er 
lässt  die  vulgäre  Sacramentslehre  bestehen  bis  zu  dem  Punkte,  dass  das  Busssacra- 
ment die  zeitlichea  Siindenstrafen  nicht  tilgt.   Hierbei  aber  will  er  stehen  bleiben ; 
denn  diese  Straf ei  sind  überhaupt  nicht  zu  tilgen,  1)  weil  Gott  sie  verhängt  und 
durchsetzen  will,  2  weil  es  Niemanden  giebt,  der  sie  aufheben  könnte  —  die  Priester 
sind  in  Allem  nur  ninistri  dei  in  remittendis  culpis  — ,  3)  weil  es  der  Frömmigkeit 
entspricht,  sie  zu  ertragen,  4)  weil  es  überhaupt  kein  Fegefeuer  geben  könnte,  wenn 
die  Ablasstheorie  fchtig  wäre ;  denn  der  Schatz  der  Ablässe  würde  alle  zeitlichen 
Strafen  compensirei  können.    Mischt  sich  schon  in  die  Polemik  "VVesers  ein  wicli- 
fitisch-husitisches  (lonatistisches)  Element,  sofern  die  objective  Bedeutung  der 
Priester  (der  Hierar«hie)  herabgedrückt  (keineswegs  aufgehoben)  werden  soll,  so  ist 
dieses  Element  nochviel  deutlicher  beiWessel.  Den  Frommen  sind  die  Schlüssel 
allein  gegeben.   Da   un  die  Päpste  und  Priester  häufig  unfromm  sind,  so  haben 
diese  carnales  homin«  überhaupt  nur  Gewalt  in  externis,  d.  h.  ihre  Unternehmungen 
haben  es  nicht  mit  de  wahren  Kirche,  Sünde  und  Gnade  zu  thun,  sondern  mit  der 
empirischen  Kirche ;  .  de  sacram.  paenit.  f.  51 :   „Carnalis  homo  non  sapit,  quae 
sancti  amoris  sunt,  igiur  iudicare  non  potest.   Unde  iudicium  ecclesiae  et  eorum 
qui  in  ecclesia  praesiönt,  quia  saepe  carnales,  animales,  mundiales  aut  diabolici 
sunt  et  tamen  suum  otcium  vcre  administrant  sicut  viri  spirituales  et  deo  pleni, 
liquet  excommunications  et  indulgentias  non  ad  ea  quae  caritatis  et  amoris  sunt  se 
extendere,  sed  tantum  a  exteriorem  pacem  et  tranquillitatem  ecclesiae.   Unde  in- 
dulgentiae  sunt  remissines  de  his  poenis  quas  praelatus  iniunxit  aut  iniungere 
potuit."    Ferner  aber,  di  Schlüssel,  die  dem  Petrus  gegeben  sind,  sind  nicht  auf 
Willkür  gestellt ;  wahre  B  ijsc  und  göttliche  Vergebung  gehören  zusammen.  Alles 
ruht  auf  der  Gnade,  und  ur  fromme  Priester  sind  ministri  dei,  d.  h.  ministri  der 
Gnade,  die  nur  Gott  einzufjssen  vermag.  Aber  Wessel  ist  noch  einen  bedeutenden 
Schritt  weiter  gegangen.    !•  hat  sich  gefragt,  ob  nach  der  Vergebung  wirklich  die 
zeitlichen  Sündenstrafen  leiben,  und  er  ist  geneigt,  in  den  Strafen  der  Absol- 
virten  vielmehr  Erziehung  i  sehen  (f.  60).    Von  hier  aus  hat  er  auch  an  dem  Be- 
griff der  satisfactio  operumgerüttelt   und   eine  Consequenz  des  Augustinismus 
gezogen,  die  kaum  Einer  vormi  zu  ziehen  gewagt  hat:  satisfactio  kann  überhaupt 
nicht  statthaben,  wo  Gott  sei»  J^icbe  eingegossen  hat;  sie  führt  mit  Nothwendig- 
keitzu  einer  Beschränkung  deirratia  gratis  data  und  verkleinert  das  Werk  Christi. 
Die  plenitudo  gratiae  schliessviio  satisfactio  aus  (fol.  61.  62),  wie  viel  mehr  die 
Ablässe,  die  er  also  definirt  (1.  C;   „indulgcutiarum  niateria  est  abusus  (luaestorum 
et  saepc  illorum  falsum  crimen,  onnumfiuam  in>pura  et  corrupta  intentio  papae." 
■''Zu  Constanz  (Mansi  Xvil  p.  634  Nr.  42)  wurde  der  Satz  verdammt: 
„Fatuum  est  credere  indulgentiis  ipac  et  cpiscoporum." 


520     (ieschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

5.  Die  letzte  Oelung'.  Erst  seit  Thomas  wurde  behauptet, 
dass  Christus  selbst  dieses  Sacrameut  eingesetzt,  der  Apostel  Jacobus 
(5,14)  es  nur  proniulgirt  habe.  Die  materia  ist  vom  Bischof  benedicirtes 
Gel,  wobei  die  bischöfUche  Weihe  von  Thomas  aus  demselben  Grunde 
l'iirconveniens  erklärt  wurde,  wie  bei  der  Firnuing  (Ausdruck  der  höheren 
Gewalt  des  Bischofs  in  Bezug  auf  das  corpus  Christi  mysticum,  s.  oben 
S.  487  Note  5;  daher  vernuig  auch  der  Papst  gewöhnliche  Priester  zur 
Weihe  zu  bevollmächtigen).  Die  forma  ist  ein  depreca torisches 
Gebetswort  (die  indicative  Form  kann  höchstens  hinzutreten).  Minister 
ist  jeder  Priester.  Das  Sacrament  kann  wiederholt  werdm  '^.  Empfänger 
sind  Todtkranke  und  Sterbende.  Der  Zweck  (res  saaamenti)  ist  die 
remissio  peccatorum,  aber  nur  der  lässlichen,  reip.  die  Heilung 
von  den  Ueberbleibseln  der  Sünde,  oder  per  accidens;  nämlich  wenn 
kein  Hinderniss  besteht,  die  volle  Sündenvergebung^.  Daher  definirt 
man  das  Sacrament  auch  als  „Ergänzung"  des  Busssocraments,  wobei 
nur  völlig  dunkel  bleibt,  warum  und  inwiefern  dieses  einer  Ergänzung 
bedarf.  Man  hat  es  auch  hier ,  wie  bei  der  Firmung  ^  nicht  mit  einem 
aus  der  dogmatischen  Theorie  entsprungenen  Saffament  zu  thun, 
sondern  mit  einer  Handlung,  deren  Werth  aus  Zwedimässigkeits- 
gründen^  so  hoch  gesteigert  ist,  während  er  theoreisch  sehr  niedrig 
bemessen  ist.  Auch  leibliche  Heilung  erwartet  nan,  wenn  es  Gott 
gefällt,  von  diesem  Sacrament. 

6.  Die  Priesterweihe  ^.  Bei  diesem  Sacnment  kann  die  all- 
gemeine Sacramentstheorie  nur  künstlich,  resp.  gaj  nicht,  aufrecht  er- 
halten werden,  weil  das  hierarchische  Interesse  e  geschaffen  und  es 


^  Thomas  P.  ni  Suppl.  Q.  29-33.   Schwane  S.  67—677. 

^  In  älterer  Zeit  haben  sich  Ivo  und  Andere  gegei  die  AViederholung  aus- 
gesprochen. Vom  Lombarden  ab  gilt  die  Wiederholung,ibei\  nicht  bei  einer  und 
derselben  Krankheit. 

^  Thomas,  1.  c.  Q..  30  Art.  1 :  „Principalis  effectus  huis  sacramenti  est  remissio 
peccatorum,  quoad  reliquias  peccati  (was heisst  das?),  et  x  consequenti  etiam  quoad 
culpam,  si  eam  inveniat."  Art.  2:  „Ex  hoc  sacramento  on  semper  sequitur  corpo- 
ralis  sanatio,  sed  quando  expedit  ad  spiritualem  sanatiaem.  Et  timc  semper  eam 
inducit,  dummodo  non  sit  impedimentum  ex  parte  rec'ientis" ;  vgl.  die  zusammen- 
fassende Beschreibung  des  Sacraments  in  der  Bulle  hgen's  IV.  (Mansi  XXXI 
p.  1058). 

^  An  sich  war  es  schon  sehr  zweckmässig,  ein  bt^nderes  Sterbesacrament  ein- 
zuführen und  dadurch  den  Sterbemuth  zu  erhöhen  Verstärkt  wurde  dies  durch 
den  Ritus,  die  einzelnen  Glieder  zu  salben  und  so  dfi  Kranken  drastisch  zu  zeigen, 
dass  die  Glieder,  mit  denen  er  gesündigt,  entsült  seien.  Die  Kirche  hat  auch 
hier,  wie  beim  Firmungssacrament,  den  MensclA  die  Bedürfnisse  nach  etwas 
„Objectivem"  abgelauscht,  statt  sie  ohne  Ceremoi^u  zn  Christus  zu  führen, 

^  Thomas  P.  III  Suppl.  Q.  34—40.  Schwab  S.  677—685, 


Die  letzte  Oelung.   Die  Ordination.  521 

lediglich  zur  Selbstverherrlicliimg  in  das  sacramentale  Gnadensystem 
eingestellt  hat.  Die  forma  sind  die  Worte:  „accipc  potestatem  offerendi 
etc.",  die  materia  kann  sinnlich  nicht  sicher  nachgewiesen  werden;  aber 
Thomas  machte  hier  aus  der  Noth  eine  Tugend,  und  die  Anderen  sind 
ihm  gefolgt :  gerade  aus  der  Unsicherheit  wird  die  hierarchische  Art  des 
Sacraments  bewiesen  ^  Der  Eine  dachte  an  die  Gefässe  oder  Sinnbilder, 
durch  welche  die  hierarchischen  Functionen  bezeichnet  wurden  (Thomas), 
der  Andere  an  die  Handauflegung.  Jenes  ist  von  Eugen  IV.  in  der 
Bulle  „Exultate"  (1.  c.)  behauptet  worden.  Der  Spender  ist  allein  der 
Bischof.  Hier  erhoben  sich  jedoch  viele,  zumTheil  tief  in  das  Kirchenrecht 
und  die  kirchhche  Praxis,  indirect  auch  in  die  Dogmatik  einschneidende 
Fragen,  die  nur  markirt  sein  sollen,  1)  über  die  sieben  Weihen  (ordines) 
und  ihr  Verhältniss  (der  Papst  kann  auch  einen  gewöhnlichen  Priester 
mit  der  Weihe  der  niederen  Ordines  beauftragen),  2)  über  das  Ver- 
hältniss der  Priester-  und  Bischofsweihe  (inwiefern  ist  der  Bischof  dem 
Priester  überlegen  ?  iure  divino  ?),  3)  —  und  das  war  die  wichtigste 
Frage  —  über  die  Giltigkeit  von  Weihen,  welche  von  schismatischen 
oder  häretischen  Bischöfen  ertheilt  worden  sind.  Schon  vom  donatisti- 
schen  Streit  her  herrschte  hier  eine  Controverse,  die  in  der  Kirche  in 
der  Regel  im  liberalen  Sinn  entschieden  wurde,  dass  nämlich  solche 
Weihen  zwar  unerlaubt,  d.  h.  in  ihren  praktischen  Folgen  nichtig,  nicht 
aber  ungiltig  seien.  Dagegen  behauptete  der  Lombarde,  dass  kein 
Häretiker  die  Firmung,  Eucharistie  und  Priesterweihe  giltig  verwalten 
könne.   Seitdem  herrschte  unter  den  scholastischen  Theologen  grosses 


'  Q.  34  Art.  3:  „Sacramentum  nihil  est  aliud  quam  quacdam  sanctificatio 
homini  exhibita  cum  aliquo  signo  visibili.  Unde  cum  in  susceptionc  ordinis  quac- 
dam consecratio  homini  exhibeatur  per  visibilia  signa,  constat  ordinem  esse  sacra- 
mentum." Art.  5:  „Materia  in  sacramentis  cxterius  adhibita  significat  virtutem  in 
sacramcntis  agentem  ex  intrinscco  omnino  advcnire.  Unde  cum  cfFectus  proprius 
huius  sacramenti,  seil,  character,  nou  percipiatur  ex  aliqua  operatione  ipsius  qui  ad 
sacramentum  accedit,  sicut  erat  in  paenitentia,  sed  omnino  ex  intrinscco  adveniat, 
competit  ei  materiam  habere,  tamen  diversimode  ab  aliis  sacramentis  (juae  materiam 
habent.  C^uiahoc  quodconfertur  in  aliis  sacramentis,  derivaturtantum 
a  deo,  non  a  ministro,  qui  sacramentum  dispensat,  sed  illud  quod 
in  hoc  sacramento  traditur,  seil,  spiritualis  potestas,  derivatur etiam 
ab  eo  qui  sacramentum  dat,  sicut  potestas  imperfecta  a  perfecta. 
Et  ideo  efficacia  aliorum  sacramcntorum  principalitcr  cousistit  in 
materia,  quae  virtutem  divinam  et  significat  et  continet,  ex  sancti- 
ficationc  per  ministrum  adhibita.  Sed  efficacia  huius  sacramcnti 
principalitcr  residet  penes  cum,  ({ui  sacramentum  dispensat,  materia 
autem  adhibotiir  magis  ad  dcmonstraiidam  i)otestatem,  quae  traditur  particularitcr 
ab  habente  cam  complcte,  quam  ad  potestatem  causandam,  quod  patet  ex  hoc,  quod 
materia  competit  usui  potestatis." 


522     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Schwanken ;  doch  neigte  man  sich  mehr  der  liberaleren  Auffassung  zu, 
nur  das  ßusssacranient  ausnehmend.  Allein  die  Päjoste  haben  im 
Mittelalter  sehr  oft  die  Weihen  missliehiger  Bischöfe  oder  der  Gegen- 
päpste für  gänzlich  ungiltig  erklärt.  AVas  den  Effect  dieses  Sacraments 
betrifft,  so  ist  liier  der  (Miar akter  die  Hauptsache  \  Er  besteht  in 
der  Uebertragung  des  Rechts,  die  Sacramente  zu  spenden'-^,  die  Sün- 
den zu  vergeben,  als  Richter  zu  functioniren  und  Mittler  zwischen 
Gott  und  Menschen  zu  sein  ^.  Andererseits  werden  aber  wiederum 
von  Einigen  alle  sieben  Ordines  Sacramente  genannt  (bei  Anderen  gel- 
ten sie  nur  als  Sacramentalien) ,  indess  wird  hinzugefügt,  dass  nur 
der  Diakonat  und  der  Presbyterat  auf  der  Einsetzung  durch  Christus 
beruhen.  Den  Episkopat  konnte  man  nicht  mehr  als  besonderen  ordo 
zählen,  weil  die  Ueberlieferung  es  verbot;  allein  man  bemühte  sich, 
ihm  doch  eine  besondere,  von  Christus  geordnete  höhere  Stellung  über 
dem  gewöhnlichen  Priesterthum  anzuweisen  und  begründete  dieselbe 
nicht  aus  der  sacramentalen,  sondern  aus  der  jurisdictionellen  Gewalt. 
Duns  Scotus  hat  übrigens  die  Lelire  angebahnt,  dass  die  bischöfliche 
Consecratiou  ein  besonderes  Sacrament  sei. 

7.  Die  Elie^.  Wie  das  vorige  Sacrament,  so  greift  auch  dieses 
in  den  Einzelfragen  in  das  Bjrchenrecht  hinüber,  nur  dass  diese 
Fragen  zehnfach  zahlreicher  sind  als  dort.  Die  Zweckmässigkeit,  die 
Ehe  für  ein  Sacrament  zu  erklären  und  damit  diese  Grundlage  der 
Gesellschaft  vor  das  kirchliche  Forum  zu  ziehen,  leuchtet  ein.  Eben 
desshalb  übersah  man  auch  die  Durchlöcherung  des  allgemeinen  Sacra- 
mentsbegriffs,  welche  das  Ehesacrament  zur  Folge  hat.  Die  Ehe  hat 
Gott  schon  im  Paradies  zur  Fortpflanzung  des  Menschengescldechts 
(und  darum  ad  officium)  eingesetzt  und  zwar  als  unauflöslich;  aber  nach 
Thomas  hat  sie  erst  Christus  zum  Sacrament  erhoben,  indem  er  sie 

'  Also  nicht  ein  dem  Individuum  gegebenes  Heilsgut-,  denn  der  ordo  dient  der 
Kirche  (Thomas  Q.  35  A.  1).  Auch  hier  ist  die  Lehre  von  der  sacramentalen  Gnade 
(participatio  divinae  naturae)  durchlöchert,  ja  Thomas  sagt  geradezu  Q.  34  Art.  2: 
„unde  relinquitur,  quod  ipse  character  interior  sit  essentialiter  et  principaliter  ipsum 
sacramentum  ordinis ! " 

^  Dabei  ist  die  Verwaltung  der  Messe  die  Hauptsache ;  sie  allein  ist  in  der 
Weiheformel  genannt. 

^  Der  Lombarde,  Sent.  IV  Dist.  24  1:  „Sacerdos  nomen  habet  compositum 
ex  Graeco  et  Latino,  quod  est  sacrum  dans  sive  sacer  dux.  Sicut  enim  rex  a  regendo, 
ita  sacerdos  a  sacrando  dictus  est,  consecrat  enim  et  sanctificat."  Daneben  wurde 
wohl  auch  Lehrbefähigung  genannt  und  für  die  Person  des  Priesters  ein  undefinir- 
bares  „amplius  gratiae  munus,  per  quod  ad  maiora  redduntur  idonei"  (Thomas  Q.  35 
Art.  1).  In  der  Bulle  „Exidtate**  (Mansi  1.  c.  p.  1058)  heisst  es:  „Efl'ectus  augmeu- 
tum  gratiae,  ut  quis  sit  idoneus  minister." 

^  Thomas  P.  III  Suppl.  Q.  41—68,  Schwane  S.  685—693. 


Das  Sacrament  der  Ehe.  523 

zum  Abbild  seiner  Verbindung  mit  der  Kirche  machte,  das  Gesetz  der 
Unauflöslichkeit  dadurch  neu  begründete  und  auch  eine  Heiligungs- 
gabe mit  der  Ehe  verband  \  Sofern  sie  auch  die  Fortpflanzung  inner- 
halb der  Kirche  besorgt,  ist  ihr  sacramentaler  Charakter  bereits  ge- 
rechtfertigt^; aber  neben  dem  sacramentalen  Effect  hat  die  Ehe  seit 
dem  Sündenfall  doch  auch  den  Charakter  einer  Indulgenz  als  remedium 
gegen  die  sich  aufbäumenden  Gelüste  des  Fleisches^.  Ferner  wird  zu- 
gestanden, dass  die  Ehe  unter  allen  Sacrament en  „minimum  de  spiri- 
tuahtate"  habe^,  daher  an  letzter  Stelle  stehe  und  das  ehelose  Leben 
vorzuziehen  sei.  Die  Untersuchung  der  Frage,  ob  die  copula  carnaHs, 
resp.  das  Recht,  das  debitum  coniugale  zu  fordern,  zum  Wesen  der  Ehe 
gehöre,  musste  mit  Rücksicht  auf  die  Josephsehe  behandelt  werden. 
Hier  kam  man,  da  man  jenes  Recht  aus  dem  "Wesen  der  Ehe  nicht 
ausschhessen  wollte  (die  Geltendmachung  des  Rechts  gehört  nicht 
zum  Wesen),  zu  der  interessanten  Frage,  ob  Maria  nicht,  als  sie  die 
Ehe  mit  Joseph  schloss,  bedingt  in  eine  mögliche  Geltendmachung 
des  Eherechts  seitens  Josephs  habe  einwilligen  müssen.  Der  Lombarde 
bejahte  diese  Frage  noch ^^  allein  schon  Bonaventura  fand  einen  anderen 
Ausweg^.  Ueber  materia  und  forma  herrschte  das  grösste  Schwanken. 
Doch  hat  man  im  IVIittelalter  nicht  daran  gezweifelt,  dass  das  entschei- 
dende äussere  Zeichen  der  ausgesprochene  Consensus  der  Ehegatten 
sei "',  die  priesterliche  Einsegnung  galt  nur  als  ein  Sacramentale,  nicht  als 
das  Sacrament ^.  Einen  effectiven  geisthchen  Charakter  suchten  zwar 

^  Thomas  1.  c.  Q.  41  A.  1;  42  A.  2.  3.  In  der  Art,  wie  der  Lombarde  die  ehe- 
liche Verbindung  als  sacramentale  beschreibt,  liegt  ein  schöner  Beweis  vor  für  das 
letzte  Interesse  des  abendländischen  nachaiigustinischcu  Katholicismus ,  sofern  er 
durch  den  Gedanken  der  conformitas  naturae  divinac  und  der  Caritas  zugleich  be- 
stimmt ist,  Sentent.  IV  Dist.  26  F :  „Ut  inter  coniuges  coniunctio  est  secuudum 
consensum  animorum  et  sccundum  permixtionem  corporum,  sie  ecclesia  Christo 
copulatur  voluntate  et  natura,  qua  idem  vult  cum  eo,  et  ipsa  formam  sumpsit  de 
natura  hominis.  Copulata  est  ergo  spousa  sponso  spiritualiter  et  corporaliter,  i.  e. 
caritate  et  conformitate  naturae.  Huius  utriusquc  copulae  figura  est  in  coniugio. 
Consensus  enim  coniugum  copulam  spiritualem  Christi  et  ecclesiae,  quae  fit  per 
caritatem ,  significat ;  commixtio  vcro  sexuum  illam  significat,  quae  lit  per  naturae 
conformitatem." 

2  Thomas  P.  III  Q.  65  A.  4.  »  Thomas  Q.  42  A.  2. 

^  Thomas  P.  III  Q.  65  A.  2.  *  Sentent.  IV  Dist.  30  B. 

«  S.  Schwane  S.  688. 

^  Thomas  Q.  42  Art.  1:  „Verba  cjuibus  consensus  matrimonialis  exprimitur 
sunt  forma  huius  sacramenti."  Dazu :  „Sacramenturri  matrimonii  perficitur  per  actum 
eiu8,  qui  sacramento  illo  utitur,  sicut  paenitentia.  Et  idco  sicut  paeniteutia  non 
habet  aliam  materiam  nisi  ipsos  actus  scnsui  subiectos,  qui  sunt  loco  materialis  ele- 
menti,  ita  est  de  matrimonio." 

"  Thomas  (^.  42  Art.  1 :  „beuedictio  saccrdotis  est  quoddam  sacramentale." 


524     Geschichte  des  Dogmas  i|ii  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

manche  Scholastiker  herauszupressen,  aber  die  Meisten  nahmen  nur  eine 
ganz  un})estitnmte  Heili«i;ungsj^na(lo  an  '.  Dagegen  leugnete  Duriindus  das 
opus  operatuni  (die Heiligungsgnade)  ganz,  indem  er  sagte,  die  Ehe  be- 
deute nur  etwas  Heiliges  (Vereinigung  der  Kirche  mit  Christus)'-^.  Jene 
excessive  Annahme  einer  Heiligungsgnade  steht  in  schreiendem  G  egensatz 
zu  der  Ansicht,  die  man  von  Augustin  entnahm,  dass  die  copula  carnalis  in 
der  Ehe ,  weil  materiell  von  der  copula  carnalis  fornicatoria  nicht  ver- 
schieden, so  sehr  mit  Sünde  behaftet  sei,  dass  zwar  nicht  der  gewährende 
Ehegatte,  wohl  aber  der  fordernde,  auch  wenn  es  aus  der  Absicht 
geschehe,  ein  adulterium  zu  vermeiden,  sündige^.  Während  also  das 
Sacramentin  dem  ausgesprochenen  Consensus  besteht,  mit  einer 
Person  anderen  Geschlechts  in  die  Ehe  zu  treten  und  damit  das  Recht 
des  debitum  coniugale  impHcite  mitgesetzt  ist,  soll  die  Geltendmachung 
dieses  „sacramentalen"  Rechtes  eine  Sünde  sein!'*  In  der  Bulle 
Eugen's  IV.  (1.  c.)  findet  sich  wiederum  eine  kurze  zweckmässige  Zu- 
sammenfassung^. 

In  der  Sacramentslehre  war  Thomas  im  Mittelalter  der  mass- 
gebende Doctor,  und  er  ist  es  bis  heute  in  der  katholischen  Kirche 
geblieben.  Thomas  aber  ging,  soweit  es  das  neue  Kirchenthum  irgend 
zuhess,  auf  Augustin  zurück.  Allein  wie  sehr  schon  bei  ihm  die  Lehre 
von  der  gratia  gratis  data  beeinflusst  ist  durch  die  Rücksicht  auf  die 

1  Thomas  Q.  42  Art.  3.  =*  S.  Schwane  S.  689. 

'  So  Bonaventura  und  Thomas,  Q.  49  Art.  4 — 6,  bes.  den  Art.  5 :  „utrum  actus 
matrimonialis  excusari  possit  sine  bonis  matrimonii."  Hier  wird  u.  A.  gesagt:  „si 
aliquis  per  actum  matrimonii  intendat  vitare  fornicationem  in  coniuge ,  nön  est 
aliquod  peccatum;  .  .  .  sed  si  intendat  vitare  fornicationem  in  se  .  .  .  hoc  est  pecca- 
tum  veniale." 

*  Die  Widersprüche  sind  hier  bei  Thomas  sehr  gross;  denn  andererseits  wird 
1.  c.  Art.  4  gesagt,  dass  proles,  fides  und  sacramentum  den  Eheact  nicht  nur  ent- 
schuldigen, sondern  heiligen.  Dazu  in  sentent.  Dist.  26  Q.  2  Art.  3:  „Cum  in  matri- 
monio  datur  homini  ex  divina  institutione  facultas  utendi  sua  uxore  ad  procreatio- 
nem  prolis,  datur  etiam  gratia,  sine  qua  id  convenienter  facere  non  posset." 

^  „Septimum  est  sacramentum  matrimonii,  quod  est  signum  coniunctionis 
Christi  et  ecclesiae  secundum  apostolum.  Causa  efficiens  matrimonii  regulariter  est 
mutuus  consensus  per  verba  de  praesenti  expressus.  Adsignatur  auteni  triplex 
bonum  matrimonii.  Primum  est  proles  suscipienda  et  educanda  ad  cultum  dei. 
Secundum  est  fides  quam  unus  coniugum  alteri  servare  debet.  Tertium  indivisibilitas 
matrimonii,  propter  hoc  quod  significat  indivisibilem  coniunctionem  Christi  et  eccle- 
siae. Quamvis  autem  ex  causa  fornicationis  liceat  tori  separationem  facere,  non 
tarnen  aliud  matrimonium  contrahere  fas  est,  cum  matrimonii  vincuhnu  legitime 
contracti  perpetuum  sit."  AVie  stark  noch  im  14.  Jahrhundert  die  Abneigung  der 
scotistischen  Theologen  gewesen  ist,  die  Ehe  als  volles  Sacrament  zu  betrachten, 
darüber  s.  Werner  II  S.  424  ff.  (gegen  Durandus  Aureolus). 


Zersetzung  des  Augustinismus.  525 

Lehre,  dass  Gott  mit  uns  nach  unseren  Verdiensten  handelt,  wie  diese 
Betrachtung,  die  Augustin  nicht  ganz  ausgetilgt  hatte,  fortgewirkt  hat, 
das  zeigt  bereits  die  Sacramentslehre  des  Thomas  sehr  deutlich.  Der 
ernste,  wahrhaft  religiöse  Sinn,  der  ihn  auszeichnet,  wird  fort  und  fort 
geschwächt  und  abgelenkt  durch  die  Rücksicht  auf  das  Giltige.  Allein 
das  ist  freilich  nicht  die  einzige  Schwäche.  Mindestens  ebenso  ver- 
derblich wirkte  die  consequente  Fassung  der  Gnade  als  eines  physi- 
schen geheimnissvollen  Actes  und  als  einer  Mittheilung  dinglicher 
Güter.  Auch  das  stammte  von  Augustin,  und  auch  das  hat  in  seiner 
consequenten  Durchführung  den  Augustinismus  zersetzt:  die  Zer- 
setzung des  Augustinismus  ist  wesentlich  nicht  von 
Aussen  erfolgt;  sie  ist  zu  einem  grossen  Theil  das  Ergeb- 
nisseiner inneren  Entwickelung.  Die  drei  Elemente,  welche 
Augustin  in  und  neben  seiner  Gnadenlehre  hatte  bestehen  lassen,  das 
Element  des  Verdienstes,  das  Element  der  gratia  infusa 
und  das  hierarchisch-priesterliche  Element,  wirkten  so  lange 
fort,  bis  sie  die  augustinische  Denkweise  völhg  umgebildet  hatten. 
Aber  —  wie  wir  gesehen  haben  —  schon  in  Gregor  dem  Grossen  ist 
das  vorgebildet,  und  andererseits  ist  der  Process  im  Mittelalter  noch 
nicht  zu  seinem  Ende  gekommen.  Die  augustinische  Reaction  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts,  welche  sich  zum  Theil  im  Tridentinum  nieder- 
geschlagen hat,  ist  erst  nach  einem  300  jährigen  Kampf  im  19.  Jahr- 
hundert wieder  vollständig  beseitigt  worden. 

C.  Die  Bearbeitung  des  Augustinismus  in  der  Rich- 
tung auf  die  Lehre  vom  Verdienst. 

Dass  die  aus  der  passio  Christi  fliessende  Gnade  das  Fundament 
der  christlichen  Religion  ist  und  daher  auch  das  A  und  O  der  christ- 
lichen Theologie  sein  muss  —  dieser  paulinisch-augustinische  Grund- 
gedanke ist  von  keinem  kirchlichen  Lehrer  des  Abendlandes  direct 
verleugnet  worden  \  Aber  wie  er  an  sich  vieldeutig  ist  und  ohne 
bestimmte  Interpretation  die  Reinheit  der  christlichen  Rehgion  keines- 
wegs verbürgt  —  denn  was  ist  die  Gnade?  Gott  selbst  in  Christus  oder 
götthche  Kräfte?  und  was  wirkt  die  Gnade?  Glauben  oder  eine 
geheimnissvolle  Qualität?  — ,  so  ist  er  auch,  eben  wenn  die  Wirkung 
der  (inade  nur  die  „Besserung"  sein  soll,  einer  Bearbeitung  fähig,  die 
ihn  schliesslich  aufliebt. 

Der  Lombarde  —  seiner  Absicht  gemäss,  die  Ucberlieferung  wieder- 
zugeben —  beschränkte  sich  darauf,  die  augustinischen  Sätze  über  die 

*  Der  Satz  dos  Tronäus  (TTT,  18,  6):  „si  non  vorn  passusc'st,  nulla  gratia  oi,  cum 
nulla  fucrit  i)a9sio",  ist  das  streng  festgclialtenc  FuiidatiuMit  des  ganzen  Cliristen- 
thums  und  der  ganzen  Theologie  des  Abendlandes. 


52(i     (Toschichto  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  .Tahrh. 

Gnade,  die  Prädestination  und  die  Rechtfertigung  (Glaube  und  Liebe) 
genau  zu  wiederholen*.  Allein  sobald  er  Sätze  über  den  freien  Willen 
anführt,  lauten  dieselben  keineswegs  augustinisch,  vielmehr  semipela- 
gianisch;  denn  sie  sind  bereits  beherrscht  durch  die  Rücksicht  auf 
das  Verdienst '^  Bei  dieser  Betrachtung  rauss    nämlich  schliessHch 


*  Sentent.  II  Dist.  25  P.:  „Liberias  a  peccato  et  a  miseria  per  gratiam  est; 
libertas  vero  a necessitate  per  uaturanj.  Utramque  libertatem,  naturae  seil,  et  gratiae, 
iiotat  ai)ostolus  oinii  ex  persona  hominis  non  rcdempti  ait:  »Volle  adiaeet  mihi  etc.«, 
acsi  diceret,  habeo  libertatem  naturae,  sed  non  habco  libertatem  gratiae,  ideo  non 
est  apud  me  perfectio  boni.  Nam  voluntas  hominis,  quam  naturaliter  habet,  non 
valet  erigi  ad  bonum  efficaciter  volendum,  vel  opere  impleudum,  nisi  per  gratiam 
liberetur  et  adiuvetur:  liberetur  quidem,  ut  velit,  et  adiuvetur,  ut  perficiat  .  .  .  dei 
gratiam  non  advocat  hominis  voluntas  vel  operatio,  sed  ipsa  gratia  voluntatem 
praevenit  praeparando  ut  velit  bonum  et  praeparatam  adiuvat  ut  perficiat."  Er 
wiederholt  auch  die  augustinische  Prädestinationslehre  (I  Dist.  40  D)  correct: 
Gott  erwählt  nicht  auf  Grund  der  Präscienz ,  sondern  die  Erwählung  bewirkt  erst 
die  Verdienste.  Er  verwirft  praescientia  iniquitatis  quorundam:  „reprobatio  dei, 
qua  ab  aeterno  non  eligendo  quosdam  reprobavit,  secundum  duo  consideratur, 
quorum  alterum  praescit  et  non  praeparat  i.  e.  iniquitatem,  alterum  praescit  et 
praeparat,  seil,  aeternam  poenam."  Die  Verwerfung  ruht  auf  dem  geheimnissvollen, 
aber  gerechten  Entschluss,  Einigen  Barmherzigkeit  nicht  zu  erweisen;  ihre  Folge 
ist  die  Verstockung.  Die  Hauptsätze  des  Lombarden  über  Glauben,  Liebe  und 
"Werke  sind :  III  Dist.  23  D :  „credere  deo  est  credere  vera  esse  quae  loquitur,  quod  et 
mali  faciunt . . . ;  credere  deum  est  credere  quod  ipse  sit  deus,  quod  etiam  mali  faciunt; 
credere  in  deum  est  c  red  endo  amare,  credendo  in  eum  ire,  credendo  ei  adhaerere 
et  eins  membris  incorporari:  per  hanc  fidem  iustificatur  impius"  (wörtlich 
nach  Augustin).  Ebenso  unterscheidet  er  nach  Augustin  bei  dem  Glauben  id  quod 
und  id  quo  creditur  (1.  c.  sub  C).  Das  letztere,  der  subjective  Glaube,  ist,  sofern  er 
virtus  und  sofern  er  nicht  virtus  ist,  zu  unterscheiden.  Der  Glaube,  sofern  ihm  noch 
die  Liebe  fehlt,  ist  fides  informis  (keine  Tugend).  Alle  Thaten  ohne  Glauben  er- 
mangeln des  Guten,  11  Dist.  41  A:  „cum  intentio  bonum  opus  faciatet  fides  inten- 
tionem  dirigat,  non  immerito  quaeri  potest,  utrum  omnis  intentio  omneque  opus 
illorum  malum  sit,  qui  fidem  non  habent? . . .  Quod  a  quibusdam  non  irrationabiliter 
astruitur,  qui  dicunt  omnes  actiones  et  voluntates  hominis  sine  fide  malas  esse  .  .  . 
Quae  ergo  sine  fide  fiunt,  bona  non  sunt,  quia  omne  bonum  deo  placet."  II  Dist.  26  A  : 
„Operans  gratia  est,  quae  praevenit  voluntatem  bonam;  ea  enim  liberatur  et  praepa- 
ratur  hominis  voluntas,  ut  sit  bona  bonumque  efficaciter  velit;  cooperans  vero  gratia 
voluntatem  iam  ])onam  sequitur  adiuvaudo  .  .  .  Voluntas  hominis  gratia  dei  prae- 
venitur  atque  praeparatur,  ut  fiat  bona,  non  ut  fiat  voluntas,  quia  et  ante  gratiam 
voluntas  erat,  sed  non  erat  bona  et  recta  voluntas."  Wiederholt  wird  gesagt,  dass 
die  gratia  in  der  Einflössung  der  fides  cum  caritate  (dem  hl.  Geist)  besteht  und  dass 
damit  die  Verdienste  des  Menschen  erst  beoinnen ;  somit  sei  die  iustitia  als  bona 
qualitas  mentis  (virtus,  qua  recte  vivitur)  ganz  und  gar  ein  AVerk  Gottes. 

2  Sentent.  II  Dist.  24  C:  „Liberum  arbitrium  est  facultas  rationis  et  voluntatis, 
qua  bonum  eligitur  gratia  assistente  vel  malum  eadem  desistente."  II  Dist.  27  (t  : 
„Cum  ex  gratia  dicuntur  esse  bona  merita  et  incipere  .  .  . ,  gratia  gratis  data  intel- 
ligitur,  ex  qua  bona  merita  incipiunt.   Quae  cum  ex  sola  gratia  esse  dicantur,  non 


Zersetzung  des  Augustinismus.  527 

immer  ein  Punkt  gefunden  werden,  der  es  ermöglicht,  der  selb- 
ständigen Action  des  Menschen  Gott  gegenüber  einen  Werth  bei- 
zulegen. Der  Widerspruch  aber,  der  bei  dem  Lombarden  in  der 
Lehre  von  der  Gnade  verglichen  mit  der  Lehre  von  der  Freiheit 
deutlich  hervortritt,  herrscht  ebenso  bei  den  Theologen  vor  ihm,  ja 
er  tritt  bei  ihnen  noch  stärker  —  am  stärksten  bei  Abälard  —  her- 
vor \     Bemerkenswerth  ist  noch  die  specielle  Auffassung   des  Lom- 


excluditur  liberum  arbitrium,  quia  nullum  meritum  est  in  homine,  quod 
non  fit  per  liberum  arbitrium."  II  Dist.  26  G:  „Ante  gratiam  praevenientem 
et  operantem,  qua  voluntas  bona  praeparatur  in  homine,  praecedere  quaedam  bona 
ex  dei  gratia  et  libero  arbitrio,  quaedam  etiam  ex  solo  libero  arbitrio,  quibus  tamen 
vita  non  meretur,  nee  gratia,  qua  iustificatur."  II  Dist.  27  J:  „Cum  dicitur  fides 
mereri  iustificationem  et  vitam  aeternam,  ex  ea  ratione  dictum  accipitur,  quia  per 
actum  fidei  meretur  illa.  Similiter  de  caritate  et  iustitia  et  de  aliis  accipitur.  Si 
enim  fides  ipsa  virtus  praeveniens  diceretur  esse  mentis  actus  qui  est  meritum,  iam 
ipsa  ex  libero  arbitrio  originem  haberet,  quod  quia  non  est,  sie  dicitur  esse  meritum, 
quia  actus  eius  est  meritum,  si  tamen  adsit  Caritas,  sine  qua  nee  credere  nee  sperare 
meritum  vitae  est.  Unde  apparet  vere  quia  Caritas  est  spiritus  s.,  qui  animae 
qualitates  informat  et  sanctificat,  ut  eis  anima  informetur  et  sanctificetur,  sine  qua 
animae  qualitas  non  dicitur  virtus,  quia  non  valet  sanare  animam."  II  Dist.  41  C: 
„Nullus  dei  gratiam  mereri  potest,  per  quam  iustificatur,  potest  tamen  mereri,  ut 
penitus  abiciatur.  Et  quidem  aliqui  in  tantum  profundum  iniquitatis  devenerunt,  ut 
hoc  mereantur,  ut  hoc  digni  sint;  alii  vero  itavivunt,  ut  etsi  non  mereantur  gratiam 
iustificationis,  non  tamen  mereantur  omnino  repelli  et  gratiam  sibi  subtrahi." 

*  Bei  Anselm  (Dialog,  de  lib.  arb.),  Bernhard  (de  gratia  et  lib.  arb.)  und  Hugo 
sind  die  augustinischen  Sätze  von  der  Gnade  repetirt,  aber  die  Ausführungen  über 
den  freien  Willen  sind  zum  Theil  noch  unsicherer  als  bei  dem  Lombarden.  Nach 
Anselm  ist  zwar  die  rectitudo  liberi  arbitrii  verschwunden,  aber  die  potestas  servandi 
rectitudinem  ist  geblieben;  s.  c.  3:  „liberum  arbitrium  non  est  aliud,  quam  arbitrium 
potens  servare  rectitudinem  voluntatis  propter  ipsam  rectitudinem."  Die  ratio  und 
das  Willensvermögen  ist  geblieben,  und  so  gleichen  die  Menschen  nach  dem  Sünden- 
fall Solchen,  die  zwar  Augen  haben  und  sehen  können,  denen  aber  das  Object  ent- 
schwunden ist  (c.  4).  Die  libertas  arbitrii  wird  von  ihm  also  1)  formal  bestimmt 
(ratio  et  voluntas  tenendi),  2)  aber  auch  material,  sofern  eben  die  voluntas  tenendi 
geblieben  ist.  Nach  Bernhard  (c.  8)  gehört  zum  freien  Willen  nicht  das  posse  vel 
sapere,  sondern  nur  das  velle;  dieses  a])er  ist  geblieben :  „manet  igitur  post  peccatum 
liberum  arbitrium,  etsi  miserum,  tamen  integrum  . . .  non  ergo  si  creatura  potens  aut 
sapiens,  sed  tantum  si  volens  esse  desierit,  liberum  arbitrium  amisisse  putanda  erit." 
Hugo  entfernt  sich  in  dieser  formalen  Beschreibung  des  freien  Willens  noch  weiter 
von  Augustin;  denn  dies  ist  ja  das  Charakteristische  dieser  verhängnissvollen  Ent- 
wickelung,  dass  an  die  Stelle  d(!r  religiösen  Betrachtung  Augustin's,  nach  welcher 
die  Freiheit  beata  necessitas  ist,  eine  empirisch-psychologische  gesetzt  wird,  welche 
die  Religion  gar  nichts  angeht  und  doch  die  religiöse  Betrachtung  nun  beeinflusst. 
„Voluntar!  semper  a  necessitate  lil)era  est" :  dieser  Satz  wird  wieder  zu  einem  Fun- 
dament in  der  Religionslehre  gemacht.  Ueber  Abälard's  Lehre  s.  Deutsch,  a.a.  O. 
S.  319  ff.,  der  namentlich  die  bedenkliche  Seite  an  dem  von  Abälard  hervorgehobenen 


528     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  l)ifi  zum  16.  Jahrh. 

barden  von  der  heilig  machenden  Gnade,  dass  sie  niünlicli  mit  dem 
hl.  Geist  geradezu  identisch  sei.  Seine  Meinung  ist  die,  dass,  wäh- 
rend alle  anderen  Tugenden  durch  Vermittelung  eines  eingegossenen 
Habitus  dem  Menschen  zu  eigen  werden,  die  Liebe  direct  in  der 
Seele  durch  Einwohnung  des  hl.  Geistes  entsteht,  da  sie  der  ein- 
wohnende hl.  Geist  selbst  ist.  In  dieser  bemerkenswertlien  Auf- 
fassung liegt  der  Ansatz  zu  einer  evangelischeren  Haltung ;  an  die 
Stelle  des  Habitus  tritt  die  directe  Thätigkeit  des  hl.  Geistes  selbst. 
Eben  desshalb  hat  diese  Betrachtung  *  keine  Nachfolger  gefunden ; 
ebensowenig  die  andere,  dass  man  bei  der  Gnade  die  gratia  gratis 
dans  (Gott  selbst)  und  gratis  data  unterscheiden  solle  ^.  Man  wollte 
nicht  Gott  selbst  liaben,  sondern  göttliclie  Kräfte,  die  zu  mensch- 
lichen Tugenden  werden  können. 

Hier  hegt  der  Grundfehler.  Die  Betrachtung  ist  im  letzten  Grunde 
doch  keine  religiöse,  sondern  eine  moralische.  Das  tritt  selbst  bei  dem 
Scholastiker  deutlich  hervor,  den  man  den  Theologen  der  Gnade  par 
excellence  nennen  kann,  l)ei  Thomas.  Man  kann,  scheint  es,  die  Gnade 
nicht  höher  werthen,  als  er  getlian  hat:  von  G^ott  zu  Gott  durch 
die  Gnade^  das  ist  das  Thema  seiner  ganzen  Dogmatik.  Und  doch 
ist  schliesslich  die  habituelle  Tugend  das,  worauf  es  ankommt.  Der  ent- 
scheidende Fehler  ist  schon  von  Augustin  gemacht  worden.  Er  liegt  in 
der  gratia  cooperans,  welche  von  der  gratia  operans  (praeveniens) 
unterschieden  wird.  Diese  schafft  nicht  die  Rechtfertigung  und  die 
Seligkeit,  sondern  jene.  Jene  aber  ist  nur  mitwirkend;  denn  sie  läuft 
neben  dem  befreiten  Willen  her,  und  beide  zusammen  bewirken  das  Ver- 
dienst, auf  welches  es  ankommt.  Aber  warum  kommt  es  auf  das  Ver- 
dienst an?  Weil  der  Theologe  sich  nicht  vorzustellen  vermag,  dass  vor 
Gott  etwas  Anderes  gelten  kann  als  eine  in  einem  Habitus  sich  darstel- 
lende Besserung.    Das  ist  aber  nicht  vom  Standpunkt  der  Religion 

Begriff  der  intentio  beleuchtet  imd  zeigt,  wie  der  Intellectualismus  des  Theologen 
mit  der  ü])erlieferten  Lehre  von  der  Erbsünde  im  Streit  liegt. 

*  S.IIDist.27  J(s.o.  S.527Anm.);  IDist.l7B:  „Ipse  idem  spiritus  sanctusest 
amor  sive  Caritas,  qua  nos  diligimus  deum  et  proximum,  quae  Caritas  cum  ita  est  in 
nobis,  ut  nos  faciat  diligere  deum  et  proximum,  tunc  spiritus  sanctus  dicitur  mitti 
ac  dari  nobis."  I  Dist.  17  Q:  „Alios  actus  atque  motus  virtutum  operatur  Caritas, 
i.  e.  Spiritus  s.,  mediantibus  virtutibus  quarum  actus  sunt,  utpote  actum  üdei,  i.  e. 
credere  fide  media,  et  actum  spei,  i.  e.  sperare  media  spe.  Per  fidem  enim  et  spem 
praedictos  operatur  actus.  Diligendi  vero  actum  per  se  tantum  sine  ali- 
cuiusvirtutis  medio  operatur.  Aliter  ergo  hunc  actum  operatur  quam  alios 
virtutum  actus." 

'^  Sentent.  II  Dist.  27  G :  „Cum  ex  gratia  dicuntur  esse  bona  merita  et  incipere, 
aut  intelligitur  gratia  gratis  dans  i.  e.  deus,  vel  potius  gratia  gratis  data,  quae  voluu- 
tatem  hominis  praevenit." 


Die  Gnadenlehre  der  Scholastik.   Principielles.  529 

gedacht;  sondern  vom  Standpunkt  der  Moral,  oder  soll  man  ein  ange- 
fochtenes Gewissen  damit  trösten,  dass  es  allmählich  schon  zum  hahitus 
der  Caritas  kommen  werde  ?    Man  mag  es  ansehen  wie  man  will  —  der 
Glaube  erscheint  hier  nur  insofern  bedeutungsvoll,  als  er  die  Einleitung 
zur  Erwerbung  der  Tugenden  ist;  die  gratiapraeveniens  wird  zur  Brücke, 
die  zur  Moral  überleitet.  Aber  letztlich  liegt  die  Ursache,  die  zu  diesem 
Entwurf  der  Lehre  geführt  hat,  noch  tiefer;    denn  nothwendig  muss 
man  fragen,  warum  wird  die  Gnade,  die  doch  den  ganzen  Process  be- 
herrschen soll,  intensiv  so  eng  gefasst,  dass  sie  das  nicht  allein  und  voll 
zu  bewirken  vermag,  was  sie  bezweckt  ?    Die  Antwort  auf  diese  Frage 
darf  nicht  nur  lauten :  um  den  Gedanken  eines  willkürlichen  Verfahrens 
Gottes  zu  beseitigen  —  denn  auch  sonst  zog  man  sich  auf  den  dunklen 
Willen  Gottes  zurück.    Auch  genügt  es  nicht,  zu  sagen,  dass  der  sitt- 
liche Grundsatz,  ein  Jeder  empfange,  darnach  er  gehandelt  hat,  hier 
den  Ausschlag  gegeben  habe    —  dieser  wirkte  mit,  war  aber  nicht 
allein  wirksam.    Vielmehr  ist   es  letztlich   der  Begriff  von 
Gott    und    von    der    Gnade     selbst,    der    keine    andere 
Entscheidung  zugelassen  hat.    Es  ist  die  Persönlichkeit 
nicht  erkannt,   weder  die  Persönlichkeit  Gottes,    noch  der  Mensch 
als  P  e  r  s  0  n.    Wenn  schon  in  irdischen  Verhältnissen    der  Mensch 
nicht  anders    auf  eine  höhere  Stufe  erhoben  werden  kann,    als  dass 
er  in  einer  ihm  übergeordneteren,  reiferen  und  grösseren  Person  auf- 
geht,   d.  h.  in  eine  geistige  Gemeinschaft  mit  ihr  tritt  und  in  Ehr- 
furcht, Liebe  und  Vertrauen  sich  ihr  anschhesst,   so    gilt    dasselbe, 
aber  in  unvergleichlicher  Weise,    von   der  Erhebung    des  Menschen 
aus  der  Sphäre  der  Sünde  und  Schuld  in  die  Sphäre  Gottes.    Hier 
helfen  keine  dinglichen  Mittheilungen,  sondern  nur  die  Gemeinschaft 
von  Person  zu  Person:  dass  es  der  Seele  aufgeht,  der  heihge  Gott, 
der  Himmel  und  Erde  regiert,   sei   ihr  Vater,    mit   dem  sie  leben 
kann  und  darf,    wie   das  Kind  im  Vaterhaus,    das   ist   die   Gnade, 
ja  das  ist  allein  die  Gnade,   nämlich  die  auf  der  Gewissheit,  dass 
die    trennende  Schuld  weggeräumt  ist,   ruhende    Glaubenszuversicht 
zu  Gott.  Das  hat  Augustin  so  wenig  erkannt,  wie  Thomas,  und  das 
haben    auch  die    mittelalterlichen   Mystiker   nicht  erkannt,    die  mit 
Christus  verkehren  wollten  wie  mit  einem  Freunde ;  denn  sie  dachten 
dabei  an  den  Menschen  Jesus.      Sie  alle  aber,   wenn  sie  an  Gott 
denken,   blicken  nicht  auf  das  Herz  Gottes,    sondern  auf  ein  uner- 
gründliches Wesen,  das,  wie  es  die  Welt  aus  dem  Nichts  geschaffen 
hat,  so  auch  überschwängliclie  Kräfte  zur  Erkenntniss  und  wesen- 
haften Umformung  hervorgehen  lässt.   Und  wenn  sie  an  sich  selber 
denken,   denken   sie   nicht    an  das  (Jentrum    des  menschlichen  Ichs, 

Harnarik,  Dogmengescliiclilf  III.  34 


530     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zmn  16.  Jahrh. 

den  Geist,  der  so  frei  und  so  hoch  ist,  dass  man  ihn  mit  dinglichen 
Gütern,  seien  es  auch  die  grössten  Erkenntnisse  und  das  herrhchste 
Gewand,    nicht  zu  beeinflussen  vermag,    und  zugleich  so  haltlos  in 
sich,    dass   er   nur  in  einer  anderen  Person  Halt  gewinnen  kann. 
Darum  haben    sie  den   Ansatz  gemacht:     Gott  und   die   gratia 
(d.  h.  die  Erkenntniss   und   der  Antheil   an   der  göttlichen  Natur), 
statt  der  persönlichen  Gemeinschaft  mit  Gott,  welcher  die  gratia 
ist.     Jene  im  Ansatz  nur  wenig  von  Gott  getrennte  gratia  entfernt 
sich  im  Fortgang  immer  weiter  von  ihm.  Sie  erscheint  im  Verdienst 
Christi   und    dann   in  den  Sacramenten  niedergelegt.     Aber   in  dem 
Masse,  als  sie  unpersönlicher,  dinghcher  und  äusserhcher  wird,  wird 
auch  die  Zuversicht  zu  ihr  geschwächt,  bis  sie  endlich  zum  magischen 
Mittel  wird,    welches   die  ruhende,    gute  Action   des  Menschen   in 
Thätigkeit  setzt  und  die  stockende  Maschine  zur  Arbeit  bringt,  damit 
sie  dann  ihr  Werk  thue  und  durch  ihr  Werk  vor  Gott  bestehe.    Man 
sieht  deutlich  —  es  kommt  zuletzt  Alles  auf  den  Gottesbegriff  an. 
In  der  gratia  cooperans  ist  jener  Gottesbegriff  enthüllt,  nach  welchem 
Gott  nicht   als  der  heihge  Herr  dem  schuldigen  Menschen  und  als 
der  Vater  Jesu  Christi  seinem  Kinde  gegenübersteht,  sondern  nach 
welchem  Gott  als  die  unergründUche  Macht  dem  Menschen  mit  der 
Erkenntniss   und   mit  geheimen   Naturwirkungen    zu   Hülfe   kommt, 
damit  er  durch  Liebe  und  Tugend  eine  selbständige  Geltung  vor  ihm 
gewinne.  Bei  Thomas  ist  es  der  augustinische  Int  eile  ctualismus,  eng 
verbunden  mit  der  Lehre  von   der  Vergottung,    der  schliessHch  die 
Auffassung  von  Gott  und  von  der  Gnade  bestimmt.    Bei  den  späteren 
Scholastikern  ist  der  Intellectualismus  überwunden  und  ein  schöner 
Ansatz  gemacht,    auf  den  Willen  und    damit  auf  die  Persönlichkeit 
zu  reflectiren.  Aber  da  es  bei  dem  Ansatz  bleibt,  so  erscheint  schliess- 
lich im  Nominalismus  die  Gnade  lediglich  ausgehöhlt  zu  einer  inhalts- 
losen magischen  Kraft.  Wo  das  Einfachste  und  Schwerste  nicht  ge- 
troffen wird,  die  Kindschaft  und  der  Glaube  gegenüber  der  Schuld  der 
Sünde,  da  ist  die  Frömmigkeit  und  die  Speculation  dazu  verurtheilt,  die 
Physis  und  die  Moral  (die  natura  divina  und  das  bonum  esse)  in  un- 
endlichen Speculationen  zu  behandeln,  in  der  Verbindung  dieser  beiden 
Elemente  die  gratia  zu  erkennen,  um  schliesslich,  wenn  der  Verstand  er- 
wacht ist  und  seine  Grenzen  erkennt,  bei  dem  blossen  aliquid  imd  einer  sich 
selbst  unterbietenden  Moral  zu  endigen.  DiesesEnde  entspricht  dem  Gott, 
der  die  unergründHcheWillkür  ist  und  ebendesshalb  ehi  unergründhch  will- 
kürliches Gnadeninstitut  als  Lebensversicherungsanstalt  errichtet  hat. 
Die  Grundzüge   der  Gnadenlehre  des  Thomas   sind   folgende :  * 
*  Ueber  das  allgemeine  Schema,  in  welches  Thomas  seine  Gnadeiilehre  ein- 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  531 

die  äusseren  Principien  des  sittlichen  Handelns  sind  das  Gesetz 
und  die  Gnade  (Summa  II,  1  Q.  90) :  „Principium  exterius  movens 
ad  bonum  est  deus,  qui  et  nos  instruit  per  legem  et  iuvat  per  gra- 
tiam."  Q.  90—108  wird  vom  Gesetz  gehandelt  und  in  Q.  107  Art.  4 
behauptet,  dass,  wenn  auch  das  neue  Gesetz  leichter  sei  in  Bezug 
auf  die  äusseren  Gebote,  es  doch  schwerer  sei  in  Bezug  auf  die 
cohibitio  interiorum  motuum  ^  Q.  109  — 114  folgt  die  Gnadenlehre. 
Thomas  handelt  zuerst  (Q.  109)  von  der  Nothwendigkeit  der  Gnade. 
Art.  1  wird  festgestellt,  dass  es  unmöglich  sei,  ohne  Gnade  irgend 
eine  Wahrheit  zu  erkennen.  Die  Ausführung  ist  desshalb  höchst 
bemerkenswerth,  weil  sie  sehr  stark  von  aristotelischen  Einflüssen  be- 
stimmt ist^.  Zugleich  tritt  hier  sofort  der  InteUeCtualismus  des 
Thomas  aufs  deutlichste  hervor:  die  Gnade  ist  die  Mittheilung  über- 
natürlicher Erkenntniss;  das  lumen  gratiae  ist  aber  ferner  „naturae 
superadditum".    In  Beidem  ist  ein  verhängniss  voller  Ansatz  gesetzt; 


gestellt  hat  und  namentlich  über  die  Bedeutung  der  Kirche  als  Correlat  der  Erlö- 
sung s.  Ritschi,  Rechtfertigung  1.  Bd.  2.  Aufl.  S.  86  ff.  Dass  auf  die  specifische 
Art  der  Gnade  als  gratia  Christi  in  der  ganzen  Darlegung  keine  Rücksicht  genommen 
ist,  ist  das  Verwunderlichste  bei  Thomas. 

^  „Quantum  ad  opera  virtutum  in  interioribus  actibus  praecepta  novae  legis 
sunt  graviora  praeceptis  veteris  legis."  Die  späteren  Scholastiker  haben  diesen 
Satz  zwar  nicht  direct  beanstandet,  aber  behauptet,  durch  die  Sacramente  würde 
die  mangelhafte  Erfüllung  der  Grebote  des  neuen  Gesetzes  ergänzt. 

*  „Cognoscere  veritatem  est  usus  quidam  vel  actus  intellectualis  luminis 
(„omne  quod  manifestatur  lumen  est"),  usus  autem  quilibet  quendam  motum 
importat  .  .  .  videmus  autem  in  corporalibus,  quod  ad  motum  non  solum  requiritur 
ipsa  forma,  quae  est  principium  motus  vel  actionis,  sed  etiam  requiritur  motio  primi 
moventis.  Primum  autem  movens  in  ordine  corporalium  est  corpus  caeleste".  Dies 
wird  nun  auf  die  motus  spirituales  angewendet,  deren  letzter  Urheber  also  Gott  sein 
muss,  ideo  quantumcunque  natura  aliqua  corporalis  vel  spiritualis  ponatur  perfecta, 
non  potest  in  suum  actum  procedere  nisi  moveatur  a  deo,  quae  quidem  motio  est 
secundum  suae  providentiae  rationem,  non  secundum  necessitatem  naturae,  sicut 
motio  corporis  coelestis.  Non  solum  autem  a  deo  est  omnis  motio,  sicut  a  primo 
movente,  sed  etiam  ab  ipso  est  omnis  formalis  perfectio,  sicut  a  primo  actu.  Sic 
igitur  actio  intellectus  et  cuiuscunque  cutis  crcati  dcpendet  et  a  deo  quantum  ad  duo. 
Uno  modo  in  quantum  ab  ipso  habet  perfectionem  sive  formam  per  quam  agit,  alio 
modo  in  quantum  ab  ipso  movetur  ad  agendum.  Intellectus  humanus  habet  aliquam 
formam,  seil,  ipsum  intelligibile  lumen,  quod  est  de  se  sufficiens  ad  quaedam  intelli- 
gibilia  cognoscenda  ....  altiora  vero  intelligibilia  intellectus  humanus  cognoscere 
non  potest,  nisi  fortiori  luminc  perficiatur  .  .  .  quod  dicitur  luinen  gratiae,  in  quan- 
tum est  naturae  superadditum.  Sic  igitur  dicendum  est,  quod  ad  cognitionem  cuius- 
cunque veri  homo  indigct  auxilio  divino,  ut  intellectus  a  deo  moveatur  ad  suum 
actum,  non  autem  indiget  ad  cognoscendam  veritatem  in  omnibus  nova  illustratione 
superaddita  natural!  illustrationi,  sed  in  quil>usdarn  (juae  excedunt  naturalem  cogni- 
tionem." 

34* 


532     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

denn  was  superadclitum  ist,  ist  niclit  7Air  Vollendung  des  Zwecks  des 
Menschen  nothwendig,  sondern  ragt  über  denselben  hinaus,  kann  also 
auch  fehlen,  oder  begründet,  wenn  es  vorhanden  ist,  einen  über- 
menschlichen Wertli,  daher  ein  Verdienst.  Nun  erst  im  2.  Art.  wird 
das  Verhältniss  der  Gnade  zu  dem  sittlich  Guten  besprochen.  Hier 
zeigt  sich  sofort  die  Folge  des  „superadditum".  Dem  Menschen 
im  Zustande  der  Integrität  wird  nämlich  die  Fähigkeit  beigelegt, 
aus  eigenen  Kräften  das  bonum  suae  naturae  proportionatum  zu  thun 
—  Gott  konnnt  hier  nur  wie  überall  als  primus  movens  in  Be- 
tracht — ;  der  göttlichen  Hülfe  bedurfte  er  jedoch,  um  ein  merito- 
risches  bonum  superexcedens  zu  gewinnen.  Nach  dem  Falle  aber  be- 
darf er  zu  Beidem  der  Gnade,  die  zuerst  seine  Natur  wieder  heilen 
muss.  Somit  ist  ihm  hier  eine  doppelte  Gnade  nöthig.  Damit  ist 
schon  die  Unterscheidung  der  gratia  operans  und  cooperans  fixirt, 
und  zugleich  ist  als  das  Ziel  des  Menschen  ein  übernatür- 
licher Zustand  ins  Auge  gefasst,  den  man  nur  mit  Hülfe 
der  zweiten  Gnade,  welche  Verdienste  schafft,  zu  er- 
reichen vermag  ^  Im  3.  Art.  wird  die  Frage,  ob  der  Mensch  ohne 
Gnade  Gott  über  Alles  lieben  könne,  in  der  gleichen  Weise  behandelt: 
die  Natur  vor  dem  Fall  vermag  das  wohl;  denn  es  ist  „quiddam 
connaturali  homini" ;  allein  nach  dem  Fall  vermag  sie  es  nicht. 
„Homo  in  statu  naturae  integrae  non  indigebat  dono  gratiae  su- 
peradditae  naturalibus  bonis  ad  diligendum  deum  naturaliter  super 
omnia,  licet  indigeret  auxilio  dei  ad  hoc  eum  moventis,  sed  in  statu 
naturae  corruptae  indiget  homo  etiam  ad  hoc  auxilio  gratiae  naturam 
sanantis"^.  Im  5.  Art.  heisst  es  in  Bezug  auf  die  Frage,  ob  der 
Mensch  ohne  Gnade  das  ewige  Leben  verdienen  könne,  dass  jede  Na- 

^  „In  statu  naturae  integrae  quantum  ad  sufficientiam  operativae  virtutis 
poterat  homo  per  sua  naturalia  velle  et  operari  bonum  suae  naturae  proportionatum, 
quäle  est  bonum  virtutis  acquisitae,  non  autem  bonum  superexcedens,  quäle  est 
bonum  virtutis  infusae;  sed  in  statu  naturae  corruptae  etiam  deficit  homo  ab  hoc, 
quod  secundum  suam  naturam  potest,  ut  non  possit  totum  huiusmodi  bonum  implere 
per  sua  naturalia.  Quia  tamen  natura  humana  per  peccatum  non  est  totaliter  cor- 
rupta,  ut  seil,  tanto  bono  naturae  privetur,  potest  quidem  etiam  in  statu  naturae 
corruptae  per  virtutem  suae  naturae  aliquod  l)onum  particulare  agere,  non  tamen 
totum  bonum  sibi  connaturale."  Er  muss  auxilio  medicinae  geheilt  werden.  „Sic 
igitur  virtute  gratuita  superaddita  virtuti  naturae  indiget  homo  in 
statu  naturae  integrae,  quantum  ad  unum  seil,  ad  operandum  et 
volendum  bonum  supernaturale,  sed  in  statu  natu  rae  corruptae  quan- 
tum ad  duo,  seil,  ut  sanetur  et  ulterius  ut  bonum  superuaturalis 
virtutis  operetur,  quod  est  meritorium." 

'^  Im  4.  Art.  wird  in  gleicher  Weise  von  der  Erfüllung  des  Gesetzes  Gottes 
Sfehandelt. 


1 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  533 

tur  durch  ihre  Action  nur  einen  Effect  zu  Wege  bringen  könne,  der 
ihrer  Kraft  proportional  sei.  „Vita  autem  aeterna  est  finis 
excedens  proportionem  naturae  humanae;  daher  könne  der 
Mensch  aus  seinen  Kräften  nicht  meritorische  Werke  hervorbringen, 
die  dem  ewigen  Leben  proportional  seien.  Ideo  sine  gratia 
homo  non  potest  mereri  vitam  aeternam."  Von  Verdiensten 
de  congruo  wird  hier  nicht  gesprochen,  ja  es  wird  im  6.  Art.  abge- 
lehnt, dass  der  Mensch  sich  durch  natürlich  gute  Acte  auf  diese 
Gnade  vorbereiten  könne  * ;  wohl  kommt  die  Bekehrung  zu  Gott  im 
freien  Willen  zu  Stande,  aber  dieser  kann  sich  nicht  zu  Gott  kehren, 
wenn  Gott  ihn  nicht  bekehrt;  denn  der  Mensch  vermag  sich  selb- 
ständig aus  dem  Sündenstande  nicht  zu  erheben  ohne  die  Gnade  ^, 
kann  auch  in  diesem  Zustande  nicht  einmal  die  Todsünden  sicher 
meiden  (Art.  8),  ja  selbst  der  Erlöste  bedarf  der  Gnade,  um  nicht 
in  Sünden  zu  fallen  ^ ;  daher  ist  denn  auch  die  Beharrlichkeit  ein  be- 
sonderes Gnadengeschenk^. 


^  „Quod  homo  convertatur  ad  deum,  hoc  non  potest  esse  nisi  deo  ipsum  con- 
vertente,  hoc  autem  est  praeparare  se  ad  gratiam,  quasi  ad  deum  converti  .  .  .  homo 
non  potest  se  praeparare  ad  lumen  gratiae  suscipiendum,  nisi  per  auxilium  gratuitum 
dei  interius  moventis." 

2  Art.  7:  „Cum  enim  peccatum  transiens  actu,  remaneat  reatu,  non  est  idem 
resurgere  a  peccato,  quod  cessare  ab  actu  peccati,  sed  resurgere  a  peccato  est 
reparari  hominem  ad  ea  quae  peccando  amisit."  Die  Sünde  hat  einen  dreifachen 
Schaden  zur  Folge,  macula,  corruptio  naturalis  boni,  reatus  culpae.  Keine  dieser 
Folgen  kann  anders  als  durch  Gott  gehoben  werden. 

'  Art.  9 :  „Homo  ad  recte  vivendum  dupliciter  auxilio  dei  indiget.  Uno  qui- 
dem  modo  quantum  ad  aliquod  habituale  donum,  per  quod  natura  humana  corrupta 
sanetur  et  etiam  sanata  elevetur  ad  operanda  opera  meritoria  vitae  aeternae,  quae 
excedunt  proportionem  naturae.  Alio  modo  indiget  homo  auxilio  gratiae,  ut  a  deo 
moveatur  ad  agendum.  Quantum  igitur  ad  i)rimum  auxilii  modum,  homo  in  gratia 
existens  non  indiget  alio  auxilio  gratiae  quasi  aliquo  alio  habitu  infuso,  indiget  tamen 
auxilio  gratiae  secundum  alium  modura,  ut  seil,  a  deo  moveatur  ad  recte  agendum, 
et  hoc  propter  duo.  Erstens  generell  (nulla  res  creata  potest  in  quemcunque  actum 
prodire  nisi  virtute  motionis  divinae),  zweitens  speciell,  propter  conditionem  status 
humanae  naturae,  quae  quidem  licet  per  gratiam  sanetur  quantum  ad  mentem, 
remanet  tamen  in  ea  corruptio  et  infectio  quantum  ad  carnem,  per  quam  servit  legi 
jjeccati;  remanet  etiam  quaedam  ignorantiac  obscuritas  in  intellectu;  propter  varios 
enim  rerum  eventus  et  quia  etiam  nos  ipsos  non  perfecte  cognoscimus, 
non  possumus  ad  plenum  scire  quid  nobis  expediat,  et  ideo  necesse  est  uobis,  ut  a 
deo  dirigamur  et  protegamur  qui  omnia  novit  et  omnia  potest.  Et  proj)ter  hoc 
etiam  renatis  in  filios  dei  per  gratiam  couvenit  dicerc:  Et  nc  nos  inducas  in  tenta- 
tionem,  et  fiat  voluntas  tua,  etc." 

*  Art.  10  (streng  augustinisch,  gegen  Pelagius) :  „Ad  perscverantiam  habendam 
homo  in  gratia  constitutus  non  quidem  indiget  aliqua  aliahabituali  gratia,  seddivino 
auxilio  ipsum  dirigcnte  et  protegentc  contra  tentationum  impulaus  ...  et  ideo  post- 


534     beschichte  desPo^ias  im  Zeitaltor  der  Bettelorden  bis  zum  IG.  .Tahrh. 

In  der  110  Q.  wird  hierauf  die  Essenz  der  Gnade  beschrieben. 
Sehr  charakteristisch  beginnt  die  Untersuchung  mit  der  Frage,  „utruni 
gratia  ponat  ahquid  in  anima?"  Hier  wird  festgestellt,  dass  gratia  einen 
dreifachen  Sinn  habe  -~~  huldvolle  Gesinnung,  freies  Geschenk  ohne 
Entgelt  und  Dank.  Die  göttliche  Gnade  ist  nicht  nur  huldvolle  Ge- 
sinnung, sondern  auch  Geschenk  und  darum  „est  manifestum,  quod  gratia 
aliquid  ponit  in  eo,  qui  gratiam  accipit".  Nun  die  Definition :  „Sic  igitur 
per  hoc,  (piod  dicitur  homo  gratiam  dei  habere,  significatur  quiddam 
supernaturale  in  hominc  a  deo  proveniens.  Quandoque  tamen  gratia 
dei  dicitur  ipsa  aeterna  dei  dilectio,  secundum  quod  dicitur  etiam  gratia 
praedestinationis,  in  quantum  deus  gi-atuito  et  non  ex  meritis  ahquos 
praedestinavit  sive  elegif*  ^  Da  die  Gnade  aber  „etwas  in  der  Seele 
setzt",  so  ist  sie  auch  eine  Qualität  der  Seele,  d.  h.  ausser  dem 
auxilium,  durch  welches  Gott  überhaupt  die  Seele  zum  guten  Handeln 
bewegt,  giesst  er  eine  übernatürliche  Qualität  in  sie  ein^. 
In  den  beiden  folgenden  Artikeln  (3  und  4)  wird  nun  nachgewiesen, 
dass  die  Gnade  nicht  etwa  nur  die  Erfüllung  mit  dieser  oder  jener 
Tugend  (auch  nicht  nur  mit  der  Liebe)  ist,  sondern  dass  sie  sich  zu  den 
eingegossenen  Tugenden  verhält,  wie  das  naturale  lumen  rationis  zu  den 
virtutes  acquisitae,  und  dass  sie  daher  als  eine  Theilnahme  an  der  gött- 
lichen Natur  vermittelst  einer  Durchleuchtung  des  ganzen  Wesens  zu 
betrachten  ist,  wodurch  die  wahre  Gotteskindschaft  zu  Stande  kommt  ^. 

Von  hier  aus  wird  Q.  111  die  Eintheilung  der  Gnade  entworfen. 
Und  zwar  wird  zuerst  die  gratia  gratum  faciens  (qua  ipse  homo  deo 


I 


quam  aliquis  est  iustificatus  per  gratiam,  necesse  habet  a  deo  petere  praedictum 
perseverantiae  donum,  ut  seil,  eustodiatur  a  malo  usque  ad  finem  vitae;  multis 
enim  datur  gratia,  quibus  non  datur  perseverare  in  gratia." 

»  Art.  1. 

^  Art.  2 :  „  .  .  .  multo  magis  ilKs  quos  mbvet  ad  consequendmn  bonum  siiper- 
naturale  aetemum,  infundit  aliquas  formas  seu  qualitates  supernatu- 
rales,  secundum  quas  suaviter  et  prompte  ab  ipso  moveantur  ad 
bonum  aeternum  consequendum." 

^  Art.  3:  „Sicut  lumen  naturale  rationis  est  aliquid  praeter  virtutes  acquisitas, 
quae  dicuntur  in  ordine  ad  ipsum  lumen  naturale,  ita  etiam  ipsum  lumen  gratiae, 
quod  est  participatio  divinae  naturae,  est  aliquid  praeter  virtutes  infusas, 
quae  a  lumine  illo  derivantur  et  ad  illud  lumen  ordinantur."  Daher,  weil  die  gratia 
keine  blosse  virtus  ist,  sed  ahquid  virtute  prius,  so  ist  sie  auch  nicht  in  aliqua  poteu- 
tiarum  animae  gesetzt,  sondern  in  der  Essenz  der  Seele  selbst.  „Sicut  enim  per 
potentiam  intellectivam  homo  participat  cognitionem  divinam  per  virtutem 
fidei,  et  secundum  potentiam  voluntatis  am o rem  divinum  per  virtutem  cari- 
tatis,  ita  etiam  per  naturam  animae  participat  secundum  quaudam 
similitudinem  naturam  divinam,  per  quandam  regenerationem." 
(Art.  4). 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  535 

coniungitur)  und  die  gratia  gratis  data  (die  priesterliche  Amtsgnade, 
qua  non  homo  ipse  iustificatur,  sed  iustificatio  alterius  comparatur) 
unterschieden.  Es  ist  bemerkenswerth,  dass  Thomas  mit  dieser  Unter- 
scheidung beginnt  (Art.  1).  Sodann  folgt  die  Spaltung  der  gratia  in  die 
gr.  operans  et  cooperans  (illa,  qua  nos  movet  ad  bene  volendum  et 
agendum  —  habituale  donum  nobis  divinitus  inditum);  sie  wird  durch 
den  Satz  begründet:  „operatio  alicuius  effectus  non  attribuitur  mobili, 
sed  moventi."  In  dem  Effect,  bei  welchem  unsere  Seele  mota  nonmovens 
ist,  zeigt  sich  die  gr.  operans,  in  dem  Effect,  bei  welchem  sie  mota  movens 
ist,  die  gr.  cooperans  (Art.  2)  ^.  Parallel  hierzu  ist  die  Eintheilung  in 
gr.  praeveniens  und  subsequens  (Art.  3)^.  Im  4.  Art.  wird  die  gratia 
gratis  data,  d.  h.  die  Gnade,  mit  der  man  Anderen  hilft  (zur  Erbauung 
der  Gemeinde,  Amtsgnade),  einer  weiteren  Eintheilung  nach  I  Cor.  11 

*  Dazu:  „Est  autem  in  nobis  duplex  actus;  primus  quidem  interior  voluntatis; 
et  quantum  ad  istum  actum,  voluntas  se  habet  ut  mota,  deus  autem  ut  movens,  et 
praesertim  cum  voluntas  incipit  bonum  velle,  quae  prius  malum  volebat.   Et  ideo 
secundum  quod  deus  movet  humanam  mentem  ad  hunc  actum,  dicitur  gratia  operans. 
Alius  autem  actus  est  exterior,  qui  cum  a  voluntate  imperetur  consequens  est  quod 
ad  hunc  actum  operatio  attribuatur  voluntati.   Et  quia  etiam  ad  hunc  actum  deus 
nos  adiuvat  et  interius  confirmando  voluntatem,  ut  ad  actum  perveniat,  et  exterius 
facultatem  operandi  praebendo,  respectu  huiusmodi  actus  dicitur  gratia  cooperans. 
(Folgt  eine  Belegstelle  aus  Augustin).    Si  igitur  gratia  accipiatur  pro  gratuita  dei 
motione ,  quia  movet  nos  ad  bonum  meritorium ,  convenienter  dividitur  gratia  per 
operantem  et  cooperantem.    Si  vero  accipiatur  gratia  pro  habituali  dono,  sie  est 
duplex  gratiae  effectus,  sicut  et  cuiuslibet  alterius  formae,  quorum  primus  est  esse, 
secundus  est  operatio  .  .  ,  Sic  igitur  habitualis  gratia,  in  quantum  animam  sanat 
vel  iustificat  sive  gratam  deo  facit,  dicitur  gratia  operans,  in  quantum  vero  est 
principium  operis  meritorii,  quod  ex  libero  arbitrio  procedit,  dicitur  cooperans." 
Schon  früher  hat  Thomas  in  Bezug  auf  die  Gerechtigkeit  (iustitia)  eine  analoge 
Unterscheidung  gemacht;  s.  II,  1  Q.  100  Art.  12:  „Si  loquamur  de  iustificatione 
proprio  dicta  sie  considerandum  est,  quod  iustitia  potest  accipi  prout  est  in  h ab i tu 
vel  prout  est  in  ac tu,  et  secundum  hoc  iustificatio  dupliciter  dicitur.    Uno  quidem 
modo  secundum  quod  homo  fit  iustus  adipiscens  habitum  iustitia e.    Alio  vero 
modo,  secundum  quod  operaiustitiae  operatur,  ut  secundum  hoc  iustificatio 
nihil  aliud  sit  quam  iustitiae  exsecutio.    Iustitia  autem,  sicut  aliac  virtutcs, 
potest  accipi  et  acquisita  et  infusa.    Acquisita  quidem  causatur  ex  operibus, 
sed  infusa  causatur  ab  ipso  deo  per  eiusgratiam,  ethacc  est  vera  iustitia,  secun- 
dum quam  aliquis  dicitur  iustus  apud  deum." 

^  „Sicut  gratia  dividitur  in  operantem  et  cooperantem  secundum  diversos 
effectus,  ita  etiam  in  pracvcnientem  et  subscquentcm,  qualitcrcumquc  gratia 
accipiatur.  Sunt  autem  quinque  effectus  gratiae  in  nobis,  quorum  primus  est,  ut 
anima  sanetur,  secundus  est,  ut  bonum  vclit,  tertius  est,  ut  bonum  quod  vulfc 
efficacitnr  oj)eretur,  ()uartus  est,  ut  in  bono  pcrsevcrct,  quintus  est,  ut  ad  gloriam 
perveniat.  Et  ideo  gratia  secundum  (juod  causat  in  nobis  primum  cffcctum, 
vocatur  praeveniens,  respectu  secundi  effectus  et  prout  causat  in  nobis  secundum, 
vocatur  subsequens  respectu  primi  effectus." 


53f)     Oescliichte  des  Dufrmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

unterworfen,  und  im  5.  Art.  wird  gezeigt,  dass  diegratia  gratuni  faciens 
viel  hoher  zu  werthen  sei  als  die  gratia  gratis  data. 

In  Q.  112  wird  nun  die  causa  gratiae  erwogen.  Dass  Gott  allein 
die  Ursache  sein  könne,  wird  aus  dem  Begriff  der  Gnade  als  deifica 
echt  altkatholisch  abgeleitet*.  Daher  vermag  auch  der  Mensch  sich 
nicht  auf  diese  Gnade  vorzubereiten,  vielmehr  muss,  da  eine  Vorbe- 
reitung noth  wendig  ist,  diese  durch  die  Gnade  selbst  geschehen-^; 
mithin  ist  der  Act  der  Vorbereitung  auf  die  gratia  infusa  kein  meri- 
torischer;  denn  wenn  auch  jegliche  forma  eine  materia  disposita  vor- 
aussetzt, so  gilt  doch  auch  hi  naturalibus  der  Satz:  „dispositiomateriae 
non  ex  necessitate  consequitur  formam  nisi  per  virtutem  agentis,  qui 
dispositionem  causat"  ^.  Diese  gratia  gratum  faciens  kann  in  dem  Einen 
geringer  sein,  in  dem  Anderen  grösser,  eben  weil  sie  ein  freies  Geschenk 
ist^;  aber  weil  sie  etwas  Uebernatürliches  ist,  so  kann  Niemand,  dem 


1 


*  „Cum  donum  gratiae  uihil  aliud  sit  quam  quaedam  participatio  divinae  na- 
turae,  quae  excedit  omnem  aliam  naturam,  ideo  impossibile  est,  quod  aliqua  crea- 
tura  gratiam  causet.  Sic  enim  necesse  est,  quod  solus  deus  deificet,  communicando 
consortium  divinae  naturae  per  quandam  similitudinis  participationem,  sicut  im- 
possibile est,  quod  aliquid  igniat  nisi  solus  ignis"  (Art.  1). 

^  Der  Gedanke  ist  dieser,  dass  die  gratia  als  habituale  donum  dei  eine  Vor- 
bereitungverlangt, weil  —  aristotelisch  —  „nuUa  forma  potest  esse  nisi  in  materia 
disposita;  sed  si  loquamur  de  gratia  secundum  quod  significat  auxilium  dei  moveu- 
tis  ad  bonum  (also  die  gratia  prima),  uulla  praeparatio  requiritur  ex  parte  ho- 
minis, quasi  praeveuiens  divinum  auxilium."  Bei  dieser  folgenschweren  Unterschei- 
dung hat  die  Auflösung  des  Augustinismus  eingesetzt. 

^  Art.  3:  „Praeparatio  hominis  ad  gratiam  est  a  deo  sicut  a  movente,  a  libero 
autem  arbitrio  sicut  a  moto  . . .  Secundum  quod  est  a  libero  arbitrio,  nullam  neces- 
sitatem  habet  ad  gratiae  consecutionem." 

*  Auch  dies  ist  ein  folgenschwerer,  übrigens  augustinischer  Satz,  der  sich  auch 
aus  der  Vorstellung  von  der  Gnade  als  gratia  infusa  (habitus)  ergiebt.  Zwar  erklärt 
Thomas  noch,  dass  ex  parte  finis  die  Grösse  der  Gnade  immer  dieselbe  bleibt 
(„coniungens  homiucm  summo  bono,  quod  est  deus").  Aber  „ex  parte  subiecti  gratia 
potest  suscipere  magis  vel  minus,  prout  seil,  unus  perfectius  illustratur  a  lumine 
gratiae  quam  alius.  Cuius  diversitatis  ratio  quidem  est  aliqua  ex  parte 
praeparantis  se  ad  gratiam,  qui  enim  magis  se  ad  gratiam  praeparat, 
pleniorem  gratiam  accipit.  Dieser  Satz  wurde  dasVerhäugniss  der  Folgezeit; 
man  achtete  naturgemäss  nun  immer  mehr  auf  die  praeparatio  statt  auf  die  causa 
und  überhörte  den  Zusatz,  den  Thomas  angefügt  hatte:  „sed  hac  ex  parte  non  po- 
test accipi  prima  ratio  huius  diversitatis,  quia  praeparatio  ad  gratiam  non  est  ho- 
minis, nisi  in  quautum  liberum  arbitrium  eins  praeparatur  a  deo.  Unde  prima  causa 
huius  diversitatis  accipenda  est  ex  parte  ipsius  dei,  qui  diversimode  suae  gratiae 
dona  dispensat  ad  hoc  quod  ex  diversis  gradibus  pulchritudo  et  perfectio  ecclesiao 
consurgat,  sicut  etiam  diverses  gradus  rerum  instituit,  ut  esset  Universum  porfec- 
tum."  Augenscheinlich  führt  diese  Erklärung  in  eine  ganz  andere  Richtung,  als  die 
erstgenannte,  der  sie  beigesellt  ist ;  denn  dort  handelt  es  sich  wirklich  um  ein  Mehr 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  537 

es  nicht  besonders  offenbart  ist,  hienieden  sicher  wissen,  ob  er  sie 
besitzt  K 

In  der  113.  und  114.  Q.  folgt  die  Untersuchung  über  die  Effecte 
der  Gnade.  Entsprechend  der  Unterscheidung  der  gratia  operans  et 
cooperans  ist  die  Wirkung  der  Gnade  eine  doppelte,  die  Rechtfertigung 
und  die  verdiensthchen  guten  Werke;  aber  schon  bei  der  Rechtfertigung 
muss  der  AVille  mitwirken.  Nur  der  allererste  Punkt  ist  durch  die 
Allein  Wirksamkeit  der  Gnade  bezeichnet.  Dies  tritt  sofort  im  1.  Art. 
(Q.  113)  zu  Tage.  Thomas  wirft  die  Frage  auf:  utrum  iustificatio  impii 
sit  remissio  peccatorum?  Und  er  antwortet  in  einer  höchst  gewundenen 
Erklärung  im  Grunde  mit  Nein,  obgleich  er  scheinbar  die  Frage  bejaht. 
Er  stellt  nämlich  fest,  dass  iustificatio  passive  accepta  importat  motum 
ad  iustitiam,  dass  sie  aber  hier  in  Betracht  kommt  als  transmutatio 
quaedam  de  statu  iniustitiae  ad  statum  iastitiae.  „Et  quia  motus  deno- 
minatur  magis  a  termino  ad  quem,  quam  a  termino  a  quo,  ideo  huius- 
modi  transmutatio,  qua  aliquis  transmutatur  a  statu  iniustitiae  ad  sta- 
tum iustitiae  per  remissionem  peccati,  sortitur  nomen  a  termino  ad  quem 
et  vocatur  iustificatio  impii",  mit  anderen  Worten:  die  wirldiche  iusti- 
ficatio findet  durch  die  remissio  peccatorum  noch  nicht  statt,  sondern 
nur  um  des  Zieles  willen  kann  man  sagen,  dass  bereits  die  Sünden- 
vergebung die  iustificatio  ist ;  in  Wahrheit  aber  kommt  dieselbe  —  als 
Versetzung  in  einen  neuen  Zustand  —  erst  später  zu  Stande.  Dies 
wird  noch  deuthcher,  wenn  in  Art.  2  behauptet  wird,  dass  schon  für  die 
Sündenvergebung  die  gratia  infusa  nöthig  ist.    Damit  wird  freihch  eine 

oder  Weniger,  hier  dagegen  um  Spielarten,  die  zur  Vollkommenheit  des  schönen 
Ganzen  nothwendig  sind.  Aber  Thomas  konnte  beide  Erklärungen  nach  seiner  On- 
tologie  vereinigen,  weil  er,  wie  Augustin,  letztlich  auch  das  minder  Gute  im  kos- 
mischen System  für  nothwendig  hielt,  da  gerade  so  die  Schönheit  des  Ganzen 
in  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Theile  hervorträte.  Natürlich  hebt  diese  Reflexion 
die  ethische  Betrachtung  geradezu  auf  und  führt  sie  in  die  ästhetische  hinüber. 
Sofern  also  Thomas  das  Vorhandensein  von  mehr  oder  weniger  Gnade  nicht  von 
der  dispositio  (praeparatio)  hominis  ableitet,  vielmehr  auf  Gott  zurückführt,  weiss 
er  es  nur  ästhetisch  zu  rechtfertigen  (Art.  4). 

^  Dies  ist  der  dritte  folgenschwere  Satz  (Art.  5):  „Nullus  potest  scire,  sc  ha- 
bere gratiam,  certitudinalitcr;  certitudo  enim  non  potest  haberi  de  aliquo,  nisi  pos- 
sit  diiudicari  per  projirium  priucijjium.  Keiner  ist  eines  Schlusses  sicher,  der  nicht 
den  Obersatz  kennt.  Principium  autem  gratiac  et  obiectum  eius  est  ipso  dcus,  q  u  i 
proptersuiexcellcntiam  est  nobis  ignotus."  Nur  coniecturaliter  (per 
aliqua  signa)  kann  Einer  den  Besitz  der  Gnade  feststellen.  Wohl  kann  man 
sicher  sein,  scientiaundfideszu  besitzen,  „nonestautemsimi- 
lis  ratio  de  gratia  et  caritate.'*  Hier  sieht  man,  welche  Verwüstung  der 
Gedanke  der  gratia  infusa  als  eines  geheimnissvollen  habitus,  der  der  Seele  ap- 
plicirt  wird,  anrichtet!  Dieser  habitus,  den  man  nicht  fesstellen  kann,  entspricht 
aber  dem  deus  ignotus ! 


538     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelordeii  bis  zum  16,  Jahrh. 

böse  Verwirrung  angerichtet;  denn  wenn  der  Satz:  „non  potest  intelligi 
reniissio  culpae,  si  non  adest  infusio  gratiae"  richtig  ist  —  er  wird  durch 
die  Erwägung  bewiesen,  dass  die  Sündenvergebung  den  effectus  divinae 
dilectionis  in  uns  voran  s setzt,  d.  h.  voraussetzt,  dass  wir  Gott  wieder 
heben  — ,  so  ist  die  Sündenvergebung  statt  das  Erste  das  Letzte,  und 
man  muss  sich  fragen,  was  denn  eigenthch  der  Effect  der  gratia  prae- 
veniens  (im  strengsten  Sinn)  ist  ?  Die  blosse  vocatio  oder  ein  Undefinir- 
bares?  Thomas  hat  sich  hier  in  seinen  eigenen  Distinctionen  verwirrt, 
resp.  er  hat  es  —  höchst  charakteristisch  —  im  Dunklen  gelassen,  was 
der  Mensch  der  zuvorkommenden  Gnade  verdankt.  Dem  entsprechend 
wird  in  den  Art.  3 — 5  ausgeführt,  dass  bereits  zur  Rechtfertigung  ein 
motus  liberi  arbitrii,  ein  motus  fidei  und  ein  odium  peccati  mitwirken 
muss,  d.  h.  wir  werden  sofort  zur  Betrachtung  des  Ineinander  von  Gnade 
und  Selbstthätigkeit  geführt  ^  Nun  erst  kommt  die  Rechtfertigung  zu 
Stande  (Art.  6);  denn  „quattuor  enumerantur,  quae  requiruntur  ad 
iustificationem  impii,  seil,  gratiae  infusio,  motus  liberi  arbitrii  in  deum 
per  hdem,  et  motus  liberi  arbitrii  in  peccatum  et  remissio  culpae  (diese 
folgt  also  den  3  anderen  Stücken),  cuius  ratio  est,  quia  sicut  dictum 
est:  iustificatio  est  quidam  motus  quo  animamovetur  a  deo  a  statu  cul- 
pae in  statum  iustitiae ;  in  quolibet  autem  motu,  quo  aliquid  ab  altero 
movetur,  tria  requiruntur.  Primo  quidem  motio  ipsius  moventis,  secundo 
motus  mobilis,  tertio  consummatio  motus  sive  perventio  ad  finem.  Ex 
parte  igitur  motionis  divinae  accipitur  gratiae  infusio,  ex  parte  vero  liberi 
arbitrii  moti  recessus  et  accessus,  consummatio  autem  sive  perventio 
ad  terminum  huius  motus  importatur  per  remissionem  culpae.  In 
hoc  enim  iustificatio  consummatur".  AUein,  wenn  auch  die 
Rechtfertigung  in  der  Schuldvergebung  gipfelt,  so  gipfelt,  wie  sich  zeigen 
wird,  der  ganze  Process  noch  nicht  in  der  Rechtfertigung.  Von  dieser 
Rechtfertigung  des  Sünders  wird  ferner  (Art.  7)  gelehrt,  dass  sie  sich 
„originaliter"  im  Moment  der  Eingiessung  vollzieht  und  dass  sie 
„in  instanti  fit  absque  successione".  Die  Schwierigkeit,  dass 
die  Formgebung  (Eingiessung)  nur  in  materia  disposita  geschehen 
kann,  wird  dadurch  beseitigt,    dass  Gott  „ad  hoc  quod  gratiam  in- 

^  Art.  3:  „In  eo,  qui  habet  iisum  liberi  arbitrii,  non  fit  motio  a  deo  ad  iusti- 
tiam  absque  motu  liberi  arbitrii,  sed  ita  iufundit  donum  gratiae  iustificantis,  quod 
etiam  simul  cum  hoc  movet  liberum  arbitrium  ad  donum  gratiae  acceptandum  in 
his,  quae  sunt  huius  motionis  capaccs."  4:  „deus  movet  animam  hominis  convertendo 
eam  ad  se  ipsum  .  .  .  prima  conversio  ad  deum  fit  per  fidem  .  .  .  ideo  motus  fidei 
requiritur  ad  iustificationem  impii."  5:  „recessus  et  accessus  in  motu  liberi  arbitrii 
accipitur  secundum  detestationem  et  desiderium  .  .  .  oportet  igitur  quod  in  iustifica- 
tione  impii  sit  motus  liberi  arbitrii  duplex,  unus  quo  per  desiderium  tendat  in  dei 
iustitiam,  et  alius,  quo  detestetur  peccatum." 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  539 

fundat  animae,  non  requirit  aliquam  dispositionem,  nisi  quam  ipse 
facit.  Facit  autem  huiusmodi  dispositionem  sufficientera  ad  suscep- 
tionem  gratiae  quandoque  quidem  subito  quandoque  autem  paulatim 
et  successive"  ^  In  dem  Folgenden  wird  nun  in  kühner  Weise  die  Ord- 
nung des  Processes  umgekehrt  (Art.  8) :  temporaliter  fallen  die  oben 
genannten  vier  Stücke  zusammen,  aber  causaliter  folgen  sich  1)  die 
Eingiessung  der  Gnade,  2)  die  Hinbewegung  zu  Gott  in  Liebe,  3)  die 
Abkelir  von  der  Sünde,  4)  die  Schuldvergebung.  Das  Recht  dieser 
ümkehrung  ist  von  Thomas  nicht  erwiesen  ;  die  Absicht  ist  deutlich : 
die  gratia  soll  am  Anfang  stehen.  Aber  weil  er  sich  scheut,  eine 
gratia  zu  unterscheiden,  die  nicht  infusa  ist,  sondern  lediglich  Er- 
weckung der  fiducia,  so  darf  er  den  Ansatz,  der  eigentlich  seiner 
Denkweise  entsprechen  würde,  nämhch  1)  eine  gratia,  die  bloss 
movens  ist,  2)  fides,  3)  detestatio  peccati,  4)  remissio  culpae,  5)  gra- 
tia infusa,  nicht  gelten  lassen.  Er  stellt  daher  nun  „causaliter"  die 
gratia  infusa  voran  —  aus  der  richtigen  Er^vägung,  dass  unter  allen 
umständen  dieser  der  Vortritt  gebührt.  — ,  aber  es  ist  eine  blosse 
Behauptung,  die  er  selbst  nicht  durchzuführen  vermag,  dass  diese 
gratia  eine  infusa  sei;  denn  dem  entsprechen  nicht  ihre  Wirkungen. 
Die  YerwÜTung,  die  er  hier,  sobald  man  scharf  zusieht,  angerichtet 
hat'^,  ist  in  der  Folgezeit  nicht  ohne  Wirkung  gebheben.  In  der 
Schlussbetrachtung  über  die  iustificatio  (Art.  9  und  10)  wird  fest- 
gestellt, dass  sie  nicht  nur  ein  opus  magnum  Gottes,  sondern  in 
Wahrheit  auch  ein  opus  miraculosum  sei;  allein  im  Grunde  gilt 
Letzteres  nur  von  den  plötzlichen  Bekehrungen:  „quaedam  miraculosa 
opera,  etsi  sint  minora  quam  iustificatio  impii  quantum  ad  bonum 
quod  fit,  sunt  tamen  praeter  consuetum  ordinem  talium  effectuum  et 
ideo  plus  habent  de  ratione  miraculi."  Damit  ist  die  iustificatio  er- 
schöpft, jedoch  nicht  der  ganze  Process;   vielmehr  werden  nun  erst 

*  Die  Ausführung  ist  wieder  kosmologisch  (aristotelisch):  „Quod  enim  agcns 
naturale  non  subito  possit  disponcre  materiam,  contingit  ex  hoc,  quod  est  aliqua 
proportio  eins  quod  in  materia  resistit  ad  virtutem  agentis  et  proptcr  hoc  videmus, 
quod  quanto  virtus  agentis  fuerit  fortior,  tanto  materia  citius  disponitur.  Cum  igitur 
virtus  divina  sit  infinita,  potcst  quamcnnque  materiam  crcatam  subito  disponcre 
etc.  etc." 

*  Sie  zeigt  sich  z.  B.  in  dem  Widerspruch  Art.  8  ad  Primum,  wenn  er  sagt: 
„Quia  infusio  gratiae  et  remissio  culpae  dicuntur  ex  parte  dei  iustificantis,  ideo 
ordinc  naturae  prior  est  gratiae  infusio  (juam  culpae  remissio.  Sed  si  sumantur  ea 
quac  ex  parte  hominis  iustificati,  est  ex  conv(!rso;  nam  prius  est  ordinc  naturae 
liberatio  a  culpa,  quam  consecutio  gratiae  iustificantis."  Aber  nur  das  Eine  oder 
das  Andere  gilt.  Es  ist  schlimme  Scholastik,  zu  behaupten,  beide  Betrachtungen 
könnten  neben  einander  bestehen. 


540     Uesuliichtc  des  Doj]^mas  im  Zcitalttr  der  Bcttelorden  ])is  zum  l(j.  Jahrh. 

die  Wirkungen  erwogen,  die  in  steigendem  Masse  dem  bereits 
Gerechtfertigten  durch  die  Gnade  zu  Theil  werden.  Sie  stehen 
(Q.  114)  sämmtlich  unter  dem  Titel  des  meritum.  Zuerst  wird 
die  Frage  aufgeworfen,  ob  sich  der  Mensch  überhaupt  ein  Verdienst 
vor  Gott  erwerben  könne  (Art.  1).  Die  Antwort  lautet:  nicht  im 
absoluten  Sinn  der  strengen  Gerechtigkeit,  wohl  aber  kraft  einer 
gütigen  Anordnung  Gottes  K  Sodann  wird  dem  entsprechend  die 
Möglichkeit  abgewiesen,  dass  Jemand  sich  selbst  das  ewige  Leben 
verdienen  könne,  selbst  wenn  er  sich  in  statu  naturae  integrae  be- 
findet (Art.  2.);  denn  die  vita  aeterna  est  quoddam  bonum  excedens 
Proportionen!  naturae  creatae  ^.  Dagegen  wird  auf  die  Frage,  ob  der 
in  der  Gnade  stehende  Mensch  ^,ex  condigno"  das  ewige  Leben  ver- 
dienen könne,  keine  runde  Antwort  gegeben^.  Die  Entscheidung 
lautet  viehnehr  (Art.  3):  „Opus  meritorium  hominis  dupliciter  con- 
siderari    potest;    uno    modo,    secundum    quod    procedit    ex    libero 


*  Dies  ist  der  religiöse  Mantel,  der  dem  irreligiösen  „Verdienst"  umgehängt 
wird.  Thomas  sagt,  meritum  und  merces  seien  dasselbe  =  retributio  als  pretium 
einer  Leistung.  lustitia  im  strengen  Sinn  ist  nur  inter  eos,  quorum  est  simpliciter 
aequalitas.  Wo  also  simpliciter  iustum  ist,  ist  auch  simpliciter  meritum  vel  merces. 
Im  anderen  Fall  ist  höchstens  ein  meritum  secundum  quid  (nicht  iustum)  vorhanden. 
Nun  herrscht  aber  zwischen  Gott  und  den  Menschen  die  höchste  Ungleichheit,  und 
alles  Gute,  was  der  Mensch  hat,  stammt  von  Gott ;  also  giebt  es  hier  nicht  ein  meri- 
tum simpliciter,  wohl  aber  „in  quantum  uterque  operatur  secundum 
modum  suum".  Der  modus  humanae  virtutis  aber  ist  von  Gott  geordnet;  „ideo 
meritum  hominis  apud  deum  esse  non  potest  nisi  secundum  persuppositionem  divi- 
nae  ordinationis,  ita  seil,  ut  id  homo  consequatur  a  deo  per  operationem  quasi 
mercedem,  ad  quod  deus  ei  virtutem  operandi  deputavit."  Immerhin  ist  hier  zu 
bemerken,  dass  Thomas  das  Verdienst  nicht  rein  aus  der  Willkür  Gottes  bestimmt-, 
vielmehr  ist  es  abgemessen  nach  dem  Vermögen  und  Zweck  des  Menschen.  Allein 
in  der  Folgezeit  hielt  man  sich,  weil  es  bequemer  war  und  weil  der  Gottesbegriff  es 
erlaubte,  immer  mehr  an  die  pure  Willkür  in  Bezug  auf  die  Verdienstlichkeit  und 
vertraute,  dass  die  Kirche  in  die  Absichten  dieser  AVillkür  eingeweiht  sei.  Thomas 
hat  aber  in  diesem  Artikel  noch  einen  nicht  bedeutungslosen  Zusatz,  indem  er  fort- 
fährt: „Sicut  etiam  res  naturales  hoc  consecuntur  perpropriosmotus  et  opei^ationes, 
ad  quod  a  deo  sunt  ordinatae,  differenter  tamen,  quia  creatura  rationalis  se  ipsam 
movet  ad  agendum  per  liberum  arbitrium.  Unde  sua  actio  habet  rationem 
meriti,  quod  non  est  in  aliis  creaturis."  Es  liegt  also  im  Wesen  des  freien 
Willens,  dass  er  Verdienste  erwirbt;  von  dieser  These  hat  Thomas  z.  B.  in  Art.  4 
neben  der  These,  dass  das  Verdienstliche  ex  ordinatione  divina  stammt,  einen  selb- 
ständigen Gebrauch  gemacht. 

^  „Nulla  natura  creata  est  sufficiens  principium  actus  meritorii  vitae  aeternae, 
nisi  superaddatur  aliquod  supernaturale  donum,  quod  gratia  dicitur." 

^  „Ex  condigno"  =  in  wahrhaft  verdienstlicher  AVeise,  im  Gegensatz  zu  „ex 
congruo"  =  in  der  Weise  einer  Leistung,  der  man  bei  wohlwollender  Betrachtung 
einen  gewissen  Werth  und  darum  auch  ein  gewisses  Venlienst  beilegen  kann. 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  541 

arbitrio,  alio  modo,  secundum  quod  procedit  ex  gratia  Spiritus 
sancti.  Si  consideretur  secundum  substantiam  operis  et  secundum 
quod  procedit  ex  libero  arbitrio,  sie  non  potest  ibi  esse  condignitas 
propter  maximam  inaequalitatem  proportionis.  Videtur  enim  con- 
gruum,  ut  homini  operanti  secundum  suam  virtutem  deus  recompen- 
set  secundum  excellentiam  suae  virtutis.  Si  autem  loquamur  de  opere 
meritorio,  secundum  quod  procedit  ex  gratia  Spiritus  sancti,  sie  est 
meritorium  vitae  aeternae  ex  condigno.  Sic  enim  valor  meriti  at- 
tenditur  secundum  virtutem  Spiritus  sancti  moventis  nos  in  vitam 
aeternam.  Attenditur  etiam  pretium  operis  secundum  dignitatem 
gratiae,  per  quam  homo  consors  factus  divinae  naturae  adoptatur  in 
filium  dei,  cui  debetur  haereditas  ex  ipso  iure  adoptionis."  Dieselbe 
Sache  ist  also  in  einer  Hinsiebt  ex  condigno,  in  anderer  ex  congruo  ! 
Die  Folgezeit  hat  sich  dabei  nicht  beruhigt,  sondern  dem  mensch- 
Hchen  Verdienst  einen  höheren  Werth  beigelegt  *,  aber  Thomas  selbst 
hat  dazu  den  Anstoss  gegeben.  In  dem  4.  Art.  wird  gezeigt,  dass 
das  verdienstliche  Princip  die  Liebe  ist,  mag  man  nun  auf  das  Ver- 
dienst ex  ordinatione  divina  oder  auf  das  Verdienst,  in  quantum 
homo  habet  prae  ceteris  creaturis  ut  per  se  agat  voluntarie  agens 
blicken.  In  beiden  Fällen  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  in  der 
Liebe    und    in    keiner    anderen    Tugend    das    Verdienst    besteht  ^. 


^  Hier  schaltet  Thomas  Art.  5—7  wie  zum  Ueberfluss  drei  Capitel  ein,  in 
denen  er  noch  einmal  ausdrücklich  zeigt,  dass  man  sich  die  erste  Gnade  nicht 
verdienen  kann,  dass  man  sie  einem  Anderen  nicht  verdienen  kann,  und  dass  man 
sich  auch  die  reparatio  post  lapsum  nicht  verdienen  kann.  Die  Abschnitte  sind 
aber  desshalb  von  Wichtigkeit,  weil  die  bestimmte  Negation,  die  Thomas  hier 
überall  zum  Ausdruck  gebracht  hat,  in  der  Folgezeit  beseitigt,  rpsp.  erweicht 
worden  ist.  In  Bezug  auf  den  ersten  Punkt  führt  er  aufs  schärfste  durch,  dass 
„orane  meritum  repugnat  gratiae*,  daher:  „nullus  sibi  mereri  potest  gratiam 
primam."  Aber  das  hat  Thomas  nicht  erkannt,  dass,  was  von  der  gratia  prima 
gilt,  von  der  gratia  überhaupt  gilt.  Ja  die  gratia  prima  ist  ihm  eben  desshalb,  weil 
sie  mit  dem  Verdienst  nichts  zu  thun  hat,  im  Grunde  eine  höchst  dunkle  Erscheinung, 
über  die  er  desshalb  auch  so  schnell  hinweggegangen  ist.  So  hat  er  es  selbst  ver- 
schuldet, dass  in  der  Folgezeit  auch  die  Mittheilung  der  gi-atia  j)rima  an  gewisse 
Verdienste  geknüpft  worden  ist.  Der  zweite  Punkt  ist  desshalb  wichtig,  weil  Thomas 
hier  im  Unterschied  von  den  späteren  Scholastikern  Christus  die  Ehre  giebt  und 
Maria  und  die  Heiligen  noch  zurücktreten  lässt.  Er  erinnert  zunächst  an  seine  Aus- 
führungen in  Art.  1  und  3,  dass  in  denverdienstlichen  Werken  der  Gerechtfertigten 
das,  was  der  freie  Wille  leistet,  nur  ein  meritum  de  congruo  sei,  und  fährt  dann 
fort:  „Ex  quo  patet,  quod  merito  condigni  nuUus  potest  mereri  alteri  primam 
gratiam  nisi  solus  Christus,  (|uia  unusquisque  nostrum  movetur  a  deo  per  donum 
gratiae,  ut  ipsa  ad  vitam  aeternam  perveniat,  et  ideo  meritum  condigni  ultra  Iuitk; 
motionem  non  se  extendit.  Scd  anima  ('hristi  mota  est  a  deo  per  gratiam,  non 
solum  ut  ipse  x^^rveniret  ad  gloriam  vitae  aeternae,  sed  etiam  ut  alios  in  eam  ad- 


542     (reschichte  des  Doßfmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jalirh, 

Nach  dem  Grundsatz :  „Quilibet  actus  caritatis  meretur  absolute 
vitaiii  aeternam",  wird  nun  im  8.  Art.  gefragt,  ob  sicli  der  Mensch 
das  augmentum  gratiae  vel  caritatis  verdienen  kann,  und  diese 
Frage  wird  rund  bejaht;  denn  „ilhid  cadit  sub  merito  condigni, 
ad  quod  motio  gratiae  se  extendit,  motio  autem  ahcuius  moventis 
non  solum  se  extendit  ad  ultimum  terminum  motus,  sed  etiam  ad 
totum  progressum  in  motu;  terminus  autem  motus  gratiae  est  vita 
aeterna,  progressus  autem  in  hoc  motu  est  secundum  augmentum 
caritatis.  Sic  igitur  augmentum  gratiae  cadit  sub  merito  condigni". 
Dagegen  wird  die  Frage,  ob  der  Mensch  sich  auch  die  Beharr- 
lichkeit in  der  Gnade  verdienen  kann,  im  folgenden  Artikel  ver- 
neint, und  damit  wird  doch  dem  „Verdienst^^  die  Spitze  abgebrochen 
und  zum  reinen  Augustinismus  der  Rückweg  gesucht  K  —  Um  diese 
Gnadenlehre  des  Thomas  geschichtlich  richtig  zu  würdigen,  muss  man 
ausser  dem  Interesse  der  christlichen  Frömmigkeit,  welches  ihn  wirk- 
lich geleitet  hat,  und  ausser  der  Praxis  der  Kirche,  die  ihm  Au- 
torität war,  im  Auge  behalten,  dass  er  als  Religionsphilosoph  durch 
die  Gottes-  und  Prädestinationslehre  Augustin's,  als  Ethiker  durch 
die  Gottes-  und  Tugendlehre  des  Aristoteles  bestimmt  gewesen  ist. 
Weil  ihm  Beides  feststand  und  er  es  daher  sich  zu  seiner  Aufgabe 
gemacht  hat.  Beides  zu  vereinigen,  hat  er  jenen  complicirten  Lehr- 
begriff entworfen,  in  welchem  die  virtuosen,  oft  paradoxen  Grübeleien 
Augustin's,  des  gläubigen  Skeptikers,  ebenso  zu  Fundamentalsätzen 
geworden  sind,  wie  die  unmittelbarsten  und  sichersten  Aussagen 
seiner  Frömmigkeit.  Diese  Fundamentalsätze  sind  dann  in  Zusammen- 
hang gesetzt  mit  den  gänzlich  disparaten  Gedanker  des  Aristoteles, 
wobei  in  ermüdender  Wiederholung  die  Definition  Gottes  als  primum 
movens  die  Brücke  bildet.  AVie  völlig  Thomas  von  Augustin  ab- 
hängig ist,  zeigt  die  Prädestinationslehre,    die    er  in  ganzer  Strenge 


duceret,  in  quantum  est  capiit  ecclesiae  .  .  .  Sed  merito  congrui  potest  aliquis 
alteri  mereri  primam  gratiam.  Quia  enim  homo  in  gratia  constitutus  implet  dei 
voluntatem,  congruum  est  secundum  amicitiaeproportionem,  ut  deus  impleat  hominis 
voluntatem  in  salvatione  alterius."  Also  durch  die  Hinterthür  des  meritum  de 
congruo  werden  die  Heiligen  allerdings  zugelassen.  In  Bezug  auf  den  3.  Punkt 
heisst  es :  „NuUus  potest  sibi  mereri  reparationem  post  lapsum  futurum,  neque 
merito  condigni,  neque  merito  congrui"  ;  denn  jenes  ist  ausgeschlossen,  weil  die  ein 
Verdienst  begründende  Gnade  durch  den  Fall  verloren  ist  („motione  prioris 
gratiae  usque  ad  haec  [seil,  den  Fall  oder  die  Todsünde]  non  se  extendente");  dieses 
wird  in  noch  höherem  Grade  durch  das  impedimentum  peccati  zur  Unmöglichkeit. 
*  „Perseverantia  viae  non  cadit  sub  merito,  quia  dependet  solum  ex  motione 
divina,  quae  est  principium  omnis  meriti,  sed  deus  gratis  perseverantiae  bonuni 
largitur,  cuicunque  illud  largitur." 


Die  Gnadenlehre  des  Thomas.  543 

Übernommen  hat  *  •,  wie  stark  er  von  Aristoteles  abhängig  ist,  zeigt 
neben  der  Gotteslehre  vor  Allem   die   Pars  Secunda  Secundae,   die 

^  S.  Summa  I  Q.  23 :  Prädestination  ist  die  Providenz  Gottes  in  Bezug  auf 
die  creaturae  rationales ;  er  allein  vermag  ihnen  den  ultimus  finis  zu  geben,  d.  h.  sie 
zu  „ordnen".  Gott  bestimmt  kraft  seines  Rathschlusses  den  numerus  electorum,  und 
sofern  es  zur  göttlichen  Providenz  gehört,  „aliquos  permittere  a  vita  aeterna  de- 
ficere",  so  gehört  es  auch  zu  ihr,  dass  Gott  Einige  reprobirt.  „Sicut  enim  prae- 
destinatio  includit  voluntatem  conferendi  gratiam  et  gloriam,  ita  reprobatio  includit 
voluntatem  permittendi  aliquem  cadere  in  culpam  et  inferendi  damnationis  poenam 
pro  culpa"  (Art.  3),  ja  1.  c.  spricht  Thomas  es  sogar  mit  eiserner  Kälte  aus,  dass  die 
reprobatio  auch  ein  bonum  sei:  „Dens  omnes  horaines  diligit  et  etiam  omnes  crea- 
turas,  in  quantum omnibus  vult  aliquod bonum ; nontamen  quodcunque  bonum 
vult  omnibus.  In  quantum  igitur  quibusdam  non  vult  hoc  bonum, 
quod  est  vita  aeterna,  dicitureos  habere  odiovelreprobare."  Hier- 
nach giebt  es  also  auch  ein  bonum,  w^elches  kein  bonum  (für  den  Empfänger)  ist,  also 
nichts  Anderes  als  der  göttliche  Wille  selbst:  Gott  liebt  diese  Menschen  in 
der  Hölle!  Mit  Augustin  aber  wird  andererseits  auch  gesagt:  „Aliter  se  habet 
reprobatio  in  causando  quam  praedestinatio.  Nam  praedestinatio  est  causa  et  eins 
quod  expectatur  in  futura  vita  a  praedestinatis,  seil,  gloriae,  et  eins  quod  percipitur 
in  praesenti,  seil,  gratiae-,  reprobatio  vero  non  est  causa  eins  quod  est  in  praesenti, 
seil,  culpae,  sed  est  causa  derelictionis  adeo  (diese  stammt  nicht  aus  der  Präscienz) ; 
est  tamen  causa  eius  quod  redditur  in  futuro,  seil,  poenae  aeternae.  Sed  culpa  pro- 
venit  ex  libero  arbitrio  eius,  qui  reprobatur  et  a  gratia  deseritur."  Aber  wie  soll 
er  nicht  sündigen,  wenn  Gott  ihn  verlassen  hat  ?  Was  hilft  es,  hinzuzufügen :  „re- 
probatio dei  non  subtrahit  aliquid  de  potentia  reprobati ;  unde  cum  dicitur  quod  re- 
probatur non  potest  gratiam  adipisci,  non  est  hoc  intelligendum  secundum  impossi- 
Vjilitatem  absolutam,  sed  secundum  impossibilitatem  conditionatam?"  Nicht  leicht 
war  es  fffr  Thomas  die  Lehre  vom  freien  Willen  zu  construiren,  da  er  in  der  Gottes- 
lehre den  Gedanken  der  alleinigen  Causalität  Gottes  durchgeführt  und  in  der  Lehre 
von  der  gubernatio  (I  Q.  103)  gezeigt  hatte,  dass  ebenso  wie  das  principium  mundi, 
so  auch  der  finis  mundi  aliquid  extra  mundum  sei  (Art.  2).  Hat  aber  die  Welt  keinen 
selbständigen  Zweck,  so  folgt,  dass  die  gubernatio  Gottes  so  zu  fassen  ist,  dass  alle 
Dinge  allein  von  ihm  bewegt,  d.  h.  zu  ihrem  Ziele  hingeführt  werden;  denn  sie  selbst 
können  sich  nicht  zu  dem  hin  bewegen,  quod  est  extrinsecum  a  toto  universo. 
Allein  durch  die  Unterscheidung  von  esse  und  operari,  sowie  des  primum  movens 
in  den  Dingen  und  des  movens  ex  se,  endlich  der  gubernatio  diversa  in  quantum  ad 
creaturas  irrationales  und  in  (juantum  ad  creaturas  per  se  agentes,  gelingt  es  Thomas 
doch,  den  freien  Willen  festzuhalten,  den  er  ja  auch  nothwendig  braucht,  um  das 
Verdienst  zu  erreichen;  s.  die  Ausführung  über  die  Willensfreiheit  I,  83  (Art.  1: 
„Homo  est  liberi  arbitrii,  alioquin  frustra  essent  consilia,  exhortationes,  praecepta, 
prohibitiones,  praemia  et  poenae  .  .  .  Liberum  arbitrium  est  causa  sui  motus,  quia 
homo  per  liberum  arbitrium  seipsum  movet  ad  agendum.  Non  tamen  hoc  est  d(^ 
necessitate  libertatis,  quod  sit  prima  causa  sui  id  quod  li})erum  est,  sicut  nee  ad  hoc 
quod  aliquid  sit  causa  alterius,  requiritur  quod  sit  prima  causa  eius.  Dens  igitur 
est  prima  causa  movens  et  naturales  causas  et  voluntarias.  Et  sicut  naturalibus 
causis  movendo  eas  non  aufert,  (juin  actus  earum  sint  naturales,  ita  movendo  causas 
voluntarias  non  aufc^rt,  (juin  actiones  earum  sint  voluntariae,  sed  potius  hoc  in  eis 
facit:  operatur  in  unoquocjue  secundum  eius  i)roprietatem").  In  den  entscheidenden 


544     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

specielle  Morallohro,  in  der  durchgeführt  wird,  dass  die  Tugend  in 
der  richtigen  Ordnung  der  Strebungen  und  Triebe  durch  die  Ver- 
nunft besteht  und  daiui  übernatürlich  vollendet  wird  durch  die  Gnaden- 
gaben. Um  endlich  die  Gnadenlehre  des  Thomas  vollständig  7ai  über- 
schauen, niuss  man  seine  Lehre  von  der  (Constitution  des  Menschen, 
vom  Urständ,  dem  Sündenfall,  der  £]rl)sünde  und  der  Sünde,  wie  sie 
in  der  Pars  IQ.  90— 102  und  II,  l  Q.  71—89  entwickelt  sind,  hin- 
zunehmen. Allein  man  darf  darauf  verzichten,  sie  hier  genauer  dar- 
zulegen, theils  weil  Thomas  sich  an  Augustin  eng  angeschlossen  hat, 
theils  weil  die  Hauptpunkte  bei  der  Erörterung  seiner  Gnadenlehre 
bereits  fixirt  worden  sind  ^  Allein  eine  besondere  Beachtung  ver- 
Paragraphen über  die  Rechtfertigung  wird  dem  entsprechend  stets  betont,  dass 
sich  der  Process  der  Gnade  mit  der  Einwilligung  des  freien  Willens  vollzieht, 
die  selbst  freilich  ein  Effect  der  Gnade  ist:  indem  Gott  die  Gnade  eingiesst,  bewegt 
er  uns  gemäss  unserer  eigenen  Natur,  d.  h.  so,  dass  er  den  freien  Willen  zur  willigen 
Annahme  des  Gnadengeschenkes  bewegt.  Dasselbe  wird  von  den  Tugenden  gesagt; 
sie  sind  einerseits  ebenfalls  eingegossen ;  allein  andererseits  handelt  Gott  niemals 
sine  nobis,  sondern  stets  nur  mit  der  Zustimmung  unseres  freien  Willens;  denn  die 
vernünftige  Creatur  ist  so  geschaffen,  dass  sie,  indem  sie  zum  Ziel  von  Gott  bewegt 
wird,  stets  consentiente  voluntate  bewegt  werden  muss, 

*  Nur  ein  paar  entscheidende  Sätze  seien  hier  angeführt.  Wie  schon  bei 
Augustin,  so  machte  auch  bei  Thomas  der  „Urständ"  eine  besondere  Schwierigkeit, 
sofern  einerseits  das  ewige  Leben  ein  donum  gratiae  sein  sollte,  andererseits  fest- 
stand, dass  es  nur  durch  Verdienst  erworben  wird.  In  Folge  dessen  musste  der 
Urständ  schillernd  aufgefasst  werden,  d.  h.  nicht  ganz  als  blosse  possibilitas  boni 
(im  Sinne  des  höchsten  Gutes,  quod  superexcedit  naturam),  aber  auch  niclit  ganz 
als  habitus  boni  gelten.  So  hat  schon  Thomas,  die  Vorstellung  einschiebend,  dass 
die  vita  aeterna  ein  bonum  superexcedens  naturam  sei,  die  natürliche  Ausstattung 
Adams  als  unzureichend  zur  Erlangung  dieses  Gutes  bezeichnet  und  dem  ent- 
siDrechend  angenommen,  in  der  Schöpfung  sei  ihm  ausser  der  Naturausstattung  eine 
besondere  gratia  superaddita  verliehen  worden,  mit  deren  Hülfe  sein  freier  Wille 
sich  das  Verdienst  erwerben  sollte,  welches  zum  ewigen  Leben  geschickt  macht ;  s. 
I  Q.  95  Art.  1 :  Adam  hat  sofort  bei  der  Schöpfung  (nicht  erst  nachher)  die  Gnade 
erhalten  —  er  war  in  gratia  conditus  — ;  denn  nur  die  gratia  konnte  ihm  die  recti- 
tudo  verschaffen,  die  da  in  der  Unterordnung  der  ratio  unter  Gott,  der  inferiores  vir- 
tutes  unter  die  ratio,  des  Leibes  unter  die  Seele  besteht.  Diese  Unterordnung  war 
aber  nicht  „rationalis";  denn  sonst  wäre  sie  nach  dem  Sündenfall  geblieben;  also 
war  sie  secundum  supernaturale  donum  gratiae.  Dazu  Art.  4:  „Homo  etiam  ante 
peccatum  indigebat  gratia  ad  vitam  aeternam  consequendam,  quae  est  principalis 
necessitas  gratiae."  Diese  immerhin  noch  religiöse  Betrachtung  war  aber  vor  Tho- 
mas' Zeit  schon  vielfach  durchlöchert  und  wurde  es  immer  mehr;  s.  unten.  Aus 
dieser  Betrachtung  ergab  sich  weiter,  dass  Thomas  die  iustitia  originalis  nicht 
mit  dem  Ebenbild  Gottes,  sofern  es  unverlierbar  ist,  zu  identificiren,  resp.  es  mit  dem 
eingeborenen  Zweck  der  menschlichen  Natur  nicht  zu  vereinigen  vermochte,  sondern 
es  als  ein  übernatürliches  Geschenk  betrachtete,  welches  über  das  bonum  naturale 
und  den  finis  naturalis  hinausführt.    Die  Gründe  für  diese  Betrachtung  liegen  auf 


Thomas'  Lehre  vom  Urständ,  Sünde  etc.  545 

dient   noch  seine  Lehre  von  den  consiHis  evangeHcis.     Diese  bildet 
den  Abschluss    seiner  Ausführungen   der  Lehre   vom  neuen  Gesetz. 

der  Hand.  Sie  liegen  ebenso  in  der  Absicht,  dass  ein  Verdienst  zu  Stande  kommen 
kann,  als  in  der  Fassung  des  Verdienstes  als  etwas  Ueljernatürliches,  kurz  —  in  der 
ßetrachtuno'  der  Askese  als  eines  übernatürlichen,  verdienstlichen,  darum  zum 
ewigen  Leben  überleitenden  Zustandes,  resp.  opus.  Kann  das  höchste  Gut  nicht  so 
beschrieben  werden,  dass  auch  das  gegenwärtige  Leben  als  Zweck  in  dasselbe  auf- 
genommen ist,  dann  bleibt  nichts  übrig,  als  zwei  Etagen  zu  construiren,  wobei  der 
Aufenthalt  in  der  unteren  Etage  lediglich  dem  Zwecke  dient,  Verdienste  für  den 
Eintritt  in  die  obere  zu  sammeln.  Die  Sünde,  die  von  Adam  ausgegangen  ist  (Erb- 
sünde), ist  Verlust  der  iustitia  originalis  und  demgemäss,  da  diese  die  ordinatio  par- 
tium allein  bewirkte,  Unordnung  d.  h.  Auflehnung  der  unteren  Theile  wider  die 
oberen  (concupiscentia).  Dagegen  bleiben  die  principia  naturae  humanae  durch  die 
Erbsünde,  die  sowohl  ein  habitus  als  eine  culpa  ist,  unbetroffen,  und  auch  die  natür- 
liche Fähigkeit  der  ratio,  das  Gute  zu  erkennen  und  zu  wollen,  ist  nur  geschwächt, 
aber  nicht  ausgetilgt.  Die  Hauptsätze  sind  (IT,  1  Q.  82 — 89):  „.  .  .  alio  modo  est 
habitus  dispositio  alicuius  naturae  ex  multis  compositae  secundum  quam  bene  se 
habet  vel  male  ad  aliud  .  .  .  hoc  modo  peccatum  originale  est  habitus;  est  enim 
quaedam  inordinata  dispositio  proveniens  ex  dissolutione  illius  harmoniae,  in  qua 
consistebat  ratio  originalis  iustitiae,  sicut  aegritudo  corporalis  .  .  .  unde  peccatum 
originale  languor  naturae  dicitur"  (theils  ästhetisch,  theils  pathologisch  ist  diese 
Betrachtung  82,  1).  „Peccatum  originale  materialiter  quidem  est  concupiscentia, 
formaliter  vero  est  defectus  originalis  iustitiae" ;  jenes  ist  die  Erbsünde,  weil  die 
„inordinatio  virium  animae  praecipue  in  hoc  attenditur,  quod  inordinate  conver- 
tuntur  ad  bonum  commutabile,  quae  quidem  inordinatio  communi  nomine  potest 
dici  concupiscentia"  (82,  3).  „Peccatum  originale  non  magis  in  uno  quam  in  alio 
esse  potest"  (82,  4).  „Anima  est  subiectum  peccati  originalis,  non  autem  caro  .  .  . 
cum  anima  possit  esse  subiectum  culpae,  caro  autem  de  se  non  habeat  quod  sit  sub- 
iectum culpae,  quidquid  pervenit  de  corruptione  primi  peccati  ad  animam,  habet 
rationem  culpae,  quod  autem  pervenit  ad  carnem,  non  habet  rationem  culpae,  sed 
poenae"  (83, 1).  „Peccatum  originale  per  prius  respicit  voluntatem"  (83,  3).  „Cupi- 
ditas  est  radix  omnium  peccatorum"  (84,  1),  aber  andererseits  gilt:  „quoniam  in- 
ordinate se  homo  ad  temporalia  convertens  semper  singularem  quandam  perfectio- 
nem  et  excellentiam  tamquam  finem  desiderat,  rccte  ex  hac  parte  super])ia,  quae 
inordinatus  est  propriae  excellentiae  appctitus,  initium  omnis  peccati  ponitur" 
(84,2).  In  Bezug  auf  den  Erfolg  der  Sünde:  „Principia  naturae  (primum  bonum 
naturae)  nee  toUuntur  nee  diminuuntur  per  peccatum  (empirisch-psychologische 
Betrachtung,  der  aber  doch  auch  ein  gewisser  AVerth  für  die  religiöse  Auffassung 
gege})en  wird),  inclinatio  ad  virtutem  a  natura  insita  (secundum  bonum  naturale) 
diniinuitur  per  i)eccatum  ((dhische  Betrachtung,  aber  bedeutungsvoll  für  die  Reli- 
gion), doDum  originalis  iustitiae  (tertium  bonum  naturae)  totaliter  est  ablatum" 
(religiöse  Betrachtung,  s.  85,  1).  Dass  die  Sünde  je  die  inclinatio  der  ratio  ad  bonum 
total  aufheben  könne,  wird  als  undenkbar  ])ezeichnet,  da  nach  Augustin  „malum 
non  est  nisi  in  Ijono"  (85,  2).  „Omnes  vires  animae  renianent  quodammodo  desti- 
tutae  proprio  ordine,  ({uo  naturaliter  ordinantur  ad  virtutem,  et  ipsa  destitutio 
dicitur  vulneratio  naturae  (vulnusignoranliae,  malitiae,  infirmitatis,  concupiscentiae", 
H.  85,  3).  „Mors  et  oinnes  dffectus  eorporales  conse(}uentes  sunt  quaedam  poenae 
originalis  peccati,  quam  vis  non  sint  iutenti  a  peccanti"  (85,  5).  Der  Tod  ist  dem 
Harnack,  Dofjmfjiiffftschichff,  III.  35 


546     Oeschichte  dea  Dogmas  im  Zoitalter  der  Bettelordon  bis  zum  1  (>.  .Tahrh. 

Allein  andererseits  culminirt  auch  die  Lehre  von  der  Gnade  in  den 
„evangehscheu  Käthen",  so  dass  sie  recht  eigentlich  den  Höhepunkt 
der  ganzen  Betrachtung  bilden.  Thoraas  (IT,  1  Q.  108  Art.  4)  giebt 
zunächst  folgende  Definition:  „Haec  est  differentia  inter  consilium  et 
praeceptuni,  i|uod  praeceptum  iraportat  necessitatem,  consilium  autem 
in  optione  ponitur  eins,  cui  datur,  et  ideo  convenienter  in  nova 
lege,  ([ime  est  lex  hbertatis,  supra  praecepta  sunt  addita  consilia, 
non  autem  in  veteri  lege,  quae  erat  lex  servitutis."  Hierauf  wird  be- 
merkt, dass  die  praecepta  novae  legis  zum  ewigen  Leben  nothwendig 
(aber  auch  ausreichend)  sind,  „consilia  vero  oportet  esse  de  ilhs, 
per  quae  melius  et  expeditius  potest  homo  consequi  finem  prae- 
dictum."  Dann  folgt  eine  Ausführung,  dass  der  Mensch  hier  auf 
Erden  zwischen  die  Dinge  dieser  Welt  und  die  geistlichen  Güter 
gestellt  sei,  und  dass  die  völlige  Hinneigung  zu  jenen  durch 
die  praecepta  aufgehoben  wird.  Allein  der  Mensch  braucht  sie  nicht 
umgekehrt  völlig  preiszugeben,  um  zum  Ziele  des  ewigen  Lebens 
zu  gelangen  (!),  „sed  expeditius  pervenit,  totaliter  bona  huius  mundi 
abdicando  et  ideo  de  hoc  dantur  consilia  evangelii".  Die  Güter  dieser 
Welt  aber  bestehen  in  dem  Besitz  äusserer  Güter,  in  geschlechtlichen 
Vergnügungen  und  im  Besitz  von  Ehren,  die  sich  beziehen  auf  die 
Augenlust,  Fleischeslust  und  die  superbia  vitae.  Sie  gänzlich,  soweit 
es  möglich  ist,  aufzugeben,  darin  bestehen  die  evangelischen  Con- 
sihen,  und  in  ihrer  Befolgung  besteht  „omnis  religio,  quae  statum  per- 
fectionis  profitetur".  Auch  schon  die  Befolgung  eines  dieser  Räthe 
hat  einen  entsprechenden  Werth,  so,  wenn  einer  einem  Armen  ein  über- 
pflichtmässiges  Almosen  giebt,  sich  des  Gebetes  wiegen  eine  Zeit  lang 
der  Ehe  enthält  oder  seinen  Feinden  über  Gebühr  Gutes  thut,  u.  s.  w. 
Die  Befolgung  dieser  Räthe  begründet  in  noch  höherem  Masse  als 
die  Befolgung  der  Gebote  ein  Verdienst,  so  dass  es  hier  in  eminenter 
Weise  gilt,  dass  Gott  das  ewige  Leben  dem  Menschen  nicht  nur  aus 
Gnaden  schenkt,  sondern  auch  kraft  seiner  Gerechtigkeit  ^ 

Menschen  natürlich  secundum  naturam  universalem,  non  quidem  a  parte  formae, 
sed  materiae  (85,  6).  Q.  86  handelt  de  macula  peccati,  Q.  87  de  reatu  poenae, 
Q.  88  und  89  de  peccato  veniali  et  mortali. 

*  S.  die  grosse  Ausführung  m  S.  II,  2  Q.  184 — 189  „de  statu  perfectionis "* 
(Bischöfe  und  Mönche),  wo  Q.  184  Art.  2  die  triplex  perfectio  geschildert  wird  und 
es  von  der  hier  auf  Erden  möglichen  dritten  heisst,  es  sei  zwar  nicht  erreichbar,  dass 
Einer  in  actu  semper  feratur  in  deum,  erreichbar  aber  sei,  dass  „ab  affectu  hominis 
excluditur  non  solum  illud  quod  est  caritati  coutrarium,  sed  etiam  omne  illud  i|U()d 
impedit  ne  affectus  mentia  totaliter  dirigatur  ad  deum"  ;  die  ganze  Idee  der  consilia 
speciell  der  virginitas  schon  bei  Pseudocyprian,  de  bono  pud.  7 :  „virginitas  quid 
aliud  est  quam  futurae  vitae  gloriosa  meditatio?" 


i 


Beurtheilung  der  Gnadenlehre  des  Thomas.  547 

Die  Gnadenlehre  des  Thomas,  vom  Standpunkt  der  Religion  be- 
urtheilt,  zeigt  ein  doppeltes  G-esicht.  Einerseits  blickt  sie  rückwärts 
auf  Augustin  ^,  andererseits  blickt  sie  vorwärts  auf  die  Zersetzung, 
welche  der  Augustinismus  im  14.  Jahrhundert  erfahren  sollte.  Wer 
den  Thomismus  aufmerksam  prüft,  wird  finden,  dass  sein  Urheber  das 
ernstliche  Bestreben  hat,  vermittelst  einer  streng  religiösen  Betrachtung 
die  Alleinwirksamkeit  der  göttlichen  Gnade  zu  behaupten;  er  ward 
aber  andererseits  constatiren  müssen,  dass  fast  an  allen  entschei- 
denden Punkten  die  Darstellung  schliesslich  in  eine  an- 
dere Richtung  weist,  weil  der  Effect  der  Gnade  selbst  in  einem 
Ziele  angeschaut  wird,  welches  theils  hyperphysischen  theils  moralischen 
Charakter  trägt  (participatio  divinae  naturae  —  Caritas,  verbunden 
durch  den  Gedanken,  dass  die  Caritas  meretur  vitam  aeternam)^. 
Allein  dem  gegenüber,  was  schon  durch  Halesius,  Bonaventura  und 
Andere  aufgestellt  worden  w^ar,  resp.  zur  Zeit  gelehrt  wurde,  w^ar  der 
Thomismus  bereits  eine  religiöse  Reaction;  denn  jene  Theologen 
hatten  viel  entschiedener  die  Richtung  verfolgt,  die  Gnadenlehre  durch 
die  Lehre  vom  Verdienst  unwirksamer  zu  machen.  Durch  Thomas' 
Auftreten  wurde  eine  Ent^nckelung  gehemmt,  die  sich  ohne  ihn  viel 
schneller  durchgesetzt  hätte,  schliesslich  aber  doch  (seit  der  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts)  durch  die  siegreichen  Kämpfe  der  Scotisten 
gegen  die  Thomisten  die  Oberhand  in  der  Kirche  erhielt,  dadurch  eine 
neue  Reaction  hervorrufend,  die  sich  seit  dem  Ausgang  des  14.  Jahr- 
hunderts langsam  gesteigert  zu  haben  scheint  ^. 


*  Man  darf  es  aucli  auf  Au^stin  zurückführen,  dass  bei  Thomas,  wie  bereits 
oben  bemerkt,  die  specifische  Art  der  Gnade  propter  Christum  und  per  Christum 
in  der  gesammten  Gnadenlehre  gar  nicht  deutlich  zum  Ausdruck  kommt.  Uer  Zu- 
sammenhang ist  lediglich  ab  und  zu  behauptet,  aber  nicht  deutlich  nachgewiesen, 
wie  denn  auch  die  ganze  Gnadenlehre  vor  derLehre  von  derPerson 
Christi  abgehandelt  wird.  Ist  das  zufällig?  Nein  gewiss  nicht!  Es  zeigt  sich 
hier  wieder,  dass  man  im  Abendland,  weil  man  die  mystisch-cyrillische  Theorie 
nicht  aufrechterhielt  (Soterologie  und  Soteriologie  als  identisch)  —  trotz  Anselm  — 
darüber  völlig  unsicher  geworden  ist,  wie  man  eigentlich  die  Christologie  dogmatisch 
auszubeuten  habe.  Man  fand  den  einzig  möglichen  Ausweg  nicht,  sich  ohne  theo- 
retische Speculation  an  den  Eindruck  der  Person  zu  halten,  die;  (-leist  und  Leben, 
Gewissheit  und  Seligkeit  weckt. 

*  Darum  spielt  auch  der  Glau})e  und  die  Sündenvergebung  trotz  aller  Worte 
fine  geringe  Rolle.  Der  Glaube  ist  entweder  fides  informis,  also  noch  nicht 
Glaube,  oder  fides  formata,  also  nicht  melir  (Jlaube.  Der  Glaube  als  innere 
fiducia  ist  ein  Tlebergangsstadium. 

"  Gerade  in  der  Gnaden-  und  Sündenlehre  erhielten  die  Scotisten  mehr  und 
rnelirdie  Oberhand;  in  B(!zug  auf  andere  Lehren  wurden  ihre  dialektisch-skeptischen 
Untersuchungen  mit  geringerem  Erfolg  gekiönt. 

35* 


548     (rosc-hichto  des  Doornias  im  Zeitalter  der  Bettelordeu  bis  zum  16.  .Tahrii. 

An  allen  Punkten  von  der  Lehre  über  die  Natur  des  Menschen 
und  dem  Urständ  an  bis  zur  Lehre  von  der  Vollendung  zeigen  sich  die 
aullösenden  Tendenzen  der  von  Halesius,  Bonaventura  und  Scotus  ge- 
leiteten späteren  Scholastik. 

1.  Halesius,  der  auch  der  Erste  gewesen  ist,  der  den  Ausdruck 
„übernatürliches  Gut"  im  technischen  Sinn  in  die  Dogmatik  eingeführt 
hat,  lehrte,  dass  die  iustitia  originaHs  zur  Natur  des  Menschen  selbst 
als  ihre  Vollendung  gehöre,  dass  aber  von  dieser  die  gratia  gratum 
faciens  zu  unterscheiden  sei,  die  der  Mensch  im  Urstande  auch  schon 
als  übernatürliches  Gut  besessen  habe;  allein  diese  sei  ihm  nicht  in  der 
Schöpfung,  sondern  nach  der  Schöpfung  zu  Theil  geworden,  und 
zwar  habe  sie  sich  Adam  durch  gute  Werke  ex  congruo  ver- 
dient K  Also  schon  so  frühe  sollen  die  Verdienste  beginnen!  Davon 
weiss  Thomas  nichts ;  allein  Bonaventura  hat  diese  Lehre  wiederholt  -, 
auch  bei  Albertus  findet  sie  sich-\  und  die  Scotisten  hielten  an  ihr  fest^. 
Der  Vortheil,  den  diese  Lehre  bot,  nämlich  die  iustitia  originalis,  die 
von  der  gratia  gratum  faciens  ^unterschieden  wurde,  zur  Vollkommen- 
heit der  menschlichen  Natur  selbst  rechnen  zu  können,  v;urde  reichlich 
aufgewogen  durch  den  Schaden,  dass  das  meritum  de  congruo  schon  in 
das  Paradies  selbst  verlegt  und  so  der  „Alleinwirksamkeit"  der  Gnade 
von  Anfang  an  das  Verdienst  zur  Seite  gestellt  w^urde.  Das  meritum 
de  congruo  ist  also  früher  als  das  meritum  de  condigno;  denn  dieses 
konnte  und  sollte  erst  nach  dem  Empfang  der  gratia  gratum  faciens 
bei  Adam  eintreten,  damit  er  sich  das  ewige  Leben  verdiene. 

2.  Schon  bei  Thomas  (s.  oben  S.  545)  zeigen  sich  Ansätze  zur 
Auflösung  der  augustinischen  Lehre  von  der  Sünde  und  Erbsünde, 
sofern  er  den  Satz  nicht  mehr  rund  zugiebt :  „naturalia  bona  corrupta 
sunt",  sofern  er  die  Concupiscenz,  die  an  sich  nicht  böse  ist,  nur 
als  languor  et  fomes  definirt,  die  negative  Seite  der  Sünde  stärker 
als  Augustin  betont  und,  weil  die  ratio  geblieben  ist,  eine  fort- 
dauernde inclinatio  ad  bonum  annimmt.  Allein  er  hat  doch  strenger 
gelehrt  als  Anselm,  der  eigenthch  lediglich  das  Negative  betonte  und 
auch  in  Bezug  auf  den  Schuldcharakter  zu  schwanken  begann  ^.  Ihm  hat 

'  Schwane,  a.  a.  0.  S.  379  f.  8.  II  Q.  06  membr.  1:  „Alii  ponunt,  ipsum 
(Adam)  fuisse  conditum  solummodo  in  uaturalibus,  non  in  gratuitis  gratum  facien- 
tibus  et  hoc  maois  sustinendum  est  et  maoris  est  rationi  consonum  . . .  Sic  noluit  deiis 
gratiam  dare  nisi  praeambulo  merito  congrui  per  bonum  usum  uaturae." 

2  S.  Schwane  S.  383.  ^  S.  Schwane  S.  384. 

■*  A.  a.  O.  S.  391.  Werner,  Scotus  S.  410  tt'.  Scotus  selbst  sagt:  „Adam 
conditus  fuit  sine  omni  peccato  et  sine  gratia  gratum  facieute"  (Report.  Fai-.  111 
D.  13  Q.  2  n.  3). 

°  De  conceptu  virg.  27:  „Hoc  peccatum,  quod  originale  dico,  aliud  intolleorero 


Die  Gnaden-  und  Sündenlehre  der  späteren  Scholastik.  549 

sich  Duns  angeschlossen,  sofern  er  die  Frage  nach  der  Concupiscenz 
im  Grunde  von  der  Frage  nach  der  Erbsünde  getrennt  hat;  jene 
ist  ihm  nicht  mehr  das  formale  an  dieser,  sondern  lediglich  das  ma- 
teriale.  So  bleibt  für  die  Erbsünde  bloss  die  privatio  des  übernatür- 
hchen  Gutes,  die  dann  allerdings  eine  störende  Folge  für  die  Natur 
des  Menschen  gehabt  hat,  ohne  dass  irgend  etwas  von  den  natür- 
lichen Gütern  wirklich  verloren  gegangen  wäre  ^ 


nequeo  in  infantibus  nisi  ipsam,  factam  per  inobedientiam  Adae,  iustitiae  debitae 
nuditatem,  per  quam  omnes  filii  sunt  irae :  quoniam  et  naturam  accusat  spontanea 
quam  fecft  in  Adam  iustitiae  desertio,  nee  personas  excusat  recuperandi  impotentia. 
Quam  comitatur  beatitudinis  quoque  nuditas,  ut  sicut  sunt  sine  omni  iustitia,  ita  sint 
absque  omni  beatitudine."  C.  22:  „Peccatum  Adae  ita  in  infantes  descendere,  ut 
sie  puniri  pro  eo  debeant  ac  si  ipsi  singuli  illud  fecissent  personaliter  sicut  Adam, 
non  puto."  Daher  auch  jetzt  die  Vorstellung  vom  limbus  infantium  immer  mehr 
hervortrat.  Die  Ablehnung  der  Verdammniss  der  Kinder  wirft  aber  den  ganzen 
Augustinismus  über  den  Haufen. 

*  Comm.  in  Sent.  11  Dist.  30  Q.  2:  Die  Erbsünde  kann  nicht  die  Concupiscenz 
sein;  denn  diese  ist  1)  natürlich,  2)  „.  .  .  tum  quia  non  est  actualis,  quia  tunc  illa 
concupiscentia  esset  actualis,  non  habitualis,  quia  habitus  derelictus  in  anima 
ex  peccato  mortali  non  est  peccatum  mortale,  manet  enim  talis  habitus 
dimisso  peccato  per  ijaenitentiam ;  nee  etiam  ignorantia  est,   quia  parvulus 
baptizatus  ita  ignorat  sicut  non  baptizatus."    Man  ist  nun  gespannt  zu  hören,  was 
die  Erbsünde  denn  sei,  und  erhalt  die  Antwort  (D.  32  unter  Berufung  auf  Anselm) : 
„carentia  iustitiae  debitae."   „Et  si  obicitur,  quod  aliqui  sancti  videutur  dicere 
concupiscentiam  esse  peccatum  originale,  respondeo :  concupiscentia  potest  accipi 
vel  prout  est  actus  vel  habitus  vel  pronitas  in  appetitu  sensitivo,  et  nullum  istorum 
est  fonnaliter  peccatum,  quia  non  est  peccatum  in  parte  scnsitiva  secundum  Ansel- 
mum.   Vel  potest  accipi,  prout  est  pronitas  in  appetitu  rationali,  i.  e.  in  voluntate 
ad  concupiscendum  delectabilia  immodcrate,  quac  nata  est  condelectari  appetitui 
sensitivo,   cui   coniungitur.     Et  hoc   modo   concupiscentia  est  materiale 
peccati  originalis,  quia  per  carentiam  iustitiae  originalis,  quae  erat 
sicut  frenum  cohibens  ipsam  ab  immodcrata  delectationc,  ipsanon 
positive,   sed  per   privationcm,   fit   prona   ad   concupiscendum   im- 
moderate  delectabilia."    Sehr  lax  ist  bei  Duns  auch  die  Auflassung  der  ersten 
Sünde  des  Menschen  (Adams)  im  Unterschied  von  der  Sünde  der  Engel;  sie  sei 
nicht  aus  ungeordneter  8clbstlie))c  entsprungen,  sondern  habe  ihre  Wurzel  in  un- 
geordneter Liebe  zu  der  ihm  beigesellten  Gattin  gehabt  (Werner  S.  412);  diese 
ungeordnete  Gattenliebe  war  aber  1)  keine  libidinose,  da  es  im  Urstande  keine 
böse  libido  gegeben  habe,  2)  war  die  Handlung,  zu  der  sich  Adam  verleiten  liess, 
keine  ihrer  Natur  nach  unsittliche  Handhmg,  sondern  nur  die  lJ(!l)ertretung  eines 
eiuer  Prüfung  wegen  auferlegten  Gebotes.    Somit  hat  sich  Adam  nur  indirect 
g(!gen  das  Gebot  der  (Jottcsliebe  verfehlt  und  zugleich  die  Nächstenliebe  dadurch 
übertreten,  dass  er  durch  Nachgiebigkeit  das  richtige  Mass  ül)erschritt.    Das  ist 
ein  verhältnissmässig  geringer  Fehler  und  kommt  in  seiner  Schwere  der  geringsten 
Verfelilung  einer  natürlichen  Sittlichkeitsregel  nicht  gleich.  Mitdieser  empiristi- 
schen Auffassung  vergleiche  man  Augusiin's  oder  Anselm's  Beschreibung  der  Grösse 
der  ersten  Sünde !  Hinzunehmen  muss  man  noch,  um  den  Pclagianismus  des  Scotus 


550     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

3.  Nach  Thomas  ist  die  Grösse  der  ersten  Sünde  (und  somit  auch 
der  Erbsünde)  unendlich,  nach  Scotus  ist  sie  endHch. 

4.  Bereits  der  Lombarde  hatte  gelehrt,  dass  sich  die  Erbsünde 
ledigHch  durch  das  Fleisch  fortzeugt  und  die  dazugeschaffene  Seele 
dadurch  beflockt  wird'.    Er  nahm  also,  wie  viele  Andere,  an,  dass 

deutlich  zu  erkennen,  dass  er  die  Lehre  des  Thomas,  im  Stande  der  iustitia  originalis 
sei  auch  die  geringste  lässliche  Sünde  undenkbar  gewesen,  bestreitet.  Nach  ihm 
waren  nur  Todsünden  unmöglich;  dagegen  waren,  da  der  Mensch  im  Urständ  eben 
Mensch  war,  solche  Sünden  sehr  wohl  möglich,  die  nicht  unmittelbar  den  Verlust 
der  Gerechtigkeit  nach  sich  zogen,  sondern  nur  eine  Verzögerung  in  der  Er- 
reichung des  letzten  Zieles  herbeiführten.  AVio  klein  erscheint  bei  dieser  Betrachtung, 
trotz  aller  Behauptung  des  Gegentheils,  die  Bedeutung  der  ersten  Sünde  und  der 
Erbsünde!  In  verhüllter  Weise  hat  Duns  wie  Julian  von  Eklanum  gelehrt:  dem 
natürlichen  AVillcn  ist  einerseits  die  Qualität  eigen,  sich  dem  Guten  ohne  An- 
strengung zuzuwenden,  andererseits  weil  er  AVille  des  Menschen  ist,  war  auch  im 
Urständ  die  Möglichkeit  der  „kleinen"  Sünden  gegeben!  Occam  zieht  hier  wieder 
die  letzten  Consequenzen  (s.  Werner  II  S.  318 f.).  Da  Alles  willkürlich  ist,  so  be- 
hauptet er  einerseits,  man  dürfe  nicht  bestreiten,  dass  es  in  Gottes  Macht  stehe, 
dem  Sünder  ohne  Busse  und  Reue  die  Sündenschuld  zu  erlassen  und  die  Heilsguade 
zu  spenden;  andererseits  negirt  er  jeden  inneren  ideell  nothwendigen Zusammenhang 
zwischen  der  sittlichen  Schuld  und  der  Strafe  oder  Büssung.  „Die  theologische 
Scholastik",  sagt  Werner  mit  Recht,  „langt  hiermit  bei  dem  extremen  Gegentheil 
der  in  der  Anselm'schenSatisfactionstheorie  ausgedrückten  Idee  der  Unverbrüch- 
lichkeit einer  heiligen  Ordnung  an,  deren  absolutes  Gerechtigkeitsgesetz  es 
mit  sich  bringe,  dass  Gott  nur  um  den  Preis  einer  höchsten  Sühne,  deren  Leistung 
alles  Vermögen  einer  blossen  Creatur  übersteigt,  den  reatus  poenae  aeternae  erlassen 
könne."  Occam  hat  aber  nicht  aus  Laxheit  die  Principien  des  Augustinismus  zer- 
stört; vielmehr  concuri'irten  bei  ihm  deutlich  zwei  Momente,  „der  absolute  Mangel 
eines  ideellen  Weltverständnisses"  (oder  sagen  wir  richtiger  sein  piiilosophischcr  Empi- 
rismus) und  das  höchste  Interesse,  die  Nothwendigkeit  der  Heilsgnade  Christi  ledig- 
lich aus  der  Offenbarung  selbst  zu  bestimmen.  Allein  —  vestigia  terrent:  man  kann 
an  den  geschichtlichen  Consequenzen  des  Occamismus  studiren,  dass  die  denkende 
Menschheit  es  sich  auf  die  Dauer  nicht  gefallen. lässt,  dass  ihr  die  Religion  lediglich 
als  Offenbarung  vorgestellt  wird  und  alle  Stränge  durchschnitten  werden,  welche 
diese  Offenbarung  mit  dem  Weltverständniss  verbinden.  Von  Occam  aus  geht  sie 
entweder  wieder  auf  Thomas  zurück  (Bradwardina  und  seine  geistige  Descendenz, 
vgl.  ferner  den  Piatonismus  des  15.  Jahrhunderts)  oder  schreitet  zum  Soci- 
niauismus  fort.  Aber  sollte  es  nicht  möglich  sein,  dass  die  Geschichte  der  Religion 
der  denkenden  Betrachtung  fortab  den  Dienst  leistet,  den  ihr  bisher  das  ideelle 
AVeltverständniss  Plato's,  Augustin's  und  Thomas'  geleistet  hat?  Ohne  ein  Absolutes 
wird  man  freilich  nicht  auskommen;  aber  man  wird  es  als  Erlebniss  ergreifen.  Der 
Nominalismus,  der  die  christliche  Religion  von  der  sie  verkehrenden  „AVissenschaft" 
befreien  wollte,  scheiterte  an  dieser  richtig  gestellten  Aufgabe,  weil  er  die  Religion 
als  Unterwerfung  unter  einen  ungeheuren  Stoff  verstand,  der,  geschichtlich  ent- 
standen, sich  keine  Isolirung  gefallen  lässt. 

^  Sent.  n  Dist.  31  A.  B:  „caro  sola  ex  traduce  est."    Mit  Augustin  wird  die 
Fortpflanzung  der  Erbsünde  aus  der  Lust  beim  Zeuguugsact  abgeleitet;  „uude  ciux) 


Die  Gnaden-  und  Sündenlehre  der  späteren  Scholastik.  551 

die  Erbsünde  insofern  Erbsünde  ist,  als  sie  sich  wie  ein  contagium 
von  Adam  ab  fortpflanzen  müsse;  dabei  streift  er  andererseits  auch 
den  Gedanken  Augustin's:  „omnes  illi  unus  homo  fuerant  i.  e.  in  eo 
materialiter  erant",  wobei  freilich  auf  materialiter  der  Nachdruck 
liegt,  so  dass  die  Sache  nicht  mystisch,  sondern  realistisch  zu  ver- 
stehen ist^  Obgleich  nun  Thomas  dem  gegenüber,  um  die  Schuld 
auszudrücken  und  zugleich  den  Accent  auf  den  Willen  (nicht  nur 
auf  das  Fleisch)  zu  legen,  eine  mystisch  begründete  Imputation  gel- 
tend gemacht  hat-,  so  blieb  doch  jene  Vorstellung  die  herrschende. 
Ist  nun  trotzdem  schon  bei  Thomas  die  Schuld  der  Erbsünde  sehr 
abgemildert,  so  erscheint  sie  bei  Duns  vollends  gering  trotz  aller 
Worte  über  dieselbe.  Ja  auch  die  Folgen  der  Sünden  zeigen  sich 
bei  ihm  in  einem  anderen  Licht;  denn  da  die  Erbsünde  lediglich 
nichts  Anderes  ist  als  Verlust  des  übernatürlichen  Donums,  so  hat 
sie  die  Natur  des  Menschen  nicht  angegriffen.  Diese  bleibt  auch 
nach  dem  Sündenfall  unverwundet.  Duns  polemisirte  geradezu  gegen 
die  thomistische  Definition  der  Erbsünde  als  vulneratio  naturae^. 
Nimmt  man  nun  noch  dazu,  dass  durch  die  Haarspaltereien  über 
macula,  corruptio  naturae,  reatus  culpae  und  poena  die  Sache  vol- 
lends ins  Casuistische  gezogen  wurde,  so  muss  man  urtheilen,  dass 
der  Scholastik  schliesslich  der  augustinische  Ausgangspunkt  völlig 
verloren  gegangen  ist. 

Die  religiöse  Betrachtung  der  Sünde,  freilich  auch  bei  Augu- 
stin nicht  rein  durchgeführt,  ist  ganz  verschwunden :  die  Erbsünde  ist 
ein  äusserlicher  negativer  Charakter,  der  durch  den  positiven  der 
magischen  Gnade  aufgehoben  wird.  So  ist  nur  das  hässliche  Phlegma 
einer  einst  lebendigen,  das  Gemüth  tief  bewegenden  Betrachtung  übrig 
geblieben. 

5.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  nun  auch  das  liberum  arbi- 
trium  viel  höher  geschätzt  werden   musste,   als  die  augustinisch-tho- 


ipsa,  quae  concipitur  in  vitiosa  concupiscentia  polliiitur  et  corrumpitur:  ox  cuius 
contactu  anima,  cum  infunditur,  maculam  trahit,  qua  polluitur  et  fit  rea,  i.  e.  vitium 
concupiscentiae,  quod  est  originale  peccatum." 

*  So  meine  i(;h  auch  Ansclm  de  conc,  virg.  23  verstehen  zu  müssen. 

^  Adams  sündiger  Wille  (als  der  Wille  des  primus  movens  in  der  Menschheit) 
ist  Ausdruck  des  Gesammtwillens;  s.  II,  1  Q.  81  Art.  1:  „Inordinatio  cpiae  est  in 
isto  hominc  ex  Adam  generato,  non  est  voluntaria  voluntate  ipsius,  sed  voluntate 
primi  parcntis,  qui  movet  motione  gcnerationis  omnes  quiex  eiusoriginederivantur." 
Daher  ist  die  Erbsünde  nicht  personelle  Sünde,  sondern  peccatum  naturae,  wodurch 
in  Wahrheit  ihre  Bedeutung  und  Schwere  sehr  herabgemindert  ist. 

'  In  Sentent.  11  Dist.  29.  Ebendort  die  Ausführung  darüber,  dass  die  „volun- 
taa  in  puris  naturalibus  habet  iustitiam  originalem". 


552     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  biß  zum  16.  Jahrh. 

mistische  Ueberliefcrung  dies  zuliess.  War  einmal  die  Grundthese 
verhissen,  dass  es  nur  sittHch  Gutes  giebt  in  dem  Zusannnenhang 
(der  Abhängigkeit)  mit  Gott,  galt  also  wieder  die  Betrachtung,  dass 
der  Mensch  Gott  gegenüber  mit  selbständigen  Leistungen  paradiren 
könne,  so  nuisste  der  Process  der  Aushöhlung  des  Augustinismus  — 
denn  die  Formeln  durfte  man  nicht  preisgeben  —  unaufhaltsam  werden. 
Hatte  doch  Thomas  selbst,  wenn  auch  erst  sehr  schüchtern,  dem 
freien  AVillen  seinen  besonderen  Spielraum  neben  der  Gnade  anzu- 
weisen begonnen.  Sein  Verfahren,  mit  der  einen  Hand  zu  geben  und 
mit  der  anderen  zu  nehmen,  war  auf  die  Dauer  unhaltbar.  Bonaventura 
hat  die  1^'ädestination  auf  die  Präscienz  gestellt  und  Gott  als  causa 
in  Bezug  auf  die  vernünftigen  Creaturen  eingeschränkt:  er  ist  nicht 
tota  causa,  sondern  causa  cum  alia  causa  contingente,  seil,  cum  libero 
arbitrio.  Der  creatürliche  Wille  ist  bei  Duns  und  ebenso  bei  den 
führenden  Theologen  bis  zum  Constanzer  Concil  (und  weiter)  die 
zweite  grosse  Macht  neben  Gott  * ,  und   was  sie  in   der  Sphäre  der 


'  Bonaventura  (in  Sentent.  I  Dist.  40  Art.  2  Q.  1)  fragt:  „an  praedcstinatio 
inferat  salutis  ncccssitatcm?"  Er  antwortet:  „Praedcstinatio  non  iufert  nccessitatem 
saluti  uec  infert  necessitatem  libero  arbitrio.  Quouiam  praedestinatio  non 
est  causa  salutis  uisi  includendo  merita  (voller  Abfall  von  Augustin),  et 
ita  salvando  liberum  arbitrium  (das  ist  amphibolischj.  Ad  intellij^cutiam  autem 
obicctorum  notaudum,  quod  praedestinatio  duo  importat,  et  rationem  praescientiae 
et  rationem  causae.  In  quautum  dicit  rationem  causac,  non  uecessario  ponit 
effectum,  quia  non  est  causa  per  necessitatem,  sed  per  voluntatem,  et 
iterum  non  est  tota  causa,  sed  cum  alia  causa  contingente,  seil,  cum  libero  arbitrio. 
Et  regula  est,  quod  quotiescumque  effectus  pendet  ex  causa  necessaria  et  variabili 
—  a  necessaria  tamquam  ab  universali,  a  variabili  tamquam  a  particulari  —  deno- 
minatur  a  variabili  (damit  ist  die  Prädestination  beseitigt),  quia  denominatio  est  a 
causa  particulari,  et  effectus,  quia  dependet  a  causa  contingente,  est 
contingens.  Et  praeter  rationem  causae  importat  rationem  praescientiae,  et 
praescientia  quidem  totum  includit  in  cognitione  liberum  arbitrium  et  eins 
Cooperationen!  et  vertibilitatem  et  totum.  Et  praeterea  non  est  nisi  veri,  et  etiam 
de  vero  contingente  est  infallibilis."  Die  Prädestinationslehre  des  Duns  ist  sehr 
complicirt.  Sie  ist  abhängig  von  seinem  Gottesbegriff,  der  einen  Determinismus 
der  Willkür  einschiiesst  (s.  Ritsch  1,  a.  a.  0.  I  S.  58  f.  64).  Aber  eben  weil  der 
Alles  wirkende  Gott  stets  der  zufällig  wirkende  Wille  ist,  ist  die  Möglichkeit,  dass 
es  Zufälliges  in  der  AVeit  giebt,  eröffnet.  Dieses  Zufällige  umschliesst  Gott  nur  mit 
seiner  Präscienz,  und  diese  Präscienz  umschliesst  das  Mögliche  ebenso  wie  das 
Wirkliche.  Damit  ist  nicht  nur  die  Prädestination  als  einheitliche  und  innerlich  moti- 
virte  aufgehoben,  sondern  Gott  selbst  erscheint  nicht  mehr  als  das  absolute  Wesen, 
welches  Eines  will  und  kann,  sondern  als  das  relative  Wesen,  welches  alles  Mög- 
lichein unergründlicher  AVcise  will  und  kann.  Einem  solchen  Gottesbegrift'gegeuüber 
kann  sich  der  AVille  des  Menschen  nicht  nur  als  freier,  sondern  auch  als  relativ 
guter  behaupten,  und  so  verschwindet  die  Prädestination  und  die  allein  causirende 
Gnade,  o^er  vielmehr  die  Prädestination  bleibt  insofern,  als  der  absolute  Zufall  und 


Die  Gnaden-  und  Süudenlehre  der  späteren  Scholastik.  553 

empirischen  Psychologie  richtig  feststellen,  dem  geben  sie  auch 
eine  materiale  und  positive  religiöse  Bedeutung.  Damit 
aber  entfernen  sie  sich  wie  von  Augustin,  so  von  der  llehgion-,  denn 
Augustin  kennt  als  Dogmatiker  den  freien  Willen  nur  als  formales 
Princip  oder  als  Ursache  der  Sünde.  Es  ist  das  ererbte  Verhäng- 
niss  der  mittelalterhchen  Dogmatik,  dass  bei  der  Verquickung  von 
Welterkennen  und  Religion  schliesslich  eine  relativ  richtigere  Welt- 
erkenntniss  dem  Glauben  ebenso  gefährlich  wird,  ja  noch  gefährlicher 
als  eine  falsche;  denn  jede  auf  irgend  welchem  Wege  gefundene 
Erkenntniss  wurde  sofort  als  ein  religiöser  Werth  in  die  Rechnung 
eingestellt.  Gegen  den  Pelagianismus,  der  sich  immer  ungescheuter 
des  Augustinismus  ledigHch  als  „Kunstsprache"  bediente,  hat  zuerst 
wieder  Bradwardina  kräftig  Front  gemacht,  und  seitdem  ist  die 
Reaction  nicht  mehr  erloschen,  sondern  hat  sich  langsam  im  15.  Jahr- 
hundert bis  zu  Wesel  und  AVessel,  Cajetan  und  Contarini,  bis  zu  Luther 
und  dem  Tridentinum  gesteigert  ^ 


die  absolute  Willkür  sich  decken;  s.  in  Sent.  1  Dist.  40  in  resol.:  „Praedestinatio 
bifariam  accipitur.  Primo  et  proprie  pro  actu  divinae  volantatis,  quo  rationalem  crea- 
turam  ad  aeternam  eligit  vitani  scu  decernit  ac  determinat  se  daturum  in  praesenti 
gratiam  et  gloriam  in  futuro.  Secundo  accipitur  fusius  pro  actu  etiam 
intellectus  divini,  pro  praecognitione  vid.  quam  habet  deus  salutis 
electorum,  quae  quidem  praccognitio  concomitatur  et  consequitur 
electionem.  Divina  autem  voluntas  circa  ipsas  creaturas  libere  et  contingenter  se 
habet.  Quocirca  contingenter  salvaudos  praedcstinat,  et  posset  eosdem  non  prae- 
destinare  .  .  .  Ex  quo  consequitur,  quod  is  qui  damnatus  est  damnari  possit,  quando- 
quidem  ob  eius  praedestinationem  non  est  eins  voluntas  in  bonum  confirmata,  ut 
peccare  nequeat." 

*  Aus  Bradwardiua's  Vorrede  zur  Schrift  de  causa  dei  c.  Pelagium  führt 
Mün  scher  folgende  Stelle  an:  „In  hac  causa,  quot,  domine,  hodie  cum  Pelagio  pro 
libero  arbitrio  contra  gratuitam  gratiam  tuam  pugnant,  et  contra  Paulum  pugilem 
gratiae  spiritualem !  Quot  etiam  hodie  gratuitam  gratiam  tuam  fastidiunt  solumque 
liberum  arbitrium  ad  salutem  sufficcre  stomachantur!  aut  si  gratia  utantur,  vel  per- 
functorie  necessariam  eam  simulant  ipsamque  se  iactant  liberi  sui  arbitrii  viribus 
promercri,  ut  sie  saltem  nequaquam  gratuita,  sed  vcndita  videatur!  Quot  etiam, 
deus  omnipotens,  impotentes  de  sui  potcstate  arbitrii  praesumentes  tuae  coopera- 
tionis  auxilium  inoperationibus  suis  recusant,  dicendo  cum  impiis  „recedcanobis"  . . . 
Quin  immo  et  voluntati  suae  in  contingenter  futuris  omnimodam  tribuunt  libertatem, 
in  tautum  ut  etiam  contra  vocem  i)ropheticam  a  tua  subicctionc  exemptionem 
praetendant  .  .  .  Et  quot  et  (|uam  innumcrabiles  eisfavent!  Totus  cteuim  pacne 
niundus  postPelagiam  abiit  in  errorem.  Exsurge  igitur,  domine,  iudica  cau- 
sam tuam  et  sustincntem  te  sustine,  protcge,  robora,  consolare!  Scis  enim  quod  nus- 
quam  virtute  mea,  sed  tua  confisus,  tantillus  adgredior  tantam  causam."  Mau  erkeinit 
leicht,  dass  hier,  wie  bei  Gottschalk,  die  Stimmung  und  der  Stil  Augustin's  ein- 
gewirkt hat.  Aber  ikadwardina  und  alle  die  Reformer  nach  ihm  vor  Luther  sind 
lediglich  auf  Augustin  zurückgegangen  (Wichf,  Hus,  Wesel,  Wcssel,  Staupitz  etc.). 


554     Geschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

6.  Am  deutlichsten  und  praktisch  am  folgenschwersten  ist  die 
weitere  Entwickelung  der  Scholastik  in  Bezug  auf  die  Rechtfertigungs- 
lehre und  die  Lehre  von  der  verdienstlichen  Erwerbung  des  ewigen 
Lebens  gewesen.  Aber  wie  viele  Keime  zur  pelagianischen  Entar- 
tung dieser  Lehren  hat  bereits  Thomas  selbst  in  sein  System  ein- 
gepHanzt!  Ich  will  hier  nicht  repetiren,  was  bereits  oben  in  der  Dar- 
stellung der  thomistischen  Gnadenlehro  selbst  klar  hervorgetreten 
sein  wird.  Das  deutlichste  Ergebniss  der  Weiterentwickelung  im 
Scotismus  besteht  darin,  dass  1)  der  entscheidende  Erfolg  der  gratia 
praeveniens  immer  mehr  zu  einer  blossen  Behauptung,  resp.  einer 
Redensart  wird  —  die  gratia  cooperans  ist  allein  die  verständliche 
Gnade  — ,  dass  2)  das,  was  bei  Thomas  meritum  ex  congruo  ist,  zum 
meritum  ex  condigno  wird,  während  die  merita  ex  congruo  in  sol- 
chen Regungen  und  Handlungen  angeschaut  werden,  die  Thomas 
überhaupt  nicht  unter  den  Gesichtspunkt  eines  meritum  gestellt  hat, 
und  dass  3)  parallel  mit  der  Verdienstlichkeit  der  attritio  die  Ver- 
dienstlichkeit der  iides  informis,  des  blossen  Glaubensgehorsams,  höher 
geschätzt  wird.  An  diesem  Punkte  war  das  Verderben  viel- 
leicht am  grössten;  denn  die  iides  implicita,  die  blosse  Unter- 
werfung, wurde  jetzt  gewissermassen  dogmatisches  Grundprincip  K 

Eben  darum  ist  diese  Bewegung  nicht  in  die  evangelische  E/cformation,  sondern 
in  das  Tridentinum,  resp. bei  Bajus  und  Jansen  ausgemündet;  s.  Ritschi,  Recht- 
fertigung 1.  Bd.  2.  Aufl.  S.  105 — 140.  Ritschi  beginnt  diese  Ausführungen  mit  den 
nicht  ganz  zutreflenden  Worten :  „Man  wird  sich  vergeblich  bemühen,  den  reforma- 
torischen Lehrbegriif  von  der  iustificatio,  nämlich  die  absichtliche  Unterscheidung 
zwischen  iustificatio  und  regeneratio,  bei  irgend  einem  Theologen  des  Mittelalters 
nachzuweisen."  Ueber  Bradwardina's  Lehre  vom  freien  Willen  hat  Werner  (III 
S.  270  ff.)  ausführlich  gehandelt.  Mit  dem  vollsten  Bewusstsein,  dass  es  sich  um  den 
articulus  stantis  et  cadentis  ecclesiae  handle,  hat  Bradwardina  Augustin's  Lehre  von 
der  Unfähigkeit  des  freien  Willens  zum  Guten  repristinirt.  Ob  er  den  Gesichtskreis  der 
augustinischen  Theologie  durch  Zurückführung  des  Inhalts  derselben  auf  die  Lehren 
von  der  Unwandelbarkeit  des  göttlichen  Denkens  und  Wollens  als  auf  den  letzten 
Grundgehalt  wirklich  verengt  hat  (Werner  S.  282  ft'.),  lasse  ich  dahin  gestellt  sein. 
Der  Determinismus  scheint  allerdings  auch  mir  bei  Bradwardina  stärker  hervorzu- 
treten  als  bei  Augustin-,  allein  Werner  hat  ein  Interesse,  Bradwardina  möglichst 
weit  von  Augustiu,  Anselm  und  Thomas  abzurücken,  weil  seine  Lehre  zu  Wiclif  und 
zu  jenem  Augaistinismus  geführt  hat,  den  die  katholische  Theologie  nicht  mehr  ver- 
trägt, deraber  in  Wahrheit  genuiner  Augustinismus  ist.  Andererseits  jedoch  können 
jene  Theologen  den  puren  Nominalismus  Occam's  auch  nicht  brauchen.  Daher  wird 
Bradwardina  so  weit  anerkannt,  als  er  „gleichsam  unfreiwillig  (?)  ein  Zeuge  für  die 
Nothwendigkeit  einer  Restauration  der  kirchlichen  Scholastik  auf  thomistischer 
Unterlage"  geworden  ist. 

*  Die  fides  implicita  war  keimhaft  von  Anfang  an  in  dem  abendländlischen 
System  als  ein  Factor  enthalten,  dem  ein  religiöser  Werth  beigelegt  wurde.  Allein 
erst  im  Nominalismus  ist  dieser  Keim  zur  Blüthe  gelangt. 


I 


Die  Gnaden-  und  Sündenlehre  der  späteren  Scholastik.  555 

Nach  Scotus  darf  dem  Menschen,  der  den  habitus  gratiae  nicht 
besitzt,  desshalb  ausser  Verbindung  mit  Gott  steht  und  daher  nichts 
für  das  ewige  Leben  wirkUch  Verdiensthches  leisten  kann,  das  Ver- 
mögen nicht  abgesprochen  werden,  den  götthchen  Geboten  durch  sein 
Verhalten  zu  entsprechen.  Er  kann  diese  Gebote  noch  immer  er- 
füllen —  sonst  würde  Gott  etwas  Unmöghches  von  ihm  verlangen 
und  würde  parteiisch  sein,  wenn  er  nicht  Alle  beseeligt  — ,  und  er 
muss  sie  erfüllen;  denn  er  muss  sich  selbst  auf  die  erste 
Gnade  präpariren.  Da  es  eine  natürliche  Pflicht  ist,  Gott  über 
Alles  zu  lieben,  so  ist  es  auch  eine  erfüllbare  Pflicht ;  demgemäss 
ist  auch  die  natürHche  Gerechtigkeit  der  Heiden  und  Sünder  nicht 
ohne  Beziehung  zu  den  übernatürHchen  Tugenden;  ja  es  lässt  sich 
keineswegs  erweisen,  dass  stets  ein  durch  die  übernatürhche  Gnade 
bewirkter  caritativer  Habitus  nöthig  ist,  um  Gott  über  Alles  zu  lieben, 
vielmehr  ist  dies  einfach  ein  kirchlicher  Lehrsatz.  Mindestens  vor  dem 
Fall  gilt  alles  dieses;  aus  Aristoteles  (!)  lässt  sich  sogar  beweisen, 
dass  es  auch  nach  dem  Fall  gilt.  Von  hier  aus  ist  die  Lehre  des 
Scotus  von  der  Gnade  und  vom  Verdienst  zu  verstehen.  In  Wahr- 
heit geht  bei  ihm  stets  das  Verdienst  der  Gnade  vorher,  nämlich 
zuerst  das  meritum    de   congruo,   dann  das  meritum   de  condigno  ^ ; 


»  S.  Werner  I  S.  418  ff.  In  Sentent.  II  Bist.  28  Q.  1,  Frage:  „wie  kann  Gott 
die  Schuld  vergeben  ohne  Gnade  zu  geben?  videretur  enim  esse  mutatio  in  deo,  si 
non  ponatur  in  ipso  iustificato.  Potest  illa  opinio  confirmari  per  hoc,  quod  illud 
praeceptum  »Diliges  dominum  deum  etc.«  est  primum,  a  quo  tota  lex  pendet  et  pro- 
phetae.  Ad  actum  igitur  huius  pracccpti  aliquando  eliciendum  (actus  elicitus  dilecti- 
onis,  rationis)  tenetur  voluntas ;  ita  quod  non  potest  esse  semper  omissio  actus  huius 
praecepti  sine  peccato  mortali.  Quodcumque  autem  voluntas  actum  huius  praecepti 
exsequitur,  licet  informis,  et  disponit  sc  de  congruo  ad  gratiam  grati- 
ficantem  sibi  oblatam,  vcl  rcsistet  et  pcccabit  mortalitcr,  vcl  consentiet  et 
iustificabitur."  In  folgender  Weise  wird  der  augustinischc  Satz,  dass  das  meritum 
munus  dci  sei,  gerechtfertigt  (Dist.  17  Q.  1  in  Resol.):  „in  actu  mcritorio  duo  sunt 
consideranda.  Primum  illud  quod  praecedit  rationem  meritorii,  in  quo  includitur 
substantia  et  intentio  actus  ac  rectitudo  moralis.  Secundum  est  ratio  meritorii,  quod 
est  esse  acceptum  a  divina  voluntatc,  aut  acceptabilc,  sivc  dignum  acceptari  ad 
praemium  aeternum.  Quantum  ad  primum,  potentia  est  causa  prima  et  priucipalis, 
et  habitus  causa  sccunda,  cum  potentia  utatur  habitu,  non  c  converso ;  alias  habens 
semcl  gratiam  nunquam  posset  pcccarc,  cum  causa  sccunda  semper  sequatur  moti- 
oncm  causae  primae,  ncc  possit  movcri  ad  oppositum  illius,  ad  quod  causa  prima 
inclinat.  Sed  accipiendo  actum  in  quantum  est  mcritorius,  talis 
conditio  ei  convenit  principaliter  ab  habitu  et  minus  princi- 
palitcr  avoluntate.  Magis  siquidem  actus  acccptatur  ut  dignus  praemio,  quia 
est  elicitus  a  caritatc,  quam  quia  est  a  voluntato  libcre  elicitus,  quamvis  utrum- 
qucneccösario  rc(|uiratur...  Actus  mcritorius  est  inpotcstatc  ho- 
minis, 8UX)po8ita  generali  influentia,  si  habucrit  libcri  arbitrii  usum  et  gratiam, 


556     Geöchichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

jenes  macht  den  Gedanken  der  gratia  praeveniens  völlig  unwirksam, 
dieses  die  entscheidende  Bedeutung  der  gratia  coopcrans.  In  Worten 
ist  iiherall  durch  ahge(iuiilte  Distinctionen  der  Augustuiismus  gewahrt, 
in  der  Sache  aber  ist  er  ahgethan.  Der  Satz,  den  auch  Thomas  und 
Augustin  nicht  bestreiten,  dass  wir  non  inviti  gerechtfertigt  werden, 
ist  vom  Noniinalismus  pclagianisch  gedeutet,  und  der  andere  Satz, 
dass  das  ewige  Leben  der  Lohn  für  die  Verdienste  ist,  welche  man 
sich  auf  Grund  der  eingetlössten  Gnade  erwirbt,  ist  so  gefasst,  dass 
dei'  Accent  auf  den  Willen  und  nicht  auf  das  Verdienst  Christi  fällt. 
Der  göttliche  Factor  erscheint  eigentlich  nur  in  der  acceptatio,  die, 
da  sie  das  ganze  Verhältniss  von  Gott  und  Mensch  beherrscht  und 
willkihlich  ist,  nicht  erlaubt  von  Verdiensten  im  strengsten  (noth- 
wendigen)  Sinn  zu  reden.  Die  nominalistische  Doctrin  ist  nur 
insofern  nicht  einfacher  Moralismus,  als  die  Gotteslehre 
einen  strengen  Moralismus  überhaupt  nicht  zulässt.  Dies 
ist  am  deutlichsten  bei  Occam,  der  ja  überhaupt  den  paradoxen  An- 
bhck  gewährt,  dass  sein  stark  ausgeprägter  religiöser  Sinn 
lediglich  zu  der  AVillkür  Gottes  flüchtet.     Die  Zuversicht  zu 

sed  completio  in  ratione  meriti  non  est  in  potestatc  hominis  nisi  dis- 
positive, sie  tarnen  dispositive  quod  ex  dispositone  divina  nobis  revelata";  man 
überlege  hier  das  in  diesen  Distinctionen  hervortretende  Ja  und  Nein.  Mit  Recht 
hat  desshalbBradvvardina  folgende  Irrthümer  der  herrschenden  Scholastik  constatirt : 
1)  sie  leugnet  zwar,  dass  das  meritum  causa  priucipalis  doiii  gratiac  ist,  aber  sie  be- 
hauptet, dass  es  causa  sine  qua  non  ist,  2)  sie  leugnet  zwar,  dass  der  Mensch  die  heilig- 
machendc  Gnade  von  sich  aus  verdienen  könne,  aber  sie  behauptet,  dass  er  sich 
in  schuldiger  Weise  für  sie  präj^ariren  könne,  und  dass  Gott  dann  seine  Gnade  gäbe, 
weil  ja  auch  in  naturalibus  der  materia  disposita  sofort  die  forma  geben  werde, 
3)  sie  leugnet  zwar,  dass  der  Mensch  im  stricten  Sinn  den  Anfang  des  Heilsprocesses 
mache,  aber  sie  behauptet,  dass  er  ex  propriis  viribus  einwillige  und  folge,  4)  sie 
behauptet,  dass  der  Mensch  ex  congruo  sich  die  göttliche  Gnade  verdiene  (c.  Pe- 
lag.  39),  ^et  quia  iste  error  est  famosior  ceteris  his  diebus,  et  nimis  multi  per  ipsum 
in  Pelagianum  praecipitinm  dilabuntur,  necessarium  videtur  ij)sum  diligentiori 
examine  perscrutari."  Die  Situai^ion  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  wird  von 
Ritschi  (I  S.  138)  trefflich  also  geschildert:  ^Der  Thatbestand  der  öffentlichen 
Lehre,  welchen  die  Reformation  vorfand,  ist  von  beiden  Seiten  nicht  mit  geschicht- 
licher Genauigkeit  und  Gerechtigkeit  aufgefasst  und  dargestellt  worden.  Die  theo- 
logischen Gegner  der  Reformation,  welche  ausschliesslich  Realisten  waren,  iguo- 
riren  durchaus,  dass  die  nominalistische  Schule  ein  und  ein  halbes  Jahrhundert  hin- 
durch die  pelagianische  Doctrin  in  Betreff'  der  merita  de  congruo  aufrecht  erhalten 
und  die  merita  de  condigno  gegen  das  Verdienst  Christ  überschätzt,  dass  sie  als 
Schule  gleiches  öffentliches  Recht  wie  die  realistische  gewonnen  und  auch  in  wis- 
senschaftlicher und  praktischer  Hinsicht  einen  weitergreifenden  Eiufluss  auf  diese 
ausgeübt  hat.  Die  Reformatoren  hingegen  richten  die  Vorwürfe  und  Anklagen  auf 
Pelagianismus,  welche  nur  der  nominalistischen  Tradition  gelten  sollten,  gegen 
die  Scholastik  im  Allgemeinen." 


Die  Gnaden-  und  Sündenlehre  der  späteren  Scholastik.  557 

dieser  befreit  ihn  allein  vom  Nihilismus,  und  dasselbe  gilt  von  den 
grössten  Theologen  des  Zeitalters  der  Reformconcilien,  bis  Nicolaus 
von  Kus  eine  Aenderung  hervorbrachte.  Der  Glaube,  um  sich  zu 
erhalten,  fand  gegenüber  den  eindringenden  Fluthen  der  Welt- 
erkenntnisse keine  andere  Kettung  mehr  als  die  Planke  der  Willkür 
des  Gottes,  an  dem  er  mit  herzHchem  Verlangen  hing.  Jene  Theo- 
logen waren  noch  keine  Moralisten  —  sie  scheinen  uns  nur  so  — ; 
erst  die  Socinianer  wurden  es.  „Nach  Occam  lässt  sich  die  Noth- 
wendigkeit  supranaturaler  Habitus'  zur  Erlangung  des  ewigen  Lebens 
durch  Vernunftgründe  nicht  erweisen.  Der  Erweis  könnte  nur  darauf 
gestützt  sein,  dass  die  jenen  Habitus'  entsprechenden  Acte  des  Glau- 
bens, Hoffens  und  Liebens  ohne  die  supranaturalen  Habitus'  des  Glau- 
bens, Hoffens  und  Liebens  nicht  möglich  seien-,  dies  lässt  sich  jedoch 
nicht  erweisen.  Ein  unter  Christen  lebender  Heide  kann  dahin  kom- 
men, aus  Gründen  rein  natürlicher  Ueberzeugung  die  Artikel  des 
christlichen  Glaubens  für  wahr  zu  halten;  ein  philosophisch  gebildeter 
Heide  kann  der  auf  natürlichem  Wege  erworbenen  Ueberzeugung 
nachleben,  dass  man  Gott,  der  vorzüglicher  als  Alles  sei,  über  Alles 
heben  müsse.  Die  von  solchen  Menschen  gesetzten  Acte  des  Glau- 
bens, Hoffens  und  Liebens  gehen  nicht  aus  eingegossenen,  sondern 
aus  erworbenen  Habitus'  hervor,  welche  letzteren  auch  bei  Christen 
vorhanden  sein  können,  und  bei  einem  gewissen  Höhengrade  intellec- 
tueller  und  sittlicher  Entwickelung  thatsächlich  vorhanden  sind.  Die 
Nothwendigkeit  übernatürlicher  Habitus'  steht  einzig  durch  die  Au- 
torität der  überlieferten  Kirchenlehre  fest.  So  sehen  wir  also  Occam 
bezüglich  der  Nothwendigkeit  der  übernatürlichen  Habitus'  bei  dem 
innerhalb  der  Grenzen  der  kirchlichen  Gläubigkeit  möglichen  (?  !) 
extremen  Gegensatze  zu  der  Nothwendigkeit  der  übernatürlichen  Ha- 
bitus' angelangt."  SoWerner^  Dass  hier  die  Grenzen  der  kirch- 
lichen Gläubigkeit  noch  immer  eingehalten  sind,  ist  eine  lehrreiche 
Behauptung  des  modernen  katholischen  Theologen.  In  Wahrheit  ist 
die  Verschiebung  der  merita  hier  so  weit  geführt,  dass  der  Unter- 
schied von  merita  ex  congruo  und  ex  condigno  überhaupt  neutralisirt 
ist:  der  Mensch  kann  sich  im  natürlichen  Zustande  merita  de  con- 
digno erwerben;  Gott  aber  hat  die  Nothwendigkeit  eines  übernatür- 
hchen  Habitus  trotzdem  gewollt  und  die  entsprechenden  Veranstal- 
tungen getroffen'^.    Mochten  nun  auch  viele  theologische  Lehrer,  wie 


'  ir  S.  329  f. 

"^  Die  katholische  Cautele  lie^t  lodif^lich  darin,  dass  (ilott  üboi'haupt  Nieman- 
dem die  vita  aeterna  zu  g(;l>en  braucht,  soiidcri)  dass  dic^selbe  in  jf*dem  Fall  ein  aus 
einer  Anordnung  stammendes  willkürliches  Geschenk  ist.   Diese  Cautele  aber  hat 


558     (beschichte  dos  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

Occam  selbst,  ihr  religiöses  Gewissen  durch  die  Reflexion  beruhigt 
fühlen,  dass  Gottes  Willkür  für  uns  sein  Erbarmen  ist  —  die  allge- 
meine Wirkung  dieser  Art  Theologie  konnte,  zumal  wenn  man  sich  j 
der  attritio  und  der  Ablässe  erinnert,  doch  nur  die  sein,  dass  man  1 
in  den  guten  Werken  die  causae  instrumentales  für  den  ^ 
Empfang  des  ewigen  Lebens  erkannte,  dass  man  ferner 
diese  guten  Werke  auch  in  der  roducirtesten  Gestalt  als 
verdienstlich  beurtheilte,  und  dass  man  endlich  die  Unter- 
werfung unter  die  von  der  Kirche  gelehrte  Offenbarung 
für  einen  ausreichenden  bonus  motus  hielt,  der  durch  die 
Sacramente  so  completirt  wird,  dass  er  Würdigkeit  ver- 
leiht. So  ist  der  Nominahsmus  auch  von  den  ernsten  Augustinern 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts  verstanden  worden.  Sie  sahen  in  ihm 
eine  Verleugnung  der  Gnade  Gottes  in  Christo  und  Hessen  sich  in 
diesem  Urtheil  durch  die  scharfsinnigsten  Distinctionen  der  Nomina- 
hsten  nicht  beirren:  „Man  spricht  vergebens  viel,  um  zu  versagen; 
der  Andere  hört  von  Allem  nur  das  Nein." 


Vielleicht  der  deutlichste  Erweis  des  Verfalls  einer  innerlicli  be- 
gründeten Heilslehre  und  der  steigenden  Schätzung  des  creatürlich 
Guten  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  ist  die  Lehre 
von  Maria,  und  zwar  sowohl  die  Lehre  von  ihrer  unbefleckten  Em- 
pfängniss  als  die  Lehre  von  ihrer  Mitwirkung  bei  dem  Werke  der  Er- 
lösung ^ 

1.  Wir  haben  oben  gesehen  (S.  211),  dass  schon  Augustin  darüber 
zweifelhaft  gewesen  ist,  ob  Maria  dem  allgemeinen  Gesetz  der  Sünde 
unterstanden  hat,  und  PaschasiusRadbertus  weiss  bereits,  dass  Maria  im 
Mutterleib  geheiHgt  worden  ist.  Anselm,  an  diesem  Punkt  augusti- 
nischer  als  Augustin,  hatte  allerdings  bestimmt  die  unbefleckte  Empfäng- 
niss  der  Maria  verworfen  (Cur  deus  homo  11, 1 6) ;  allein  wenige  Jahre  nach 

mit  der  Frage  der  Sünde  und  Schuld  nichts  zu  thun,  sondern  entstammt  der  allge- 
meinen Lehre  von  Gott. 

*  Die  pelagianischen  Motive  der  Marienlehre  sind  in  der  Scholastik  ziemlich 
verdeckt;  aber  bei  schärferer  Beobachtung  doch  deutlich.  Uebrigens  ist  auch  die 
Behandlung  der  Lehre  von  der  menschlichen  Seele  Christi  bei  Scotus  und  den  Sco- 
tisten  ein  schönes  Paradigma  für  ihren  Pelagianismus,  doch  würde  hier  die  Dar- 
legung dieser  complicirten  Lehrbildung  zu  weit  führen;  s.  Werner  I  S.  427  fl". 
II  S.  330  ff.  Das  einzig  Versöhnende  an  der  Marialogie  ist  die  AV^ahrnehmung,  dass 
der  fromme  Glaube  sich  über  das  Verhältniss  der  Maria  zu  Gott  und  Christus  Aussagen 
erlaubt,  die  er  über  sein  eigenes  Verhältniss  nicht  zu  machen  wagt.  In  diesem  Sinn 
ist  in  der  Marienlehre  —  es  erscheint  freilich  paradox  —  manches  Evangelische. 
Es  wäre  eine  interessante  Aufgabe,  dies  an  der  Marienlehre  der  einzelnen  Scho- 
lastiker nachzuweisen. 


Die  Lehre  von  der  Maria.  559 

seinem  Tode  tritt  uns  in  Lyon  (1140)  ein  Fest  zu  Ehren  der  unbefleck- 
ten Empfängniss  der  Maria  entgegen,  welches  beweist,  wie  sehr  sich 
bereits  in  den  unteren  Regionen  der  Kirche  die  Superstition  verbreitet 
hatte  ^  Bernhard  (ep.  174  ad  canonicos  Lugd.)  widersprach  dem  neuen 
Feste,  trat  aber  der  Vorstellung,  die  sich  in  ihm  aussprach,  mit  hölzer- 
nen Waffen  entgegen :  Maria  sei  schon  im  Mutterleibe  geheiligt  worden, 
sei  auch  von  aller  Sünde  bewahrt  geblieben;  aber  ihre  Empfängniss 
sei  nicht  sündlos  gewesen,  sonst  müsste  auch  die  ihrer  Eltern  es  gewesen 
sein  (d.  h.  wenn  man  auf  diesem  Wege  den  Nachweis  für  die  sündlose 
Geburt  Christi  erbringen  wolle) ;  die  sündlose  Empfängniss  sei  eine  Prä- 
rogative Christi.  Allein  wenn  nach  allgemeiner  Meinung  das  bereits 
feststand,  was  Bernhard  über  die  Sündlosigkeit  der  Maria  dargelegt 
hatte  ^,  und  ausserdem  der  Geburtsact  im  Lichte  des  Wunders  strahlte, 
wie  konnte  man  es  der  Logik  in  diesen  Phantasieen  verwehren,  bis  zum 
Letzten  vorzudringen  ?  Die  vorscotistischen  Scholastiker  leugneten  frei- 
hch  noch  die  unbefleckte  Empfängniss  (auch  Bonaventura) ;  aber  wenn 
Thomas  die  Heiligung  in  utero  festhält,  also  sofort  nach  der  Conception 
eine  besondere  Wirkung  der  Gnade  auf  Maria  annimmt,  warum  soll  man 
nicht  die  Erbsünde  selbst  ihr  absprechen?  Thomas  antwortet,  weil 
Christus  der  Erlöser  aller  Menschen  sei ;  das  wäre  er  aber  nicht  mehr, 
wenn  Maria  frei  von  der  Erbsünde  geblieben  wäre  (S.  III  Q.  27). 
Allein  —  der  Scholastik  ist  ja  Alles  möglich  —  warum  kann  man  nicht 
annehmen,  dass  Christi  Tod  rückwirkende  Kraft  für  Maria  gehabt  habe? 
Ferner  —  die  Erbsünde  ist  ja  eine  blosse  privatio  ?  Warum  kann  Gott 
nicht,  der  Alles  kann,  Maria  von  Anfang  an  mit  der  Gnade  erfüllen  ? 
Und  ist  diese  Erfüllung  nicht  nothwendig,  wenn  sie  später  nicht  nur  eine 
passive,   sondern   eine   active  Rolle  bei  dem  Erlösungswerk  spielen 


*  Die  Geschichte  der  Marienverehrung  ist  durchgängig  eine  Geschichte,  in  der 
die  superstitiöse  Gemeinde-  und  Mönchsreligion  aus  ihren  dunklen  Gründen  nach 
Oben  gewirkt  und  die  Theologie,  welche  sich  zögernd  unterwarf,  bestimmt  hat; 
aber,  genau  betrachtet,  gilt  dies  fast  von  allen  specifisch  abendländischen  katholi- 
schen Praktiken  und  Lehren.  Die  Tzrj.puoooi<;  a-j-pa^o?,  die  Tradition,  welche  jetzt  als 
die  päpstliche  in  Ansprucli  genommen  wird,  die  semper,  ubique  et  apud  omnes  ge- 
wesen ist,  ist  —  die  gemeine  Superstition ,  das  Heidenthum.  In  diesem 
»Sinn  kann  man  den  katholischen  Satz  nicht  bestreiten,  dass  die  römische  Kirche 
die  Kirche  der  stabilen  und  doch  zugleich  lebendigen  Tradition  ist.  Stabil  ist  diese 
Tradition,  weil  die  aus  Furcht  und  Sinnlichkeit  zusammengesetzten  niederen  reli- 
giösen Tn^tincte  stabil  sind,  lebendig,  weil  die  Theologie  schrittweise  diese 
Instincte  durch  ihre  Künste  legitimirt  hat.  Die  Litteratur  über  die  Mari«niverehrung 
s.  Bd.  TI  S.  451  und  Reusch,  Theol.  Lit.-Ztg.  1887  No.  7. 

*  Nach  der  Angabe  eines  Mönches  hat  Bernhard,  der  ihm  im  Traume  erschienen, 
seine  Bedenken  gegen  die  unbefleckte  Empfängniss  bereut  und  revoeirt  (s.  Werner 
IT  S.  :U9  f.). 


560     Oeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bis  zum  16.  Jahrh. 

sollte  (s.  siib  2)?  So  hielt  es  denn  Scotus  für  „probabile",  dass  Maria 
sündlos  enipCan^en  sei,  also  die  concupiscentia  carnis  nie  besessen  habe 
(in  Sent.  II i  Dist.  3  Q.  1).  Seitdem  sind  die  Franciskaner  mit  Energie 
gegen  die  Dominikaner  (Thomisten)  für  diese  AulVassung  eingetreten. 
Die  „rückwirkende  Kraft  der  Erlösung"  wurde  das  Feigenblatt  auf  den 
Abfall  von  (yhristus,  und  —  um  in  der  Kunstsj)rache  zu  reden  —  „ihre 
Praeservation  von  der  (Jontraetion  der  Erbsünde  hat  ihren  Angemessen- 
heitsgrund  darin,  dass  der  Mittler  (Jhristus  sich  an  irgend  einer  Men- 
schencreatur,  die  hierfür  vor  allen  anderen  geeignet  war  (also  meritum 
de  congruo  der  Maria,  ex  praescientia  erkannt),  in  vollkommenster 
Weise  als  Mittler  erweisen  sollte.  Die  vollkommenste  Art 
der  Mediation  ist  diese,  durch  welche  der  Beleidigte  in  solcher  Art  prae- 
venirt  wird,  dass  er  gar  nicht  über  die  ihm  zugefügte  Beleidigung  zu 
zürnen  beginnt,  und  somit  eine  Verzeihung  als  überflüssig  ent- 
fällt" '.  Diese  Begründung  ist  ausserordentlich  lehrreich-,  denn  sie  ent- 
hält implicite  das  Eingeständniss,  dass  Christus  nicht  der  vollkommene 
Erlöser  aller  Menschen  ist,  sondern  ihnen  nur  die  Möglichkeit  der 
Erlösung  begründet.  Das  ist  katholisch  richtig  gedacht;  aber  man 
pflegt  es  dort  nicht  deutlich  auszusprechen,  ja  scheut  sich  mit  gutem 
Grund  aufs  ernstlichste  davor.  Thomisten  und  Scotisten  wetteiferten 
in  der  Verb  errhchung  der  Maria;  aber  jene  feierten  an  ihr  die  Kraft  und 
den  Glanz  der  Gnade,  die  da  läutert  und  reinigt,  diese  feierten  die  Gnade, 
die  ab  origine  selbst  die  Innocenz  verleiht.  Aber  wenn  sie  das  vermag, 
warum  thut  sie  es  nicht  immer  ?  Es  scheint  also  doch  nicht  auf  eine 
Verherrlichung  der  Gnade  abgesehen  zu  sein.  Gewiss  nicht.  „Erst  mit 
dem  Vorhandensein  einer  durch  die  Erlösungsgnade  gewirkten  voll- 
kommenen Innocenz  ist  auch  eine  vollständige  Repräsentation  aller 
Rangstufen  der  Menschenbeseeligung  gegeben.  Die  oberste 
Stufe  ist  repräsentirt  durch  die  Seligkeit  der  Seele  Christi,  welche 
schlechthin  ohne  vorausgehendes  Verdienst  schon  auf  Erden  selig  war ; 
sodann  folgt  die  hl.  Jungfrau,  deren  selig  machen  des  Verdienst 
ihre  durch  die  Erlösungsgnade  gewirkte  vollkommene 
Innocenz  war;  in  dritter  Reihe  stehen  diejenigen,  deren  Seelen  nie- 
mals durch  actuelle  Sünden  befleckt  wurden;  zuletzt  folgen  diejenigen, 
welche  aus  schweren  Sündern  Heilige  geworden  sind"  -.    In  diesem  abge- 

'  III  Dist.  3  Q.  1  n.  4  sq.    Werner  I  S.  460. 

2  III  Dist.  3  Q.  1  n.  7.  12.  Werner  I  S.462.  Ueber  die  Haltung  der  späteren 
Scotisten  a.  a.  O.  II  S.  347  f.  Man  nahm  eine  doppelte  Heiligung  der  Maria  an,  die 
erste  mit  dem  Moment  ihres  Empfangenwerdens  (Auslöschuntr  der  Erbsünde,  also 
des  fernes  peccati),  die  zweite  mit  dem  Moment  ihres  Empfangens  (inipossibilitas 
peccandi).  Occam  nalun  diese  doppelte  Heiligung  auch  an,  setzte  aber  ihre  Wir- 
kungen herab,  weil  er  das  peccatum  originis  selbst  nicht  sehr  hoch  schätzte. 


Die  Lehre  von  der  Maria.  561 

stuften  Chorus  ist  augenscheinlich  nicht  die  Gnade  das  Wirksame,  son- 
dern das  Verdienst.  Hier  verknüpfte  sich  wiederum  die  Vorstellung  der 
consilia  evangelica  mit  der  Seligkeit.  Der  grosse  Streit  über  die  unbe- 
fleckte Empfängniss  wurde  im  Mittelalter  bekanntlich  nicht  ausgefochten. 
Aber  die  Universität  Paris  verdammte  die  Verwerfung  der  neuen  Lehre 
(1387);  zu  Basel  trat  das  „Reformconcil"  für  sie  ein  (36.Sess.  1439); 
und  SixtusIV.  (Extravag.  III,  12, 1)  bereitete  ihre  Annahme  als  Dogma 
vor,  indem  er  die  Beurtheilung  derselben  als  Ketzerei  unter  der  Strafe 
des  Bannes  verbot,  dabei  aber  der  Welt  erklärte,  dass  der  apostolische 
Stuhl  noch  nicht  entschieden  habe^  d.  h.  über  den  Widerspruch  der 
Dominikaner  zur  Zeit  noch  nicht  hinweggehen  könne.  Diese  konnten 
nicht  ohne  Grund  darauf  hinweisen,  dass  sie  selbst  die  denkbar  höchste 
Verehrung  der  Maria  verbreiteten,  da  ihr  grosser  Lehrer  sie  gelehrt 
liabe,  der  hl.  Jungfrau  zwar  nicht  Latreia  wie  Gott,  aber  auch  nicht 
nur  Duleia  wie  den  Heiligen \  sondern  Hyperduleia  zu  zollen^. 

2.  Schon  von  Irenäus  her  war  durch  die  fatale  Parallele  zwischen 
Eva  und  Maria  der  Anlass  gegeben,  der  Maria  einen  gevASsen  Antheil 
am  Erlösungswerk  beizumessen ;  von  der  Vorstellung  der  abgestuften 
Hierarchie  der  Engel  und  Heiligen  im  Himmel  aus  war  der  Anstoss 
gegeben,  Maria  als  die  Himmelskönigin  neben  Christus  zu  verehren 
(media  inter  filium,  qui  est  sanctus  sanctorum,  et  alios  sanctos;  virgo 
regia ;  ianua  coeli ;  via ;  peccatorum  scala ;  die  ausschweifendste  Ver- 
ehrung schon  bei  Bernhard  in  den  Sermonen,  II  in  adv.  dorn.:  „atude- 
amus  et  nos  ad  ipsum  per  eam  ascendere,  qui  per  ipsam  ad  nos  de- 
scendit;  per  eam  venire  in  gratiam  ipsius,  qui  per  eam  in  nostram  mise- 
riam  venit;  per  te  accessum  habeamus  ad  filium,  o  benedicta  inventrix 
gratiae,  genetrix  vitae,  mater  salutis,  ut  per  te  nos  suscipiat,  qui  per  te 
datus  est  nobis.  Excusat  apud  ipsum  integritas  tua  culpam  nostrae 
corruptionis  .  .  .  copiosa  Caritas  tua  nostronim  cooperiat  magnitudinem 
peccatorum,  et  foecunditas  gloriosa  foecunditatem  nobis  conferat  merito- 
rum;  domina  nostra,  mediatrix  nostra,  advocata  nostra,  tuo  filio  nos 
reconcilia,  tuo  filio  nos  commenda,  tuo  filio  nos  repraesenta!  fac,  o 

^  üeber  die  Heiligen-  und  Rcliquienverelirung  sind  l)epondoro  Nachweise  nicht 
nöthig,  da  die  Scholastik  der  schon  von  alten  Zeiten  herrschenden  Praxis  nnd 
Theorie  nichts  von  Belanor  hinzugefügt  liat.  Die  Lehre  von  den  Heiligen  ist  mit  der 
L^hre  von  den  consiliis  aufs  engste  verknlij)ft.  Dielntercession  der  Heiligen  wurde 
aus  der  Idee  des  Zusammenhanges  der  irdischen  und  himmlischen  Kirclu;  begründet; 
iilK-r  ihre  merita  s.  die  Lehre  vom  Ahlass.  Thomas  ist  auch  hier  d(!r  massgel)ende 
iJoctor  gewesen  und  hat  durch  seine  Lehre  von  den  Verdiensten  der  Heiligen  dem 
IVlagianismus  der  Scotisten  vorgear])eitet. 

''  Thomas,  S.  TTI  Q.  25  Art.  5.    Dem  Kreuze  und  dem  Bilde  Cliristi  hat  Tho- 
maH  die  Latrie  zugesprochen,  ITT  (^.  25  Art.  3  u.  4;  s.  auch  II,  1  Q.  103  Art.  4. 
Harnack,  Dogmengeschichtf  IM.  o^ 


562     Oeschichte  des  Dogmas  im  Zeitalter  der  Bettelorden  bia  zum  16.  .Tahrh. 

benedicta,  per  gratiam  quam  invenisti  .  .  .  ut  qui  te  mediante  fieri  dig- 
iiatus  est  particeps  iiitirniitatis  et  miseriae  nostrae,  te  quoque  interce- 
dente  participes  laciatiios  gloriae  et  beatitudinis  suae)"  K  Von  hier  aus 
war  nur  ein  Schritt  zu  der  Lehre  des  Scotus  und  der  Scotisten,  dass 
Maria  niclit  nur  passiv,  sondern  activ  bei  der  Incarnation  mitgewirkt 
habe  *. 


*  Bernhard  variirt  auch  gern  den  Gedanken,  dass  der  Sohn  die  Mutter  hören 
wird,  der  Vater  den  Sohn.  „Haec  peccatorum  scala,  haec  mea  maxima  fiducia  est, 
liaec  tota  ratio  s[)ei  nieae."  Der  Solm  kann  die  Mutter  nicht  überhören-,  denn  das 
„invenisti  gratiam  ai)ud  deuni"  dauert  noch  fort.  Diese  Gedanken  sind  in  succum 
et  sanguincm  des  Katholicismus  übergegangen ;  die  Franciskaner  verbreiteten  sie 
besonders. 

'-*  Ueber  die  Begründung  s.  Werner  I  S.  433  f.  435  ff.  IT  352  ff.  Bei  Duns 
hängt  die  Vorstellung  mit  seinen  allgemeinen  zoologischen  Vorstellungen  zusammen; 
doch  hat  sie  ihm  auch  selbständige  Bedeutung. 


i 


Zweiter  Theil: 

Die  Ent Wickelung  des  kirchlichen  Dogmas. 


Drittes  Buch: 
Der  dreifache  Ausgang  der  Dogmengeschichte. 


36 


Also  lial)en  dio  Sophisten  Chriatuiu 
gemalot,  wie  er  Mensch  und  Gott  sei, 
zählen  seine  Beine  und  Arm,  mischen 
seine  beiden  Natuien  wunderlich  in  ein- 
ander, welches  denn  nur  eine  sophistische 
Erkenntniss  des  Herrn  Christi  ist.  Denn 
Christus  ist  nicht  darumb  Christus  ge- 
nennet, dass  er  zwo  Naturen  hat.  Was 
gehet  mich  dasselbige  an?  Sondern  er 
traget  diesen  herrlichen  und  tröstlichen 
Namen  von  dem  Ampt  und  Werk,  so  er 
auf  sich  genommen  hat;  dasselbige  giebt 
ihm  den  Namen.  Dass  er  von  Natur 
Mensch  und  Gott  ist,  das  hat  er  für 
sich;  aber  dass  er  sein  Ampt  dahin  ge- 
wendet und  seine  Liebe  ausgeschüttet, 
und  mein  Heiland  und  Erlöser  wird,  das 
geschieht  mir  zu  Trost  und  zu  Gut. 

Luther,  Erlang.  Ausg.  XXXV.  S.  207  f. 

Adversarii,  quum  neque  quid  remissio 
peccatorum,  neque  quid  fides  neque  quid 
gratia  neque  quid  iustitia  sit,  intelligant, 
misere  contaminant  locum  de  iustificatione 
et  obscurant  gloriam  et  beneficia  Christi 
et  eripiunt  piis  conscientiis  propositas 
in  Christo  consolationes. 

Apologia  confessionis  IV  (ii)  init. 


Erstes  Capitel :  GescMclitliche  Orieatirung. 

In  dem  4.  Abschnitt  des  4.  Capitels  (S.  200  ff.  dieses  Bandes)  ist 
gezeigt  worden,  dass  Augustin  das  überkommene  Dogma  einerseits 
verstärkt,  d.  h.  die  autoritative  Geltung  desselben  als  des  wichtigsten 
Besitzes  der  Kirche  erhöht,  es  aber  andererseits  vielfach  erweitert  und 
umgeprägt  hat.  Jenes  Dogma,  welches  in  seiner  Conceptionund  in  seinem 
Ausbau  ein  Werk  des  griechischen  Geistes  auf  dem  Boden  des 
Evangeliums  ist  (s.  Bd.  1  S.  18  u.  ff.),  ist  bestehen  gebUeben  —  wenn 
man  an  das  Dogma  dachte,  dachte  man  an  die  von  Gott  geoffenbarte, 
in  unabänderhchen  Lehrsätzen  niedergelegte,  alles  christHche  Leben 
bedingende  übernatürhche  Erkenntniss  — ,  aber  in  dasselbe  sind  von 
Augustin  die  Principien  der  christlichen  Lebenserfahrung,  wie  er  sie 
als  Sohn  der  katholischen  Kirche  und  als  Schüler  des  Paulus  und  der 
Platoniker  gemacht  hatte,  wundersam  eingeflochten. 

Die  innere  Geschichte  der  abendländischen  Christenheit  im  Mittel- 
alter ist  durch  diesen  Ansatz,  der  grundlegend  fortgewirkt  hat,  bestimmt 
worden.  Wir  haben  gesehen,  dass  kein  wesenthch  neues  Element  in 
dem  Jahrtausend,  welches  zwischen  Augustin  und  dem  15.  Jahrhundert 
liegt,  nachzuweisen  ist.  Allein  das  Thema,  welches  Augustin  angegeben 
hat,  ist  doch  nicht  nur  in  hundertfacher  Wiederholung  reproducirt  und 
variirt  worden,  vielmehr  hat  eine  wirkliche  Entwickelung  stattgefunden. 
Alle  Elemente  jenes  Themas  haben  eine  Geschichte  erlebt^  sie  sind 
verstärkt  worden.  Eben  desshalb  musste  eine  Krisis  heraufziehen. 
Die  Einheit,  in  welcher  bei  Augustin  das  Dogma,  die  Ansprüche  des 
Verstandes,  die  Rechtsordnungen  des  Kirchenthums  und  die  Principien 
dgs  individuellen  christlichen  Lebens  gestanden  haben ,  wurde  gestört 
und  unhaltbar.  Jene  Ansprüclie  und  diese  Reclitsordnungen  und  Prin- 
cipien offenbarten  mehr  und  mehr  eine  centrifugale  Kraft  und  stellten 
in  ihrem  Erstarken  den  Anspruch  auf  Alleinherrschaft.  Zwar  hat  noch 
der  grösste  Scholastiker,  Thomas,  die  ungeheure  Aufgabe  zu  lösen 
unternommen,  unter  dem  Titel  und  im  Rahmen  einer  kirchlichen  Dog- 
matik  allen  Ansprüchen  zu  genügen,  die  das  im  Dogma  verkörperte 
kirchliche  Alterthum,  die  Idee  der  Kirche  als  des  lebendigen,  gegen- 
wärtigen  Christus,   die   Rechtsordnung   der   römischen   Kirche,   die 


5H8  Geßchichtliche  Orientirunfr. 

Gnadenlehre  Aiigustin's,  die  Wissenschaft  des  Aristoteles  und  die 
hernhardinisch-franciskanische  Frömmigkeit  stellten.  Aber  das  grosse 
Werk  dieses  neuen  Augustinus  hat  doch  nicht  den  Erfolg  gehabt,  die 
S[)annungen  der  wider  einander  stehenden  Kräfte  zu  lösen  und  eine  be- 
friedigende Einheit  zu  schaffen.  Sofern  es  auf  diese  Wirkung  angelegt 
war,  war  das  Unternehmen  ein  vergebliches,  ja  es  hatte  theilweise  den 
entgegengesetzten  Erfolg.  Der  Reichthum  des  in  ihm  niedergelegten 
Materials  diente  nur  dazu,  alle  die  Mächte,  die  in  der  Einheit  des 
Ganzen  gebändigt  werden  sollten,  erst  recht  zu  verstärken.  Die  Ver- 
standeskritik des  Nominalismus  ist  bei  Thomas  ebenso  in  die  Schule 
gegangen  wie  die  Mystik  Eckhart's  und  der  „Vorreformatoren",  und 
wenn  er  unzweifelhaft  den  Grund  zu  den  ausschweifendsten  Theorien 
der  Curialisten  gelegt  hat,  so  hat  er  doch  andererseits  die  Erinnerung 
an  jenes  augustinische  Wort  verstärkt,  dass  es  sich  in  der  Religion  aus- 
schliesslich um  Gott  und  um  die  Seele  handelt. 

Es  ist  eine  schwere,  kaum  lösbare  Aufgabe,  den  inneren  Zustand 
der  christlichen  Religion  im  Abendland  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
mit  wenigen  charakteristischen  Strichen  zu  zeichnen;  denn  das  Bild, 
welches  diese  Zeit  bietet,  ist  fast  so  complicirt,  wie  das,  welches  das 
2.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  aufweist  •.  Für  unsere  Zwecke 
muss  es  nach  dem  im  vorigen  Buche  Ausgeführten  genügen,  die  wich- 
tigsten Strömungen  in  ihrem  Verhältniss  zum  Dogma  kurz  zu 
kennzeichnen. 

1.  Der  Curialismus.  Um  1500  war  eine  grosse  Partei  vorhanden, 
die  das  Kirchenwesen  und  die  Religion  lediglich  wie  eine  äussere  Herr- 
schaft behandelte  und  mit  den  Mitteln  der  Gewalt,  der  Büreaukratie 
und  eines  drückenden  Steuersystems  aufrechtzuerhalten  und  zu  erweitern 
versuchte.  Die  Völker  urtheilten,  dass  der  Hauptsitz  dieser  Partei  in 
Rom  selbst,  beim  päpstlichen  Hofe,  zu  suchen  sei,  und  sie  hatten  das 
Bewusstsein,  dass  die  Verweltlichung  der  Kirche,  die  zu  einer  schweren 
Last  —  nicht  nur  der  Gewissen,  sondern  aller  tüchtigen  Kräfte  des 
Lebens  und  aller  Ideale  —  geworden  war,  von  Rom  aus  ohne  Scheu 
und  Scham  betrieben  würde.  Es  ist  gleichgiltig,  ob  sich  unter  denen, 
welche  an  dieser  Art  die  Kirche  Christi  zu  bauen  betheiligt  waren,  auch 
solche  befanden,  die  sich  im  Herzen  ein  innerHches  Verhältniss  zu  der 
Sache,  unter  derem  Aushängeschild  sie  arbeiteten,  bewahrt  hatten ;  denn 
es  kommt  hier  allein  auf  die  Wirkungen  an,  die  sie  mit  veranlasst 
haben.   Für  diese  Partei  der  Kirchenpolitik  gab  es  im  Grunde  nur  ein 

^  Vgl.  die  Einleitungen  zur  Reformationsgeschichte  von  Kolde  (Luther), 
V.  Bezold  und  Lenz  (Luther)  sowie  Müller 's  Bericht  in  den  Vorträgen  der 
(rjessener  Theol.  Conferenz  1887. 


Der  Curialismus.  567 

Dogma,  dass  die  Gewohnheiten  der  römischen  Kirche  die 
göttliche  Wahrheit  seien.  Das  alte  Dogma  hatte  nur  insofern 
Werth  und  Bedeutung,  als  es  eben  mit  zu  den  Gewohnheiten  der 
römischen  Kirche  gehörte.  Damit  ist  schon  ausgesprochen,  dass  diese 
Partei  das  stärkste  Interesse  daran  hatte,  die  modernen  Entscheidungen 
und  Entschlüsse  der  Curie  dem  alten  Dogma  dem  Werthe  und  der 
Autorität  nach  völlig  gleichzustellen.  Wie  es  ihr  einerseits  nie  in  den 
Sinn  kommen  konnte,  irgend  etwas  Autoritatives  wieder  aufzulösen 
(wurde  eine  alte  üeberHeferung,  ein  Schriftwort  oder  eine  dogmatische 
Unterscheidung  unbequem,  so  war  durch  die  neuaufgekommene  Regel, 
dass  nur  die  Kirche  d.  h.  Eom  das  Recht  der  Auslegung 
bab  e ,  jede  unliebsame  Folge  abgeschnitten),  so  musste  sie  andererseits 
dafür  sorgen,  dass  die  Völker  sich  an  die  exorbitante  Neuerung  ge- 
wöhnten, päpstHche  Entscheidungen  so  heihg  zu  halten  wie  die  Be- 
schlüsse der  grossen  Concilien.  Bis  zu  einem  gewissen  Masse  war 
bereits  um  1500  dieses  quid  pro  quo  gelungen,  jedoch  noch  längst  nicht 
vollkommen.  Aber  nach  dem  unglücldichen  Verlauf  der  Concilien- 
Periode  (Constanz,  Basel)  waren  die  Gemüther  ermüdet  und  rathlos. 
Auch  die  Concilien  hatten  versagt  oder  waren  unwirksam  gemacht 
worden;  irgendwo  musste  aber  doch  ein  fester  Punkt  zu  finden  sein. 
Also  gelang  es  den  Romanisten,  Vielen  wieder  einzureden,  dass  er 
doch  und  ausschliesslich  in  Rom  liege  ^  Dazu  Hessen  die  Fürsten,  ledig- 
lich auf  weltliche  Beherrschung  ihrer  Landeskirchen  bedacht,  die  Curie 
in  unverantwortlicher  Weise  auf  den  Gebieten  des  Glaubens,  der  Sitten 
und  der  Kirchenpraktiken  gewähren  und  bestärkten  so  ihrerseits  das 
Vorurtheil  in  Bezug  auf  die  reHgiöse  (dogmatische)  Unfehlbarkeit  und 
Souveränetät  des  römischen  Stuhls.  Selbstverständlich  konnte  es  nicht 
im  Interesse  der  Curie  liegen,  die  päpstlichen  Entscheidungen  als  heilige 

*  S.  die  Bulle  Pius' II.  „Execrabilis"  vom  Jahr  1459  (Den zinger,  Enchiridion 
5.  Aufl.  S.  184):  „Execrabilis  et  pristinis  temporibus  inauditus  tcmpestate  nostra 
inolevit  abusus,  ut  a  Romano  Pontifice,  Jesu  Christo  vicario  ....  nonnulli  spiritu 
rebellionis  imbuti,  non  sanioris  cupiditate  iudicii,  sed  commissi  cvasione  peccati  ad 
futurum  concilium  provocare  pracsumant  .  .  .  Volcntes  igitur  hoc  postiferum  virus 
a  Christi  ccclesia  procul  pellere  et  ovium  nobis  commissarum  sahiti  consulere,  om- 
nemque  matcriam  scandali  ab  ovili  nostri  salvatoris  arcere  ....  huiusmodi  provo- 
cationes  damnamus  et  tamquam  erroneas  ac  detestabiles  reprobamus."  Bulle Leo's  X. 
„Pastor  acternus'*  vom  Jahr  1516  (Den zinger  8.  187):  „Solum  Romanum  Ponti- 
ficem  pro  temi)ore  existentem  tamquam  auctoritatem  super  omnia  concilia  habentem, 
tarn  conciliorum  indicendorum  transferendorum  ac  dissolvendorum  plenum  ius  ac 
potestatcm  habere,  nedum  ex  sacrae  scripturac  testimonio,  dictis  sanctorum  patrum 
ac  aliorum  Romanorum  Pontificum  ctiam  pracdecessorum  nostrorum  sacrorumquo 
canonum  decretis,  sed  propria  etiam  eorumdcm  conciliorum  confeesione  manifeste 
constat." 


568  Geschichtliche  Orientirung. 

Sammlung  zu  codißciren  und  als  kirchliches  Rechtsbuch  neben  das  alte 
JJo^ma  zu  stellen;  denn  damit  hiitte  man  der  Meinung,  die  man  be- 
kämpfen wollte,  nur  Vorschub  geleistet,  als  sei  der  Papst  an  einen  fest- 
geschlossenen dogmatischen  Kanon  gebunden.  Vielmehr  suchte  man 
die  Völker  daran  zu  gewöhnen,  in  den  ad  hoc  erlassenen  päpstHchen 
Anweisungen  jedesmal  die  nöthigen,  allen  Streit  beendigenden  Ent- 
scheidungen zu  erkennen.  Eben  desshalb  war  es  der  Curie  nur  erwünscht, 
wenn  in  vielen  schwebenden  dogmatischen  und  kirchenpolitischen  Fragen 
eine  gewisse  Unsicherheit  bestehen  blieb:  eine  solche  Hess  sie  mit 
Absicht  überall  fortdauern,  wo  eine  sichere  Entscheidung  nicht  zu 
erreichen  war  ohne  einen  empfindlichen  Widerspruch  hervorzurufen. 
Auch  hatte  man  längst  die  Erfahrung  gemacht,  dass  sich  im  Trüben 
besser  fischen  lasse,  und  dass  es  leichter  ist,  unsichere  Gemüther  zu 
regieren  als  solche,  die  eine  klare  Anschauung  von  dem  besitzen,  was 
in  der  Kirche  giltig  ist  und  zu  Recht  besteht. 

Hiermit  hing  es  aufs  engste  zusammen ,  dass  man  in  Rom 
mehr  und  mehr  die  Vortheile  einsah,  welche  die  einst  gefürchtete 
nominalistische  Scholastik  dem  Kirchenwesen  gewährte.  Eine 
Theologie,  welche,  wie  die  thomistische,  darauf  ausging,  den  Gläu- 
bigen eine  innere  Ueberzeugung  von  den  Dingen  zu  verschaffen, 
die  sie  glauben  sollten,  vermochte  allerdings  auch  der  Kirche  grosse 
Dienste  zu  leisten,  und  diese  kann  sie  niemals  ganz  entbehren,  so 
lange  sie  nicht  über  eine  schrankenlose  äussere  Gewalt  verfügt.  Allein 
jede  Theologie,  welche  darauf  angelegt  ist,  innere  Ueberzeugungen 
zu  erwecken  und  eine  Einheit  des  Denkens  herzustellen,  wird  in  irgend 
welchem  Masse  ihre  Schüler  auch  zur  Kritik  des  Bestehenden  anlei- 
ten und  daher  einem  Kirchenwesen  gefährlich  werden,  welches  sich 
jede  Controle  seiner  Gewohnheiten  verbittet.  Anders  die  nominahstische 
Scholastik.  In  einer  mehr  als  150jährigen  Entwickelung  war  sie  bis 
zu  dem  Punkt  gekommen,  die  Irrationalität,  das  —  menschhch  an- 
gesehen —  Zufällige  und  Arbiträre  auch  der  wichtigsten  kirchUchen 
Lehren  darzuthun.  War  an  diesem  grossen  kritischen  Process  auch 
ein  Glaubensinteresse  betheiligt  (s.  oben  S.  430),  so  war  doch  die 
deutlichste  Folge  desselben,  dass  man  sich  entschlossen  der  Autorität 
der  Kirche  in  die  Arme  warf:  die  Kirche  muss  wissen,  was  der 
Einzelne  niemals  wissen  kann,  und  ihr  Verständniss  reicht  weiter  als 
der  Verstand  der  Gläubigen.  Dass  dieses  Ergebniss  den  Curiahsten 
willkommen  sein  musste,  leuchtet  ein;  war  doch  Innocenz  IV.  mit 
der  Behauptung  vorangegangen,  dass  der  Laie  sich  mit  dem  Glauben 
an  den  vergeltenden  Gott  begnügen  könne,  wenn  er  nur  der  Kirche 
gehorsam  sei.    Sie  hatten  also  nichts  gegen  jene  fides  impliciüi  ein- 


Der  Curialismus.  569 

zuwenden,  die  nichts  Anderes  ist  als  blinder  Gehorsam,  und  ihnen 
musste  namentlich  auch  die  Auflösung  der  augustinischen  Gnaden- 
lehre bequem  sein,  welche  der  Nominalismus,  die  Wunder  der  Sacra- 
mente  und  das  Verdienst  betonend,  vollzogen  hatte.  Aber  wer  glaubte 
denn  eigenthch  noch  an  die  Dogmen  und  suchte  auf  Grund  seines 
Glaubens  das  Leben?  Thörichte  Frage!  Das  eben  ist  im  Sinne 
des  consequentesten  Romanismus  —  sofern  er  sich  überhaupt  zur 
Frage  des  Heils  aufschwingt  —  der  Vorzug  der  christlichen  Religion 
vor  allen  anderen,  dass  sie  ein  System  ist,  welches  als  Apparat 
unter  leicht  zu  beschaffenden  Bedingungen  die  Heiligung  des  Lebens 
bis  zur  GottwohlgefäUigkeit  und  Verdienstlichkeit  hin  erzeugt.  Der 
Glaube,  wie  er  stets  im  Katholicismus  als  ein  nur  Vorläufiges  ge- 
golten hat,  ist  hier  zu  der  Unterstellung  unter  den  Apparat  zusam- 
mengeschrumpft. In  den  letzten  Zeiten  vor  der  Reformation  haben 
Manche  von  denen,  welche  die  Maschine  in  Rom  bedienten,  auch  ein 
humanistisches  Lächeln  auf  den  Lippen  gehabt;  aber  zu  einem  kräf- 
tigen Spott  ist  es  nie  ausgeschlagen;  denn  zu  bequem  war  das  System, 
welches  man  sich  gebaut  hatte,  und  zu  gedankenlos  waren  die,  welche 
es  in  Kraft  erhielten,  als  dass  man  je  aus  dem  Scherz  Ernst  gemacht 
hätte. 

Dass  diese  ganze  Haltung  auch  eine  Weise  war,  das  alte  Dogma 
zu  begraben,  unterliegt  keinem  Zweifel;  nicht  minder  unzweifelhaft 
ist  es,  dass  sich  hier  ein  Element  —  freilich  in  erschreckender  Conse- 
quenz  —  entwickelt  hat,  was  in  den  Anfängen  des  abendländischen 
Katholicismus  angelegt  gewesen  ist'.  Augustin  hat  sich  einst  der 
Autorität  der  Kirche  in  die  Arme  gestürzt^  und  das  „credere"  im 
Sinne  der  blinden  Unterwerfung  unter  das,  was  die  Kirche  lehrt,  für 
den  Ausgangspunkt  des  inneren  Processes  eines  Christenlebens  er- 
klärt. Aber  welchen  Reichthum  christlicher  Erfahrung  hat  er  mit- 
gebracht, und  wie  hat  er  es  verstanden,  sich  in  seiner  Kirche  heimisch 
zu  machen!    Das  war  nun   abgefallen,   oder  es  war  gleichgiltig  ge- 

*  Es  ist  an  früheren  Stellen  melirfaeh  darauf  hingewiesen  worden,  wie  sich 
schon  bei  Tertulliau  die  Elemente  des  späteren  Katholicismus,  ja  selbstder  Scholastik, 
ankündigen.  Es  wäre  eine  schöne  Aufgabe,  alles  Material,  welches  hierher  gehört, 
zusammenzustellen  und  zu  würdigen:  Tcrtullianus  doctorum Romanorum  praecursor. 
Wund(;rbar,  dass  der  urchristlichstc  unter  den  altkatholischen  Vätern  zugleich  der 
modernste  gewesen  ist! 

2  Er  selbst  hat  freilich  noch  nicht  ahnen  können,  welchen  entsetzlichen  Aber- 
glauben man  einst  unter  den  Schutz  seines  verhängnissvollen  Satzes  stellen  werde : 
„Quod  univer«a  frequentat  ecclcsia,  quin  ita  faciendum  sit,  disputare  insolentissimae 
insaniae  est"  (ep.  54  ad  .Januar.),  und  wie  leicht  man  es  sich  mit  dem  Nachweis  des 
allgemeinen  usus  der  Kirche  machen  werde. 


570  Geßchichtlic'he  Orientirimg. 

worden.  Gehorchen  und  sich  erziehen  lassen;  aber  die  Erziehung 
besorgt  das  Sacranient,  besorgen  die  lächerlich  geringen  Opfer,  welchen 
die  Kirche  den  Werth  von  sittlichen  Leistungen  zu  geben  vermag. 
Das  Dogma  im  alten  Sinn  des  Worts  als  der  fest  umschriebene  In- 
halt dessen,  was  die  iiniere  Ueberzeugung  eines  Christen  ausmachen 
und  in  ihm  Leben  gewirmen  soll,  hat  daneben  keinen  Platz  mehr. 
Wie  es  durch  hundert  neue  Bestimmungen,  die  kaum  Einer  zu  über- 
sehen vermag,  belastet  ist  —  und  diese  neuen  Bestimmungen  zerfallen 
wieder  in  absolut  bindende,  in  bindende,  in  beschränkende,  in  pro- 
bable, in  zulässige  etc.,  je  nach  der  Form,  in  welcher  Rom  ge- 
sprochen hat  — ,  so  ist  es  auch  um  seine  directe  Bedeutung  ge- 
kommen. Es  ist  die  Rechtsordnung  der  römischen  Kirche,  aber 
eine  durch  immer  neue  arbiträre  Entscheidungen  immer  neu  sich 
gestaltende  Rechtsordnung :  für  den  Christen  genügt  es ,  sich  an  die 
Institutionen  zu  halten,  welche  dieselbe  hervorruft.  Hätte  diese 
Richtung  ungebrochen  den  Sieg  erlangt —  der  Sieg  schien  ihr  um  1500 
bereits  zu  winken  — ,  so  wäre  zwar  äusserlich  das  Dogma  bestehen  ge- 
blieben, innerlich  aber  wäre  sowohl  das  alte  Dogma  als  das  dogma- 
tische Clu'istenthum  überhaupt  dahingesunken,  um  einer  tieferen  Stufe 
der  Religionsbildung  Platz  zu  machen.  Denn  die  Weise,  in  welcher 
sich  der  Curialismus  über  das  Dogma  stellt,  lediglich  die  formelle 
Dignität  desselben  respectirend,  ist  nicht  aus  der  Freiheit  des  Christen- 
menschen geboren,  sondern  bezeichnet  nur  die  vollkommene  Ver- 
weltlichung  der  Religion  durch  Politik.  Das  „tolerari  potest"  der 
Curie  und  das  „probabile"  bezeugt  eine  noch  schhmmere  Verwelt- 
lichung der  Kirche  als  das  „anathema  sit".  Dennoch  steckte  selbst 
in  diesem  ganz  verweltlichten  Kirchenbegriff  noch  ein  Christliches, 
wenn  auch  der  Segen  desselben  damals  fast  ganz  entschwunden  war: 
es  war  der  Glaube  an  das  Reich  Christi  auf  Erden,  an  seine  Gegen- 
wart und  Herrschaft  inmitten  des  Irdischen  und  der  Sünde.  Li  diesem 
Glauben  w^aren  die,  welche  jede  Opposition  ernsthaft  abw^ehrten,  ihren 
Gegnern  überlegen;  denn  sie  fühlten,  dass  die  Männer  der  Oppo- 
sition eine  Kirche  von  unten  bauen  wollten,  nämlich  aus  der  Heilig- 
keit der  Christen.  Sie  vertraten  einen  religiösen  Gedanken,  indem 
sie  für  das  Reich  des  Papstes  eintraten,  oder  vielmehr:  sie  haben 
unfreiwillig,  indem  sie  das  Kirchenthum  gegen  die  Mystiker  und 
Husiten  schützten,  das  Recht  der  Ueberzeugung  conservirt,  dass  die 
Kirche  Christi  die  Herrschaft  des  Evangeliums  unter  sündigen  Men- 
schen ist. 

2.  Die    Opposition    gegen    den    Curialismus    wai*   nicht 
durch  einen  einheitlichen  Gedanken   zusammengehalten;    die  Motive 


Die  Opposition  ^egen  den  Curialismus.  571 

waren  vielmehr  sehr  verschieden,  welche  zur  Opposition  geführt  hatten. 
Politische,  sociale,  religiöse  und  wissenschaftliche  Beweggründe  leiteten 
die  Menschen;  allein  sie  trafen  in  dem  Satze  zusammen,  dass  die 
Gewohnheiten  der  römischen  Kirche  zur  Tyrannei  ge- 
worden seien,  und  dass  sie  das  Zeugniss  des  kirchlichen 
Alterthums  gegen  sich  hätten.  Im  Zusammenhang  mit  dieser 
Erkenntniss  wurden  die  Thesen  geltend  gemacht,  dass  päpstliche  Ent- 
scheidungen nicht  die  Bedeutung  von  Glaubenssätzen  haben,  dass 
Rom  nicht  allein  befugt  sei,  die  Schrift  und  die  Väter  auszulegen, 
dass  das  Concil,  welches  über  dem  Papst  stehe,  die  Kirche  an  Haupt 
und  Gliedern  reformiren  solle,  und  dass  die  Kirche  gegenüber  den 
dogmatischen,  kultischen  und  kirchenrechtlichen  Neuerungen,  die  von 
Rom  ausgegangen  seien,  zu  ihren  ursprünglichen  Grundsätzen  und 
dem  ursprünglichen  Zustande  zurückkehren  müsse.  Diese  Sätze  sind 
in  der  Zeit  vor  dem  Auftreten  Luther's  nicht  etwa  nur  von  Con- 
ventikeln,  Husiten  und  Waldensern  oder  wilden  Sectirern  vertreten 
worden;  sie  fanden  vielmehr  ihre  Vertheidiger  in  den  Reihen  der 
treuesten  Söhne  der  römisch-katholischen  Kirche.  Bischöfe,  theolo- 
gische Facultäten  und  Mönche  von  unzweifelhafter  Rechtgläubigkeit 
haben  sie  ausgesprochen,  und  Luther  hat  sich  mit  Fug  im  Beginn 
seines  reformatorischen  Auftretens  auf  sie  berufen  ^  Man  hielt  es  für 
sein  gutes  kathohsches  Recht,  auch  anders  lautenden  päpstlichen  Aus- 
sprüchen gegenüber  daran  festzuhalten,  dass  die  Grundlagen  der 
römisch-katholischen  Kirche  allein  in  der  Schrift  und  in  der  dogma- 
tischen üeberlieferung  des  kirchlichen  Alterthums  gegeben  seien  ^. 
Mit  einer  uns  heute  befremdlichen  Sicherheit  tritt  dieser  Standpunkt 
noch  in  der  Augsburgischen  Confession  hervor^;  man  wird  freilich 
nicht  leugnen  können,  dass  man  ihn  nach  dem,  was  bis  1530  geschehen 
war,  dort  nur  noch  aus  taktischen  Rücksichten  behaupten  konnte. 
Allein  auch  der  Kaiser  selbst  hat,  wie  wir  wissen,  denselben  Massstab 
angelegt:  in  der  Annahme  oder  Verwerfung  der  „zwölf  Artikel'^,  d.h. 
des  apostolischen  Symbols  in  altkirchliclier  Auslegung,  sah  auch  er 
die  Rechtgläubigkeit  oder  die  Häresie  ausgesprochen  *. 

*  Seit  1519,  8.  auch  seine  Rede  zu  Worms. 

^  Daher  auch  Luther's  Beruf uuf(  auf  die  Griechen,  die  doch  keine  Häre- 
tiker seien. 

'  Nach  dem  XXI.  Art,  hcisst  es:  „liaee  fere  summa  est  doctrinae  apud  suos, 
injjuaccrrii  potest  nihil  incssc,  quod  discrepet  a  scripturis  vcl  ab 
ecclesia  catholica  vel  ab  ecclesia  Komana,  quatenus  ex  scriptoribus 
nota  est." 

*  S.  die  Mittheihjnjrnn  Ap^ricola's  bei  Kawerau  (Johann  Agricola  1881)  S.  100: 
„Da  trug  sich's  zu  in  Vigilia  Joh.  Bapt.,  dass  der  Kaiser  Bankett  im  (i arten  hielt. 


572  Geschichtliche  Orientirung. 

Wie  haltlos  war  jedoch  dieser  Standpunkt,  und  wie  gedankenlos 
musste  man  sehi,  um  ihn  alles  Ernstes  zu  vertreten !  In  der  That,  nur  der 
Umstand,  dass  noch  keine  grössere  Krisis  seine  Schwäche  aufgedeckt 
hatte,  vermochte  darüber  zu  täuschen,  dass  er  hinialhg  geworden 
war ;  und  wie  der  Kaiser  selbst  schhesslich  nicht  nach  ihm  verfahren 
ist,  so  vermochte  ihn  Niemand  mehr  ohne  Correcturen  festzuhalten. 
War  denn  nicht  von  Augustinus  Zeiten  her  ein  ungeheurer  Stoff  von 
theologischen  Sätzen  und  christlichen  Erfahrungen  in  den  eisernen 
Bestand  der  abendländischen  Rehgion  übergegangen,  der  nie  authen- 
tisch fixirt  war  und  den  doch  Jedermann  als  zu  Recht  bestehend  an- 
erkannte? Wie  viele  Anordnungen  gab  es,  die  allgemein  als  heil- 
sam und  richtig  galten  und  doch  nur  auf  päpstlichen  Anweisungen 
oder  auf  dem  Herkommen  der  letzten  Jahrhunderte  beruhten!  Wie 
bereit  war  man  allerseits,  das  massgebende  Recht  des  Papstes  auf 
Interpretation  der  Schrift  und  der  Tradition  anzuerkennen,  wo  seine 
Kundgebungen  mit  dem  zusammentrafen,  was  man  selbst  für  richtig 
hielt!  Wie  unsicher  war  man  darüber,  inwiefern  das  Concil  über 
dem  Papste  stünde  und  was  ein  Concil  vermöge,  wenn  es  ohne  den 
Papst  handle  oder  sich  wider  ihn  auflehne !  Und  welche  Unsicher- 
heiten herrschten  darüber,  was  denn  eigentlich  reformirt  werden  solle, 
die  Missbräuche  oder  die  Gebräuche,  das  äussere  Kirchenwesen, 
d.  h.  die  Verfassung  und  die  Ceremonien,  oder  die  Sacramentsver- 
waltung  oder  das  christliche  Leben  oder  der  Begriff  der  Kirche  als 
des  von  Gott  gestifteten  Reiches,  in  welchem  Christus  herrscht. 
Man  kann  sich  dieses  Heer  von  Unsicherheiten  bereits  an  dem  Ver- 
halten Luther's  in  den  Jahren  1517 — 1520  klar  machen.  Obgleich 
er  damals  schon  das  Steuer  in  die  Hand  genommen  hatte  und  ihm  das 
Ziel  seiner  Fahrt  klar  geworden  war  —  welche  peinlichen  Wider- 
sprüche, Halbheiten  und  Unsicherheiten  bezeichnen  noch  in  jenen 
Jahren  seinen  Weg,  sobald  man  darauf  achtet,  was  er  damals  refor- 
miren  wollte,   und   wie  er  die  Competenzen  der  Kirche  beurtheilte! 


Da  ihn  nun  die  Königin  Maria  gefraget,  was  er  mit  den  Leuten  und  mit  der  überant- 
worteten Confession  zu  thun  gedächte,  darauf  er  geantwortet:  Liebe  Schwester,  da 
ich  bin  ausgezogen  ins  heilige  Reich,  das  ist  grosse  Klage  kommen  über  die  Leute, 
die  diese  Lehre  bekennen,  dass  sie  auch  ärger  sein  sollten  als  die  Teufel.  Aber  der 
Bischof  von  Sevilla  hat  mir  den  Rath  gegeben,  ich  wollte  ja  nicht  Tyrannei  üben, 
sondern  fleissig  erkunden,  ob  die  Lehre  streitig  wäre  mit  den  Artikeln  unseres 
christlichen  Glaubens.  Dieser  Rath  gefiel  mir.  So  befinde  ich,  dass  die  Leute  nicht 
so  teufelisch  sind,  wie  vorgebracht  ist,  es  betrift't  auch  nicht  die  12  Artikel,  sondern 
äusserlich  Ding,  darum  habe  ich's  auch  den  Gelehrten  übergeben.  Wenn  aber 
ihre  Lehre  streitig  mit  den  12  Artikeln  unseres  christlichen  Glaubens,  so  habe  ich  mit 
der  Schärfe  des  Schwerts  dazu  thun  wollen.** 


Die  Opposition  gegen  den  Curialismus.  573 

Konnte  er  doch  damals  fast  in  einem  Athem  die  Autorität  der  römi- 
schen Kirche  anerkennen  und  verwerfen,  dem  Papstthum  fluchen  und 
ihm  den  Gehorsam  ankündigen! 

Allein  was  in  sich  haltlos  und  voll  Widersprüchen  ist,  kann  doch 
eine  Macht  sein.  Jene  Opposition  gegen  den  Curialismus  um  1500 
war  eine  solche.  Man  würde  sich  jedoch  sehr  irren,  nähme  man  an, 
dass  die  Bestrebungen  der  Opposition,  die  das  kirchhche  Alterthum 
wider  die  Neuerungen  des  Curialismus  ausspielte,  auf  die  Gestaltung 
der  Lehre  im  Sinne  einer  bewussten  Rückkehr  zur  altkirchlichen 
Theologie  einen  nennenswerthen  Einfluss  ausgeübt  hätten  oder  auch 
nur  ausüben  wollten.  Ein  solcher  fehlte  fast  ganz,  weil  das  Zeit- 
alter überhaupt  ein  untheologisches  war.  Dieser  charak- 
teristische Zug,  der  den  zwei  letzten,  der  Reformation  vorangehenden 
Generationen  aufgeprägt  ist,  sich  übrigens  schon  früher  zu  entwickeln 
begonnen  hatte,  ist  bisher  bei  der  Würdigung  der  Reformation  noch 
wenig  zu  seinem  Rechte  gekommen.  Man  kann  es  kurz  sagen :  die  Theo- 
logie als  solche  war  um  1500  discreditirt ;  man  erwartete  nichts  von  ihr, 
und  sie  selbst  hatte  kein  rechtes  Vertrauen  mehr  zu  ihrer  Arbeit.  Viele 
Factoren  hatten  dazu  mitgewirkt.  Die  nominalistische  Scholastik  hatte 
gewissermassen  den  eigenen  Bankerott  erklärt  und  sich  in  Spitzfindig- 
keiten, für  welche  sie  die  aristotelische  Philosophie  systematisch  miss- 
brauchte, begraben.  Der  Humanismus  wandte  sich  mit  Klagen  oder  mit 
Spott —  in  beiden  Fällen  freilich  auf  Grund  einer  höchst  oberflächlichen 
Kritik  —  von  der  Theologie  ab.  Die  Frommen,  mochten  sie  nun  so 
fromm  sein  wie  Erasmus  oder  so  fromm  wie  Staupitz,  suchten  das 
Heilmittel  für  die  kranke  Zeit  nicht  in  der  Theologie,  sondern  noch 
immer  in  dem  mystischen  Transcendiren  und  in  der  Gleichgiltigkeit 
gegenüber  den  Weltzuständen,  die  den  körperlichen  Menschen  um- 
geben, also  bei  dem  hl.  Franciskus  oder  den  heiligen  Communisten 
der  jerusalemischen  IFrgemeinde.  Allgemein  war  in  den  Kreisen  der 
religiös  Belebten  der  Ruf  nach  dem  „praktischen  Christenthum"  ver- 
bunden, wie  heute,  mit  dem  liebere! russ  an  der  Theologie.  Man  war 
ihr  keineswegs  noch  entwachsen;  aber  die  Erschütterungen,  die  sich 
aus  dem  allgemeinen  Umschwung  der  Zeiten  ergeben  hatten,  ge- 
nügton, um,  wie  heute,  das  (xefühl  zu  erwecken,  dass  man  mit  der 
Lehre,  wie  sie  lautete,  eigentlich  nichts  mehr  ausrichten  könne. 

Wäre  die  christliche  Lehre  nur  „Wissenschaft",  so  wäre  es  unter 
solchen  Umständen  um  sie  geschehen  gewesen;  sie  liätte  einfach  ab- 
treten und  auch  äusserlich  einer  anderen  Denkweise  Platz  machen 
müssen.  Diese  Folge  ist  wirkhch  eingetreten  in  den  wiedertäuferisch- 
antitriiiitarischen  und  in  den  socinianischen  Gruppen,  in  welchen  sich 


574  Geschichtliche  Orieutirung. 

die  Conibination  aller  jener  Elemente  niedergeschlagen  hat,  welche 
zur  Aufklärung  führten.  Darüber  wird  unten  zu  handeln  sein.  Allein 
die  christliche  Lehre  ist  nicht  nur  „Wissenschaft",  und  die  grosse 
(Christenheit  hat  in  den  achtzehnhundert  Jahren  ihrer  Geschichte  nie- 
mals selbst  die  radicalste  Bewegung,  der  Calvinismus,  bezeichnet 
keinen  vollkommenen  Abfall  —  mit  der  Geschichte  brechen  wollen, 
ja  jeden  Bruch,  auch  der  unseligsten  Vergangenheit  gegenüber,  wie 
eine  Selbstauflösung  empfunden.  Die  Vergangenheit  aber  war  das 
Dogma  und  die  dogmatische  Theologie.  Konnte  und  wollte  man  sie 
nicht  los  werden  und  entfremdete  man  sich  ihr  doch  andererseits 
immer  mehr,  wie  der  Ruf  nach  dem  praktischen  Christenthum  und 
die  Nichtachtung  des  theologischen  Elementes  beweist,  so  war  die 
nothwendige  Folge  die,  dass  das  Dogma  als  Rechtsordnung 
respectirt,  aber  zur  Seite  geschoben  wurde.  Das  war  factisch  auch 
der  Zustand,  der  in  den  Reihen  der  Oppositionsparteien  Platz  ge- 
griffen hatte.  Wer  das  Dogma  antastete,  setzte  sich  der  Gefahr  aus, 
als  Anarchist  zu  gelten.  Wer  aber  durch  Rückgang  auf  das  dogma- 
tische Christenthum  und  durch  Vertiefung  desselben  die  Zeit  heilen 
und  gewisse  praktische  Missbräuche  dadurch  beseitigen  wollte,  dass 
er  auf  die  alte  dogmatische  Theorie  zurückgriff,  galt  als  Querkopf, 
als  Störenfried,  ja  als  verdächtig.  Als  Mönchsgezänk  wurde  es  in 
den  reformfreundlichen  Kreisen  der  vornehmen  Wissenschaft  und  auch 
in  den  Kreisen  der  stillen  Opposition  im  Lande  leicht  beurtheilt, 
wenn  Jemand  dem  Ablass,  der  masslosen  Heiligenverehrung  und  den 
kultischen  Auswüchsen  des  kirchlichen  Systems  mit  der  Theorie  ent- 
gegenzutreten versuchte.  Aber  solche  Versuche  waren  auch  unvoll- 
kommen und  spärlich.  Das  Aeusserste  war,  dass  man  auf  den  Au- 
gustinismus zurückging  —  das  vertrug  die  Zeit  bis  zu  einem  gewissen 
Grade,  ja  forderte  es  — ;  aber  wo  ist  in  jenen  Tagen  der  Mann  zu 
finden,  der  zur  Christologie  und  zur  Gotteslehre  zurücklenkte,  um  von 
dort  aus  alles  das,  was  giltig  war,  zu  revidiren  und  neu  zu  gestalten? 
Der  letzte  Grund  für  diesen  Mangel  und  diese  Unfähigkeit  ist 
freilich  nicht  in  den  Verheerungen  des  Nominalismus  oder  in  der 
ästhetischen  Gesinnung  der  Humanisten  zu  suchen  ',  sondern  er  lag 
in  der  ungeheuren  Spannung,  welche  zwischen  dem  alten  Dogma  und 
den  christlichen  Anschauungen,  deren  Ausgestaltung  das  damalige 
christliche  Leben  war,  bestand.  Diese  Spannung,  die  wir  schon  bei 
Augustin  constatirt  haben,  und  die  bereits  am  Anfang  des  Mittel- 
alters bei  Alcuin  so  deutlich  zu  erkennen  ist  - ,    war  immer  grösser 

*  Vgl.  Drews,  Humauismus  und  Reformation  1887. 
2  S.  Hauck,  K.-Gesc'h.  Deutschlands  II,  1  8.  132—136. 


Ii 


Die  Opposition  gegen  den  Curialismus.  575 

geworden.  "Welches  Stück  aus  der  Zahl  der  altkirchhchen  Dogmen 
hatte  denn  noch  für  die  Frömmigkeit,  wie  sie  damals  lebte,  einen 
unmittelbar  verständlichen  Sinn?  welches  Dogma  in  der  überkommenen 
Fassung  war  denn  noch  wirklich  Triebkraft  des  christlichen  Gedan- 
kens und  Lebens?  Die  Trinitätslehre ?  aber  man  braucht  nur  einen 
Blick  auf  die  scholastische  Gotteslehre  oder  auf  die  Anselm'sche 
Versöhnungslehre  oder  auf  die  Erbauungsbücher  und  Predigten  jener 
Periode  zu  werfen,  um  sich  zu  überzeugen,  dass  die  Zeit  vorüber 
war,  in  welcher  der  trinitarische  Gedanke,  wie  in  den  Tagen  des 
Athanasius  und  der  Kappadocier,  den  Grundstein  der  Erbauung  der 
Gemeinde  bildete.  Die  Zweinaturenlehre?  aber  kann  man,  wenn  man 
nicht  den  Sophisten  sein  Ohr  leihen  will,  den  starken  Protest  wider 
die  erbauHche  Kraft  dieser  Lehre  überhören,  welcher  aus  der 
mystischen  Andacht  Bernhard's  zum  Seelenbräutigam,  aus  der  Jesus- 
liebe des  hl.  Franciskus  und  des  Thomas  von  Kempen,  und  aus  dem 
Bilde  jenes  Menschen  Jesus,  dessen  leidvolle  Züge  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert jeder  Prediger  vorhielt,  entsprang?  Setzte  ferner  nicht  die 
Gnadenlehre,  mochte  man  sie  nun  augustinisch-thomistisch  oder 
scotistisch  fassen,  setzte  nicht  der  ungeheure  Apparat  der  Sacra- 
mentslehre  einen  ganz  anderen  Christus  voraus,  als  jenes  begrifflich 
scharf  ausgeprägte  Gedankengebilde  des  Leontius  und  Johannes 
Damascenus ,  welches  den  Triumph  der  göttlichen  Natur  in  der 
menschlichen  verherrlichte  und  durch  die  blosse  Contemplation  der 
wunderbaren  Einigung  das  Gefühl  der  Ueberwindung  und  Erlösung 
alles  Fleisches  erzeugen  wollte?  Hier  lag  der  letzte  Grund  der 
inneren  Entfremdung  vom  Dogma.  Man  dachte  nicht  mehr,  wie  die 
Griechen  gedacht  hatten,  mochte  es  auch  der  theologischen  Specu- 
lation  scheinbar  ohne  sonderhche  Mühe  gelingen,  zu  jenen  Gedanken 
zurückzulenken ;  aber  sie  waren  für  sie  nur  noch  Voraussetzungen, 
nicht  mehr  das  Christenthum  selbst.  Wenn  aber  der  alte  Glaube 
nicht  mehr  Ausdruck  der  inneren  Ueberzeugung  ist,  bildet  sich  unter 
der  Hülle  des  alten  ein  neuer.  Alle  Sphären,  in  denen  sich  christ- 
liches Denken  und  Leben  bewegte,  lagen  weitab  von  jenen  Gedanken- 
sphären, in  denen  sich  einst  der  Glaube,  der  geglaubt  werden  darf, 
entwickelt  hatte.  Er  war  zu  einem  (klauben  geworden,  der  geglaubt 
werden  muss;  daneben  hatte  man  das  Verdienst  Christi,  die  Kirche, 
die  Sacramente,  das  eigene  Verdienst  und  die  Ablässe.  In  ihnen  be- 
wegte sich  der  Glaube  und  das  christliche  Leben.  Während  man 
behauptete,  auf  dem  alten  Grunde  zu  stehen  und  keinen  Fuss  breit 
gewichen  zu  sein,  war  man  fortgeschritten  —  ein  herrlicher  Fort- 
schritt!   aber   auf   dem  Wege  lagen  Al)gründe,   die  man  nicht  ver- 


676  Geschichtliche  Orientirun^. 

mieden  hatte,  und  sie  fülirton  in  die  tiefsten  Regionen.  Nicht  Wenige 
gab  es,  die  das  voll  Schrecken  und  Unwillen  bemerkten;  aber  wie 
war  zu  helfen,  solange  darüber  keine  Klarheit  bestand,  wie  sich  der 
Zustand  entwickelt  hatte,  in  dem  man  sich  befand,  wo  der  Irrthum 
eigenthch  angefangen  hatte,  und  wo  die  Höhe  läge,  die  es  zu  er- 
reichen galt? 

Es  ist  verständlich,  dass  man  unter  solchen  Umständen  auf  die 
Autorität  zurückging,  welche  den  Weg  zuerst  angegeben  hatte,  den 
man  während  eines  Jahrhunderts  gewandelt  war  und  auf  dem  man 
einen  herrlichen  trostreichen  Aufschwung,  aber  auch  einen  tiefen  Fall 
erlebt  hatte  —  Augustin.  In  seinen  Werken  fand  man  alle  die 
Gedanken  in  kräftigster'Ausprägung,  an  denen  man  sich  erbaute,  und 
man  glaubte  andererseits  dort  die  schweren  Miss])räuche  und  Irr- 
thümer  nicht  zu  finden,  die  man  in  der  Gegenwart  beklagte.  Daher 
die  Losung:  „Rückkehr  zum  Augustinismus  als  zu  dem  wahren  Ka- 
tholicismus  der  Väter".  In  sehr  verschiedener  Form  wurde  diese 
Losung  ausgegeben :  in  umfassender  Weise  von  Männern  vvie  Wiclif, 
Hus,  Wesel  und  Wessel;  in  der  vorsichtigsten  Form  von  allen 
jenen  Theologen,  die  im  L5.  Jahrhundert  und  beim  Uebergang 
vom  L5.  zum  16.  gegenüber  dem  herrschenden  Nominalismus  zur 
thomistischen  Gnadenlehre  zurücklenkten.  Die  Zahl  derselben  scheint 
nicht  ganz  gering  gewesen  zu  sein;  war  sie  es,  so  ersetzte  das 
Ansehen  der  Verehrer  des  Thomas  ihre  kleine  Zahl;  denn  unter 
den  höchsten  Prälaten,  auch  in  Italien,  fanden  sich  solche.  Die  Be- 
deutung dieser  rückläufigen  theologischen  Bewegung  im  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  ist  nicht  zu  unterschätzen;  ist  sie  doch  —  freilich 
unter  dem  Hochdruck  der  deutschen  Reformation  —  einer  der  ein- 
flussreichsten Factoren  in  der  römischen  Kirche  geworden,  als  es  sich 
in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  darum  handelte,  dogmatisch 
Stellung  zum  Protestantismus  zu  nehmen.  Aber  Augustin  hat  keinem 
Zeitalter  mehr  geben  können,  als  er  selbst  besessen  hat.  Auch  er 
hat  nur  künstlich  bei  dem  alten  Dogma  anzuknüpfen  vermocht,  weil 
er  innerlich  demselben  in  mancher  Hinsicht  entwachsen  war,  und 
andererseits  war  das,  was  man  als  Missbrauch  und  Irrthum  späterer 
Zeiten  abthun  wollte,  in  ihm  selbst  schon  angelegt,  mochte  man  es 
nun  bei  ihm  bemerken  oder  nicht.  Die  Schäden  der  katholischen 
Kirche  durch  Augustin  heilen,  das  hiess  im  besten  Fall  eine  Re- 
form für  ein  paar  Menschenalter  besorgen.  Aber  mit  Nothwendig- 
keit  wären  die  alten  Missbräuche  zurückgekehrt;  denn  ihre  starken, 
wenn  auch  verborgenen  Wurzeln  liegen  im  Augustinismus  selbst.  In 
der  zu  ihm  zurückgebildeten  Kirche  hätte  sich  sehr  bald  alles  das 


Die  Opposition  gegen  den  Curialismus.   Der  Individualismus.  577 

wieder  eingestellt,  was  man  entfernen  wollte.  Das  ist  keine  luftige 
Hypothese,  sondern  ist,  wie  aus  dem  Christentimm  Augustin's  selbst, 
so  aus  der  Geschichte  der  katholischen  Kirche  der  neueren  Zeit  zu 
erweisen.  Wenn  sich  auch  die  schweren  Irrthümer  und  Missbräuche 
nur  kräftig  durchsetzen  konnten,  indem  sie  den  Augustinismus  zer- 
setzten, so  müssen  sie  doch  als  Triebe  gelten,  deren  Keime  in  dem 
Christenthum  Augustin's  angelegt  waren. 

Allein  diese  bis  auf  den  Grund  der  Dinge  reichende  Beobach- 
tung darf  die  deutlichste  Wahrnehmung  nicht  verdunkeln,  dass  der 
genuine  Augustinismus  eine  mächtige  Kritik  an  dem  zersetzten, 
einschliesslich  des  Nominalismus,  ausgeübt  hat.  Er  war  eine  segens- 
reiche Macht.  Man  darf  wohl  sagen,  dass  es  nie  eine  Reformation 
gegeben  hätte,  wenn  nicht  die  Wiedererweckung  Augustin's  voran- 
gegangen wäre.  Man  darf  freilich  auch  andererseits  behaupten,  dass 
diese  Wiedererweckung  es  nicht  einmal  bis  zu  solchen  Decreten  wie 
den  tridentinischen  gebracht  hätte,  wenn  sie  nicht  durch  eine  neue  Kraft 
verstärkt  worden  wäre.  Immerhin  lag  zwischen  dem  unsittlichen, 
irrehgiösen,  ja  heidnischen  Mechanismus  des  herrschenden  Kirchen- 
thums  und  der  Frömmigkeit  Augustin's  eine  so  gewaltige  Kluft,  dass 
man  die  heilsame  Reform  nicht  verkennen  kann,  die  sich  hätte  ergeben 
müssen,  wenn  z.  B.  das  Christenthum  Wiclif's  in  der  katholischen 
Kirche  massgebend  geworden  wäre. 

Zu  dem  Allem  hatte  sich  ein  Element  in  dem  Verfall  der 
mittelalterlichen  Institutionen  und  in  dem  grossen  Wandel  aller  Ver- 
hältnisse entwickelt,  welches  man  beim  Anbruch  des  Reformations- 
zeitalters überall  findet  und  welches  die  Oppositionsparteien  in  ver- 
schiedenem Grade  belebte.  Auf  allen  Linien  der  Entwickelung  war 
man  bis  zu  demselben  gelangt,  ja  in  allen  war  es  die  geheime  Trieb- 
kraft, welche  das  Alte  auflöste  und  nach  einem  Neuen  strebte.  Es 
ist  schwer,  es  mit  einem  Worte  zu  bezeichnen:  Subjectivismus,  In- 
dividualität, Selbst-sein-wollen,  Freiheit.  Es  war  der  Protest  gegen 
den  Geist  der  Jahrhunderte,  die  man  durchlebt  hatte.  Dem  ober- 
flächliclien  Blick  zeigt  es  sich  am  deutlichsten  in  den  Idealen  der 
Renaissance  und  des  Humanismus;  aber  es  lebte  ebenso  in  der  neuen 
Politik  der  Tjandesherrn  und  in  dem  TTnmutli  der  Laien  über  die 
alten  Ordnungen  in  Zunft  und  Gemeinde,  in  Kirche  und  Staat.  Es 
war  mächtig  in  der  (ifefülilswelt  der  Mystiker,  ja  man  vermisst  es 
selbst  nicht  in  dor  nominalistischen  Scholastik,  die  bei  ihrem  un- 
heimlich(!n  Geschäft,  die  iiliorlieferte  Theologie  zu  ruiniren,  nicht  nur 
vom  Verstände  geleitet  worden  ist,  sondern  aucli  in  dem  dunkeln 
Drange  arbeitete,  die  Religion  dem  Glauben  zurückzugeben  und  das 

Harnack,  Doginengescbichte  III.  jjy 


578  Geschichtliche  Orientirung. 

selbständige  Recht  und  die  Freiheit  desselben  ans  Licht  zu  stellen. 
Das  neue  Element  hat  sich  überall  als  ein  zweischneidiges  Princip 
offenbart:  das  Zeitalter  Savonarola's  ist  das  Zeitalter  Machiavelli's; 
in  der  Religion  unischloss  es  alle  Formen  individueller  Religiosität, 
von  dem  Recht  der  ungezügelten  Phantasie  und  des  Prophetismus 
bis  zu  dem  Recht  der  Freiheit  des  in  dem  Evangelium  gebundenen 
Gewissens.  Dazwischen  lag  eine  ganze  Stufenleiter  individueller  Aus- 
prägungen; aber  auf  vielen  dieser  Stufen  war  in  dem  heissen  Be- 
mühen, zu  sich  selber  zu  kommen  und  selbst  zu  sein  und  zu  leben, 
die  Unruhe  erwacht:  wenn  du  nun  selbst  bist  und  selbst  zu  leben 
beginnst  als  Mensch  und  als  Christ,  wo  ist  der  Fels,  an  dem  du  dich 
halten  musst,  was  ist  deine  Seligkeit  und  wie  wirst  du  ihrer  gewiss? 
wie  kannst  du  zugleich  ein  seliger  und  ein  freier  Mensch  sein  und 
bleiben?  In  dieser  Unruhe  wies  das  Zeitalter  über  sich  selbst  hinaus; 
aber  man  gewahrt  nicht,  dass  auch  nur  ein  Christ  die  Frage,  die 
dieser  Unruhe  zu  Grunde  lag,  sicher  zu  verstehen  und  die  Antwort 
zu  geben  vermochte. 


Es  lohnt  sich  wohl  der  Mühe,  zu  fragen,  was  aus  dem  Dogma 
geworden  wäre,  wenn  die  Entwicklung  fortgedauert  hätte,  die  wir 
im  14.  und  15.  Jahrhundert  beobachten,  und  w^enn  kein  neuer  Fac- 
tor eingetreten  wäre.  Ausgänge  des  Dogmas  hätte  man  gewiss 
erlebt;  aber  die  Frage  lässt  sich  natürlich  nicht  entscheiden,  welcher 
Ausgang  siegreich  geblieben  wäre.  Es  lässt  sich  (1)  denken,  dass  der 
Curialismus  rasch  einen  vollkommenen  Sieg  erfochten  und  alles  Wider- 
spenstige niedergeworfen  hätte;  in  diesem  Falle  wäre  der  souveräne 
päpstliche  Wille  auch  auf  dem  Gebiete  des  Glaubens  und  der  Sitte 
die  oberste  Instanz  und  das  alte  Dogma  ein  Theil  des  päpstlichen 
Gewohnheitsrechts  geworden,  welches  factisch  durch  die  arbiträren 
Auslegungen  und  Entscheidungen  des  Papstes  ad  libitum  modificirt 
worden  wäre.  Die  Gläubigen  hätten  sich  unter  solchen  Umständen 
an  den  Gedanken  gewöhnen  müssen,  dass  die  fides  implicita,  d.  h.  der 
Gehorsam,  das  verdienstliche  Werk  sei,  welches  allen  ihren  übrigen 
Leistungen,  soweit  das  sacramentale  System  ihnen  solche  auferlegt, 
den  Werth  verleihe.  Um  das  Dogma  im  materialen  Sinn  wäre  es  ge- 
schehen gewesen:  die  Kirche  bleibt  die  authentische  Seligkeitsanstalt, 
auch  wenn  Niemand  das  glau])t,  was  sie  lehrt,  jedoch  Alle  sich  ihren 
Einrichtungen  unterwerfen.  Man  kann  sich  aber  auch  (2)  denken, 
dass  aus  den  Kreisen  der  (3ppositionsparteien  der  Kirche  eine  Re- 
form aufgenöthigt  worden  wäre,  die  kirchenrechtlich  in  einer  Herab- 
setzung   der  Competenzen    des  Papstthums  zu  (Gunsten  einer  kirch- 


Aussichten  für  das  Dogma  um  1500.  579 

liehen  Oligarchie,  dogmatisch  in  einer  Fixirung  des  augustinisch- 
mystischen  Christenthums  bestanden  hätte.  Es  lässt  sich  sehr  wohl 
vorstellen,  dass  alle  die  dogmatisch-symbolisch  bisher  noch  gar  nicht 
bestimmten  augiistinisch-mystischen  Gedanken,  welche  die  Frömmig- 
keit der  Besten  begründeten,  endlicli  zu  einer  festen  Ausprägung  ge- 
kommen wären.  In  diesem  Falle  wäre  ein  Doppeltes  möghch  ge- 
wesen: man  hätte  versuchen  können,  den  Zusammenhang  mit  dem 
alten  Dogma  festzuhalten,  wie  ihn  auch  Augustin  selbst  festgehalten 
hat  —  auch  dann  hätte  immerhin  deutlich  zu  Tage  treten  müssen, 
dass  jene  Dogmen  überwundene  Voraussetzungen  sind  — ,  oder  es 
hätte  sich  gezeigt,  dass  ein  anderes  Bild  von  der  Gottheit  und  ein 
anderes  Bild  von  dem  Gottmenschen  an  die  Stelle  der  alten  zu 
setzen  seien.  Es  lässt  sich  aber  auch  (3)  ein  Aus  ein  an  der  fallen 
der  Kirche  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  erwarten.  Ein  Theil 
wäre  auf  dem  sub  1  oder  2  bezeichneten  Wege  fortgeschritten,  ein 
anderer  dagegen  hätte  den  aufklärerischen  Fingerzeigen  Folge  ge- 
leistet, w^elche  in  der  das  historische  Christenthum  neu tralisir enden 
pantheistischen  Mystik,  in  der  Verstandeskritik  des  Nominalismus 
am  Dogma  und  in  der  humanistischen  Weltauffassung  gegeben  waren. 
Wäre  eine  solche  Bewegung  zum  Durchbruch  gekommen,  so  wäre 
es  fraglich  gewesen,  ob  sie  bei  der  hl.  Schrift  Halt  gemacht  hätte 
oder  auch  über  sie  hinübergeschritten  wäre.  Auf  Beides  ist  man  ge- 
fasst,  wenn  man  die  Zeichen  der  Zeit  um  1500  beobachtet.  In  dem 
einen  Fall  hätte  ein  rationalistisches  oder  schwärmerisches  Bibel- 
christenthum  die  Folge  sein,  in  dem  anderen  hätten  sich  unabseh- 
bare Bildungen  ergeben  müssen.  In  beiden  Fällen  aber  hätte  das 
alte  Dogma  zu  existiren  aufgehört.  Man  kann  aber  (4)  endlich 
erwarten  —  doch  ist  es  fraghch,  ob  uns  Angesichts  der  mittelalter- 
Hchen  Zustände  eine  solche  Erwartung  kommen  würde,  wenn  die  Be- 
formation  nicht  eingetreten  wäre  — ,  dass  sich  aus  den  Gährungen 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts  eine  neue  tiefere  religiöse  Bildung 
entwickelt  hätte.  Oombinirt  man  nämlich  jene  sicheren  Wahrnehmungen, 
dass  ein  Tbeil  der  Theologen  (dominikanische  Mystiker)  auch  in  der 
Theologie  nur  das  bearbeiten  wollte,  was  wirklich  erbaulich  war, 
ferner  dass  in  dem  geistigen  Wesen  des  Menschen  nach  dem  Punkte 
gesucht  wurde,  welcher  der  Sitz  der  Religion  und  der  wahre  Kern 
des  Seelenlebens  zugleich  sei,  weiter  dass  sich  aus  diesem  Kern 
durch  eine  Wiedergeburt  ein  neuer  innerer  Mensch  gestalten 
solle,  der  seiner  »Seligkeit  und  Freiheit  gewiss  werden  müsse; 
nimmt  man  hinzu,  dass  der  Nomiiialismus  darüber  belehrt  hatte,  dass 
die  unendlichen  Bemühungen  der  Speculation  keine  Sicherheit  erzeugen 

37* 


580  Geecliichtliche  Orientirung. 

können,  dass  diese  also  anderswo  gesucht  werden  müsse,  und  fasst 
man  dann  den  allgemeinen  geistigen  Zustand  ins  Auge,  dass  die 
Menschen  damals  darnach  rangen,  sich  von  dem  Geist  des  Mittel- 
alters zu  hefreien,  zu  den  Quellen  zurückzukehren,  und  als  seih- 
ständige Persönlichkeiten  weiter  zu  lehen,  so  ist  es  vielleicht  nicht 
zu  kühn,  am  Anfang  des  IB.  .lahrhundorts  auf  religiösem  Gehiet  eine 
Neuhildung  zu  erwarten,  welche  eine  evangelische  Reformation  des 
gesammten  Rehgionswesens  einschliessen,  damit  aher  auch  das  alte 
Dogma  entwurzeln  und  aufheben  würde,  indem  der  neue  Ausgangs- 
punkt, der  lebendige  Glaube  an  den  um  Christus  willen  gnädigen 
Gott,  und  das  aus  ihm  entsprungene  Recht  auf  Freiheit,  in  der  Theo- 
logie nur  das  bestehen  lassen  konnte,  was  zu  ihm  gehörte. 

Aber  die  wirkliche  Geschichte  hat  diesen  Erwartungen  nicht  voll 
entsprochen.  Sie  hat  auch  diesmal  die  neue  Epoche  nicht  so  an  die 
alte  angeschlossen,  wie  die  Logik  einen  neuen  Satz  aus  der  Wider- 
legung eines  alten  entwickelt.  Die  wirklichen  Ausgänge  des  Dogmas 
im  16.  Jahrhundert  sind  vielmehr  mit  AVidersprüchen  behaftet  ge- 
blieben, welche  der  Folgezeit  bedeutende  Aufgaben  gestellt  haben. 
Man  kann  darum  auch  zweifelhaft  sein,  ob  man  wirklich  von  Aus- 
gängen zu  reden  hat;  allein  nach  dem,  was  in  den  Prolegomena 
zur  Dogmengeschichte  (Bd.  I  S.  3  ff.)  entwickelt  worden  und  im 
Folgenden  dargelegt  ist,  wird  man  doch  diesen  Titel  brauchen 
müssen. 

Die  dogmengeschichtliche  Krisis  hat  im  16.  Jahrhundert  einen 
dreifachen  Ausgang  genommen : 

1.  Die  alte  Kirche  hat  sich  einerseits  entschiedener  zur  Papst- 
kirche entwickelt  und  damit  den  oben  (sub  1)  angegebenen  Weg  ein- 
geschlagen ;  aber  sie  hat  andererseits  die  augustinisch-mittelalterlichen 
Lehren  fixirt  und  den  alten  Dogmen  als  gleichberechtigte  Gheder  hin- 
zugefügt (s.  oben  sub  2).  Obgleich  das  zu  Trident  in  einer  AVeise 
geschah,  die  deutlich  offenbarte,  dass  man  nicht  i  n  dem  Dogma, 
sondern  über  demselben  stand  und  desshalb  entschlossen  war,  es 
nach  den  praktischen  Bedürfnissen  des  äusseren  Kirchenthums  zu 
regeln,  so  hat  man  doch  Co mpro misse  schliessen  müssen;  denn  die 
Reformation  hat  auch  die  alte  Kirche  gezwungen,  geistliche  Dinge 
geistHch  zu  richten  oder  wenigstens  den  Schein  des  geistlichen  Charak- 
ters anzunehmen.  Eben  desshalb  gehören  die  Decrete  des  Tridentinums 
noch  in  die  Dogmengescliichte;  denn  sie  sind  nicht  lediglich  Producte 
der  kirchenpolitischen  Kunst  der  Curie,  obgleich  sie  diesen  (.harakti^r 
ganz  wesentlich  tragen.    Sofern  sie  es  aber  nicht  sind,  haben  sie  der 


Die  Ergebnisse  der  Krisie  des  16.  Jahrhunderts.  581 

Kirche  manche  Schwierigkeiten  bereitet  und  die  volle  Entwickelung 
derselben  zum  Curialismus  aufgehalten.  Die  Spannungen  und  Kämpfe 
innerhalb  der  katholischen  Kirche  in  den  folgenden  drei  Jahrhunderten 
haben  dies  zur  Genüge  dargethan.  Allein  diese  Kämpfe  haben  Stufe 
für  Stufe  den  Erfolg  gehabt^  die  oppositionellen  Elemente  zum  Schwei- 
gen zu  bringen,  bis  endlich  im  Mariendogma  und  im  Vaticanum  der 
volle  Sieg  des  Papstthums  verkündet  werden  konnte.  Damit  war  das 
endlich  erreicht,  was  die  Curie  und  ihr  Anhang  schon  in  dem  16.  Jahr- 
hundert erreichen  wollte:  wie  die  Kirche  die  Magd  des  Papstes  ge- 
worden ist,  so  ist  auch  das  Dogma  seiner  souveränen  Herrschaft  unter- 
w^orfen.  Es  ist  dabei  ganz  gleichgiltig,  welchen  Speculationen  sich 
katholische  Theologen  über  das  Yerhältniss  des  Papstes  zum  Dogma 
hingeben,  indem  sie  behaupten,  der  Papst  sei  an  dasselbe  gebunden ; 
denn  wer  das  Recht  der  Auslegung  hat,  wird  immer  einen  Weg  finden 
können,  um  ein  neues  Dogma,  welches  er  schafft,  als  ein  altes  produ- 
ciren  zu  können.  Die  ganze  Idee  des  Dogmas  aber  als  der  Glaube, 
der  jedes  Christenherz  bewegen  soll  und  den  Christen  zum  Christen 
macht,  ist  in  Wahrheit  abgethan,  sofern  es  jedem  Einzelnen  überlassen 
wird,  ob  er  sich  den  Glauben  in  seinem  ganzen  Umfang  anzueignen 
vermag  oder  nicht.  Gelingt  es  ihm  —  aber  wem  gelänge  das  gegenüber 
den  ganzen,  halben  und  Viertelsdogmen  und  dem  unübersehbaren  Heer 
von  Entscheidungen?  — ,  um  so  besser;  gelingt  es  ihm  nicht,  so  ist  das 
kein  Schade,  wenn  er  nur  die  Absicht  hat,  zu  glauben,  was  die  Kirche 
glaubt.  Dass  hier  ein  Ausgang  der  Dogmengeschichte  gegeben  ist, 
mögen  nun  in  der  Folgezeit  noch  weitere  neue  Dogmen  formuHit 
werden  oder  nicht,  ist  unzweifelhaft. 

2.  Im  16.  Jahrhundert  hat  sich  das  antitrinitarische  und  socinia- 
nische  Christenthum  entwickelt.  Es  hat  mit  dem  alten  Dogma  ge- 
brochen und  dasselbe  abgethan.  Angesichts  des  raschen  Niedergangs 
der  socinianischen  Gemeinden  könnte  man  urthcilen,  dass  die  Betrach- 
tung ihres  Christenthums  überhaupt  nicht  in  die  Universalgeschichte 
der  Kirche  und  somit  auch  nicht  in  die  Dogmen geschichte  gehört; 
allein  überlegt  man,  wie  sicher  der  Antitrinitarismus  und  Socinianismus 
an  die  mittelalterliche  Entwickelung  angeknüpft  werden  kann  (Nomi- 
nalismus), wie  energisch  die  protestantische  Dogmatik  des  17.  Jahr- 
hunderts auf  ihn  als  auf  ihren  schlimmsten  Feind  eingegangen  ist,  und 
wie  nahe  sich  endHch  die  Kritik,  welche  evangelische  Theologen  im 
18.  und  19.  .Jahrhundert  am  Dogma  vollzogen  haben,  mit  der  socinia- 
nischen berührt,  so  würde  man  wider  die  Geschichte  Verstössen,  wollte 
man  den  im  Socinianismus  gegebenen  Ausgang  der  Dogmengeschichte 
verschweigen. 


582  Geschichtlicho  Orientivung. 

3.  Ein  dritter  Ausgang  liegt  aber  auch  in  der  Reformation 
selbst  vor,  allerdings  der  coinplieirteste  und  desshalb  auch  in  iuancher 
Hinsicht  der  unsicherste.  Die  Reformation  hat,  von  der  Geschichte 
selbst  gewiesen,  einen  neuen  Ausgangspunkt  für  die  Bildung  des  christ- 
lichen Glaubens  an  dem  Worte  (lottes  gewonnen,  und  sie  hat  alle  Un- 
fehlbarkeiten abgethai),  (he  eine  äussere  Sicherheit  für  den  Glauben 
bieten  konnten,  die  unfehlbare  Organisation  der  Kirche,  die  unfehlbare 
Lehriiberlieferung  der  Kirche  und  den  unfehlbaren  Schriftencodex'. 
Damit  war  jene  Betrachtung  des  Christenthums,  welcher  das  JJogma 
entsprungen  ist  —  der  christliche  Glaube  das  sichere  Wissen  der  letzten 
Ursachen  aller  Dinge  und  desshalb  auch  der  Heilsveranstaltungen  Gottes 
—  beseitigt :  der  christliche  Glaube  ist  vielmehr  die  gewisse  Zuversicht, 
von  Gott  als  dem  Vater  Jesu  Christi  Sündenvergebung  zu  empfangen 

*  In  Bezug  auf  das  erste  Stück  ist  ein  Nachweis  unnöthig.  In  Bezug  auf  das 
zweite  lese  man  Luther's  Schrift  „Von  den  Concihis  und  Kirchen"  (1539)-,  dazu  aber 
noch  Form.  Concord.  P.  I  Epitomo  p.  517  (ed.  Müller):  „lieliqua  vero  sive  patrum 
sive  neotericorum  scripta,  quocunque  veniant  nomine,  sacris  litteris  nequa- 
quam  sunt  aequiparanda  (also  auch  nicht  die  Erlasse  der  Concilien),  sed  uuiversa 
illis  ita  subicienda  sunt,  ut  alia  ratione  non  recipiantur,  nisi  testium 
loco,  qui  doceant,  quod  etiam  post  apostolorum  tempora  et  in  quibus  partibus 
orbis  doctriua  illa  prophetarum  et  apostolorum  sinceriorconservata  sit .  . . .  Symbola 
et  alia  scripta  non  obtinent  auctoritatem  iudicis."  Dazu  Art.  Smalcald.  II,  2  p.  303 : 
„Verbum  dei  condit  articulos  fidei,  et  praeterea  nemo,  ne  angelus  quidem."  Dazu 
„Etliche  Artikel,  so  M.  Luther  erhalten  will  wider  die  ganze  Satansschule"  (1530. 
Erlanger  Ausg.  XXXI  S.  122):  „Die  christliche  Kirch  hat  kein  Macht,  einigen 
Artikel  des  Grlaubens  zu  setzen,  hats  noch  nie  gethan,  wirds  auch  nimmermehr 
thuu  ....  Alle  Artikel  des  Glaubens  sind  genugsam  in  der  hl.  Schrift  gesetzt,  dass 
mau  keinen  mehr  darf  setzen  ....  Die  christliche  Kirch  bestätigt  das  Evansrelion 
und  hl.  Schrift  als  ein  Unterthan,  zeigt  und  bekennt,  gleichwie  ein  Knecht  seines 
Herrn  Farbe  und  Wappen"  u.  v.  a.  St.  "Was  den  dritten  Punkt  betrifft,  so  hat  sich 
der  spätere  Protestantismus  verengt.  Aber,  soviel  bekannt,  hat  kein  namhafter 
Lutheraner  ausser  Kliefoth  es  gewagt,  sich  öffentlich  von  dem  Luther  der  ersten 
Jahre  loszusagen.  Ist  aber  die  Haltung,  die  Luther  in  seinen  bekannten  Vorreden 
zu  den  ueutestamentlichen  Büchern  eingenommen  hat,  im  Protestantismus  min- 
destens berechtigt  (s.  die  Bemerkungen  zum  Jakobusbrief,  zum  Hebräerbrief  und 
zur  Apokalj^pse),  so  ist  damit  der  unfehlbare  Schriftenkanon  abgethan.  Es  ist  dabei 
historisch  höchst  wichtig,  sachlich  aber  gleichgiltig,  dass  sich  bei  Luther,  nament- 
lich seit  dem  Abendmahlsstreit,  viele  Aussagen  finden,  die  so  lauten,  als  sei  jeglicher 
Schriftbuchstabe  das  Fundament  des  christlichen  Glaubens;  denn  der  flagrante 
Widerspruch,  dass  etwas  zugleich  nicht  gilt  und  gilt,  kann  nur  die  Lösung  finden, 
dass  es  nicht  gilt.  Dies  folgt  aber  auch  aus  Luther's  Anschauung  vom  Glauben  mit 
Nothwendigkeit;  denn  diese  ist  daraufgestellt,  dass  der  Glaube  vom  hl.  Geist  durch 
das  gepredigte  Wort  Gottes  gewirkt  wird.  Auch  ist  man  heute  in  weitesten  Kreisen 
im  Protestantismus  darüber  einig,  dass  die  historische  Kritik  an  der  Schrift  nicht 
unevangelisch  ist.  Freilich  reicht  diese  Einigkeit  nur  bis  zum  „Princip".  Die  An- 
wendung verbitten  sich  Viele. 


I 


Die  Reformation  und  das  Dogma.  583 

und  in  seinem  Reiche  unter  ihm  zu  leben  —  nichts  Anderes.    Aber  es 
waren  zugleich  auch  jenem  Dogma  alle  Stützen  entzogen;  denn  wie  kann 
es  irreformabel  und  authentisch  sein,  wenn  es  doch  beschränkte,  in  Sün- 
den verstrickte  Menschen  entworfen  und  formuhrt  haben   und  jede 
äussere  Sicherheit  fehlt?    Dennoch  haben  die  Reformatoren  das  alte 
Dogma  bestehen  gelassen,  ja  es  nicht  einmal  einer  Revision  unterzogen. 
Freilich  nicht  als  Glaubensgesetz  neben  dem  Glauben,  auf  besonderen 
äusseren  Versicherungen  beruhend,  haben  sie  es  in  Geltung  gelassen, 
sondern  in  der  ungeprüften  Ueberzeugung,  dass  es  dem  Evangehum, 
dem  Worte  Gottes,  genau  entspräche  und  sich  als  selbstverständhcher 
und  nächster  Inhalt  desselben  Jedem  erweise.    Sie  betrachteten  es  als 
ein  herrliches  Bekenntniss  zu  dem  Gott,  der  Jesum  Christum,  seinen 
Sohn,  gesandt  hat,  um  uns,  von  Sünden  ledig,  selig  und  frei  zu  machen. 
Weil  sie  dieses  Zeugniss  in  dem  Dogma  fanden,  fiel  für  sie  jeder  Antrieb 
fort,  es  genauer  zu  controliren  K   Nicht  als  Dogma  blieb  es  ihnen  mass- 
gebend,  sondern  als  Bekenntniss  zu  dem  Herrn  und  Gott,  der  den 
Klugen  verborgen  ist,  aber  den  Unmündigen  offenbar.   Allein,  weil  es 
überhaupt  in  Kraft  blieb,  blieb   es  gewissermassen  doch  als 
Dogma;  denn  die  Dinge  haben  ihre  eigene  Logik.    Das  alte  Dogma 
war  ja  nicht  nur  ein  evangelisches  Zeugniss  von  dem  gnädigen  Gott, 
von  dem  Erlöser  Christus  und  der  Sündenvergebung  —  es  gab  diese 
Glaubensgedanken  sogar  nur  unsicher  wieder  — ,  sondern  es  war  vor 
Allem  Gott-Welt-Erkenntniss  und  Glaubensgesetz.    Und  je  mächtiger 
die  Reformation  den  Glauben  betonte,  je  nachdrücklicher  sie  Alles  auf 
ihn  stellte  gegenüber  den  Unsicherheiten  des  hierarchischen,  kultischen 
und  mönchischen  Christenthums,  um  so  verhängnissvoller  musste  es  für 
sie  werden,   dass  sie  diesen  Glauben  und  jenes  Glaubenswissen  und 
Glaubensgesetz  unbcsehens  an  einander  geschoben  hatte.     Als  nun 
vollends  noch  der  Druck  der  äusseren  Situation  hinzukam  und  unter 
den  Stürmen,  die  hinaufgezogen  waren  (Schwarmgeister,  Wiedertäufer), 
der  Muth  entschwand,  etwas  zu  behaupten,  „quod  discrepet  ab  ecclesia 
catholica  vel  ab  ecclesia  Romana,  quatcnus  ex  scriptoribus  nota  est", 
da  mündete  die  Bewegung  in  die  Augsburgische  Confession,  die  das 
Princip  des  evangelischen  Christenthums  zwar  nicht  verleugnet,  aber 
damit  begonnen  hat  (doch  vgl.  schon  die  Marburger  Artikel),  den  neuen 
Wein  in  die  alten  Schläuche  zu  giessen.     Hat  die  Reformation  (im 
16.  Jahrhundert)  das  alte  Dogma  abgethan?   Es  ist  sicherer,  auf  diese 
Frage  mit  einem  Nein  zu  antworten,  als  mit  einem  Ja.    Allein  wenn 
man  zugicbt,  dass  sie  seine  Grundlagen  entwurzelt  hat  —  was  unsere 


*  S.  Kattenbusch,  Luthcr's  Stellung^  zu  den  ökumen.  Symbolen  1883. 


584  Geschichtliche  Orientirung. 

katholischen  Gegner  uns  mit  vollem  Recht  vorhalten  — ,  dass  sie  ein 
mächtiges  Princip  ist  und  nicht  eine  neue  Lehrordnung,  und  dass  ihre 
Geschichte  durch  this  Zeitalter  der  Orthodoxie,  des  Pietismus  und 
Rationalismus  hindurch  his  heute  nicht  ein  Ahfall  ist,  sondern  eine  noth- 
wendige  Entwickelung,  dann  nuiss  man  auch  zugestehen,  dass  die  völlig 
conservative  Stellung  der  Refornuition  zum  alten  Dognui  nicht  dem 
Principe  angeluirt,  sondern  der  Geschichte.  Somit  bezeichnet  die 
Reformation  als  fortwirkende  Bewegung  doch  einen  Ausgang  der 
Uogmengeschichte  und,  wir  hoft'en,  den  rechten  und  eigenthchen  Aus- 
gang ». 

*  Es  ist  sehr  lehrreich,  hier  das  Zeuguiss  zweier  Mänucr  zusammenzustellen, 
die  so  verschieden  wie  möglich  gewesen  sind,  aber  in  der  Beurtheilung  der  Refor- 
mation in  Bezug  auf  ihr  Verhältniss  zur  Vergangenheit  und  zur  Gegenwart  völlig 
übereinstimmen.  Neander  schreibt  (Erklärung  über  seine  Theilnahmc  an  der 
evaugol.  Kircheuzeitung  1830  S.  20):  „Der  Geist  der  Reformation  .  .  .  ge- 
langte nicht  gleich  Anfangs  zu  seinem  klaren  Selbstbewusstsein.  So 
geschah  es,  dass  unbewusstcr  "Weise  manche  Irrthümer  aus  dem  alten  kanonischen 
Recht  in  die  neue  kirchliche  Praxis  übergingen.  Bei  einem  Theil  der  reformirten 
Theologen  kam  auch  noch  die  Vermischung  und  Verwechselung  des  alt-  und  neu- 
testamentlichen  theokratischen  Gesichtspunkts  hinzu.  Luther,  von  so  vielen  Seiten 
über  die  Entwickelung  seiner  Zeit  emporragend,  war  von  dem  Princip  des  sich  frei 
und  durch  seine  innere  göttliche  Kraft  entwickelnden  Glaubens  aus  zu  dem  Be- 
wusstsein  des  rein  Evangelischen  auch  hier  gelangt,  aber  durch  die  Bewegungen 
unter  den  Abendmahlsstreitigkeiten  und  in  dem  Bauernkrieg  wurde 
jenes  reine  Bewusstsein  wieder  getrübt."  Derselbe  gelehrte  und  wahr- 
haftige Mann  hat  es  mehr  als  einmal  öffentlich  bezeugt,  dass  er  sich,  obgleich  er 
den  vollen  evangelischen  Glauben  für  sich  in  Anspruch  nehme,  mit  der  Augs- 
burgischen Confession  keineswegs  vollkommen  identificiren  könne,  und  er  hat  in 
aller  Bescheidenheit  doch  klar  genug  angedeutet,  dass  das  kein  Christ  des  19.  Jahr- 
hunderts mehr  könne,  der  aus  der  Geschichte  gelernt  hat.  Ebenso  erklärt  Ritschi 
(Gesch.  des  Pietismus  I  S.  80  ff.  93  ff.  II  S.  60  f.  88  f.):  „Die  lutherische  Lebens- 
anschauung ist  nicht  im  klaren  Flusse  geblieben ,  sondern  durch  das  Uebergewicht 
der  objectiv-dogmatischen  Interessen  eingeschränkt  und  undeutlich  geworden.  Der 
Protestantismus  ist  nicht  in  voller  Kraft  und  Ausrüstung,  wie  die  Athene  aus  dem 
Haupte  des  Zeus  entsprang,  aus  dem  mittelaltrigen  Schosse  der  abendländischen 
Kirche  entbunden  worden.  Die  TJnvollständigkeit  seiner  ethischen  Orientirung,  die 
Zersplitterung  seiner  Gesammtanschauung  in  die  Reihe  der  einzelnen  Dogmen,  die 
vorwiegende  Ausprägung  seines  Besitzes  in  spröder  Vollständigkeit  sind  Mängel, 
welche  den  Protestantismus  bald  in  Nachtheil  gegen  die  Fülle  der  mittelaltrigen  Theo- 
logie und  Asketik  erscheinen  Hessen  . . .  Die  Schulform  der  reinen  Lehre  ist  wirklich 
nur  die  vorläufige  und  nicht  die  endgiltige  Gestalt  des  Protestantismus.'*  Dass  der 
Protestantismus  resp.  das  Lutherthum,  gemessen  an  der  Augustana,  keine  gemein- 
same reine  Lehre  mehr  besitzt,  ist  einfach  eine  Thatsache,  die  dadurch  nicht  ge- 
ändert wird,  dass  man  sie  verschleiert.  Von  den  21  Glaubensartikeln  der  Augustana 
sind  factisch  die  Art.  1 — 5,  7 — 10,  17.  18  controvers,  selbst  in  den  Kreisen  derer, 
die  noch  immer  „im  Principe"  so  thun,  als  habe  sich  nichts  geändert.  In  concreto 


^ 


Die  Aufgabe.  585 

Für  unsere  Darstellung  erwächst  uns  die  Pflicht,  den  hier  kurz 
skizzirten  dreifachen  Ausgang  der  Dogmengeschichte  näher  darzulegen. 
Aber  eben  weil  es  Ausgänge  sind,  kann  es  sich  nicht  mehr  um  eine 
ausführliche  Darstellung  handeln ;  denn  in  den  Ausgängen  einer  Sache 
ist  nicht  mehr  sie  selbst  die  bewegende  Macht  —  sonst  würde  sie  nicht 
ausgehen  — ,  sondern  neue  Factoren  treten  ein  und  setzen  sich  an  ihre 
Stelle.  Für  unsere  Z^vecke  muss  es  daher  genügen,  die  dogmatische 
Entwickelung  der  römischen  Kirche  bis  zum  Yaticanum  in  Kürze  zu 
zeichnen,  ohne  auf  die  pohtischen  Absichten  und  Verwickelungen, 
welche  der  Kirchengeschichte  und  Symbolik  zu  überlassen  sind,  näher 
einzugehen,  ferner  die  socinianische  Kritik  am  Dogma  vorzuführen, 
endhch  ein  solches  Verständniss  von  der  Reformation  zu  gewinnen, 
dass  ihre  Eigenart  gegenüber  dem  dogmatischen  Erbe  der  Vergangen- 
heit ebenso  klar  wird  wie  die  dogmatische  Verengung,  in  die  sie  zu- 
nächst ausgemündet  ist,  sowie  die  Grundlinien  ihrer  weiteren  Ent- 
wickelung bis  heute.  Bis  zur  Concordienformel  und  den  Dortrechter 
Beschlüssen  die  Geschichtserzählung  ausführlich  zu  geben,  dann  aber 
abzubrechen,  halte  ich  für  einen  schweren  FeMer,  weil  durch  ein  solches 
Verfahren  nur  das  Vorurtheil  bestärkt  wird,  als  seien  die  dogmatischen 
Bildungen  der  Reformationskirchen  im  16.  Jahrhundert  ihre  klassische 
Ausgestaltung,  während  sie  doch  nur  als  Durchgangspunkte  betrachtet 
werden  dürfen. 

Auch  See  borg  und  Loofs  brechen  bei  dem  Concordienbuche  und  der 
Dortrechter  Synode  ab.  Bei  dem  Ersteren  ist  dieses  Ende  wohl  verständlich  — 
man  ist  nur  erstaunt,  die  Confession  von  Westminster  nicht  zu  finden,  das  wichtigste 
Bekenntniss  der  heutigen  calvinischcn  Kirchen.  Dagegen  ist  es  schwer  begreiflich, 
wesshalb  Loofs  der  Betrachtung  des  repristinirten  Lutherthums  folgt,  die  er  doch 
selbst  in  seinem  Schlussabschnitte  (S.  300 f.)  aufhebt:  „Wer  die  Union  billigt,  er- 
kennt damit  an,  dass  die  Gegenwart  so  an  das  16.  Jahrhundert  anzuknüpfen  hat, 
dass  die  Epigonenzeit  ausgeschlossen  ist.    Und  diese  Anerkennung  ist  das 

werden  die  einzelnen  Abweichungen  nicht  nur  „ertragen",  sondern  gestattet;  aber 
Niemand  will,  um  mit  Luther  zu  reden,  der  Katze  die  Schelle  anhängen  und  das  öffent- 
lich proclamiren  und  darnach  die  Kircheuleitung  einrichten,  was  doch  eine  That- 
sache  ist,  die  niemals  mehr  geändert  werden  wird.  Wir  befinden  uns  nicht  in  einem 
„Nothstand"  in  Bezug  auf  den  öffentlichen  Ausdruck  unseres  Glaubens,  sondern  die 
Unwahrhaftigkcit,  Muthlosigkeit  und  Trägheit,  in  der  wir  dem  Wandel  der  Erkcnnt- 
niss  gegenüberstehen,  da«  ist  der  „Nothstand".  Luther  hat  die  Wahrheit  erst  finden 
müssen,  und  als  er  sie  gefunden  hatte,  verkaufte  er  Alles,  was  er  hatte,  um  sie  für 
«ich  und  für  die  Christenheit  zu  erwerben.  Er  verkaufte  das  Herrlichste,  was  die 
Zeit  besass,  die  Einheit  der  katholischen  Kirche:  er  schlug  sie,  ohne  Rücksicht  auf 
die  ^Schwachen"  und  alle  seine  alten  himmlisch-irdischen  Ideale  preisgebend,  in 
Trümmer;  aber  seine  Epigonen  sind  so  matt  und  ängstlich,  dass  sie  sich  selbst  nicht 
einmal  eingestehen  wollen,  was  sie  Neues  gelernt  haben,  und  in  Gefahr  schweben, 
ßich  an  eine  neue  Tradition  zu  verkaufen. 


586  Geachichtliche  Orientirung. 

waa  uns  noth  is t.  Da  nun  die  Epij^onenorthodoxic  das  16.  Jahrhunderts  darin 
wurzelt,  dass  die  Ueforniatoreu  eine  Reiiie  aitkatholischer  Voraussetzungen  und 
Dügnuiu,  welehe  mit  ihren  Grundgedanken  sich  nicht  vertrugen,  den- 
noch beibehalten  haben,  so  ist  mit  jener  Anerkennung  nothwendig  eine  andere  ver- 
l)unden  .  .  .  die  refornuitorischcn  (Jrundgedankcn  conse(|uenter  und  allseitiger 
durchzutiihreu,  als  es  im  16.  Jahrhundert  geschehen  ist  und  geschehen  konnte." 
Sehr  richtig;  aber  dann  hat  man  nur  die  Wahl,  entweder  die  Dogmengeschichte  bis 
zur  (iregenwart  fortzuführen  oder  sich  mit  der  Darlegung  der  Grundgedanken  der 
Reiornuition  zu  begnügen.  Letzteres  aber  ist  m.  E.  angezeigt,  und  zwar  nicht  nur 
desshalb,  weil  die  Ausgestaltung  des  Protestantismus  trotz  der  o70  Jahre,  die  er 
besteht,  noch  nicht  zu  Ende  gekommen  ist  ■ —  die  augustiuisch-römische  Kirche  hat 
noch  viel  längere  Zeit  gebraucht  — ,  sondern  vor  Allem  desshalb,  weil,  wie  Loofs 
sehr  richtig  bemerkt,  „die  Reformatoren  eine  Reihe  altkatholischer  Voraussetzungen 
und  Dogmen,  welche  mit  ihrem  Grundgedanken  sich  nicht  vertrugen,  dennoch  bei- 
behalten haben,  in  denen  die  Epigonentheologie  wurzelt".  Hier  wird  also  die 
Eigenart  des  reformatorischen  Princips  darin  erkannt,  dass  es,  in  seiner  negativen 
Bedeutung  betrachtet,  nicht  nur  mittelalterliche  Jjchren,  sondern  altkatholische 
Voraussetzungen  und  Dogmen  aufhebt.  Nun  aber  giebt  es  bis  auf  diesen 
Tag  kein  Dogma,  welches  nicht  das  altkatholische  wäre  oder  aus  ihm  abgeleitet 
ist.  Also  hebt  die  Reformation,  d.  h.  der  Begriff  des  evangelischen 
Glaubens,  das  Dogma  auf,  wenn  man  nicht  an  Stelle  des  wirklichen  einheit- 
lichen Dogmas  irgend  ein  Gedankengebilde  von  dem,  was  das  Dogma  sein  könnte,  setzt. 
Dann  aber  ist  es  eine  üble  und  gefährliche  Connivenz,  innerhalb  der  Dogmengeschichte 
doch  die  Geschichte  der  Reformationskirchen  nur  soweit  zu  betrachten,  als  sich  ihre 
lehrhaften  Formulirungen  in  den  Bahnen  des  altenDogmas  oder  in  der  vollkommenen 
Abhängigkeit  von  diesem  gehalten  haben.  Die  Reformation  ist  in  einem  ähnlichen 
Sinn  des  Dogmas  Ende,  in  welchem  das  Evangelium  des  Gesetzes  Ende  ist.  Sie  hat 
das  Glaubensgesetz  abgeschüttelt,  nicht  um  zu  erklären,  dass  es  Sünde  sei,  wohl 
aber  in  dem  Sinne,  dass  es  die  Sünde  mehrt,  wie  das  Paulus  vom  mosaischen  Gesetz 
behauptet  hat.  Sie  hat  au  die  Stelle  der  Forderung  der  Leistung  des  Glaubens, 
welche  dem  Gesetz  entspricht,  die  Freiheit  der  Kinder  Gottes  gesetzt,  die  nicht  unter 
der  Last  des  Glaubenszwangs  stehen,  sondern  in  der  Freude  über  ein  geschenktes 
Gut.  Und  sie  kann,  ebenso  wie  der  Apostel  Paulus  in  Bezug  auf  das  Gesetz,  so  in 
Bezug  auf  das  Dogma  sagen:  „Heben  wir  nun  das  Glaubensgesetz  auf?  —  nein; 
wir  richten  es  auf" ;  denn  sie  weiss  und  lehrt,  dass  das  gläubige  Herz  sich  gefangen 
giebt  unter  Jesus  Christus  und  ihm  Gehorsam  leistet. 

Da  sich  die  Kraft  und  Gewalt  des  Bruches  mit  der  Vergangenheit  in  den  sym- 
bolischen Ausgestaltungen  des  Protestantismus  des  16.  Jahrhunderts  nur  unvollkom- 
men ausgedrückt  hat,  so  würden  wir  heute  wider  uns  selbst  und  unser  Christ enthum 
zeugen,  wenn  wir  jene  Ausgestaltungen  so  beurtheilen  würden,  als  wären  sie  ab- 
schliessend. Unter  diesen  „Wir"  sind  nicht  nur  einige  moderne  Theologen  oder  die 
aufrichtigen  Bekenner  der  evangelischen  Union  zu  verstehen  —  für  sie  ist  das  selbst- 
verständlich — ,  sondern  nicht  minder  fast  alle  Lutheraner.  „Allgemein",  sagt 
Loofs  mit  Recht,  „spricht  man  von  verschiedenen  christlichen  Confessionen, 
kein  moderner  Orthodoxer  ist  orthodox  im  Sinne  der  Periode,  welche  die  letzten 
Symbole  producirte  und  beinahe  nirgends  fasst  man  die  Verpflichtung  auf  die  Symbole 
so  auf  wie  damals."  Aber  welch'  ein  trübseliger  Zustand  ist  die  Folge  dieser  Hal- 
tung, da  man  sie  sich  selbst  nicht  eingestehen  will !  Zurück  kann  man  nicht  mehr, 
vorwärts  will  mau  auch  nicht :  so  regiereu  die  Eintälie,  mit  denen  diu  Theologen 


I 


Die  Aufgabe.  587 

der  romantischen  Epoche  Abgründe  überbrückt  und  Klüfte  zugedeckt  haben.  Ein 
Jeder  hält  den  Einfall  des  Anderen  für  falsch;  aber  anerkannt  wird,  dass  er  die  Kluft 
überhaupt  zugedeckt  hat,  einerlei  mit  welchen  trügerischen  Mitteln.  Die  Dogmen- 
geschichte würde  dem  gegenüber  sich  selbst  quiesciren,  wenn  sie  das  alte  Vorurtheil 
fortpflanzen  würde,  als  stünde  der  Protestantismus  heute  bei  dem  Concordienbuch 
und  den  Beschlüssen  von  Dortrecht.  Selbst  wenn  es  nicht  anginge,  das,  was  wir  heute 
einsehen,  besitzen  und  nicht  trotz  unseres  Christenthums,  sondern  auf  Grund  des- 
selben behaupten  —  die  Reinheit  des  Glaubens  als  Glaubenanden  Vater  Jesu  Christi, 
die  strenge  Zucht  christlicher  Erkenntniss,  die  Milde  in  der  Beurtheilung  abweichen- 
der christlicher  Ueberzeugungen,  die  volle  Freiheit  der  geschichtlichen  Forschung 
in  der  Schrift  und  hundert  andere  Güter  —  wenn  es  nicht  anginge,  diese  Güter  aus 
der  Reformation  selbst  abzuleiten,  so  bliebe  uns  nichts  übrig  als  zu  bekennen,  dass 
die  Reformation  nicht  das  Letzte  gewesen  ist,  und  dass  wir  im  Laufe  der  Geschichte 
neue  Reinigungen  durchgemacht  und  neue  Güter  als  Geschenk  erhalten  haben. 
Nicht  auf  die  Reformation  sind  wir  als  evangelische  Christen  verpflichtet,  noch 
weniger  auf  den  „ganzen  Luther"  und  den  „ganzen  Calvin",  auf  die  man  in  trauriger 
Verzweiflung  an  der  Klarheit  des  Evangeliums  und  an  der  eigenen  Freiheit  alles 
Ernstes  uns  verweist,  sondern  auf  das  Evangelium  Jesu  Christi.  Allein  man  verlässt 
nicht  das  helle  Zeugniss  der  Geschichte,  wenn  man  das,  wozu  sich  heute  der  Prote- 
stantismus, in  Schwachheit  und  gehemmt,  entwickelt  hat,  in  dem  Christenthum 
Luther's  und  in  den  ersten  Ansätzen  der  Reformation  wiederfindet,  und  wenn  man 
weiter  urtheilt,  dass  der  Glaubensbegriff  Luther's  noch  heute  die  bewegende  Seele 
des  Protestantismus  ist,  so  Viele  oder  so  Wenige  ihn  sich  angeeignet  haben  mögen. 
Eben  desshalb  sind  die  Ausätze,  den  Glaubensformeln  der  Epigonen  des  Refor- 
mationszeitalters Bekenntnisse  nachzusenden,  die  nicht  mit  vieler  Noth  getragen 
und  mühsam  aufrechterhalten  werden  müssen,  sondern  die  in  Wahrhaftigkeit  als 
der  evangelische  Glaube  bekannt  werden  können,  mit  hoher  Freude  zu  begrüssen. 
Gescheitert  ist  freilich  im  Jahr  1846  das  echt  evangelische  Unternehmen,  ein  neues 
Bekenntniss  einzuführen :  die  Union  war  zu  schwach,  mehr  zu  vermögen  als  sich  selbst 
zu  i-)roclamiren ;  sie  schien  in  dem  Momente  zusammenzustürzen,  wo  sie  bekennen 
sollte,  was  sie  denn  eigentlich  sei.  Aber  die  Aufgabe  ist  unvergessen  geblieben, 
und  jüngst  hat  ein  evangelischer  Theologe,  der  sich  selbst  als  orthodox  und  pie- 
tistisch bezeichnet,  in  eindrucksvollster  Weise  wieder  au  sie  erinnert.  Ueber  AVorte 
braucht  man  nicht  zu  streiten:  er  verlaugt  ein  neues  „Dogma"  (Christliche  Welt 
1889  Oct.  und  Nov.).  Er  meint  ein  neues  Bekenntniss  des  evangelischen  Glaubens, 
befreit  vom  Dogma.  Aber  während  bei  uns  in  traurigster  Verblendung  eine  solche 
Forderung  an  sich  bereits  für  verdächtig  gilt  und  ihr  Spott  und  die  frivole  Losung 
„Ijeati  possidentes"  entgegengesetzt  wird,  regt  es  sich  bei  unseren  Brüdern  jenseits 
des  atlantischen  Oceans.  Vor  mir  liegt  eine  Reihe  von  Kundgebungen  aus  der 
Mitte  der  dortigen  ernsten  Calvinisten,  die  Westminster  Confession  (das 
Hauijtsymbol)  zu  revidiren,  d.  h.  sie  in  Bezug  auf  viele  Punkte,  die  im  17.  Jahr- 
hundert für  die  wichtigsten  galten,  zu  corrigiren.  An  der  Spitze  dieser  Bewegungen 
steht  Prof.  Schaff  (vgl.  dessen  Artikel:  „The  Revision  of  the  Westminister  Con- 
fession, A  Paper  read  before  a  special  meeting,  Nov.  4  1889,  of  the  Presbytery  of 
New- York").  Wenn  irgend  ein  Name,  so  bürgt  der  Schaff's  dafür,  dass  hier  nichts 
unternommen  wird,  was  nicht  auch  duichgeführt  werden  wird  und  zwar  in  besonnen- 
sterund  erfreulichster  Weise  durchgeführt.  Schaff  und  sehr  Viele  mit  ihm  wollen  Con- 
fess.  c.  111,  a.  4.  6.  7.  VI,  1.  X,  3.  4.  XXV,  6.  XXIV,  3  geändert  resp.  ausgemerzt 
sehen.   Aber  sie  verlangen  noch  mehr.    Die  denkwürdigen  Worte  lauten  (p.  10): 


588  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

„.  .  .  Or  if  this  cannot  be  doue  without  nuitihiting  tlio  document,  then  in  humble 
reÜHUce  upou  the  Holy  (Jost,  who  is  ever  guiding  thc  Cliurol),  let  us  take  the  more 
radical  Step,  with  or  througli  the  Pau-Presbyterian  Council,  of  preparing  a  brief, 
simple,  and  populär  creed,  vvhich  shall  clearly  and  tersely  express  for  laymen  as  well 
as  ministers,  ouly  the  cardinal  doctrine  of  faith  and  duty,  leaving  metaphysics  and 
poleniics  to  scieutilic  theology,  a creed  that  can  be  subscribed,  taught,  and  preached 
ex  animo,  without  any  mental  reservation,  or  any  unnatural  explanation ;  a  creed  that 
is  füll  of  the  narrow  of  the  gosi)el  of  (rod's  infinite  love  in  Christ  for  the  salvation  of 
the  World.  Such  a  consensus-creed  would  be  a  bond  of  union  between  the  different 
branches  of  the  RcformedChurch  inEurope  and  America  and  indistantmission  fields, 
and  prepare  the  vvay  for  a  wider  union  with  other  Evangelical  Churches  ...  In  con- 
clusion:  I  am  in  favor  of  both  a  revision  of  the  Westminster  Confession  by  the 
General  Assembly,  and  a  occumenical  Reformed  Consensus  to  be  prepared  by  the 
Pan-Presbyterian  Council.  If  wo  cannot  have  both,  let  us  at  least  have  one  of  the 
two,  and  I  shall  be  satisfied  with  either."  Zu  dieser  Freiheit  haben  sich  die  von 
Lutheranern  gern  als  „gesetzlich"  bezeichneten  Calvinisten  aufgeschwungen!  Was 
würde  mau  bei  uns  sagen,  wenn  ein  ehrlicher  Mann  eine  Revision  der  Augustana 
verlangen  würde !  Allerdings ,  die  calvinischen  Kirchen  Amerikas  besitzen  etwas, 
was  wir  nicht  besitzen,  eine  freie  organisirte  Kirche,  die  sich  selbst  Gesetze  giebt, 
und  —  Muth!  So  werden  wir  vielleicht  einmal  folgen,  wenn  die  Evangelischen  in 
Amerika  die  Fackel  vorantragen. 

Jedenfalls  ergiebt  sich  aus  diesen  Ansätzen,  was  übrigens  an  sich  aus  dem 
Principe  der  Reformation  klar  ist,  dass  die  symbolischen  Bestimmungen  im  Prote- 
stantismus nicht  für  unfehlbar  erachtet  werden.  Man  sucht  freilich  im  Lutherthum 
eifrig  nach  einem  Zwischenbegritf  zwischen  reformabel  und  unfehlbar;  aber  man  hat 
ihn  bisher,  soviel  ich  sehe,  nicht  zu  entdecken  vermocht.  Das  alte  Dogma  aber  gab 
sich  als  unfehlbar,  ja  es  war  nur  Dogma,  sofern  es  mit  diesem  Anspruch  auftrat. 
Also  sind  die  Formulirungen  des  Protestantismus  des  16.  Jahrhunderts  keine  Dogmen. 

Zweites  Capitel:  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen 

Katholicismus. 

1.  Die  Codificirung  der  mittelalterlichen  Lehren  im  Gegensatz 
zum  Protestantismus  (das  Tridentinum). 

Durch  die  Deformation  ist  der  katholischen  Kirche  eine  Codifi- 
cirung  ihrer  Lehren  aufgenöthigt  worden.  Lange  hat  man  sich  in  Rom 
gesträubt,  der  Verdammung  der  lutherischen  Sätze  eine  positive  Dar- 
legung der  eigenen  Lehre  hinzuzufügen  oder  gar  durch  ein  Concil  hin- 
zufügen zu  lassen.  Jenes  wie  dieses  erschien  auf  streng  curialistischem 
Standpunkt  gleich  unnöthig  und  gefährlich.  Dass  Fürsten  und  Völker 
gebieterisch  Beides  verlangten,  und  dass  wirklich  ein  Concil  zu  Stande 
gekommen  ist,  welches  ausser  Reformdecreten,  die  eine  erhebliche  Besse- 
rung des  Kirchenwesens  zur  Folge  haben  mussten,  bisher  unbestimmte 
Lehren  fixirt  hat,  ist  ein  Triimiph  des  Protestantismus  gewesen.  Dieses 
Concil  sollte  im  Sinne  der  Fürsten  die  Aufgabe  endgiltig  lösen,  die  man 
bisher  auf  den  Rehgionsgesprächen ,  nicht  ohne  sich  wirklich  näher  zu 


Einleitung  in  die  Beschlüsse  des  Tridentinums.  589 

kommen^  unternommen  hatte,  und  die  im  kaiserlichen  Interim  vorläufig 
gelöst  erschien.  In  Wahrheit  aber  setzte  es  die  Curie  durch,  dass  zu 
Trident  der  Gregensatz  zum  Protestantismus  zur  schärfsten  Aussprache 
kam.  Sie  hat  diesem  damit  einen  sehr  bedeutenden  Dienst  geleistet ; 
denn  was  wäre  aus  der  Reformation  nach  Luther's  Tode  —  wenigstens 
in  Deutschland  —  geworden,  wenn  man  zu  Trident  entgegenkommen- 
der gewesen  wäre? 

Zu  den  Beschlüssen  von  Trident  haben  die  besten  Kräfte,  über 
welche  die  alte  Kirche  damals  verfügte,  mitgewirkt.  Wahre  Frömmig- 
keit und  ausgezeichnete  Gelehrsamkeit  sind  zu  Worte  gekommen.  Der 
erneuerte  Thomismus,  in  Italien  an  der  Reformation  selbst  erstarkt, 
war  auf  dem  Concil  bereits  jeder  anderen  Richtung  ebenbürtig.  Aus 
dem  Humanismus  und  der  Reformation  hatte  der  mittelalterliche  Geist 
der  Kirche  Kräfte  an  sich  gezogen,  sich  verstärkt  und  zum  Kampfe 
gestählt.  Dieser  Geist  im  Bunde  mit  der  Curie  bestimmte  schliesslich 
das  Concil,  auf  dem  sich  eine  Regeneration  der  alten  Kirche  vollzogen 
hat.  Diese  Regeneration  zeigt  sich  auf  dogmatischem  Gebiet  in  dem 
Bruch  mit  den  skeptischen,  kritischen  Elementen  der  Scholastik  und  in 
der  dadurch  gewonnenen  Zuversicht  zu  der  Lehre  und  der  Theo- 
logie ^  Es  war  doch  ein  ungeheures  Unternehmen,  nach  einer  Jahr- 
hunderte langen  Zeit  des  Schweigens  aus  dem  fast  unübersehbaren  Stoff, 
den  die  Scholastik  und  Mystik  herbeigebracht  hatten,  kirchliche  Dog- 
men mit  fester  Hand  zu  umschreiben !  Nie  hätte  man  an  eine  solche 
Aufgabe  gedacht,  noch  weniger  hätte  sie  gelöst  werden  können,  wäre 
nicht  die  Reformation  mit  ihrer  Augustana  vorangegangen.  Der  Gegen- 
satz zur  Reformation,  der  alle  auf  dem  Concil  vertretenen,  sonst  so  ver- 
schiedenartigen Richtungen  verband,  hat  wie  die  Auswahl  der  zu  be- 
stimmenden Dogmen,  so  ihre  Formulirung  bewirkt.  In  vielen  Fällen 
ist  noch  ersichtlich,  dass  man  zu  Trident  der  Augsburgischen  Confession 
gefolgt  ist;  in  allen  Decreten  ist  der  AViderspruch  gegen  die  evange- 
lische Lehre  das  Leitmotiv.  Die  dogmatischen  Decrete  von 
Trident  sind  der  Schatten  der  Reformation.  Dass  es 
dem  Katholicismus  vergönnt  worden  ist,  sich  selber  zu 
verstehen,  seine  dogmatische  Eigenart  zum  Ausdruck  zu 
bringen  und  sich  damit  aus  den  Unsicherheiten  des  Mittel- 
alters herauszureissen,  verdankt  er  der  Reformation. 

Allein  vollkommen  hat  sich  der  römische  Katholicismus  im  Tri- 
dentinum  noch  nicht  zur  Aussage  zu  bringen  vermocht.    Es  muss  das 

'  Tn  dorn  dogmaiischon  und  othischon  Probaliilisnius  kelirte  freilicli  der  nomi- 
nalistisclie  Skepticismus  in  einer  für  die  Kirche  Hehr  Ijequemen  Gestalt  bald 
wieder  zurück. 


590  Pie  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

Jedem  offenbar  werden,  der  die  Decrete  mit  dem  Iieutigen  Zustande  und 
den  heutigen  Zielen  der  Kirche  vergleicht,  und  der  die  Goncilsacten  durch- 
studirt,  um  zu  erkennen,  was  die  streng  curialistische  Partei  schon  damals 
erreichen  wollte  und  noch  nicht  erreicht  hat.  Nicht  nur  blieb  die  Span- 
nung zwischen  Episkopahsmus  und  Papalismus  ungelöst  —  eine  kirch- 
liche Capitalfrage  für  den  romischen  Katholicismus,  ja  die  entscheidende 
Frage  — ,  sondern  man  musste  auch  der  jüngst  erstarkten  augustinisch- 
thomistischen  Richtung  innerhalb  der  Dogmatik  einen  viel  grösseren 
Spielraum  gewähren,  als  das  auf  das  äusserliche  Sacrament,  den  Gehor- 
sam, das  Verdienst  und  die  Religion  zweiter  Ordnung  gestellte  Kirchen- 
wesen es  zuliess.  Die  Rücksicht  auf  die  augustinisch-thomistische  Rich- 
tung erklärt  sich  aus  verschiedenen  Gründen.  Man  konnte  erstlich, 
wenn  man  Dogmen  wie  die  von  der  Erbsünde,  Sünde,  Erwählung  und 
Rechtfertigung  öffentlich  fixircn  wollte,  an  der  Autorität  Augustinus 
überhaupt  nicht  vorbei,  mochte  sich  auch  in  der  Gegenwart  nicht  eine 
einzige  Stimme  für  ihn  erheben;  man  sah  zweitens  die  tüchtigsten,  wahr- 
haft frommen  Bischöfe  und  Theologen  in  den  Reihen  der  Thomisten ; 
man  konnte  sich  endlich  der  Thatsache  nicht  verschliessen,  dass  ein 
Redürfniss  nach  Reform  gegenüber  dem  kirchlichen  Mechanismus  in 
den  weitesten  Kreisen  wirklich  vorhanden  war,  und  dass  demselben  nur 
durch  Eingehen  auf  die  augustinischen  Gedanken  entsprochen  werden 
könne.  So  ist  die  römische  Kirche  im  16.  Jahrhundert  dazu  gekommen, 
mehr  von  Augustin  in  ihr  Dogma  aufzunehmen,  als  man  das  nach  der 
Geschichte,  die  sie  im  14.  und  15.  Jahrhundert  erlebt  hat,  zu  erwarten 
berechtigt  ist.  Allein  die  Art,  wie  sie  ihn  zu  Trident  aufgenommen  hat, 
ist  nicht  frei  von  Ilnwahrhaftigkeit.  Zwar  dass  man  an  den  einzelnen 
Decreten  mühsam  und  unter  beständigen  Correcturen  gefeilt  und  ge- 
drechselt hat,  sollte  man  den  Vätern  des  Concils  nicht  zum  Vorwurf 
machen:  solange  Dogmen  nicht  von  Propheten  verkündigt,  sondern 
von  Synodalen  angefertigt  werden,  wird  man  keine  andere  Methode  er- 
finden können  als  die,  nach  der  man  auch  in  Trident  gearbeitet  hat. 
Aber  das  ITnwahrhaftige  liegt  hier  darin,  dass  die  eine  Partei  —  und 
sie  hat  schliesslich  den  Ausschlag  gegeben  —  den  Augustinismus  gar 
nicht  wollte,  dass  sie  vielmehr  in  allen  Stücken  die  Gewohnheiten  der 
römischen  Kirche  als  Dogma  durchzusetzen  suchte,  die  sich  nur  mit  der 
semipelagianischen  Doctrin  und  dem  sacramentalen  Mechanismus  ver- 
trugen. Und  doch  ist  selbst  damit  noch  nicht  das  Letzte  gesagt:  die 
Unwahrhaftigkeit  liegt  noch  tiefer.  Die  herrschende,  mit  Rom  verbün- 
dete, von  Rom  aus  geleitete  Partei  wollte  überhaupt  keine  Fixirungen ; 
denn  sie  wusste  sehr  wohl,  dass  sich  ihre  dogmatischen  Grundsätze,  wie 
sie  in  ihrer  Praxis  zu  Tage  treten,  überhaupt  nicht  fassen  lassen  und 


Einleitung  in  die  Beschlüsse  des  Tridentinums.  591 

gar  nicht  gefasst  werden  dürfen.  Sie  hatte  also  bei  dem  ganzen  Concil 
nur  den  einen  Zweck  im  Auge,  möglichst  unverändert,  d.h. mit 
allen  ihren  Gewohnheiten,  Praktiken,  Anmassungen  und 
Sünden  aus  dem  Fegfeuer  des  Concils  hervorzugehen. 
Diesen  Zweck  hat  sie  in  der  Formulirung  der  tridentinischen  Dogmen 
immerhin  nur  unsicher  erreicht  —  eben  desshalb  sind  dieselben  zum 
Theil  unwahr  und  irreführend  ^,  obgleich  ein  scharfes  Auge  schon  hier 
gewahrt,  welcher  Spielraum  dem  „Probabilismus",  diesem  Todfeind  aller 
rehgiösen  und  sittlichen  Ueberzeugung,  gelassen  ist  — ;  aber  sie  hat  ihn 
vollkommen  erreicht,  indem  sie  den  Beschlüssen  die  Professio  Triden- 
tina  nachsandte  und  es  zugleich  durchsetzte,  dass  dem  Papst  allein  das 
Recht  zugesprochen  wurde,  die  Beschlüsse  auszulegen.  So  hat  sie  Fei- 
gen von  den  Dornen  und  Trauben  von  den  Disteln  gesammelt;  denn 
nun  brauchte  sie  keine  einzige  Wendung  in  den  Decreten  zu  fürchten 
undgenoss  andererseits  den  Vortheil,  den  eine  so  imposante  Kundgebung 
der  ganzen  Kirche  gegen  den  Protestantismus  gewähren  musste. 

Wie  die  Curie  zu  Trident  gearbeitet  hat,  wissen  wir  seit  der  herben 
Darstellung  Paolo  Sarpi's.  Eben  desshalb  müssen  wir  das  Tridenti- 
num  zu  der  Geschichte  der  Ausgänge  des  Dogmas  rechnen ;  denn  eine 
stärkere  Macht  als  das  Glaubensinteresse  oder  das  Interesse  der  reinen 
Lehre  schwebte  über  den  Bemühungen  des  Concils  und  leitete  sie  in 
ihrem  Sinne,  das  Interesse  der  römischen  Kirche,  sich  als  irreformabele 
Anstalt  der  Herrschaft  und  Seligkeit  zu  behaupten.  Und  wenn  sich 
unleugbar  zu  Trident  und  in  den  Beschlüssen  des  Concils  auch  frommer 
Glaube,  der  keine  höhere  Macht  über  sich  kannte,  ausgesprochen  hat, 
so  ist  das  doch  in  der  Gesammtwirkung  untergegangen.  Mittelst  der 
Befugniss,  die  Decrete  allein  auszulegen,  hat  der  Papst  eigentlich  die 
ganze  dogmatische  Arbeit  zu  Trident  unsicher  und  illusorisch  gemacht, 
und  die  folgenden  Jahrhunderte  haben  es  zur  Genüge  bewiesen,  dass  der 
sich  den  schwersten  Irrthümcrn  über  die  praktischen  und  dogmatischen 
Interessen  der  römischen  Kirche  hingeben  würde,  welcher  allein  auf 
Grund  der  tridentinischen  Decrete  (ihrem  gegebenen  Wortlaut  nach) 
ein  Bild  von  dem  Glauben  der  römischen  Kirche  entwerfen  wollte.  Er 
erfährt  hier  ja  das  nur  unsicher,  was  heute  das  eigentliche  Streben  der 
römischen  Kirche  auf  dogmatischem  Gebiet  geworden,  zu  Trident  aber 


*  Doppelsinnig  ist  schon  die  SelV)stl)ezeichnung  der  Synode:  „Haec  sacrosancta, 
oecumenica  et  generalis  Tridentina  Synodus  in  spiritu  sancto  legitime  congrcgata, 
in  ea  praesidentibus  (eisdeni)  tribus  ai)ostolicae  sedis  legatis" ;  vgl.  auch  den  be- 
rühmten, oft  wiederholten  Zusatz:  „salva  snmper  in  omiiil)US  sedis  apostolicae 
auctoritate."  Hfkanntiich  wurde  auch  hartnäckig  darüber  gestritten,  ob  man  der 
Synode  den  'I'itel:  „universalem  eeclesiam  repraesentans"  zu  geben  habe. 


592  Tiie  Ausß^änpfe  des  Doj^as  im  römischen  Katliolicismus. 

nur  hinter  den  Coulissen  ersichtlich  ist,  nämlich  das  Dogma  in 
eine  Dogmenpolitik  zu  verwandeln,  alles  Ueherlieferte  im  Wort- 
laut t'iir  sacrosanct  zu  erklären,  aber  ii h o r a  1 1  widerstreite n d e  pro- 
bable Meinungen  zuzulassen  und  die  Laien  von  Glaube  und  Dogma 
abzusperren,  um  sie  an  die  Religion  zweiter  Ordnung,  an  die  Sacra- 
mente,  die  Heiligen,  die  Anudetto  und  einen  abgöttischen  Gliedmassen- 
(.Mu"isti-(>ult  zu  gewöhnen. 

Unter  solchen  Umständen  hat  es  nur  noch  ein  Interesse  zweiten 
Rangs,  im  Einzelnen  den  Wortlaut  der  Decrete  zu  betrachten.  Hat 
man  sich  einmal  dessen  versichert,  welche  widersprechenden  Zwecke  in 
ihnen  vereinigt  werden  sollten,  und  dass  es  schliesslich  gleichgiltig  ist, 
ob  ein  Decret  mehr  augustinisch  lautet  oder  nicht,  so  kann  die  Uni- 
versalgeschichte nur  geringen  Antheil  an  diesen  mühsam  und  fein 
gearbeiteten  Kunstwerken  nehmen.  W^ir  beschränken  uns  daher  im 
Folgenden  auf  das  Wichtigste  ^ : 

Die  Synode,  versammelt  um  „de  exstirpandishaeresibus^  et  moribus 
reformandis"  zu  verhandeln,  beginnt  auf  der  3.  Session  damit,  das  kon- 
stantinopolitanische  Symbol  einscliHessHch  des  „filioque"  zu  wieder- 
holen, und  zwar  ist  dasselbe  eingeführt  mit  den  Worten  „symbolum 
ßdei,  quo  sancta  Rom  an a  ccclesia  utitur".  Sodann  hat  sie  in  der 
4.  Session  sofort  die  Frage  nach  den  Erkenntnissquellen  und  Autori- 
täten der  Wahrheit  aufgenommen.  Es  geschah  zum  ersten  Mal  in  der 
Kirche,  dass  diese  Frage  auf  einem  Concil  verhandelt  wurde.  Alles 
das,  was  seit  den  Tagen  des  Kampfes  gegen  den  Gnosticismus  im  Ge- 
wohnheitsrecht der  Kirche  theils  festgestellt,  theils  unsicher  behauptet 
war,  ermangelte  nach  der  endgiltigen  Entscheidung.    Um  so  bedeuten- 

*  Authentische  Ausgabe  der  Decrete  1564  (Abdruck  bei  Streitwolf  und 
Kiener,  Libr.  symb.  eccl.  cath.  I  1846).  Die  Masarelli'schen  Acten  edirt  von 
Theiner  (Acta  genuiua.  Agram  1874,  2  Vol.);  zahlreiche  Berichte  etc.  zum  Concil 
hrsg.  von  Le  Plat  (1781  ff.),  Sickel  (1870f.),  Döllinger  (1876  ff.),  v.  Druffel 
(1884  f.),  u.  s.  w.  Geschichtliche  Darstellunoen  von  P.  Sarpi  (1619,  deutsch  von 
AVinterer  1839  f.),  Pallavicini  (1656),  Salig  (1741  f.).  Beleuchtungen  von 
Ranke  (Römische  Päpste  I,  Deutsche  Reformation  V),  Pastor  (1879).  Eine  Ein- 
leitung zum  Tridentinum  ist  der  I.  Bd.  d.  Gesch.  d.  Kathol.  Ref.  v.  Maureu- 
b recher  (1880).  Derselbe  hat  eine  ausführliche  Darstellung  begonnen  im  „Histor. 
Taschenbuch"  1886. 1888.  Protestantisches  Hauptwerk  gegen  das  Tridentinum  vom 
dogmatischen  Standpunkt  ist  Chemnitz,  Exam.  conc.  Trid.  1565  f.  (deutscher 
Auszug  von  Benedixen  1884),  vgl.  Köllner,  Symbolik  d.  röm.-kath.  Kirche  1844. 
Zur  Frage  des  Primats  in  Trident  s.  Grisar  i.  d  Ztschr.  f.  kathol,  Theol.  1884. 
Die  Zahl  der  Einzeluntersuchungen  ist  sehr  gross  und  bisher  noch  nicht  für  eine 
neue  umfassende  Darstellung  verwerthet,  weil  noch  immer  neues  Material,  nament- 
lich aus  dem  Vatikan,  aber  auch  aus  den  Archiven  der  Staaten,  zu  erwarten  ist. 

^  Resp.  „de  confirmandis  dogmatibus",  s.  III,  1  fin. 


I 


Das  Tridentinum :  Schrift  und  Tradition.  593 

der  ist  das  Decret.  Indem  es  die  Bewahrung  der  „puritas  evangelii" 
an  die  Spitze  des  ganzen  Beschlusses  stellt,  zeigt  es  positiv  den  reforma- 
torischen Einfluss;  aber  indem  es  die  Apokryphen  des  AT. 's  für  kano- 
nisch erklärt,  die  Tradition  als  zweite  Offenbarungsquelle  neben  die 
Schrift  setzt,  die  Vulgata  als  authentisch  proclamirt  und  der  Kirche  allein 
das  Recht  zuspricht,  die  Schrift  auszulegen,  formulirt  es  den  Gegensatz 
zum  Protestantismus  aufs  schärfste  ^ 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  hatte  die  Reformation  durch  die 
Wiederaufnahme  des  hebräischen  Kanons  ihre  allgemeine  Forderung, 
überall  auf  die  letzten  und  sichersten  Quellen  zurückzugehen,  zum  Aus- 
druck gebracht.  Das  Tridentinum  hat  dem  gegenüber  das  Herkommen 
sanctionirt^.  Doch  war  die  Fixirung  an  sich  von  höchster  Bedeutung; 
ja  streng  genommen  ist  erst  durch  sie  die  Kanonsgeschichte  innerhalb 
der  römischen  Kirche  zur  Ruhe  gekommen.  Gab  es  doch  damals  noch 
Bibelhandschriften  in  der  Kirche,  w^elche  das  4.  Buch  Esra,  den  Her- 
mas, den  Laodicenerbrief  etc.  enthielten.  Diesem  unsicheren  Zustand 
war  nun  endlich  ein  Ende  gemacht  ^. 

Den  zweiten  Punkt  anlangend,  so  lauten  die  wichtigen  Worte  des 
Decrets :  „veritatem  et  disciplinam  contineri  in  libris  scriptis  et  sine 
scripto  traditionibus,  quae  ab  ipsius  Christi  ore  ab  apostolis  acceptae  aut 
ab  ipsis  apostoHs,  spiritu  sancto  dictante,  quasi  per  manus  traditae  ad 
nos  usque  pervenerunt." 

Die  völlige  Gleichstellung  von  Schrift  und  Tradition  ist  in  man- 
cher Hinsicht  ein  Novum  (nam entheb  in  Bezug  auf  die  Disciplin).  Eine 
Gewohnheit  ist  hier  sanctionirt  worden  —  ohne  Zweifel,  um  der  pro- 
testantischen Kritik  zu  begegnen,  die  man  aus  der  Schrift  allein  nicht 
abzuweisen  vermochte  —  ,  die  sich  im  Mittelalter  noch  keineswegs  voll- 
kommen durchgesetzt  hatte,  was  sich  auch  bei  den  Verhandlungen  über 

*  Die  lutherische  Reformation  hatte  sich  übrigens  ])isher  über  die  Erkenntniss- 
quellen  und  Autoritäten  nicht  symbolmässig  ausgesprochen  und  es  ])ekanntlich  auch 
später  nicht  {:(ethan. 

^  Beachtenswerth  ist  auch,  dass  bei  der  Aufzählung  der  neutestamentlicheu 
Schriften  der  Heliräerbrief  ohne  jede  Bemerkung  als  14,  Paulus])rief  gezählt  wird. 

'  Das  tridentinische  Decret  geht  schon  an  dieser  Stelle  auf  die  Bullen  Eugen'sIV. 
zurück,  die  überhaupt  oine  der  wichtigsten  Vorlao^en  der  Concilsljcstimmung'en  ge- 
)»ildet  habf-n.  Tu  dfr  Bulle  j)ro  Jacobitis  „Cantate  doniino"  sind  bereits  die  meisten 
Apokryphen  unterschiedslos  den  kanonischen  Büchern  angereiht  und  der  Hebräer- 
brief ist  als  Paulusbrief  l>ezeichnet.  Diese  Aufziihlunf/  foljrtdem  Kanon  Tnnocentiusl. 
(Ep.  6  ad  F]xsupf'rium  Tolosanum  c.  7).  Indern  das  Tridentinum  dies  guthiess, 
schuf  es  den  Widfrsprucli,  einerseits  den  alexandiinischen  Bibelkanon  anzuerkennen, 
andererseits  der  Vulf^ata  zu  folgen,  während  doch  Hieronymus  die  Apokryphen  ver- 
worfen, resp,  ganz  frei  behandelt  hatte;  s.  Credner,  Gesch.  des  Kanons  S.  300  f. 
320  ff. 

n  a  1  n  H  r;  k ,  Do^engeschichte  Hl.  j^g 


594  r^i('  Ausnräutre  des  Dogmas  im  römischon  KatholioiRmus. 

die  Abfiissiing  des  Decrets  deutlich  zeigte.  Es  wurden  Stimmen  laut, 
welche  eine  Bevorzugung  der  Schrift  verlangten,  aber  sie  drangen  nicht 
durch.  Die  nähere  Definition  der  Tradition  als  traditio  Christi  und 
traditio  apostolorum  (spiritu  sancto  dictante),  ohne  doch  irgendwie  den 
Umfang  beider  Traditionen  und  ihre  Abgrenzung  anzugeben,  ist  ein 
dogmenpolitisches  Meisterstück,  welches  deutlich  zeigt,  dass  es  nicht 
darauf  a))gesehen  war,  dem,  was  Christenthum  sei,  eine  feste  Begrün- 
dung zu  geben.  Höchst  bemerkenswertli  aber  ist,  dass  von  der  Autori- 
tät der  Kirche  und  des  Papstes  hier  ganz  geschwiegen  wird.  Darin  zeigt 
sich  die  Unwahrhaftigkeit  des  Decrets;  denn  letztlich  kam  es  der  Curie 
doch  darauf  an,  ihre  arbiträren  Bestimmungen  als  Erkenntnissquellen 
und  Autoritäten  der  Wahrheit  angesehen  zu  wissen  '.  Mit  Hülfe  dieses 
gänzlich  unbestimmten  Decrets  vermag  sie  das;  aber  sie  vermochte  das 
damals  noch  nicht  dir e et  zum  Ausdruck  zu  bringen;  daher  ist  von 
Papst  und  Kirche  geschwiegen  worden. 

Die  Proclamirung  der  Vulgata  („ut  in  publicis  lectionibus,  dispu- 
tationibus,  praedicationibus  et  expositionibus  pro  authentica  habeatur, 
et  ut  nemo  illam  reicere  quovis  praetextu  audeat  vel  praesumat")  ist  ein 
Gewaltstreich,  der  nicht  einmal  durch  das  Gewohnheitsrecht  gerecht- 
fertigt werden  konnte  und  dazu  dem  Zeitalter,  in  welchem  man  lebte, 
ins  Gesicht  schlugt.  Aehnliches  ist  von  der  Forderung  zu  sagen,  dass 
Jeder  verpflichtet  sei,  den  Sinn  der  hl.  Schrift  festzuhalten,  welchen  die 
heilige  Mutter-Kirche  festhält  („cuius  est  iudicare  de  vero  sensu  et 
interpretatione  scripturarum  sacrarum"),  und  Niemand  wider  den  unani- 
mis  consensus  patrum  auftreten  dürfe.  Diese  Forderung  ist  zwar  an 
sich  nicht  neu;  aber  neu  ist,  dass  die  ganze  Kirche  jede  historisch- 
exegetische Untersuchung  der  Grundlagen  der  Rehgion  abschneidet^. 
Die  Art,  wie  im  Folgenden  der  Schriftgebrauch  überhaupt  verclausuhrt 
wird,  ist  auch  unerhört ;  zweideutig  aber  ist  die  Bestimmung,  dass  die 
Kirche  allein  das  Recht  der  Schriftauslegung  besitzt,  wenn  doch  nicht 
gesagt  wird,  wer  die  Kirche  ist.  Man  konnte  es  eben  auch  hier  noch 
nicht  wagen,  den  Papst  für  die  Kirche  einzusetzen'*. 

^  Immer  wieder  sind  —  namentlich  von  Jesuiten,  aber  auch  von  Anderen  —  auf 
dem  Concil  Reden  gehalten  worden  mit  dem  bündigen  Inhalt,  da  die  Kirche  niemals 
im  Glauben  hat  irren  können,  so  ist  ihre  Theorie  und  Praxis  in  allen  Stücken  die 
richtige  (die  Kirche  aber  ist  Rom).  Da  man  aber  noch  nicht  so  schamlos  war,  diesen 
Grundsatz  offen  zu  proclamiren,  so  tritt  er  in  den  Bestimmungen  nicht  deutlich  hervor. 

*  „Die  Kirche  hat  hier  mit  ihrer  eigenen  Vergangenheit  und  mit  Allem,  was 
Wissenschaft  heisst,  für  immer  gebrochen."    Credner,  a.  a.  O.  S.  324. 

^  „Die  Schrift  ist  so  allerdings  consecrirt  worden,  aber  zu  einer  Mumie  herab- 
gesetzt, die  keinerlei  Leben  mehr  entfalten  kann."    Credner,  a.  a.  0. 

*  S.  über  das  ^anze  trideutinische  Decret  Holtzmann,    Kanon  und  Tni- 


Das  Tridentinum  :  die  Sacramente.  595 

Die  Synode  behandelte  dann  in  der  V.  und  VI.  Session  die  Erb- 
sünde und  die  EecLtfertigung.  Diese  Reihenfolge  ist  lediglich  durch 
den  Gegensatz  gegen  den  Protestantismus  herbeigeführt  und  giebt  den 
beiden  Decreten  ein  Gewicht,  welches  ihnen  factisch  nicht  zukommt. 
Man  thut  daher  besser,  die  folgenden  Decrete  (Sessio  VII — XXV) 
zuerst  zu  betrachten-,  denn  in  ihnen  (Sacramente  VII.  XIII.  XIV. 
XXI.  XXIII.  XXIV;  Messe  XXII;  Fegfeuer,  Heihge,  Bilder,  Ab- 
lässe XXV)  sind  die  entscheidenden  Interessen  des  Katholicismus  zum 
Ausdruck  gekommen,  und  man  war  hier  nicht  genöthigt,  sich  abzu- 
quälen. 

Dass  man  sich  als  Sacramentskirche  behaupten  wollte,  zeigt 
der  Satz,  der  sich  im  Prolog  zum  Decret  der  VII.  Session  findet  und  ein 
ganzes  dogmatisches  Capitel  ersetzt:  „per  sacramenta  omnis  vera  iu- 
stitia  vel  incipit  vel  coepta  augetur  vel  amissa  reparatur."  Kein  Wort 
darüber,  inwiefern  die  Sacramente  das  vermögen,  welche  Beziehung  sie 
zu  dem  Worte  und  den  Verheissungen  Gottes  haben,  und  wie  sie  sich 
zu  dem  Glauben  verhalten.  Diese  Schweigsamkeit  ist  das  Bezeich- 
nendste; denn  sie  zeigt,  dass  eben  das  Sacrament  an  sich,  so  wie  es 
äusserlich  applicirt  wird,  als  das  Heilmittel  betrachtet  werden  soll.  So 
wird  denn  ohne  Bestimmung  dessen,  was  ein  Sacrament  in  genere  sei, 
sofort  zu  13  Anathematismen  übergegangen,  nachdem  nur  zuvor  ver- 
sichert ist,  dass  alles  Folgende  der  Lehre  der  hl.  Schriften,  den  aposto- 
lischen Traditionen,  den  Concilien  und  dem  consensus  patrum  ent- 
nommen sei.  Die  13  Anathematismen  enthalten  in  Folge  dessen  eine 
fortgesetzte  Reihe  von  Bestimmungen,  in  denen  lediglich  die  jüngste, 
durch  die  Scholastiker  präcisirte  Gewohnheit  in  der  Kirche  zum  Dogma 
erhoben  ist  und  alle  dagegenstehenden  geschichtlichen  Erinnerungen, 
die  doch  noch  laut  genug  sprachen,  niedergeschlagen  sind.  Diese  in 
den  13  Anathematismen  formulirten  Dogmen  sind  der 
eigentliche  Protest  gegen  den  Protestantismus. 

Kanon  1  erhebt  die  Lehre,  dass  es  sieben  Sacramente  —  nicht 
mehr  und  nicht  weniger  —  gebe,  und  die  Einsetzung  aller  sieben 
durch  Christus  zumDogma^  Kanon  4  verwirft  die  Lehre,  dass 
der  Mensch  ohne  Sacramente  (resp.  ohne  votum  sacramenti)  per  solam 
fidem  vor  Gott  gerechtfertigt  werden  könne.  Kanon  5  belegt  die  mit 
dem  Anathem,  welche  lehren,  dass  die  Sacramente  propter  solam  fidem 


dition   iS.  25  ff.     J.  DcHilzsoli,   Das    Lehrsystom   dor  röm.  Kirclio  T  S.  295  iL 
358  ff.   385  fr. 

'  Hinr  kann  freilich  immer  nocli  die  Fra^e  auftauchen,  ol)  er  sie  alle  „imme- 
diate"  einf/OHctzt  hahe;  al »er  Angesichts  des  Wortlauts  des  Decrets  wäre  das  eine 
SopliiMterei. 

38* 


590  r)i(^  Ausfjfänore  des  Doprmas  im  rcimisclioii  Katliolicismus. 

mitrieiulaui  eingesetzt  seien,  zerreisst  also  die  ausschliessliche  Ver- 
bindung von  fides  und  sacramentum.  Kanon  G  formulirt  die  schola- 
stische Lehre  von  der  Wirksamkeit  der  Sacramente  ex  opere  operato 
(ohne  jedoch  diesen  Ausdruck  hier  anzuwenden)  und  schhesst  damit 
noch  sicherer  die  Nothwendigkeit  des  (ilaubens  aus,  indem  in  die  Sacra- 
mente eine  gehehnniss volle  Kraft  verlegt  wird  '.  Kanon  7  präcisirt  diese 
Wirksamkeit  der  Sacramente  noch  bestimmter,  indem  er  behauptet, 
dieselben  verliehen,  wo  sie  rite  entgegengenommen  werden,  ex  parte  dei 
stets,  und  zwar  allen  Empfängern,  Gnade.  Kanon  8  schliesst  diese 
Betrachtung  durch  die  Worte  ab:  „si  quis  dixerit,  per  ipsa  novae  legis 
sacramenta  ex  opere  operato  non  conferri  gratiam,  sed  solam 
fidem  divinae  promissionis  ad  gratiam  consequendam  suf- 
ficere,  anathema  sit."  Der  9. Kanon  erhebt  die  Lehre  vom  „character" 
(Taufe,  Firmung  und  Priesterweihe)  zum  Dogma,  definirt  aber  diesen 
„character  in  anima"  vorsichtigerweise  nicht  näher  als  „signum  quod- 
dam  spirituale  et  indelebile"  •^.  Der  10.  Kanon  belegt  die  mit  dem 
Anathem,  welche  behaupten,  dass  alle  Christen  die  Gewalt  haben,  das 
Wort  zu  verkündigen  und  die  Sacramente  zu  verwalten,  wendet  sich 
also  gegen  das  allgemeine  Priesterthum.  Der  11.  Kanon  erhebt  die 
Lehre  von  der  intentio  des  Priesters  („intentio  saltem  faciendi  quod 
facit  ecclesia"),  ohne  welche  die  Sacramente  nicht  Sacramente  sind,  zum 
Dogma.  Der  13.  Kanon  endlich  stellt  alle  unbegründeten  Gewohnheiten 
der  Kirche  bei  der  Verwaltung  der  Sacramente  sicher,  indem  er  erklärt: 
„si  quis  dixerit,  receptos  et  approbatos  ecclesiae  catholicae  ritus  in 
solemni  sacramentorum  administratione  adhiberi  consuetos  aut  con- 
temni  aut  sine  peccato  a  ministris  pro  libito  omitti,  aut  in  novos  alios 
per  quemcunque  ecclesiarum  pastorem  mutari  posse,  anathema  sit." 
Lidern  das  Concil  in   allen   diesen  Sätzen  nur  negative  Bestim- 


^  „Si  quis  dixerit,  sacramenta  novae  legis  non  continere  gratiam,  quam  signi- 
ficant  (s.  die  scholastische  Streitfrage  oben  S.466f.),  aut  gratiam  ipsam  non  ponen- 
tibus  obicem  (s.  oben  S.481)  non  cont'erre,  quasi  signa  tantum  externa  sint  acceptae 
perfidem  gratiae  vel  iustitiae  et  uotae  quaedam  Christianae  professionis,  quibus  apud 
homines  discernuntur  fideles  ab  infidelibus,  anathema  sit."  Charakteristisch  ist,  dass 
der  Kanon  eine  dritte  Möglichkeit  zwischen  den  Sacramenten  als  Vehikeln  und 
als  Zeichen  nicht  voraussetzt.  Dieselbe  ist  auch  schwer  genug  zu  fassen,  wie  die 
lutherische  Lehre,  die  das  versucht,  beweist.  Die  scotistischen  Lehren  über  die 
Concomitanz  der  göttlichen  Gnadenwirkungen  und  des  Ritus  sind  durch  das  Trideu- 
tinum  nicht  ausdrücklich  widerlegt;  aber  der  Wortlaut  ist  ihnen  ungünstig. 

'^  Zu  vgl.  Cat.  Roman.  IT,  1  Q.  19,  wo  freilich  auch  wenig  mehr  gesagt  wird, 
als  dass  der  Charakter  „veluti  insigne  quoddam  aniniae  impressum  est,  quod  deleri 
numquam  potest  ...  et  praestat,  tum  ut  apti  ad  aliquid  sacri  suscipiendum  vel 
peragendum  efficiamur,  tum  ut  aliqua  nota  alter  ab  altero  hiternoscatur." 


Das  Tridentinum :  die  Sacramente.  597 

mungen  getroffen  hat,  hat  es  alle  Klippen  der  scholastischen  Streit- 
fragen über  die  Sacramente  aufs  glücklichste  zu  umschiffen  vermocht. 
Auch  in  der  Auswahl  des  negativ  Bestimmten  —  wie  Vieles  wäre  noch 
zu  bestimmen  gewesen!  —  zeigt  sich  ein  bewunderungswürdiges  Ge- 
schick. Im  Allgemeinen  ist  wirklich  hier  die  allen  Scholastikern  ge- 
meinsame Grundlage  abgesteckt  worden.  Daher  kommen  die  Bestim- 
mungen^ wenn  man  sie  ins  Positive  umsetzt,  dem  Thomismus  am 
nächsten,  ohne  doch  die  scotistischen  Sätze  direct  auszuschhessen. 

Es  folgen  nun  die  Decrete  über  die  einzelnen  Sacramente.  Hier 
hatte  das  decretum  pro  Armenis  in  bulla  Eugenii  IV:  „Exultate  deo"  * 
durch  seine  kurzen  und  doch  inhaltsreichen  Definitionen  so  vorge- 
arbeitet, dass  den  Vätern  die  dogmatische  Präcisirung  nicht  schwer 
gefallen  ist.  Der  Charakter  der  Einzelbestimmungen  ist  dem  der  General- 
bestimmungen verwandt:  die  äussersten  scholastischen  Streitfragen 
werden  im  Interesse  der  Glaubenseinheit  abgeschliffen;  dadurch  kommt 
ein  Typus  zu  Stande,  der  dem  thomistischen  sehr  nahe  steht,  jedoch 
die  Bearbeitung  der  Lehren  im  Sinne  des  dogmatischen  Probabilismus 
nicht  unmöglich  macht. 

unter  den  die  Taufe  betreffenden  Sätzen  (Sessio  VII)  ist  der  zu- 
sammenhangslos eingestellte  3.  Kanon  der  wichtigste,  weil  er  implicite 
alle  anderen  unnöthig  macht:  „si  quis  dixerit,  in  ecclesia  Romana,  quae 
omnium  ecclesiarum  mater  est  et  magistra,  non  esse  veram  de  baptismi 
sacramento  doctrinam,  anathema  sit."  Der  9.  und  10.  Kanon  schränken 
die  Bedeutung  der  Taufe  gegenüber  der  evangelischen  Auffassung  ein, 
namentlich  der  10.  ist  durch  die  den  Glauben  herabsetzende  Zusammen- 
stellung von  recordatio  und  fides,  sowie  durch  die  Beschränkung  der 
Wirkung  der  Taufgnade  auf  die  früheren  Sünden  lehrreich  ^.  In  Bezug 
auf  die  Confirmation  wird  nun  endgiltig  die  Entwickelungsge- 
schichte  dieser  Handlung  ausgestrichen,  die  Geschichte  also  durch  das 
Dogma  überwunden  (can.  1);  auch  ist  es  hinfort  Glaubensartikel, 
dass  nur  der  Bischof  minister  Ordinarius  dieses  Sacraments  sei  (can.  3). 

Bei  der  Behandlung  der  Eucharistie  (Sessio  XIII)  hat  sich 
das  Concil  nicht  mit  Kanones  begnügt,  sondern  sich  zu  einem  Decret 
aufgeschwungen.  Allein  dasselbe  ist,  w^enn  man  die  scholastischen 
Streitfragen  überschaut,  doch  ziemlich  unbestimmt.  Man  weiss  auch, 
dass  hier  die  theologischen  Gegensätze  aneinander  gcrathen  sind.  Wider 
die  Geschichte  wird  (c.  1)  behauptet,  dass  alle  Väter  einmüthig  stets 

>  S.  Dcnzingcr,  Enchiridion  5.  Aufl.  S.  172  f. 

'^  „Si  quis  dixerit,  pcccata  omnia,  quao  i)Ost  baptisrnum  fiunt,  sola  rccorda- 
tione  et  fide  suscepti  baptismi  vel  dimitti  velvcnalia  ficri,  anathe- 
ma sit.** 


598  r)ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

bekannt  hiitten,  dass  der  Gottmensch  „vere,  realiter  ac  substantialiter 
sub  specie  rerum  sensibiliuni  in  hoc  sacramento"  vorhanden  sei.  Trotz 
grosser  Worte  über  das  Sacrament  wird  (c.  2)  seine  Wirkung  factisch 
auf  die  Befreiung  von  den  täghchen  (lässhchen)  Sünden  und  die  Be- 
wahrung vor  Todsünden  eingeschränkt.  Dann  heisst  es  (cap.  3),  indem 
die  alte  Delhiition  des  Sacraments  überhaupt  aufgenommen  wird :  „com- 
mune hoc  (piidem  est  sanctissimae  oucharistiae  cum  ceteris  sacramentis 
symbolum  esse  rei  sacrae  et  invisibilis  gratiae  formam  visibilem;  verum 
illud  in  ea  excellens  et  singulariter  reperitur  ' ,  (piod  reliqua  sacramenta 
tunc  primum  sanctificandi  vim  habent,  cum  quis  illis  utitur,  at  in  eucha- 
ristia  ipse  sanctitatis  auctor  ante  usum  est."  Innner  sei  es  katholischer 
Glaube  gewesen,  dass  der  Gottmensch  sofort  nach  der  Consecration  an- 
wesend sei,  und  zwar  der  Gottheit,  dem  Leibe  und  der  Seele  nach  in  jeder 
der  beiden  Gestalten  ganz;  näher  wird  dies  also  —  wiederum  als  der 
Glaube,  der  stets  in  der  Kirche  geherrscht  habe  —  definirt:  „per 
consecrationem  panis  et  vini  conversioncm  fieri  totius  substantiae  panis 
in  substantiam  corporis  Christi  domini  nostri  et  totius  substantiae  vini 
in  substantiam  sanguinis  eius.  Quae  conversio  convenienter  et  proprie 
a  sancta  catholica  ecclesia  transsubstantiatio  est  appellata".  Daher  wird 
für  das  Sacrament  der  cultus  latriae  (einschliesslich  des  Fronleichnams- 
festes) verlangt  (c.  5)  und  das  Selbstcommuniciren  der  Priester  wird 
als  traditio  apostolica  bezeichnet  (c.  8).  Die  beigegebenen  Anathe- 
matismen  richten  sich  fast  alle  gegen  den  Protestantismus.  Verdammt 
wird,  wer  nicht  den  ganzen  Christus  leibhaftig  im  Abendmahl  anerkennt, 
wer  glaubt,  dass  die  Substanz  der  Elemente  nach  der  Consecration 
übrig  bliebe,  wer  da  leugnet,  dass  der  ganze  Christus  in  jedem  Theil 
jeden  Elementes  sei,  wer  das  Sacrament  nur  „inusu'^,  nicht  auch  „ante 
vel  post  usum"  Sacrament  sein  lässt,  wer  die  Anbetung  der  Hostie  und 
die  Fronleichnamsfeier  verwirft,  etc.  Am  schUmmsten  aber  sind  die 
Kanones  5  und  11*,  denn  jener  verdammt  die,  welche  die  Sündenver- 
gebung für  die  hauptsächliche  Frucht  der  Eucharistie  halten,  und  dieser 
lautet :  „  si  quis  dixerit,  solam  fidem  esse  sufiicientem  praeparationem 
ad  sumendum  sanctissimae  eucharistiae  sacramentum,  anathema  sit." 
Viele  verlangten  auch  die  Laiencommunion  sub  utraque  einfach  zu  ver- 
dammen, und  ein  solches  Decret  drohte  wirldich.  Allein  unter  dem 
Druck  der  Fürsten  und  der  öffentlichen  Meinung  wurde  die  Frage  zu- 
nächst verschoben  und  dann,  da  sich  auf  dem  Concil  selbst  Einflüsse  zu 
Gunsten  der  Gewährung  des  Laienkelchs  kräftig  geltend  machten,  in 
einem  Decrete  (Sessio  XXI)  zur  Hälfte  entschieden,  welches  das  böse 

^  Zu  vgl.  Cat.  Rom.  11  c.  4  Q.  39 :   die  Eucharistie  ist  fons  aller  Saerameiito, 
die  wie  Bäche  aus  ihr  ausströmen. 


Das  Tridentinum :  das  Abendmahl,  die  Messe.  599 

Gewissen  nur  zu  deutlich  verräth.  Die  Gewährung  des  Laienkelchs  ist 
nicht  verboten  worden  —  musste  man  doch  hier  zugestehen,  dass  „ab 
initio  Christianae  religionis  non  infrequens  utriusque  speciei  usus  fuis- 
set"  — ,  aber  mit  dem  Anathem  wurde  jeder  belegt,  der  ex  dei  prae- 
cepto  den  Kelch  fordere  oder  nicht  überzeugt  sei,  dass  ihn  die  heilige 
katholische  Kirche  aus  guten  Gründen  verweigere.  Die  scholastische 
Lehre  von  dem  totus  Christus  in  qualibet  specie  bildet  die  dogmatische 
Grundlage  des  Rechts  der  Verweigerung.  Deuthcher  kann  man  wohl 
nicht  den  Unfug  der  „Wissenschaft"  in  der  Kirche  nachweisen,  als  an 
der  Thatsache,  dass  diese  „Wissenschaft"  mit  Erfolg  sich  anmasst,  die 
Stiftung  Christi  zu  corrigiren.  Natürlich  aber  ist  in  Wahrheit  die 
Wissenschaft  nur  der  Deckmantel;  denn  es  sind  ganz  andere  Motive 
gewesen,  welche  die  Kirche  bestimmt  haben,  den  Laien  den  Kelch  zu 
entziehen  K  Ein  Heer  von  Schwierigkeiten  drohte  bei  der  Frage  des 
Messopfers  (Sessio  XXII).  Man  konnte  die  theoretische  Begründung 
dieser  am  meisten  angegriffenen  Institution  nicht  umgehen  und  konnte 
doch  andererseits  nicht  Bände  schreiben.  Solcher  aber  hätte  es  bedurft, 
um  alle  die  Probleme  zu  lösen,  die  viel  verhandelt,  aber  ungelöst  und 
ohne  in  scharfe  Formeln  auszulaufen  von  der  Scholastik  überhefert 
waren.  Waren  doch  namentlich  die  Fragen  des  Verhältnisses  des  Opfer- 
todes Christi  zum  Abendmahl  (vor  Allem  zum  ersten  Abendmahl) 
und  wiederum  der  Messe  zum  ersten  Abendmahl  und  zum  Kreuzes- 
tod die  eigentHchen  Mysterien  der  labyrinthischen  Dogmatik,  und 
hatte  hier  doch  jeder  Glaubenssatz  nur  die  Folge  gehabt,  neue  Anstösse 
zu  schaffen !  Dazu  herrschte  völlige  Unklarheit  darüber,  wie  man  theo- 
retisch die  Bedeutung  und  den  Nutzen  der  Messen  fassen  solle.  Die 
schlechte  Praxis  lehrte,  dass  die  Messe  die  wichtigste  Function  innerhalb 


^  Das  Decret  schliesst  mit  der  abgenÖthigten  Bemerkung :  „Duos  vero  articulos, 
alias  (seil.  Sess.  XIII)  propositos,  hos  nondum  tarnen  excussos,  videlicet:  An  rationes, 
quibus  8.  catholiea  ecclesia  adducta  fuit,  ut  communicaret  laicos  atque  etiam  non 
celebrantes  saccrdotcs  sab  una  tantum  panis  specie,  ita  sint  rctinendac,  ut  nulla 
ratione  calicis  usus  cuiquam  sit  perniittendus,  et  An,  si  honestis  et  Christianae 
caritati  consentaneis  rationibus  concedendus  alicui  vel  nationi  vel  regno  calicis  usus 
videatur,  sub  aliquibus  conditionibus  concedendus  sit,  et  quaenam  sint  illac:  eadem 
8.  synodus  in  aliud  tempus,  oblata  sibi  quamprimum  occasioiie,  examinandos  atque 
definiendoa  reservat."  Dazu  ist  der  Schluss  des  Decrets  der  23.  Session  zu  ver- 
gleichen :  „integrum  negotium  ad  sanctissimum  dominum  nostrum  (seil,  den  Papst) 
esse  referendum,  qui  pro  sua  singulari  prudentia  id  efficit,  quod  utile  republicae 
Christianae  et  salutare  petentibus  usum  calicis  fore  iudicaverit."  Dass  man  sich 
in  Rom  und  auf"  dem  Concil  nicht  entschliessen  konnte ,  den  Laienkelch  zu  ge- 
währen, ist  ein  grosses  Glück  für  den  Protestantismus  gewesen;  denn  Viele  von 
denen,  die  seine  Geschicke  in  der  Hand  hatten,  hätten  sich  durch  ein  so  äusscrliches 
Zugeständnis«  zu  Compromisscn  bewegen  lassen. 


600  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  romSclien  Katholicismus. 

des  Keligions-  und  Kirchenwesens  sei;  allein  die  dogmatische  Theorie, 
welche  die  einzigartige  Bedeutung  der  Taufe  und  des  Busssacraments 
nicht  preisgehen  konnte,  liess  für  die  Wirksamkeit  der  Messe  nur  den  be- 
scheidensten Raum.  Das  Decret  gleitet  nun(c.  1)  über  die  Abgründe  der 
historischen  Begründung  der  Messe  (durch  Christus)  sehr  geschickt 
hinweg,  bestimmt  aber  den  Erfolg  derselben  offenbar  widerspruchsvoll, 
indem  derselbe  in  c.  1  als  sidutaris  virtus  in  remissionem  peccatorum, 
quae  a  nobis  quotidie  committuntur,  beschrieben  wird,  in  c.  2  dagegen 
als  sacriticium  vere  propitiatorium,  welches  auch  die  crimina  et  ingentia 
peccata  der  Bussfertigen  (contriti)  tilgt;  ja  man  kann  die  hier  gegebenen 
Ausführungen  nur  so  verstehen,  als  sei  die  Messe  die  directe,  alle  Seg- 
nungen umfassende  Application  des  Kreuzestodes  Christi  K  Im  Uebri- 
gen  wird  die  ganze  schlimme  Praxis  der  Messe,  wenn  auch  in  vorsichtiger 
Verhüllung'-^,  ferner  die  Messen  in  honorem  sanctorum  (c.  3)  und  end- 
lich der  römische  Messkanon  ^  bis  aufs  letzte  Wort  gerechtfertigt  (c.4). 
Auch  die  Forderung  der  Messe  in  der  Landessprache  wird  zurück- 
gewiesen und  zwar  ohne  Begründung  (c.  8)  ^.  Die  Kanones  stellen  Alles, 
was  diesen  Lehren  zuwiderläuft,  unter  das  Anathem  und  schliessen  so- 
mit die  Kirche  des  heidnischen  Messopfers  wider  die  Kirche  des  Worts 
streng  ab^. 

Das  Decret  de  paenitentia  (Sessio  XIV)  ist  das  ausführlichste,  wie 
sich  erwarten  lässt.  Da  die  Hauptstücke  dieses  Sacraments  in  der  Scho- 
lastik feststanden,  das  Tridentinum  aber  die  ganze  scholastische  Arbeit 
hier  recipirt  hat,  so  ist  es  nicht  nöthig,  die  einzelnen  positiven  Bestim- 


*  „Una  enim  eademque  est  hostia,  idem  mmc  offerens  sucerdotum  ministerio, 
qui  seipsum  tuuc  in  cruce  obtulit,  sola  offerendi  ratione  diversa.  Cuius  quidem 
oblationis  criientae  fructus  perhanc  incruentam  uberrime  percipiuntur:  tantum  abest, 
ut  illi  per  hanc  quovis  modo  derogetnr." 

^  „Quare  non  soliim  pro  fidelium  vivorum  peccatis,  poenis,  satisfactiouibus  et 
aliis  necessitatibus  (damit  ist  der  ganze  Unfug  bestätigt),  sed  et  pro  defimctis  in 
Christo,  nondum  ad  plenum  piirgatis,  rite  iuxtaapostolorum  traditionem  (!)  offertur." 

^  r't^ui  constat  ex  ipsis  domini  verbis,  tum  ex  apostolorum  traditionibns  ac 
sanctorum  quoque  pontificum  piis  institutionibus'*  —  man  beachte  die  Zusammen- 
stelhmg ! 

*  „Non  expedire  visum  est  patribus" ;  s.  darüber  Gihr,  Das  hl.  Messopfer 
4.  Aufl.  S.  305  ff.  Liest  man  dieses  AVerk,  so  muss  auch  ein  sanftes  evangelisches 
Gemüth  den  Reformatoren  Recht  geben,  welche  die  Messe  eine  Abgötterei  ge- 
nannt haben. 

^  Ein  gewisser  Einfluss  der  Reformation  zeigt  sich  in  der  Forderung  (c.  8), 
dass  die  Seelsorger  Einiges  von  dem,  was  in  der  Messe  gelesen  wird,  (in  der  Landes- 
sprache) erklären  sollen,  „nc  oves  Christi  esuriant  neve  parvuli  panem  petaut,  et 
non  sit  qui  frangat  eis".  Also  scheint  doch  nur  das  klar  verstandene  Wort  Brot 
?u  sein! 


Das  Tridentinum:  die  Busse.  601 

mungen  (s.  oben  S.  498  ff.)  zu  wiederholen.  Die  Formulirungen  zeichnen 
sich  durch  grosse  Klarheit  aus ;  man  hat  bei  der  Leetüre  die  Empfin- 
dung, auf  sicherem  Boden  zu  stehen,  freilich  auf  einem  Boden,  den  sich 
die  Kirche  selbst  geschaffen  hat '.  Bis  zu  den  Fragen  der  materia,  quasi 
materia  und  forma  hin  wird  hier  Alles  genau  entwickelt.  Als  beachtens- 
werth  ist  hervorzuheben,  dass  das  auf  die  reconciliatio  folgende  Gefühl 
des  Trostes  und  des  befriedigten  Gewissens  nicht  als  eine  regelmässige 
Folge  des  Sacraments  bezeichnet  wird  (c.  3).  Aber  noch  viel  beachtens- 
werther  ist  andererseits,  welchen  Einfluss  die  Reformation  auf  die  Be- 
schreibung der  nothwendigen  Bussgesinnung  ausgeübt  hat.  Die  Partei, 
welche  die  attritio  als  genügend  zum  heilsamen  Empfang  des  Sacra- 
ments erklärte,  ist  nicht  durchgedrungen,  vielmehr  ist  im  Widerspruch 
zur  Lehre  und  Praxis  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  die  contritio  ver- 
langt und  die  attritio  nur  für  eine  heilsame  Vorbereitung  erldärt  („ad 
dei  gratiam  impetrandam  disponit"  „viam  ad  iustitiam  parat").  Allein  da 
die  attritio  doch  „contritio  imperfecta"  genannt  wird,  da  sie  als  „donum 
dei  et  Spiritus  sancti  impulsum,  non  adhuc  quidem  inhabitantis  sed  tan- 
tum  moventis"  bezeichnet  ist,  da  ferner  behauptet  wird,  dass  dierecon- 
cihatio  nicht  der  contritio  sine  sacramenti  voto  zuzuschreiben  sei,  und 
zwischen  contritio  und  contritio  (caritate  perfecta)  selbst  wieder  ein 
Unterschied  gemacht  wird,  da  endhch  trotz  aller  trefflichen  Worte,  die 
über  die  Reue  gesagt  sind,  diese  nicht  mit  der  fides  verbunden,  nicht 
aus  der  fides  entwickelt  ist,  so  sind  alle  Anläufe,  aus  dem  Bussmechanis- 
mus herauszukommen,  vergeblich,  und  die  folgende  Entwickelung  der 
Lehre  von  der  Reue  in  der  Kirche  hat  gezeigt,  dass  man  doch  nicht 
Ernst  mit  der  Ausweisung  der  attritio  machen  wollte.  Factisch  streut 
das  Cap.  4  des  Decrets  de  paenitentia  den  Protestanten  nur  Sand  in  die 
Augen.  In  dem  5.  Cap.  steht  die  exorbitante  Behauptung,  dass  „uni- 
versa  ecclesia  semper  intellexit,  integram  peccatorum  confessionem  Omni- 
bus iure  divin o  necessariam  existcre,  quia  Christus  sacerdotes  sui 
ipsius  vicarios  relicjuit  tamquain  praesides  et  iudices,  ad  quos  omnia 
mortaha  crimina  deferantur".  Die  alte  Streitfrage,  ob  der  Priester  die 
Vergebung  nur  ankündige  oder  als  Richter  spende,  wird  (c.  6)  in  letz- 
terem Sinn  entschieden.  Da  der  Satz,  dass  Gott  nie  Sünden  vergebe, 
ohne  auch  die  ganze  Strafe  zu  erlassen,  zurückgewiesen  wird,  so  wird 
der  Raum  für  die  satisfactiones  gewonnen:  Heiden  nimmt  Gott  ohne 
solche  an,  gefallene  Christen  nicht.  Aber  merkwürdiger  AVeise  werden 
die  satisfactoriac  poenae  auch  unter  den  Gesichtspunkt  gestellt,  der 

*  Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  c.  2  der  Satz  Htcht:  „ecclesia  in  neminem  iudicium 
cxercet,  qui  non  prius  in  ipsam  per  baptismi  ianuam  fuerit  ingressus",  d.  h.  die  Ge- 
taijften  stehen  alle  unter  ihrer  Jurisdiction. 


602  I^ie  Auegänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

ihrer  ursprünglichen  Begründung  innerhalb  des  Bussinstituts  ganz  fremd 
ist,  dass  wir  nilmlich  durch  dieselben  Christus  ähnlich  (conformes)  werden, 
der  für  unsere  Sünden  Genüge  geleistet  hat  („certissimam  quoque  inde 
arrham  habentes,  ({uod  si  compatimur,  et  conglorificabiinur"  c.  8).  Das 
ist  eine  evangehsche  Wendung,  die  aus  dem  Rahmen  der  „Busse"  heraus- 
fällt'.  Die  15  Kanones  de  paenitentia  lassen  freilich  an  principieller 
Abweisung  der  evangelischen  Auffassung  nichts  zu  wünschen  übrig. 
Nur  der  4.  sei  hervorgehoben:  „Si  quis  negaverit  ad  integram  et  per- 
fectam  peccatorum  remissionem  requiri  tres  actus  in  poenitente,  quasi 
materiam  sacramcnti  paenitentiae,  vid.  contritionem,  confessionem  et 
satisfactionem,  quae  tres  paenitentiae  partes  dicuntur,  aut  dixerit,  duas 
tantum  esse  paenitentiae  partes,  terrores  seil,  incussos  conscientiae 
agnito  peccato  et  fidem  conceptam  ex  evangelio  vel  absolutione,  qua 
credit  quis  sibi  per  Christum  remissa  peccata,  anathema  sit." 

Ueber  das  Sacrament  der  letzten  Oelung  (S.  XIV)  ist  es  nicht 
nöthigeinWort  zu  verlieren.  Auch  die  Bestimmungen  über  die  Priester- 
weihe (S.  XXIII)  enthalten  die  scholastischen  Thesen  ohne  Correctur. 
Sie  beginnen  mit  den  berühmten  Worten:  „Sacrificium  et  sacerdotium 
ita  dei  ordinatione  coniuncta  sunt,  ut  utrumque  in  omni  lege  exstiterit." 
Die  Kirche  des  Opferrituals  behauptet  sich  auch  als  Priesterkirche,  und 
sie  thut  dieses,  weil  sie  jenes  thut.  Mit  dem  Opfer  zugleich  habe  Chri- 
stus das  Piiesterthum  eingesetzt;  die  sieben  ordines  seien  ab  ipso  eccle- 
siae  initio  vorhanden  gewesen  (c.  2).  Die  alte  Streitfrage  über  dasVer- 
hältniss  der  Bischöfe  zu  den  Priestern  (ob  sie  einen  eigenen  ordo  bilden?) 
wird  nicht  scharf  entschieden,  sondern  nur  ihre  Superiorität  über  den 
Priestern  behauptet,  da  sie  an  die  Stelle  der  Apostel  getreten  seien; 
auch  werden  einige  ihrer  Vorrechte  angegeben  (c.  4)  ^.  Sehr  scharf  wird 
am  Schluss  des  Decrets  jede  Mitwirkung  von  Laien  bei  der  Ordination 
der  Geistlichen  abgelehnt'"^.  Das  Decret  über  die  Ehe  (Sessio  XXIV) 
hat  diesem  formlosen  Sacrament  keine  bessere  dogmatische  Gestaltung 


*  Vgl.  auch  das  gleich  Folgende  •,  es  ist  evangelisch  gedacht :  „Neque  vero  ita 
est  satisfactio  haec  —  per  illum  acceptantur  a  patre."  Um  so  stärker  contrastirt 
damit  die  sich  sofort  anreihende  Satzgruppe. 

*  Die  Unsicherheit  über  die  Stellung  der  Bischöfe  in  der  Hierarchie  wird  durch 
den  6.  Kanon  noch  erhöht,  wo  nicht  die  sieben  ordines  aufgezählt  werden,  sondern 
von  der  „hierarchia  diviua  ordinatione  instituta,  quae  constat  ex  episcopis,  presby- 
teris  et  ministris"  gesprochen  wird.  Wie  verhält  sich  die  Hierarchie  zu  den  sieben 
ordines  ? 

*  Die  Kanones  verwerfen  die  protestantische  Lehre.  Vor  Allem  wird  in  c.  1 
die  Meinung  verdammt,  dass  es  kein  sacerdotium  externum  gebe,  und  dass  das  Amt 
nur  das  nudum  ministerium  praedicandi  evangelium  sei.  Der  8.  Kanon  stellt  es 
dem  Papste  frei,  soviele  Bischöfe  als  er  will,  zu  creiren. 


I 


Das  Tridentinum :  Sacramente,  Fcjgfeuer  etc.  603 

ZU  geben  verstanden.  Eine  Art  von  Homilie  muss  die  theologische  Ent- 
wickelung  ersetzen.  Erst  in  den  Anathematismen  kommen  die  Interessen 
der  Kjrche  zum  Ausdruck  ^ 

Von  dem  F  e  g  f  e  u  e  r  und  den  Heiligen  war  schon  vorübergehend 
in  dem  Decret  über  die  Messe  die  Kede.  Auf  der  25.  Sitzung  hat  man 
ausdrücklich  von  ihnen  gehandelt.  Das  Decret  über  das  Fegfeuer  ent- 
hält indirect  das  Eingeständniss ,  dass  viel  Unfug  mit  demselben  in  der 
Kirche  getrieben  und  die  Christenheit  zum  Aberglauben  geführt  worden 
sei;  auch  von  turpe  lucrum,  scandala  et  fideHum  offendicula  wird  ge- 
sprochen, x^llein  eben  desshalb  soll  die  sana  doctrina  de  purgatorio 
von  nun  an  fleissig  eingeschärft  werden.  Auf  genauere  Bestimmungen, 
die  den  Geist  des  Zeitalters  gegen  sich  gehabt  hätten,  hat  sich  das  Concil 
nicht  eingelassen.  Ebenso  ist  man  nur  ganz  flüchtig  auf  die  Anrufung 
und  Verehrung  der  Heiligen  sowie  auf  die  Reliquien  und  Bilder 
eingegangen.  Die  Intercession  der  Heiligen  wird  festgestellt  und  die 
protestantische  Meinung  für  impia  erklärt.  Auch  die  Reliquien-  und 
Bilderverehrung  \vird,  unter  Berufung  auf  das  2.Nicänische  Concil,  fest- 
gehalten ^.  Wer  die  Praxis  der  Kirche  nicht  kennt,  könnte  aus  diesen 
kühlen,  von  keinem  Anathema  verzierten  Bestimmungen  schliessen,  dass 
es  sich  um  unbedeutende  Gebräuche  handelt,  zumal  da  die  Kirche  auch 
hier  nicht  unterlässt,  die  Missbräuche  zu  bedauern :  „In  has  autem  sanc- 
tas  et  salutares  observationes  si  qui  abusus  irrepserint,  eos  prorsus  abo- 
leri  sancta  synodus  vehementer  cupit^  etc.",  und  am  Schluss  wirklich 
Anordnungen  giebt,  um  dem  Unfug  zu  steuern  —  in  Wahrheit  freilich 
Anordnungen,  die,  wie  die  folgende  Geschichte  gelehrt  hat,  den  Bischö- 
fen resp.  letztlich  dem  Papst  allein  das  Recht  gaben,  den  alten  Unfug  fort- 
zusetzen und  durch  seine  Autorität  zu  bekräftigen.  Am  zurückhaltend- 
sten und  vorsichtigsten  hat  man  sich  über  die  Ablässe  ausgesprochen. 
Die  scholastische  Theorie  derselben  ist  überhaupt  nicht  berührt;  die 
Missbräuche  sind  zugestanden  und  ihre  Abstellung  —  „ne  nimia  facili- 
tate  ecclesiastica  disciplina  enervetur"  —  wird  streng  eingeschärft  („pra- 
vos  quaestus  omnes  pro  bis  consequendis,  unde  plurima  in  Christiano 
populo  abusuum  causa  fluxit").  Aber  in  der  Sache  selbst  ist  auch  nicht 
ein  Zoll  breit  nachgegeben ;  deini  die  Ablässe  seien  der  Christenheit 

*  Verdammt  wird  dio  Ansicht  (1),  dass  die  Ehe  „uon  gratiam  confcrt".  Die 
Kirche  behält  sich  in  den  Kanoues  die  gesammte  Ellegesetzgebung  vor  und  sanetionirt 
alles  das,  was  sie  Ijisher  auf  diesem  Gebiet  gethan  hat.  In  c.  10  wird,  obgleich  die 
Ehe  ein  Sacrament  ist,  doch  derjenige  verdammt,  welcher  den  chelosen  Stand  nicht 
für  besser  hält  als  den  ehelichen.  Warum  giebt  es  dann  aber  kein  Sacrament  der 
VirginitätV 

"^  Jedoch  mit  dem  Zusatz:  „non  quod  credatur  inessc  aliqua  in  iis  divinitas 
vel  virtuH,  proj^ter  quam  sint  colendae." 


604  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

heilsam ;  es  komme  nur  darauf  an,  dass  das  Geschäft  der  heiligen  Ab- 
lässe fromm  und  heilig  für  alle  Gläu])igen  verwaltet  werde  ^  jeder  sei 
zu  verdammen,  der  sie  für  unnütz  erklärt  oder  leugnet,  dass  die  Kirche 
die  Befugniss  zu  ihrer  Ertheilung  besitze. 

So  hat  sich  die  Kirche  in  der  specitischen  Verweltlichung  als  Opfer-, 
l^riester-  und  Sacramcntskirche  durch  das  Tridentinum  abgeschlossen*. 

*  Mau  muss  die  Theorie  und  die  Praxis  der  Bcnedictionen  und  Sacra- 
nientalieu  neben  den  Ablässen (s.  Schneider,  Die  Ablässe  7.  Aufl.  1881)  studiren, 
um  zu  erkennen,  wie  weit  die  katholische  Kirche  im  Heidenthum  (s.  auch  Trede, 
Das  Heidenthum  in  der  römischen  Kirche  I.  Th.  1889)  vorgeschritten  ist.   Die  dog- 
matischen Ausführungen  über  die  „benedictio  constitutiva"  und  die  „consecratio" 
im  Unterschied  von  der  „benedictio  invocativa"   sind  ein  wahrer  Hohn  nicht  nur 
auf  die  christliche,  sondern  auf  jede  geistige  Religion.   Ich  greife  aus  einem  sehr 
angesehenen  "Werke,  Gihr,  Das  hl.  Messopfer  4.  Aufl.  1887,  ein  paar  Stellen  heraus. 
S.  220:   „So  vollkommen  die  zur  Opferfeier  bestimmten  Gregenstände  auch  sein 
mögen  durch  natürlichen  Werth,  durch  künstlerische  Ausschmückung  und  Schön- 
heit, so  sind  sie  desshalb  doch  nicht  ohne  Weiteres  beim  Gottesdienst  zu  gebrauchen; 
dazu  bedürfen  die  meisten  Kultgeräthe  einer  vorausgehenden  Benediction  resp. 
Consecration  ....  sie  müssen  eine  heilige  Sache  (res  sacra)  werden.   Durch 
den  Segen  und  das  Gebet  der  Kirche  werden  die  liturgischen  Geräthschaften  nicht 
nur  geheiligt,  sondern  auch  geeignet,  injenen,  welche  sie  andächtig  ge- 
brau chen  und  mit  ihnen  in  Berührung  treten,  verschiedene  heilsame 
Wirkungen  hervorzurufen.    Die  benedicirten ,  resp.  consecrirten  Kultgegen- 
stände sind  gleichsam  aus  dem  Gebiete  der  Natur  in  das  Reich  der  Gnade 
versetzt  (~  also  ein  in  das  Reich  der  Gnade  versetztes  Tuch,  eine  in  das  Reich  der 
Gnade  versetzte  Kanne,  u.  s.  w. !  — )  und  das  specielle  Eigenthum  Gottes;  insofern 
tragen  sie  etwas  Göttliches  an  sich,  auf  Grund  dessen  ihnen  eine  ge- 
wisse religiöse  Verehrung  gebührt  und  erwiesen  werden  muss."  S.  220 
n.  1 :  „Die  AVeihung  (benedictio  constitutiva  resp.  consecratio,  wenn  sie  mit  hl.  Oel 
erfolgt)  unterscheidet  sich  wesentlich  von  der  Invocativbenediction  dadurch,  dass 
sie  Personen  und  Sachen  einen  höheren,  übernatürlichen  Charakter 
aufprägt,  d.  h.   sie  bleibend  in  den  Zustand  geheiligter  und  religiöser  Gegen- 
stände versetzt."    S.  300  n.  2:  „Bei  den  benedicirten  Kerzen  kommt  auch  noch 
das  sacramentale  Moment  in  Betracht.   Dieselben  sind  nämlich  nicht  bloss  reli- 
giöse Symbole,  die  etwas  Uebernatürliches  bedeuten,  sondern  auch  heilige 
Gegenstände,  die  —  in  ihrer  AV eise —  etwas  Uebernatürliches  wirken, 
indem  sie  uns  auf  Grund  und  in  Kraft  des  Gebetes  der  Kirche  gött- 
lichen Segen  und  Schutz,  namentlich  gegen  die  Geister  der  Finster- 
niss,  vermitteln."    S.  360:  „Der  gesegnete  AVeihrauch  ist  ein  Sacramen- 
tale; als  solches  bedeutet  er  nicht  bloss  etwas  Höheres  und  Geheimnissvolles, 
sondern  hat  auch  (in  seiner  AVeise)  geistliche  übernatürliche  AVirkungen  . . . 
Er  ist  Organ  (Träger)  göttlichen  Schutzes  und  Segens.  Durch  das  Kreuzes- 
zeichen und  das  Gebet  der  Kirche  erlangt  der  AVeihrauch  eine  besondere  Kraft, 
den  Satan  von  der  Seele  zu  vertreiben  oder  fern  zu  halten  u.  s.  w.  ...  Er  dient 
(auch)  zur  Weihe  von  Personen  und  Gegenständen.    Mit  den  AVeihrauch- 
wolken  verbreitet  sich  nämlich  auch  die  Kraft  des  Segens,  den  die  Kirche  spricht 
und  mittheilen  will;  dieselben  ziehen  Alles,  was  incensirt  wird,  in  eine  geheiligte 


Das  Tridentinum:  Sünde  und  CInade.  605 

Indem  sie  Alles,  was  die  römische  Kirche  thut,  alle  Gewohnheiten,  die 
sie  auf  dem  langen  Wege  durch  das  Mittelalter  angenommen  hat,  für 
wahr,  heilsam  und  götthch  erklärt,  hat  sie  sich  dem  Kampfe  entzogen, 
den  Luther's  Thesen  heraufbeschworen  haben,  dem  Kampf  um  das 
rechte  innerliche  Yerständniss  der  christlichen  Rehgion.  Alle  Aus- 
einandersetzungen über  Gnade,  Freiheit,  Sünde,  Gesetz,  gute  Werke 
u.  s.  w.  sind  im  besten  Fall  in  die  zweite  Stelle  gerückt;  denn  sie  wer- 
den nur  unter  der  Voraussetzung  geführt,  dass  die  Kirche  unter  allen 
Umständen  sich  als  das  behauptet,  was^ie  geworden  ist,  als  die  päpst- 
liche Opfer-  und  Sacramentsanstalt.  Die  römische  Kirche  hat  in  dem 
Tridentinum  formell  die  Weigerung  niedergelegt,  die  Frage  der  Religion 
auf  dem  Niveau  zu  behandeln,  auf  welches  Luther  diese  Frage  hinauf- 
geführt hatte.  Sie  beharrt  auf  der  antik-mittelalterlichen  Stufe.  Das 
ist  die  höchste  Bedeutung  des  grossen  Concils. 

Aber  man  durfte  doch  eine  sachliche  Auseinandersetzung  mit  der 
reformatorischen  AufPassung  des  Christenthums  nicht  vermeiden.  Viele 
katholische  Christen  verlangten  das  selbst. .  War  doch  gerade  damals 
eine  Partei  in  dem  Katholicismus  kräftig,  welche  die  das  sacramentale 
System  balancirenden  augustinisch-mystischen  Gedanken  stark  betonte 
und  dem  Pelagianismus  und  ProbabiHsmus,  welche  die  Coefficienten  der 
Sacramentskirche  sind,  entgegenarbeitete.  Die  beiden  Decrete  über  die 
Erbsünde  und  die  Rechtfertigung  sind  einerseits  der  Niederschlag  der 
Auseinandersetzung  mit  dem  protestantischen  Christenthum,  anderer- 
seits der  Compromiss  zwischen  dem  Thomismus  (Augustinismus)  und 
Nominalismus.  Das  Decret  über  die  Rechtfertigung,  obgleich  ein  Kunst- 
product,  ist  in  vieler  Hinsicht  vortrefflich  gearbeitet;  ja  man  kann  zwei- 
feln, ob  die  Reformation  sich  entwickelt  hätte,  wenn  dieses  Decret  z.  B. 
auf  dem  Lateranconcil  erlassen  worden  und  wirklich  in  Fleisch  und  Blut 
der  Kirche  übergegangen  wäre.  Allein  das  ist  eine  müssige  Erwägung. 
Dass  sich  die  römische  Kirche  so  über  die  Rechtfertigung  ausgesprochen 
hat,  wie  jenes  Decret  lautet,  ist  selbst  eine  Folge  der  Reformation.  Eben 
desshalb  darf  man  es  auch  nicht  überschätzen.  Es  ist  aus  einer  Situation 


Atmosphäre  liinein."  Man  Icso  auch  den  entsetzliclicn  Abschnitt  ül)cr  die 
Bcnediction  der  Priestcrgewändcr  (S.  255f.j  und  ihre  allegorische  und  moralische 
Bedeutung.  „Durch  Ausl)esserung  verlieren  die  Kultkleider  ihre  Bcnediction  nur, 
wenn  der  neu  an-  oder  eingesetzte  Theil,  der  keine  Weihe  hat,  grösser  ist  als  der 
geweihte  —  nicht  aber,  wenn  er  kleiner  ist",  u.  s.  w.  Wie  sich  die  Kirche  in  dem 
AhlasH  in  Wahrheit,  d.  h.  in  })raxi,  ein  zweites  Busssacrament  gescharien  hat,  so  hat 
sie  sich  in  den  „Sacramentalien"  neue  Sacramente  geschafieu ,  die  viel  bequemer 
sind  als  die  alten,  weil  sie  ganz  in  der  Macht  der  Kirche  stehen.  In  beiden  Stücken 
hat  sie  den  Rabbinismus  und  die  Theorie  und  Praxis  der  Pharisäer  und  Talmudisten 
im  Christenthum  legitimirt. 


606  r)ie  Ausufän^o  des  Dogmas  im  römischon  Katholicismus. 

entsprungen,  die  sich  für  die  römische  Kirche  so  niemals  wiederholt  hat 
und  nicht  mehr  wiederholen  wird.  Sie  stand  damals  unter  dem  Ein- 
druck des  Augustinismus  und  Protestantismus  zugleich  —  nicht  in  Be- 
zug auf  ihre  Sacramente  und  Institutionen,  wohl  aber  in  Bezug  auf  die 
geistige  Erfassung  der  Religion;  denn  mit  der  alten  nominalistischen 
Scliolastik  konnte  sie  sich  niclit  einfach  identificiren ;  noch  aber  hatten 
die  Jesuiten  nicht  den  Weg  gefunden ,  die  kritischen  und  skeptischen 
Momente  des  Nominalismus  aufzunehmen,  sie  in  probabilistische  umzu- 
setzen und  so  jene  elastischen  loci  zu  schafien,  die  sich  jedem  Druck 
und  jeder  Wendung  der  Kirchenpolitik  anschmiegten.  Man  war  daher 
zu  Trident  bis  zu  einem  gewissen  Masse  den  Thomisten  gegenüber  wehr- 
los; die  Thomisten  hinwiederum  waren,  wie  die  Verhandlungen  auf  den 
Religionsgesprächen  bereits  gezeigt  hatten,  der  protestantischen  Recht- 
fertigungslehre gegenüber  (als  Einzellehre  gefasst)  nicht  verhärtet.  Der 
tiefe  Unterschied  zwischen  Protestanten  und  augustinischen  Thomisten 
liegt  freilich  offen  genug  in  der  Thatsache  zu  Tage,  dass  Jene  eben  um 
der  Rechtfertigungslehre  willen  die  „Gewohnheiten"  der  römischen 
Kirche  als  Ketzereien  bekämpften,  diese  nicht  begreifen  konnten, 
warum  sich  Beides  nicht  sollte  vereinigen  lassen.  Allein  zu  klarer  Er- 
kenntniss  des  Gegensatzes  ist  es  nicht  gekommen,  weil  auch  der  Prote- 
stantismus schon  damals  anfing,  die  Rechtfertigungslehre  als  Schullehre 
zu  behandeln  und  in  der  Ableitung  des  Rechts  auf  religiöse  und  geistige 
Freiheit  aus  der  Rechtfertigung  unsicher  und  eng  geworden  war.  So 
konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  man  den  Gegensatz  in  Schulbestim- 
mungen über  die  Rechtfertigung  zum  Ausdruck  zu  bringen  suchte,  die 
nicht  ohne  Belang  sind,  ja  als  Exponenten  der  verschiedenen  Grund- 
anschauungen eine  hohe  Bedeutung  haben,  indessen  doch  den  wahren 
Unterschied  in  seinem  ganzen  Umfang  mehr  verhüllen  als  klarstellen. 
Oder  ist  der  Unterschied  zwischen  deiii  Katholicismus  und  Protestantis- 
mus wirklich  beschrieben,  wenn  man  sagt,  dort  sei  die  Rechtfertigung  ein 
Process,  hier  ein  einmaliges  Ereigniss,  dort  werde  eine  gratia  infusa 
gelehrt,  hier  ein  iustitia  imputativa,  dort  handle  es  sich  um  Glaube  und 
Liebe,  hier  um  den  Glauben  allein,  dort  denke  man  auch  mit  an  das 
Verhalten,  hier  nur  an  das  Verhältniss?  Das  sind  alles  nur  halbe 
Wahrheiten,  wenn  sich  auch  die  confessionelle  Controverse  —  beson- 
ders später  —  hauptsächlich  in  diesen  Gegensätzen  bewegt  hat.  Es 
stünde  schlimm  um  den  Protestantismus,  wenn  sich  seine  Auffassung  in 
diesen  spitzen  Formeln  ausdrücken  liesse. 

Umgekehrt,  bleibt  die  römische  Kirche  die  römische  Kirche  — 
und  zu  Trident  beschloss  man,  sich  nicht  zu  reformiren  —  ,  so  ist  es 
ziemlich  gleichgiltig,   wie  sie  über  Rechtfertigung  und   Erbsünde  zu 


Das  Tridentinum:  Sünde  und  Gnade.  607 

lehren  gedenkt ;  denn  alle  Sätze,  die  sie  hier  proclamirt,  mögen  sie  nun 
mehr  nominalistisch  oder  augustinisch-thomistisch  oder  selbst  refonna- 
torisch  lauten  ^,  stehen  ja  ledigKch  als  Untersätze  unter  dem  Obersatz, 
dass  die  Gewohnheiten  der  römischen  Kirche  das  oberste  Gesetz  sind. 
Nach  diesen  nöthigen  Vorbemerkungen  prüfen  wir  die  beiden 
Decrete.  In  dem  Decret  über  die  Erbsünde  ist  der  flagrante  Pela- 
gianismus  resp.  Semipelagianismus  des  Nominalismus  in  starken  und 
erfreulichen  Worten  abgethan;  aber  die  positiven  Sätze  sind  so  klug 
gefasst,  dass  man  mit  ihnen  noch  immer  einen  Sinn  verbinden  kann, 
der  von  dem  Augustin's  sehr  abweicht.  Gleich  im  1.  Cap.  heisst  es, 
Adam  habe  die  HeiHgkeit  und  Gerechtigkeit  verloren,  „in  qua  con- 
stitutus  fuerat".  Das  ist  doppelsinnig:  man  kann  es  als  „creatus" 
verstehen  (thomistisch ;  anerschaffene  Gerechtigkeit);  man  kann  es 
aber  auch  als  hinzugekommene  Gabe  verstehen  (scotistisch ;  donum 
superadditum),  und  diese  Deutung  wird  vielleicht  durch  die  Phrase 
„accepta  a  deo  sanctitas  et  iustitia"  verstärkt.  Ebenso  doppelsinnig 
ist  es,  wenn  gesagt  wird,  dass  durch  den  Fall  der  ganze  Adam  nach 
Leib  und  Seele  „in  deterius  commutatus"  sei;  denn  was  heisst  „in 
deterius"?  Im  6.  Decret  steht  dafür  „innocentiam  perdidisse"  (c.  1) ; 
aber  gleich  darauf  wird  erklärt,  dass  der  freie  Wille  keineswegs  aus- 
gelöscht sei,  sondern  „viribus  attenuatum  et  inclinatum".  Diese  Be- 
stimmung lehrt,  dass  „in  deterius"  wirklich  als  ein  Comparativ  zu 
verstehen  ist,  und  dass  man  nicht  Willens  war,  die  Lehre  Augustin's 
von  der  Sünde  und  Unfreiheit  zu  genehmigen.  Im  2.  Cap.  (cf.  c.3)  wird 
der  Erbtod  und  die  Erbsünde  (Erbstrafe)  streng  gelehrt  und  dem 
gegenüber  auf  das  alleinige,  in  der  Taufe  mitgetheilte  Verdienst  Christi 
verwiesen  (Kindertaufe  c.  4),  welches  den  reatus  originalis  peccati, 
also  die  Schuld,  völhg  austilgt,  so  dass  nun  nichts  mehr  Hassens- 
werthes  an  dem  Menschen  ist  und  ihm  der  ingressus  in  coelum  offen- 
steht. Indirect  aber  sagt  das  Decret  auch,  dass  alle  Sünde  selbst 
mit  getilgt  wird:  „manere  in  baptizatis  concupiscentiam  vel  fomitem, 
haec  s.  synodus  fatetur  et  sentit:  quae  cum  ad  agonem  rclicta  sit, 
nocere  non  consentientibus  virihter  per  Christi  Jesu  gratiam  repug- 
nantibus  non  valet  .  .  .  hanc  concupiscentiam,  quam  aliquando  apo- 
stolus  peccatum  appellat,  s.  synodus  declarat,  ecclesiam  catholicam 
numquam  intellexisso  peccatum  appcllari,  quod  vere  et  proprio  in 
rcnatis  peccatum  sit,  sed  quia  ex  peccato  est  et  ad  peccatum  incli- 
nat."  Mit  dieser  sehr  verständigen  scholastischen  Erwägung  über  die 
böse  Lust  ist  der  religiöse  Boden   der  Betrachtung  der  Sünde  ver- 

'  Hc;kanntlieli   ist  man  einmal   in  Rf)m  naln;  daran  gewesen,  die  ganze  erste 
Hälft«;  (U'.v  A  u((Hburgi8cben  (JonfcsHion  gut  zu  ln'isH(^n. 


008  Tiie  Ausßfänßre  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 


I 


lassen,  und  es  ist  wiederum  allen  Zweifelfragen  Raum  gegeben,  die  zu 
nominalistischen  (pelagianisclien)  Antworten  führen  mussten.  Weil  in 
dem  ganzen  Decret  von  der  Erbsünde  nicht  von  Glauben  und  Unglauben 
die  Rede  ist,  die  Sündenvergebung  also  wie  ein  äusserer  Act  erscheint, 
olnie  dass  das  Medium  genannt  ist,  in  welchem  sie  sich  dem  Menschen 
allein  zu  vergewissern  vermag,  so  müssen  die  Bestimmungen  nothwen- 
dig,  wenn  man  die  Magie  vermeiden  will,  ins  Pelagianische  auslaufen. 
Spielt  sich  der  Process  der  Sündenvei'gebung  ausserhalb  des  Glaubens 
ab,  so  kann  die  böse  Lust  nicht  Sünde  sein ;  denn  in  diesem  Fall 
wäre  die  Taufe  unzureichend,  da  sie  das  nicht  erzielt,  was  sie  erzielen 
soll,  nämlich  Wegschaffung  der  Sünde.  Da  man  ferner  die  Fortexistenz 
der  Lust  nicht  leugnen  kann,  so  bleibt  nichts  übrig,  als  sie  für  in- 
different zu  erklären.  Eine  solche  Annahme  muss  aber  nothwendig 
auf  die  Fassung  der  Lehre  vom  Urständ  und  dem  freien  Willen 
zurückwirken:  die  Concupiscenz  muss  zum  Wesen  des  Menschen  ge- 
rechnet werden,  demgemäss  kann  die  Heiligkeit  nicht  sein  wahres 
Wesen  ausdrücken ',  sondern  ist  ein  donum  superadditum.  Das  Decret 
hat  also  das  Niveau  der  protestantischen  Anschauung  nicht  erreicht, 
auf  welchem  ohne  Rücksicht  auf  die  irdische  Zuständhchkeit  des  Men- 
schen und  die  psychologischen  Fragen  das  Problem  der  Sünde  und 
Freiheit  mit  dem  Problem  der  Gottlosigkeit  und  des  Gottvertrauens 
identisch  ist^. 

Die  „dornenvolle  Gnadenlehre",  wie  ein  moderner  römischer 
Dogmatiker  in  einem  unbewachten  Augenblick  sie  genannt  hat,  be- 
schäftigte die  Väter  Monate  hindurch.  Das  Decret,  welches  schliess- 
lich zu  Stande  gekommen  ist,  könnte  von  den  Protestanten  nach  alle 
dem,  was  im  14.  und  15.  Jahrhundert  geschrieben  w^orden  ist,  freudig 
begrüsst  werden,  über  Vieles  könnte  man  sich  leicht  verständigen  und 
Anderes  der  Schule  überlassen,  müsste  man  sich  nicht  sagen,  dass 
hier  die  Sprache  öfters  die  Gedanken  verbirgt,  und  dass  die  Verfasser 
des  Decrets  trotz  ihrer  biblischen  Haltung  und  ihrer  erbaulichen 
Sprache  doch  letztlich  nicht  weissen,  was  Glaube   im  evangelischen 


*  Sie  kann  das  freilich  nur  unter  der  Bedingung,  dass  unter  Heihgkeit  das  gott- 
gewirkte kindliche  Vertrauen  auf  Gott  und  die  Gottesfurcht  verstanden  wird. 

^  Dass  man  trotz  des  Augustinismus  Alles  beim  Alten  lassen  wollte,  zeigt 
der  Schlusssatz  des  Decrets:  „declarat  synodus,  non  esse  suae  intentionis  com- 
prehendere  in  hoc  decreto,  ubi  de  peccato  originali  agitur,  beatam  et  immaculatam 
virginem  Mariam,  dei  genetricem,  sed  observandas  esse  constitutiones  felicis  recor- 
dationis Xysti  pai)ae  IV.,  sub  poenis  in  eis  constitutionibus  eoutentis,  quas  innovat." 
Ueber  diese  Bestimmungen  „felicis  recordationis"  durfte  man  freilich  noch  nicht 
hinausgehen,  ohne  einen  Sturm  hervorzurufen ;  denn  noch  war  der  GegeusatÄ  zwischen 
Franciskanern  und  Dominikanern  an  diesem  Punkte  ungebrochen. 


Das  Tridentinum :  die  Rechtfertigung.  609 

Sinn  bedeutet.  Trotz  alles  Scheins  des  Gegentheils  ist  doch  das 
Interesse,  welches  das  ganze  Decret  beherrscht,  der  Nachweis,  wie 
es  zu  guten  Werken  kommen  kann,    die  vor  Gott    Geltung  haben. 

Das  umfangreiche  Decret,  welches  den  ursprünglichen  Entwurf 
ersetzt  hat,  zerfällt  in  drei  Theile  (1—9;  10—13;  14—16).  Fast 
jedes  Capitel  enthält  Compromisse. 

Das  1.  Gap.  beschreibt  die  völhge  Unfähigkeit  der  Adamskinder, 
sich  per  vim  naturae  oder  per  litteram  legis  Moysis  aus  der  Herrschaft 
der  Sünde,  des  Teufels  und  Todes  zu  befreien.  Doch  sofort  folgt  der 
Zusatz :  „tametsi  in  eis  liberum  arbitrium  minime  extinctum  esset,  viri- 
bus hcet  attenuatum  et  inclinatum."  Das  2.  Cap.  erklärt,  dass  Gott 
Christum  gesandt  habe,  damit  alle  Menschen  die  Adoption  zu  Söhnen 
Gottes  erhielten:  „hunc  proposuit  deus  propitiatorem  per  fidem  in 
sanguine  ipsius  pro  peccatis  nostris."  Hier  scheint  also  der  Glaube 
seine  souveräne  Stellung  zu  erhalten.  Aber  (c.  3)  —  nicht  Alle  nehmen 
die  Wohlthat  des  Todes  Christi  auf,  sondern  nur  die,  denen  das  Ver- 
dienst seines  Leidens  mitgetheilt  wird.  Das  Folgende  lässt  die  Frage 
im  Dunkeln,  ob  an  eine  ewige  Gnadenwahl  gedacht  werden  soll.  Doch 
scheint  es  so  :  gerechtfertigt  werden  nur  die,  denen  die  Wiedergeburt 
durch  das  Verdienst  des  Leidens  Christi  vermittelst  der  Gnade  ge- 
schenkt wird,  durch  die  sie  gerecht  werden.  Ein  unklarer  Satz,  der  es 
Jedem  überlässt,  das  Verhältniss  von  Erwählung,  Rechtfertigung  und 
Wiedergeburt  zu  bestimmen.  In  c.  4  wird  die  iustificatio  als  iustificatio 
impii  grundlegend  beschrieben.  Sie  ist  die  Versetzung  aus  dem  Stand 
des  sündigen  Adam  in  den  Stand  der  Gnade  und  Kindschaft  (das 
lautet  evangelisch)  und  vollzieht  sich  in  der  evangelischen  Epoche  ledig- 
lich durch  die  Taufe  („aut  eins  voto").  Allein  indem  nun  in  c.  5  die 
iustificatio  näher  beschrieben  wird,  wird  der  Gedanke  der  translatio  ab 
uno  statu  in  alterum  beschwert  und  unsicher.  Hier  heisst  es  nämlich, 
den  Anfang  der  Rechtfertigung  mache  die  gratia  praeveniens,  d.  h.  die 
vocatio  („qua  adulti  nullis  eorum  existentibus  meritis  vocantur"  — 
Gegensatz  gegen  die  laxen  Auffassungen  des  Nominahsmus),  ihr  Zweck 
aber  sei :  „ut  qui  per  peccata  a  deo  aversi  erant,  per  eins  excitantem  at- 
que  adiuvantem  gratiam  ad  convertendum  se  ad  suam  ipsorum 
iustificationem,  eidem  gratiae  libere  assentiendo  et  cooperando, 
disponantur."  Damit  ist  die  augustinisch-thomistischc  Auffassung 
zu  Gunsten  der  laxeren  verlassen;  von  dem  Glau})en  ist  aber  überhau])t 
noch  nicht  die  Rede.  Zur  Beschwichtigung  der  Tliomisten  wird  jedoch 
nun  fortgefahren:  „ita  ut  tangente  deo  cor  liominis  per  Spiritus  s.  illu- 
minationem  neque  homo  ipse  nihil  omnino  agat,  insi)irationem  illam 
recipiens,  quippe  qui  illam  et  abicerc  potcst,   neque  tamen  sine 

IJainack,  Dogmf;ngescliiclit<-  III.  39 


610  Die  Ausgänge  des  Do^maa  im  römischen  Katholicismus. 

f^ratia  dei  movere  se  ad  iustitiam  coram  illo  libera  volun- 
tate  possit."  Aber  was  hilft  diese  Bes(;liwichtigung,  wenn  doch  eme 
menschhche  Activität  zum  Guten  behauptet  wird,  ohnedass  des  Glaubens 
gedacht  ist?  Nothwendig  muss  schon  bei  dieser  „ praeparatio  ad  iustifi- 
cationem"  der  Gedanke  des  Verdienstes  eintreten ' ;  denn  die  Activität, 
die  sich  ganz  und  gar  als  gewirkte  weiss  und  daher  donum,  virtus  und 
praemium  virtutis  zugleich  ist,  ist  allein  der  Glaube.  Er  verbietet  es 
aber  eben  desshalb  auch,  die  iustificatio  als  translatio  in  statum  adop- 
tionis  in  verschiedene  Acte  zu  zerlegen.  —  Worin  die  richtige  „Dis- 
position" besteht,  wird  im  6.  Cap.  gezeigt,  nämlich  1)  in  der  fides  ex 
auditu ;  diese  ist  eine  freie  Bewegung  zu  Gott,  indem  man  glaubt,  dass 
der  Inhalt  der  göttlichen  Offenbarung  wahr  sei  und  zwar  speciell  die 
Versöhnung  und  Justification  durch  Christus,  2)  in  der  Einsicht,  dass 
man  ein  Sünder  sei  und  dem  entsprechend  in  der  Furcht  vor  der  gött- 
lichen Gerechtigkeit,  in  der  Erwägung  der  göttlichen  Barmherzigkeit, 
in  der  aus  ihr  entspringenden  Hoffnung  auf  die  Geneigtheit  Gottes  um 
Christus  willen  und  in  der  anfangenden  Liebe  zu  ihm  als  der  Quelle 
aller  Gerechtigkeit,  aus  welcher  „ein  gewisser  Hass  und  Abscheu"  vor 
der  Sünde  entspringt  - ,  3)  in  dem  mit  dem  Entschluss ,  sich  taufen  zu 
lassen,  verbundenen  Anfang  eines  neuen  Lebens  und  des  Haltens  der 
göttlichen  Gebote.  Was  hat  das  Alles  mit  der  Rechtfertigung  zu  thun? 
Diese  Schilderung  ist  doch  nicht  entworfen  vom  Standpunkt  dessen,  der 
sie  erlebt  hat,  sondern  von  einem,  der  draussen  steht  und  darüber  reflec- 
tirt,  wie  es  wohl  bei  der  Rechtfertigung  zugehen  muss,  damit  keine 
Ueberstürzungen  und  Unbegreiflichkeiten  stattfinden !  Wird  der  Gerecht- 
fertigte über  den  anfangenden  Glauben,  die  anfangende  Liebe,  den  an- 
fangenden Hass,  die  anfangende  Busse  vor  dem  Erlebniss  seiner  Recht- 
fertigung etwas  zu  sagen  wissen?  wird  er  nicht  vielmehr  mit  dem 
Apostel  sprechen,  dass  er  todt  in  Sünden  gewesen  sei?  Was  ist  ein  an- 
fangendes Gute  anderes  als  entweder  Alles  oder  Nichts  ?  Und  welche 
Vorstellung  vom  Glauben  liegt  zu  Grunde,  wenn  er  doch  nichts  ist  als 
der  Anfang  des  Anfangs,  ein  Fürwahrhalten  der  göttlichen  Offenbarung ! 
Hier  steckt  doch  Alles  noch  in  der  mittelalterlichen  Betrachtung,  die 
für  das  eigene  Erlebniss,  dass  die  Religion  ein  Verhältniss  der  Person 
zur  Person  ist,  stumpf  ist.  In  dem  an  sich  berechtigten  Interesse,  dass 
der  Glaube  Leben  schaff'en  soll,  springt  die  Betrachtung,  nachdem  sie 
die  unglückliche  Unterscheidung  zwischen  praeparatio  ad  iustificationem 
und   ipsa  iustificatio    gemacht,    sofort   von   dem   Fürwahrhalten   zur 

^  Das  Decret  sagt  freilich  nicht,  dass  das  sich  für  die  Gnade  disponiren  lassen 
ein  Verdienst  ist,  allein  es  schliesst  diese  Ansicht  nicht  aus. 

*  „I.  e.  per  eani  paeniteutiani  quam  ante  baptismum  agi  oportet," 


Das  Tridentinum :  die  Rechtfertigung.  611 

Liebe  über,  die  fides  promissionum  dei  als  einen  leeren  Titel  behandelnd. 
—  Im  7.  Cap.  wird  nun  in  ganz  scholastischer  Weise  die  iustificatio 
ipsa  dargelegt.  Sie  ist,  so  wird  zuvörderst  behauptet,  nicht  nur 
Sündenvergebung,  sondern  auch  Heiligung  und  Erneuerung  des  in- 
neren Menschen,  ja  damit  Augustin  nicht  zuviel  Recht  erhält,  wird 
hinzugefügt,  „renovatio  per  voluntariam  susceptionem  gratiae". 
Aber  wie  kann  man  einen  Menschen  anders  heihgen,  als  durch  die 
wunderbare  Vergewisserung  der  Sündenvergebung?  Es  ist  wieder  echt 
mittelalterlich,  dass  man  sich  über  den  Gedanken  hinaus,  dass  die 
Sündenvergebung  mechanische  Wegschaffung  der  Sünde  sei,  keine 
Gedanken  über  sie  zu  machen  versteht.  Kommt  aber  bei  ihr  Alles 
darauf  an,  dass  sie  als  Vergebung  geglaubt  wird,  so  ist  doch  die 
vornehmste  Frage  die,  wie  der  innerlich  beschaffen  und  gestimmt  ist, 
der  sie  glaubt.  Stellt  man  diese  Frage,  so  wird  die  Ausdrucksweise 
„nicht  nur  Sündenvergebung,  sondern  auch  Erneuerung  äes  inneren 
Menschen"  einfach  absurd,  es  sei  denn,  dass  man  die  Sündenver- 
gebung als  einen  Act  ansieht,  der  sich  ausserhalb  des  menschlichen 
Bewusstseins  und  Gefühls  abspielt,  und  das  ist  allerdings  die  Vor- 
aussetzung der  katholischen  These.  Nun  folgen  die  Bestimmungen 
über  die  causa  finalis,  efficiens,  meritoria,  instrumentalis  und  formalis 
der  Rechtfertigung,  die  wenig  Interesse  bieten.  Werthvoll  ist  nur, 
dass  als  causa  instrumentalis  nicht  der  Glaube  bezeichnet  wird,  son- 
dern, in  klug  gewählten  Worten,  das  Sacrament  der  Taufe,  ,,quod 
est  sacramentum  fidei,  sine  qua  nulli  umquam  contigit  iustificatio". 
Diese  Rechtfertigung  bewirkt  dann,  dass  wir  nicht  nur  für  Gerechte 
gelten,  sondern  vere  so  genannt  werden  und  sind,  da  wir  die  Ge- 
rechtigkeit in  uns  aufnehmen,  „unusquisque  suam  secundum  mensuram, 
quam  spiritus  s.  partitur  singulis  prout  vult  et  secundum  propriam 
cuiusque  dispositionem  et  Cooperationen!".  Hier  ist  der  volle  Wider- 
spruch zu  der  evangelischen  Auffassung  gegeben,  freilich  aucli  der 
flagrante  Widerspruch  zu  dem  Titel  „translatio  in  novum  statum" ;  denn 
genau  genommen  handelt  es  sich  nicht  um  eine  Versetzung  in  einen 
neuen  Stand  durch  göttliches  Wirken,  sondern  um  die  Erfüllung  mit 
Gerechtigkeit,  wie  wenn  sie  eine  Materie  wäre,  und  zwar  erstlich  um 
eine  gradweise  und  individuell  verschiedene  Erfüllung,  zweitens  um  eine 
Erfüllung  nach  dem  Masse  der  eigenen  Disposition  und  Mitwirkung. 
Hier  ist  also  implicito  nicht  nur  die  Lehre  von  dem  meritum  de  con- 
gruo,  sondern  auch  die  antithomistische  lichre  von  dem  meritum  de 
congruo  ante  iustificationem  mindestens  offen  gelassen.  Genauer  wird 
dann  noch  die  receptio  iustitiae  als  diff'usio  caritatis  dei  inhaerens  be- 
schrieben, so  dass  der  Mensch  eben  in  der  Rechtfertigung  selbst  mit 

39* 


612  Piö  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 


der  Sündenvergebung  dies  Alles  eingegossen  erhält,  nämlich  Glaube, 
Liebe,  Hoffnung,  durch  Jesus  Christus,  dem  er  eingefügt  wird.  Nicht 
der  Titel  „gratia  infusa"  an  sich  ist  hier  das  Irreführende  —  man  könnte 
sich  bildlich  wohl  auch  so  ausdrücken  — ,  sondern  wiederum  das  Unver- 
mögen, dem  Glauben  etwas  Anderes  abzugewinnen,  als  das  Fürwalir- 
halten.  Daher  heisst  es  sofort  weiter,  dass  der  Glaube  ohne  die  zu- 
tretende HoH'nung  und  Liebe  mit  Christus  nicht  vollkommen  zu  einigen 
vermag.  Aber  ist  nicht  fides,  spes  und  Caritas  zusammen  das,  was  der 
evangelische  Christ  unter  fides  allein  versteht  ?  Gewiss,  so  könnte  man 
das  Beeret  verstehen  und  auf  diesem  Boden  sich  mit  der  tridentinischen 
Anschauung  vereinigen.  Allein  die  stricte  Behauptung,  die  nun  folgt, 
dass  das  ewige  Leben  nur  der  spes  und  Caritas  geschenkt  wird,  zeigt, 
dass  der  Streit  auch  an  diesem  Punkt  kein  Wortstreit  ist;  denn  die 
Zusammenstellung  von  Caritas  und  vita  aeterna  hat  letztlich  den  Grund, 
das  ewige  Leben  auch  von  eigenen  Leistungen  des  Menschen  abzu- 
leiten, während  es  doch  in  dem  Glauben  der  Sündenvergebung  selbst 
und  nur  in  ihm  gegeben  ist.  —  Das  8.  Cap.  bringt  eine  verlegene  Aus- 
einandersetzung mit  dem  paulinischen  Grundsatz,  dass  die  Rechtferti- 
gung an  den  Glauben  gebunden  ist  und  umsonst  geschieht.  Sie  schlägt 
dem  Paulus  ins  Gesicht,  indem  sie  sagt,  der  Satz  bedeute,  „ut  per  fidem 
ideo  iustificari  dicamur,  quia  fides  est  humanae  salutis  initium,  funda- 
mentum  et  radix".  Das  ist  mehr  als  eine  Zw^eideutigkeit.  Ebenso  un- 
wahrhaftig ist  die  Erklärung  des  „gratis"  ;  denn  wenn  hier  gesagt  wird, 
dass  es  bedeute,  nichts  von  dem,  was  der  Rechtfertigung  vorhergehe, 
w'eder  Glaube  noch  Werke,  verdienen  die  Gnade  der  Rechtfertigung, 
so  ist  doch  nach  dem  in  c.  5  Ausgeführten  jene  Vorbereitung  schlecht- 
hin nothw^endig,  damit  man  die  Rechtfertigung  erlange.  Am  Schluss 
dieses  ersten  Abschnittes  folgt  nun  (c.  9)  die  Polemik  gegen  die  leere 
fiducia  der  Häretiker,  deren  Formulirung  den  Vätern  die  meiste  Mühe 
gemacht  hat.  Man  half  sich  schHesslich  damit,  dass  man  aus  der  Gegen- 
lehre einen  Popanz  machte :  wenn  man  auch  glauben  müsse,  dass  die 
Sünden  von  der  göttlichen  Barmherzigkeit  umsonst  um  Christus  willen 
vergeben  werden,  „tamen  nemini  fiduciam  et  certitudinem  remissionis 
peccatorum  suorum  iactanti  et  in  ea  sola  quiescenti  peccata  dimitti 
vel  dimissa  esse  dicendum  est"  ^  Worauf  diese  selbstverständhchen 
Worte  eigentlich  zielen,  zeigt  erst  das  Folgende.  Hier  wird  behauptet, 
dass  Gewissheit  in  Bezug  auf  die  eigene  Rechtfertigung  nicht  noth- 
wendig  zur  Rechtfertigung  gehöre^  dass  es  nicht  nöthig  sei,  sicher  an 


n 


^  Dazu  der  Zusatz:  „cum  apud  haereticos  et  schismaticos  possit  esse  ininio 
nostra  tempestate  fit,  et  magna  contra  ecclesiam  catholicam  contentione  prnedicatiu' 
vana  haec  ab  omni  pietate  remota  fiducia." 


Das  Tridentinum :  die  Rechtfertigung.  613 

seine  Sündenvergebung  zu  glauben,  um  wirklich  von  Sünden  los  zu  sein, 
und  dass  es  ein  Irrthum  sei  anzunehmen,  die  Sündenvergebung  und 
Rechtfertigung  vollziehe  sich  nur  im  Glauben  („quasi  qui  hoc  non  cre- 
dit, de  dei  promissis  deque  mortis  et  resurrectionis  Christi  efficacia 
dubitef^).  Um  diese  Sätze,  welche  dem  wahren  Glauben  jeden  Sinn 
nehmen  —  Glauben  heisst  eben  nichts  Anderes  als  Mitglied  der  katho- 
lischen Kirche  sein  resp.  sein  wollen  — ,  nicht  allzu  auffallend  erscheinen 
zu  lassen,  wd  ihnen  die  unaufrichtige  Begründung  beigegeben,  der 
Mensch  müsse  ja  immer,  wenn  er  an  seine  Schwachheit  denkt,  für  seine 
Begnadigung  fürchten.  Als  ob  das  irgend  ein  ernster  Christ  geleugnet 
hätte,  während  doch  die  Folgerung,  dass  Heilsgewissheit  unmöglich  ist, 
ganz  unbefugt  ist ! 

Der  2.  Abschnitt  handelt  von   dem  increm entum  iustificationis. 
Hier  wird  (c.  10)  gelehrt,  dass  die  Gerechtfertigten  von  Tag  zu  Tag 
erneuert  werden  durch  die  Beobachtung  der  Gebote  Gottes  und  der 
Kirche,  und  dass  sie  somit  „in  ipsa  iustitia  cooperante  fide  bonis 
operibus  crescunt  atque  magis  iustificantur".  Die  Rechtfertigung 
ist  hier  also  in  ihrem  Fortgang  als  ein  auf  Gnade,  Glauben  und  guten 
Werken  beruhender  Process  vorgestellt.     lieber   die  letzteren  wird 
(c.  11)  gelehrt,  dass  auch  der  Gerechtfertigte  unter  dem  Gesetz  der 
Gebote  steht,  und  dass  diese  keineswegs  unerfüllbar  seien.   In  schwan- 
kenden Ausdrücken  wird  behauptet,  dass  sie  vielmehr  leicht  und  süss 
seien,  weil  man  sie  erfüllen  kann  oder  weil  man  um  ihre  Erfüllung  bitten 
soll  und  Gott  dazu  hilft.   Uebrigens  hören  die  Gerechten  nicht  auf.  Ge- 
rechte zu  sein,  wenn  sie  in  die  täglichen  Sünden  verfallen;  denn  Gott 
verlässt  die  einmal  Gerechtfertigten  nicht,  wenn  sie  ihn  nicht  verlassen. 
Allein  diese  Auffassung  kann  kein  zartes  Gewissen  beruhigen,  wenn  doch 
die  Erhaltung  der  Rechtfertigung  von  der  eigenen  Leistung  irgendwie 
abhängig  sein  soll.    Das  Decret  bemerkt  ausdrücklich,  man  dürfe  nicht 
dem  Glauben  allein  vertrauen,  sondern  dem  Glauben  und  der  observatio 
mandatorum,  wenn  auch  die  letztere  durch  kleine  Sünden  getrübt  ist. 
Um  aber  die  Jjaxheit  in  dieser  Regel  zu  verbergen,  ist  eine  [xsTdßaaig  sIq 
aXXo  Y£vo?  angewandt  und  der  Satz  so  gefasst:  „Itaque  nemo  sibi  in  sola 
fide  blandiri  debet,  putans  fide  sola  se  heredem  esse  constitutum  here- 
ditatemque  consecuturum,  etiamsi  Christo  non  compatiatur,  ut  et 
conglorificetur."    Dem  wird  hinzugefügt,  dass  es  wider  die  Lehre  der 
orthodoxen  Religion  sei,  zu  sagen,  der  Gerechte  könne  kein  einziges 
gutes  Werk  ohne  Unvollkommenheit  thun;  noch  unerträglicher  aber  sei 
es  zu  behaupten,  dass  alle  Werke  die  ewige  Strafe  verdienen,  und  dass 
man  überhaupt  auf  den  ewigen  Lolin  nicht  sehen  dürfe.   In  dieser  letz- 
teren vorsichtigen  Wendung  ist  der  Begriff  des  Verdienstes  ohne  Titel 


614  Die  AuBgäuge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 


I 


eingeführt.  Die  Väter  mussten  hier  sehr  behutsam  verfahren,  wenn  sie 
es  Allen  recht  machen  wollten.  In  c.  12  und  13  wird  dann  gelehrt,  dass, 
obgleich  die  Rechtfertigung  wächst,  doch  Niemand  seiner  Erwählung 
und  des  donuni  perseverantiae  gewiss  werden  dürfe,  „nisi  ex  speciali 
revelatione".  Doch  ist  auch  hier  in  c.  13  eine  Zweideutigkeit,  da  nur 
das  „certum  esse  absoluta  certitudine"  verboten,  sonst  aber  gesagt 
wird,  dass  man  in  dei  auxilio  (also  nicht  gratia)  die  sicherste  Hoffnung 
setzen  müsse,  und  da  plötzlich  der  [)aulinische  Satz  eingeflochten  ist, 
Gott  wirke  das  Wollen  und  Vollbringen.  Allein  labores,  vigiliae,  elee- 
mosynae,  orationes,  oblationes,  ieiunia,  castitas  seien  nöthig,  da  wir  noch 
nicht  „in  gloria"  wiedergeboren  seien,  sondern  „in  spem  gloriae".  So- 
mit ist  das  ganze  Busssystem  empfohlen,  um  in  der  Gewissheit  fortzu- 
schreiten. So  beachtenswerth  es  ist,  dass  alle  äussere  Gesetzlichkeit 
und  Verdienstlichkeit  hier  bei  Seite  gelassen  ist,  so  ist  doch  die  Grund- 
anschauung beibehalten,  dass  das  ewige  Leben  und  die  Gewissheit  der 
Rechtfertigung  auch  an  den  guten  Werken  hängt,  die  jedoch  andererseits 
als  der  siegreiche  Kampf  des  Geistes  mit  dem  Fleisch  gelten  sollen.  Die 
Unsicherheit  der  ganzen  Auffassung  ist  in  der  dreifachen  Betrachtung 
der  guten  Werke  genügend  charakterisirt :  sie  sind  =  compati  Christo, 
=  observatio  mandatorum  dei  (in  diesem  Sinn  verdienstlich,  wenn  das 
auch  nicht  offen  gesagt  ist)  und  =  pugna  cum  carne,  mundo  et  diabolo. 
In  dem  letzten  Abschnitt  wird  von  der  Wiederherstellung  der  Recht- 
fertigung, wenn  sie  verloren  gegangen,  gehandelt.  Dieselbe  geschieht 
(c.  14)  durch  das  Busssacrament  (secunda  post  naufragium  tabula).  Die 
Busse  des  Gefallenen  muss  eine  andere  sein  als  die  des  Täuflings;  sie 
wird  nach  dem  bekannten  Schema  beschrieben.  Der  attritio  wird  nicht 
gedacht,  wohl  aber  wird  bemerkt,  dass  das  Busssacrament  die  zeitliche 
Strafe  nicht  immer,  wie  die  Taufe,  mit  der  Schuld  und  der  ewigen 
Strafe  tilge,  daher  die  Satisfactionen  nothwendig  seien.  Die  Recht- 
fertigung aber  gehe  nicht,  wie  die  Gegner  meinen,  nur  durch  Unglauben 
verloren,  vielmehr  durch  jede  Todsünde  (c.  15),  ja  sie  könne  durch  diese 
verloren  gehen,  während  der  Glaube  bestehen  bleibt.  Deutlicher  als  es 
hier  geschieht,  kann  die  niedrige  Vorstellung  vom  Glauben  nicht  aus- 
gedrückt sein.  Nun  erst  kommt  das  Decret  ex  professo  auf  das  Ver- 
dienst zu  sprechen  (c.  16),  und  es  wird  rund  behauptet,  dass  das  ewige 
Leben  Erfüllung  der  Verheissung  und  Lohn  zugleich  sei,  sofern  es  schHess- 
lich  nur  auf  das  „bene  operari"  ankommt:  „Atque  ideo  bene  operan- 
tibus  usque  in  finem  et  in  deo  sperantibus  proponenda  est  vita  aeterna, 
et  tamquam  gratia  filiis  dei  per  Christum  Jesum  misericorditer  pro- 
missa,  et  tamquam  merces  ex  ipsius  dei  promissione  bonis  ipsorum  ope- 
ribus  et  meritis  fideliter  reddenda."  Aber  um  dieser  Betrachtung  doii 


Das  Tridentinum :  die  Rechtfertigung.  615 

Schein  der  Selbstgerechtigkeit  zu  nehmen,  folgtdieaugustinische,  ja  über 
Augustin  hinausreichende ,  gehobene  Ausführung :  „Cum  enim  ille  ipse 
Christus  Jesus  tamquam  caput  in  membra  et  tamquam  vitis  in  palmites,  in 
ipsos  iustificatos  iugiter  virtutem  influat,  quae  virtus  bona  eorum  opera 
semper  antecedit,  comitatur  et  subsequitur^  et  sine  qua  nullo  pacto  deo 
grata  et  meritoria  esse  possent,  nihil  ipsis  iustificatis  amplius  deesse  cre- 
dendum  est,  quo  minus  plene  illis  quidem  operibus,  quae  in  deo  sunt  facta, 
divinae  legi  pro  huius  vitae  statu  satisfecisse  et  vitam  aeternam  suo  etiam 
tempore,  si  tamen  in  gratia  decesserint,  consequendam  vere  promeruisse 
censeantur  .  .  .  ita  neque  propria  nostra  iustitia  tamquam  ex  nobis  pro- 
pria  statuitur,  neque  ignoratur  aut  repudiatur  iustitia  dei.  Quae  enim 
iustitia  nostra  dicitur,  quia  per  eam  nobis  inhaerentem  iustificamur,  illa 
eadem  dei  est,  quia  a  deo  nobis  infunditur  per  Christi  meritum.  Neque  vero 
illud  omittendum  est,  quod  licet  bonis  operibus  in  sacris  litteris  usque 
adeo  tribuatur,  ut  etiam  qui  uni  ex  minimis  suis  potum  aquae  frigidae 
dederit,  promittat  Christus  eum  non  esse  sua  mercede  cariturum  .  .  ., 
absit  tamen,  ut  Christianus  homo  in  se  ipso  vel  confidat  vel  glorietur  et 
non  in  domino,  cuius  tanta  est  erga  omnes  homines  bonitas,  ut  eorum 
veht  esse  merita,  quae  sunt  ipsius  dona."  Dürfte  man  das  Decret  so 
verstehen,  dass  Alles,  was  es  von  Rechtfertigung  sagt,  auf  das  Bestehen 
vor  dem  zukünftigen  Gericht  zu  beziehen  ist,  oder  dürfte  man,  wo  es  von 
fides  et  opera  bona  redet,  den  evangelischen  Glaubensbegriff  einsetzen, 
so  könnte  man  über  dasselbe  mit  den  Katholiken  verhandeln.  Allein 
nicht  die  Interpretation  in  der  Richtung  auf  den  Protestantismus  ist  die 
richtige,  sondern  in  der  Richtung  auf  die  herrschenden  Gewohnheiten 
der  römischen  Kirche,  wie  die  Sätze  über  das  „se  disponere  ad  gratiam" 
und  die  angehängten  33  Anathematismen  beweisend 

'  Von  diesen  Anathematismen  gehen  die  drei  ersten  gegen  den  Pelagianismus 
und  Semipclagianismus,  ferner  die  22.  Die  übrigen  29  wenden  sich  alle,  und 
zwar  aufs  schärfste,  gegen  den  Protestantismus.  Am  charakteristischsten  ist  die 
Verwerfung  folgender  Sätze :  „Opera  omnia,  quae  ante  iustificationem  fiunt,  quacum- 
que  ratione  facta  sint,  vere  esse  peccata  vel  odium  dei  mereri,  aut  quanto  vchemen- 
tius  quis  nititur  se  disponere  ad  gratiam,  tanto  eum  gravius  peccare"  (7).  „Gehennae 
metum,  per  quem  ad  misericordiam  dei  de  peccatis  dolendo  confugimus  vel  a  pec- 
cato  abstinemus,  peccatum  esse."  (8).  „Homines  iustificari  vel  sola  imputatione  iu- 
stitiae  Christi  vel  sola  peccatorum  remissione  exclusa  gratia  et  caritate,  quae  in  cor- 
dibus  eorum  per  spiritum  sanctum  diffiiridatur  atquc  illis  inhacreat,  aut  etiam  gra- 
tiam, qua  iustificamur,  esse  tantum  l'avorem  dei"  (11).  „Fidem  iustificantem  nihil 
aliud  esse  quam  fiduciam  divinae  misericordiae  peccata  remittentispropter  Christum, 
vel  eam  fiduciam  solam  esse,  qua  iustificamur"  (12).  „Hominem  a  peccatis  absolvi 
ac  iustificari  ex  eo  (juod  sc  absolvi  ac  iustificari  certo  credat,  aut  neminem  vere 
esse  iustificatum  nisi  «jui  credat  se  esse  iustificatum,  et  hac  sola  fide  absolutionem 
et  iustificationem  perfici"  (14).    „Nihil  praeceptum  esse  in  evangelio  praeter  fidem" 


(jl6  Die  Ausgäuge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 


^ 


Die  Decroto  haben  die  ktatholisdie  Kirche  auf  dem  Boden  des  Mit- 
tehdters  und  der  ISchüUistik  festgebannt  und  sie  zugleich  gegen  den 
Protestantismus  abgeschlossen^  aber  da  die  getroffenen  Formulirungen 
in  allen  den  Fragen  zweideutig  sind,  in  denen  die  Kirche  selbst  eine 
eindeutige  Antwort  nicht  wünschen  kann,  so  ist  die  nöthige  Freiheit  der 
Entwickelung  trotz  der  ungeheuren  dogmatischen  Belastung  gewahrt. 
Dazu  kam,  dass  die  wichtigen  Lehren  über  die  Kirche  und  den  Papst 
nicht  berührt  worden  sind  —  aus  Noth  hat  man  sie  bei  Seite  lassen 
müssen;  aber  diese  nothgedrungene  Schweigsamkeit  hat  sich  in  der 
Folgezeit  als  höchst  günstig  für  das  Papstthum  erwiesen.  Die  mittel- 
alterliche Kirche  ging  aus  dem  Tridentinum  wesentlich  als  die  alte  her- 
vor :  sie  umschliesst  noch  immer  die  grosse  Spannung  zwischen  Weltflucht 
und  Weltherrschaft  und  behauptet  eben  durch  diese  Spannung  jene 
Elasticität  und  Vielseitigkeit,  dass  sie  Cardinäle  wie  RicheHeu  und  wie 
Borromeo  in  sich  zu  bergen  vermag.  Sie  ist  noch  immer  letztlich  so  auf 
das  Jenseits  gerichtet,  dass  ihr  der  in  Bedürfnisslosigkeit  verkümmerte 
Schwärmer  der  grösste  Heilige  ist;  aber  sie  predigt  zugleich  den  Men- 
schen, dass  alle  ihre  Ideale  in  der  sichtbaren  Kirchenanstalt  geborgen 
seien,  und  dass  der  Gehorsam  gegen  die  Kirche  die  höchste  Tugend 
ist.  Sie  weiss  es  auch  jetzt  nicht  anders,  als  dass  Glauben  „katholisch 
sein"  heisst  und  in  dem  Fürwahrhalten  -Wollen  unbegreiflicher  Leh- 


(19).  „Hominem  iustificatum  teneri  tantum  ad  credendum,  quasi  vero  evangelium 
sit  nuda  et  absoluta  promissio  vitae  aeternae  sine  conditione  observationis  manda- 
torum"  (20).  „lustitiam  acceptam  non  conservari  atque  etiam  non  augeri  coram 
deo  per  bona  opera,  sed  opera  ipsa  fructus  solummodo  et  signa  esse  iustificationis 
adeptae,  non  autem  ipsius  augendae  causam"  (24).  „In  quolibet  bono  opere  iustum 
saltem  venialiter  peccare  aut  mortaliter,  atque  ideo  poenas  aeternas  mereri  tantum- 
que  ob  id  non  damnari,  quia  deus  ea  opera  non  imputet  ad  damnationem"  (25). 
„lustos  non  debere  pro  bonis  operibus  exspectare  et  sperare  aeternam  retribu- 
tionem"  (26).  „Nulluni  esse  mortale  peccatum  nisi  infidelitatis"  (27).  „Sola  fide 
amissam  iustitiam  recuperari  sine  sacramento  paenitentiae"  (29).  „Iustificatum 
peccare,  dum  intuitu  aeternae  mercedis  bene  operatur"  (31).  Die  Kanones 
schliessen  mit  den  Worten:  „Si  quis  dixerit,  per  hanc  doctrinam  (seil,  durch  dieses 
Decret)  aliqua  ex  parte  gloriae  dei  vel  meritis  Jesu  Christi  derogari  et  non  potius 
veritatem  fidei  nostrae,  dei  denique  ac  Christi  Jesu  gloriam  illustrari,  anathema 
sit."  Unverkennbar  sind  die  Sätze  des  Protestantismus,  die  in  den  Kanones  ver- 
urtheilt  werden,  zum  Theil  zurechtgemacht;  andererseits  sind  manche  schwache 
Stellen  der  protestantischen  Do  et  rin  getroffen;  aber  der  deutlichste  Eindruck  ist 
doch  der,  dass  die  tridentinischen  Väter  gar  nicht  verstanden  haben,  was  Luther 
unter  der  Gerechtigkeit  Gottes,  dem  Glauben  und  der  Sündenvergebung  gemeint 
hat.  Er  zeugte  von  der  Religion,  die  ihm  am  Evangelium  aufgegangen  wai*  und 
ihn  als  untheilbare  Macht  beherrschte  und  beseeligte;  sie  suchten  vielen  Gesichts- 
punkten zugleich  gerecht  zu  werden,  der  Religion,  dem  Moj-alischen,  dem  Sacra- 
ment  und  der  Kirche, 


Curialismus  und  Episkopalismus.  617 

ren  besteht.  Die  Friedelosigkeit,  die  hier  übrig  bleibt,  sucht  sie  durch 
die  Sacramente,  die  Ablässe,  den  Kultus  und  die  kirchliche  Anleitung 
zu  mystisch-mönchischen  Exercitien  theils  zu  beschwichtigen  theils  zu 
erregen. 

2.  Die  Grundzüge  der  dogmatischen  Entwickelung  im  Katholicismus 
zwischen  1563  und  1870  als  Vorbereitung  des  Vaticanums. 

In  den  drei  Jahrhunderten  zwischen  dem  Tridentinum  und  dem 
Vaticanum  haben  drei  grosse  Controversen  die  katholischen  Schulen 
bewegt  und  sind  sogar  zu  einer  Gefahr  für  die  ganze  Kirche  geworden. 
Auf  dem  Tridentinum  sind  die  Gegensätze,  aus  denen  sie  entsprungen 
sind,  verdeckt  worden;  eben  desshalb  war  eine  Auseinandersetzung  über 
sie  in  der  Folgezeit  unvermeidlich.  Es  ist  1)  die  Controverse  zwischen 
dem  Curiahsmus  und  Episkopalismus,  die  in  zwei  Fragen  zerfällt,  näm- 
lich, a)  ob  die  Bischöfe  ein  selbständiges,  göttliches  Recht  neben  dem 
Papste  (und  in  dem  Concil  ein  solches  über  dem  Papst)  besitzen,  b)  ob 
die  Tradition  im  Sinne  des  Yincentius  von  Lerinum  zu  fassen  ist  oder 
ob  der  Papst  bestimmt,  was  als  Tradition  zu  gelten  hat,  2)  die  Contro- 
verse zwischen  dem  Augustinismus  und  dem  jesuitischen  (scotistischen) 
Pelagianismus,  3)  die  Controverse  über  den  ProbabiHsmus.  Diese  drei 
Controversen  hängen  innerlich  aufs  engste  zusammen;  sie  bilden  im 
Grunde  eine  Einheit,  und  desshalb  hat  auch  das  Vaticanum  mit  einem 
Schlage  alle  drei  entschieden.  Die  curialistische,  pelagianische  und  pro- 
babilistisch  gesinnte  Partei,  an  deren  Spitze  die  Jesuiten  stehen,  hat 
gesiegt. 

1  a.  Der  ursprüngliche  curialistische  Entwurf  über  die  Stellung  des 
Papstes  in  der  Kirche,  welcher  den  Papst  zum  Herrn  der  Kirche  machte 
und  die  Bischöfe  für  Assistenten  erklärte,  die  der  Statthalter  Christi 
„in  partem  solhcitudinis"  annimmt,  hat  in  Trident  nicht  durchgesetzt 
werden  können.  Die  Erinnerungen  an  das  Constanzer  Concil  waren 
trotz  der  Bulle  Leo's  X.  „Pastor  aeternus"  noch  zu  lebendig.  Aber 
auch  die  Gegenlehre,  dass  das  Concil  über  dem  Papste  stehe  und  dass 
jeder  Bischof  als  Nachfolger  der  Apostel  seine  Gewalt  von  Christus 
habe,  Hess  sich  nicht  zum  Dogma  erheben.  Die  Schrofflieit  der  sich 
gegenüberstehenden  Thesen,  „der  Papst  ist  der  Bischof,  der  Universal- 
bischof, der  Statthalter  Christi"  und  „die  Bischöfe  haben  ihre  Gewalt 
original iter  von  Christus,  so  dass  der  Papst  nur  primus  inter  pares. 
He  Präsentant  der  Einheit  der  Kirche  und  AVächter  über  ihre 
äussere  Ordnung  und  Einheithchkeit  ist",  hess  sich  durch  nichts  aus- 
gleichen. So  musste  die  Entscheidung  dieser  Frage  zu  Trident  ver- 
tagt werden.    Allein   durch  eingestreute  kleine  Bemerkungen  in  den 


618  I^ie  AuBgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

Text  der  tridentinischen  Beschlüsse,  namentlich  durch  Hervorhebung 
der  ecclesia  Roniana,  wurde  sie  doch  bereits  in  einem  den  Curiahsten 
^'ünstigen  Sinn  [)räjudicirt.  Ungleich  wirksamer  aber  musste  es  wer- 
den, dass  das  Concil,  in  überstürzter  Weise  zum  Ende  eilend,  dem 
Papste  nicht  nur  die  C^oniirmation  seiner  Beschlüsse  und  die  Aus- 
lührungsmassregeln  vollständig  Überhess,  sondern  auch  jene  Bulle  ruhig 
hinnahm,  in  welcher  der  Paj)st  die  Auslegung  der  Decrete  sich  allein 
vorbehielt'.  Die  bald  darauf  erscheinende  „Professio",  trügerisch 
„Professio  fidei  Tridentinae'^  genannt,  setzte  auf  diese  Umbiegung  der 
tridentinischen  Beschlüsse  das  Siegel,  sofern  sie  den  Gehorsam  gegen 
den  Papst  in  den  „Glauben"  selbst  aufnalim  -.  Die  Weise,  wie  Rom 
von  da  ab  mit  der  Professio  operirt  und  durch  dieselbe  alle  Bischöfe 
sich  unterworfen  hat,  ist  ein  Meisterstück  der  curiahstischen  Politik 
gewesen.  Auch  der  Catechismus  Romanus,  auf  Veranlassung  des 
Concils  vom  Papste  bestellt  und  approbirt,  war  dem  CuriaHsmus 
günstig,  obschon  er  wegen  seiner  thomistischen  Gnadenlehre  den 
Jesuiten  unbequem  ist,  die  desshalb  sogar  seine  Autorität  zu  bestreiten 
versucht  haben  ^.  Allein,  von  vereinzelten  Unternehmungen  in  allen 
kathoüschen  Ländern  abgesehen,  in  Frankreich  erhob  sich  eine  kräf- 

^S.  Köllner,a.  a.  0.  S.  116  ff. 

^  S.  Köllner,  a.  a.  0.  S.  141—  IHS.  Die  Worte  der  Professio,  einem  Glaubeus- 
bekenntniss  ( ! ),  lauten:  „Sanctam  catholicam  et  apostolicam  Romanam  ecclesiam 
omnium  ccclesiarum  matrem  et  magistram  adgnosco,  Romanoque  Pontifici,  beati 
Petri  apostolormn  principis  successori  ac  Jesu  Christi  vicario,  veram  obedientiam 
spondeo  ac  iui'o." 

^  S.  Köllner,  a.  a.  0.  S.  166 — 190.  Ueber  die  Angriffe  der  Jesuiten  auf  den 
KatecMsmus  s.  S.  188  und  Köcher,  Katech.-Gesch.  S.  127  ff.;  sie  suchten  nicht 
nur  zu  zeigen,  dass  er  parteiisch,  sondern  auch  dass  er  ketzerisch  sei.  Die  Angriffe 
haben  doch  die  Folge  gehabt,  dass  der  Katechismus  in  der  Neuzeit  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  worden  ist.  Die  Abschnitte  über  die  Kirche  in  demselben  sind 
streng  thomistisch  und  daher  der  Papstautokratie  günstig.  So  wird  P.  I.  c.  10  q.  10 
die  Einheit  der  Kirche  mit  Eph.  4,  5  begründet,  dann  aber  fortgefahren :  „Unus  est 
etiam  eins  rector  ac  gubernator,  iuvisibilis  quidem  Christus,  quem  aeternus  pater 
dedit  Caput  super  omnem  ecclesiam,  quae  est  corpus  eins;  visibilis  autem  is,  qui 
Romanam  cathedram,  Petri  apostolorum  principis  legitimus  successor,  tenet."  Einen 
solchen  Satz  hätte  man  zu  Trident  nicht  zu  allgemeiner  Anerkennung  bringen 
können.  Q.  11  folgt  dann  eine  wortreiche  Erklärung  über  den  Papst,  in  welcher  er 
nicht  als  Repräsentant  der  Einheit  und  ale  äusserer  Leiter  bezeichnet  wird, 
vielmehr:  „necessarium  fuit  hoc  visibile  caput  ad  unitatem  ecclesiae  constituen- 
dam  et  conservandam."  Noch  weiter  führen  die AVorte :  „Ut  Christum  dominum 
singulorum  sacramentorum  nou  solum  auctorem,  sed  intimum  etiam  praebitoreni 
habemus  —  nam  ipse  est,  qui  baptizat  et  qui  absolvit,  et  tamen  is  homines  sacramen- 
torum externes  ministros  instituit  —  sie  ecclesiae,  quam  ipse  intimo  spiritu  regit, 
hominem  suae  potestatis  vicarium  et  ministrum  praefecit;  nam  cum  visibilis 
ecclesia  visibili  capite  egeat,  etc." 


Curialismus  und  Episkopalismus.  619 

tige,  vom  Jansenismus  ganz  unabhängige  Bewegung  gegen  den  Curia- 
lismus. Frankreich  hat  formell  sogar  das  Tridentinum  nie  vollständig 
anerkannt,  obgleich  factisch  die  tridentinische  Glaubenslehre  sich  im 
Klerus  und  auch  bei  den  Behörden  durchsetzte.  Seit  dem  Ende  des 
16.  Jahrhunderts,  vor  Allem  aber  in  der  Regierungszeit  Ludwig's  XIV., 
kehrte  die  Kirche  Frankreichs  in  ihren  wichtigsten  Vertretern  (Bossuet) 
entschlossen  zum  „Gallikanismus"  zurück.  Allein  das  positive  Pro- 
gramm war  nichts  weniger  als  klar.  Die  Einen  waren  Gegner  des 
Curialismus  im  Interesse  der  unumschränkten  Gewalt  ihres  Königs, 
die  Anderen  im  Interesse  ihrer  Nation,  wieder  Andere  als  Episkopa- 
listen.  Was  aber  wollte  der  Episkopahsmus?  Er  war  im  17.  Jahr- 
hundert über  sich  selbst  nicht  klarer  als  im  15.  Man  gestand  zu, 
dass  dem  Papst  ein  suprematus  ordinis  zukomme ;  aber  man  war  unter 
sich  nicht  einig,  ob  dieser  suprematus  nur  die  erste  Stelle  inter  pares 
bedeute  oder  ob  wirkliche  Vorrechte  mit  ihm  verbunden  seien.  Ent- 
schied man  sich  für  das  Letztere,  so  war  wiederum  zweifelhaft,  ob 
diese  Vorrechte  gleichbedeutend  seien  mit  einer  dem  Papst  über- 
tragenen cura  ecclesia  universalis.  Stand  dieses  fest,  so  musste  aufs 
neue  gefragt  werden,  ob  er  diese  cura  nur  mit  Zuziehung  und  Mit- 
wirkung aller  Bischöfe  ausüben  könne,  und  welche  Massregeln  anzu- 
wenden seien,  um  die  Bischöfe  vor  päpstlichen  üebergriffen  zu  schützen. 
Der  feste  Punkt  in  der  episkopahstischen  Theorie  war  lediglich  der, 
dass  die  Bischöfe  nicht  vom  Papst  eingesetzt  seien,  dass  sie  also  nicht 
Delegaten  und  Stellvertreter  des  Papstes  seien,  sondern  iure  divino 
ihre  Diöcesen  selbständig  regieren,  der  Papst  daher  keine  directe 
Jurisdictionsgewalt  in  den  Diöcesen  ausüben  könne.  Aber  wie  sich 
das  mit  dem  suprematus  ordinis  des  Papstes  vereinigen  lasse,  blieb 
unklar.  Deuthch  war  auch,  dass  man  eine  autokratische  Gewalt  des 
Papstes  (Unfehlbarkeit,  Universalbisthum)  ablehnte,  und  dass  man  das 
Concil  als  dem  Papste  übergeordnet  ansah ;  allein  unklar  war,  welche 
Bedeutung  dem  zugestandenen  Satze  beizulegen  sei,  dass  der  Papst 
an  der  Spitze  des  Concils  stehe.  Doch  mündeten  diese  Bemühungen 
endlich  in  einigermassen  feste  Formeln  aus,  nämhch  in  den  vier  Pro- 
positioiion  des    gallikanischen  Klerus   (1682)',   welche   mehr    staats- 


'  H.  Collect.  Laccnsis  I  p.  793.  Art.  „Gallikanische  Freiheiten"  in  Wetzer 
und  Wcli«;'s  Kirchen](!x.  2.  Aufl.  V.  S.  fi«  ff.  Ein  Jahrhundert  früher  hat  Pithou 
(1594)  die  Freiheiten  der  französischen  Kirch(!  dar«relep^  und  schon  die  zwei  Grund- 
regeln aufjrrestellt,  dass  der  Papst  1)  in  bürgerlichen  und  zeitlichen  Dingen  nichts  in 
Frankreich  zu  sagen  habe,  und  dass  er  2)  in  geistlichen  Dingen  an  die  Bestimmungen 
der  (yoncilien,  also  auch  an  die  von  Constanz,  gebunden  sei.  Diese  Ideen  wurden 
als   kirchenjjülitisches  Programm    dem  Könige  Heinrich  IV.    entgegengebracht, 


620  üie  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

kirchlich  als  episkopalistisch  sind:  1)  Die  Fürsten  sind  in  zeitlichen 
Dingen  keiner  kirchlichen  Gewalt  unterworfen  und  können  weder 
direct  noch  indirect  abgesetzt  werden ;  den  Nachfolgern  Petri  ist  keine 
Gewalt  über  zeitliche  und  bürgerliche  Angelegenheiten  von  Gott 
übergeben  worden.  2)  Der  Papst  besitzt  wohl  die  plena  potestas  spiri- 
tualium  rerum,  so  jedoch  „ut  simul  valeant  atque  inimota  consistant 
s.  oecumenicae  synodi  Constantiensis  decreta  de  auctoritate  conciliorum 
generahum";  die  gallikanische  Kirche  missbiUigt  die,  „qui  eorum  de- 
cretorum,  quasi  dubiae  sint  auctoritatis  ac  minus  approbata,  robur 
infringant  aut  ad  soluni  schismatis  tempus  concilii  dicta  detorqueant". 
3)  Der  Papst  ist  in  Ausübung  seiner  Gewalt  an  die  Kanones  ge- 
bunden und  muss  auch  die  in  Frankreich  angenommenen  Regeln, 
Gewohnheiten  und  Einrichtungen  respectiren.  4)  Der  Papst  hat  wohl 
die  höchste  Autorität  (?  partes)  in  Glaubenssachen  und  seine  Decrete 
beziehen  sich  auf  alle  und  jede  einzelne  Kirche,  „nee  tamen  ir re- 
form ab  ile  esse  iudicium,  nisi  ecclesiae  consensus  ac- 
cesserit". 

Diese  Propositionen  wurden  zuerst  von  Innocenz  X.,  dann  von 
Alexander  VIII.  als  völlig  nichtig  und  un giltig  verworfen  ^  Allein 
das  hätte  wenig  geholfen,  hätte  sie  nicht  der  von  Jansenisten  und 
Jesuiten  eingeengte,  ab  und  zu  um  sein  Seelenheil  besorgte,  allmäch- 
tige König  selbst  preisgegeben.  Er  hat  recht  eigentlich  sich  selbst 
und  seine  Landeskirche  an  den  Papst  verrathen,  ohne  die  vier  Artikel 
formell  zurückzuziehen.  Vielmehr  blieben  sie  während  des  18.  Jahr- 
hunderts factisch  in  Kraft,  d.  h.  der  französische  Klerus  war  grossen- 
theils  in  ihnen  erzogen  und  dachte  und  handelte  nach  ihnen.  Allein  ein 
zweiter  Monarch  hat  beim  Uebergang  des  18.  zum  19.  Jahrhundert  den 
Verrath  der  französischen  Kirche  an  den  Papst  perfect  gemacht,  der- 

als  er  den  Thron  bestieg,  um  den  Staatskatholicismus  zu  inauguriren,  S.  Mejer, 
Febronius  (1880)  S.  20:  „Unter  dem  Schutze  der  Bourbonen,  welche  die  »galli- 
kanische« Theorie  zu  der  ihren  machten,  erblühte  im  ganzen  romanischen  Europa 
eine  reiche  sie  vertretende  Litteratur:  Peter  de  Marca,  Thomassin,  Bossuet  sind 
Namen,  die  unvergessen  sein  werden,  so  lange  es  kirchenrechtliclie  Jurisprudenz 
giebt.  Die  wissenschaftliche  Methode  dieses  gallikanischen  Episkopalismus  unter- 
scheidet sich  von  der  des  15.  Jahrhunderts  besonders  in  zweierlei :  einmal  in  der 
rechtshistorischen  Begründung,  wie  sie  in  Frankreich  aus  der  humanistischen  Juris- 
prudenz des  Cujacius  stammt  und  die  Kirchenverfassuug  der  ersten  Jahrhunderte 
queUenmässig  darstellt,  um  dann  die  spätere  für  einen  Missbrauch  zu  erklären  -, 
zweitens  darin,  dass  im  Zusammenhange  hiermit,  wie  mit  der  überlieferten  fran- 
zösischen Praxis,  sie  dem  französischen  Könige  ungefähr  dieselbe  kirchliche  Regio- 
rungsgewalt  vindicirte,  welche  nach  Ausweis  der  justinianischen  Kechtsbüoher  der 
römische  Kaiser  besass." 

^  S.  die  kräftige  Verdammung  bei  Benzinger,  a.  a,  0.  p.  239  f, 


I 


Curialismus  und  Episkopalismus.  621 

selbe  Monarch,  welcher  die  gallikanischen  Artikel  formell  anerkannt 
und  zum  Staatsgesetz  erhoben  hat  (1810)  —  Napoleon  I.  Die  Weise, 
in  welcher  Napoleon  die  durch  die  Revolution  factisch  niedergewor- 
fene französische  Birche  und  Kirchenordnung  mit  Bewilligung 
des  Papstes  völlig  zertrümmerte,  um  dann,  über  alle  überlieferten 
Ordnungen  und  Rechte  hinwegschreitend,  diese  Kirche  neu,  Hand 
in  Hand  mit  dem  Papste,  zu  bauen  (Concordat  v.  1801),  war 
eine  Preisgebung  der  französischen  Kirche  an  den  Curialismus.  So 
hatte  es  Napoleon  freilich  nicht  gemeint.  Er  wollte  der  Herr  seiner 
Landeskirche  sein,  und  der  von  ihm  umklammerte  Papst  sollte  als 
Hoherpriester  sein  nützliches  Werkzeug  werden.  Allein  er  hatte  nicht 
bedacht,  dass  der  abendländische  Katholicismus  sich  keinen  welt- 
lichen Herrscher  mehr  aufzwingen  lässt,  und  er  hatte  seine  poHtische 
Macht  für  unüberwindHch  gehalten.  Von  seinen  ursprünglichen  In- 
tentionen ist  daher  nichts  verwirklicht  worden  als  die  Zertrümmerung 
der  alten,  relativ  selbständigen  französischen  Bischofskirche:  So  hat 
er  den  Grund  zur  französischen  ultramontanen  Kirche  gelegt,  und 
Pius  yn.  hat  nach  dem  Sturz  des  Tyrannen  wohl  gewusst,  welchen 
Dank  er  ihm  schuldete.  Die  Romantik  (de  Maistre,  Bonald,  Chateau- 
briand, Lacordaire  etc.)  und  die  Restauration  vollendeten  im  Bunde 
mit  den  Jesuiten  das  Werk,  ja  selbst  politisch-freiheitliche  Regungen 
mussten  der  Curie  zu  Gut  kommen  ^  Vor  Allem  aber  haben  de 
Maistre 's  Schriften  („Vom  Papste"),  in  denen  der  katholische  Geist 
des  Mittelalters  in  neuen  Zungen  zu  sprechen  gelernt  hat,  dazu  bei- 
getragen, den  Gallikanismus  und  Episkopalismus  zu  verschütten. 
Dem  grossen  Savoyarden  hat  jener  dreisteste  aller  Publicisten,  L. 
Veuillot,  nachgesprochen  und  selbst  die  frechsten  Paradoxien  dem 
französischen  Klerus  und  seinem  Anhang  als  göttliche  Wahrheiten 
beizubringen  verstanden.  Heute  ist  Frankreich,  auch  das  republika- 
nische, die  Hauptstütze  des  Kathohcismus,  der  katholischen  Propa- 
ganda und  des  Ultramontanismus:  die  Franzosen  sind  die  Normannen 
des  modernen  Papstthums  geworden  2. 

*  Doch  s.  die  scharfe  Abweisung  der  Sätze  Lamennais'  durch  Gregor  XVI. 
im  Jahre  1832  und  1834  (Denzinger,  1.  c.  p.  310  f.).  Indifferentismus  und  die 
Forderung  der  (lewissensfreilieit  werden  liier  auf  eine  Stufe  gestellt:  „Ex  hoc  puti- 
dissimo  indiflerentisnii  fönte  ahsurda  illafluit  ac  erronea  sentcntia  seu  potius  delira- 
menturn,a8serendani  esseac  vindicandamcuilibetlibertatem  conscientiae.  Cui(j[uidem 
pestilentissimo  errori  viam  sternit  plcna  illa  atquc  immodcrata  libertas  opinionuni, 
quae  in  sacrae  et  civilis  rei  labern  late  grassatur,  dictitantibus  per  surnmam  impu- 
dentiarn  nonnullis,  ali(|uid  ex  ea  eonnrnodi  in  roligioneni  promanare." 

''■  lieber  die  Entwickelung  der  französisclien  Nationulkirclie  zu  einer  ultra- 
montanen  s.  Mejer,  Z.  (Jesch.  der  römisch-deutschen  Frage  Bd.  I;  Friedrich, 


022  Die  Auegänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

In  Deutschland  sind  die  episkopalistischen  Regungen  bis  zur 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  gering  gewesen.  Dann  aber  brachen  sie 
in  dem  Werk  des  Weihbischofs  Nicohius  von  Hontheini  (Febronii 
dt^  statu  ecclesiae  et  legitima  potestate  Romani  Pontificis  1763)  aufs 
kräftigste  hervor.  Verschiedene  Linien  convergiren  in  diesem  Buche: 
der  Galhkanismus,  die  von  Hugo  Grotius  ausgegangenen  naturrecht- 
Hchen  Theorien  über  den  Staat,  der  niederländisclie  Humanismus. 
Hontheini  hatte  zu  Löwen  studirt.  Die  unter  van  Espen' s  Einfluss 
stehenden  dortigen  Lehrer  hatten  ihn  gelehrt,  dass  kathoHsch  und 
päpstlich  nicht  dasselbe  sei,  und  dass  der  thatsächliche  Bestand  des 
Papalismus  in  Deutschland  die  ui"sprüngliche  (3rdnung  der  Dinge 
nicht  auflieben  könne,  die  in  dem  gottgeordneten  bischöflichen  Amt 
einerseits,  in  dem  Naturrechte  des  Staats  andererseits  beschlossen 
liege*.  Der  Primat  hat  nur  eine  menscldich-historische  Entwickelung; 
in  Wahrheit  repräsentirt  und  leitet  das  Concil  die  Kirche,  dem  der 
Papst  unterworfen  ist.  Dieser  Zustand,  der  auf  der  gottgesetzten 
Apostolicität  und  Gleichheit  aller  Bischöfe  als  Regierer  der  Kirche 
beruht,  sei  wieder  herzustellen.  Hontheini  hat  sich  zuletzt  einen 
Widerruf  abpressen  lassen.  Allein  seine  Ideen  wirkten  fort,  jedoch 
nicht  genau  in  der  Richtung,  die  er  ihnen  gegeben.  Er  war  mehr 
Gallikaner  und  Episkopalist  als  Vertreter  des  natürlichen  Staatsrechts, 
welches  im  18.  Jahrhundert  die  Wendung  zum  absoluten  Fürsten- 
recht genommen  hatte.  Die  geistlichen  Kurfürsten  aber,  welche  seine 
Gedanken  aufnahmen,  waren  für  dieselben  in  erster  Linie  als  Landes- 
herren, erst  in  zweiter  als  Bischöfe  interessirt.  Diese  Wendung  war 
verhängnissvoll.  Die  Emser  Punctation  (1786) ■•^,  deren  Anlass 
die  Beschwerde  über  die  Nuntien  gewesen  ist,  konnte  dem  Kaiser 
und  den  Landesherren  nicht  zusagen,  welche  nicht  eine  selbständige 
Bischofskirche,  sondern  eine  Staatskirche  im  strengsten  Sinn  des  Worts 
wünschten.  Der  bisher  verdeckte  Gegensatz  zwischen  Episkopalismus 
und  Staatskirchenthum  musste  um  so  schärfer  zum  Ausdruck  kom- 
men, als  die  grossen  Bischöfe  im  eigenen  Interesse  selbst  in  den 
staatskirchlichen  Gedanken  hinübergriffen.  An  diesem  Gegensatz,  der 
Zerrissenheit  Deutschlands  und  der  Rivalität  zwischen  Oesterreich  und 
Preussen  ist  die  Emser  Unternehmung  sehr  rasch  gescheitert.  Kühner 


Gesch. des  vatik.Concils  Bd.I;  Nielsen,  Die  röm.  K.  im  19.  Jahrh.  Bd.  I  (deutsch 
V.  Michelsen);  ders.,  Aus  dem  inneren  Leben  der  kathol.  K.  im  19.  Jahrh.  Bd.  I; 
Nipp  cid,  Handbuch  der  neuesten  K. -Gesch.  3.  Aufl.  Bd.  I.  u.  II. 

*  S.  Mejer,  a.  a.  O.  S.  20  f.,  v^l.  auch  H.  Schmid,  Gesch.  der  kathol.  K. 
Deutschlands  v.  d.  Mitte  des  18.  Jahrh.  I  S.  1  fl". 

2  S.  über  dieselbe  Köilner,  a.  a.  O.  I  S.  430  fl'.;  Schmid,  a.  a.  O.  l  S.  15  t'. 


Curialismus  und  Episkopalismus.  623 

ist  freilich  seit  den  Tagen  von  Constanz  und  Basel  die  Souveränetät 
der  Bischöfe  und  die  Bedeutungslosigkeit  des  Papstes  nie  innerhalb 
des  Katholicismus  formulirt  worden,  als  von  den  deutschen  Bischöfen 
zu  Ems  vor  hundert  eTahren.  Allein  es  war  eine  kindhche  Illusion 
des  „philosophischen"  Zeitalters,  zu  meinen,  man  könne  einen  Bau 
wie  den  des  Papstthums  durch  Decrete  wie  das  Emser  zu  Fall  bringen, 
und  es  war  eine  gewaltige  Täuschung,  als  sei  der  römische  Katho- 
licismus wirklich  todesmatt  und  habe  durch  die  aufgenöthigte  Auf- 
hebung der  Jesuiten  seine  Schwäche  endgiltig  documentirt.  Der 
Sturm  der  Revolution  zeigte,  dass  der  alte  Löwe  noch  lebte,  und  die 
erschreckten  Fürsten  beeilten  sich  dann,  ihn  ihrerseits  noch  zu  stär- 
ken. Der  Zusammenbruch  der  Reichskirche,  mit  welcher  auch  die 
josephinische  Staatskirche  unterging*,  war  ein  Glück  für  Rom.  Wie 
es  der  Curie  dann  gelungen  ist,  die  Reste  der  episkopalistischen  und 
staatskirchlichen  Gedanken  in  Deutschland  zu  unterdrücken ,  die 
Kirche  durch  Concordate  neu  zu  bauen  und  sich  allmählich  in  Deutsch- 
land, nachdem,  wie  in  Frankreich,  die  landeskirchliche  Tradition  ab- 
gerissen war,  einen  ultramontanen  Episkopat  und  einen  ultramontanen 
Klerus  zu  erziehen,  wie  zu  diesem  Werke  nicht  nur  die  Jesuiten, 
sondern  vor  Allem  die  Fürsten,  die  Romantiker  und  die  vertrauens- 
sehgen  Liberalen  mitgewirkt  haben,  das  ist  uns  in  jüngster  Zeit  aus- 
führlich erzählt  worden-.  Das  Vaticanum  hat  diese  Entwickelung 
abgeschlossen  ^. 

Ib.  Der  Gegensatz  gegen  das  protestantische  Schriftprincip  und 
die  UnmögHchkeit,  für  viele  Lehren  und  Gebräuche  den  Traditions- 


^  Vgl.  K.  Müller  in  Herzog's  R.-E.  2.  Aufl.  Art.  „Josefinismus";  über  die 
Synode  von  Pistoja  unter  Ricci' s  Leitung  s.  a.  a.  0.  den  Art.  von  Benrath, 
Wider  den  Rathgeber  Joseph's  IT.,  den  Kanonisten  Eybel ,  der  mit  seinem  Buch: 
„Was  ist  der  Papst",  das  grösste  Aufsehen  gemacht  hatte,  s.  das  Breve  Pius'  VI. 
„Super  solididate"  (Denzinge  r,  a.  a.  0.  S.  273). 

'^S.dieDarstellungf'nvonMejer,.Schmid,Nielsen,Friedrich,Nippold. 
Auch  für  die  Geschichte  der  katholischen  Kirche  des  19,  Jahrhunderts  in  einzelnen 
deutschen  Ländern  besitzen  wir  treffliche  Darstellungen.  Zukünftige  Historiker 
werden  den  Aufschwung  des  Romanismus  in  unserem  Jahrhundert  mit  dem  des 
IL  vergleichen;  er  ist  jedenfalls  gewaltiger  als  der  der  Contrareformation.  S.  auch 
Hase,  Polemik  3.  Aufl.  1.  Buch. 

*  Wie  wenig  man  noch  im  Jahre  1844  im  Stande  war,  von  protestantischer  Seite 
die  Entwickelung  des  Papalsystems  zur  Lehre  von  der  Unf(dilbarkeit  vorauszusehen, 
zeigt  eine  Bemerkung  von  K  öl  In  er  (a.  a.  O.  S.  42«),  dessen  Symbolik  nicht  nach- 
gesagt werden  kann,  dass  sie  der  römischen  Kirche  nicht  ihr  Recht  gebe:  „(Janz 
unkirchlich,  nur  dfn  Fanatismus  einzelner  .lesuiteu  bezeichnend,  ist  die  Ansicht 
vom  Papste  in  der  Confessio  Hungarica  Evangelis  proposita  », .  .  Papam  caput  esse 
ecclesiae  n^c  er  rare  posse«." 


624  Pie  AuBgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

beweis  wirklich  zu  führen,  veranlassten  in  der  Folgezeit  die  katho- 
lischen Theologen  1)  die  hl.  Schrift  immer  mehr  der  Tradition  unter- 
zuordnen, 2)  die  vom  Tridentiimm  getroffene  Unterscheidung  von 
zweierlei  Traditionen  (s.  oben)  im  Sinne  des  Rechts  der  Annahme 
völlig  uncontrolirbarer  Traditionen  weiter  auszubeutend  Was  den 
ersten  Punkt  betrifft,  so  haben  namentlich  »Tesuiten  mit  rabbinischer 
Kunst  an  dem  Dogma  der  Inspiration  so  lange  herumgehobelt  und 
so  viele  verschiedene  Vorstellungen  von  demselben  zu  Tage  gefördert, 
dass  schliesslich  fast  nichts  mehr  von  ihm  übrig  geblieben  ist.  Per- 
rone,  der  in  seiner  Dogmatik  alle  diese  Formen  aufzählt,  erwähnt 
auch  die  letzte,  nach  welcher  die  Inspiration  nicht  eine  wunderbare 
Entstehung  der  Schriften  einschliesst,  sondern  nur  besagen  soll,  dass 
der  hl.  Geist  nachträglich  (in  der  Kirche)  die  Irrthumslosigkeit 
der  Schriften  bezeugt  habe'^.  Allein  diese  von  den  Jesuiten  Lessius 
und  Hamel  vertretene  Theorie  (1586)  ist  doch  nicht  durchgedrungen, 
ja  das  Vaticanum  hat  sie  verworfen,  indem  es  erklärt  (Constit.  de 
fide  c.  2):  „Eos  libros  vero  ecclesia  pro  sacris  et  canonicis  habet, 
non  ideo,  quod  sola  humana  industria  concinnati  sua  deinde  auctori- 
tate  sint  comprobati,  nee  ideo  dumtaxat,  quod  revelationem  sine 
errore  contineant,  sed  propterea  quod  Spiritu  s.  inspirante  conscripti 
deum  liabent  auctorem  atque  ut  tales  ipsi  ecclesiae  traditi  sunt." 
Diese  Formulirung  lässt  freilich  noch  immer  eine  laxe  Ansicht  von 
der  Inspiration  zu  („assistentia  positiva");  andererseits  aber  liegt  es 
trotz  des  Gegensatzes  zum  Protestantismus  doch  im  Interesse  des 
Katholicismus,  alles  als  heilig  Ueberlieferte  in  der  strengsten  Form 
auch  als  solches  zu  bewahren.  Die  laxe  Ansicht  hat  bekanntlich  dem 
Katholicismus  die  Anfänge  einer  historischen  Kritik  der  Bibel  im 
17.  Jahrhundert  ermöglicht  (Richard  Simon).  Doch  werden  die  Vor- 
theile,  sich  als  Männer  der  Wissenschaft  vorstellen  zu  können,  von 
den  Nachtheilen,  welche  selbst  die  zahmste  Kritik  für  die  Kirche 
hat,  so  bedeutend  aufgewogen,  dass  auch  die  entschlossensten  Tradi- 
tionalisten, die  im  Grunde  die  Bibel  gar  nicht  bedürfen,  sich  lieber 


*  Vgl.  Holtzmann,  Kanou  und  Tradition  1859.  J.  Delitzsch,  Lehrsystem 
d.  röm.  K.  I  S.  295  ff.  Has  e,  a.  a.  O.  S.  63  ff.  Bereits  die  Professio  fidei  Triden- 
tinae  hat  einen  gewaltigen  Schritt  über  das  Tridentinum  hinaus  gethan,  indem  sie  an 
die  Stelle  der  tridentinischen  Unterscheidung  von  traditiones  a  Christo  und  ab 
apostolis  vielmehr  Folgendes  gesetzt  hat:  „Apostolicas  et  ecclesiasticas  traditiones 
reliquasque  eiusdem  ecclesiae  observationes  et  constitutiones  firmissime  admitto  et 
amplector."  Hier  ist  also,  worauf  zuerst  Holtzmann  (S.  253  ff.)  energisch  auf- 
merksam gemacht  hat,  eine  ganz  neue  Terminologie  eingetreten.  In  der  Professio 
folgt  nun  erst  die  Erwähnung  der  hl.  Schrift! 

2  Praelect.  theol.  Romae  (1840—42  Paris  1842)  Cap.  II  p.  1082  sq. 


Schrift  und  Tradition.  625 

mit  dem  blossen  Schein  der  Bibelkritik  begnügen ^  Viel  einschnei- 
dender als  diese  antiprotestantischen  Scheingefechte  in  Bezug  auf  die 
Bibel  ist  die  Ausbildung  des  Begriffs  der  Tradition  in  der  nach- 
tridentinischen  Entwickelung  geworden.  Sie  schliesst  mit  dem  Wort 
des  ersten  unfehlbaren  Papstes  ab,  dessen  Authentie  m.  W.  nie 
widerrufen  worden  ist:  „die  Tradition  bin  ich",  nachdem  Möhler 
vergeblich  versucht  hatte,  den  katholischen  Begriff  der  Tradition  mit 
der  Geschichte  und  der  Kritik  zu  versöhnen. 

Schon  die  Polemiker  des  17.  Jahrhunderts  haben  gegen  Chemnitz^ 
der  die  römischen  disputationes  de  traditionibus  als  „pandectas  erro- 
rum  et  superstitionum"  angegriffen  hatte,  auf  die  kirchlichen  Tradi- 
tionen besonderen  Nachdruck  gelegt.  In  der  That  verschwindet  in 
der  Folgezeit  die  tridentinische  Unterscheidung  von  traditiones  a 
Christo  und  ab  apostolis  fast  ganz  —  sie  wird  der  Schule  überlassen  — ; 
dagegen  wird  die  Unterscheidung  der  Professio  zwischen  traditiones 
apostolicae  und  ecclesiasticae  die  fundamentale.  Bell  arm  in  ist  noch 
zaghaft  in  der  Ausbeutung  der  kirchlichen  Traditionen  gewesen;  er 
suchte  noch  w^esentlich  mit  der  tridentinischen  Bestimmung  auszukom- 
men und  behandelte  die  kirchlichen  Traditionen  geringschätzig;  allein 
schon  Cornelius  Mussus,  einst  Mitglied  des  Tridentiner  Concils, 
hat  das  zukünftige  Traditionsprincip,  welches  sich  über  die  Geschichte 
sammt  den  Kirchenvätern  hinwegsetzt,  in  schöner  Klarheit  formulirt : 
„Ego,  ut  ingenue  fatear,  plus  uni  summo  pontifici  crederem  in  bis,  quae 
fidei  mysteria  tangunt,  quam  mille  Augustinis,  Hieronymis,  Gregoriis." 
Hierher  gehört  auch  die  fast  naiv  klingende  Bemerkung  der  Jesuiten, 
„quo  iuniores,  eo  perspicaciores  esse  doctores"  ^.  Die  Jesuiten  sind  es 
überhaupt  gewesen,  welche  den  alten  Traditionsbegriff  des  Cyprian  und 
Vincentius  zu  Fall  gebracht  und  einen  neuen  durchgesetzt  haben,  der 
freilich  längst  factisch  herrschte,  aber  der  Gegensatz  zum  alten  ist. 
Die  runde  Aussage,  dass  die  Kirche  durch  den  Papst  neue  Offenbarun- 
gen erhalte,  wird  von  vorsichtigen  Dogmatikern  allerdings  vermieden^; 
allein  man  ersetzt  eine  solche  Aussage  durch  die  einfache  Behauptung, 
dass  eben  das  traditio  ecclesiastica  sei,  was  die  Kirche  (der  Papst)  als 
Glaubenssatz  formulirt  habe.    Wie  ernsthaft  man  es  damit  meint,  geht 

'  Ein  solcher  Schein  wird  heutzutage  sehr  leicht  dadurch  erzeugt,  dass  man 
die  Tradition  über  die  Bibel  bestehen  lässt,  sie  aber  mit  einem  Kranze  ägyptischer, 
assyriologischer,  griechischer  und  römischer  Lesefrüchte  umzieht.  Bei  uns  macht 
man  es  nicht  anders. 

*  Stellen  bei  Holtzmann  S.  207, 

*  Doch  liessen  sich  Zeugnisse  dafür  sammeln,  dass  man  von  autoritativer  Seite 
Aussagen  wie  die,  dies  ofler  jenes  sei  der  Kirche  noch  nicht  geoffenbart,  nicht  ge- 
scheut hat. 

Harnack,  Dogmengeschichte  TII.  4q 


620  Dip  Ausß^änpfp  dos  Dogmas  im  römischen  Katholiciamus. 

aus  (Ion  geflissontlichen  Anwoisuiigen  hervor,  sich  nicht  mit  dem  Tracli- 
tionsl)eweis  (aus  der  (leschichte)  für  irgend  ein  neueres  Dogma  abzu- 
iluilkM^;  sichere  und  uralte  Kirchenlehre  ist  auch  das,  wofür  der  Beweis 
nicht  erbracht  werden  kann,  wenn  es  als  Kirchenlehre  gilt^  In  diesem 
Zusannnenhang  wollen  die  abschätzigen  Urtheile  über  die  Concilien, 
welche  im  17.  und  18.  Jahrhundert  von  Jesuiten  gefällt  worden  sind, 
und  die  P^'eiheit  in  der  Kritik  der  Kirchenväter  beurtheilt  werden.  Die 
römische  Kirche  kann  natih'lich  die  Concilien  nicht  preisgeben,  so  wenig 
wie  irgend  ein  anderes  Stück  ehrwürdigen  Hausraths;  aber  sie  ist  nicht 
mehr  wesentlich  für  sie  interessirt,  und  hat  sie  auch  seit  zwei  Jahrhun- 
derten mt^hr  als  einen  Jesuiten,  der  zu  burschikos  mit  der  wirklichen 
Tradition  umsprungen  ist,  zur  Ordnung  gerufen,  so  kann  es  ihr  doch 
nicht  unangenehm  sein,  wenn  ab  und  zu  gezeigt  wird,  dass  Alles  in  der 
(Teschichte  bei  näherem  Zusehen  schwankt  und  von  Trrthümorn  und 
Fälschungen  wimmelt.  Was  haben  uns  die  Jesuiten  und  ihre  Freunde 
in  dieser  Hinsicht  nicht  seit  zw^ei  Jahrhunderten  gelehrt !  Die  Briefe  des 
Cyprian  gefälscht,  Eusebius  gefälscht,  unzählige  Kirchenväterschriften 
interpolirt,  dasKonstantinopolitanische  Symbol  gefälscht  von  Griechen, 
die  Concihen  wider  die  Absichten  Roms  zusammengerufen,  die  Concils- 
acten  geililscht,  die  Beschlüsse  der  Concilien  belanglos,  die  ehrwürdig- 
sten Kirchenväter  voller  Heterodoxien  und  ohne  Autorität  —  nur  ein 
Fels  in  diesem  Meere  von  Irrthum  und  Fälschung,  der  Stuhl  Petri, 
und  durch  die  Geschichte  hindurchklingend  nur  ein  sicherer,  unmiss- 
verständlicher  Ton,  das  Zeugniss  für  die  Unfehlbarkeit  des 
Nachfolgers  Petri!  Indessen  —  der  Papst  ist  auch  unfehlbar  ohne 
dies  Zeugniss:  die  Kirche  selbst  ist  die  lebendige  Tradition; 
d  i  e  K i  r  c  h  e  aber  ist  d  e  r  P  ap  s  t.  Nichts  verändert  sich  in  der  Kirche, 
obwohl  sie  sich  immerfort  verändert^;  denn  jede  Veränderung  erhält  in 
dem  Momente,  wo  sie  von  der  Kirche  (dem  Papst)  vollzogen  wird,  einen 
Altersbrief,  der  sie  bis  zu  der  Apostel  Zeiten  hinaufführt.  Heute  kann 
der  Papst  ein  neues  Dogma  formuliren,  wie  er  das  im  Jahre  1854  be- 
reits gethan  hat  in  Bezug  auf  die  unbefleckte  Empf  ängniss  Maria's,  ob- 
gleich einer  seiner  Vorgänger  geäussert  hatte,  dass  „die  ewige  Weisheit 
die  Tiefen  dieses  grossen  Geheimnisses  der  Kirche  noch  nicht  aufgethan 


^  Natürlich  ist  der  geschichtliche  Bnweis  ein  schöner  Sehmuck,  aber  auch  nichts 
weiter;  ja  das  Beweisunternehmen  gilt  sogar  nicht  als  gefahrlos.  AVer  etwas  zu  be- 
weisen unternimmt,  ist  nicht  sicher,  dass  der  Beweis  vollständig  gelingt  und  dass  er 
Eindruck  macht. 

'^  S.  das  unbedachtsame  Wort  des  Erzbischofs  Scherr  von  München  geotMi- 
über  DöUinger:  „Sie  wissen  ja,  dass  es  in  der  Kirche  und  den  Lehren  inuuer 
Veränderungen  gegeben  hat",  bei  Friedrich,  Tagebuch  'i,  Autl.  S.  410  i". 


Schrift  und  Tradition.  627 

habe".  So  mag  noch  Manches  im  Schosse  der  Zukunft  ruhen,  was  die 
ewige  Weisheit  kommenden  Päpsten  offenbaren  wird  —  aber  neue 
Offenbarungen  finden  nach  dem  Wortlaut  der  ultramontanen  Dogmatik 
nicht  statt. 

Wie  zahm  nimmt  sich  neben  dem  heute  geltenden  Traditionsbegriff 
das  tridentinische  Beeret  über  die  Tradition  aus.    Es  klingt  uns  bereits 
wie  eine  Legende  aus  alter  Zeit:  „veritatem  et  disciplinam  contineri  in 
libris  scriptis  et  sine  scriptis  traditionibuS;  quae  ab  ipsius  Christi  ore  ab 
apostolis  acceptae  aut  ab  ipsis  apostolis  spiritu  s.  dictitante  quasi  per 
manus  traditae  ad  nos  usque  pervenerunt."    Aber  leider  lässt  sich  nicht 
eine  stufenmässigeEntwickelung  von  diesem  Princip  bis  zu  dem  heutigen 
behaupten ;  denn  das  heutige  war  schon  in  voller  Stärke  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  vorhanden.    Es  hat  nur  propter  angustias 
temporum  nicht  zum  Ausdruck  kommen  können.    Eben  desshalb  lässt 
sich  auch  keine  Geschichte   des  römischen  Traditionsbegriffs  vom 
Tridentinum  bis  zum  Vaticanum  schreiben^  sondern  es  lassen  sich  nur 
Geschichten  erzählen^  welche  den  kommenden  vollen  Sieg  des  revo- 
lutionären Traditionsprincips  über  das  alte  verkündigen  ^.    In  diesem 
Sieg  ist  die  Entchristlichung  und  Yerweltlichung  der  christ- 
Hchen  Religion  im  Katholicismus  vollendet.    Das  giiostische  Traditions- 
princip  (apostolische  Geheimtradition)  und  das  enthusiastische  Princip^ 
gegen  welche  einst  das  altkatholische  aufgestellt  worden  ist,  haben  unter 
der  Hülle  des  letzteren  ihren  Einzug  in  die  Kirche  gehalten  und  sich  in 
ihr  etablirt.    Häretisch  im  strengen  Sinn  der  alten  Kirche  ist    die 
heute  geltende  Lehre  von  der  Tradition,   weil  gnostisch  und  enthu- 
siastisch ^.    Aber  sie  haftet  heute  nicht  mehr  an  einer  elastischen  Ge- 
meinschaft, in  welcher  sich  die  Factoren  im  Widerstreit  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  controliren  und  corrigiren,  sondern  an  einem  einzigen 
italienischen  Priester,  der  das  Ansehen  und  zum  Tlieil  auch  die  Macht 
der  alten  Cäsaren  besitzt.    Keine  aus  dem  geschichtlichen  Wesen  der 
christlichen  Religion  stammende  Schranke  schränkt  ihn  mehr  ein.    Je- 
doch vermag  er,  eingeengt  durch  den  Ring  des  heihgen  Collegiums,  die 
Ueberheferungen  seines  Stuhls  und  die  Superstition    der  Gläubigen, 
schwerlich  etwas  als  „tradirten  Glaubenssatz"  zu  formuliren,  was  den 


»  S.  dir'  Al)f;ohnitto  l)oi  Holtzmann  .S.31  f.  52 f.  8.'3  f.  224  f.  231  f.  237  f  250 f. 
2fK)f.  273f.  283  f. 

'^  Sflir  ridiiicr  (InsHlifill)  dio  .SoliTnulkaldisohcn  Artikel  P.  111  a.  8  (S.  321 
MiilU*,  rj:  „^^liid,  f|Uod  otiam  j)ai)atu.s  fiirn[)lici(('r  est,  inoi-ns  oritliusiaHmus,  (juo  pa})a 
^loriaiur,  oninia  iura  csso  in  scrinio  sui  jx'ctoris,  ot  ([uid(juid  ipsc.  in  occlofjia  sua 
sentit  i'X  iuix't,  id  spiritum  ei  iustum  esse,  otianisi  supra  ot  contra  scripturam  et 
vocaif'  vorl;iini  aliquid  statual  et  praecipiat." 

40* 


028  I^it*'  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katliolicismus. 

Geist  des  13.  Jahrhunderts  oder  der  ( ^iitrareformation  gegen  sicli 
hätte'. 

2.  In  dem  1566  von  Piiis  V.  pnhlicirten  Katechismus  Romanus  ist 
die  thomistische  Gnadenlehre,  naehdem  sie  zu  Trident  nur  gehrochen 
zum  Ausdruck  gekommen  war,  selir  entschieden  dargelegt  worden. 
Allein  diese  Darlegung  war  die  letzte  in  ihrer  Art.  Der  Catechismus 
Romanus  hezeichnet  das  Grah  einer  Doctrin,  die  in  der  ersten  Hälfte 
des  16.  Jahrhunderts  von  den  besten  Katholiken  vertreten  gewesen  ist. 
Er  ist  der  Schlussstein  der  augustinischen  Reaction,  sofern 
dieselbe  in  der  Kirche  nicht  nur  geduldet  oder  gar  bekämpft,  sondern 
anerkannt  gewesen  ist  und  zur  Regeneration  des  Katliolicismus  sehr 
viel  beigetragen  hat.  Fortan  erhob  sich  ein  Kampf  gegen  Augustin, 
geführt  von  den  „Kirchlichen"  par  excellence,  den  Jesuiten.  Dieser 
Kampf  sollte  nicht  eher  aufhören,  als  bis  „der  letzte  Feind"  ohn- 
mächtig —  jedoch  nicht  erschlagen  —  am  Boden  lag  und  die  welt- 
förmige  Praxis  des  Beichtstuhls  der  Dogmatik  ihr  Gesetz  vorschreiben 
konnte '-.  Doch  wäre  es  ungerecht,  zu  behaupten,  dass  hier  nur  Lax- 
heit, dort  religiöser  Ernst  regiert  habe.  In  den  Reihen  der  Gegner 
der  Augustiner  fanden  sich  auch  Männer  von  lauterer  katholischer 
Frömmigkeit,  während  manche  Augustiner  Bahnen  einschlugen,  welche 
von  der  Kirchlichkeit  abwichen. 

Nicht  in  Deutschland,  sondern  auf  romanischem  und  belgischem 
Boden  hat  sich  der  Kampf  um  den  Augustinismus  abgespielt.  Das 
erste  Stadium  ist  durch  die  Namen  Bajus  und  Molina  bezeichnet^. 
In  verschiedenen  Schriften  und  in   seinen  Vorlesungen   hatte  Bajus, 


^  In  dieser  Beziehung  ist  der  Mahnbrief  sehr  interessant,  den  Bellarmin  im 
Jahre  1602  an  den  Papst  gerichtet  hat,  s.  Döllinger,  Beiträge  JUS.  83,  Döllinger 
und  Reu  seh,  Selbstbiographie  des  Cardinais  Bellarmin  S.  260.  Dieser  grosse 
Curialist  hat  es  gewagt  —  freilich  in  einer  dogmatischen  Frage,  die  ihn  sehr  nahe 
anging  — ,  den  Papst  zu  meistern  und  ihn  daran  zu  erinnern,  dass  er  die  Controverse 
nicht  einfach  von  sich  aus  entscheiden  dürfe,  ohne  die  Kirche  und  sich  selbst  in  Un- 
gelegenheit  zu  bringen. 

-  Der  Protestantismus  ist  au  dieser  innerkatholischen  Bewegung  fast  ganz  uu- 
betheiligt  gewesen.  Die  katholischen  Augustiner  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
haben,  verschwindende  Ausnahmen  abgerechnet,  dem  Protestantismus  ebenso  schroff 
und  abwehrend  gegenübergestanden  wie  die  Vertreter  der  herrschenden  Kirehen- 
praxis;  ja  man  hat  sogar  Augustin  ausgespielt,  um  die  Reformation  um  so  nach- 
drücklicher bekämpfen  zu  können. 

^  Linsenmann,  Michael  Bajus  und  die  Grundlegung  des  Jansenismus.  1867. 
Schneemann,  Entstehung  der  thomistisch-molinistisehen  Controverse  (vgl.  auch 
andere  einschlagende  Arbeiten  dieses  Jesuiten).  Serry,  Hist.  congreg.  de  auxiliis. 
L.Meyer,  Hist.  controv.  de  auxiliis  2  Bdd.,  Döllinger  und  Reusch,  Selbst- 
biographie Bellarmin's  S.  256  ft'.  S  ch  e  e  b  e  n ,  Wetzer  und  Weite  2.  Aufl.  I.  Bd.  „Bajus''. 


Der  Niedergang  des  Augustinismus.   Bajus.  629 

Professor  in  Löwen  (1544 — 1589),  ohne  strenge  systematische  Ent- 
wickelung  die  augustinische  Lehre  von  der  Sünde  und  Unfreiheit 
scharf  pointirt  vorgetragen,  nicht  um  dem  Protestantismus  entgegen- 
zukommen, sondern  um  ihn  zu  bekämpfen.  Schon  1560  hat  die  Sor- 
bonne eine  Reihe  seiner  Sätze,  die  ihr  handschriftHch  vorgelegt  worden 
waren,  verurtheilt.  Dann  wurde  er  auf  Grund  von  kleineren  Schriften, 
die  er  hatte  erscheinen  lassen,  beim  Papst  verklagt.  Jesuiten  und 
Franciskaner  waren  seine  Feinde.  Sie  nahmen  vor  Allem  auch  an 
seiner  unbedingten  Verwerfung  der  Lehre  von  der  unbefleckten 
Empfängniss  Maria's  Anstoss.  Pius  Y.  erliess  1567  die  Bulle  ^x  Om- 
nibus afflictionibus",  welche,  ohne  Bajus'  Namen  zu  nennen,  79  seiner 
Sätze  verwarf,  resp.  beanstandete  ^  Erst  als  er  Umstände  machte 
sich  zu  fügen,  wurde  die  Bulle  publicirt.  Zweimal  hat  Bajus  einen 
Widerruf  leisten  müssen,  nachdem  der  neue  Papst  Gregor  XIII.  die 
Censur  seines  Vorgängers  bestätigt  hatte.  In  Bajus  wurde  Augustin 
selbst  aufs  schärfste  getroffen,  wenn  sich  auch  die  Curie  in  dem  Satz : 
„quamquam  nonnuUae  sententiae  aliquo  pacto  sustineri  possent",  eine 
Hinterthür  offen  gelassen  hatte.  Eine  grosse  Anzahl  der  censurirten 
Sätze  sind  nach  Form  und  Inhalt  augustiuisch,  so  dass  in  ihrer  Ver- 
werfung die  Loslösung  von  der  Autorität  des  grossen  Afrikaners 
offenbar  ist.  Bajus'  Hauptgedanken  waren '^j  1)  dass  die  Gnade  immer 
nur  Gnade  durch  Jesum  Christum  ist^,  2)  dass  Gott  den  Menschen 
nur  gut  schaffen  konnte  und  gut  geschaffen  hat,  dass  ihm  daher, 
wenn  er  im  Guten  beharrt  hätte,  alles  Gute  „natürlich"  zugefallen 
wäre,  dass  aber  der  Sündenfall  eben  desshalb  nicht  nur  den  Verlust 
eines  donum  superadditum ,  sondern  die  völlige  Verstörung  des 
menschlichen  Wesens  zur  Folge  gehabt  hat  ^,  3)  dass  der  AVille  des 
Menschen  durch  die  Sünde  unfrei  geworden  ist  und  der  Mensch  daher 
nothwendig,  wenn  auch  mit  seinem  Willen,  sündigen  müsse,  zum 
Guten  schlechthin  unfähig  sei  und  nichts  Gutes  aus  sich  selber  könne ^, 


'  „Quas  quidem  scnientias  stricto  coram  nobis  examinc  ponderatas,  quam- 
quam nonnullacali(|  HO  pacto  sustineri  possent,  in  rigore  et  proprio  ver- 
borum  sensu  ab  asscrtoribus  intcnto  haereticas,  crroneas,  suspcctas,  temerarias, 
scandalosas  et  in  pias  aurcs  offcnsiouem  immittentes  respcctivc  .  .  .  damnamus" ; 
H.  Dcnzinger,  1.  c,  p.  208. 

'^  P^igenthiimliches,  welches  keinen  Bezug  auf  den  Augustinismus  hat,  resp.  ihm 
widcrH])richt,  übergehe  ich. 

'  S.  Propos.  l  in  der  Bulle  „Ex  omnibus  afflictionibus",  ferner  2     7.  9. 

*  S,  die  Tropos.  1 — 7.  9.  11.  21.  23:  „Abaurda  est  eorum  sententia,  qui  dicunt, 
hominemab  initio  dono  (juodam  supernaturali  et  gratuito,  supraconditionemnaturae 
suac  fuinse  cxaltatum,  ut  fide,  spe  et  caritatc  deum  supernaturalitcr  coleret."  24. 2ß.  78. 

'' S.  die  J'ropos.  20:   „Nullum  est  peccatuni  ex  natura  siia  veniale,  sed  onmc 


fi30  l^it'  Aiis^äu^o.  des  Dogmas  ini  r(>mischeii  Kutliolicismus. 

4)  (lass  (leiugemüss  alle  Werke  der  Ungliiubigen  Sünden  und  die 
l\igenden  der  Philosophen  Laster  seien',  5)  dass  die  Erbsünde  wirk- 
liche Sünde  sei  und  die  Concupiscenz  nicht  minder-,  6)  dass  alle 
Menschen,  einschliesslich  der  Maria,  Sünder  seien  und  den  Tod  um 
ihrer  Sünden  willen  erlitten^,  7)  dass  es  in  keinem  Siini  menschliche 
Verdienste  Gott  gegenüber  gebe,  Gott  vielmehr  allem  Verdienst  zu- 
vorkomme, indem  er  den  bösen  AVillen  in  einen  guten  umwandelt 
und  so  selbst  alle  bona  merita  bewirkt  (durch  das  Verdienst  Christi)^. 
In  der  Lehre  von  der  Kechtl'ertigung  und  den  Sacramenten  hielt 
sich  J^ajus  wesentlich  an  den  herrschenden  kirchlichen  Typus.  Allein 
obgleich  er,  demselben  entsprechend,  die  Gerechtigkeit  in  der  wirk- 
lichen Vollkonnnenheit  erkannte,  so  legte  er  doch  ein  viel  stärkeres 
Gewicht  auf  die  Sündenvergebung,  als  das  Tridentinum  das  gestattete : 
die  Sündenvergebung  ist  ihm  zwar  ideell  und  letztlich  nicht  die  Ge- 
rechtigkeit, aber  f actisch  kommt  unsere  active  Gerechtigkeit  nur 
durch  das  fortwährende  Complement  der  Sündenvergebung  zu  Stande, 
welche  Gott  als  Gerechtigkeit  anrechnet.    Die  Sündenvergebung  ist 

peccatuni  meretur  poenam  aeternam/  27:  „Liberum  arbitrium  sine  gratiae  dei 
adiutorio  nonnisi  ad  peccaudum  valet."  28.  30.  35.  37.  39:  „Quod  voluntarie  fit, 
etiamsi  necessario  fit,  libere  tarnen  fit."  40.  41 :  „Is  libcrtatis  modus,  qui  est  a  neces- 
sitate,  sub  libertatis  nomine  non  reperitur  in  scripturis,  sed  solum  nomen  libertatis 
a  peccato."  46:  „Ad  rationem  et  definitionem  peccati  non  pertinet  voluntarium,  nee 
definitionis  quaestio  est,  sed  causae  et  originis,  utrum  omne  peccatum  debeat  esse 
voluntarium."    65.  67. 

*  S.  die  Propos.  25:  „Omuia  opera  infidelium  sunt  peccata  et  philosophorum 
virtutes  sunt  vitia." 

'^  S.  die  Propos  47:  „Peccatum  originis  vere  habet  rationem  peccati  sine  ulla 
ratione  ac  respectu  ad  voluntatem,  a  qua  originem  habuit."  48.  49.  51:  „Concupis- 
centia  et  prava  eins  desideria,  quae  iuviti  sentiunt  homines,  sunt  vera  legis  inobe- 
dientia."   52.  53.  74.  75.  76. 

^  S.  die  Propos.  73:  „Nemo  praeter  Christum  est  absque  peccato  originali: 
hiuc  b.  virgo  Maria  mortua  est  propter  peccatum  ex  Adam  contractum  omnesque 
eins  attlictioues  peccati  actualis  vel  origiualis."    72. 

*  Prop.  8:  „In  rcdemptis  per  gratiam  Christi  nulluni  inveniri  potest  bonum 
meritum,  quod  non  sit  gratis  indigno  coUatum."  10:  „Solutio  poenae  temporalis, 
quae  peccato  dimisso  saepe  manet,  et  corporis  resurrectio  proprio  nonnisi  meritis 
Christi  adscribenda  est."  22.  29:  „Non  soli  fures  ii  sunt  et  latrones,  qui  Christum 
viam  et  ostium  veritatis  et  vitae  negant,  sed  etiam  quicunque  aliunde  quam  per 
ijjsum  in  viam  iustitiae  (hoc  est  aliquam  iustitiam)  couscendi  posse  docent." 
34:  „Distinctio  illa  duplicis  amoris,  naturalis  vid.,  quo  deus  amatur  ut  auctor  naturae, 
et  gratuiti,  quo  deus  amatur  ut  beatificator,  vana  est."  36:  „Amor  naturalis,  qui  ex 
viribus  naturac  exoritur,  ex  sola  philosophia  per  elationem  praesumptionis  humanac 
cum  iniuria  crucis  Christi  defenditur  anonnulhs  doctoribus."  65.  77:  „Satisfactiones 
laboriosae  iustificatorum  non  valent  expiare  de  condigno  poenam  temporalem 
rcstantem  post  culpara  condonatam." 


Der  Niedergang  des  Augustiüismus.   Molina.  631 

für  ihn  nicht  nur  Initiationsact,  sondern  eine  Parallele  zur  operatio 
virtutum  K  Auch  das  ist  noch  immer  katholisch.  Dia  Prädestinations- 
lehre Augustin's  scheint  Bajus  mehr  in  den  Plintergrund  geschoben 
zu  haben. 

Bajus  hat  in  seiner  Lehre  auch  die  evangelischen  Grundgedanken, 
ohne  es  zu  wollen,  gestreift,  wenn  auch  seltsam  vermischt  mit  katho- 
lischen Lehren.  Aber  durch  seinen  Widerruf  ging  die  Wirkung  seiner 
w^eittragenden  Sätze  verloren.  Dagegen  dauerte  der  Gegensatz  der 
Dominikaner  und  Jesuiten  fort.  AVechselseitig  verwarf  man  die  be- 
sonderen Lehren  (die  Studienordnung  des  Jesuitengenerals  Aquaviva 
verwarf  17  thomistische  Sätze;  die  Dominikaner  wirkten  mit  Erfolg 
gegen  diese  Studienordnung  und  verdammten  die  Sätze  zweier  be- 
sonders kecker  Jesuiten,  Lessius  und  Hamel,  über  die  Prädesti- 
nation). Aber  zu  hellen  Flammen  loderte  der  Streit  erst  auf,  als 
der  Jesuit  Luis  Molina  im  Jahre  1588  sein  Werk:  „Liberi  arbitrii 
cum  gratiae  donis,  divina  praescientia,  Providentia,  praedestinatione 
et  reprobatione  concordia"  hatte  erscheinen  lassen^.  Dieses  Werk 
geht  von  dem  Vermögen  des  natürlichen  Menschen,  sich  für  die 
Gnade  disponiren  zu  können,  aus  (s.  das  tridentinische  Decret)  und 
sucht  mit  einer  staunenswerthen  scholastischen  Energie'^  die  götthche 
Ursächlichkeit,  ja  sogar  die  augustinischen  Thesen,  mit  dem  Semi- 
pelagianismus  zu  verbinden,  resp.  ilrni  unterzuordnen.  Das  konnte 
natürUch  nicht  gelingen.  Aber  das  blosse  Unternehmen  war  im  Sinne 
seiner  Kirche  verdienstlich,  und  in  AVorten  lässt  sich  Alles  zusammen- 
quälen. Factisch  war  hier  der  Augustinismus  preisgegeben  (Gott 
unterstützt  nur),  und  zwar  so  offenkundig,  dass  selbst  Scotisten  an 
dem  Buche  Anstoss  nahmen.  Die  Tragikomödie,  die  nun  in  unzähligen 
Acten  erfolgte,  zu  schildern,  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein.  Doch 
bietet  sie  ein  sehr  instructives  Beispiel   dafür,  dass   das  Dogma   als 

*  Merkwürdige  Thesen  über  die  Justification  sind  die  42.  43.  44.  63.  64.  68. 
69.  70.   Offenbar  ist  in  den  vom  Papst  formulirten  Thesen  Ungehöriges  eingemiseht. 

'^  Die  2.  Auflage  1595  ist  wesentlich  unverändert. 

'  Die  alten  Bemühungen  um  die  Arten  des  Wissens  (Jottes  liat  Molina  iort- 
gesetzt  und  in  den  Dienst  seiner  Aufgabe  gezogen:  mit  Hülfe  der  „scientia  media" 
sieht  Gott  das  Mögliche,  welches  unter  Umständen  wirklich  wird,  voraus.  Auf  die 
Einzelheiten  der  Lehrweisc  Molina's  kann  ich  mich  nicht  einlassen.  Man  hat 
übrigens  bei  der  Bourthcihmg  derselben  zu  berücksichtigen,  dass  die  katholische 
Kirche  nicht  mehr  augustinisch  war,  und  dass  Molina's  Unternehmen  ein  verstän- 
diger Versuch  ist,  das  wirklich  Giltige  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Dass  Molina 
über  die  Lehre  schreibt,  d.  h.  vom  Standpunkt  des  verständigen  Beurtheilers,  und 
nicht  die  Rechtfertigung,  wie  sie  der  Sünder  erlclit  hat,  beschreibt,  ist  kein  Vor- 
wurf, der  ihn  allein  trifft;  er  trifft  auch  das  tridentinische  Decret  und  den  officiellen 
KatholicismuB  überhaupt. 


H32  l^i**  Ausgänge  dea  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

Dogma  längst  begraben   war;   denn  die  Art,   wie  diese  thomistisch- 
molinistiscbe  Controverso  zu  Rom  ausgetragen,  resp.  nicht  ausgetragen 
worden  ist,  ist  der  deutlichste  Beweis  dafür,  dass  an  die  Stelle  des 
dogmatischen  Interesses  das  des  heiligen  Stuhls  und  der  verschiedenen 
Orden  getreten  ist.    Man  zögerte,   gebot  Schweigen,   entschied   und 
entschied  nicht  in  einer  so  wichtigen  Frage,   weil  es  auf  die  Lehre 
in  erster  Linie  überhaui)t  nicht  ankam,  sondern  auf  den  Frieden  der 
Kirche   und   die  Befriedigung   des  Ehrgeizes  und   der  Herrschsucht 
der  Parteien.     Wie  weit   diese   gegangen  ist,   dafür  giebt  z.  B.   die 
Haltung  Bellarmin's  schöne  Belege.    Man    drohte   dem  Papst   nicht 
nur  und  suchte   ihn    einzuschüchtern,    als   er   den  Dominikanern   zu 
günstig  zu  sein  schien,  sondern  die  eifrigsten  Papalisten  rüttelten  so- 
gar an  den  Grundfesten  des  Systems.    Die  zuerst  eingesetzte  Com- 
mission ,  die    viele   Sätze  Molina's   als    verwerflich   bezeichnet  hatte, 
musste  einer  neuen  weichen ,  jener  berühmten  Congregatio  de  auxiliis 
gratiae,  die  von  1598 — 1607  getagt  hat  und   niemals  zu  einem  Be- 
schlüsse kommen  konnte,  weil  Dominikaner  und  Jesuiten  in  ihr  ver- 
treten  waren.    Die   scholastische   Terminologie  ist  in  diesem  Streit 
ins  Unendliche  vermehrt  worden  („praedeterminatio  physica"   „gratia 
efficax  efficacitate  connexionis  cum  consensu"  etc.),  ohne  dass  es  gelang, 
aus  der  contradictio  in  adiecto  ein  Dogma  zu  machen.    Li  der  Sitzung 
vom  28.  August  1607,  in  welcher  Paul  V.  selbst  den  Vorsitz  führte, 
erklärten  die  Jesuiten  die  Lehre  von  der  physischen  Prädetermina- 
tion für  calvinisch  und  lutherisch,  traten  einem  eventuellen  Beschluss, 
Molina's  Buch  zu  suspendiren  („donec  corrigatur"),  heftig  entgegen  und 
griffen  den  dominikanischen  Dogmatiker  Baiiez  als  Ketzer  an.    Von 
den  übrigen  Mitgliedern  der  Congregation  hatte  fast  jedes  eine  andere 
Meinung  über  das,  was  zu  geschehen  habe.   Da  löste  der  Papst,  wohl 
auf  den  Eath  der  Jesuiten,  die  Versammlung  am  18.  September  auf, 
indem  er  eröffnete,  er  werde  seiner  Zeit  eine  Entscheidung  geben  („fore 
ut  sua  Sanctitas  declarationem  et  determinationem,  quae  exspectabatur, 
opportune  promulgaret");  bis  dahin  dürfe  keine  Partei  die  andere  „aut 
qualificare  aut  censura  quapiam  notare".    So  endete  die  Controverse, 
die  im  Grunde  längst  entschieden  war  —  denn  es  war  der  Streit  des 
Augustin  und  Pelagius  — ,  mit  dem  Eingeständniss  vollendeter  Rath- 
losigkeit  ^ 


*  S.  D  Olli  11  gor  u.  Reu  seh,  a.  a.  O.  S.  273  f.  Im  Jahre  1611  Hess  der  Papst 
durch  die  Inquisition  verordnen,  alle  Bücher,  die  über  die  Materie  de  auxiliis  han- 
delten, seien  ihr  vorher  zur  Approbation  vorzulegen.  Schneemann,  der  Jesuit,  hat 
ganz  Recht,  wenn  er  triumphirt,  dass  factisch  die  moliuistisehe  Gnadenlehro  ge- 
siegt habe,  d.  h-  jcöe  Gpadenlehrc,  au  der  selbst  Belhmniu  Austoss  geuonmieu  luit, 


Der  Niedergang  des  August inismus.   Jansen.  633 

Reiner  als  durch  Bajus^  dessen  theologische  Gesammthaltung 
ein  Problem  ist,  ist  durch  Cornelius  Jansen,  Bischof  von  Ypern, 
der  Augustinismus  wiedererweckt  worden.  Die  Bewegung,  die  sich 
an  seinen  Namen,  resp.  an  das  nach  seinem  Tode  1640  herausge- 
gebene Werk  „Augustinus"  knüpft,  hat  tief  in  die  französische 
Geschichte  im  17.  Jahrhundert  eingegriffen  und  bis  in  das  18.  und 
19.  Jahrhundert  fortgewirkt;  sie  besitzt  noch  heute  an  der  altkatho- 
lichen  Kirche  von  Utrecht  ein  lebendiges  Denkmal  K  Einst  waren 
die  Hugenotten  in  Frankreich  die  „Freunde  der  Rehgion"  gewesen, 
d.  h.  es  fand  sich  fast  Alles  bei  ihnen  zusammen,  was  einen  leben- 
digen Sinn  für  den  Ernst  der  Religion  besass  und  gegen  die  verwelt- 
lichte Hofkirche  Front  machte.  Durch  die  Contrareformation  wurde 
der  Katholicismus  auch  in  Frankreich  wieder  zu  einer  geistigen  Macht. 
Er  wurde  in  einer  Weise  restaurirt,  dass  frommer  Sinn  sich  in  ihm 
wieder  heimisch  machte  trotz  Ultramontanismus  und  höfischem  Kir- 
chenthum.  Aber  dieser  gut-katholische  fromme  Sinn  trug  je  länger 
um  so  schwerer  an  der  laxen  Moral,  die  durch  die  Theologie  der 
Jesuiten  förmlich  gerechtfertigt  wurde,  und  durch  den  Beichtstuhl 
den  Klerus  und  das  Volk  vergiftete.  Man  erkannte,  dass  diese  laxe 
Moral  eine  Folge  jener  nominalistisch-aristotelischen  Scholastik  sei, 
die  schon  im  14.  und  15.  Jahrhundert  die  Kirche  verwüstet  hatte 
und  mit  dem  Pelagianismus  blutsverwandt  war.  Zugleich  aber  wurde 
den  ernst  Gesinnten  jenes  Hof-  und  Staatschristenthum  von  Jahr  zu 
Jahr  unerträglicher,  welches  sich  trotz  der  furchtbaren  Kämpfe  des 
16.  Jahrhunderts  wieder  etablirte.  Es  war  der  Todfeind  des  Jesui- 
tismus ;  aber  es  übertraf  ihn  noch  an  Leichtfertigkeit  und  Weltsinn. 
So  sahen  die  frommen  Katholiken  die  Kirche  Christi  in  traurigster 
Lage:  von  aussen  drohte  der  Protestantismus;  im  Innern  verwüsteten 
die  Kirche  zwei  Feinde,  einig  in  der  UnsittHchkcit  und  in  dem  Be- 
streben, die  Kirche  in  die  Gefangenschaft  fortzuführen,  sonst  getrennt, 
der  eine  für  ein  schmähliches  Hofchristenthum  agitircnd,  der  andere 


weil  sie  die  menschliche  Freiheit  auf  Kosten  der  Gnade  allzusehr  erhöbe,  und  die 
selbst  in  das  Deerefc  des  Jcsuitengenerals  Acjuaviva  v.  1613  nicht  unverändert  Auf- 
nahme gefunden  hat  (a.  a.  0.  S.  274  f.). 

*  Die  Litteratur  über  den  Jansenismus  ist  sehr  umfangreich;  s.  Ranke,  Franz. 
Gescliichte,  St.  lieuve,  ]*ort  Royal  18'10  f.,  Reuchlin,  (lesch.  von  Port  Royal 
2,Bdd.  1831)f.  und  inllerzog's  R.-E.  den  Art.  „Jansen";  ferner  dieMonographicu  über 
Pascal  und  die  Arnauld's;  »Schill,  Die  Constitution Unigenitus  1876,  Schott,  Art. 
„Port  Royal"  in  Herzog  s  R.-E.,  Henke,  Neuere  Kirchengesch.  II  S.  87  ff.  Für 
das  18.  und  19.  Jahrhundert  die  Kirchengesch.  von  Nippold  und  Fricdrich's 
(jcsch,  des  vatik.  Concils. 


f)34  TDie  AiiKgäuge  des  Doomas  im  römischen  Katholicismus. 

es  in  die  blinde  Abhängigkeit   vom  römischen  Beichtstuhl  treibend: 
„ecce  patres,  qiii  toUunt  peccjiti  mundi!" 

Aus  diesen  Verhiiltnissen  heraus  ist  die  gewaltige  Bewegung  des 
Jansenismus  zu  verstehen.  8ie  ist  der  französischen  conciliaren  Be- 
wegung des  15.  .Jahrhunderts  weit  überlegen.  Indem  sie  den  Ruf 
nach  Rückkehr  zur  alten  Kirche  erschallen  liess,  dachte  sie  nicht  nur, 
ja  in  erster  Linie  überhaupt  nicht,  an  eine  Verfassungsänderung,  son- 
dern an  eine  innere  Regeneration  der  Kirche  durch  Busse  und 
Glaube,  religiöse  Erweckung  und  Askese  im  Sinne  Augustin's.  Noch 
einmal  in  der  Geschichte  des  Katholicismus  klammerte  man  sich  in 
Frankreich  an  den  grossen  Afrikaner,  da  man  Luther  und  Calvin 
verdammt  hatte.  Mit  der  tiefsten  Sympathie  begleitet  man  das  heil- 
same und  doch  so  aussichtslose  Unternehmen,  die  Kirche  von  der 
Kirche,  den  Glauben  von  dem  Gewohnheitschristenthum,  die  Sittlich- 
keit von  der  raflinirten  und  laxen  Moral  zu  befreien.  Als  ob  das 
durch  eine  blosse  Reaction  im  Sinne  Augustin's  möglich  gewesen 
wäre !  Wahrlich,  liesse  sich  der  Katholicismus  durch  den  Katholicis- 
mus corrigiren,  so  hätte  es  damals  in  Frankreich  geschehen  müssen, 
als  die  tiefsten,  ernstesten  und  edelsten  Geister  der  Nation  sich  zur 
Reform  zusammenschaarten  und  einer  der  grössten  Redner  und  Rhe- 
toren  aller  Zeiten,  Pascal,  das  AVort  ergriff,  um  das  Gewissen  der 
Völker  wider  die  Gesellschaft  Jesu  w^achzurufen.  Aber  schliesslich 
ist  Alles  im  Sande  verlaufen.  Die  Bewegung  wurde  nicht  nur  mit 
Gewalt  unterdrückt;  sie  selbst  endete,  wie  jede  katholische  Reform- 
bewegung, in  dem  Verzicht  auf  den  Widerspruch  und  in  Schwärmerei. 

Den  Verlauf  des  Jansenismus  zu  schildern,  ist  Sache  der  Kirchen- 
geschichte. Neue  dogmengeschichtliche  Momente  sind  in  dem  Streite 
nicht  hervorgetreten,  und  somit  haftet  in  diesem  Zusammenhange 
das  Interesse  wesentlich  an  der  Beantwortung  der  Frage,  in  wel- 
chem Masse  sich  der  ofticielle  Katholicismus  dieser  Bewegung  gegen- 
über genöthigt  gesehen  hat,  Augustin  preiszugeben  und  sich  in  seiner 
nominalistisch-pelagianischen  Haltung  zu  verstärken.  Die  Jesuiten 
thaten  gleich  nach  dem  Erscheinen  des  „Augustinus"  Jansen's  das 
Klügste,  was  sie  thun  konnten:  sie  wählten,  obgleich  sie  die  Ange- 
griffenen waren,  die  Offensive.  Jansen's  Buch  enthielt  wirklich  den 
reinen  Augustinismus,  ungleich  reiner  als  ihn  Bajus  zu  repristhiiren 
versucht  hatte  und  ohne  Concessionen  an  den  Protestantismus  *.  Scharf 
trat  daher  allerdings  die  Prädestinationslelire  bei  Jansen  hervor^.  Die 

*  Jansen's  Rechtfcrtigungslehre  ist  streng  katholisch. 

^  Eine  Darstellung  des  Jansenismus  ist  eben  desshalb  unnöthig,  weil  in  ihm  die 
augustinische  Süudeu-jGnaden- und  Prädestinatiouslehre  so  correct  wiedergegeben  ist . 


Der  Niedergang  des  Augustinismus.   Der  Jansenismus.  635 

Jesuiten  setzten  es  bei  der  Curie  durch,  dass  ürban  VIII.  (Bulle: 
„In  eminenti")  unter  Hinweis  auf  die  gegen  Bajus  ausgesprochene 
Censur  das  Verbot  des  Buchs  bestätigte,  weil  es  Irrlehren  enthalte. 
Nun  entflammte  der  Kampf  in  Frankreich  —  ein  Kampf  um  die 
Religion,  in  einer  Unterströmung  auch  ein  Kampf  für  das  Hecht 
der  persönlichen  Ueberzeugung  gegenüber  der  Despotie  des  Papstes 
und  der  päpstlichen  Mamelucken.  Aber  diesen  gelang  es,  dem  Papste 
die  Bulle  „Cum  occasione"  (1653)  abzugewinnen,  in  welcher  fünf 
Sätze  als  verwerflich  und  zugleich  —  jedoch  nicht  mit  voller  Klar- 
heit —  als  Sätze  Jansen's  bezeichnet  wurden.  Sie  lauten:  ^  1)  „Aliqua 
dei  praecepta  hominibus  iustis  volentibus  et  conantibus  secundum 
praesentes  quas  habent  vires  sunt  impossibilia ;  deest  quoque  illis 
gratia,  qua  possibilia  fiant."  2)  „Interiori  gratiae  in  statu  naturae 
lapsae  nunquam  resistitur."  3)  „Ad  merendum  et  demerendum  in 
statu  naturae  lapsae  non  requiritur  in  homine  hbertas  a  necessitate, 
sed  sufficit  Hbertas  a  coactione."  4)  „Semipelagiani  admittebant  prae- 
venientis  gratiae  interioris  necessitatem  ad  singulos  actus,  etiam  ad 
initium  fidei,  et  in  hoc  erant  haeretici,  quod  vellent  eam  gratiam 
talem  esse,  cui  posset  humana  voluntas  resistere  et  obtemperare." 
5)  „Semipelagianum  est  dicere,  Christum  pro  omnibus  omnino  homi- 
nibus mortuum  esse  aut  sanguinem  fudisse."  Diese  Sätze  sind  ohne 
die  Wurzeln,  aus  denen  sie  abgeleitet  sind,  nicht  jansenistisch,  mag 
man  sie  auch  bei  Jansen  fast  wörtlich  nachweisen  können ;  denn  die 
Dogmatik  ist  keine  Kette  von  Gleichungen,  aus  der  man  beliebig 
eine  einzelne  herausnehmen  darf.  Die  Jansenisten  hatten  mithin  wohl 
ein  Recht,  die  „question  du  fait"  aufzuwerfen  und  um  den  Nachweis 
zu  ersuchen,  dass  Jansen  so  gelehrt  habe.  Handelte  es  sich  doch  für 
ihre  Gegner  darum,  die  äussersten  Spitzen  des  Augustinismus  ab- 
gesondert und  schroff  zu  formuliren,  um  diese  verwerfen.  Augustin 
frei  lassen  zu  können,  aber  auf  diesem  Wege  den  Augustinismus 
zu  ertödten.  Allein  die  Jansenisten  kamen  desshalb  doch  in  eine  sehr 
ungünstige  Position,  weil  ihr  Katholicismus  ihnen  nicht  gestattete, 
die  Lehrautorität  des  Papstes  offen  in  Frage  zu  stellen.  Die  Conces- 
sion,  die  sie  diesem  machten,  dass  er  ein  Recht  habe  zu  entscheiden, 
wenn  die  Thatfrage  sichergestellt  sei,  schwächte  ihre  Stellung;  und 
wo  ist  die  Grenze  zwischen  Rechtsfrage  und  Thatfrage?  Bereits  im 
Jahre  1656  erklärte  Alexander  VII.  in  der  berüchtigten  Bulle  „Ad 
sanctam  b.  Petri  sedem" :  „Quincpic  illas  propositiones  ex  libro  prae- 
memorati  Cornelii  Jansenii  excerptas  acin  sensu  abeodem  Cor- 


'  8.  Dcnzingcr,  a.  a.  O.  S.  212  f. 


636  r)it*  Auögäiioe  dt-s  Doomas  im  röinisohnn  KatlioliciKnms. 

nelio  Jansenio  intento  damnatas  fiiisse,  definimus  et  de- 
claramiis."  Wenn  der  oberste  Lehrer  kaltblütig  erklärte,  dass  er 
auch  zu  entscheiden  habe,  in  welchem  Sinn  .Jemand  etwas  ge- 
meint hat,  was  war  dagegen  einzuwenden,  wenn  man  seine  absolute 
Autorität  überhaupt  zugestand  ?  So  schritt  denn  derselbe  Papst 
dazu  fort  (1(U)4),  eine  llnterschriftsformel  aufzustellen,  in  welcher 
allen  Geistlichen  und  Lehrern  nicht  nur  die  Verwerfung  der  fünf 
Propositionen,  sondern  auch  unter  einem  Eide  das  Bekenntniss  zuge- 
niuthet  wurde,  dieselben  seien  „in  sensu  ab  eodem  auctore  intento" 
verdanmit.  Ju  dieser  AVeise  durfte  der  Papst  bereits  die  Gewissen 
vergewaltigen,  und  dennoch  hat  es  noch  zwei  .Jahrhunderte  gedauert, 
bis  seine  Unfehlbarkeit  proclamirt  werden  konnte !  Zeitweilig  gewährte 
die  Curie  allerdings  den  .Tansenisten  eine  Erleichterung,  sofern  sie 
sich  mit  dem  „silentium  obsequiosum"  begnügte  (Pax  Clementis  IX. 
1H68);  allein  nachdem  die  Krone  die  augustinische  Partei,  die  doch 
nicht  ohne  Vorbehalt  für  die  gallikanischen  Freiheiten  eintrat,  erst 
mit  Gleichgiltigkeit,  dann  mit  steigendem  Hass  betrachtet  und  schliess- 
lich dem  .Tesuitismus  preisgegeben  hatte,  erneuerte  Clemens  XI.  in  der 
Bulle  „Vineam  domini  Sabaoth"  (1705)  alle  scharfen  Bullen  seiner 
Vorgänger  gegen  den  Jansenismus  und  forderte  wiederum  die  An- 
erkennung der  von  Alexander  VII.  bestimmten  Intention  Jansen's. 
Jetzt  wurde  Port  Royal  gewaltsam  aufgelöst. 

Doch  noch  einmal  flammte  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  der 
Augustinismus  mächtig  empor:  noch  war  ja  nicht  zum  deutlichen 
Ausdruck  gekommen,  dass  man  auch  den  Apostel  Paulus  in  Augustiu 
treffen  Avollte  und  musste.  Der  Oratorianer  Paschasius  Quesnel 
hatte  ein  „Gnomon"  zum  französischen  Neuen  Testamente  heraus- 
gegeben, ein  Buch,  welches  sehr  rasch  als  Erbauungsbuch  —  zur 
Anregung  von  Meditationen  —  Verbreitung  fand  und  seiner  schlichten 
katholischen  Frömmigkeit  wiegen  hoch  geschätzt  wurde.  Selbst  der 
Papst  Clemens  XI.  hatte  das  günstigste  Urtheil  über  das  Buch  gefällt ; 
der  bereits  unangenehm  frömmelnde  grosse  König  hatte  sich  von 
der  AVärme  und  Einfalt  desselben  berühren  lassen;  der  Cardinal- 
Erzbischof  Noailles  von  Paris  hatte  es  emi)fohlen.  Allein  eben  diese 
Empfehlung  gab  den  Jesuiten  Anlass,  zu  einem  Doppelschlage  aus- 
zuholen und  den  ihnen  verhassten  Cardinal  und  das  seiner  Innerlich- 
keit wegen  anstössige  Buch  zugleich  zu  treffen.  Agitationen  gegen 
das  Buch,  in  welchem  das  heimliche  Gift  des  Jansenismus  schleiche, 
wurden  beim  Klerus  in  Scene  gesetzt  und  schliesslich  ein  Entwurf 
einer  Verdammungsbulle  nach  Rom  geschickt.  Das  Unglaubliche  gelang. 
Der  schwache  Papst  Clemens  XI.  erliess  die  Constitutiou  Unigenitu^s 


Der  Niedergang  des  Augustinismus.   Der  Jansenismus.  ß37 

(1713)^  in  welcher  sich  der  Romanismus  für  immer  von  seiner  augu 
stinischen  Vergangenheit  losgesagt  hat.  Es  war  wider  alles  Herkommen, 
aus  einem  Buche,  wie  das  vorliegende,  101  Sätze  herauszureissen 
und  mit  Emphase  in  einer  übrigens  formell  höchst  misslungenen  Weise 
zu  präscribiren.  Aber  für  die  Kirche  der  Jesuiten  ist  die  Bulle 
Unigenitus  von  unschätzbarem  AVerthe  geworden;  denn  mit  dieser 
Bulle  in  der  Hand  haben  sie  alle  Ansätze  zu  einer  inneren  Regenerirung 
der  Kirche  zu  bekämpfen  vermocht,  und  auch  in  Zukunft  wird  diese 
Kundgebung  des  unfehlbaren  Papstes  die  besten  Dienste  leisten  können, 
wenn  der  nie  ganz  zu  ertödtende  Augustin  und  Paulus  den  Frieden 
der  Kirche  je  wieder  zu  erschüttern  wagen  sollten  ^     Zunächst  rief 


*  Die  Constitution  bei  Denzinger  S.  243  £f.  Diese  letzte  grosse  dogmatische 
Kundgebung  der  römischen  Kirche  ist  in  jeder  Hinsicht  ein  trauriges  Machwerk. 
Sie  zeigt  vor  Allem  auch  den  Leichtsinn,  mit  dem  man  gegenüber  der  zum  corpus 
vile  gewordenen  Dogmatik  (im  engeren  Sinn)  verfahren  ist.  Charakteristisch  ist, 
dass  man  sich  hier  wie  anderwärts  —  es  war  das  schon  Gewohnheit  geworden  — 
nur  noch  auf  negative  Sätze  eingelassen  hat.  Die  Kirche  giebt  auf  dem  „dornenvollen 
Clebiete  der  Gnadenlehre"  nur  noch  an,  was  man  nicht  glauben  darf.  Ob  zwischen 
den  Gegensätzen,  die  verworfen  werden,  überhaupt  noch  etwas  nachbleibt,  was  g  e- 
gl  aubt  werden  kann  oder  des  Glaubens  würdig  ist,  das  kümmert  sie  wenig.  That- 
sächlich  ist  in  der  Constitution  eine  Glaubenslehre  zum  Ausdruck  gekommen,  die 
nicht  mehr  Glaub  e  ist,  sondern  kluge  Moral:  Unter  den  verworfenen  Thesen  seien 
folgende  hervorgehoben:  These  2:  „Jesu  Christi  gratia,  principium  efficax  boni 
cuiuscumque  generis,  necessaria  est  ad  omne  opus  l)onum;  absque  illa  non  solum 
nihil  fit,  sed  nee  fieri  potest."  3:  „In  vanum,  domine  praecipis,  si  tu  ipse  non  das, 
quod  praecipis"  (dies  ist  eine  runde  Verdammung  Augustin's).  4:  „Ita,  domine, 
omnia  possibilia  sunt  ei,  cui  omnia  possibilia  facis,  eadem  operando  in  illo."  Dazu 
These  5 — 7,  These  8:  „Nos  non  pertinemus  ad  novum  foedus,  nisi  in  quantum  par- 
ticipes  sumus  ipsius  novae  gratiae,  quae  in  nobis  operatur  id,  quod  deus  nobis  prae- 
cipit."  9:  „Gratia  Christi  est  gratia  suprema,  sine  qua  confiteri  Christum  nunquam 
possumus,  et  cum  qua  nunquam  illuin  abnegamus.**  26:  „Nullae  dantur  gratiae  nisi 
per  fidem."  27  :  „Fides  est  prima  gratia  et  fons  omnium  aliarum."  28 :  „Prima  gratia, 
quam  deus  concedit  x>eccatori,  est  peccatorum  remissio."  38:  „Peccator  non  est 
liber,  nisi  ad  malum,  sine  gratia  liberatoris."  40:  „Sine  gratia  nihil  amare  possumus, 
nisi  ad  nostram  condemnationem."  42:  „Sola  gratia  Christi  reddit  hominem  aptum 
ad  sacrificium  fidei."  44:  „Non  sunt  nisi  duo  amores"  (seil.  Gottes-  und  Selbstliebe). 
46:  „Cupiditas  aut  Caritas  usum  sensuum  bonum  vel  malum  faciunt."  49:  „Utnullum 
peccatum  est  sine  amore  nostri,  ita  nullum  est  opus  bonum  sine  amore  dei."  60 :  „Si 
Holus  supplicii  timor  animat  paenitentiam,  (pio  haec  est  magis  vicdenta,  eo  magis 
ducit  ad  dps]>erationem."  62:  „Qui  a  malo  non  abstinet  nisi  timore  poenae,  illud 
committit  in  corde  suo  et  iam  est  reus  coram  deo."  68:  „Dei  ])onitas  abbreviavit 
viam  salutis,  claudendo  totum  in  fide  et  precibus."  69:  „Fides  ost  donum  purae 
liberalitatis  dei."  73  :  „Q,uid  est  ecclesia  nisi  coetus  filiorum  dei,  manentium  in  eius 
sinu,  adoptatorum  in  Christo,  subsistentium  in  eius  persona,  redemptorum  eius 
sanguine,  viventium  fius  spiritu,  agentium  per  eius  gratiam,  et  exspectantium 
gratiam  futuri  saeculi?"    74:  „Ecclesia  sive  integer  Christus  incarnatum  verbum 


038  Die  Auspfände  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

die  Bewegung  eine  neue  grosse  Krisis  in  Frankreich  —  es  ist  die 
letzte  —  liervor.  Alles,  was  noch  Prönnuigkeit  und  Scham  hatte, 
erhob  sich.  Acceptanten  und  Appellanten  standen  sich  gegenüher. 
Aher  die  Ai)pellanten  waren  keine  Hugenotten,  sondern  Katholiken, 
denen  hei  jeder  Auflehnung  wider  den  Papst  doch  das  Gewissen 
schlug.  So  wandelte  sich  der  Widerspruch  nach  dem  Gesetz,  nacli 
welchem  er  sich  auch  im  Mittelalter  stets  gewandelt  hat  —  in  Unter- 
werfung und  in  Schwärmerei  und  Ekstase.  Der  eherne  Ring  des 
Katholicismus  gestattet  kein  Ausweichen  zur  Seite.  Vermag  man 
sich  nicht  über  ihn  zu  erheben,  so  ist  jene  Verzweiflung  die  Folge, 
die  sich  mit  geschändetem  (jewissen  unterwirft  oder  in  wilde  Schwär- 
merei aus1)richt.  Man  liest  bei  Denzinger  als  Anmerkung  zur 
Bulle  Unigenitus  den  trockenen  historischen  Bericht:  „Haec  consti- 
tutio  dogmatica  confirmata  est  ab  ipso  Clemente  XI.  per  bullam 
»Pastoralis  Officii«  5.  Cal.  Sept.  1718  contra  Appellantes,  in  qua 
quoscumque  catholicos,  (jui  bullam  »Unigenitus«  non  susciperent, 
a  Romanae  ecclesiae  sinu  plane  aHenos  declarat*,  ab  Innocentio  XTII. 
decret.  d.  8.  Jan.  1722,  a  Benedicto  XIIT.  et  synodo  Romana  1725, 
a  Benedicto  XIV.  per  encycHcam  »Ex  omnibus  Christiani  orbis 
regionibus«   16.  Oct.   1756,  suscepta  est  a  clero  Gallicano  in  comitiis 

habet  ut  capnt,  omnes  vere  fanctos  ut  meml)rn."  These  79 — 86  verdammen  den 
allgemeinen  (lehrauch  der  hl.  Schrift.  91 :  „Excommunicationis  iniustae  metus  nun- 
quam  dehet  nos  impedire  ab  implendo  debito  nostro;  nunquam  eximus  ab  ecclesia, 
etiam  quando  hominum  nequitia  videmur  ab  ea  expulsi,  quando  deo,  Jesu  Christo 
atque  ipsi  ecclesiae  per  caritatem  affixi  sumus",  cf.  92.  These  94  :  „Nihil  peioreni 
de  ecclesia  opinionem  iugerit  eins  inimicis,  quam  videre  illic  dominatum  exerceri 
supra  fidem  fidelium,  et  foveri  divisiones  propter  res,  quae  nee  fidem  laedunt  nee 
mores."  97 :  „Nimis  saepe  contingit,  membra  illa,  quae  magis  sancte  ac  magis  stricte 
unita  ecclesiae  sunt,  respici  atque  tractari  tamquam  indigna,  ut  sint  in  ecclesia,  vel 
tamquam  ab  ea  separata,  scd  iustus  vivit  ex  fide  et  non  ex  opinione  hominum."  Es 
braucht  wohl  nicht  erst  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dass  selbst  die  Jesuiten 
diese  und  ähnliche  Sätze  nicht  hätten  Öffentlich  verdammen  können,  wenn  Quesnel 
nicht  an  einigen  Stellen  auch  jenem  Augustinismus  Ausdruck  gegeben  hätte,  nach 
welchem  die  Gnade  Gottes  in  seiner  Allwirksamkeit  verschwindet.  Von  dieser  Be- 
trachtung aus,  die  am  Ende  und  am  Anfang  des  Augustinismus  lauert,  konnte  man 
dann  alle  Sätze  beleuchten  und  für  häretisch  erklären.  Ja  man  kann  noch  einen 
Schritt  weiter  gehen.  Zersetzt  der  consequente  Augustinismus  nicht  wirklich  die 
Kirche?  Es  musste  endlich  zu  Tage  treten,  dass  man  vor  dem  Dilemma  stand,  eine 
Kirche  mit  Luther,  oder  mit  den  nominalistisch-jesuitischen  Lehrern  zu  bauen. 
Der  Augustinismus  hat  ein  Element  in  sich,  welches  alle  Kirche  zerstört.  Darum 
haben  jene  doctores  perspicuiores  gesiegt,  welche  nachwiesen,  dass  Christus  eine 
Anstalt  hinterlassen  hal)e,  deren  erfreulichste  Thätigkeit  darin  besteht,  auch  der 
schwächlichsten  Moral  für  das  Opfer  des  (Jehorsams  die  höchsten  Verdienste  zu 
verschaffen. 


1 


Der  Nieder^an^  des  Augustinismus  im  18.  und  19,  Jahrhundert.  639 

1723,  1726,  1730,  a  conciliis  Avenionensi  1725,  ab  Ebredunensi  1727, 
et  ab  universo  mundo  catholico."  Der  Verfasser  hätte  hinzu- 
fügen können,  dass  diese  Confirmationen  und  Reeeptionen  die  Ge- 
schichte des  Siegs  der  modernen  jesuitischen  Dogmatik  über  die 
augustinische  darstellen,  dass  sie  das  letzte  Wort  der  katho- 
lischen Dogmengeschichte  sind  (im  Sinne  der  Glaubenslehre), 
und  dass  sie  zugleich  den  Triumph  der  Kirche  über  unzählige  Ge- 
wissen, ja  über  die  Frömmigkeit  in  Frankreich  bedeuten.  Die  Hu- 
genotten waren  ausgewiesen,  die  Jansenisten  gebrochen  oder  vernichtet: 
das  französische  Volk  gehörte  jetzt  den  Encyklopädisten  und  Voltaire. 
Es  hasste  die  Jesuiten;  allein  da  man  wohl  die  Gottesfurcht  aus- 
treiben kann,  nicht  aber  die  Gottesangst,  so  gehörte  dieses  Volk 
fortab  eben  jener  jesuitischen  Kirche,  die  es  hasste  und  verspottete. 
Uebrigens  hat  Benedict  XIV.  (1756)  die  Zügel  der  Constitution 
Unigenitus  gelockert.  Jeder  sollte  als  Katholik  gelten,  der  sich  nicht 
wider  sie  öffentlich  auflehnte.  Allein  dieser  Erlass  kam  erst,  als 
die  Bulle  schon  ihr  Werk  gethan  hatte,  und  er  diente  nur  dazu, 
den  gebrochenen  Seelen  den  Rückzug  zu  erleichtern,  als  man  nicht 
mehr  befürchten  musste,  sie  könnten  unbequem  werden.  Jansenistische 
Geistliche  hat  es  in  Frankreich  auch  fernerhin  gegeben,  wie  es  galli- 
kanische  gegeben  hat-,  aber  jene  bedeuteten  viel  weniger  als  diese. 
Der  Jansenismus  ist  schon  im  18.  Jahrhundert  als  Factor  vernichtet 
worden,  der  Gallikanismus  erst  im  19.  Unter  der  Regierung  Pius'  IX. 
hielt  man  es  noch  für  nöthig,  die  letzten  Trümmer  beider  Richtungen 
aufzuspüren  und  bei  Seite  zu  schaffen.  Gleichzeitig  setzte  das  neue 
Dogma  von  der  unbefleckten  Empfängniss  Maria's  ((Constitution  „In- 
efifabihs  deus"  v.  8.  Dec.  1854)  das  Siegel  auf  die  Verwerfung  der 
augustinisch-thomistischen  Sünden-  und  Gnadenlehre '.  Augustinismus 


*  Die  Katholikon  brauchen  wenig  Anstoss  daran  zu  nehmen,  dass  Maria  von 
der  Erbsünde  frei  sein  soll;  denn  was  ist  ihnen  die  Erbsünde?  Dagegen  zeigt  sich 
eine  dreiste  »Stirn  in  dern  hundertfach  wiederholten  apologetischen  Kunstgriff  gegen- 
über dem  Protestantismus:  „Ihr  modernen  Menschen  dürft  am  wenigsten  Anstoss 
an  unserem  Dogma  nehmen  ;  denn  ihr  glaubt  ja  überhaupt  nicht  an  die  Erbsünde". 
Die  Aufstellung  des  neuen  Dogmas  im  .Tahre  1854  hatte  den  dreifachen  Zweck,  1)  das 
Vaticanum  vorzubereiten,  2)  der  thomistischen  Sünden-  und  Gnadenlehre  den  letzten 
Stoss  zu  geben,  3)  die  Maria  zu  verherrlichen,  welcher  Pius  IX.  eine  ausschweifende 
Verehrung  widmete.  Das  neue  Dogma  lautet  (Denzinger  p.  324):  „Defmimus 
doctrinam,  (juae  tenet,  beatissimam  virginem  Mariam  in  primo  instanti  suac  con- 
coptionis  fuisse  J^ingulari  omnipotentis  dei  gratia  et  privilegio,  intuitu  meritorum 
CJhristi  Jesu  salvatoris  humani  generis,  ab  omni  originalis  culpae  labe  i)raes(n'vataiii 
immunem,  esse  a  deo  revelatam  (wann?  wein?)  atrpic  idcirco  ab  omnibus  fidelibus 
firmitf-r  constanterque  credendani." 


G40  Hip  Aus»ange  ^les  Dop^maa  im  römischen  Katholicismus. 

ist  fortab  in  der  römischen  Kirche  kaum  mehr  möghch;  aber  jene 
Mystik  liisst  sich  allerdings  nicht  verbannen;  die  bald  Quietisnuis,  bald 
„Aftermystik"  genannt  wird;  denn  die  Kirche  giebt  zur  Entstehung 
dieses  Ohristenthums  immerfort  Antriebe  und  kann  es  schlechterdings 
nicht  vermeiden,  es  bis  zu  einem  gewissen  Punkt  selbst  gross  zu 
ziehen'.  Docli  hat  der  Jesuitenorden  nicht  fruchtlose  Anstrengungen 
gemacht,  den  unverwüstliclien  Zug  zur  Innerlichkeit,  Beschaulichkeit 
und  christlichen  Selbständigkeit  durch  sinnliche  Mittel  aller  Art, 
durch  Spielsachen  und  Wunder,  sowie  durch  Bruderschaften,  Exer- 
citien  und  (lebetsübungen  zu  bescliäftigen  und  dabei  am  Seile  der 
Kirche  zu  halten.  Die  „Aftermystik",  welche  das  Kirchentimm  eben 
nur  erträgt,  scheint  immer  seltener  zu  werden,  weil  man  eben  gelernt 
hat,  ihr  die  Kirche  wohnlich  zu  machen,  und  sie  selbst  hat  ja  leider 
als  katholische  einen  eingeborenen  Zug  zur  religiösen  Genusssucht 
und  zum  ]\firakel.  Der  herrliche  Aufschwung  und  die  hohe  Intuition 
der  Erweckten  in  unserem  Jahrhundert  endete  bei  Anna  Katharina 
Emmerich  und  dem  heihgen  Rock  zu  Trier ^. 

3.  Der  Kampf  um  den  Probabilismus  gehört  in  die  Greschichte 
der  Ethik.  Aber  Ethik  und  Dogmatik  lassen  sich  nicht  trennen. 
Der  juristisch-casuistische  Geist  der  römischen  Kirche  hatte  schon 
im  Mittelalter  die  Ethik  und  mit  ihr  die  Dogmatik  auf  das  Un- 
günstigste beeinflusst.  Die  nominalistische  Theologie  besass  eine  ihrer 
starken  Wurzeln  in  der  juristischen  Casuistik,  d.  h.  im  Probabilismus. 
Die  Jesuiten  haben  sie  aufgenommen  und  in   einer  Weise   cultivirt. 


^  Hier  empfähle  es  sich,  auf  die  der  jansenistischen  Bewegung  parallele 
quietistische  Bewegung,  auf  Molinos,  die  (luyon,  den  Streit  zwischen  Bossuet 
und  Fenelon,  die  Propositioues  LXVIII  M.  de  Molinos  damnatae  ab  Inuoceutio  XI. 
(„Coelestis  Pastor"  1687)  und  die  katholisch-mystischen  Bewegungen  des  19.  Jahr- 
hunderts einzugehen;  allein  sie  haben  kein  greifbares  dogmengeschichtliches  Re- 
sultat gehal)t.  Auch  gestattet  die  Kirche  den  schlimmsten  quietistischen  Unfug  den 
Mönchen  und  selbst  den  Laien,  wenn  derselbe  nicht  souveräne  Ansprüche  stellt, 
sondern  ad  maiorem  ecclesiae  gloriam  verläuft.  Somit  handelt  es  sich  hier  nicht 
um  Principien. 

^  Dennoch  ist  selbst  in  dem  Herz-.Tesu-Kultus,  dem  Mariendienst  etc.  ein 
Segen,  wo  sie  mit  Demuth  und  im  Aufhlick  zu  dem  (lott,  welcher  erlöst,  getrieben 
werden.  Da  sie  das  Einzige  sind,  in  welchem  die  Frömmigkeit  lebendig  ist,  so 
rettet  sich  auch  aufrichtiger  christlicher  Sinn  in  diese  Dinge;  denn  an  der  Kirche, 
welche  mit  den  Staaten  auf  gleichem  Fiisse  verkehrt  und  sie  düpirt,  kann  sich  die 
Frömmigkeit  doch  nicht  belelien.  Wie  das  Herz,  welches  zu  Gott  strebt,  durch 
Lehrformeln  nicht  gehemmt  werden  kann ,  sondern  auch  das  Fremdeste  sich  zum 
Tröste  umzubiegen  vermag,  so  kann  derselbe  Sinn  auch  nicht  durch  Idole  erstickt 
werden,  sondern  verwandelt  dieselben  in  das  Gnadenzeichen  des  Gottes,  der  in 
allen  Zeichen  nichts  Anderes  offenbart  als  seine  erneuernde  Gnade. 


Der  Probabilismus.  641 

die  einige  Male  selbst  die  Päpste,  ja  ihre  eigenen  Ordensglieder  in 
Schrecken  gesetzt  hat  ^  Man  wird  vielleicht  den  Jesuiten  keine  ein- 
zige morahsche  Ungeheuerlichkeit  nachweisen  können,  die  nicht  schon 
ein  mittelalterlicher  Casuist  aus  den  Bettelorden  ausgesprochen  hätte ; 
aber  der  Jesuitenorden  hat  die  weltgeschichtliche  Verantwortung  auf 
sich  geladen,  das  systematisirt  und  in  der  Kirche  durchgesetzt  zu 
haben,  was  vor  seiner  Zeit  nur  in  unsicheren  Versuchen  vorhanden 
und  durch  starke  Gegenwirkungen  gehemmt  war.  Dieser  Orden  hat 
mit  Hülfe  des  ProbabiHsmus  fast  alle  Todsünden  in  lässliche  Sünden 
umgewandelt.  Er  hat  fort  und  fort  Anweisungen  gegeben,  im  Schmutze 
zu  wühlen,  die  Gewissen  zu  verwirren  und  im  Beichtstuhl  Sünde 
durch  Sünde  zu  tilgen.  Die  umfangreichen  ethischen  Handbücher 
der  Jesuiten  sind  zum  Theil  Monstra  von  Scheusslichkeit  und  Fund- 
gruben zur  Entdeckung  entsetzlicher  Sünden  und  schmutziger  Ge- 
wohnheiten, deren  Beschreibung  und  Behandlung  einen  Schrei  des 
Entsetzens  hervorruft.  Mit  eherner  Stirn  wird  hier  das  Fürchter- 
lichste von  unbeweibten  Priestern  als  Kennern  behandelt,  nicht  um 
mit  der  Kraft  der  Propheten  auf  die  Last  des  Greuels  eine  schwerere 
Last  des  Gerichts  herabzurufen,  sondern  um  oft  genug  das  Schimpf- 
lichste als  verzeihlich  darzustellen  und  den  ruchlosesten  Verbrechern 
einen  Weg  zu  zeigen,  auf  welchem  sie  noch  immer  den  Frieden  der 
Kirche  erlangen  können.  Man  sagt  uns,  dass  es  persönlich  untadelige, 
höchst  ehrenhafte,  ja  heihge  Männer  gewesen  seien,  welche  die  em- 
pörendsten beichtväterlichen  Rathschläge  zur  Ermittelung  der  ekel- 
haftesten Gestalten  des  Lasters  und  zur  klugen  Beruhigung  der 
Gewissen  über  Ehebruch,  Diebstahl,  Meineid  und  Mord  gegeben 
haben.  Sie  mögen  es  gewesen  sein;  treffliche  Christen  hat  es  gewiss 
auch  unter  dieser  Kutte  gegeben.  Aber  um  viel  grösser  erscheint 
dann  die  verwirrende  Kraft  des  Rehgionssystems ,  dem  sie  dienten, 
wenn  dasselbe  im  Stande  war  eine  solche  Zuchtlosigkeit  der  Ge- 
danken und  eine  solche  diabolische  Beurtheilung  der  sittlichen  Grund- 
sätze und  der  Gemeinheiten  ihrer  Mitmenschen  zu  erzeugen !  Und 
das  Alles  im  Namen  Christi,  die  Beschwichtigungen  als  Ertrag  seines 
Kreuzestodes,  und  —  fast  noch  sclilimmer  —  in  maiorem  gloriam 
ecolesiae!  denn  das  Interesse,  den  äusseren  Umfang  und  die  Macht 
des  Kirchenthums  zu  erhalten  und  zu  verstärken,  liegt  —  Niemand 
kann  es  verkennen  —  diesem  System  der  Sittenlosigkeit  mit  zu 
Grunde.    Die  einzige  Entschuldigung,  wenn  es  eine  solche  liier  geben 

'  S.  Döllingcr  u.  Keusch,  Gesch.  der  Moralstreitijrkeiten  in  der  römisch- 
katlioli^ehen  Kirclie  «eit  (Icm  Ifl.  .laliilmrulort  2  Kdd.  1889,  vfrl.  Theol.  Litt..-Zt^. 
1889  Col.  334. 

II  a  I-  n  a  c  k  ,  iJogmengeschichte  III.  41 


642  f^io  Ausgänge  des  Dogfmas  im  römischen  Katholicismus. 

kann,  ist  die  * ,  dass  jenes  casiiistische  Vorfahren  schon  eine  lange 
Geschichte  in  der  Kirche  gehabt  hat,  als  die  Jesuiten  es  zur  Methode 
der  gesammten  Seelenleitung,  sowie  der  theoretischen  und  praktischen 
Ausgestaltung  der  Rehgion  überhaupt  erlioben.  Wie  ein  gewohnheits- 
raässiges  Gute  dieses  um  seine  Kraft  zu  bringen  vermag,  so  vermag  aucli 
ein  gewohnheitsmässiges  Schhmmo  den  Einzelnen  über  die  in  ihm 
steckende  Macht  desirrthums  und  der  Sünde  zu  täuschen.  Könnte  man 
doch  sagen,  dass  diese  jesuitische  Moral  der  Geschichte  angehört  und 
nicht  dem  System!  Vieles  von  dem  Empörendsten  ist  wirklicli  ab- 
gefallen, und  dass  sich  selbst  ernster  und  menschenliebender  Sinn  in 
die  traurigen  Mysterien  der  beichtväterhchen  Anweisungen  zu  ver- 
stricken vermocht  hat,  soll  nicht  geleugnet  werden.  Aber  die  Me- 
thode ist  unverändert  geblieben,  und  sie  übt  heute  ihre  verheerende 
Wirkung  auf  die  Dogmatik  und  Ethik,  auf  die  Gewissen  der  Beicht- 
väter und  der  Beichtkinder,  vielleicht  in  schlimmerem  Masse  aus,  als 
zu  irgend  einer  Zeit.  Seit  dem  17.  Jahrhundert  ist  in  der  katho- 
lischen Kirche  die  Sündenvergebung  vielfach  zu  einer  raffinirten 
Kunst  geworden  :  man  lernt  das  Beichtehören  und  das  zw^eckmässige 
Absolviren,  wie  man  die  Kunst  des  Börsenspiels  lernt.  Und  den- 
noch —  wie  unverwüsthch  ist  diese  Kirche,  und  wie  unverwüstlich 
ist  ein  Gewissen,  das  seinen  Gott  sucht!  Es  vermag  ihn  selbst  am 
Idol  zu  finden,  und  es  hört  seine  Stimme  sogar  dort  heraus,  wo  alle 
Töne  der  Hölle  mitklingen! 

Der  spanische  Dominikaner  Bartholomäus  de  Medina  ist  es 
zuerst  gewesen,  der  in  seinem  Commentar  zu  Thomas'  Prima  Secundae 
(1577)  den  Probabilismus  „wissenschaftlich"  dargelegt  und  vertheidigt 
hat.  Die  Sache  existirte  längst,  aber  die  Formel  hatte  noch  Niemand 
gefunden.  Sie  lautete:  „Si  est  opinio  probabilis,  licitum  est  eam  sequi, 
licet  opposita  sit  probabilior"  ^.  Selten  hat  ein  Wort  im  Moment  so 
gezündet  und  so  gewaltig  fortgewirkt,  wie  dieses :  es  war  die  Befreiung 
der  Moral  von  der  Moral,  der  Rehgion  von  der  Religion  im  Namen  der 
Moral  und  Religion.  Viele  spanische  Dominikaner  —  also  Thomisten! 
—  und  Augustiner  ergriffen  die  neue  Losung  sofort,  und  bereits  im 
letzten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  konnten  mehrere  Theologen, 


I 


*  Oder  darf  man  bei  einigen  der  schlimmsten  Sätze  annehmen,  dass  sie  das  Er- 
zeugniss  eines  verwegenen  casuistischen  Sports  sind,  der  nie  praktische  Bedeutmig 
gehabt  hat?  Jedenfalls  gilt  diese  Auskunft  bei  einigen  sehr  schlimmen  beicht- 
väterlichen  Rathschlägen  nicht ;  denn  die  Geschichte  lehrt,  dass  sie  in  That  um- 
gesetzt worden  sind?  Oder  sind  dem  Papste  übertriebene  Berichte  zugegangen? 
Leider  ist  auch  dies  nicht  leicht  zu  erweisen. 

'^  Döllinger  u.  Reusch,  S.  28  ff. 


I 


Der  Probabilismus.  643 

darunter  der  Jesuit  Gabriel  Vasquez,  schreiben,  der  Probabilis- 
mus sei  die  bei  den  zeitgenössischen  Theologen  herr- 
schende Ansicht  K  Von  da  ab  bis  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
überwucherte  der  Probabilismus  das  gesammte  Gebiet  des  kirchlichen 
Lebens  ungestört.  Auf  dem  Gebiete  des  Glaubens  zeigte  er  seine  zer- 
störenden Folgen  1)  in  dem  „Laxismus"  in  Bezug  auf  die  Spendung 
der  Absolution,  2)  in  dem  „  Attritionismus",  d.  h.  in  der  Annahme,  dass 
bereits  die  Furcht  vor  der  Hölle  genüge,  um  die  Sündenvergebung  in 
dem  Busssacrament  zu  erhalten,  die  Gottesliebe  also  nicht  nöthig  sei. 
Dominikaner  macliten  in  beiden  Stücken  gemeinsame  Sache  mit  den 
Jesuiten  zum  Beweise,  dass  die  Yertheidigung  ihrer  thomistischen 
Gnadenlehre  ihnen  nur  noch  aufgezwungene  Ordenspflicht  war,  aber 
nicht  mehr  einem  inneren  Antheil  an  der  Sache  entsprang.  Welche 
Früchte  der  von  den  Päpsten  ruhig  geduldete  Probabilismus  bis  zur 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts  gezeitigt  hat,  das  ist  uns  jüngst  in  schlichter, 
aber  erschütternder  Darstellung  gezeigt  worden^.  Da  erhob  sich  in 
Frankreich  der  Jansenismus.  Der  Feind,  gegen  den  er  aufstand,  war 
in  noch  höherem  Grade  als  der  Semipelagianismus  der  jesuitische  Pro- 
babilismus. Gegen  ihn  erhob  Pascal  seine  Stimme :  die  Provincialbriefe 
sind  der  furchtbarste  Angriff,  den  je  eine  herrschende  kirchliche 
Partei  in  der  Geschichte  erfahren  hat.  Es  ist  nicht  schwer,  dem  grossen 
Manne  rhetorische  Künste  nachzuweisen  —  er  ist  Franzose  und  Katho- 
hk;  man  darf  von  ihm  nicht  verlangen,  dass  er  hätte  schreiben  sollen, 
wie  Luther  im  Jahre  1520  geschrieben  hat;  aber  in  ihrer  Art  sind  die 
Briefe  vollendet.  „Dass  im  Anfange  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
ein  Umschwung  eintrat  und  der  Probabilismus  aufliörte,  die  herrschende 
Ansicht  zu  sein,  ist  in  erster  Linie  das  Verdienst  Pascal's  —  und  der  un- 
geschickten Versuche  der  Jesuiten,  seine  1656  erschienenen  Briefe 
zu  widerlegen  —  und  seiner  Freunde ,  namentlicli  Arnauld's  und 
Nicole's"  \ 

Nun  erfolgte  ein  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundort  währender  Kampf, 
der  mit  einer  fortschreitenden  Zurückdrängung  des  Probabilismus  zu 
endigen  schient    Schon  Lmocenz  X.  und  Alexander  VIL  verboten  eine 


*  Nicht  allo  .Tosuiten  huldigten  ilim  sofort;  Bcllarmin  z.  B.  war  ihm  niclit 
günstig.   Wie  sich  die  Jesuiten  zu  dieser  Thatsache  stellen,  darül)er  s.  a.  a,  O.  8.  31  f. 

2  A.  a.  0.  S.  97—120. 
»  A.a.O.  S.  35  f. 

*  Es  bildete  sich  nun  (m'iic  R(!ilie  von  Spif'larton  aus.  Von  der  laxesten  an- 
gefangen bis  zur  strengsten  sind  es  folgende:  1)  der  minder  sicheren  Meinung  darf 
man  auch  dann  folgen,  wenn  sie  nur  tcnuitcr,  Ja  sogar  wenn  sie  nur  dubie  oder  pro- 
ba}>iliter  [»roljal^ilis  ist,  also  wenn  nur  irgenri  wehtlie  fiiünde  für  sie  s))rechen  oder 
wenn  es  nicht  gewiss  ist,  dass  keine  Gründe  für  sie  sprechen  (laxester 

41* 


644  Piß  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismiis. 

Reihe  laxer  moral theologischer  Bücher  theils  unbedingt,  theils  „donec 
con-igantur".  Der  Letztere  wollte  sogar  eine  Bulle  gegen  den  Proba- 
bilismus  veröffenthchen.  Allein  er  begnügte  sich  damit,  im  Jahre  1665 
und  1666  eine  Reihe  der  schlimmsten  Sätze  der  Casuisten  zu  verur- 
theilen*  und  in  Bezug  auf  den  Attritionismus  den  bereits  gewohnten 
Ausweg  zu  dictiren,  dass  die  streitenden  Parteien  sich  nicht  gegenseitig 
verdammen  dürften,  bis  der  hl.  Stuhl  in  dieser  Sache  etwas  entschieden 
habe'^.  Sein  Nachfolger  Innocenz  XI.  verdammte  im  Jahre  1679  65 
weitere  Sätze  der  Probabihsten,  unter  denen  sich  wahre  Bubenstücke 
finden  ^.   Man  muss  diese  verworfenen  Sätze  studiren,  um  zu  erkennen, 


Probahilismus),  2)  man  darf  der  minder  sicheren  Meinung  folgen,  auch  wenn  sie 
minder  probabel  ist,  wenn  sie  nur  auf  gute  Gründe  gestützt  werden  kann  (echter 
Probabilismus),  3)  man  darf  der  minder  sicheren  Meinung  nur  folgen,  wenn  sie  bei- 
nahe ebenso  probabel  ist  wie  die  entgegengesetzte  (rigo ristischer  Probabilismus), 
4)  man  darf  der  minder  sicheren  Meinung  folgen,  wenn  sie  e])enso  probabel  ist  wie  die 
sicherere  (Aequiprobabil  Ismus),  5)  der  sicheren  Meinung  darf  man  folgen,  auch  w^enn 
sie  minder  probabel  ist;  der  minder  sicheren  Meinung  darf  man  nur  dann  folgen, 
wenn  sie  probabler  ist  als  die  entgegengesetzte  (Probabiliorismus),  6)  der  minder 
sicheren  Meinung  darf  man  nur  folgen,  wenn  sie  die  probabelste  unter  allen  ist  (laxer 
Tutiorismus) ,  7)  der  minder  sicheren  Meinung  darf  man  nie  folgen,  auch  wenn  sie 
die  probabelste  ist,  d.  h.  jede  Handlung  ist  im  Zweifelfalle  zu  unterlassen;  das  Ge- 
wissen hat  stets  den  Ausschlag  zu  geben,  auch  wenn  die  probabelsten  Gründe  gegen 
das  sprechen,  was  als  Pflicht  erscheint  (strenger  Tutiorismus);  s.  a.  a.  0.  S.  4  Ü\ 
Die  letztere  Ansicht,  welche  allein  sittlich  ist,  gilt  als  Rigorismus  und  ist  von 
Alexander  VUI.  am  7.  Dec.  1690  ausdrücklich  verdammt  worden  (s.  Denzinger 
p.  236:  „Non  licet  sequi  opinionem  vel  inter  probabiles  probabilissimam").  Dieses 
monströse  Feilschen  um  die  sittlichen  Principien  erinnert  frappant  an  die  Methode 
der  Talmudisten  und  ist  auch  inhaltlich,  wie  noch  heute  die  Moral  Gury 's  beweist, 
zu  denselben  Sätzen  gelangt.  Wahrscheinlich  ist  das  nicht  zufällig;  denn  diese 
Methode  hat  im  13.  Jahrhundert  ihren  Anfang  genommen,  d.  h.  in  einer  Zeit,  in 
der  nachweisbar  das  Judenthum  auf  die  Bettelorden-Theologen  (s.  oben  S.  516: 
Ablässe)  eingewirkt  hat. 

^  S.  Denzinger  p.  213  f.  Ich  verzichte  darauf,  diese  scheusslichen  Thesen 
abzudrucken,  verweise  aber  auf  die  1.  2.  6.  15.  17.  18.  24.  25.  26.  28.40.  41. 

^  Decret  vom  5.  Mai  1667  bei  Denzinger  p.  217:  „de  materia  attritionis  non 
audeant  alicuius  theologicae  censurae  alteriusve  iniuriae  aut  contumeliae  nota  taxare 
alterutram  sententiam,  sive  negantem  necessitatem  aliqualis  dilectionis  dei  in  prae- 
fata  attritione  ex  metu  gehennae  concepta,  quae  hodie  inter  scholasticos  communior 
videtur,  sive  asserentem  dictae  dilectionis  necessitatem,  donec  ab  hac  sancta  sede 
fuerit  aliquid  hac  in  re  definitum." 

^Denzinger  p.  218  f.;  man  müsste  sie  alle  aufzählen  und  ausschreiben,  um 
ein  Bild  von  dieser  sittlichen  Verwahrlosung  zu  geben.  Ich  begnüge  mich  damit, 
die  den  Glauben  betreffenden  anzuführen:  4:  „Ab  infidelitate  excusabitur  infidelis 
non  credens,  ductus  opinione  minus  probabili."  5:  „An  peccet  mortaliter,  (jui  actum 
dilectionis  dei  semel  tantum  in  vita  eliceret,  condenmare  non  audemus."  6:  „Pin- 
babile  est,  ne  singulis  (|uidem  rigorose  quinciuenniis  per  se  obligare  pmecei^tutn 


Der  Probabilismus.  645 

dass  sowohl  die  Moral  als  die  Unmoral  des  18.  Jahrhunderts  bei  den 
romanischen  Völkern  eine  ihrer  stärksten  "Wurzeln  an  der  Jesuiten- 
doctrin  gehabt  hat.  Aber  sie  war  schlimmer  als  beide ;  sie  suchte  zu 
zeigen,  dass  der  gemeine  Moralcodex  der  gebildeten  Gesellschaft  in  dem 
Zeitalter  Ludwig's  XIY.  das  positive  Christenthum  sei,  sobald  man  nur 
den  Zusammenhang  mit  der  Kirche  (vermittelst  des  Beichtstuhls)  nicht 
aufgebe.  Doch  das  Schlimmste  schien  nun  durch  die  Verfügungen  der 
Päpste,  durch  die  Klagen  der  besten  Franzosen,  durch  die  Proteste 
vieler  Mönche,  ja  ganzer  Orden  abgewehrt.  Im  Jesuitenorden  selbst 
erhob  sich  ThyrsusGonzalez  wider  die  probabilistische  Lehre.  Und 


caritatis  erga  deum."    7:  „Tunc  solum  obligat,  quando  tenemur  iustificari,  et  non 
habemus   aliam  viam,  qua  iustificari  possimus."     10:    „Non  tenemur  proximum 
diligere  actu  interno  et  formali."    11:  „Praecepto  proximum  diligendi  satisfacere 
possumus  per  solos  actus  extemos."    17 :  „Satis  est  actum  fidei  semel  in  vita  elicere." 
19:  „Voluntas  non  potest  efficere,  ut  assensus  fidei  in  seipso  sit  magis  firmus,  quam 
mereatur  pondus  rationum  ad  assensum  impellentium."    20:  „Hinc  potest  quis  pru- 
denter  repudiare  assensum,  quem  habebat,  supernaturalem."    21:  „Assensus  fidei 
supernaturalis  et  utilis  ad  salutem  stat  cum  notitia  solum  probabili  revelationis,  imo 
cum  formidine,  qua  quis   formidet,  ne  non  sit  locutus  deus."    22:   „Nonnisi  fides 
unius  dei  necessaria  videtur  necessitate  medii,  non  autem  cxplicita  remuneratoris." 
23 :  „Fides  late  dicta,  ex  testiraonio  creaturarum  similive  motivo  ad  iustificationem 
sufficit."    56 :  „Frequens  confessio  et  communio,  etiam  in  bis,  qui  gentiliter  vivunt, 
est  nota  praedestinationis."    57 :   „Probabile  est  sufficere   attritionem    naturalem, 
modo   honestam."    58:    „Non  tenemur  confessario  interroganti  fateri  peccati  ali- 
cuius  consuetudinem."     60 :    „Paenitenti  habenti  consuctudinem  peccandi  contra 
legem  dei,  naturae  aut  ecclesiae,  etsi  emendationis  spes  nulla  appareat,  nee  est  neganda 
nee  differenda  absolutio,  dumraodo  ore  proferat,  se  dolore  et  proponere  emenda- 
tionem."    61:  „Potest  aliquando  absolvi,  qui  in  proxima  occasione  peccandi  versa- 
tur,  quam  potest  et  non  vult  omittere,  quinimo  directe  et  ex  proposito  quaerit  aut 
ei  88  ingerit."  62  :  „Proxima  occasio  peccandi  non  est  fugienda,  quando  causa  aliqua 
utilis  aut  honesta  non  fugiendi  occurrit."    63  :  „Licitum  est  quaerere  directe  occa- 
sionem  proximam  peccandi,  pro  bono  spirituali  vel  tcmporali  nostro  vcl  proximo." 
64:   „Absolutionis  capax  est  homo,  quantumvis   laboret  ignorantia 
mysteriorum  fidei,   et   etiamsi   per  negligentiam  etiam   culpabilem 
nesciat  mysterium  sanctissimae  trinitatis  et  incarnationis  domini 
nostri  Jesu  Christi."     65:    „Sufficit  illa  mystcria  semel  credidisse." 
Wenn  dies  kein  förmlicher  „Ausgang"  des  Dogmas  ist,  so  giebt  es  einen  solchen 
überhaupt  nicht.   "Was  half  es,  dass  Innocenz  diese  einzelne  These  verwarf,  wenn  sie 
doch  Ausdruck  einer  Gesammtanschauung  ist,  die  niemals  von  den  Päpsten  ver- 
worfen worden  ist?  Zur  61.  These  ist  zu  bemerken,  dass  Tamburini  sogar  dem 
Beichtvater  den  liath  crtheilt:   „Wenn  du  wahrnimmst,  dass  dein  Pönitent  einer 
Sünde  sehr  ergeben  ist,  so  fordere  von  ihm  nicht  einen  Act  der  Reue  über  diese 
spccielle  »Sünde;  denn  es  ist  Gefahr  vorhanden,  dass  er  dieselbe,  wenn  er  ausdrück- 
lich daran  erinnert  wird,  nicht  von  Herzen  verabscheuen  werde,  während  er  keine 
oder  geringem  Schwierigkeit  haben  wird,  sie  im  Allgemeinen  und  mit  den  anderen 
Sünden  zusammen  zu  verabscheuen"  (DüUinger  u.  Keusch  8.  63 f.). 


646  r)ie  AuBgäuge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 

gelang  es  seinen  Oonfratres  auch,  obgleich  Gonzalez  ihr  General  ge- 
worden war  (1687),  sein  grosses  AVerk  gegen  den  Probabilismus  zu 
castriren,  bevor  es  erscheinen  durfte  (1694),  so  war  doch  die  Kraft  des- 
selben am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  gebrochen',  zumal  nachdem 
noch  Alexander  Vlll.  in  seinem  Decrete  vom  August  1690  zwei  der 
schlimmsten  Sätze  der  Probabilisten  (über  die  philosophische  Sünde) 
verworfen  hatte ^ .    Allein  im  letzten  Grunde  waren  Jansenismus  und 
Antiprobabilismus  solidarisch.    Schlug  man  den  ersteren  nieder  (Con- 
stitutio  Unigenitus),  so  war  es  nur  eine  Frage  der  Zeit,  dass  der  Pro- 
babilismus wieder  sein  Haupt  erhob.    Und  in  der  Lehre  von  der  Attritio 
hatten  es  die  Päpste  ja  nur  bis  zur  Neutralität  gebracht.   Was  half  es 
also,  dass  im  französischen  Klerus  und  sonst  —  Spanien  ausgenommen 
—  in  der  ersten  Hälfte  und  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  derPro- 
babiHorismus  herrschte :  aus  der  Quelle  des  Attritionismus  musste  der 
Probabilismus  von  Neuem  hervorbrechen.    „In  demselben  Augenblick, 
in  welchem  die  Gesellschaft  Jesu  vernichtet  wurde,  erweckte  Gott  dem 
Probabilismus  einen  neuen  Vorkämpfer  und  sicherte  ihr  für  die  Zukunft 
einen  Triumph,  auf  den  man  nach  menschlicher  Voraussicht  nicht  hätte 
rechnen  können"  —  den  Stifter  der  Redemptoristen  Alphon s  Liguori 
(1699 — 1787),  den  einflussreichsten  römischen  Theologen  seit  den  Tagen 
der  Contrareformation.   Liguori,  der  selige  (1816),  der  heilige  (1829), 
der  Lehrer  der  Kirche  (1871),  ist  das  wahre  Gegenbild  zu  Luther,  und 
er  ist  im  modernen  Katholicismus  an  die  Stelle  Augustinus 
getreten^.  Zeitlebens  ein  „ruheloser  Skrupulant"  und  rigider  Asketiker 
haben  ihn  alle  Zweifel  und  alle  Selbstpeinigungen  nur  immer  tiefer  in 
die  Ueberzeugung  verstrickt^  dass  jedes  Gewissen  nur  in  der  absoluten 
Autorität  eines  Beichtvaters  Ruhe  finden  könne,  dass  aber  der  Beicht- 
vater das  heilige  Gesetz  Gottes  nach  den  Grundsätzen  des  Aequiproba- 
bilismus  —  in  der  Anwendung  Liguori's  unterscheidet  er  sich  nicht 
vom  Probabilismus   —   anzuwenden  habe.     Der  vollendete   ethische 
Skepticismus  ist  durch  Liguori  in  der  Moral  und  indirect  in  der  Dog- 
matik  wieder  aufgerichtet   worden.     Bleibt  Liguori  auch  hinter  den 
schamlosesten  ProbabiHsten  des  17.  Jahrhunderts  zurück,  so  hat  er  doch 
ihre  Methode  völHg  acceptirt  und  in  einer  Unzahl  von  Fragen  bis  zum 


^  Die  Gonzalez  betreffenden  Partieen  sind  in  dem  von  Döllinger  u.  Reusch 
herausgegebenen  Werk  besonders  ausführlich  behandelt. 

2  Dcnzinger  p.  235 f.  In  dem  Decrete  vom  Dec.  1690  sind  freihch  wiederum 
sehr  treffliche  Sätze  verdammt  (gegen  den  Jansenismus,  aber  sie  kamen  den  Fro- 
babilisten  zu  Gut);  s.  d.  3.  5. — 9.  10. — 15.  (14:  „timor  gehennae  non  est  supernatu- 
ralis").   26:  „Laus  quae  defertur  Mariae  ut  Mariae  vana  est.** 

'  Vgl.  den  lehrreichen  Abschnitt  bei  Döllinger  u.  Reusch  S.  356 — 476. 


Das  Vaticanum.  647 

Ehebruch,  Meineid  und  Mord  das  Ruchlose  in  das  LässHche  zu  ver- 
wandeln verstanden.  Kein  Pascal  erhob  sich  im  19.  Jahrhundert  wider 
ihn;  vielmehr  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  stieg  die  Autorität  Liguori's, 
des  neuen  Augustin,  und  heute  herrscht  er  in  allen  Orden,  in  allen 
Seminarien,  in  allen  Lehrbüchern  ^  Was  sich  von  Resten  des  Augustinis- 
mus noch  in  das  19.  Jahrhundert  hinübergerettet  hat,  das  hat  Liguori 
verdrängt.  Die  casuistische  Moral  mitsammt  dem  Attritionismus  hat  die 
gesammte  Dogmatik  in  den  Hintergrund  geschoben.  Probabilismus 
und  Papalismus  haben  sie  zersetzt :  sie  ist  heute  eine  je  nach  Bedarf 
starre  oder  elastische  Rechtsordnung  ^  —  ein  Gefängniss,  aus  dem  man 
nicht  befreit  wird,  bis  man  den  letzten  Heller  bezahlt  hat,  wenn  es  dem 
Interesse  der  Kirche  entspricht,  und  wiederum  ein  Gebäude,  in  das 
man  niemals  einzutreten  braucht,  wenn  man  sich  nur  der  Kirche  ver- 
pflichtet. 

8.  Das  Vaticanum. 

Nach  dem,  was  in  den  vorstehenden  beiden  Abschnitten  aus- 
geführt ist,  muss  die  Proclamirung  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  als 
die  nothwendige  Frucht  der  Entwickelung  erscheinen.  Wenn  alle 
Autoritäten,  die  Autorität  der  Bischöfe,  die  Autorität  der  Concilien, 
die  Autorität  der  Tradition,  die  Autorität  Augustinus,  die  Autorität 
der  Gewissen,  niedergerissen  werden,  muss  in  einer  Kjrche,  die  auf 
Autorität  gegründet  ist,  eine  neue  Autorität  auferstehen.  Jenes  Ge- 
schäft des  Niederreissens  konnte  nur  desshalb  so  siegreich  von  Statten 
gehen,  weil  man  die  neue  einzige  Autorität  längst  in  petto  hatte  und 


*  Man  vergleiche  das  gebrauchteste  Lehrbuch  von  Gury. 

'  Diese  beliebige  Ausbeutung  gegebener  Factoren  zeigt  sich  in  den  zahlreichen 
Entscheidungen  der  Curie  in  Bezug  auf  theologische  Streitigkeiten  des  19,  Jahrhun- 
derts, namentlich  in  Deutschland,  aber  auch  in  Frankreich;  man  vergleiche  die  von 
Denzinger  abgedruckten  Actenstückc,  Lamennais  (p.  310  f.  311  f.),  Hermes 
(p.  317  f.  321  f.),  Bautain  (p.  319  f.),  die  Traditionalisten  (p.  328  f.),  Günther 
(p.  329  f.  330  f.  331  f.),  Frohschammer  und  andere  deutsche  Theologen  (p.  332  f. 
338  f.)  betreffend.  Am  interessantesten  sind  die  Thesen  gegen  den  „Traditionalis- 
mus", d.  h.  gegen  den  Glauben,  vom  11.  Juni  1855  (p.  328  f.).  Hier  wird  Folgendes 
gelehrt:  „Ratiocinatio  dei  existentiam,  animae  spiritualitatem,  hominis  libertatem 
cum  certitudine  probare  potest.  Fides  posterior  est  rcvelatione,  proindeque  ad 
probandum  dei  existentiam  contra  athcum,  ad  probandum  animae  rationalis  spiri- 
tualitatem ac  libertatem  contra  naturalismi  ac  fatalismi  sectatorem  allegari  con- 
venientcr  nequit."  „Ration is  usus  fidem  pracccdit  et  ad  eam  hominem  ope  revelatio- 
nis  et  gratiae  conducit."  „Methodus  ((ua  usi  sunt  Thomas,  Bonaventura  et  alii 
post  ipsos  scholastici  non  ad  rationalismum  ducit  nequc  causa  fuit,  cur  apud  scholas 
hodicmas  philoKophia  in  naturalismum  et  pantheismum  impingcret."  Die  Vernunft 
wird  ausgespielt,  wenn  man  sie  bedarf  und  a})gedankt,  wenn  sie  stört.  Das  Gleiche 
geschieht  der  hl,  Schrift,  der  Tradition  und  dem  Glauben. 


()48  I^ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  römischen  Katholicismus. 


in  Hinblick  auf  sie  handelte.  Nöthig  war  es  nur  noch,  dass  durch 
einen  solennen  Act  --  einen  solchen  konnte  man  leider  nicht  vermeiden 
—  der  Universalbischof,  die  lebendige  Tradition,  der  untrügliche 
Lehrer  des  (^laubens  und  der  Sitten,  der  absolute  Beichtvater  auch 
als  solcher  proclamirt  werde.  Die  irrten  sich,  welche  zuversichtlich 
meinten,  für  eine  solche  Proclamation  sei  das  Zeitalter  noch  nicht 
reif;  nein,  die  Zeit  war  erfüllt.  Alle  Linien  der  Entwickelung  im 
Lmern  und  von  Aussen  convergirten  auf  dieses  Ziel.  Jene  Linien 
haben  wir  betrachtet;  diese  waren  in  der  Romantik  und  in  der  Reaction 
der  ersten  Decennien  des  neuen  Jahrhunderts,  in  der  Furcht  und 
Schwäche  der  Regierenden,  in  der  Indifferenz  der  Regierten  gegeben. 
Unser  Jahrhundert  hat  fast  schweigend  hingenommen,  was  man  dem 
Geiste  keines  anderen  Jahrhunderts  hätte  bieten  dürfen,  ohne  ein 
gewappnetes  Europa,  Kathohken  und  Protestanten,  in  die  Schranken 
zu  rufen  ^ 

Die  Vorbereitungen  des  Concils  von  1869/70  und  sein  Ver- 
lauf bieten  schlechterdings  kein  dogmengeschichtliches  Literesse.  Es 
gab  im  Katholicismus  zwei  Parteien:  die  eine  wollte  die  Unfehlbar- 
keit des  Papstes,  die  andere  wollte  sie  nicht,  wusste  aber  nicht  genau, 
was  zu  geschehen  habe,  wenn  man  sie  ablehnte.  Dies  ist  das  Ganze. 
Dazwischen  liegen  unendUche  Bemühungen  der  Politik  auf  beiden 
Seiten,  lehrreich  für  den  politischen  Historiker,  belanglos  für  den, 
welcher  die  Geschichte  des  Dogmas  verfolgt  ^.  Das  Glaubensschema  vom 
24.  x^pril  1870  enthält  in  seiner  Einleitung  und  den  vier  Capiteln 
nichts  Neues:  Glauben  heisst  die  Schrift  und  die  Tradition  aner- 
kennen, alles  das  für  wahr  halten,  was  in  ihnen  geschrieben  steht, 
und  es  in  dem  Sinne  für  wahr  halten,  in  welchem  es  die  Kirche 
versteht,  die  allein  zur  Auslegung  berechtigt  ist.  Das  Neue  brachte 
das  Schema  von  der  Kirche  (18.  Juli  1870)  „Pastor  aeternus",  oder 
vielmehr,  neu  war  die  Formulirung  als  Dogma ^:  Christus  hat  den 
Petrus  allen  x\p ostein  vorangesetzt,  damit  der  Episkopat  wirklich  ein 
einheitlicher  sei.  Der  Primat  des  Petrus  und  seiner  Nachfolger  ist  also 

*  Vorgearbeitet  war  schon  durch  den  Syllabus  (Denzinger  p.  345  fF.),  der 
neben  manchem  Schlimmen  auch  den  guten  Geist  des  19.  Jahrhunderts  verdammte. 

^  Die  Actenstücke  zum  Concil  hat  Friedberg  gesammelt;  die  ausführlichste 
Darstellung  hat  Friedrich  —  bisher  2  Bdd.  1877.  1883  —  gegeben,  vgl.  From- 
mann's,  Hase' s  und  Nippold' s  Schilderungen.  Interessante  Mittheilungen  in 
Fried  rieh's  Tagebuch  und  inLordActon's  Schrift,  Zur  Gesch.  des  vatik.  Con- 
cils 1871.  Die  dogmenhistorische  Beleuchtung  bei  Janus,  Der  Papst  und  das 
Concil  1869.  Ultramontane  Darstellung  vom  Cardinal  Manning  (deutsch  von 
Bender  1877). 

^  Friedberg,  Actenstücke  S.  740  £['. 


Das  Vaticanum.  649 

ein  wirklicher  und  directer,  nicht  ist  er  von  der  Kirche  dem  Petrus 
übertragen.  Er  ist  ferner  ein  Primat  der  Jurisdiction  über  die 
ganze  Kirche;  demgemäss  steht  dem  Papst  die  potestas  ordinaria 
und  immediata  als  plena  et  suprema  über  die  ganze  Kirche  und  über 
jeden  einzelnen  Christen  zu.  Diese  potestas  iurisdictionis  ist  auch 
in  vollem  Sinn  eine  episcopahs^  d.  h.  alle  bischöflichen  Befugnisse 
stehen  überall  dem  Papste  zu.  Der  Papst  ist  also  der  Universal- 
bischof; er  ist  der  oberste  Richter,  die  unfehlbare  Autorität:  „docemus 
et  divinitus  revelatum  dogma  esse  declaramus :  Romanum  Pontificem, 
quum  ex  cathedra  loquitur  id  est  quum  omnium  Christianorum  pa- 
storis  et  doctoris  munere  fungens  (unter  welchen  erkennbaren  Bedin- 
gungen ist  das  der  Fall?)  pro  suprema  sua  apostolica  auctoritate 
doctrinam  de  fide  vel  moribus  ab  universa  ecclesia  tenendam  definit 
per  assistentiam  divinam,  ipsi  in  beato  Petro  promissam,  ea  infalli- 
bilitate  pollere,  qua  divinus  redemptor  ecclesiam  suam  in  definienda 
doctrina  de  fide  vel  moribus  instructam  esse  voluit,  ideoque  eiusmodi 
Romani  pontificis  definitiones  ex  sese,  non  a-utem  ex  consensu  ecclesiae 
irreformabiles  esse.  Si  quis  autem  huic  nostrae  definitioni  contradicere, 
quod  deus  avertat,  praesumpserit,  anathema  sit!"  Das  Gedächtniss 
der  Vergangenheit,  die  Vorbereitung  der  Zukunft  der  Kirche  ist 
damit  dem  Papste  oder  vielmehr  der  päpstlichen  Curie  ausgeliefert. 
Auch  das  Dogma  ist  durch  diese  Constitution  gleichsam  für  päpst- 
liches Hausvermögen  erklärt.  Welch'  ein  Sieg!  alle  grossen  Streitig- 
keiten der  letzten  vier  Jahrhunderte  sind  mit  einem  Schlage  beseitigt 
oder  mindestens  zur  Bedeutungslosigkeit  verurtheilt.  Es  giebt  keinen 
Episkopahsmus  mehr,  und  wer  sich  auf  die  alte  Tradition  im  Gegen- 
satz zur  neuen  beruft,  ist  ipso  facto  verdammt!  Alle  Spannungen,  die 
einst  das  Leben  des  mittelalterlichen  Katholicismus  ausgemacht  haben, 
sind  beseitigt:  „soUtudinem  faciunt,  pacem  appellant."  Die  Kirche  hat 
einen  unfehlbaren  Herrn;  sie  braucht  sich  um  ihre  Geschichte  nicht 
mehr  zu  kümmern:  der  Lebende  allein  hat  Recht. 

Die  Geschichte  erreicht  ihre  Ziele  auf  den  seltsamsten  Umwegen. 
Sollte  diese  Constitution  vom  Jahre  1870  in  Zukunft  vielleicht  das 
Mittel  werden,  durch  welches  sich  die  Kirche  von  der  Last  ihrer 
Vergangenheit,  von  dem  Mittelalter  und  der  Antike,  allmählich  befreit? 
Das  wäre  ein  „Umschlagen"  der  Entwickelung,  wie  es  in  der  Geschichte 
nicht  unerhört  ist.  Wird  vielleicht  die  Constitution  „Pastor  aeternus" 
zum  Ausgangspunkt  einer  neuen  Epoche  des  Katholicismus  werden, 
in  welcher  das  mittelalterhche,  bereits  zur  Bedeutungslosigkeit  ver- 
urtheilte  Dogma  immer  mehr  verschwindet  und  sich  aus  dem  Herz- 
Jesu-Kultus   und  der  lebendigen  Andacht  der  Gläubigen   ein  neuer 


H50  I^ie  AuMgäiige  des  Dogmas  im  römischen  Kathülicismus. 

Glaube  entwickelt,  der  nun  auch  ohne  Schwierigkeit  formulirt  werden 
darf?  Wird  sich  auf  dem  Boden  der  vollkommenen  kirchlichen  Ni- 
vellirung,  welche  das  neue  Dogma  bezeichnet  —  denn  was  ist  heute 
ein  ßischof  oder  Erzbischof  neben  dem  Papst,  und  wie  viel  bedeutet 
dagegen  heute  im  Katholicismus  ein  für  seine  Kirche  warm  empfin- 
dender Laie!  ~  vielleicht  ein  lebendiges  Gemeindechristenthum  ent- 
wickeln, wie  es  die  Kirche  noch  nie  besessen  hat?  Und  wird  vielleicht 
am  Schluss  dieser  Entwickelimg  der  Papst  selbst  ein  Mittel  finden, 
um  die  erlogene  götthche  AVürde  Avieder  abzulegen,  wie  man  im 
1(5.  und  im  19.  Jahrhundert  Mittel  gefunden  hat,  sich  von  der  heihg- 
sten  Tradition  zu  befreien? 

Thörichte  Hoffnungen  wird  man  sagen,  und  gewiss  —  die  Zeichen 
der  Zeit  weisen  in  eine  ganz  andere  Richtung.  Noch  scheint  der 
Process  nicht  abgelaufen  zu  sein;  er  scheint  vielmehr  mit  der  Un- 
fehlbarkeit nur  den  Anfang  des  Endes  gewonnen  zu  haben.  In  dem 
„quum  ex  cathedra  loquitur"  und  „quum  doctrinam  de  fide  vel  mo- 
ribus  ab  universa  ecclesia  tenendam  definit",  liegt  ein  Stachel  der 
Unsicherheit,  der  noch  ausgerissen  werden  muss.  Dass  dies  an  mass- 
gebender Stelle  gewünscht  und  desshalb  in  Zukunft  wohl  auch  ge- 
schehen wird,  darauf  deuten  manche  Anzeichen.  Die  „fides  vel 
mores"  können,  ja  müssen  so  gefasst  werden,  dass  sie  Alles  ein- 
schliessen,  was  der  Papst,  um  Papst  zu  sein,  nach  seiner  Meinung 
bedarf,  also  z.  B.  auch  den  Kirchenstaat.  Man  höre,  was  in  dieser 
Hinsicht  der  scharfsinnige  Jesuit  Paul  vonHoensbroechin  seiner 
Schrift  „Der  Kirchenstaat  in  seiner  dogmatischen  (!)  und  historischen 
Bedeutung"  (1889)  S.  74  f.  ausführt:  „.  .  .  also  die  ganze  lehrende 
Kirche,  Papst  und  Bischöfe,  verkünden  feierlich:  Unter  den  gegen- 
wärtigen Zeitumständen  ist  die  w^eltliche  Herrschaft  des  Apostolischen 
Stuhls  für  die  freie  Leitung  der  Kirche  nothwendig.  Daran  zu  zwei- 
feln, nämlich  dass  Papst  und  Bischöfe  das  verkündet  haben,  ist  un- 
möglich. Als  oberster  Hirt  und  Lehrer  w^endet  sich  der  Papst  an 
die  ganze  Kirche.  Die  Bischöfe  des  Erdkreises  nehmen  das  Wort 
des  lehrenden  Papstes  auf  und  vermitteln  es  den  Gläubigen ;  und 
wiederum  als  oberster  Hirte  und  Lehrer  heisst  der  Papst  gut,  was 
die  Bischöfe  gethan  haben.  Also,  seh  Hessen  wir  mit  Recht, 
enthält  dieser  Ausspruch  von  der  Not  h  wendig- 
keit des  weltlichen  Besitzes  unfehlbare  Wahr- 
heit; also  ist  es  jedem  Katholiken  verwehrt,  diese 
Nothwendigkeit  zu  bezweifeln  oder  zu  bestreiten. 
Dem  einen  oder  anderen  unserer  Leser  mag  vielleicht  auf  den 
ersten  Blick  dieser  Schluss  befremdlich  erscheinen.    Der  Ausspruch 


i 


Das  Vaticanum.  Der  Kirchenstaat.  651 

über  die  Nothwendigkeit  weltlichen  Besitzes  soll  unfehlbare  Wahr- 
heit enthalten  ?  Gehört  denn  diese  Nothwendigkeit  zum  Schatz  der 
geoffenbarten  Wahrheit,  und  will  man  etwa  die  Aeusserungen  des 
Papstes  und  der  Bischöfe  hierüber  zum  Dogma,  zum  eigentlichen 
Glaubenssatz  erheben?  Keines  von  beiden.  Aber  dennoch  bleibt, 
was  wir  sagten,  bestehen.  Der  Kirche  Christi  ist  durch  ihren  gött- 
lichen Stifter  die  Unfehlbarkeit,  die  Irrthumslosigkeit  verheissen 
worden  bei  allen  Entscheidungen,  welche  die  durch  Schrift  oder  Tra- 
dition von  Gott  geoffenbarte  Wahrheit  zum  Gegenstand  haben.  Zu 
dieser  in  Schrift  oder  Tradition  enthaltenen  Offenbarungswahrheit 
gehört,  wir  "wiederholen  es,  der  Ausspruch  von  der  Nothwendigkeit 
weltHchen  Besitzes  nicht;  und  insofern  nur  eine  Offenbarungs- 
wahrheit eigentlicher  Glaubenssatz,  Dogma  werden  kann,  bildet  eine 
Entscheidung  über  diese  Nothwendigkeit  niemals  einen  dogmatischen 
Lehrsatz.  Allein  damit  die  Kirche  im  Stande  sei, 
unfehlbar  sicher  über  die  eigentlichen  Glaubens- 
wahrheiten zu  entscheiden,  muss  sie  offenbar  mit 
gleicher  Irrthumslosigkeit  ihr  ürtheil  abgeben 
können  über  Alles,  was  zu  diesen  Glaubens  Wahr- 
heiten in  innerer,  noth  wendiger  Beziehung  steht. 
In  einer  solchen  Beziehung  zu  eigentlichen  Glau- 
benswahrheiten steht  aber  der  weltliche  Besitz 
der  Päpste.  Denn  es  ist  Glaubenswahrheit,  dass  der  Kirche, 
dass  dem  Papste  vollkommene  Freiheit  gebührt  in  der  Leitung  der 
ihm  anvertrauten  Heerde.  In  ihrer  Bethätigung  ist  aber  diese  Frei- 
heit abhängig  von  äusseren  Verhältnissen,  ist  angewiesen  auf 
den  Gebrauch  äusserer  Mittel,  und  diese  Mittel  stehen  somit  in  in- 
nerer ,  naturnoth wendiger  Beziehung  zur  Freiheit  selbst.  Also 
kann  auch  die  Kirche  mit  unfehlbarer  Sicher- 
heit jene  Mittel  bezeichnen,  welche,  je  nach  den 
Zeitverhältnissen,  für  die  Ausübung  ihrer  gott- 
gewollten Freiheit  sei  es  nützlich,  sei  es  noth- 
wendig  sind.  Für  unsere  Zeit  hat  sie  nun  den  weltlichen  Besitz 
als  ein  nothwendiges  Mittel  zur  AVahrung  der  ihr  gebührenden  Frei- 
heit erklärt,  und  der  katholische  Erdkreis  verehrt 
in  diesem  Ausspruch  untrügliche  AVahrheit. " 

Letzteres  thut  der  katlioHsche  Erdkreis  zur  Zeit  noch  nicht; 
aber  das  ist  gleichgiltig.  Unzweifelhaft  läuft  das  „Sic  et  Non"  dieser 
Argumentation  auf  den  Lehrsatz  heraus:  „Die  Kirche  stellt  auch  die 
äusseren  und  zeitweiligen  Mittel,  welche  sie  zur  Ausübung 
ihrer  gottgewollten  Freiheit  für  nöthig  erklärt,  unter  den  Schutz  der 


(>52  I^i*'  Ausgänge  des  Dogmaß  im  römischen  Katholicismus. 

im  Jahre  1870  proclamirten  Unfehlbarkeit."  So  also  sind  die  Worte 
„doctrina  de  fide  vel  moribus"  zu  verstehen.  Welche  Perspectiven 
diese  Interpretation  nicht  nur  eröffnet,  sondern  einschliesst,  braucht 
man  nicht  erst  nachzuweisen :  der  Papst  erklärt  seine  Politik  für  un- 
fehlbar, und  der  Kir(;henstaat  wird  auf  einem  Umwege  ebenso  ein 
Dognui  wie  die  Trinität.  Noch  ist  diese  Interpretation,  die  eine  voll- 
berechtigte Consequenz  des  Princips  ist,  von  oberster  Stelle  nicht 
sanctionirt;  aber  wie  lange  kann  es  währen,  dann  wird  auch  sie  ge- 
zogen werden.  Was'das  für  das  Dogma  bedeutet,  liegt  auf  der  Hand: 
durch  die  Erklärung  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  sind  ideell  alle 
Dogmen  bedroht,  durch  die  formelle  Gleichstellung  „zeitweiliger" 
politischer  Forderungen  und  Glaubenslehren  ist  materiell  jedes  Dogma 
entleert.  Man  wird  freilich  immer  von  jener  Seite  hinzufügen:  „der 
Papst  empfängt  keine  neuen  Offenbarungen",  „Glaube und  Sitten  stehen 
auf  einer  unerreichbar  hohen  Stufe",  „die  Tradition  und  das  Dogma 
der  Kirche  bleiben  unverändert  dieselben".  Aber  welcher  Einsichtige 
wird  Gift  für  Wein  trinken,  weil  die  Etiquetten  der  Flaschen  noch 
immer  die  alte  Aufschrift  tragen  ?  Auch  noch  andere  Dogmen  liegen 
in  der  Luft.  AVill  man  sie  kennen  lernen,  so  muss  man  die  Lehren 
studiren,  welche  die  Jesuiten  als  probable  Ordensmeinungen  cultiviren. 
Es  ist  mir  z.  B.  nicht  bekannt,  dass  die  Meinung,  alle  Jesuiten 
würden  selig,  abgekommen  ist.  Auch  ist  m.  W.  die  Nachricht,  dass 
Gebete  zum  Papst  im  Druck  erschienen  sind,  nicht  widerrufen 
worden. 

Ueber  den  wahren  Zustand  der  Dinge  darf  man  sich  durch  die 
katholischen  Dogmatiken,  wie  sie  noch  fort  und  fort  geschrieben 
werden,  und  durch  die  allgemeinen  Erwägungen  über  die  Dogmen, 
wie  sie  dort  zu  lesen  stehen,  nicht  täuschen  lassen.  Uebrigens  bricht 
auch  dort  in  der  Annahme  von  dogmata  implicita  und  quasi  impli- 
cita  ',  ferner  in  der  Weise,  wie  zwischen  ganzen,  halben  und  Yiertels- 


*  S.  den  Artikel  „Dogma"  von  Heinrich  (Wetzer  und  Weite'*  III  Col. 
1879  ff.):  „Sowohl  in  materiellen  als  in  formellen  Dogmen,  mögen  letztere  declarirt 
sein  oder  nicht,  können  andere  Glaubenswahrheiten  enthalten  sein,  und  diese  nennt 
mau,  so  lange  sie  nicht  in  irgend  einer  Weise  aus  dieser  ihrer  Verborgenheit  her- 
vorgezogen oder  cxplicirt  sind,  dogmata  implicita.  Dieselben  werden  in  den  expli- 
cirten  Dogmen,  also  implicite,  von  der  Kirche  gelehrt  und  von  den  Gläubigen  ge- 
glaubt. Es  kann  aber  der  Grund  der  Verborgenheit  solcher  sog.  eingeschlossener 
Dogmen  ein  doppelter  sein:  er  kann  darin  liegen,  dass  die  fragliche  Wahrheit  zwar 
in  Schrift  und  kirchlicher  Ueberlieferung  oder  selbst  in  einem  Lehrausspruch  der 
Kirche  zwar  unmittelbar  ausgesprochen  ist,  aber  nicht  mit  solcher  Klarheit,  dass 
jeder  oder  doch  wenigstens  der  wohlunterrichtete  und  einsichtsvolle  Gläubige  die- 
selbe mit  Leichtigkeit  und  Sicherheit  zu  erkennen  vermag.  In  diesem  Falle  ist  diese 


Der  Socinianismus.   Einleitung.  653 

Dogmen  unterschieden,  sowie  endlich  in  dem  Spielraum,  welcher  der 
blossen  Negation  von  Lehren  gegeben  wird,  der  Skepticismus  einer- 
seits, die  Dogmenpolitik  andererseits  hervor. 

Drittes  Capitel:  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Antitrinitarismus 

und  Socinianismus. 

1.    Geschichtliche  Einleitung. 

Kein  protestantischer  Christ  wird  die  Vorreden,  welche  dem  Ra- 
kauer  Katechismus  (1609  lat.,  vgl.  die  Ausgabe:  Irenopoli  post  annum 
1659)  und  der  deutschen  Ausgabe  desselben  (Rackaw  1608.  1612)  vor- 
gedruckt sind,  ohne  Bewegung  und  innere  Theilnahme  lesen.  Enthält 
doch  die  erste  ein  herrliches  Bekenntniss  zu  der  Freiheit  des  Glaubens  *, 

Wahrheit  zwar  unmittelbar  geofifenbart  und  von  der  Kirche  proponirt,  aber  nicht 
mit  genügender  Klarheit.  Es  liegt  hier,  wie  die  Theologen  sagen,  eine  revelatio  et 
propositio  formalis  et  immediata,  sed  confusa  et  obscura  vor;  eine  solche  hat  man 
auch  quasi  implicita  genannt.  Denn  im  eigentlichen  und  engsten  Sinn  implicita 
dogmata  sind  diejenigen  Wahrheiten,  welche  in  der  Offenbarung  und  kirchlichen 
Proposition  nicht  unmittelbar  und  formell  enthalten  sind,  sondern  nur  wie  in  ihrem 
Princip,  aus  dem  sie  durch  eine  logische  Operation . . .  gefolgert  werden . . .  lieber  die 
Frage,  wie  weit  sich  bezüglich  solcher  Conclusionen  die  Unfehlbarkeit  der  Kirche 
erstreckt,  und  ob  und  inwieweit  solche  von  der  Kirche  gezogenen  Folgerungen 
Gegenstand  der  fides  divina  und  somit  Dogmen  im  engsten  Sinn  sind,  u.  s.  w."  Vgl. 
auch  die  Unterscheidungen  von  propositiones  haereticae,  erroneae,  haeresi  vel  errori 
proximae,  temerariae  und  falsae. 

*  „Catechesin  seu  Institutionem  religionis  Christianae,  prout  eam  ex  sacris 
litteris  haustam  profitetur  ecclesia  nostra,  damus  in  lucem.  Quae  quia  in  uon 
paucis  ab  aliorum  Christianorum  orbita  discedit,  non  est  quod  quis  putet,  nos  eam 
emittendo  in  publicum  omnibus  diversum  sentientibus,  quasi  misso  feciali,  bellum 
indicere  aut  classicum  canere  ad  pugnandum,  atque,  ut  Poeta  ait,  ad  „Anna  eiere 
viros,  Martemque  accendere  cantu"  .  .  .  Non  immerito  et  hodie  conqueruntur  com- 
plures  viri  pii  ac  docti,  confessiones  ac  catecheses,  quae  hisee  temporibus  eduntur 
editaeque  sunt  a  variis  Christianorum  ecclesiis,  nihil  fere  aliud  esse,  quam  poma 
Eridos,  cpiam  tubas  litium  et  vexilla  immortalium  inter  mortales  odiorum  atcjue 
factionum.  Idque  proptcrea,  quod  confessiones  et  catecheses  istae  ita  proponantur, 
ut  iis  conscientiae  adstringantur,  ut  iugum  imponatur  hominibus  Christianis  iurandi 
in  verba  atque  sentcntias  hominum,  utquc  oae  statuantur  pro  fidei  norma,  a  (jui 
(|uisquis  vel  unquam  transversum  deflexerit,  is  continuo  anathcmatis  fulmine  feria- 
tus  et  pro  haeretico,  pro  homine  detcrrimo  ac  teterrimo  habeatur,  cacloque  pro- 
scriptus  ad  tartara  detrudatur  atque  infemalibus  ignibus  cniciandus  adiudicetur. 
Absit  a  nobis  ea  mens,  imo  amentia.  Dum  catochesin  scribimus,  nemini  qi]ic(iuam 
praescribimus:  dum  sentcntias  nostras  cx})rimimus,  neminem  opprimimus.  Cuicjue 
liljcrum  csto  suae  mentis  in  rcligione  iudicium :  dummodo  et  nobis  liccat  animi  no- 
stri  «ensa  de  re])us  divinis  citra  cuiusquam  iniuriam  atque  infectationem  depromere. 
Haec  enim  est  aurea  illa  prophetaridi  libcirtas,  quam  sacrac  litterae  Novi  Instrumenti 
no))is  inipense  commendant,  et  in  qua  apostolorum  priniitiva  ecclesia  nol)is  exeni- 
plo  8U0  facem  praeiulit  .  .  .  Qui  vero  estis  vos,  liomuncionos,  (|ui,  in  quibus  liomiui- 


654       I^it»  Ausgänge  des  Dogmas  im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus. 

und  die  zweite  knüpft  an  das  Werk  Lutlier's  an  und  stellt  den  socinia- 
iiischen  Katechismus  in  die  Geschichte  der  Reformationsbewegung  ein, 
die  mit  Luther  begonnen  hat  ^  Allein  Beides  gehört  d  e  r  Epoche  der 
Ausgestaltung  der  socinianischen  Kirche  an,  in  welcher  dieselbe  bereits 
von  Aussen  stark  beeinthisst  gewesen  ist:  jene  lateinische  Vorrede  zeigt 
den  Einlluss  des  Arminianisnms,  und  die  deutsche  giebt  auch  nicht  die 
ursprüngliche  Haltung  der  unitarisch-sociniauischen  Bewegung 
wieder. 

Indessen  —  der  Socinianismus  ist  selbst  ein  secundäres  Product, 
und  Faustus  Sozzini  ist  ein  Epigone  gewesen;  aber  ein  Epigone 
wie  Calvin  und  Menno  Simons.    Wie  erst  jener  dem  romanischen 


l)us  deo  Visum  est  Spiritus  sui  igiiem  accendere,  in  iis  eum  cxtinguere  ac  sufiocare 
connitamini?  .  .  .  An  vos  soH  geritis  clavem  scientiae,  ut  nihil  clausum  vohis  sit  in 
sacris  litteris,  nihil  ohsignatum :  ut  quicquid  occluseritis,  recludere  nemo  queat  et 
quicquid  recluseritis,  nemo  valeat  occludere?  Cur  non  meministis,  unicum  dum- 
taxat  esse  magistrum  nostrum,  cui  ista  competunt,  Christum:  nos  vero  omnes  fratres 
esse,  quorum  nulli  potestas  ac  dominium  in  conscientiam  alterius  coucessum  est? 
Etsi  enim  fratrum  alii  aliis  sint  doctiores,  libertate  tamen  et  iure  filiationis  omnes 
aequales  sunt."  Dass  der  Katechismus  seit  seinem  ersten  Erscheinen  Verände- 
rungen erfahren  hat,  darüber  sprechen  sich  die  Redactoren  also  aus :  „Non  erubes- 
eendum  putamus,  si  ecclesia  nostra  in  quibusdam  proficiat.  Non  ubique  clamandum 
credimus  »sto  in  filo,  hie  pedem  figo,  hinc  me  dimoveri  ne  tantillum  quidem  pa- 
tiar'«.  Stoicorum  enim  est,  omnia  mordicus  defendere  et  in  sententia  praefracte 
atque  obstinato  animo  permanere.  Christiani  philosophi  seu  sapientiae  illius  su- 
perne  venientis  candidati  est,  d-si^r^y  esse  non  aürJ-aGY],  persuaderi  facilem  esse, 
non  pertinaciter  sibi  placentem,  paratumque  cedere  sententia,  ubi  alia  vicerit  me- 
lior.   Hoc  animo  semper  nostra  edimus." 

^  Vorrede  an  die  hochlöbliche  Universität  zu  Wittenberg:  ....  Darnach  da- 
rumb,  das  wir  für  billich  geachtet,  das  die  h.  Wahrheit  des  Es'angelii,  wie  sie  ihren 
anfang  in  dieser  hochlöblichen  Universität,  durch  den  fürtrefflichen  Mann  D.  Luther 
genommen,  vnd  von  dannen  in  die  gantze  Christenheit  ausgegangen ;  also  auch  mit 
Wucher  vnd  mit  grosser  volkommenheit  sich  wieder  zu  ihr  kehre,  vnd  ihr  zu  be- 
trachten fürgelegt  werde.  So  aber  iemand  gedencket,  das  Gott  alles,  was  durch  den 
Antichrist  in  so  viel  hundert  iahren  verderbet  gewesen,  in  so  wenig  iahren  durch 
D.  Luther,  vnd  andere  seine  mitgehülffen  solte  gäntzlich  gebessert  haben,  der  be- 
trachtet nicht,  was  Gott  für  eine  weise  vnd  weissheit  gebrauche  in  allen  solchen 
wercken:  Das  er  nemlich  nicht  alles  auffein  mahl,  sondern  bey  wenigen  offenbaret, 
damit  also  die  menschliche  Schwachheit,  durch  die  volkommenheit  seiner  Offen- 
barungen nicht  vberfalle  vnd  vnterdrucket  werde.  Es  hatte  Gott  durch  D.  Luther 
den  menschen  so  viel  offenbaret,  das  fromme  hertzen  eine  grosse  hülffe  hatten  . .  . 
Weil  aber  vber  das  noch  viel  andere  lehren  hinderstellig  waren,  die  den  menschen 
zu  derselbigen  Seligkeit  sehr  hinderlich  sein  können,  hatt  Gott  auch  dieselbe  durch 
seine  diener  algemach  zu  erkennen  geben  vnd  an  stelle  des  gi-evlichen,  vnd  lang- 
wirigen  irthumbs  seine  h.  seligmachende  Wahrheit  von  tage  zu  tage  je  volkomlicher 
zeigen  wollen.  Darzu  wir  den  glauben,  das  er  nach  seinem  tieffen  Rath  auch  vnser 
Gemeinen  in  Polen  gebraucht"  u.  s.  w. 


Der  Socinianismus.   Einleitung.  655 

Reformerthum  Gestalt,  Kraft  und  Haltung  verliehen ,  und  dieser  aus 
dem  niederländischen  und  nordwestdeutschen  Täuferthum  eine  Kirche 
geschaffen  hat,  so  hat  auchFaustus  Sozzini  das  hohe  Verdienst,  gährende 
und  wilde  Elemente  geordnet  und  in  die  Einheit  eines  Kirchenwesens 
gebracht  zu  haben. 

Der  Socinianismus  hat,  kirchen-und  dogmengeschichtlich  betrach- 
tet, die  grossen  mittelalterlichen  antikirchlichen  Bewegungen  zu  seiner 
unmittelbaren  Voraussetzung.  Aus  ihnen  hat  er  sich  entwickelt,  sie 
hat  er  geklärt  und  zur  Einheit  zusammengefügt.  Er  selbst  aber  hat  seine 
Hauptwurzel  in  den  nüchternsten  und  besonnensten  kritischen  Be- 
wegungen der  Vergangenheit.  Eben  desshalb  ist  es  ihm  gelungen,  das 
Wilde,  Masslose  und  Phantastische  zu  bezwingen.  Wer  auch  nur  flüch- 
tig das  socinianische  Lehrsystem  auf  seine  charakteristischen  Züge  unter- 
sucht, dem  tritt  sofort  ein  scotistisch-pelagianisches  Element  und 
ein  kritisch- humanistisches^  entgegen.  Bei  schärferem  Zusehen 
gewahrt  er  auch  noch  die  Reste  eines  anabaptistischen;  dagegen  fehlen 
pantheistische,  mystische,  chiliastische  und  so  Cialis  tische  Elemente  ganz 
und  gar. 

Dass  der  Socinianismus  einen  Ausgang  der  Dogmengeschichte 
darstellt,  wird  von  Niemandem  bestritten  werden.  Bestreiten  könnte 
man  nur,  dass  er  überhaupt  in  die  Universalgeschichte  des  Dog- 
mas gehört.  Auf  diesen  Einwurf  ist  oben  (S.  581)  bereits  geantwortet 
worden.  Eine  Bewegung,  in  der  sich  das  Meiste  von  dem  nieder- 
geschlagen hat,  was  in  formloser  Gestalt  Jahrhunderte  lang  neben  der 
Kirche  hergegangen  ist,  vor  Allem  aber  eine  Bewegung,  in  welcher 
die  kritischen  Gedanken  der  kirchlichen  Theologie  des 
14.  und  15.  Jahrhunderts  zu  freier  Entfaltung  gekommen 
sind,  und  die  zugleich  die  Impulse  der  Neuzeit  (Renaissance) 
in  sich  aufgenommen  hat,  darf  nicht  als  eine  nebensächliche  be- 
urtheilt  werden.  Das  Charakteristische  der  antitrinita- 
rischen  und  socinianischen  Bewegungen  des  16.  Jahr- 
hunderts liegt  darin,  dass  sie  diejenige  Destruction 
des  Katholicismus  darstellen,  die  man  auf  Grund 
des  Ertrags  der  Scholastik  und  der  Renaissance  zu 
bewirken  vermochte,  ohne  dieReligion  zu  vertiefen 
und  zu  beleben.  Im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus  reichen 
sich  das  Mittelalter  und  die  Neuzeit  über  die  Reformation  hinweg  die 
Hände.  Das,  was  im  15.  Jahrhundert  als  so  unvereinbar  galt,  der 
Bund  zwischen  der  Scholastik  und  der  Renaissance,  hier  erscheint  er 

'  Höchst  cliaraküiristJHoli  ist  dieses  liumanistische  Element  auch  äusserlicli, 
z.  B,  in  (1er  oben  zum  Theil  angefulirten  lateinischen  Vorrede,  ausgeprägt. 


656       I^ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus. 

—  im  Einzelnen  auf  höchst  verschiedene  Weise  —  geschlossen.  Eben 
desshalb  wohnt  diesen  Bewegungen  auch  ein  prophetisches  Element 
inne.  In  ihnen  ist  Vieles  in  wunderbarer  Sicherheit  bereits  vorwegge- 
nommen, was  in  den  evangelischen  Kirchen  nach  flüchtigen  Ansätzen 
zunächst  gänzlich  unterdrückt  erscheint,  weil  das  Interesse  für  die 
Religion  in  der  einmal  gewählten  Form  hier  mehr  als  150  Jahre 
lang  Alles  absorbirt  hat.  Kulturhistoriker  und  Philosophen,  sofern 
ihnen  die  Rehgion  eine  gleichgiltige  oder  störende  Sache  ist,  haben 
daher  allen  Grund,  sich  für  die  Antitrinitarier  und  Socinianer,  für  die 
„Schwärmer"  und  Pantheisten  lebhaft  zu  interessiren  und  ihnen  gegen- 
über die  trüben  Halbheiten  der  Reformatoren  zu  bedauern.  Daraus 
folgt  aber  nicht,  dass  umgekehrt  der,  welcher  in  der  Reformation  den 
wahren  Fortschritt  der  Geschichte  anerkennt,  an  jenen  Gruppen  theil- 
nahmlos  oder  übelwollend  vorübergehen  darf.  Die  kritischen  Elemente, 
die  sie  ausgebildet  haben,  sind  nicht  nur  der  Wissenschaft,  sondern 
schliesslich  auch  der  Religion  zu  Gut  gekommen,  und  sie  selbst 
sind  erst  untergegangen,  nachdem  der  Protestantismus  im  18.  und 
19.  Jahrhundert  alles  das  in  sich  aufgenommen  hat,  was  sie  an  bleiben- 
dem Gehalt  zu  bieten  vermochten. 

Wir  geben  im  Folgenden  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Dogmengeschichte  eine  Uebersicht  über  die  religiösen  Bewegungen, 
welche  die  Reformation  im  16.  Jahrhundert  begleitet  haben,  und  be- 
schliessen  sie  mit  der  Darstellung  des  Socinianismus  (Unitarismus),  der 
es  allein  zu  einer  eigenthümlichen  Kirchenbildung  gebracht  hat  K  Der 
Bruch  mit  der  Geschichte,  der  Verzicht  auf  die  Kirche,  wie  sie  bereits 
existirt,  die  Ueberzeugung  von  dem  schrankenlosen  Recht  des  Indivi- 
duums sind  allen  Richtungen  gemeinsam.  Eben  desshalb  lassen  sich 
scharfe  Grenzlinien  zwischen  den  einzelnen  nicht  ziehen.  Von  den  ver- 
schiedensten Ausgangspunkten  her  (Chiliasmus,  Mysticismus,  Ratio- 
nalismus) sind  sie  nicht  selten  zu  den  gleichen  Ergebnissen  gekommen, 
weil  die  Stimmung,  die  sie  gegenüber  der  Geschichte  bewegte,  die 
gleiche  gewesen  ist. 

1.  Eine  Gruppe  von  Richtungen  knüpfte  an  die  pantheistische 
Mystik  des  Mittelalters,  zugleich  aber  an  die  neue,  vom  Piatonismus 
getränkte  Bildung  der  Renaissance  an  und  stellte  sich,  indem  sie  nicht 
Wor  t  e ,  sondern  Thatsachen  in  der  Religion  und  in  der  Wissenschaft 
studiren  wollte,  als  der  äusserste  Gegensatz  zu  „Aristoteles",  d.  h.  zu 
der  hohlen  nominalistischen  Scholastik  der  Kirche,  dar.  Sie  zerstörte  die 

*  Die  mennonitische  Kirchenbildung  gehört  nicht  in  die  Dogmengeschichte, 
weil  sie  in  der  Glaubenslehre  wesentlich  7,u  den  Bestimmungen  der  alten  Kirchen 
zurückoekehrt  ist. 


Die  mystische  Gruppe.  657 

alte  Dogmatik  formell  und  materiell.  Formell,  sofern  sie  nicht  nur  den 
Respect  vor  den  Entscheidungen  der  Kirche  aufgab,  sondern  auch  die 
Bibel  als  Lehrgesetz  (norma  normans)  beseitigte  und  ihr  das  „innere 
Licht",  d.h.  die  Speculation  des  befreiten  Geistes,  entgegenstellte; 
materiell,  sofern  sie  die  Dogmen  der  Kirche  (Trinität,  Christologie) 
entweder  pantheistisch  umdeutete  oder  als  irrig  fallen  Hess.  Neu  ist 
das  bekanntlich  nicht :  so  lange  es  ein  kirchliches  Dogma  gegeben  hat, 
d.  h.  seit  dem  4.  Jahrhundert,  haben  solche  Richtungen  theils  verdeckt 
theils  offen  die  Kirche  begleitet.  Neu  aber  ist,  dass  innerhalb  dieser 
Richtungen  die  psychologische  Beobachtung,  ja  die  Erfahrung  über- 
haupt, eine  bedeutende  Rolle  zu  spielen  beginnt.  Damit  haben  sie  ein 
Element  an  sich  gezogen,  welches  ihre  Arbeit  über  das  bloss  Phan- 
tastische erhoben  hat.  Was  christHche  Religion  ist,  wussten  freilich 
die  Meisten  von  denen,  die  zu  dieser  Gruppe  zu  zählen  sind,  so  wenig 
wie  ihre  katholischen  Gegner.  Sie  verwechselten  sie  mit  der  hoch- 
fliegenden Metaphysik,  und  sie  standen  eben  desshalb  noch  mit  einem 
Fusse  in  dem  Bannkreis  des  Dogmas,  das  si^  bekämpften  ^  Aber  Einige 
von  ihnen  haben  doch  daneben  Einflüsse  von  Luther  erhalten.  Von 
ihm  bestimmt,  zugleich  aber  von  der  Last  der  Vergangenheit  befreit, 
erhoben  sie  sich,  reich  und  kühn  in  den  Gedanken,  stark  und  w^arm  in 
den  Gefühlen,  über  alle  ihre  Zeitgenossen,  ohne  freilich  die  Fähigkeit 
und  den  Beruf  des  Reformators  zu  besitzen.  Li  diese  Gruppe  gehören 
einerseits  Schwenkfeld,  Valentin  Weigel,  Giordano  Bruno 
—  dieser  zeigt  durch  seine  Berufung  auf  den  „göttlichen"  Cusanus, 
wo  die  letzte  Quelle  zu  suchen  ist  — ,  andererseits  die  von  Luther  stark 
beeinflussten  Reformer  Sebastian  Franck  und,  zeitweilig,  Theo- 
bald  Thamer,  der  Erstere  in  mehr  als  einer  Hinsicht  Bürger  einer 
zukünftigen  evangelischen  Kirche,  welche  das  katholische  Gesetz  des 
Buchstabens  abwerfen  wird^. 

*  Thamer  ist  am  Ende  seines  Lebens  wirklich  wieder  katholisch  geworden, 
und  .Schwenkfeld  wäre  lieljer  wieder  römisch  als  lutherisch  geworden.  Das  ist 
bedeutsam. 

'^  Vgl.  Carriere,  Die  philosophische  Weltanschauung  der  Reformationszeit, 
2  Bdd.  2.  Aufl.  1887,  der  Sebastian  Franck,  Weigel,  Böhme;  und  vor  Allen  Giordano 
Bruno  ausführlich  behandelt,  lieber  Schwenkfeld  s.  Hahn,  Schwenkfeldii  sent.  de 
Christi  persona  et  opere  1847.  Er})kam,  Gesch.  der  protest.  Secten  1848,  Kadel- 
bach,  Gesch.  Seh. 's  und  der  Schwenkfeldianer  1861.  Henke,  Neuere  Kirchcn- 
gesch.  T  S.  395  \'(.  lieber  Weigel  s.  d.  Art.  v.  II.  Schmidt  in  der Herzog'schen 
R.-Encykl.  ''■  Fid.  XVJ.  lieber  Bruno  vgl.  die  Litteratur  bei  lieber w(;g-Heinze, 
Gesch.  d.Philos.  lieber  Franck  s.Bischof,  Seb.  Franck  1857,  Hase,  Seb.  Franck 
1869  (Gottfried  Arnold  hat  ihn  wieder  entdeckt)  und  Laden  der  f,  Franck's  erste 
SprichwörterMammlung  I8f)9,  da/u  den  Art.  von  Merz  i.  der  Herzog's(;hen  R.- 
Encykl.  2  Bd.  IV.  Henke;  1  S.  399  ff.  lieber  Thamer  s.  Neander,  Thamer  1842. 
llarnack,  Doj^engeschiclite  III.  42 


()58       r^i^  Auspfän^P  des  Dnp^tnas  im  Antitrinitarismur,  und  Socinianismus. 

2.  Kine  zweite  unübersehbare  Gruppe  hat  ihre  Stärke  an  dem 
Gegensatz  zu  dem  politischen  und  sacramentalen  Kathohcismus  und 
spielt  ihm  gegenüber  eine  neue  social-poHtisclie  Welt-  und  Kirchen- 
ordnung, die  Apokaly])tik  und  don  (/liiliasmus  aus.  Auch  diese 
Gruppe  setzt  den  mittelalterlichen  Gegensatz  zur  katholischen  Kirche 
einfach  fort,  wie  denn  offenbar  das  Ideal  der  franciskanischen  Spiri- 
tuah^n,  resp.  die  mit  ihm  verwandten  waldensischen  und  husitischen 
Ideale  hier  die  massgebenden  gewesen  sind  '.  Aber  der  Geist  einer 
neuen  Zeit  zeigt  sich  bei  ihnen  nicht  nur  darin,  dass  sie  vielfach  auf 
die  reformatorischen  Gedanken  eingingen,  sondern  auch  in  der  Be- 
tonung der  christlichen  ^Selbständigkeit.  Von  hier  aus  ist  der 
Gegensatz  gegen  die  Kindertaufe  zu  verstehen,  der  ein  Protest  des 
selbständigen  gläubigen  Individuums  wider  die  Magie  der  Erlösung 
und  den  sacramentalen  „Charakter"  ist.  In  dogmengeschichtlicher 
Hinsicht  ist  dieser  Gegensatz  das  Cliarakteristischste  der  Wieder- 
täufer; denn  alle  anderen  Merkmale  treffen  nicht  auf  die  ganze  Gruppe 
zu.  Die  Einen  von  ihnen  sind  im  Dogma  gut  kathohsch,  die  An- 
deren lutherisch  und  zwinghsch,  wieder  Andere  pantheistisch  und 
antitrinitarisch.  Dass  sich  das  antitrinitarische  Element  nicht  noch 
stärker  bei  ihnen  ausgebildet  hat,  ist  verwunderlich ;  denn  die  scharfe 
Antithese  zur  herrschenden  Kirche  scheint  mit  Nothwendigkeit  zum 
Antitrinitarismus  treiben  zu  müssen,  da  die  Lehre  von  der  Trinität 
und  Christologie  das  Hauptstück  des  alten  verhassten  Kathohcismus 
bildet,  und  da  die  Verwerfung  der  Kindertaufe  die  Auflösung  der 
Kirche  im  alten  Sinn  einschliesst.  Auch  in  dieser  ungeheuren  Gruppe, 
die  ihre  Vertreter  und  Gemeinden  im  16.  Jahrhundert  in  Deutsch- 
land, den  Niederlanden,  der  Schweiz,  Venetien,  Mähren,  Polen,  Liv- 
land  und  Schweden  gehabt  hat,  hat  sich  der  moderne  Geist  dicht 
neben  dem  mittelalterlichen  angekündigt.  Nicht  nur  ist  auch  hier 
vielfach  die  Erkenntniss  laut  gew^orden,  dass  der  gesetzliche  Gebrauch 
der  Bibel  katholisch  ist  und  die  Religion  hemmt  —  andererseits  hat 
freilich  der  starrste  Biblicismus  gerade  im  Kreise  der  Wiedertäufer 
seine  fanatischen  Anhänger  gehabt  — ,  sondern  auch  schhchter  evan- 
gelischer Sinn,  der  in  der  Religion  nichts  Anderes  suchte  als  die 
Religion,  und  die  Ueberzeugung  von  der  Freiheit  der  Gewissen  sind 
in  wiedertäuferischen  Gemeinden  heimisch  gewiesen.  Dank  der  For- 
schungen der  letzten  Jahre  sind  die  Bilder  ausgezeichneter  Christen 


^  Daraufhat  Rit  schi  aufmerksam  oemaclit.  Die  Massstäbo,  dass  das  Ohriston- 
thum  als  Gemeinschaft  von  activ  Heiligen  verwirklicht  werden  müsse,  dass  die  Un- 
möglichkeit des  Sündigens  zu  erreichen  sei,  und  dass  die  Kirche  nur  als  Produet 
der  activ  Heihgen  einen  Sinn  hat,  sind  mittelalterlich. 


Die  (rruppen  der  Wiedertäufer  und  der  Rationalisten.  659 

aus  den  Kreisen  der  Wiedertäufer  uns  geschenkt  worden,  und  nicht 
wenige  dieser  ehrwürdigen  Gestalten  sind  uns  verständHcher  als  der 
heroische  Luther  und  der  eiserne  Calvin  K 

3.  In  einer  dritten  Gruppe  endlich  —  ihre  Vertreter  sind  fast 
sämmtlich  Gelehrte,  dazu  geborene  Italiener  gewesen  —  stellt  sich 
die  consequente  Ausbildung  der  nominalistischen  Scholastik  unter  dem 
Einfluss  des  Humanismus  dar.  Nur  solange  die  nominalistische  Scho- 
lastik die  Unterwürfigkeit  unter  die  Kirche  festhält  und  eben  desshalb 
mit  der  einen  Hand  künstlich  das  wieder  aufzubauen,  resp.  zu  erhal- 
ten sucht,  was  sie  mit  der  anderen  niedergerissen  hat,  ist  sie  mit 
der  kritischen  Bildung  der  Renaissance  unverträglich.  Sobald  sie 
sich  aber  der  katholischen  Kirche  entzieht  und  lediglich  auf  ihren 
Ausgangspunkten,  Selbständigkeit  des  vernünftigen  Denkens,  Theis- 
mus und  autonome  Moral,  verharrt,  also  das  Alles  wirklich  preis- 
giebt  (Dogmatismus,  Sacramente  etc.),  was  ihre  verständige  Reflexion 
schon  längst  preisgegeben  hat,  vermochte  die  moderne  Bildung  auf 
sie  einzugehen.  Sie  brachte  das  historische  Element  hinzu,  die  Rück- 
kehr zu  den  Quellen,  den  philologischen  Sinn,  den  Respect  vor  dem 
Klassischen  in  Allem,  was  Alterthum  heisst.  Die  Italiener  haben 
sich  in  keinem  Zeitalter  durch  ein  hohes  speculatives  Vermögen  aus- 
gezeichnet. So  ist  es  nicht  verwunderlich,  dass  die  specifische  Art, 
in  welcher  sie  sich  vom  Dogma  im  16.  Jahrhundert  befreit  haben, 
die  verständig-humanistische  gewesen  ist.  Ein  wirkliches  religiöses 
Interesse  war  auch  an  dieser  Form  der  Befreiung  betheihgt :  wem  die 


^  Nachdem  die  "Wiedertäufer  in  Vergessenheit  versenkt  worden  waren  und 
es  auch  Gcjttfried  Arnold  nicht  ^ehmgen  war,  Interesse  und  Verständniss  für  ilir 
Andenken  zu  erregen,  ist  in  unseren  Tagen  von  verschiedenen  Seiten  und  in  ver- 
schiedener Weise  das  Gedächtniss  an  sie  belebt  worden.  Dabei  waren  Uebertrei- 
bungen  unvermeidlich  (Hagen,  Deutschlands  litt.  u.  relig.  Verhältnisse  i.  Ref.- 
Zeitalter  1841  ff.;  Keller,  Die  Reformation  und  die  älteren  Reformparteien  1885). 
Allein  das  TIrtheil  über  sie  ist  doch  ein  anderes,  viel  günstigeres  geworden,  als  in 
früheren  Zeiten,  und  dazu  hat  neben  Cornelius,  Kampschulte  und  namentlich 
niederländischen  Historikern  auch  Keller  viel  beigetragen.  Je  mehr  die  Forschung 
in  die  Reformationsgeschichte  der  einzelnen  Provinzen  und  Städte  eingedrungen 
ist,  desto  deutlicher  hat  sich  auch  gezeigt,  dass  di(*se  Täufer,  häufig  mitwaldensischen 
und  husitisch(!n  Elementen  verbunden  oder  auf  frühere  mittelalterliche  Bewegungen 
zurückgehend,  der  Boden  zur  Aufnahme  der  Reformation  gewesen  und  mit  ihr  in 
manchen  Gegenden  Decc^nnien  hindurch  verflochten  geblieben  sind.  Die  strenge  Fas- 
sungdes evangelischen Princips,  welche  Ritschi  eingeschärft  hat^  istdogniafisch  an- 
gesehen gewiss  l)er''chtigt-,  aber  man  darf  sie  nicht  ohm;  Weiteres  auf  die  Erschei- 
nungen des  Reformationszeitalters  übertragen;  denn  man  läuft  sonst  Gefahr,  dir; 
Quellen  zu  verschütten,  aus  denen  einst  auch  lebendiges  Wasser  geflossen  ist.  8. 
Henke,  a.  a.  0.  I  S.  40ß  ff. 

42* 


6ß0      Dio  Ausgänge  des  Doomas  im  Aiititrinitarismus  und  Socinianismus. 

Religion  nicht  Herzens-  und  Gewissenssache  ist,  der  strebt  nicht  dar- 
nach, ihren  öffentUchen  Ausdruck  zu  verbessern.  Aber  das  reHgiöse 
Motiv  im  eigenthchsten  Sinn  des  Worts,  wie  es  innerhalb  der  christ- 
lichen Rehgion  hervorbricht  als  die  Macht  des  lebendigen  Gottes, 
vor  dessen  hl.  Geist  nichts  Eigenes  mein-  besteht,  lag  diesen  Itahenern 
fern.  Auch  haben  sie  es  zu  einer  volksthümlichen  Bewegung  in  ihrem 
Heimathland  nicht  zu  bringen  vermocht:  sie  blieben  Officiere  ohne 
Armee  ^ 

4.  Die  sub  1  und  sub  3  geschilderten  Gruppen  stellen  in  vieler 
Hinsicht  Gegensätze  dar,  sofern  jene  der  speculativen  Mystik,  diese 
dem  nüchternen  verständigen  Denken  huldigte.  Allein  nicht  nur 
schlangen  die  humanistischen  Interessen  ein  gemeinsames  Band  um 
dieselben,  sondern  aus  der  speculativen  Mystik  entwickelte  sich  im 
Zusammenhang  mit  der  Erfahrung,  auf  die  man  Werth  legte,  auch 
ein  reines  Denken,  und  andererseits  streiften  die  nüchternen  italie- 
nischen Denker  unter  dem  Einfluss  der  neuen  Bildung  die  Unarten 
jener  Begriffsmythologie  ab,  in  der  sich  der  ältere  Nominalismus  er- 
gangen hatte.  So  convergirten  beide  Richtungen.  Am  bedeutend- 
sten repräsentirt  diesen  Zusammenschluss  der  spanische  Denker,  der 

*  Eine  erschöpfende  Darstellung  dieser  ganzen  Richtung  fehlt.    Man  muss 
noch  immer  auf  T  rechsei,  Die  iDrotest.  Antitrinitarier  vor  F.  Socin  (2Bdd.  1839. 44) 
und  die  Specialarbeiten  über  den  Socinianismus  verweisen.  Doch  s.  die  werthvolleu 
geschichtlichen  Andeutungen,  dieKitschl  (Rechtfert.u. Versöhn.  1.  Aufl.  I  S.  311) 
gegeben  hat :   „Die  Thatsache,  dass  Faustus  die  Hypothese  des  Duns  (Gott  könnte 
uns  auch  durch  einen  einfachen  Menschen  erlösen)  als  das  Wirkliche  und  Noth- 
wendige  behauptete,  setzt  seinen  gründlichen  Bruch  mit  dem  allgemeinen  Kirchen- 
glauben voraus.   Hierzu  aber  kam  sein  Oheim  (Lelio),  wie  er  und  so  viele  andere 
Italiener,  durch  die  Lage  der  christlichen  Gesellschaft  in  Italien.   Hier  hatte  das 
Kaiserthum  die  gegen  Gregor  YII.  und  Innocenz  III.  verlorene  Geltung  nicht  wieder 
erlangt,  hier  erschien  die  römische  Kirche  als  die  einzig  mögliche  Form  der  christ- 
lichen Gesellschaft.    Sie  beherrschte  die  Massen  des  Volkes,  welches  durch  keine 
Erwartung  kirchlicher  Reform  zur  Aufnahme  der  reformatorischen  Einwirkungen  aus 
der  Schweiz  und  aus  Deutschland  vorbereitet  war.   Fast  nur  litterarisch  gebildete 
Männer  waren  für  dieselben  zugänglich;  diese  aber  waren  fast  überall  von  vorn- 
herein durch  den  Stand  der  öffentlichen  Meinung  und  die  unerscliütterte  Macht  der 
kirchlichen  Organe  am  öffentlichen  Auftreten  in  Gemeinden  gehindert  und  zu  ge- 
heimer Vereinigung  genöthigt.  Da  fand  ihre  Theilnahme  an  der  Reformation,  auch 
wenn  sie  sich  ursprünglich  auf  deren  ethischen  Kern  richtete,  weder  die  nothwendige 
Förderung  noch  die  nothwendige  Zügelung,  welche  die  öffentliche  Bethätigung  des 
allgemein  kirchlichen  Bewusstseins  gewährt.   Desshalb  ist  unter  so  vielen  der  Re- 
formation sich  anschliessenden  Italienern  nicht  der  kirchliche  Geist,  sondern  im 
Gegentheil  entweder  das  anabaptistische  Sectenthum  oder  die  Neigung  zu  scluil- 
mässiger  Kritik  aller  Dogmen  oder  Beides  zusammen  genährt  worden.  Denn  dorn 
Schulinteresse  liegt  die  Kritik  der  Trinitäts-  und  der  Versöhuungslehre  ebenso  nahe, 
wie  die  Bildung  des  richtigen  Begriffs  von  der  Rechtfertigung." 


Servede.    Geist  und  Buchstabe.  661 

sich  auch  durch  eine  tiefe  Frömmigkeit  auszeichnete,  Michael 
Servede.  In  ihm  ist  das  Beste  von  alledem  vereinigt,  was  im 
16.  Jahrhundert  zur  Reife  gekommen  war,  wenn  man  von  der  evan- 
gelischen Reformation  absieht.  Servede  ist  gleich  bedeutend  als  em- 
pirischer Forscher,  als  kritischer  Denker,  als  speculativer  Philosoph 
und  als  christlicher  Reformer  im  besten  Sinn  des  Worts.  Es  ist 
eine  Paradoxie  der  Geschichte,  dass  Spanien  —  das  Land,  welches 
von  den  Ideen  der  neuen  Zeit  im  16.  Jahrhundert  am  wenigsten 
berührt  gewesen  ist    —   diesen  einzigen  Mann  hervorgebracht  hat  *. 

Innerhalb  der  Dogmengeschichte  sind  es  zwei  Hauptpunkte,  die 
man  ins  Auge  zu  fassen  hat,  um  die  Bedeutung  dieser  Bewegungen 
festzustellen,  1)  ihr  Verhältniss  zu  den  formalen  Autoritäten  des 
Katholicismus,  2)  ihr  Verhältniss  zur  Lehre  von  der  Trinität  und 
von  Christus^. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  kann  man  sich  sehr  kurz 
fassen :  die  Autorität  der  gegenwärtigen  Kirche  als  der  Lehrerin 
und  Richterin  haben  sie  abgethan;  aber  sie  haben  auch  die  Lehr- 
gewalt der  Kirche  der  fi'üheren  Zeiten  bestritten.  Dagegen  blieb 
das  Verhältniss  zur  hl.  Schrift  fast  überall  unklar.  Einerseits  spielte 
man  die  Schrift  gegen  die  Tradition  der  Kirche  aus  und  fusste  mit 
unerhörter  Gesetzlichkeit  auf  dem  Buchstaben ;  andererseits  drückte 
man  die  Autorität  der  Schrift  unter  die  der  inneren  Offenbarung 
herab,  ja  schob  sie  sogar  als  Gesetz  für  den  Glauben  ganz  bei  Seite. 
Indessen  lässt  sich  leicht  bemerken,  dass  die  Unternehmungen,  welche 
mit  der  Kirchenautorität  auch  das  absolute  Ansehen  der  Bibel  be- 
seitigten, ohne  erhebliche  Wirkung  geblieben  sind,  und  dass  auch 
die,  welche  den  „Geist"  wider  den  „Buchstaben"  ausspielten,  häufig 
gar  nicht  daran  dachten,  die  einzigartige  Geltung  der  hl.  Schrift  zu 
beanstanden,  sondern  nur  eine  geistige  Interpretation  derselben  her- 
beiführen wollten.  Das  absolute  Ansehen  der  Schrift  ging  aus  allen 
den  Bewegungen,  welche  die  Reformation  und  Contrareformation  be- 
gleiteten, schliesslich  siegreich  hervor.  Der  Socinianismus  stellte  sich 
nach  kurzen  Schwankungen  fest  auf  den  Boden  der  Schrift.  An 
diesem  Fels  wagten  also  die  Reformer  des  16.  Jahrhunderts  —  einige 
ausgezeichnete  Männer  ausgenommen,  die  wirklich  verstanden  hatten, 


*  Ueber  Servede  s.  d,  zahlloseu  Arbeiten  von  Tollin,  der  die  ganze  Kefor- 
rnationsgeHchichtc  „servetocentrisch"  belcuehtcn  wollte;  Kawcrau  i.  d.  Theol. 
Stud.  u.  Krit.  1878  III;  Kifrgenbach  in  Herzog  s  E.-Encykl. ''  Bd.  XIV;  Trech- 
Hel,a.  a.  O.  1  S.  Gl  ff. 

'^  Wichtig  ist  noch  zubemcrken,  dass  fast  alle  Jleformerapokatastatiach gesinnt 
waren,  und  das«  sie  den  katholischen  Sacramentsbegriil"  aufs  heftigste  bekämpften. 


662      I^ie  Ausgäiifje  des  Dogmas  iin  Antitriuitarismus  und  Socinianiemus. 

was  die  Freiheit  eines  Christenmenschen  ist*  —  nicht  ernsthaft  zu 
riittehi.  Mau  hat  es  daher  nicht,  oder  jedenfalls  nicht  in  erster 
Linie,  ihnen  zu  verdanken,  wenn  nachmals  ein  freieres  Vcrhältniss 
zur  Schrift  in  der  Kirche  gewonnen  worden  ist.  Dieses  ist  vielmehr 
eine  Frucht  der  inneren  Entwickelung  des  Protestantismus;  das 
Fortwirken  AVeigeTscher  und  Böhme 'scher  Ideen  ist  an  diesem 
Ergehniss  schwerlich  betheiligt.  Die  lleformer  erweisen  durch  ihr 
Festhalten  an  der  von  der  Kirche  gesanmielten  und  prädicirten  Schrift 
ihren  mittelalterlichen  Charakter ;  aber  sie  haben  doch  die  Grundlagen 
des  Dogmas  gesprengt;  denn  dieses  ruht  nicht  auf  der  Schrift  allein, 
sondern  auf  der  Lelu*autorität  der  Kirche  und  auf  dem  alleinigen  Recht 
der  Kirche,  die  Schrift  auszulegen.  Indem  die  Reformer  dieses  Recht 
sich  selbst  und  jedem  Christenmenschen  vindicirten,  schufen  sie  —  hier 
freilich  mit  dem  alten  Protestantismus  Hand  in  Hand  gehend  —  den 
AVidcrspruch,  eine  umfangreiche  Büchersammlung  als  absolute  Norm 
in  G  eltung  zu  setzen,  aber  das  Verständniss  derselben  den  Bemühungen 
der  Einzelnen  zu  überlassen. 

Was  den  zweiten  Punkt  betrifft,  so  hat  sich  der  Antitrinitarismus 
in  allen  vier  oben  charakterisirten  Gruppen  entwickelt,  aber  in  ver- 
schiedener AVeise^.  In  der  ersten  Gruppe  ist  er  nicht  aggressiv 
gewesen,  vielmehr  latitudinarisch.  Ein  solcher  latitu dinarischer  Anti- 
trinitarismus hat  aber  auch  in  der  alten  Kirche,  ja  bei  den  Vätern 
des  Dogmas,  nicht  gefehlt ;  er  gehört  in  gewisser  Weise  zu  dem 
Dogma  selbst.  Das  spröde  Dogma  mystisch-pantheistisch  zu  erweichen, 
die  Trinität  auf  „modi"  zurückzuführen  und  mit  dem  Weltgedanken 
zu  verflechten,  in  der  Christologie  den  Specialfall  eines  sich  immer 
wiederholenden  Ereignisses  zu  erbhcken,  die  Vereinigung  der  gött- 
lichen und  menschlichen  Natur  in  Christo  als  eine  vollkommene 
Verschmelzung  zu  betrachten,    die  in    der  Metaphysik  ihren  letzten 


*  Hier  ist  vor  Allem  Hans  Denck  ehrenvoll  zu  nennen;  vgl.  Keller,  Ein 
Apostel  der  Wiedertäufer  1882  S.  83  ff.  u,  sonst.  Denck  hält  das  Wort  Gottes  in 
der  hl.  Schrift  fest,  bestreitet  aber  die  gesetzliche  Autorität  des  Buchstabens  und 
weiss,  dass  nur  der  Geist  den  Geist  des  göttlichen  AVorts  zu  erkennen  vermag; 
vgl.  auch  die  Thesen  S.  Franck's.  Henke  IS.  403:  „In  der  Verwerfung  des 
»formalen  Princips«  war  doch  Manches  schriftgemässer  als  die  Lehre,  dass  der 
Geist  nur  durch  das  verbum  externum  gegeben  werde."  Dies  ist  richtig;  aber  stritt 
Luther  unter  der  spröden  Hülle  des  verbum  externum  nicht  für  den  geschichtlichen 
Christus  wider  einen  Christus,  der  zur  Phantasie  zu  werden  drohte? 

^  T  r e ch  se  1 ,  a. a.  0.,  dessen  Methode  und  Classificirung  aber  viel  zu  wünschen 
übrig  lässt.  Ueber  die  Antitrinitaricr  handeln  auch  B  au  r  und  Dorn  er  in  ihren 
Werken  z.  Gesch.  der  Lehre  v.  d.  Trinität  und  der  Christologie  (vgl.  auch  des  Letz- 
tern Gesch.  d.  protest.  Theol.  2.  Auü.  1867). 


Der  Antitrinitarismus,  663 

Grund  hat^  in  allen  Dogmen  Hüllen  der  Wahrheit  zu  erkennen,  u.  s.  w., 
das  Alles  sind  keine  Neuerungen.  Mithin  sind  auch  Schwenkfeld, 
Weigel;  G.  Bruno  und  ihr  Anhang  nicht  Antitrinitarier  im  streng- 
sten Sinn  des  Worts,  wenn  auch  ihre  Lehren  im  Fortwirken  als 
Ferment  zur  Auflösung  des  alten  Dogmas  gedient  haben  K  —  In  der 
zweiten  Gruppe  bildet  der  Antitrinitarismus  nur  ein  Moment  in  dem. 
Widerspruch  gegen  das  Kirchenwesen,  welches  ganz  und  gar  Babel 
ist,  und  zwar  ein  Moment,  das  längst  nicht  überall  hervorgetreten  ist 
und  auch  dort,  wo  es  sich  neben  der  Verwerfung  der  Kindertaufe,  dem 
Spiritualismus  und  der  Lehre  von  der  Apokatastasis  geltend  machte, 
sehr  verschieden  motivirt  erscheint.  Denck,  vielleicht  der  Ausge- 
zeichnetste unter  den  Wiedertäufern,  hat  in  seiner  Schrift:  „Ordnung 
Gottes  und  der  Creaturen  Werk",  den  Antitrinitarismus  kaum  ge- 
streift. Ihm  lagen  wichtigere  Dinge  am  Herzen  als  die  Polemik  gegen 
die  Trinitätslehre ;  an  der  Gottheit  Christi  hat  er  nie  gezweifelt.  Wenn 
er  einmal  sagt:  „Allmacht,  Güte  und  Gerechtigkeit  —  das  ist  die 
Dreifaltigkeit,  Einigkeit  und  einige  Dreiheit  Gottes",  so  ist  dieser 
Ausspruch  doch  nicht  direct  antitrinitarisch  zu  verstehen.  Er  wollte 
nur,  wie  Melanchthon  in  der  ersten  Ausgabe  der  loci,  die  Aufmerk- 
samkeit von  den  Schulformeln  auf  die  Sache  richten^.  Sein  unreiner 
Genosse  Hätzer  hat  vorübergehend  von  dem  „Aberglauben  der 
Gottheit  Christi"  gesprochen,  weil  Gott  nur  Einer  sei;  aber  er  selbst 
scheint  dann  auf  diese  Abweichung  wenig  Gewicht  gelegt  zu  haben, 
und  sein  Widerspruch  war  ohne  Erfolgt.  Energischer  war  der  Wider- 
spruch des  Campanus  gegen  die  Trinität  in  seiner  Schrift:  „Wider 
alle  Welt  nach  den  Aposteln",  um  deren  willen  Melanchthon  den  Ver- 
fasser des  „lichten  Galgens"  für  würdig  erklärte.  Allein  die  positive  Aus- 
führung („Restitution  und  Besserung  göttlicher  und  heihger  Schrift"), 
welche  zwei  göttliche  Personen  lehrte,  den  Sohn  für  consubstantialis, 


'  Sic  wie  die  in  der  folgenden  Gruppe  zu  nennenden  Männer  polemisirten 
auch  gegen  die  „äusserlichen"  Vorstellungen  von  der  VeiscJhnung  (das  Satisfactions- 
dogma)  •,  vgl.  Kitschi,  Keehtfert.  u.  Versöhnung  1.  Aufl.  I  S.  305 — 311.  Münzer 
betonte  echt  mittelalterlich  nur  das  Vorbild  Christi,  schwieg  aber  über  seine  Be- 
deutung als  Versöhner.  Denck  hat  an  einem  Missverständniss  der  Lehre  Luther's 
Anlas«  genommen,  die  Idee  der  allgemeinen  Versöhnung  durch  Christus  überhaupt 
zu  verwerfen.  Daher  wurde  in  seinem  Kreise  die  Jjchre  von  der  Gottheit  Christi 
fraglich, 

''H.  Keller,  a.  a.O.S.  90.  Trechs  el,  a.  a.  O.  I  S.  13ff.  Doch  ist Trechsel's 
DarstfsUung  durch  Keller  antiquirt.   ITonke  I  S.  418  ff. 

"  Trechsel,  a.  a.  O.  I  S.  13  W.  Keim  i.  d.  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  1856  II 
u,  i.  Herzog's  R.-E.''*  Bd.  V.  Ein  Gesinnungsgenosse  Hätzer's  war  Kautz  aus 
Bockenheim. 


664       I^it^  Ausgänge  dea  Dogmas  im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus. 

jetloch  dem  Vater  untergeordnet  erklärte,  blieb  eine  Singularität*.  Im 
Zusammenhang  mit  einer  Geschichts])hilo8ophie  (drei  Zeitalter)  hat 
David  Joris  die  Trinität  als  dreifache  Offenbarung  Ciottes  sabel- 
lianisch  behandelt'-^.  In  valentinianischer  AVeise  hat  sich  der  unermüd- 
lich wandernde  Melchior  Hoffmann  die  C>hristologie  zurechtgelegt'*, 
während  der  venetianische  Wiedertäufer  Pietro  Manelfi  Christus 
als  den  göttlichen,  von  «Joseph  und  Maria  erzeugten  Menschen  ver- 
kündigte* und  mit  dieser  Lehre  auf  einer  anabaptistischen  Synode 
(1550)  durchdrangt.  Dies  ist  in  Itahen  geschehen;  denn  dort  (und 
zum  Theil  in  Südfrankreich  durch  Servede)  allein  ist  der  Anti- 
trinitarismus zu  wirklicher  Entfiiltung  gekommen.  Dort  allein  ist  er 
nicht  nur  ein  Moment  neben  anderen  kritischen  Momenten,  sondern 
das  eigentlich  kritische  Moment  geworden.  Es  ist  das  innerhalb  der 
oben  charakterisirten  dritten  Gruppe  geschehen.  Die  Verbindung 
des  Humanismus  mit  der  nominalistisch-pelagiani sehen 
Ueberlieferung  der  Theologie  hat  in  Italien  den  Anti- 
trinitarismus als  einen  wirklichen  Factor  der  geschicht- 
lichen Bewegung  erzeugt^.  Hier  wird  die  Trinitätslehre  aufgelöst, 
ja  es  gilt  ihre  Beseitigung  als  wichtigste  Reinigung  und  Entlastung  der 
Rehgion.  An  die  Stelle  derselben  tritt  die  Lehre  von  dem  einen  Gott 
und  von  dem  geschaffenen  Christus.  Die  Lehre  über  den  letzteren 
bleibt  schwankend :  bald  lautet  sie  arianisch,  bald  adoptianisch ;  auch 
ein  sabellianisches  Element  fehlt  nicht  ganz.  Eine  merkwürdige  Parallele 
zu  der  Geschichte  der  alten  Adoptianer  in  der  Kirche  thut  sich  hier 
auf.  Wie  die  alten  Theodotianer  in  Rom,  so  sind  auch  diese  neuen 
Theodotianer  gleichmässig  für  die  Bibel  und  für  die  nüchterne  Philo- 
sophie interessirt;  wie  die  alten  Theodotianer  bilden  sie  nur  eine  Schule, 
trotz  aller  Versuche,  eine  Kirche  zu  gründen ;  wie  jene  arbeiten  sie  mit 
der  Grammatik,  der  Logik  und  den  exegetischen  Methoden,  und  wie  jene 
lassen  sie  bei  allem  Ernst  den  Ernst  der  Religion  vermissen.  Je  mehr 
man  in  die  Details  geht  (vgl.  auch  den  Schriftbeweis)^  desto  frappanter  ist 
die  Verwandtschaft.  Eine  ganze  Schaar  von  Antitrinitariern  hat  Italien 
in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  erzeugt^.    Camillo  Renato,  Gri- 

»  Trechsel,  a.  a.  0.  S.  26—34. 

-  Nippold,  iu  d.  Zeitschr.  f.  d.  histor.  Theol.  1863.  1864.  Henke  I  S.  421  f. 

^ZurLinden,M.  H.,  ein  Prophet  der  Wiedertäufer  1885. 

''  Uebcr  das  Ev.  zu  Venedig  s.  Trechsel  II  S.  32  ff.  Beurath  i.  d.  Stud. 
u.  Krit.  1885  I. 

^  Auch  Mauelfi  ist  schliesslich  wieder  katholisch  geworden. 

^  Vgl.  deu  ganzen  2.  Bd.  des  Trechserschcn  Werks. 

^  Auf  Servede's  Lehre  gehe  ich  nicht  ein;  denn  wenn  auch  dieser  Spanier  der 
bedeutendste  Antitrinitarier  des  16.  Jahrhunderts  gewesen  ist,  so  ist  es  ihm  doch  ver- 





Der  Antitrinitarismus.  665 

baldO;  Blandrata,  Gentilis,  Occhino  und  die  beiden  Sozzini 
sind  vor  Allem  zu  nennen  K  Die  Geschichte  dieser  Personen  gehört 
nicht  hierher ;  wohl  aber  verdient  der  allgemeine  Gang  der  antitrinita- 
rischen  Bewegung  die  Aufmerksamkeit.  Jene  Reformer  vermochten 
sich  in  ItaUen  nicht  zu  halten;  sie  mussten  ihr  Vaterland  verlassen,  und 
sie  suchten  sich  daher  an  den  Grenzen  desselben,  in  Graubünden  und 
der  Südschweiz,  anzusiedeln.  Hier  trafen  sie  auf  die  calvinische 
Schöpfung.  Es  ist  ein  grosser  Moment  in  der  Kirchengeschichte,  als 
von  Lyon  her  durch  Servede,  vom  Süden  und  von  Graubünden  her 
durch  die  genannten  Männer  der  Antitrinitarismus  um  Bürgerrecht  in 
Genf,  wo  eine  grosse  italienische  Colonie  bestand,  und  in  der  Schweiz 
nachsuchte.   In  den  Händen  Calvin's  lag  die  Entscheidung-^,  und  Calvin 


sagt  geblieben,  eine  nachhaltige  Wirkimg  auszuüben.  Von  den  meisten  italienischen 
Antitrinitariern  unterscheidet  er  sich  dadurch,  dass  sein  Widerspruch  gegen  die 
Trinitätslehre  letztlich  im  Pantheismus  begründet  ist.  Modalistische,  gnostische 
und  adoptianische  Elemente  dienten  ihm  zum  Aufbau  der  Christologie,  die  von 
neuplatonischen  Prämissen  aus  entworfen  ist.   Henke  I  S.  423  ff. 

*  Hier  sind  nur  die  wichtigsten  Namen  angeführt,  viele  andere  bei  Trechsel  II 
S.  64  ff.   Ueber  Occhino  s.  d.  Monographie  von  Benrath  1875. 

^  In  den  reformirten  Gemeinden  stand  man  doch  nicht  von  Anfang  an  so  fest 
auf  dem  Boden  der  Trinitätslehre  und  der  chalcedonensischen  Christologie  wie  in 
den  lutherischen,  weil  man  nicht  das  Bewusstsein  hatte,  sich  durch  eine  Refor- 
mation von  der  katholischen  Kirche  zu  unterscheiden,  sondern  weil  man  mit  ihr 
gebrochen  zu  haben  sich  bewusst  war.  Eben  desshalb  hielt  es  dort  viel  schwerer, 
zureichende  Gründe  für  das  strenge  Festhalten  an  dem  kirchlichen  Alterthum  zu 
finden,  zumal  wenn  man  sich  durch  einige  Schriftstellen  überzeugen  liess,  dass 
die  Sache  doch  nicht  so  ganz  klar  und  zweifellos  in  der  Bibel  enthalten  sei.  Wie 
viele  Männer  in  der  Schweiz  gab  es  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts,  welche  mit 
den  übrigen  katholischen  Lehren  auch  die  trinitarischen  mindestens  zurückstellten! 
Das  Argument,  dass  es  sich  für  einen  Christen  nicht  zieme,  Ausdrücke  zu  brauchen, 
die  nicht  in  der  Schrift  ständen,  hatte  auf  rcformirtem  Boden  eine  ungeheure  Kraft. 
Selbst  Männer  wie  Vergerio  waren  den  Antitrinitariern  sehr  günstig  gesinnt  (s. 
Trechsel  II  S.  117  ff.).  Es  war  wirklich  nahe  daran,  dass  man  in  einigen  schweizer 
Landeskirchen  sich  den  Antitrinitarismus  gefallen  liess.  Wie  gross  die  Krisis  in 
den  oOer  Jahren  gewesen  ist,  zeigen  die  zahlreichen  Briefe  der  reformatorischen  Epi- 
gonen über  die  tnnitarische  Frage  in  dieser  Zeit.  Der  Druck,  den  die  lutherischen 
ausübten,  hätte  schwerlich  genügt,  um  die  freien  Gemeinden  der  Schweiz  aus  der 
Bahn  der  Freiheit  zu  werfen.  In  Calvin's  Händen  hat  die  Entscheidung  gelegen, 
und  er  hat  den  Antitrinitarismus  für  häretisch  erklärt.  Damit  war  die  Sache  für 
(lenf,  für  die  Schweiz,  für  die  Pfalz,  ja  für  alle  Gebiete  entschieden,  die  unter  dem 
ehernen  Druck  des  grossen  Gesetzgebers  standen.  Blickt  man  lediglich  auf  die 
Frage  an  sich,  so  muss  man  es  tief  beklagen,  dass  die  Reformation,  so  nahe  vor  den 
gewaltigsten  Fortschritt  gestellt,  den  entscheidenden  Schritt  nicht  gethan  hat. 
Allein  erwägt  man,  dass  die  hervorragendsten  Antitrinitarier  keine  Ahiuuig  von 
dem  Glaubeusbegriff  Luther's  und  Zwingli's  besessen  haben  und  sich  zum  Theil  im 
schlimmsten  Moralismus  ergingen,  so  muss  man  urthcilcn,  dass  die  Toleranz  gegen 


666       l^i»^'  Ausgäüge  des  l)ü<>nias  im  Autitriiiitarismus  und  SüciuianismuB. 

hatte  sich  selbst  ernst  eine  sehr  despectirliche  Aeusserung  über  das 
Nicüno-Konstantinüpolitanuni  crhiubt '.  Allein  er  hat  doch  nicht  gegen 
seine  Ueberzeugung  gehandelt,  als  er  die  schroffste  Haltung  wider  die 
Antitrinitarier  einnahm.  Ist  ihm  auch  eine  Verengung  seines  Stand- 
punkts durch  den  Gegensatz  gegen  die  Genfer  „Libcrtiner"  aufge- 
zwungen worden,  so  musste  ihn  doch  die  Consecjuenz  seiner  Glaubens- 
lehre selbst  zu  den  schärfsten  Massregeln  nöthigen.  Er  hat  Servede 
verbrennen  lassen,  und  er  hat  durch  sein  mächtiges  Wort  die  übrigen 
schweizer  Cantone,  in  denen  man  (besonders  in  Basel)  ursprünglich 
weitherziger  urtheilte,  vor  der  Toleranz  bewahrt  und  zur  Strenge 
seines  Princips  bekehrt.  Die  Antitrinitarier  hatten  unterdess  in 
Polen  und  Siebenbürgen  eine  Freistätte  gefunden.  Der  Zug  der 
Itahener  nach  Polen  erklärt  sich  nicht  nur  aus  der  grossen  Freiheit, 
welche  daselbst  in  Folge  der  permanenten  Anarchie  (Souveränetät  der 
Grossgrundbesitzer)  herrschte;  vielmehr  hat  man  daran  zu  erinnern, 
dass  es  vielleicht  kein  zweites  Land  in  Europa  im  16.  Jahrhundert  ge- 
geben hat,  dessen  Städte  so  italienisch  waren,  wie  Polen.  Polen  hat 
keine  eigene  Renaissance  erlebt  wie  Deutschland;  aber  der  directe  Ver- 
kehr zwischen  Italien  und  Polen  war  der  lebhafteste :  italienische  Bau- 
meister haben  die  Prachtgebäude  in  Krakau,  Warschau  u.  s.  w.  ausge- 
führt, und  wie  rege  der  geistige  Verkehr  zwischen  Polen  und  Italien 
gewesen  ist,  das  haben  uns  die  neueren  Publikationen  über  polnische 
Humanisten  gezeigt.  Diesen  Beziehungen  ist  es  mit  zu  verdanken,  dass 
die  italienischen  Reformer  nach  Polen  gekommen  sind;  nach  Sieben- 
bürgen zogen  sie  w^ohl  lediglich  desshalb,  w^eil  es  an  den  Grenzen  der 
Christenheit  lag  und  ihnen  dort  die  allgemeine  Unordnung  zu  Gut  kam. 
So  sind  sie  ja  auch  nach  England  gegangen  in  den  Tagen  Eduard's  VI., 
als  die  Religionsverhältnisse  dort  in  völliger  Auflösung  zu  sein  schienen. 
In  Siebenbürgen  und  Polen  entstanden  antitrinitarische  Gemein- 
den; ja  in  Siebenbürgen  gelang  es  dem  energischen  Bland  rata,  das 
antitrinitarische  Bekenntniss  als  viertes  christliches  Bekenntniss  zur 
förmlichen  Anerkennung  zu  bringen^.     Innerhalb  der  Anarchie  fand 

sie  im  16.  Jahrhundert  wahrscheinlich  die  Auflösung  des  evangelischeu  Glaubens, 
zunächst  im  Gebiete  des  calvinischen  Einflusses,  bedeutet  hätte.  Calvin  schützte 
durch  seine  drakonischen  Massnahmen  gegen  die  Antitrinitarier  den  Glauben  — 
Luther's. 

*  S.  Köllner,  Symbolik  I  S.  48 :  „x^atres  Nicaenos  fanaticos  appellat  —  s. 
Nicaenum  battologias  arguit  —  Carmen  cantillando  magis  aptuni,  (|uam  confessionis 
formulam." 

^  lieber  Blandrata  besitzen  wir  in  unserer  Litteratur  noch  keine  Monographie; 
seine  „confessio  antitrinitaria"  hat  Henke  1794  neu  herausgegeben,  vgl.  Heberle 
i.  d.  Tüb.  theol.  Ztschr.  1840 lY.  Eine  italienische INIonographie :  INIalacarue,  Com- 


Die  antitrinitarische  Kirche.    Fausto  Sozzini  667 

auch  die  Gewissensfreiheit  eine  Stätte.  Das  positive  Bekenntniss 
Blandrata's,  welches  er  verhüllt  hatte^  solange  er  in  der  Schweiz  und 
in  Kleinpolen  war,  war  streng  unitarisch.  Die  ewige  Gottheit  Christi 
erkannte  er  nicht  an,  sondern  sah  in  Christus  einen  von  Gott  erwählten 
und  zum  Gott  erhobenen  Menschen.  Allein  bald  spaltete  sich  die  uni- 
tarische Kirche  in  eine  Rechte  und  eine  Linke.  Diese  schritt  zur  Ver- 
werfung der  wunderbaren  Geburt  Jesu  und  zur  Leugnung  seiner  An- 
betungswürdigkeit fort  (Nonadorantismus).  Ihr  Hauptvertreter  war 
Franz  Davidis  ^.  Um  diese  Richtung  bekämpfen  zu  helfen,  ist 
Fausto  Sozzini  nach  Siebenbürgen  (1578)  gekommen,  und  wirklich 
gelang  es  mit  seiner  Hülfe,  den  Nonadorantismus  zu  unterdrücken.  In 
Polen  mischten  sich  die  Antitrinitarier  in  der  ersten  Zeit  unter  die 
Reformirten  ^.  Ausserhalb  seines  Stammlandes  erschien  der  Calvinis- 
mus als  die  freisinnigste  Confession,  weil  er  auf  die  schärfste  Tonart 
gegenüber  dem  Romanismus  hielt.  Allein  auch  in  Polen  kam  es  zu 
Auseinandersetzungen  zwischen  den  Reformirten  und  „Arianern", 
namenthch  seit  der  Synode  von  Petrikau  (1562),  die  zu  einem  förm- 
lichen Bruch  führte.  Seitdem  bestanden  in  Polen  eigene  unitarische 
Gemeinden,  die  aber  der  festen  Ordnung  ermangelten.  Wiedertäufe- 
rische, socialistische,  chihastische,  libertinistische  und  nonadorantische 
Neigungen  fanden  hier  Raum  und  suchten  sich  geltend  zu  machen.  Da 
erschien  Fausto  Sozzini.  Mit  der  klarsten  Einsicht  in  das,  was  ihm 
als  die  AVahrheit  galt,  verband  er  die  zäheste  Willenskraft  und  eine  ange- 
borene Gabe  des  Herrschers.  Er  hat  aus  den  bedenklich  gefährdeten, 
ungeordneten  Gemeinden  eine  Kirche  geschaffen.  In  Polen  entstand 
ein  als  Kirche  freilich  kümmerliches  Gegenbild  zu  jener  Kirche  von  Genf, 
die  den  Antitrinitarismus  ausgestossen  hatte  ^.  Dass  sich  aus  dem 
Unitarismus  eine  neue  Confession  entwickelt  hat,  der  man  den  christ- 


mentario  dcllco  perc  di  Giorgio  Biandratc,  nobile  Saluzzcsc,  ist  1814  in  Padua  er- 
schienen. 

^  Er  gilt  heute  als  der  Vatei'  des  siebenbürgischen  Unitarismus  und  wird  als 
solcher  auch  von  den  englischen  und  nordarmerikanischen  Unitariern  hoch  gehalten ; 
s.  über  ihn  die  Art.  in  Ersch  und  Gruber's  En(;ykl.  u.  im  Kathol.  Kirchenlex. '-^  III; 
dazu  Fock,  Socinianism.  I  S.  157 ff.,  258 ff.  Die  Abspaltungen,  die  von  dem  Nona- 
dorantismus bis  zur  Grenze  des  Judenthums  erfolgten,  sind  geschichtlich  ohne 
Belang,   aber  interessant. 

''■  Ebenso  in  iSiebcnbürgen  und  in  England.  Man  konnte  sich  auf  calvinischem 
Boden  des  Antitrinitarismus  eben  nur  durch  ein  Machtgebot  erwehren.  Uebcr  den 
Antitrinitarismus  i.  d.  reformirten  Pfalz  s.  Henke  I  S.  433  f. 

"  Ueber  die  Consolidirung  des  polnischen  Unitarismus  zum  Socinianismus  s. 
F  o  c  k's  Darstellnng  (Der  Socinianismus  I.  P^d.  1847)  S.  137—183.  Das  Werk  von  Fock 
ist  eine  treffliche  Leistung,  die  freilich,  wenn  sie  heute  erschiene,  als  ketzerisch  ge- 
brandmarkt  werden  würde. 


()68       I^i«  AuBgäüge  des  Dogmas  im  Autitrinitarismus  und  Socinianismus. 

liehen  Charakter  nicht  ahsprechen  kann,  und  die  nach  einer  an  dramati- 
schen Episoden  reichen  (jleschichte  schhesshch  in  England  und  Amerika 
eine  Stätte  gefunden  und  ausgezeichnete  Miimier  hervorgebracht  hat, 
ist  ganz  wesenthch  das  Verdienst  Sozzini's  ^ 

Aber  bei  aller  Anerkeninmg  der  Persönlichkeit  Fausto  Sozzini's 
lässt  sich  doch  nicht  verkennen,  dass  sein  Glaube  von  dem  evangelischen 
sehr  verschieden  gewesen  ist,  und  dass  die  Kritik  an  der  Kirchenlehre, 
die  er  geübt  hat,  sich  als  eine  Consequenz  der  scotistischen  Theologie 
darstellt.  Das  hat  Kitschi  in  meisterhafter  Weise  gezeigt^.  Der 
italienische  Reformer,  der  nur  ausserhalb  der  Grenzen  des  römischen 
Reichs  eine  Stätte  seiner  Wirksamkeit  gefunden  hat,  hat  sich  auch 
ausserhalb  des  allgemeinen  Kirchenglaubcns  und  der  Kirche  gestellt. 
Er  hat  nicht  etwa  nur,  wie  es  bei  oberflächlicher  Betrachtung  den  An- 
schein hat,  die  Kirchenlehre  berichtigt,  sondern  er  hat  die  richtigen 
Tendenzen  verkannt,  welche  die  Kirche  zu  den  Lehren  von  der 
Gottheit  Christi,  der  Trinität  und  der  Satisfaction  geführt  haben.  Man 
kann  der  formalen  Kritik,  welche  die  Socinianer  an  der  orthodoxen 
Lehre  geübt  haben,  fast  überall  beistimmen  und  doch  urtheilen,  dass 
die  Vertreter  der  letzteren  ein  viel  sichereres  Verständniss  des  Evange- 
liums offenbart  haben  als  ihre  Gegner.  Aber  der  Ausdruck,  in  welchem 
dieses  Verständniss  gefasst  war,  das  Dogma,  genügte  nicht  mehr.  Es 
war  zum  Absterben  reif,  und  die  Socinianer  haben  ihm  ein  Ende  gemacht. 
Dass  diese  Widerlegung  im  17.  Jahrhundert  einen  verhältnissmässig  so 
geringen  Erfolg  hatte,  lag  nicht  nur  an  den  besonderen  Zeitumständen, 
sondern  in  noch  höherem  Masse  an  dem  Widerstreben  jeder  Religion, 
sich  durch  eine  von  Aussen  stammende  Kritik  aus  ihren  Positionen 
werfen  zu  lassen.  Religionen  lassen  sich  nicht  häuten ;  man  muss  warten, 
bis  sie  selbst  die  alte  Haut  abwerfen. 

2.  Die  socinianische  Lehre. 

Die  Lehre  der  Socinianer  ist  übersichtUch  und  ausführlich  zu- 
sammengestellt in  dem  Rakauer  Katechismus  (1609)^.  Die  Anlage 
und  die  Ausführlichkeit  desselben  ist  bereits  charakteristisch.  Die  Reli- 
gion ist  das  vollständige  und  richtige  Wissen  um  die  heilsame  Lehre. 
Darin  sind  die  Socinianer  mit  den  Epigonen  der  Reformation,  die  auch 
aus  der  Kirche  eine  Schule  machen  wollten,  einig.    Dieser  Grundsatz 

^  Ueber  den  Socinianismus  s.d.  Protest. Symboliken;  Rambach,  Hist.  u.  theol. 
Eiul.  i.  d.  Kelig.-Streitigk.  d.  ev.  K.  m.  d.  Soc.  2  Tbl.  1753.  Ausser  dem  AVerk  von 
Fock  auch  Ritschi,  Rechtf.  u.  Versöhn.  1.  Aufl.  I  S.  311—337. 

^  S.  Gesch.  Studien  z.  christl.  Lehre  v.  Gott,  3.  Art.  i.  d.  Jahrbb.  f  deutsche 
Theol.  XIII  S.  268  ff.  283  ff.  u.  Rechtf.  u.  Versöhn.  I  a.  a.  0. 

^  Ich  citire  nach  der  Ausgabe  Irenopoli  post  annum  1659. 


I 


Die  socinianische  Lehre.  669 

führt  conseqiient  dazu,  Allen  die  christliche  Religion  abzusprechen,  die 
dieses  Wissen  nicht  haben.     So  weit  gingen  einige  Lutheraner  des 
17.  Jahrhunderts.    Allein  Faustus  will  den  Gedanken,  dass  es  neben 
seiner  Kirche  andere  christliche  Kirchen  giebt,  behaupten :  er  ist  tole- 
rant.   Neben  der  Definition,  welche  die  Kirche  auf  die  einschränkt, 
welche  die  doctrina  salutaris  haben,  steht  die  Anerkennung  der  anderen 
Kirchen.    Aber  worin  besteht  denn  jene  doctrina  salutaris,  wenn  doch 
der  grösste  Gegensatz  zwischen  dem  Socinianismus  und  der  Lehre  der 
anderen  Kirchen  herrscht?   Faustus  hat  es  unterlassen,  das  anzugeben. 
Der  Katechismus  ist  so  schulmässig  wie  möglich  angelegt  —  eine 
Unterweisung,  um  Theologen  zu  bilden.  Er  beginnt  nach  der  Definition: 
„Religio    Christiana  est   via  a  deo  per  Jesum  Christum  monstrata 
vitam  aeternam  consequendi",  mit  der  Frage,  wo  dieser  Weg  zu  lernen 
ist,  und  antwortet :  „Ex  sacris  Htteris,  praesertim  Novi  Testamenti." 
Das  NT.  wird   nun  an   die  Spitze   der  Religionslehre  gestellt.    Alle 
schwarmgeistigen  Elemente  sind  überwunden.   Positiver  und  trockener 
als  es  im  Socinianismus  geschieht,  kann  das  NT.  als  die  allein  mass- 
gebende Autorität,   Quelle  und  Norm  der  Religion  nicht  verkündet 
werden.    Die  christliche  Religion  ist  Theologie  des  Neuen 
Testamentes.     Hierin  liegt  der  positive  Charakter  begründet,  den 
Faustus  seiner  Schöpfung  zu  geben  verstanden  hat,  freilich  eine  Posi- 
tivität,  die  erschrecklich  ist,  sobald  man  daran  denkt,  was  die  Religion 
wirkhch  ist.    Alles  Wissen  des  Göttlichen  ist  von  Aussen  her  gewirkt 
und  liegt  lediglich  beschlossen  in  dem  einmal  gegebenen  Buche.  Nicht 
Christus  ist  die  Offenbarung  in  dem  Buche,  sondern  „in  dem  Buche 
hat  Gott  sich  selbst,  seinen  Willen  und  den  Weg  zum  Heil  offenbar 
gemacht"  (p.  5).    Wenn  man  sich  hier  erinnert,  dass  sich  bei  Calvin 
ähnhche  Aeusserungen  finden,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass  Calvin 
so  wenig  wie  irgend  ein  anderer  der  Reformatoren  jemals  übersehen  hat, 
dass  die  Bibel  dem  Glauben  gegeben  ist.  Allein  davon  findet  sich  bei 
Faustus  nichts.    Es  ist  nicht  einmal  ein  Ansatz  gemacht,  die  in  der 
Bibel  enthaltene  äussere  (Jfi'enbarung  mit  dem  Wesen  der  Religion  zu 
vermitteln;  vielmehr:  dort  das  Buch,  hier  der  menschliche  Ver- 
stand. Dieser  ist  in  Wahrheit  das  zweite  Princip  der  socinianischen 
Dogmatik,  die  man  desshalb  nicht  mit  Unrecht  als  supranaturalen  Ratio- 
nalismus bezeichnet  hat.    Nicht  der  Mensch,  der  nach  Gott  verlangt, 
der,  in  Sünde  und  Schuld  verstrickt,  Frieden  und  Sehgkeit  entbehrt, 
steht  der  in  der  Bibel  niedergelegten  Offenbarung  gegenüber,  sondern 
einfach  der  Mensch  als  sterbliclies,  aber  vernünftiges  AVesen,  der  nach 
ewigem  Leben  ausschaut.    Die  Religion  ist  eine  Angelegenheit 
des   vernünftigen   Menschen.     Ue])er   diese   höclist  allgemeine. 


f)70       Die  Ausfränpo  des  Dogmas  im  Antitriiiitarismus  und  Socinianismus. 

zweifellos  sichere  Erkeiintniss  führt  Faustus  den  Religionshegriff  nicht 
hinaus.  Er  erinnert  darin  und  in  seinem  Bihlicismus  an  die  antioche- 
nischen  Theologen. 

Die  Sectio  I  des  Katechismus  ist  ganz  der  hl.  Schrift  gewidmet. 
In  dem  ersten  Oa])it(^l  wird  von  der  „certitudo  sacrarum  litterarum" 
gehandelt  (p.  1 — 10).  Hier  werden  zuerst  äussere  Gründe,  zum  Theil 
höchst  zweifelhafter  Art,  für  die  Zuverlässigkeit  der  hl.  Sclnift  geltend 
gemacht.  Dann  wird  an  die  Undenkharkeit  ai)pelhrt,  dass  (xott  die  Ver- 
fälschung des  Buchs,  in  welchem  er  sich  seihst,  seinen  Willen  und  den 
Heilsweg  offenbart  habe,  zugelassen  haben  sollte.  SchliessHch  aber 
wird  doch  der  Versuch  gemacht,  die  Glaubwürdigkeit  des  Buchs  viel- 
mehr aus  der  Wahrheit  der  christlichen  Religion  zu  erweisen:  das 
Buch  sei  wahr,  weil  es  die  einzige  Quelle  für  die  wahre  Religion  ist. 
Aber  warum  ist  die  christliche  ReHgion  wahr?  Weil  ihr  Stifter  gött- 
lich (divinus)  gewesen  ist.  Wie  lässt  sich  das  beweisen?  Aus  seinen 
Wundern,  w^elche  die  Juden  selbst  bezeugen  und  die  nicht  dämonisch 
gewesen  sein  können,  weil  Christus  ein  Feind  des  Teufels  war,  und  aus 
seiner  Auferstehung.  Die  Auferstehung  aber  ist  aus  dem  Zeugniss 
derer,  die  ihn  gesehen  haben  und  für  diesen  Glauben  in  den  Tod  ge- 
gangen sind,  zu  erhärten.  Man  hat  nur  die  Wahl,  die  Jünger  und  alle 
folgenden  Christen  für  verrückt  zu  halten  oder  an  die  Auferstehung 
Christi  zu  glauben.  Ferner  aber  liefert  die  Geschichte  der  christlichen 
Religion  einen  Beweis  ihrer  Wahrheit :  wie  hätten  sie  so  Viele  unter 
Verzicht  auf  alle  irdischen  Güter  und  unter  der  gewissen  Aussicht  auf 
Elend,  Schmach  und  Tod  annehmen  können,  wenn  nicht  die  Aufer- 
stehung Christi  eine  Wahrheit  wäre.  Endlich  erweist  sich  die  Wahr- 
heit der  christlichen  Religion  ex  ipsius  religionis  natura;  denn  sowohl 
die  Gebote  als  die  Verheissungen  dieser  Religion  seien  so  hoch  und 
überstiegen  den  Geist  des  Menschen  so  sehr,  dass  sie  nur  Gott  zum 
Urheber  haben  können:  „nam  illa  quidem  caelestem  vitae  sanctimoniam, 
haec  vero  caeleste  et  aeternum  hominis  bonum  comprehendunt."  Hier- 
auf w^erden  noch  weitere  Gründe  aus  den  „initiis,  progressu,  vi  et 
effectis"  dieser  Religion  für  ihre  Wahrheit  geltend  gemacht.  Aber  in 
Bezug  auf  die  „vis  et  effectus"  weiss  der  Katechismus  nichts  Anderes  zu 
sagen  als:  „primo  quod  haec  religio  nullo  consilio  nee  astu,  nulla  vi 
nullaque  hominum  potentia  supprimi  potuerit;  deinde  quod  omnes  pris- 
cas  religiones  sustulerit,  excepta  Judaica,  quam  illa  pro  eiusmodi  agno- 
vit  quae  a  deo  profecta  fuerit,  licet  ad  (^hristi  tamquam  perfectioris 
pietatis  magistri  adventum  solummodo  vigere  debuerit".  Dies  Alles 
gilt  nur  vom  NT.  Tn  kürzester  Weise  wird  die  Zuverlässigkeit  des  AT. 's 
im  letzten  Absatz  bewiesen:  die  wahrhaftigen  Schriften  des  NT. 's  be- 


Die  socinianische  Lehre.  671 

zeugen  das  AT.,  also  ist  es  gleichfalls  zuverlässig.  Religiös  werthvoll 
in  dieser  ganz  abstracten  Darlegung  ist  fast  nichts  als  die  Unterschei- 
dung des  A.  und  NT. 's.  Aber  eben  diese  wird  am  Schluss  wieder  auf- 
gehoben. Augenscheinlich  hat  Faustus  nicht  den  Muth  gehabt,  das 
AT.  offenkundig  zu  verwerfen  und  auch  nicht  die  Fähigkeit  besessen, 
ein  Stufenverhältniss  zwischen  AT.  und  NT.  nachzuweisen.  Die  ratio- 
nale Darlegung  des  absoluten  AVerthes  der  hl.  Schrift  ist  aber  bei  ge- 
nauerer Betrachtung  höchst  unsicher  und  darum  irrational.  Sie  ist  der 
erste  und  desshalb  bedeutungsvolle  Versuch,  die  Autorität  der  hl.  Schrift 
zu  begründen,  ohne  den  Glauben  in  Anspruch  zu  nehmen: 
die  Xcf.zpä(x  soll  sich  als  Xo^^iy^-q  erweisen,  aber  leider  nur  als  XoYizfj. 
Welch'  ein  Unternehmen,  dass  eine  Kirche  sich  solch'  einen  Katechis- 
mus giebt:  man  muss  bis  auf  die  Zeiten  Abälard's,  ja  der  Apologeten 
zurückgehen,  um  etwas  Aehnliches  in  der  Kirchengeschichte  zu  finden! 
Trivial  erscheint  erst  unserem  Zeitalter  diese  Weisheit,  nachdem  sie 
das  18.  Jahrhundert  vielfältig  wiederholt  hat.  Trivial  war  sie  am  Anfang 
des  17.  Jahrhunderts  wahrlich  nicht,  aber  entblösst  von  allem  religiösen 
Sinn  und  im  Grunde  doch  nicht  „logischer"  als  die  Katechismen  der 
Gegner.  —  Die  beiden  folgenden  Capitel  (de  sufficientia  et  perspicuitate 
S.  S.  p.  11 — 17)  sind  nach  derselben  Methode  behandelt.  Die  Schrift 
ist  sufficient,  weil  der  Glaube,  der  in  der  Liebe  thätig  ist,  „quantum 
satis"  in  ihr  enthalten  ist.  Auf  die  Frage,  inwiefern  das  vom  Glauben 
gilt,  wird  geantwortet:  „In  der  Schrift  ist  aufs  vollkommenste  der 
Glaube  gelehrt,  dass  Gott  existirt  und  ein  Yergelter  ist.  Dies 
aber  und  nichts  Anderes  ist  der  Glaube,  der  auf  Gott  und 
Christus  zu  setzen  ist."  Wer  erinnert  sich  hier  nicht  der  nomi- 
nalistischen  Theologen  und  jener  Päpste  (Innocenz  IV.),  die  behauptet 
haben,  wirklichen  Glauben  brauche  der  Christ  nur  an  Gott  als  Vergelter 
zu  haben,  in  Bezug  auf  die  übrigen  Lehren  genüge  die  fides  implicita ! 
Die  fides  imphcita  ist  abgestreift  —  der  Socinianismus  ist  fertig !  Die 
Gebote  der  Liebe  werden  im  Folgenden  dem  (klauben  völlig  gleichge- 
stellt^ dann  aber  wird  die  Frage  aufgeworfen,  ob  denn  die  Vernunft  in 
der  Religion  nöthig  sei,  wenn  die  Bibel  Alles  aufs  vollkommenste  ent- 
hält. Hierauf  lautet  die  Antwort:  „Immo  vero  magnus  rectae  rationis 
in  rebus  ad  salutem  spectantibus  usus  est,  cum  sine  ea  nee  sacrarum 
htterarum  autoritas  certo  deprehendi,  nee  ea,  quae  in  illis  continentur, 
intelligi,  nee  alia  ex  aliis  colli gi,  nee  deni(jue  ad  usum  revocari 
possiiit.  Itaque  cum  sacras  litteras  sufficere  ad  salutem 
dicimus,  rectam  rationem  noii  tantum  non  excludimus, 
sed  omnino  includimus."  Wie  kindlich  setzt  hier  der  klare  Ver- 
stand in  der  Religion  ein!  Gewiss  gehört  er  irgendwie  zu  ihr,  und  es  be- 


672       r>i^'  Ausoän^e  des  Dogmas  im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus. 

zeichnet  einen  weltgeschichtlichen  Fortschritt  der  Theologie,  dass  man 
all'  die  Lasten,  welche  die  alte  Welt  auf  die  christliche  lieligion  gehäuft 
hat,  ihre  Mystik,  ihren  Platonisnius,  ihr  gesammtes  AYelterkennen,  ab- 
stossen  will,  um  die  aus  ihren  klassischen  Grundlagen  abzuleitende 
Religion  allein  vor  dem  gesunden  Menschenverstand  zu  rechtfertigen. 
Aber  naiver  kann  man  sich  niclit  ausdrücken,  als  der  Katechismus  es 
gethan  hat:  „rationem  includinms".  Wobei  schliessen  wir  sie  ein?  was 
ist  das  für  eine  ratio,  die  nicht  ausgeschlossen  werden  darf?  wo  tritt  sie 
ein,  und  welcher  Spielraum  kommt  ihr  zu?  Auf  diese  Fragen  hat  man 
erst  seit  Kant  zu  antworten  begonnen.  Bis  dahin  war  der  Kampf 
zwischen  den  Socinianern  und  ihren  Gegnern  eine  Nyktomachie.  Der 
Katechismus  lehnt  hierauf  die  „Traditionen"  ab  und  polemisirt  dabei 
gegen  die  römische  Kirche.  In  dem  Abschnitt  über  die  Deutlichkeit 
der  hl.  Schrift  ist  der  Unterschied,  der  zwischen  dem,  was  zum  Heil 
nothwendig  ist,  und  dem  Uebrigen  gemacht  wird,  von  Wichtigkeit. 
Ueberhaupt  zeigt  sich  hier  der  Vorzug  der  verständigen  Betrachtung '. 
Die  Sectio  II  (p.  18 — 23)  handelt  vom  Heilsweg.  Der  Mensch 
konnte  denselben  trotz  seiner  Vernunft  von  sicli  aus  nicht  finden,  weil 
er  sterblich  war  (hier  erscheint  das  altkirchliclie  Element  unverhüllt). 
Der  Katechismus  legt  das  grösste  Gewicht  darauf  (vgl.  die  nomina- 
listische  Doctrin),  dass  Adam  als  sterblicher,  aller  Unbill  unterworfener 
Mensch  geschaffen  worden  sei.  Das  Ebenbild  Gottes  bestand  lediglich 
in  der  Herrschaft  über  die  Thiere  (der  stärkste  Gegensatz  zu  Augustin, 
Thomas  und  Luther,  zugleich  eine  Betrachtung,  die  jeden  religiösen 
Gedanken  bei  Seite  setzt).  Die  Schriftstellen,  nach  welchen  der  Tod 
durch  die  Sünde  in  die  Welt  gekommen  ist,  werden  durch  die  Exegese 
escamotirt:  Rom.  5,  12  handelt  nicht  von  der  Sterblichkeit,  sondern 
von  dem  ewigen  Tode.  Erst  in  zweiter  Linie  wird  auf  den  Sündenfall 
verwiesen:  der  Mensch  ist  auch  desshalb  dem  Tode  verhaftet,  w^eil 
Adam  ein  offenkundiges  Gebot  Gottes  übertreten  hat:  „unde  porro 
factum  est,  ut  universam  suam  posteritatem  secum  in  eadem  mortis 
iura  traxerit,  accedente  tamen  cuiusvis  in  adultioribus  proprio  delicto, 
cuius  deinde  vis  per  apertam  dei  legem,  quam  homines  transgressi  fue- 
rant,  aucta  est."  Klar  ist  diese  Ausführung  nicht.  Auf  die  Frage  aber, 
warum  denn  der  Mensch,  mag  er  auch  sterblich  sein,  den  Heilsweg 
nicht  selbst  habe  finden  können,  wird  eine  Antwort  gegeben,  die  bereits 


^  Ueber  Religion,  hl.  Schrift  und  Vermmft  s.  Fock,  a.  a.  O.  S.  291— 41S. 
Indem  die  Bibel  und  die  Vernunft  (letztere  als  receptives  und  kritisches  Oriran) 
als  die  Fundamente  der  christlichen  Religion  hingestellt  wurden ,  lautete  bei  den 
Socinianern  die  Losung,  das  Christenthum  sei  supra,  nicht  contra  ratiouem.  Die 
nominalistische  Doctrin  hatte  das  „contra  rationem"  gelehrt. 


I 


Die  socinianische  Lehre.  673 

den  scotistischen  Gottesbegriif  völlig  enthüllt:  „quia  et  tantum  praemi- 
um  et  certa illud  consequendi  ratio  ex  solo  dei  arbitrio  ac  consilio 
pependit;  dei  autem  consilia  ac  decreta  ipso  non  revelante  quis  homi- 
num  indagare  ac  certo  potest  cognoscere"  ?  Diese  Antwort  klingt  sehr 
religiös;  aber  die  grossen  Moralisten  haben  hier  von  dem  Sittengesetz 
ganz  abgesehen:  der  Heilsweg  ist  lediglich  durch  die  Willkür 
Gottes  bestimmt.  Wie  aber  ist  er  beschaffen ? *  Der  Katechismus 
antwortet  correct  evangelisch  mit  Job.  17,  3.  Aber  worin  besteht  die 
Erkenntniss  Gottes  und  Christi?  „Per  cognitionem  istam  non  nudam 
aliquam  et  in  sola  speculatione  consistentem  dei  et  Christi  notitiam  in- 
telligimus,  sed  —  cum  suo  effectu,  h.  e.  vita  illi  conformi  ac  con- 
veniente  coniunctam ;  denn  so  lehre  I  Joh.  2,  3  f.  Damit  vergleiche 
man,  was  Luther  an  dieser  Stelle  ausgeführt  hat,  um  sich  davon  zu 
überzeugen,  dass  der  Socinianismus  nichts  mit  der  Reformation  gemein- 
sam hat.  Es  ist  ültrakatholicismus,  was  er  hier  lehrt:  vom  Glau- 
ben (dem  Fürchten,  Lieben  und  Vertrauen)  ist  gar  nicht  die  Rede, 
sondern  lediglich  von  der  notitia  dei  et  Christi  und  dem  heiligen  Leben. 
Die  Sectio  III  (p.  23 — 45)  handelt  von  der  Erkenntniss  Gottes, 
als  dem  „supremus  rerum  omnium  dominus".  Hier  begegnet  man 
überall  scotistischen  Gedanken.  Man  kann  die  Vorstellung,  dass  Gott 
die  absolute  Willkür  ist  und  dass  diese  Eigenschaft  die  höchste  ist,  die 
sich  von  ihm  aussagen  lässt,  nicht  schärfer  formuliren  als  in  dem  Satze 
(p.  23):  „lus  et  potestas  summa,  ut  de  ceteris  rebus  omnibus,  ita  et  de 
nobis  quicquidvelitstatuendi,  etiaminiis,  ad  quae  nulla  alia  potestas  per- 
tingit,  ut  sunt  cogitationes  nostrae,  quamvis  in  intimis  recessibus  cordis 
abditae,  quibus  ille  pro  arbitrio  leges  ponere  et  praemia  ac 
poonas  statuere  potest."  Wie  hoch  steht  doch  noch  Thomas  über 
diesem  Gottesbegriff!  Der  Gedanke,  dass  Gott  das  Wesen  ist,  auf  das 
man  sich  verlassen  kann,  ist  den  Socinianern  unbekannt.  Sehr  sicher 
wird  dagegen  die  Lehre  von  der  Einheit  Gottes  durchgeführt,  freilich 
mit  der  tertullianischen  (s.  d.  Schrift  adv.  Prax.),  resp.  arianischen  Ein- 
schränkung, welche  die  cigcnthümliche  socinianische  Christologie  vor- 
bereiten soll  (p.  25) :  „Nihil  prohibet,  quominus  illo  unus  deus  Imperium 
potestatomque  cum  aliis  communicare  possit  et  communicaverit,  licet 
scriptura  asscrat,  cum  solum  esse  qui  sit  potens  ac  dominator"  ^.    Die 


1  Der  Heilswo^  hat  zum  Ziel  die  vita  aotcrna;  da  dor  Mensch  von  Natur 
sterblich  ist,  so  führte  ihn  (iott  duroli  die  christliclie  Religion  in  eine  neue  Seins- 
weise. Dies  wäre  nöthig  gewesen,  auch  wenn  die  Sünde  nicht  eingetreten  wäre. 
Wir  haben  hier  eine  vollkommene  Wiederholung  der  Lehre  Theodor's  (von  Mops- 
veste)  von  den  beiden  Katastaserr,  s.  Bd.  TT  S.  151  f. 

*  Dazu  p.  32,  wo  rielitig  naeligt; wiesen  wird,  dass  das  Wort  „(iott"  in  der 
H  a  r  n  a  (;  k  ,  DoKiTH^nKeHchichtc  ilJ .  43 


674       l^it^  Ausfj^äuß^e  des  Dop^mas  im  Aiititrinitarismus  und  Socinianismus. 

Eigenschaften  Gottes  werden  dann  in  ganz  äusserlicher  Weise,  d.  h. 
ohne  Beziehung  auf  den  Ghiuben  abgehandelt.  Die  alte  schohistische 
Methode  ist  hier  völlig  hohl  geworden:  Gottes  Ewigkeit  ist  Anfangs- 
und Endlosigkeit,  seine  Alhnacht  hat  nur  an  der  contradietio  in  adiecto 
ihre  Grenzte  (p.  26).  Auf  die  Frage,  inwiefein  die  notitia  der  göttHchen 
Eigenschaften  zum  Heile  nothwendig  ist,  wird  eine  Reihe  von  Antworten 
gegeben,  die  sännntlich  eine  nur  lose  Beziehung  zu  dem  Glauben  haben. 
Es  ist  doch  nur  ein  künmierhcher,  ja  bedenklicher  Ansatz,  wenn  es 
p.  27  sq.  heisst,  zu  glauben,  dass  Gott  „sunnne  iustus"  sei,  seidesshalb 
zum  Heil  nothwendig,  damit  wir  überzeugt  würden,  dass  er  seine  Ver- 
sprechungen halten  werde,  oder  wenn  p.  28  an  Gottes  hohe  Weisheit 
zu  glauben  darum  für  nothwendig  erachtet  wird,  „ut  nihil  dubitemus, 
etiam  cor  nostrum,  quo  ad  perscrutandum  nil  est  difficilius,  illi  prorsus 
et  semper  perspectum  atque  cognitum  esse,  e  quo  etiam  obedientia 
nostra  potissimum  aestimatur".  Dagegen  nicht  für  nothwendig, 
sondern  nur  für  „vehementer  utile"  zum  Heil  - —  eine  schlimme  üonces- 
sion  —  wird  die  Verwerfung  der  Trinitätslehre  gehalten  *  (p.  30).  Der 
Beweis,  der  gegen  sie  geliefert  wird,  ist  in  erster  Linie  Vernunftbeweis 
(essentia  =  persona),  in  zweiter  Schriftbeweis.  Hier  haben  die  Socinianer 
Treffliches  geleistet  und  die  Exegese  vom  Bann  des  Dogmas  befreit. 
Die  Ausführungen,  namentlich  die  exegetisch-polemischen,  sind  grössten- 
theils  unwiderleglich.  Aber  andererseits  —  auf  das  Grundbekenntniss, 
welches  die  Schriftaussagen  beherrscht,  sind  die  Socinianer  so  wenig  ein- 
gegangen, wie  auf  die  religiösen  Tendenzen,  welche  die  kirchliche  Lehre 
bestimmt  haben  2.  Die  Schlussausführung,  welche  den  Nachweis  er- 
bringen will,  dass  die  kirchliche  Trinitätslehre  gefährlich  und  die  socinia- 
nische  Gotteslehre  „sehr  nützlich  zum  Heil"  sei,  ist  nicht  unrichtig, 
aber  sehr  matt^.    In  dem  sich  daran  anschüessenden  kurzen  Capitel 

Schrift  eine  doppelte  Bedeutung  habe,  1)  als  Princip  und  Herr  aller  Dinge,  2)  „euni 
denotat,  qui  pote&tatem  aliquam  sive  caelestem  sive  in  terris  inter  homines  summani, 
aut  qui  potentiam  virtutemque  omni  humana  niaiorem  ab  uno  illo  deo  habet  et  sie 
deitatis  unius  illius  dei  aliqua  ratione  particeps  est." 

*  S.  auch  p.  40:  haec  opinio  (die  Trinitätslehre)  damnare  non  videtur  euni, 
cui  nulla  erroris  suspicio  mota  est."  Das  ist  auch  katholisch  gedacht  (die  niateriale 
Häresie  verdammt  nicht,  sondern  nur  die  formale). 

"  S.  Fock  n  S.  454 — 477,  dessen  Kritik  der  Kirchenlehre  und  des  Sociuia- 
nismus  aber  durch  Hegel's  Philosophie  bestimmt  ist. 

^  „Ista  opinio  primum  unius  dei  fidem  facere  convellere  et  labefactare  potest 
.  .  .  secundo  gloriam  unius  dei,  qui  tantum  pater  Christi  est,  obscurat,  dum  eam  ad 
aliud,  qui  pater  non  est,  transfert;  tertio  ea  quae  deo  illi  uno  et  summo  sunt  indigna 
continet,  deum  seil,  illum  uuum  et  altissimum  alicuius  esse  filium  vel  spiritum  et  sie 
habere  patrem  et  sui  auctorem  etc.  .  .  .  denique  alieuis  a  religioue  Christiaua 
magno  est  ad  eam  amplecteudam  impedimenio"  (p.  38  sq.). 


Die  socinianische  Lehre.  675 

über  „den  "Willen  Gottes"  ist  die  Zusammenstellung  dessen,  was  die 
Menschen  bereits  ante  legem  et  per  legem  vom  göttlichen  Willen  ge- 
wusst  haben,  lehrreich.  Ante  legem  wussten  sie  bereits  1)  die  Schöpfung 
der  Welt  aus  Gott,  2)  die  Providentia  dei  de  singulis  rebus  (!),  3)  die 
remuneratio  eorum,  qui  ipsum  quaerunt.  „In  hoc  vero  tertio  membro 
comprehenditur  cognitio  quaedam  eorum,  quae  deo  grata  sunt  et  quo- 
rum  observatione  ipsi  obeditur,  quorum  ohm  et  ante  legem  cognitorum 
nullum  in  ipsa  lege  Mosis  fuisse  praetermissum  consentaneum  est" 
(p.  42  sq.)*.  Per  legem  erfuhren  sie  den  Dekalog.  Den  Glauben  an 
die  Vorsehung  Gottes  rechneten  also  auch  die  Socinianer  zu  den  vor- 
christlichen Erkenntnissen. 

In  Sectio  IV  (p.  45 — 144)  folgt  die  Erkenntniss  der  Person  Christi. 
An  diesem  angefochtensten  Punkt  ist  der  Katecliismus  am  ausführhch- 
sten.  Was  die  Nominalisten  als  Hypothese  ausgesprochen  hatten,  dass 
Gott  uns  auch  durch  einen  Menschen  erlösen  könne,  das  wird  hier,  da 
die  Autorität  der  kirchlichen  Tradition  weggefallen  ist,  als  wirklich  ge- 
nommen. In  der  That  hat  der  Socinianismüs  auch  keinen  Grund,  von 
seinen  Prämissen  aus  die  Gottheit  Christi  anzuerkennen,  und  wenn  man 
die  Evangelien  vor  das  öde  Dilemma  stellt,  war  Christus  ein  Gott  oder 
ein  Mensch,  so  kann  die  Antwort  nicht  zweifelhaft  sein.  Zu  der  Frage- 
stellung aber,  ob  Christus  nicht  „mein"  Gott  ist,  ob  er  nicht  derjenige 
ist,  an  dem  uns  Gott  offenbar  ist,  ist  der  Socinianismüs  nicht  gekommen. 
Auch  in  diesem  Abschnitt  über  Cliristus  hat  er  nicht  vom  Standpunkt 
der  durch  Christus  von  Sünde  und  Tod  erlösten  Gemeinde  seine  Be- 
stimmungen getroffen.  Die  negative  Kritik  ist  auch  hier  fast  durchweg 
unwiderleglich,  zum  Theil  meisterhaft;  die  positiven  Aufstellungen 
über  das,  was  Christus  den  Seinigen  ist,  bleiben  an  Gehalt  hinter  den 
fadenscheinigsten  Lehren  der  abgestumpftesten  Scholastiker  zurück: 
Christus  ist  ein  sterblicher  Mensch,  der  unsterblich  geworden  ist,  aber 
kein  gewöhnlicher  Mensch ;  denn  er  ist  von  Anfang  an  durch  die  wunder- 
bare Zeugung  eingeborener  Gottessolm  gewesen ,  ist  vom  Vater  ge- 
heiligt und  in  die  Welt  gesandt,  mit  göttlicher  Weisheit  und  Macht  aus- 
gerüstet, auferweckt  („sie  denuo  veluti  genitus,  praesertim  cum  hac 
via  immortalitate  deo  similis  evaserit")  und  schliesslich  zu  Gott  gleicher 


'  Auf  die  Frage,  warum  es  iiötliig  Ist,  zu  wissen,  dass  (lott  die  Welt  ge- 
fjclian'en  liat,  heisst  es  kurz  und  ])ündifr:  1)  „quod  deus  velit,  ut  id  credainus  eaque 
res  ad  sunmiarn  dei  gloriam  pertineat",  2j  „(juod  nisi  certo  id  nobis  persuasum 
esset,  nullani  causam  haberemus  credendi,  talcni  esse  de  rebus  omnibus  dei  provi- 
dentiam,  qualem  ante  diximus  atque  ea  ratione  animum  ad  ei  obedienduni  non  in- 
duceremus."  Das  Erste  ist  scotistisch,  das  zweite  jedenfalls  nicht  vom  Standpunkt 
dos  Glaubens  aus  geredet. 

43* 


676       r)it^  Ausgänge  des  Dopfmas  im  Antitrinitarismus  und  Socinianismus. 

Macht  eingesetzt  worden.  Schon  auf  Erden  weilend  war  er  „Gott"  (der 
göttUchen  Macht  und  Kraft  wegen,  die  in  dem  SterbUchen  aufleuchtete) ; 
jetzt  aber  ist  er  dies  in  noch  viel  höherem  Grade.  Dass  sich  diese  Aus- 
sagen, sofern  sie  ein  Signalement  Jesu  geben,  mit  biblischen  Zeugnissen 
ungefähr  decken,  ist  o[feid)ar ;  aber  ebenso  offenbar  ist  auch,  dass  sie  völlig 
werthlos  sind,  da  sie  kuHglich  als  exegetischer  Befund  festgestellt  und 
dem  Glauben  als  Gesetz  auferlegt  werden.  Das  viel  kürzere  und  viel 
schlichtere  Zeugniss  des  Paulus:  „Niemand  kann  Jesum  einen  Herrn 
heissen  ohne  durch  den  hl.  Geist",  ist  unendlich  viel  werthvoller,  weil 
es  das  Bekenntniss  zu  Christus  nur  als  gottgewirktes  kennt  und  da- 
mit die  Christologie  dortliin  setzt,  wohin  sie  gehört.  Der  Socinianismus 
aber  verfährt  wie  die  alte  Schule.  Er  stellt  allem  zuvor  die  Lehre  von 
der  Person  Christi  aus  der  Schrift  fest;  jene  benutzte  dazu  Schrift  und 
Tradition  und  war  dabei  im  Vortheil ;  denn  sie  erhielt  aus  der  Tradition 
Richtlinien.  Der  Socinianismus  achtete  nur  darauf,  die  Schriftlehre 
exegetisch  zu  erheben  und  dabei  nicht  in  zu  starken  Conflict  mit  der 
Vernunft  zu  gerathen. 

Fasst  man  die  socinianische  Lehre  von  der  Person  und  dem  Werke 
Christi  zusammen,  so  lautet  sie  in  Kürze  also:  Gott  hat  kraft  eines 
freien  Beschlusses  festgestellt,  dass  die  sterbHchen  Menschen  in  einen 
neuen,  ihrem  natürlichen  Wesen  fremden  Zustand  erlioben,  d.  h.  zum 
ewigen  Leben  geführt  werden  sollen  (zweite  Katastase).  Ebenfalls 
kraft  eines  freien  Entschlusses  hat  er  dazu  den  Menschen  Jesus  erweckt, 
den  er  durch  die  wunderbare  Geburt  mit  göttlichen  Kräften  ausgerüstet 
hat.  Dieser  Mensch  hat  als  Prophet  die  vollkommene  göttliche  Ge- 
setzgebung gebracht,  sofern  er  den  Dekalog  erklärt  und  vertieft  hat;  er 
hat  ferner  die  Verheissung  des  ewigen  Lebens  sicher  ausgesprochen  und 
endlich  das  Beispiel  des  vollkommenen  sittlichen  Lebens  gegeben, 
welches  er  in  seinem  Tode  bestätigt  hat.  „Er  überschreitet  die  Stufe 
des  AT. 's,  indem  er  das  mosaische  Gesetz  reformirt  und  ihm  neue 
Sittengebote  und  sacramentale  Anordnungen  hinzugefügt,  indem  er 
durch  die  Verheissungen  des  ewigen  Lebens  und  des  hl.  Geistes  einen 
starken  Impuls  zu  deren  Beobachtung  verliehen,  und  indem  er  die  all- 
gemeine Absicht  Gottes  versichert  hat,  den  Reuigen  und  der  Besserung 
Beflissenen  die  Sünden  zu  vergeben.  Allerdings  kann  nun  kein  Mensch 
das  göttliche  Gesetz  vollkommen  erfüllen,  und  desshalb  erfolgt  die 
Rechtfertigung  nicht  durch  Werke,  sondern  durch  den  Glauben.  Aber 
der  Glaube  ist  das  Vertrauen  auf  den  Gesetzgeber,  welches 
den  thatsächlichen  Gehorsam  gegen  denselben,  soweit  er 
den  Menschen  gelingt,  in  sich  schliesst.  Christus  verbürgt  nun 
durch  seine  Auferstehung,  durch  den  Gewinn  der  göttlichen  IVIacht  den- 


Die  socinianische  Lehre.  677 

jenigen,  die  in  diesem  Sinne  von  Glauben  zu  ihm  sich  halten,  zunächst 
die  effective  Befreiung  von  der  Sünde,  in  dem  Masse,  als  sie  seinem 
Impuls  zum  neuen  Leben  und  zur  Besserung  folgen,  weiterhin  die  Er- 
reichung ihres  übernatürlichen  Zieles  und  durch  den  hl.  Geist,  den  er 
verleiht,  die  vorausgehende  Gewissheit  des  ewigen  Lebens,  mit  dessen 
Antritte  auch  die  Sündenvergebung  für  den  Einzelnen  zum  Abschluss 
kommt "  ^  ^ 

Im  Einzelnen  ist  Folgendes  bemerkenswerth :  L  In  der  Lehre  von 
der  Person  Christi  wird  die  Göttlichkeit  Jesu  behauptet,  die  göttHche 
Natur  abgelehnt  (p.  48:  „si  naturae  seu  substantiae  divinae  nomine 
ipsam  dei  essentiam  inteUigimus,  non  agnoscimus  hoc  sensu  divinam  in 
Christo  naturam")  und  die  kirchliche  Anschauung  aus  der  Vernunft  und 
der  Schrift  widerlegt.  Besondere  Schwierigkeiten  machten  den  Soci- 
nianern  hier  die  Stellen  der  hl.  Schrift,  welche  eine  Präexistenz  Christi 
aussagen.  Sie  suchten  zu  zeigen,  dass  viele  Stellen,  genau  betrachtet, 
die  Präexistenz  nicht  enthalten,  und  dass  andere  so  erklärt  werden 
können,  dass  Christus  während  seines  irdischen  Lebens  (wie  Paulus)  in 
den  Himmel  entrückt  worden  sei  und  dort  das  ewige  Leben  geschaut 
und  die  vollkommenen  Gebote  gehört  habe ,  wesshalb  Johannes  von 
ihm  sagen  könne,  er  sei  vom  Himmel  gekommen ;  endlich  müsse  man 
darauf  achten,  dass  Vieles  in  der  Schrift  „figurate"  gesagt  sei  (s. 
p.  48 — 144,  besonders  auch  p.  146  sq.)^. 

2.  Die  Lehre  von  den  drei  Aemtern  liegt  der  socinianischen  Dar- 
stellung des  Werkes  Christi  zu  Grunde.    Am  ausführlichsten  aber  ist 


*  Ritschi,  a.  a,  0,  I  S.  315  f.  Sehr  richtig  fährt  Ritschi  also  fort:  „Hierin 
erscheint  ein  handgreifliches  Merkmal  des  praktischen  Gegensatzes  zwischen  dem 
Socinianismus  und  dem  kirchlichen  Protestantismus.  Hier  gilt  die  Sündenvergebung 
als  das  Princip,  dort  als  entferntere  Folge  des  christlichen  Lebens.  Der  Wider- 
spruch des  Socinianismus  gegen  die  Lehre  von  der  Satisfaction  Christi,  welche  den 
ersteren  (iedanken  begründet,  ist  also  von  diesem  Punkte  aus  erklärlich ;  aber  diese 
socinianische  Schätzung  der  Sündenvergebung  als  Accidens  des  christlichen  Lebens 
ist  zugleich  das  Merkmal  davon,  dass  man  in  Christus  den  Stifter  nicht  einer  Reli- 
gionsgemeinschaft, sondern  einer  ethischen  Schule  anerketint.  Und  wenn  dieser 
Gegensatz  nicht  durchgehends  deutlich  erscheint ,  wenn  vielmehr  zugestanden 
werden  muss,  dass  der  Socinianismus  dennoch  eigenthümlich  religiöse  Ziele,  Richt- 
))urikte  und  Bedingungen  aufstellt,  so  erklärt  sich  dieser  Umstand  daraus,  dass  der 
Socinianismus,  als  erster  Versuch  dor  Darstellung  des  Christenthums  in  der  Rich- 
tung der  ethischen  Schule,  noch  den  Einflüssen  der  bisher  ausschliesslich  geltenden 
Darstellung  des  Christenthums  unterlag,  von  welcher  er  sich  im  Grunde  abge- 
wendet hatte." 

'  Dass  die  Socinianer  die  Ersten  gewesen  sind,  welche  sich  in  Bezug  auf  die 
christologischen  Stellen  des  NT.'s  vom  Bann  der  platonisireriden  Dogmatik  befreit 
haben,  soll  ihnen  unvergessen  bleiben. 


678       I'i^  Ausgänge  des  Dogmas  im  Autitrinitarisraus  und  Sociniauismus. 

(Sectio  V  u.  VI  p.  144  —  316)  das  prophetische  Amt  behandelt.  In 
Wahrheit  ist  das  ganze  Werk  (Jhristi,  soweit  es  den  Socinianern  deut- 
hch  war,  unter  diesen  Titel  gestellt,  und  man  gewahrt  leicht,  dass  es 
Accoruniüdation  an  die  alte  Lehre  gewesen  ist,  wenn  sie  noch  das  könig- 
liche und  das  hohepriesterhche  Amt  hinzugefügt  haben.  In  dem  Satze, 
dass  Christus  uns  den  göttlichen  Willen  vollkonnnen  offenbart  habe,  ver- 
nuig  der  Sociniauismus  im  Grunde  Alles  zusammenzufassen.  Das  Schema 
des  hohenpriesterlichen  Amtes  dient  wesentlich  der  Widerlegung  der 
kirchlichen  Lehre. 

3.  Für  das  prophetische  Amt  Christi  wird  das  Schema  gewonnen 
(]).  148):  „comprehendit  tum  praecepta,  tum  promissa  dei  perfecta, 
tum  denique  niodum  ac  rationem,  qui  nos  et  praeceptis  et 
promissionibus  dei  conformare  debeamus. "  Dies  gilt  zugleich 
als  der  Inhalt  des  neuen  Bundes,  so  dass  der  Glaube  nicht  einmal 
genannt  wird.  In  dem  ersten  Capitel  wird  nun  von  den  Geboten  ge- 
handelt, die  Christus  dem  Gesetze  hinzugefügt  hat  (p.  149  —  209); 
denn  die  göttlichen  Gebote  bestehen  aus  dem  Dekalog  und  aus  den 
Geboten,  die  demselben  von  Christus  und  den  Aposteln  nach  Ab- 
schaffung des  Ceremonialgesetzes  hinzugefügt  worden  sind.  Diese 
Abschaffung  gilt  als  Umwandelung  der  severitas  und  des  rigor  legis 
in  die  gratia  et  misericordia.  Doch  seien  die  Gebote  in  Bezug  auf 
das  Recht  der  Obrigkeit  gewahrt  geblieben,  „quin  et  ipsa  Christi 
ecclesia  rempublicam  supponit,  cum  non  alibi  quam  in  republica  con- 
gregetur"  (p.  153).  Allein  ganz  sicher  hat  sich  der  Socinianismus 
doch  noch  nicht  über  das  Misstrauen  des  Mittelalters  gegen  den 
Staat  und  die  Rechtsordnungen  erhoben,  wie  namentlich  p.  194  sq. 
zu  erkennen  ist.  Es  folgt  nun  (p.  154  sq.)  eine  Auslegung  des  Deka- 
logs, in  den  (zum  ersten  Gebot)  eine  Auslegung  des  Vater-Unsers 
eingestellt  ist.  Christus  hat  das  Vater-Unser  dem  ersten  Gebote  hin- 
zugefügt; er  hat  aber  ausserdem  als  Zusatz  zu  diesem  Gebote  die 
Anweisung,  ihn  selbst  göttlich  zu  verehren,  gegeben.  Gegenüber  dem 
Nonadorantismus  wird  die  göttliche  Verehrung  Christi  (p.  164 — 176) 
ausführlich  gerechtfertigt  ^    In  dem  zweiten  Capitel  folgt  (p.  209  bis 


*  „Ipsum  etiam  dominum  Jesum  pro  eo,  qui  in  nos  potestatem  habeat  divinam, 
istoque  sensu  pro  deo  agnoscere  ac  porro  ei  confidere  ac  divinum  honorem  ex- 
hibere  tenemur."  Die  Ehre,  die  man  Christus  zu  geben  hat,  besteht  (p.  165)  sowohl 
in  der  adoratio  als  in  der  invocatio.  Dies  wird  aus  der  hl.  Schrift  erwiesen  und  aus 
der  Glaubensüberzeugung,  dass  er  unser  Herr  ist,  der  uns  helfen  kann  und  will. 
Der  betreffende  Abschnitt  gehört  zum  Besten,  was  der  Katechismus  enthält.  Von 
denen,  die  Christum  nicht  anbeten  und  anrufen  wollen,  heisst  es  p.  172  sq.:  „eos, 
qui  id  facere  nolunt,  Christianos  hactenus  nou  esse,  quamvis  alioqui  Christi  uoniou 


Die  socinianische  Lehre.  679 

221)  die  Darlegung  der  besonderen  Gebote  Christi,  sofern  dieselben 
moralischer  Art  sind.     Der  Katechismus    unterscheidet  hier  drei 
Gebote:  1)  zuversichtliche  stetige  Freude  zu  Gott,  unablässiges  Gebet 
in  dem  sicheren  Vertrauen  auf  die  göttliche  Hülfe  im  Namen  Christi 
und  herzliche   Danksagung,  2)  Enthaltung  von   der  Weltliebe  d.  h. 
von   der  Augenlust,   der  Fleischeslust  und   dem   hoffärtigen  Wesen, 
3)  Selbstverleugnung  und  muthige  Geduld.     Besonders  über  die  Ge- 
bote   der  ersten  Gruppe  hat   der  Katechismus  schon  zu   reden  ver- 
standen *,   aber  das,  was  er  hier  ausführt,   ist   in   keine  sichere  Ver- 
bindung mit  Christus  und  mit  dem  Glauben  gesetzt.  In  dem  dritten 
und   vierten   Capitel  (p.  221—228;    228—243)   folgt  die  Darlegung 
der  besonderen  Gebote  Christi,   sofern  dielben    ceremonialer  Art 
sind,   d.  h.  das  Gebot  der  Taufe  und  des  Abendmahls.     Diese  Art 
der    Betrachtung    entscheidet   bereits   über   den    Sinn,   welchen  der 
Socinianismus   diesen   Handlungen    giebt.     Die   Taufe   wird    definirt 
(p.  221)  als  „ritus  initiationis,   quo  homines,  agnita  Christi  doctrina 
et  suscepta  in  eum  fide,    Christo  auctorantur  et  discipulis   eins  seu 
ecclesiae  inscribuntur,  renuntiantes  mundo  .  .  .  profitentes  vero  se 
patrem   et  fihum   et  spiritum  sanctum   pro   unico    duce  et  magistro 
religionis  totiusque  vitae  et  conversationis  suae  habituros  esse  ipsaque 
sui  ablutione   et  immersione   ac  remersione   declarantes  ac  veluti 
repraesentantes,   se   peccatorum    sordes   deponere,    Christo    con- 
sepeliri,  proinde  commori  et  ad  vitae  novitatem  resurgere  velle,  utque 
id  re  ipsa  praestent  sese  obstringentes,  simul  etiam  hac  professione 
et  obligatione  facta   symbolum  et  signum  remissionis  peccatorum 
ipsamque   adeo   remissionem    accipientes.'^     Die  ganz  zuletzt 
—  völlig  unerwartet  und  unvermittelt  —  angefügten  Worte  bezeichnen 
eine  Accommodation '.  Die  Taufe  ist  in  Wahrheit  Bekenntniss,  Ver- 
pflichtung und  Symbol.     Die  Kindertaufe    wird  abgelehnt,   aber  ge- 
duldet^. Die  Duldung  erklärt  sich  daraus,  dass  auf  die  ganze  Cere- 


profitcantur  et  doctrinac  illius  so,  adhacrere  dicant."  Es  folgt  dann  eine  Abweisung 
der  katholischen  Marien-  und  Heiligenverehrung. 

*  Der  Verdacht,  dass  sich  viele  Socinianer  positiver  ausgedrückt  haben  als  sie 
durften,  lässt  sich  überhaupt  schwer  unterdrücken.  Haben  sie  wirklich  die  formelle 
Autorität  der  hl. Schrift  so  hoch  geschätzt,  dass  sie  alles  das  für  wahr  hielten,  was  in 
der  Schrift  stand,  wenn  es  auch  ihrer  exegetischen  Kunst  spottete?  Ich  vermag  mich 
von  dieser  Annahme  nicht  zu  überzeugen  und  glaube,  dass  das  aufklärerische  Ele- 
ment bei  ihnen  stärker  ausgebildet  war,  als  ihre  Schriften  vcrmuthen  lassen.  Der 
charakterlose  aber  scharfblickende  Philologe  Justus  Lipsius  hat  in  seiner  be- 
rühmten Charakteristik  der  christlichen  Confessionen  seiner  Zeit  die  Sociauianer 
als  „hyi)0<;ritae  docti"  bezeichnet.    Faustus  ist  jedenfalls  auszunehmen. 

'  S.  p.  222:  sie  entspricht  nicht  der  Meinung  der  Apostel  ^  aber  sie  ist  auch 


f)80       r)ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Autitriuitarismus  und  Socinianismus. 


monie  überhaupt  nicht  so  viel  ankommt.  Ein  schwerer  Irrthum  ist 
es,  die  regeneratio  mit  der  Taufe  in  Verbindung  zu  setzen.  Der 
Socinianisnms  hat  hier  also  mit  dem  Sacrament  als  Sacrament  auf- 
geräumt. In  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Taufe  (Untertauchen)  wird 
beim  Abendmahl  auf  das  Brotbrechen  der  höchste  Nachdruck 
gelegt,  und  man  kann  nicht  leugnen,  dass  der  Socinianismus  einen 
anerkennenswertlien  Versuch  gemacht  hat,  die  hl.  Handlung  auf  ihren 
ursprünglichen  Sinn  zurückzuführen.  Aber  er  hat  es  auch  hier  in 
latitudinarischer  Weise  vermieden,  das  Letzte  zu  sagen,  resp.  die 
Ceremonie  und  die  Sündenvergebung,  welche  die  Einsetzungsworte 
zusammenlassen,  gänzlich  zu  trennend  An  das  Wort  im  Sacrament 
hat  er  nicht  gedacht:  er  war  auch  hier  kraft  seines  Biblicismus  und 
seines  Gehorsams  gegen  die  willkürlichen  Satzungen  Gottes  und  Christi 
bereit,  das  zu  glauben  und  zu  tlmn,  was  vorgeschrieben  ist.  Die 
Socinianer  erweisen  sich  also  auch  hier  als  mittelalterliche  Christen, 
wenn  sie  auch  die  Sacramente  gestrichen  haben.  Die  Definition  des 
„Brotbrechens'-'  lautet  (p.  228):  „Est  Christi  domini  institutum,  ut 
fideles  ipsius  panem  simul  frangant  et  comedant  et  ex  cahce  bibant, 
ipsius  commemorandi  seu  mortem  eins  annunciandi  causa:  quod  per- 
manere  in  adventum  ipsius  oportet."  Eingesetzt  hat  Christus  diesen 
Ritus,  weil  die  Erinnerung  an  seinen  Tod  die  Erinnerung  an  das 
schwerste  Stück  seiner  Heilsthaten  ist.  Die  katholische,  lutherische 
und  calvinische  Abendmahlslehre  wird  (p.  231)  ausdrücklich  als  irrig 
bezeichnet,  ausführhch  widerlegt  und  ihr  gegenüber  (p.  238  sq.)  die 
symbohsche  als  die  richtige  erwiesen.  Ein  religiöses  Element  wird 
nirgends  hervorgehoben:  die  Ceremonie  des  Brotbrechens  ist  Be- 
kenntniss  zu  Christo  und  Erinnerung.  Nun  folgen  —  noch  immer 
unter  dem  Titel  des  projDhe tischen  Amtes  —  die  beiden  Capitel  über 
die  Verheissung  des  ewigen  Lebens  (p.  243 — 248)  und  des  hl.  Geistes 
(p.  248 — 259).  Die  Sündenvergebung  kommt  hier  nur  in  untergeord- 
neter Weise  vor;  denn  sie  ist  lediglich  Folge  des  christlichen  Lebens. 
Der  Satz:  „in  vita  aeterna  simul  comprehensa  est  peccatorum  remissio" 
(p.  243),  entspricht  dem  alten  Christenthum,  wie  es  sich  seit  den 
Tagen  der  Apologeten  entwickelt  hat,  ist  aber  dem  pauhnisch-luthe- 
rischen    Gedanken:    „Wo  Vergebung   der   Sünden   ist,    da  ist   auch 


,n 


keine  wahre  Taufe,  da  sie  nicht  durch  Untertauchen  geschieht-,  „quem  tarnen  erro- 
rem  adeo  inveteratum  et  pervulgatum,  praesertim  circa  rem  ritualem,  Christiaua 
Caritas  tolerare  suadet  in  iis,  qui  certeroquin  pie  vivant  et  alios,  qui  huic  errori 
renuntiarunt,  non  insectentur,  donec  veritas  magis  magisque  patescat." 

^  lieber  die  Worte  „zur  Vergebung  der  Sünden"  schweigt  der  Katechismus 
einfach.   Bei  der  Taufe  nennt  er  sie  wenigstens. 


Die  socinianische  Lehre.  681 

Leben  und  Seligkeit"  entgegengesetzt.  Dagegen  ist  es  ein  urchrist- 
licher Gedanke,  dessen  Geltendmachung  ein  hohes  Verdienst  des 
Socinianismus  ist,  dass  die  consecutio  Spiritus  sancti  der  vita  aeterna 
vorhergeht  und  dieselbe  bewirkt.  Diesen  Gedanken  hat  Faustus  als 
biblischer  Theologe  wieder  entdeckt  und  ihn  formell  trefflich  durch- 
geführt. Aber  wie  kann  der  Sinn  dieser  consecutio  spiritus  s.  richtig 
und  eindrucksvoll  getroffen  werden,  wenn  die  Sündenvergebung  ganz 
ausser  Betracht  bleibt,  resp.  nur  als  ein  Moment  an  dem  ewigen 
Leben  berücksichtigt  wird  ?  ^  Dieses  selbst  wird  (p.  245)  in  der  ober- 
flächlichsten Weise  beschrieben  —  es  erscheint  als  das  Phlegma  der 
altkirchhchen  Dogmatik:  „vita  nuUo  tempore  finienda,  gaudio  ac 
voluptate  prorsus  divina  in  ipsis  coelis  cum  deo  et  Christo  beatisque 
angelis  agenda."  Anders  kann  das  ewige  Leben  nicht  beschrieben 
werden,  wenn  es  nicht  gemessen  wird  an  dem  Schrecken  und  dem 
Unfrieden  der  Seele,  die  ohne  Christus  an  dem  Gedanken  Gottes 
nur  den  Tod  findet.  Statt  auf  das  ewige  Leben  im  religiösen  Sinn 
einzugehen,  beschäftigt  sich  der  Katechismus  mit  den  scholastischen 
Kinderfragen,  ob  es  schon  im  AT.  verheissen  worden  ist,  ob  auch 
die  Menschen  vor  Christus  selig  werden  konnten,  ii.  s.  w.  Da- 
gegen ist  in  dem  Abschnitt  über  die  Gabe  des  hl.  Geistes  von  Faustus 
aus  dem  NT.  viel  mehr  erhoben  worden,  als  was  er  selbst  zu  ver- 
stehen im  Stande  war.  Sein  Schema:  „Das  äussere  Schriftwort  — 
die  Vernunft"  wird  durchbrochen,  wenn  es  p.  251  heisst,  dass  zwar 
jenes  schon  eine  gewisse  Zuversicht  zu  Gott  wecken  könne,  „verum- 
tamen  ad  inserendam  animis  nostris  firmiorem  et  certiorem  spem, 
cuius  virtute  in  omnibus  tentationibus  invicti  subsistamus,  videtur 
requiri,  ut  ea  promissio  exterius  per  evangehum  proposita,  interius 
a  deo  in  cordibus  nostris  per  spiritum  sanctum  obsignetur."  Allein 
wie  enttäuscht  wird  man  in  dem  gleich  Folgenden,  wo  nachgewiesen 
wird,  dass  der  hl.  Geist  nur  dem  gegeben  werde,  der  be- 
reits dem  Evangelium  glaubt  (p.  252).  Der  Glaube  ist  also 
des  Menschen  eigenstes  "Werk  und  immer  nur  ein  Vorläufiges:  zum 
Glauben  ist  der  hl.  Geist  nicht  nöthig.  Hier  zeigt  sich  wiederum 
die  katholische  Grundstimmung  der  Socinianer  aufs  deuthchste,    und 

^  P.  244  wird  freilich  —  noch  vor  der  Darlegung  über  das  ewige  Leben  —  eine 
Definition  der  Sündenvergebung  gegeben,  die  sehr  weit  zu  reichen  scheint.  Aber 
erstlich  schwebt  Hie  völlig  in  der  Luft  (ohne  jeden  Zusammenhang  mit  dem  Vorher- 
gehenden oder  Folgenden  wird  sie  gegeben) ;  zweitens  lässt  sie  jede  Beziehung  auf 
Christus  und  den  Glauben  vermissen.  Man  kann  hieraus  nur  schliesscn,  dass  die 
„gratuita  a  reatu  ac  poenis  peccatorum  liberatio"  mit  dem  "Werke  Christi  nichts 
zu  thun  hat,  sondern  ein  unmotivirter  Entschluss  Gottes  ist,  den  Christus  unter 
Anderem  mitgetheilt  hat.   Dass  dem  wirklich  so  ist,  darüber  s.  unten. 


f)82       '^i»'  Ausgange  des  Dogmas  im  Autitriuitarismus  uud  Sooiuianismiis. 

dieser  EindriKk  wird  djidurch  nicht  abgeschwächt,  dass  sofort  gegen 
den  KathoHcisnuis,  dvv  den  Id.  (Jeist  für  eine  Person  halte,  lebhaft 
polemisirt  wird  (p.  253  sq.). 

Sehr  lose  sind  an  diese  Ausführungen  über  die  Gebote  und  Ver- 
heissungen  (^'hristi  als  Inhalt  des  prophetischen  Amtes  fünf  Excurse 
angeknüpft,  de  confirmatione  divinae  voluntatis  (p.  259  —  261),  de 
iiiorte  Christi  (p.  261—288),  de  iide  (p.  288—293),  de  libero  arbitrio 
(p.  293 — 316)  und  de  iustiticatione  (p.  316—319).  Man  erkennt  hier 
deuthch  das  Bestreben,  den  ganzen  Stoff  unter  dem  Titel  des  Lehr- 
amts Christi  unterzubringen.  Die  Bekräftigung  der  Offenbarung  des 
göttlichen  Willens  ist  1)  in  der  Sündlosigkeit  Jesu,  2)  in  seinen  Wun- 
dern, 3)  in  seinem  Tode  zu  suchen.  Die  Nothwendigkeit  des  letzteren 
wird  (p.  261  sq.)  aus  verschiedenen  Gründen  gerechtfertigt,  unter  denen 

—  nach  der  Schrift  —  auch  das  mortuum  esse  pro  peccatis  nostris,  die 
Sicherstellung  des  Glaubens  an  die  Sündenvergebung  und  die  Bewah- 
rung der  Menschen  vor  den  schwersten  Strafen  nicht  fehlt.  Aber  die 
Hauptsache  ist,  dass  Christus  seine  Lehre  auch  unter  den  schwierigsten 
Umständen  bewähren  musste  und  sie  desshalb  durch  den  schimpflichsten 
Tod  besiegelt  hat.  Von  hier  aber  geht  die  Ausführung  sofort  zur  Auf- 
erstehung über:  aus  dem  Tode  Christi  ergiebt  sich  die  confirmatio 
divinae  voluntatis  nur  insofern ,  als  dem  Tod  die  Auferstehung  gefolgt 
ist  (p.  266).  Auf  den  Einwurf:  „plus  in  resurrectione  quam  in  Christi 
morte  situm  esse  in  nostrae  salutis  negotio,  perspicio",  wird  daher  auch 

—  nicht  ohne  biblischen  Grund  —  geantwortet:  „hactenus  sane,  qua- 
tenus  mors  Christi  inutilis  et  inefficax  futura  fuisset,  nisi  eam  consecuta 
fuisset  Christi  resurrectio"  (p.  267).  Aber  warum  leitet  denn  die  Schrift 
so  häufig  Alles  vom  Tode  ab?  „Propterea  quod  et  ipsa  per  se  Christi 
fihi  dei  mors,  resurrectione  animata,  eximiam  prorsus  et  singularem  vim 
habeat  in  comparanda  nobis  salute,  ut  ostendimus  (allein  das  ist  nur  sehr 
unsicher  gezeigt  worden).  Deinde  quod  via  fuerit  ad  resurrectionem  et 
exaltationem  Christi.  Ad  illam  enim  per  rei  naturam,  ad  lianc  per  dei 
consilium  et  constitutionem  sine  morte  pervenire  non  potuit.  Denique 
quod  ex  Omnibus,  quae  deus  et  Christus  nostrae  salutis  causa  fecit, 
mors  Christi  opus  fuerit  maxime  arduum  et  caritatis  erga  nos  dei  et 
Christi  evidentissimum  argumentum."  Diese  Auskunft  ist  keineswegs 
einleuchtend;  warum  ist  der  Tod  ein  Liebesbeweis?  Der  Katechismus 
geht  auch  nicht  näher  hierauf  ein,  sondern  wendet  sich  nun  gegen 
die  Lehre  von  der  Strafsatisfaction  (p.  268  sq.).  Bekanntlich  ist  dieser 
Punkt  von  den  Socinianern  am  schärfsten  beleuchtet  worden  *.   Faust  us 

*S.  Fock,  a.  a.  0.  S.  615ft'.   Ritschi,  a.  a.O.  S.  316fl'.    Strauss  hat  sich  in 
seiner  Glaubenslehre  fast  alle  Argumente  der  Socinianer  angeeignet.   In  der  Neu- 


Die  socinianische  Lehre.  683 

hat  in  seinen  „Praelectiones  theologicae"  ausführlich  die  Nothwendig- 
keit  und  Möghchkeit  der  Satisfaction  bestritten,  d.  h.  er  hat  den  Ge- 
danken in  derselben  Weise  widerlegt,  in  der  er  einst  aufgebaut  worden 
ist.  Gerade  hier  aber  brauchte  er  nur  das  Werk  der  späteren  Schola- 
stik fortzusetzen-,  denn  nichts  war  dieser  unsicherer  geworden,  als  die 
verstandesmässige  Deutung  des  Werthes  des  Todes  Christi  im  Sinne 
eines  streng  nothwendigen  Aequivalents.  Faustus  bekämpfte  die  Noth- 
wendigkeit  der  Satisfaction  von  seinem  scotistischen  Gottesbegriff  aus: 
Gott  ist  keineswegs  in  seinem  Wesen  genöthigt,  die  Sünde  zu  bestrafen 
und  desshalb  auf  alle  Fälle  eine  Strafe  zu  dictiren,  sei  es  auch  dem  Un- 
schuldigen, sondern  er  steht  über  jedem  Zwang  und  kann  nach  seiner 
Willkür  handeln  wie  er  will;  sagt  doch  auch  die  Schrift,  dass  er  bald 
zürne,  bald  sich  erbarme ;  im  NT.  aber  wird  seine  unergründhche  Barm- 
herzigkeit angekündigt.  Aus  seiner  Gerechtigkeit  kann  man  die  Satis- 
faction am  wenigsten  ableiten;  denn  einen  Unschuldigen  für  den 
Schuldigen  zu  strafen  ist  ungerecht.  Auch  aus  dem  AVesen  der  Sünde 
lässt  sich  eine  Nothwendigkeit  für  die  Strafe  nicht  gewinnen;  denn 
diese  ist  Gott  gegenüber  eine  Ehrverletzung;  eine  solche  kann  aber  be- 
dingungslos übersehen  werden.  Die  Vorstellung  von  der  Satisfaction  ist 
aber  ferner  eine  unmöghche,  da  sie  auf  lauter  Widersprüche  fülu't;  denn 
I.  Erlass  und  Genugthuung  schliessen  sich  aus;  hat  Gott  die  Schuld  er- 
lassen, so  bedarf  es  keiner  Genugthuung,  nimmt  er  die  Genuthuung  an, 
so  bedarf  es  keines  Erlasses,  sofern  in  diesem  Fall  der  Schuldner  nur 
vertauscht  ist ;  II.  aber  auch  angenommen,  Erlass  und  Genugthuung 
könnten  neben  einander  bestehen,  so  ist  doch  in  diesem  Fall  die  Genug- 
thuung im  Sinne  der  Stellvertretung  ausgeschlossen;  denn  1)  man 
kann  wohl  Geldstrafen  für  einen  anderen  übernehmen,  nicht  aber  per- 
sönhche,  in  der  Todesstrafe  gipfelnde  Strafen;  in  diesem  Falle  ist  die 
Uebertragung  Ungerechtigkeit.  Allerdings  leiden  Unschuldige  manch- 
mal mit  den  vSchuldigen;  allein,  wenn  das  durch  keine  Verwickelung 
in  die  Sünde  des  Schuldigen  herbeigeführt  ist,  so  ist  ein  solches  Lei- 
den nicht  Strafleiden.  Es  lässt  sich  aber  auch  nicht  behaupten, 
dass  Christus  als  Repräsentant  und  Haupt  der  Menschheit  gelitten 
habe ;  denn  das  ist  er  zur  Zeit  seines  irdischen  Lebens  noch  nicht  ge- 
wesen ;  auch  hat  sein  Todesleidcn  Niemandem  den  Tod  abgenommen, 
2)  die  positive  Gesetzeserfüllung  Christi  kann  keinen  stellvertretenden 
VVerth  haben;  denn  C^hristus  ist  zu  ihr  verpflichtet  gewesen,  und  seine 
Gesetzeserfüllung  dis])onsirt  Niemanden,  3)  die  Annahme,  dass  Christus 
sowohl  stellvertretend  gelitten,   als  stellvertretend  das  Gesetz  erfüllt 

zeit  hat  hesondcrs  Philj])pi  die  sociriianischcn  Thesen  ausführlich  zu  widerlegen 
versucht. 


684       T^ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Autitriuitarismus  und  Socinianismus. 

liabe,  ist  widei'spruchsvoll;  denn  wenn  das  Eine  geschehen  ist,  brauchte 
das  Andere  nicht  mehr  zu  geschehen;  III.  aber  selbst  wenn  das  stell- 
vertretende Stralleiden  möglich  wäre,  so  erreichte  es  seinen  Zweck 
nicht,  d.  h.  es  würde  doch  nicht  ein  wirkhches  Aequivalent  geschaffen ; 
denn  1)  ein  einzelnes  Aequivalent  kann  immer  nur  für  einen  ehizelnen 
Fall  gelten,  nicht  aber  für  die  Schulden  aller  Menschen,  ein  einzelner 
Tod  ersetzt  nur  einen  Tod,  2)  der  Stellvertreter  hätte  wirkhch  den 
ewigen  Tod  sterben  müssen;  Christus  aber  ist  auferweckt  worden; 
3)  hält  man  dem  entgegen,  dass  Christus  Gott  gewesen  sei  und  desshalb 
sein  Leiden  einen  unendHchen  Werth  für  Gott  besitze,  so  ist  zu  sagen, 
dass  ihn  dann  Gott  nicht  so  zu  quälen  gebraucht  hätte,  weil  schon  das 
kleinste  Leiden  des  Gottmenschen  in  diesem  Falle  ausgereicht  hätte; 
allein  die  Berufung  auf  die  Gottheit  Christi  ist  desshalb  hinfäUig,  weil 
die  Gottheit  nicht  leidensfähig  ist.  Stellt  man  aber  trotzdem  die  Gott- 
heit Christi  mit  in  Rechnung ,  so  darf  man  desshalb  nicht  auch  das  in 
zeitlichen  und  endlichen  Acten  sich  darstellende  Leiden  selbst  vergött- 
lichen. Dieses  muss  als  endhches  gewerthet  werden,  und  demgemäss 
hätte  der  Gottmensch  unendlich  viele  Satisfactionen  auf  sich  nehmen 
müssen;  IV.  der  Begriff  der  stellvertretenden  Satisfaction  und  der  Im- 
putation schliessen  sich  aus;  wo  nämlich  die  erstere  eingetreten  ist,  da 
ist  alles  Weitere  ausgeschlossen,  die  acceptatio  ist  durch  die  Genug- 
thuung  selbst  gegeben;  behauptet  dem  gegenüber  die  orthodoxe  Lehre, 
dass  Gott  die  Leistung  Christi  für  uns  durch  einen  Gnadenact  annehme 
(accepti  latio),  so  ist  die  Leistung  keine  Genugthuung;  denn  accepti 
latio  findet  nur  statt ,  wo  keine  aequivalente  Leistung  dargeboten  ist. 
Desshalb  zerstört  auch  die  Lehre,  dass  Gott  nur  dem  Glauben  die  Ge- 
nugthuung Christi  anrechne,  das  ganze  Schema  von  dem  stellvertretenden 
Strafleiden;  denn  Christus  hat  gar  keine  vollkommene  Genugthuung  ge- 
leistet, wenn  sie  nur  bedingungsweise  giltig  ist;  V.  die  Lehre  von  dem 
stellvertretenden  Strafieiden  stumpft  die  Gewissen  ab,  führt  leicht  zur 
sittlichen  Laxheit  und  hemmt  die  Anspannung  des  AVillens,  das  gött- 
liche Gesetz  zu  erfüllen;  VI.  diese  Lehre  ist  in  der  Schrift  nicht  ent- 
halten und  steht  im  AViderspruch  mit  klaren  Schriftstellen  (Cat.  p.  270: 
„Scripturae  passim  deum  peccata  hominibus  gratuito  remittere  testan- 
tur,  potissimum  vero  sub  novo  foedere;  at  remissioni  gratuitae  nil  ad- 
versatur  magis,  quam  eiusmodi  qualem  volunt  satisfactio'^).  Dagegen 
will  Faustus  mit  Duns  und  den  Nominahsten  den  Gedanken  des  Ver- 
dienstes Chi'isti  in  Bezug  auf  unsere  Schuld  nicht  ausschliessen.  Das- 
selbe gehört  aber  nicht  in  das  Gefüge  von  Pflicht  und  Leistung,  welches 
uns  obliegt  K   Faustus  ist  von  den  Orthodoxen  nicht  widerlegt  worden, 

*  S.  Ritschi,  a.  a.  0.  S.  311),  dem  ich  auch  in  der  Wiedergabe  der  Kritik  des 


Die  socinianische  Lehre.  685 

soweit  er  das  juristische  Begriffsmaterial,  mit  dem  sie  arbeiteten^  in 
seinem  Unwerthe  nachgewiesen  hat.  Aber  auch  sonst  haben  ihn  seineZeit- 
genossen  nicht  zu  widerlegen  vermocht,  weil  sie  die  Tendenzen  der  ihnen 
überheferten  Lehrform  selbst  nicht  klar  erkannt  haben  und  daher  die 
Fehler  ihrer  Lehrbildung  ebenso  wenig  zu  corrigiren,  wie  ihre  Vorzüge 
siegreich  ans  Licht  zu  stellen  vermochten.  Lidem  sie  sich  darauf  zurück- 
zogen, in  Gott  seien  die  Eigenschaften  der  Gerechtigkeit  und  des  Erbar- 
mens mit  gleichen  Ansprüchen  vorhanden,  schützten  sie  zwar  die  Heilig- 
keit des  Gesetzes  des  Guten,  kamen  aber  aus  Widersprüchen  nicht  heraus. 
Der  angehängte  Abschnitt  über  den  Glauben  wird  so  einge- 
leitet, dass,  nachdem  nun  die  Gebote  und  Yerheissungen  Gottes  be- 
kannt seien,  die  Darlegung  folgen  müsse,  auf  welche  Weise  man  sich 
ihnen  „anzupassen"  habe.  Diese  Weise,  heisst  es  (p.  288),  sei  der 
Glaube,  „per  quam  et  promissa  Christi  animo  complectimur  et  porro 
praecepta  eins  pro  virili  exsequimur".  Allein  sofort  erscheint  der  katho- 
lische Glaubensbegriff  in  dem  Zusatz:  „quae  fides  et  obe dient i am 
nostram  deo  commendatiorem  gratioremque  facit  et  obe- 
dientiae  defectus,  modo  ea  sit  vera  ac  seria,  supplet, 
utque  a  deo  iustificemur  efficit."  Also  der  thatsächliche  Ge- 
horsam ist  vielmehr  das  entscheidende  Verhalten.  Diese  Auffassung 
ist  so  streng  wie  möglich  durchgeführt.  Von  evangelischer  Haltung 
findet  sich  keine  Spur;  denn  die  nachgebrachte  Bemerkung,  dass  Gott 
um  des  Glaubens  willen  den  Defect  des  Gehorsams  übersehe,  ist  auch 
gut  katholisch  gedacht.  Der  Katholicismus  setzt  dafür  die  Unterordnung 
unter  die  Kirche,  die  fides  implicita.   Diese  hat  der  Socinianismus  ge- 

Faustus  an  der  Satisfactionslehre  gefolgt  bin:  „Wenn  der  strenge  »Sinn  des  Pflicht- 
l^egriffs  zur  Geltung  kommen  soll,  so  ist  —  bei  Faustus  —  jedes  Verdienst  Christi 
für  sich  und  für  uns  ausgeschlossen.  »Nihil  fecit,  quod  ipsi  a  deo  iniunctum  non 
fuisset.  Ubi  debitum,  ibi  nullum  verum  et  proprium  meritum.«  Also  nur  in  einem 
uneigentlichen  Sinne  lässt  sich  derBegrifP  anwenden,  unter  Voraussetzung  bestimmten 
göttlichen  Beschlusses  und  göttlicher  Verheissung.  Da  nun  die  letztere  zur  Auf- 
fassung der  Pflichtmässigkeit  des  Handelns  nichts  hinzufügt,  so  kann  sie  den  Begriff 
des  Verdienstes  nur  so  motiviren,  dass  bei  derßeurtheilung  des  Handelns  nicht  die 
Pflichtmässigkeit,  sondern  ausnahmsweise  die  Freiwilligkeit  in  Betracht  gezogen 
wird.  Dieser  Gedanke  kommt  wesentlich  auf  die  Bestimmung  des  Begriffs  durch 
Dunsund  durch  Calvin  hinaus.  Und  wenn  auch  Faustus  dem  Letzteren  wider- 
spricht, indem  er  wie  Thomas  den  eigentlichen  Begriff  des  Verdienstes  auf  die 
rechtliche  Beurtheilung  einer  Handlung  bezieht,  so  ist  er  in  der  factischen  Zulassung 
von  Verdienst  Christi  mit  Calvin  (n'nverstanden.  Dies  ist  ein  neuer  ]ieweis  dafür, 
dass  die  Hf.griffe  von  V(!rdienst  und  Genugthuung  Christi  aus  ganz  verschiedenen 
Betrachtungsweisen  a))geleitet  werden.  Genugthuung  wird  aus  der  Voraussetzung 
eines  bloss  rechtlich  geordneten  Wechselverhältnisses  abgeleitet-,  Verdienst  aus 
einem  Hittli(;h*!n  Wechsel  vfrhältniss,  welches  a])er  nicht  unter  dem  höchsten  Gesichts- 
punkte von  Gesetz  und  i^llicht  aufgcifasst  wird." 


686       l^ie  Ausgänge  des  Dogmas  in»  Autitrinitarismus  und  Socinianismus. 

strichen;  aber  an  die  Stelle  derselben  setzt  auch  er  eine  Leistung, 
nämlich  die  Leistung  des  Glaubens.  So  tritt  er  aus  dem  katholischen 
Gefüge  nicht  heraus.  Er  bejaht  dasselbe  auch  in  den  Einzelheiten 
seiner  lehrhaften  Deductionen,  z.  B.  (p.  288) :  „fides  in  Christum  duplici 
ratione  sumitur;  interdum  enim  notat  eam  fidem,  quam  solam,  nisi 
adhuc  ali([uid  aliud  accedat,  salus  non  consequitur;  interdum 
eam  (juam  solam  salus  consequitur."  Gemeint  ist  im  ersten  Fall  der 
Glaube  ohne  Gehorsam,  im  zweiten  der  Glaube  und  die  AVerke  der 
Liebe.  Der  Abschnitt  über  den  freien  Willen  ist  hier  eingeschoben, 
um  dem  Gott  der  Willkür  den  Menschen  mit  der  leeren  Freiheit  ent- 
gegenzustellen und  die  augustinisch-thomistische  Prädestinations-  und 
Erbsündenlehre  abzuthun  \  In  dem  Abschnitt  über  die  Justification 
tritt  nicht,  wie  das  nach  dem  über  den  Glauben  Ausgeführten  erwartet 
werden  nmss,  die  katholische  Auflassung  hervor,  sondern  — frappirend 
genug  —  eine  ins  Laxe  verschlimmerte  und  traurig  entstellte  evange- 
lische (p.  316):  „iustificatio  est,  cum  nos  deus  pro  iustis  habet  seu  ita 
nobiscum  agit,  ac  si  iusti  et  innocentes  plane  fuissemus  (!).  Id  vero  ea 
ratione  sub  novo  foedere  facit,  ut  nobis  et  peccata  remittat  et  nos  vita 
aeterna  donet."  Diese  Definition  fällt  aus  den  Rahmen  der  sociniani- 
schen  Grundanschauung  scheinbar  ganz  heraus.  Allein  man  muss  sich 
hier  erinnern,  dass  auch  Pelagius  der  Besonderheit  der  christhchen 
Rehgion  eine  Reverenz  gemacht  hat.  Der  socinianische  Satz  lässt  sich 
nur  verstehen,  wenn  man  1)  erwägt,  dass  die  Socinianer  mit  dem  Pauli- 
nismus nicht  ganz  brechen  konnten,  und  2)  bedenkt,  dass  die  Justification 
sehr  wenig  bei  ihnen  bedeutet.  Die  Hauptsache  ist  der  in  der  Gesetzes- 
erfüllung sich  bewährende  Gehorsam.  Daneben  steht  —  als  Besonder- 
heit der  christlichen  Religion  —  die  Verheissung  Gottes,  gewisse  De- 
fecte  jenes  Gehorsams  den  Christen  nachzusehen.  An  diesem  Punkte 
wird  der  Contact  mit  dem  Paulinismus  gesucht  und  der  Titel  der 
Rechtfertigung  als  Sündenvergebung  eingeführt.    Mehr  aber  leistet  der 


^  S.  p.  294:  „Lapsus  Adae,  cum  unus  actus  fuerit,  vim  eam,  quae  depravare 
ipsam  naturam  Adami,  multo  minus  vero  posterorum  ipsius  posset,  habere  non 
potuit .  .  .  non  negamus  tamen  assiduitate  peccandi  naturam  hominum  labe  quadam 
et  ad  peccandum  nimia  proclivitate  infectam  esse,  sed  eam  peccatum  per  se  esse 
negamus."  Der  göttliche  Factor  wird,  wie  bei  den  Nominalisten,  nur  als  „divinum 
auxilium"  zugelassen,  und  zwar  als  exterius  (hl.  Schrift)  und  interius.  Die  Durch- 
führuusf  der  Lehre  vom  ordo  salutis  ist  der,  welche  damals  die  Jesuiten  energisch 
gegen  den  Thomismus  behaupteten,  ganz  ähnlich.  Von  der  Prädestinationslehre 
wird  p.  300  behauptet:  „totam  religionem  corruere  facit  et  deo  nmlta  incon- 
venientia  attribuit."  Die  Hauptstellen,  auf  die  man  sich  für  die  Prädestination  zu 
berufen  pflegt,  werden  im  Katechismus  genau  behandelt  und  durch  die  exegetische 
Kunst  in  erwünschter  Weise  erledigt. 


Die  socinianische  Lehre.  687 

Katechismus  auch  nicht.  Er  begnügt  sich  damit,  die  Rechtfertigung 
auf  drei  Zeilen  irgendwie  inventarisirt  zu  haben.  Kein  weiteres  Wort 
über  dieselbe  hält  er  für  nÖthig;  denn  die  zwei  Seiten,  die  sonst  noch 
der  Rechtfertigung  gewidmet  sind,  beschäftigen  sich  mit  der  gleichgiltigen 
Frage,  ob  schon  die  vorchristlichen  Väter  gerechtfertigt  worden  sind. 
4.  Die  Kürze  der  nun  noch  folgenden  Sectionen  (de  munere  Christi 
sacerdotah  p.  320 — 331,  de  munere  Christi  regio  p.  331  —  339,  de  ec- 
clesia  p.  340 — 355)  ist  an  sich  ein  Beweis,  dass  die  Religionslehre  mit 
der  Darstellung  des  prophetischen  Amtes  Christi  („praecepta  et  pro- 
missa  dei")  im  Grunde  beendigt  ist.  Da  aber  jene  Titel  aufgenommen 
werden  mussten  (gemäss  der  hl.  Schrift),  so  ist  auch  Manches  ausge- 
führt worden,  was  sich  in  die  Lehre  nicht  einfügt,  sondern  als  biblischer 
Stoff  dieselbe  durchkreuzt.  Dies  ist  namentlich  in  dem  Abschnitt  über 
das  hohepriesterliche  Amt  deutlich.  Hier  hat  der  Katechismus  nicht 
nur  auf  Grund  des  Hebräerbriefs  das  fortdauernde  Priesterthum  Christi 
betont  (p.  320  sq.),  sondern  ist  auch  auf  den  Gedanken  der  fortdauernden 
expiatio  peccatorum  per  Christum  in  caelis.  eingegangen  (p.  321  sq.): 
„Jesus  in  caelis  expiationem  peccatorum  nostrorum  peragit,  dum  a  pec- 
catorum poenis  nos  liberat  virtute  mortis  suae,  quam  pro  peccatis  no- 
stris  ex  dei  voluntate  subiit.  Victima  enim  tam  preciosa  tantaque  Christi 
obedientia  perpetuam  coram  deo  vim  habet,  nos  qui  in  Christum  credi- 
mus  et  Christo  commortui  sumus,  ne  peccatis  vivamus,  a  peccatorum 
poenis  defendendi  (wie  im  Katholicismus  ist  die  Strafe,  nicht  die  Schuld 
die  grösste  Last) ;  porro  dum  potestate  sua,  quam  a  patre  plenam  et 
absolutam  consecutus  est,  perpetuo  nos  tuetur  et  iram  dei,  quam  in  im- 
pios  effundi  consuevit,  intercessione  sua  a  nobis  arcet,  quod  scriptura 
interpollationem  pro  nobis  appellat;  deinde  ab  ipsorum  peccatorum  Ser- 
vitute nos  liberat,  dum  nos  sibi  mancipat,  partim  morte  itidem  illa  sua 
quam  pro  nobis  perpessus  est,  partim  in  sua  ipsius  persona  nobis  osten- 
dendo,  quid  consequatur  is  qui  a  peccando  destitit."  Dass  Christus  erst 
durch  die  Auferwcckung  der  himmlische  Priester  im  vollen  Sinn  ge- 
worden sei,  wird  ausdrücklich  betont.  In  dem  Abschnitt  über  das 
königliche  Amt  wird  zuerst  gezeigt,  dass  Christus  sich  nicht  selbst  er- 
weckt habe  (p.  333  sq.).  Dieser  Nachweis  beansprucht  —  höchst  be- 
zeichnend —  den  meisten  Raum;  es  folgen  dann  nur  gleichgiltige  Aus- 
führungen über  die  Art  des  Auferstehungsleibes  (Jhristi,  die  Himmel- 
falirt  und  das  Sitzen  zur  Rechten  Gottes.  Mit  wenigen  Worten  wird 
dann  die  Hc;rrscli{ift  (Jhristi  über  alle  Wesen  und  Dinge  beschrieben. 
Der  letzte  Abschnitt  endlich  —  über  die  Kirche  —  zerfällt  in  vier  kurze 
Capitel.  In  dem  ersten  wird  die  sichtbare  Kirche  definirt  (p.  340) 
als  „coetus  eorum  hominum,  qui  doctrinam  salutarem  tenent  et  pro- 


688       r)if^  Ausfranse  des  Doofmas  im  Antitrinitarismua  und  Socinianismus. 


1 


ütentur",  d.  h.  als  Scluile.  Ausdrücklich  wird  jedes  andere  Merkmal 
abgelehnt:  „niliil  est,  cur  de  notis  ecclesiae  quaeras"  (excepta  salutari 
doctrina).  Auf  die  Frage,  welches  die  wahre  Lehre  sei,  wird  mit  dem 
Hinweise  auf  diesen  Katechismus  in  seinem  ganzen  Umfange  geantwor- 
tet'. In  dem  zweiten  (lapitel  wird  von  der  Kirchenleitung  gehandelt 
(p.342) :  „ordo  is  situs  est  in  ofticiis  personarum,  quihus  ecclesia  Christi 
constat,  et  in  accurata  animadversione  et  observatione,  ut  singulae  per- 
sonae  officiis  suis  fungantur."  Nach  der  Schrift  werden  nun  Apostel, 
Propheten,  Evangelisten,  Doctoren,  Pastoren  (Biscliöfe),  Presbyter  und 
Diakonen  unterschieden.  Bei  der  Ausführung  wird  das  Amt  der  Doc- 
toren, Bischöfe  und  Presbyter  als  eines  behandelt  und  von  den  Apo- 
steln, Evangelisten  und  Propheten  gesagt,  dass  sie  aufgehört  haben, 
weil  die  Ursaclie  ihrer  Existenz  weggefallen  sei.  Somit  bleiben  nur 
Pastoren  und  Diakonen.  Die  Lehre  von  der  bischöflichen  Succession 
wird  (p.  346)  bekämpft ;  von  der  Ordination  wird  geschwiegen.  Im 
dritten  Capitel  („de  disciplina  ecclesiae  Christi")  folgt  eine  biblisch 
wohl  begründete  Darlegung  der  Grundsätze  der  Kirchenzucht,  gipfelnd 
in  der  Ausführung,  dass  das  Recht  zu  binden  und  zu  lösen  zu  fassen  ist 
als  das  „ius  declarandi  et  denunciandi  secundum  dei  verbum,  qui  sit 
dignus,  qui  non,  ut  sit  in  ecclesia  seu  membrum  ecclesiae"  (p.  351). 
Der  Katechismus  schliesst  mit  dem  Caijitel  „de  ecclesia  invisibili" 
(p.  352  sq.).  Hier  ist  wiederum  die  katholische  Betrachtung  sehr  auf- 
fallend. Die  Ausführung  beginnt  damit,  dass  die  hl.  Schrift  „vix  uspiam" 
einen  coetus  vere  piorum  hominum  von  der  sichtbaren  Kirche  unter- 
scheide, da  alle  wahrhaft  Frommen  auch  zur  sichtbaren  Kirche  gehören ; 
dennoch  sei  zuzugestehen,  dass  von  dieser  Öfters  so  gesprochen  werde 
als  sei  sie  in  jeder  Hinsicht  das,  was  sie  sein  soll,  während  sie  es  in 
Wirklichkeit  nicht  ist.  Somit  könne  man  den  Begriff  einer  Kirche 
bilden  als  „quaedam  hominum  vere  piorum  multitudo  ac  eorum  inter 
sese  coniunctio,  quam  per  similitudineni  quandam  et  meta- 
phoram  ecclesiam  appellare  liceat,  nam  vere  pii  hinc  inde  dis- 
pers! vel  etiam  latentes,  si  modo  vera  pietas  latere  sinat(!)^, 
nonnisi  improprie  ecclesia  dici  possunt."  So  verclausuhrt  wird  der  Be- 
griff' der  unsichtbaren  Kirche  acceptirt.  Von  ihr  wird  behauptet,  dass 
sie,  d.  h.  alle,  die  Christo  wahrhaft  glauben  und  ihm  gehorchen,  den 
Leib  Christi  in  vollkommenster  Weise  darstellt.  Unsichtbar  aber  sei 
diese  Kirche,  weil  der  Glaube  und  wahre  Frömmigkeit  nicht  mit  körper- 

*  Die  landläufige  orthodoxe  Vorstellung  von  der  Kirche  im  Protestantismus 
und  die  socinianische  sind  also  identisch. 

^  Wenn  freilich  jeder  vere  pius  ein  Schulmeister  sein  muss,  ist  es  unwahr- 
scheinlich, dass  er  in  der  Verborgenheit  bleiben  kann. 


Beurtheilung  des  Socinianismus.  689 

liehen  Allgen  geschaut  werden  können;  aber  auch  aus  den  „factis  exte- 
rioribus"  Hesse  sich  nur  feststellen,  dass  Jemand  kein  Glied  Christi  sei, 
nicht  aber  das  Gegentheil.  Damit  schliesst  der  Katechismus,  die  Er- 
mahnung anfügend  (p.  355):  „lam  omnia  quae  a  me  compendio  dici 
hac  de  re  potuere  tibi  exposui :  tuum  est  ut  iis  probe  perceptis  atque 
cognitis  ea  menti  infigas  et  secundum  eorum  praescriptum  vitam  in- 
stituas." 

In  dem  modernen  Katholicismus  stellt  sich  die  Neutralisirung,  in 
dem  Socinianismus  die  Selbstzersetzung  des  Dogmas  dar:  die  vor- 
stehende Ausführung  wird  gezeigt  haben,  dass  dieser  seinem  Grund- 
wesen nach  nichts  Anderes  ist,  als  die  nominalistische  Doctrin  in  der 
Consequenz  ihres  Princips.  Wie  die  Wiedertäufer  und  die  pantheisti- 
schen  Mystiker  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  mittelalterliche  Erschei- 
nungen sind,  wenn  auch  nicht  unberührt  von  dem  Geist  einer  neuen 
Zeit,  so  sind  auch  die  Socinianer  nicht  „Ultra's  der  Reformation", 
sondern  die  Nachkommen  der  Scotisten. 

Aber  die  Entwicklung  des  Dogmas  in  der  nominalistischen  Linie 
ist  hier  zu  ihrem  Ende  gekommen:  das  Dogma  ist  aufgelöst.  Allerdings 
fehlen,  wie  bei  jeder  Zersetzung,  Restproducte  nicht.  Adoptianische, 
arianische,  pelagianische  Motive  und  Lehren,  die  vom  Dogma  überwun- 
den zu  sein  schienen,  tauchen  wieder  hervor,  und  das  strenge  Festhalten 
an  der  hl.  Schrift  als  Quelle  und  Autorität  des  Glaubens  und  der 
Glaubenslehre  giebt  dem  Socinianismus  sogar  eine  scheinbar  sehr  con- 
servative  Haltung.  Dennoch  ist  der  Bruch  mit  der  Geschichte  und  dem, 
was  bisher  Dogma  hicss,  offenbar.  Der  Nominalismus  hielt  die  leben- 
dige Autorität  der  Kirche  fest,  ja  in  diesem  Festhalten  brachte 
er  seine  religiöse  Ueberzeugung  zum  Ausdruck,  deren  Gel- 
tung er  sich  freilich  durch  den  Verzicht  auf  eine  einheitliche  Gottes- 
und  Weltanschauung  erkaufen  musste.  Der  Socinianismus  hat  den  aus 
religiösen  Nöthigungen  stammenden  Skepticismus  des  Nominalismus 
überwunden-,  er  ist  nicht  mehr  in  sich  zwiespältig  wie  dieser  —  er  ist 
sogar  dogmatistisch  — ;  aber  mit  der  Abschüttelung  der  Autorität 
der  Kirche  und  Tradition  hat  er  auch  das  Verständnis«  und  den  Sinn 
für  das,  was  Religion  ist,  verloren:  seine  so  sicher  hingestellten  „Glau- 
benslehren" sind,  soweit  sie  einheitlich  und  streng  ge])ildet  sind,  nichts 
Anderes  als  der  Dogmatismus  des  sog.  gesunden,  d.  h.  des  religiös  un- 
iriteressirten  Menschenv(!rsta]idos,  der  sich  die  Bibel,  wenn  sie  vernünf- 
tig })ehandelt  wird,  gcif'allen  lässt. 

Dennoch  ist  dei*  Socinianismus  keineswegs  lediglich  eine  niittel- 
alterliche  oder  gar  nur  eine  pathologische  Erscheinung;  vielmehr  erweist 

Harnack,  Dogmengcschichto  III.  ^ 


690       I^io  Ausgänge  des  Dogmas  im  Aiititrinitarismus  und  Socinianismus. 

er  sich  auch  als  Product  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  und  bezeichnet 
einen  gewaltigen  Fortschritt  in  der  Religionsgeschichte,  wenn  auch  nur 
einen  indirecten.  Man  kann  das,  was  er  geleistet  hat,  in  folgende  Thesen 
zusammenfassen:  er  hat  l)  den  Muth  gewonnen,  die  Frage  nach  dem 
Wesen  und  Inhalt  der  christhchen  Religion  zu  vereinfachen,  die 
Last  der  Vergangenheit,  trotz  Katholiken,  Lutheranern  und  Reformir- 
ten,  abzuwerfen  und  dem  Individuum  die  Freiheit  zurückzugeben,  in 
dem  Streit  um  die  christliche  Religion  lediglich  die  klassischen  Urkun- 
den und  sich  selber  zu  befragen;  er  hat  2)  das  enge  Verhältniss  von 
Religion  und  Welterkennen,  wie  es  von  der  altkirchlichen  Ueberlieferung 
geschlossen  und  vom  Dogma  sanctionirt  worden  war,  gelockert  und  an 
die  Stelle  der  Metaphysik  als  Fohe  der  Religion  die  Ethik  zu  setzen 
versucht.  Allerdings  ist  ihm  das  schlecht  gelungen:  in  Wahrheit  hat  er 
nur  die  Metaphysik  verdünnt,  aber  nicht  verbessert  oder  verdrängt. 
Indessen  ist  er  doch  ein  gewaltiger  Gegner  des  Piatonismus  der  Kirchen- 
lehre gewesen  und  hat  an  seinem  Theile  dazu  beigetragen,  die  Herr- 
schaft desselben  zu  brechen ;  er  hat  3)  die  Einsicht  vorbereiten  helfen, 
dass  die  Rehgion  nicht  in  unverständlichen  Paradoxien  und  in  Wider- 
sprüchen ihren  Ausdruck  finden  darf,  sondern  dass  sie  es  zu  gesicherten 
und  deuthchen  Aussagen  bringen  muss,  die  ihre  Kraft  an  ihrer  Klarheit 
haben ;  er  hat  4)  endlich  das  Studium  der  hl.  Schrift  von  dem  Bann  des 
Dogmas  befreit  und  selbst  einen  guten  Anfang  mit  einer  gesunden,  ge- 
schichtlichen Exegese  gemacht.  Allerdings  ist  es  nicht  schwer,  in  Bezug 
auf  alle  diese  hier  aufgeführten  Verdienste  des  Socinianismus  auch  das 
Gegentheil  nachzuw^eisen,  d.  h.  zu  zeigen,  wie  er  vielmehr  in  denselben 
Richtungen  alte  Irrthümer  bestärkt  hat.  Allein  es  genügt,  sich  zu  ver- 
gewissern, dass  ihm  jene  Verdienste  wklich  zukommen.  Dass  er  selbst 
ihre  Kraft  gehemmt  und  theilweise  aufgehoben  hat,  darf  nicht  davon 
abhalten,  sie  ihm  zuzusprechen.  Hauptsächlich  durch  das  Medium  des 
Arminianismus ,  aber  auch  direct ,  hat  er  die  Aufklärung  im  guten 
und  im  schlimmen  Sinn  des  Worts  im  Protestantismus  herbeiführen 
helfen. 

In  der  Religionsgeschichte  —  den  Ausdruck  im  strengsten  Sinn 
genommen  —  ist  der  Socinianismus  dagegen  lediglich  ein  Rückschritt ; 
denn  weit  entfernt,  dass  er  hier  mit  dem  Protestantismus  zusammen- 
zustellen wäre,  hat  er  vielmehr  noch  den  Katholicismus,  selbst  in  der 
dürftigsten  Gestalt  desselben,  unterboten.  Dass  die  christliche  Religion 
Glauben  ist,  dass  sie  ein  Verhältniss  von  Person  zu  Person  ist,  dass 
sie  darum  höher  ist  als  alle  Vernunft,  dass  sie  lebt,  nicht  von  Ge- 
boten und  Hoffnungen,  sondern  von  der  Kraft  Gottes  und  in  Jesus 
Christus  den  Herrn  Hinnnels  und  der  Erde  als  den  Vater  ergreitl. 


Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus.  691 

davon  weiss  der  Socinianismus  nichts.  Mit  dem  alten  Dogma  hat  er 
im  Grunde  das  Chris tenthum  als  Religion  beseitigt:  Schuld 
und  Busse,  Glauben  und  Gnade  sind  Begriffe,  die  nur  in  Folge  glück- 
licher Inconsequenzen  —  um  des  NT. 's  willen  —  nicht  ganz  ausge- 
schieden sind.  In  diesen  Inconsequenzen  liegt  die  Christlichkeit  des 
Socinianismus  beschlossen. 

Viertes  Capitel:  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

1.  Einleitung. 

Am  Schlüsse  des  1.  Capitels  dieses  Buchs  ist  angegeben,  in 
welchem  Sinne  und  Umfang  im  Rahmen  der  Dogmengeschichte  die 
Reformation  zu  behandeln  ist  —  als  ihr  Ausgang  und  zwar  als  ihr 
legitimer  Ausgang.  In  den  beiden  Ausgängen,  die  wir  bisher  be- 
handelt haben,  sind  die  eigentlich  religiösen  Interessen,  die  einst 
zur  Entwerfung  und  Ausgestaltung  des  Dogmas  mitgewirkt  haben, 
verkümmert:  im  Kathohcismus,  sofern  sie.  gänzlich  überwuchert  sind 
von  der  Herrschaft  der  empirischen  Kirche,  im  Socinianismus,  sofern 
sie  nahezu  aufgesogen  sind  durch  den  MoraHsmus.  Dort  ist  das 
Dogma  conservirt,  aber  der  persönliche  bewusste  Glaube,  der  ihm 
entsprechen  soll,  durch  die  Unterwerfung  unter  die  Kirche  gelähmt; 
hier  ist  das  Dogma  abgethan,  aber  mit  ihm  ist  zugleich  die  Eigen- 
art des  rehgiösen  Glaubens  verkannt.  Der  nachtridentinische  Kathoh- 
cismus und  Socinianismus  sind  in  vieler  Hinsicht  moderne  Erschei- 
nungen, aber  auf  ihren  religiösen  Kern  gesehen  sind  sie  es  nicht, 
vielmehr  Consequenzen  des  mittelalterlichen  Christenthums.  Die 
Reformation,  wie  sie  sich  in  dem  Christenthum  Luther's 
darstellt,  ist  dagegen  in  viel  er  Hin  sieht  eine  altkatholische, 
resp.  auch  eine  mittelalterliche  Erscheinung,  dagegen 
auf  ihren  religiösen  Kern  beurtheilt,  ist  sie  es  nicht, 
vielmehr  Wiederherstellung  des  paulinischen  Christen- 
thums im  Geiste  einer  neuen  Zeit. 

In  diesem  Satze  ist  der  Reformation  (dem  Christenthum  Luther's) 
ihre  Stellung  in  der  Geschichte  angewiesen  und  zugleich  ihr  Vcrhält- 
niss  zum  Dogma  bestimmt.  Von  hier  ergiebt  sich  auch,  warum  die 
Reformation  nicht  ledighch  nach  den  Ergebnissen,  die  sie  in  den 
ersten  zwei  Menschen  altern  ihres  Bestehens  errungen  hat,  beurtheilt 
werden  kann.  Wie  kann  man  es  denn  leugnen,  dass  der  Kathohcis- 
mus, seitdem  er  sich  zur  Contrareformation  aufgerafft,  und  der  Soci- 
nianismus mehr  als  ein  Jahrliundert  hindurch  in  einem  viel  innigeren 
Verhältniss   zur   neuen    Zeit   gestanden   haben,   als    der   lutherische 

44* 


692  i^ie  Ausßf'ängo  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

Protestantismus!  *  Sie  arbeiteten  mit  allen  Kulturmächten  der  Gegen- 
wart im  Bunde,  und  bald  fühlten  Poeten,  Humanisten,  Gelehrte, 
b]iitdecker,  Könige  und  Staatsmänner,  wohin  sie  eigentUch  gehörten, 
wenn  sie  nichts  Anderes  waren  als  Gelehrte  und  Staatsmänner.  Es 
war  der  Reformation  freilich  nicht  an  der  Wiege  gesungen  worden, 
dass  sie  einst  hinter  der  Zeit  einherschleiclien  werde.  War  sie  doch 
vielmehr  bei  ihrer  Geburt  begrlisst  worden  von  den  Jubelrufen  der 
Nation,  umjauchzt  von  den  Humanisten  und  den  Patrioten.  Allein 
dort  war  diese  ihre  nächste  Zukunft  bereits  vorgebildet,  von  wo  sie 
ihre  Zukunft  allein  zu  erwarten  hatte  —  in  Luther. 

Es  ist  mindestens  eine  sehr  einseitige  und  abstracto  Betrachtung 
Ijuther's,  die  in  ihm  den  Mann  der  neuen  Zeit,  den  Helden  eines 
heraufsteigenden  Zeitalters  oder  den  Schöpfer  des  modernen  Geistes 
feiert.  Will  man  solche  Helden  erblicken,  so  muss  man  zu  Eras- 
mus  und  Genossen  oder  zu  Männern  wie  Denck,  Servede  und 
Bruno  gehen.  In  der  Peripherie  seines  Daseins  war  Luther  eine 
altkatholisch-mittelalterliche  Erscheinung.  Freilich  eine  Zeit  lang  — 
es  waren  nur  wenige  Jahre  —  schien  es,  als  werde  dieser  Geist 
Alles  an  sich  ziehen  und  zu  einer  wundervollen  Einheit  gestalten, 
was  in  der  Gegenwart  lebendig  war,  als  sei  ihm  die  Macht  gegeben, 
wie  Niemandem  je  zuvor,  sein  Ich  zum  geistigen  Mittelpunkt  der 
Nation  zu  bilden  und  mit  allen  Waffen  gewappnet  sein  Jahrhundert 
in  die  Schranken  zu  rufen. 

Allein  das  war  nur  eine  herrliche  Episode,  die  zunächst  ein  schnelles 
Ende  nahm.  Gewiss  sind  jene  Jahre  von  L519  bis  c.  1523  die  schönsten 
der  Reformation,  und  es  ist  eine  wunderbare  Fügung  gewesen,  dass  alles 
das,  was  geleistet  Averden  sollte,  die  ganze  Aufgabe  der  Zukunft,  von 
Luther  selbst  in  einem  Moment  in  Angriö' genommen  und  der  Ver- 
wirklichung nahe  gebracht  schien.  Allein  diesem  reichen  Frühling  ist 
kein  voller  Sommer  gefolgt.  In  jenen  Jahren  ist  Luther  über  sich  selbst 
erhoben  w  orden  und  hat  die  Schranken  seiner  Eigenart  scheinbar  über- 
wunden —  er  ist  die  Reformation  gewesen,  sofern  sich  Alles  in  ihm 
zusammenfasste,  was  die  Rückkehr  zum  paulinischen  Christenthum  und 

^  Daher  auch  die  zahlreichen  Uebertritte  von  Protestanten,  namenthch  von 
gelehrten  Protestanten,  zum  Katholicismus  bis  zu  den  Tagen  der  Königin 
Christine  von  Schweden,  ja  noch  über  dieselben  hinaus.  Der  erste  Protestant  auf 
dem  Continent,  der  die  Verkümmerung  der  Confession  deutlich  empfunden  hat,  ist 
Calixt  in  Helmstädt  gewesen,  der  viel  gereiste.  Aber  auch  die  Mystiker  unter  den 
Lutheranern  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  legen  dafiir  Zeugniss  ab,  dass 
sie  die  schulmassige  Verengung  der  Confession  als  Last  empfanden  (s.  Ritschl, 
Gesch.  des  Pietisnms  Bd.  II).  Aber  weder  sie  noch  Calixt  haben  den  richtigen  Aus- 
weg gefunden. 


Luther's  Stellung  in  der  Dogmengeschichte  als  Problem.  693 

die  Begründung  eines  neuen  Zeitalters  zugleich  bedeutete.  Damals  ist 
auch  der  Bund  zwischen  dem  Protestantismus  und  Deutschland  ge- 
schlossen worden.  Gewiss  —  das  evangelische  Christenthum  ist  der 
Menschheit  geschenkt  worden,  und  umgekehrt,  der  deutsche  Geist  hat 
sich  auch  heute  noch  lange  nicht  dem  Protestantismus  unterworfen; 
dennoch  gehören  Protestantismus  und  Deutschthum  untrennbar  zu- 
sammen. Wie  die  Reformation  im  16.  Jahrhundert  das  deutsche  Reich 
gerettet  hat,  so  ist  sie  noch  immer  die  stärkste  und  eigentliche  Kraft 
desselben,  das  fortwirkende  Princip  und  das  höchste  Ziel. 

Aber  keinem  Menschen  ist  es  gegeben,  Alles  zu  leisten,  und  ein 
Jeder,  der  dauernd  wirkt  und  nicht  nur  aufblitzt  wie  ein  Meteor,  muss 
in  die  Schranken  zurückkehren,  die  seiner  Natur  gesetzt  sind.  Zu  ihnen 
ist  auch  Luther  zurückgekehrt.  Diese  Schranken  waren  nicht  nur  leichte 
Hüllen,  wie  man  uns  wohl  einreden  möchte,  so  dass  erst  Melanchthon 
und  die  Epigonen  in  ihrem  Unverstand  die  Verengung  verschuldet 
hätten,  sondern  Luther  empfand  sie  mit  als  die  Wurzeln  seiner  Kraft 
und  hat  sie  in  diesem  Sinn  geltend  gemacht. 

Aber  wenn  man  sich  nun  die  Aufgabe  stellt,  ein  Bild  von  dieser 
Eigenart  Luther' s  zu  entwerfen  und  gleichsam  die  Summe  seiner  Exi- 
stenz zu  ziehen,  so  hat  noch  Niemand  diesem  Problem  vollkommen  zu 
genügen  vermocht.  Man  kann  Luther  nur  wiedergeben,  indem  man  ihn 
selbst  sprechen  und  in  jeder  Richtung  seines  geistigen  Wesens  zum 
Wort  kommen  lässt:  diesen  Luther  kann  man  nachempfinden,  so- 
weit es  beschränkteren  Geistern  möglich  ist;  aber  der  Versuch  der 
Analyse  scheint  in  unlösbare  AVidersprüche  zu  verwickeln.  Dennoch 
muss  er  gemacht  werden,  wenn  das  complicirte  und  zum  Theil  ver- 
worrene Erbe  richtig  verstanden  werden  soll,  welches  er  hinterlassen 
hat,  und  wenn  wir  uns  der  Aufgabe  bemächtigen  wollen,  die  seine  Er- 
scheinung inmitten  eines  ihm  vielfach  fremden  Zeitalters  den  Nach- 
kommen aufgezwungen  hat. 

Er  war  nur  in  Einem  gross  und  gewaltig,  hinreissend  und  un- 
widerstehlich, der  Herr  seines  Zeitalters,  siegreich  hinwegschreitend 
über  die  Geschichte  eines  Jahrtausends,  um  seine  Zeit  aus  ihren  Bahnen 
zu  werfen  und  in  neue  Bahnen  zu  zwingen  —  er  war  nur  gross  in 
der  am  Evangelium  wieder  entdeckten  Erkenntniss  Gottes. 
Was  einst  auch  ein  Motiv  beim  Bau  des  Dogmas  gewesen,  in  diesem 
aber  unkenntlich  geworden  war,  was  dann  von  Augustin  ab  während  des 
ganzen  Mittelalters  neben  dem  Dctgma  einhergegangen  ist  in  unsicherer 
Ausprägung  und  Geltung,  der  lebendige  Glaube  an  den  Gott,  der  in 
(Christus  der  armen  Seele  zuruft:  „Salus  tua  ego  sum",  die  gewisse  Zu- 
versicht, Gott  sei  das  Wesen,  auf  das  man  sich  verlassen  kann  —  das 


694  Dit)  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

war  die  Botschaft  Luther's  an  die  Christenheit.  Die  alten  Dogmatiker 
des  Lutherthums  hahen  in  ihre  weitschichtigon  Systeme  auch  ein  Capitel 
„de  vocatione  Lutheri"  aufgenommen.  Man  hat  sie  desswegen  hart  ge- 
tadelt. Aber  mit  sehr  viel  grösserem  Rechte,  als  man  in  einer  christ- 
lichen Dogmatik  von  Adam,  Abraham  und  David  lesen  muss,  darf 
man  in  ihr  auch  einen  Paragraphen  über  Luther  gutheissen. 

Denn  nichts  weniger  als  das  religiöse  Verständniss  des  Evangeliums, 
das  souveräne  Recht  der  Rehgion  in  der  Rehgion,  hat  er  wiederher- 
gestellt. In  der  Entwickelung,  die  vor  ihm  lag,  hatte  man  ja  nicht  nur 
diesen  oder  jenen  Fehler  gemacht,  sondern  man  hatte  die  Religion  an 
ihre  Feinde  und  Freunde  verrathen.  Von  einer  babylonischen  Gefangen- 
schaft hat  Luther  selbst  gesprochen,  und  er  sah  diese  Gefangenschaft 
mit  Recht  sowohl  in  der  Herrschaft  eines  irdischen  selbstsüchtigen 
Kirchenthums  über  die  Religion  als  in  der  Umklammerung  des  sie  er- 
stickenden MoraHsmus.  Es  mag  schon  hier  bemerkt  werden,  dass  er 
nicht  mit  der  gleichen  Sicherheit  den  Jammer  der  Gefangenschaft  er- 
kannt hat,  in  welche  die  Religion  durch  die  altkathohsche  Theologie  ge- 
rathen  war.  Nicht  nur,  weil  sein  geschichthcher  Horizont  ungefähr  bei 
der  Zeit  des  Ursprungs  der  Papstkirche  abschloss  —  was  dahinter  lag 
verschwamm  ihm  an  vielen  Punkten  in  der  goldenen  Linie  des  NT. 's  — , 
sondern  vor  Allem  desshalb,  weil  das  Dogma,  die  geschicht- 
liche Hinterlassenschaft  des  2. — 7.  Jahrhunderts,  nicht  mehr 
die  nächste  Quelle  war,  aus  welcher  die  Missstände,  die  es 
in  der  Gegenwart  zu  bekämpfen  galt,  geflossen  waren. 
Das  alte  Dogma  w^ar  damals  ein  todtliegendes ,  wie  wir  das  in  unserer 
früheren  Darstellung  hinreichend  gezeigt  haben.  Niemand  machte  es 
für  den  Glauben  lebendig.  Wenn  daher  Luther  die  Fehler  der  Theologie 
verfolgte,  so  wandte  er  sich  fast  ausschliessHch  gegen  die  Scholastiker 
und  den  mittelalterUchen  Aristoteles.  Wenn  er  auf  die  Vernunft  schalt 
und  schmähte,  meinte  er  in  der  Regel  jene  Leute  ^;  wenn  er  die  unheil- 
volle Verbindung  der  ReHgionslehre  mit  der  Philosophie  auseinander- 
riss,  richtete  er  gegen  Jene  seine  Waffen.  Lidern  er  die  Theologie  be- 
kämpfte, bekämpfte  er  die  mittelalterliche,  und  auch  diese  nur  soweit, 
als  sie  die  Ehre  Gottes  und  Clu:isti^  das  Recht  Gottes  und  das  Unrecht 
der  Creatur,  verkannt  hatte.  Er  wusste  —  von  seinem  Streit  gegen  die 
Wiedertäufer  abgesehen  —  von  keinem  anderen  Streit  wider  die  Ver- 
nunft, als  dem  Streite  wider  die  Selbstgerechtigkeit  und  die  Ausflüchte 
des  Menschen,  der  auch  die  Religion  benutzt,  um  seinem  Gott  zu  ent- 
fliehen. 

^  S.  die  werthvolle  Untersuchung  von  Fr.  Nitzsch,  Luther  und  Aristoteles 
(1883). 


Luther 's  Stellung  in  der  Dogmengeschichte  als  Problem.  695 

Wunderbare  Verkettung  der  Dinge!  Derselbe  Mann,  der  das 
Evangelium  von  Jesu  Christo  aus  dem  Kirchenthum  und  dem  Moralis- 
mus befreit  hat,  hat  die  Geltung  desselben  in  den  Formen  der 
alt  katholischen  Theologie  verstärkt,  ja  diesen  Formen  nach 
«Jahrhunderte  langer  Quiescirung  erst  wieder  Sinn  und  Be- 
deutung für  den  Glauben  verliehen.  Es  hat  keinen  Theologen 
nach  Athanasius  gegeben,  der  die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi  für 
den  Glauben  so  lebendig  gemacht  hat  wie  Luther*,  kein  Lehrer  nach 
Cyrill  ist  in  der  Kirche  erstanden,  dem  das  Geheimniss  der  Einheit  der 
beiden  Naturen  in  Christus  ein  solcher  Trost  gewesen  ist  wie  für  Luther 
—  „ich  hab  einen  bessern  Sorger,  denn  alle  Engel  sind:  der  lieget  in 
der  Kjrippen  und  hanget  an  einer  Jungfrau  Zitzen,  abersitzet  gleichwohl 
zur  rechten  Hand  Gottes,  des  allmächtigen  Vaters"  — ;  kein  Mysterio- 
soph  des  Alterthums  hat  überzeugter  und  seliger  von  der  heihgen 
Speise  im  Abendmahl  gesprochen  als  Luther.  Der  deutsche  Reformator 
hat  den  Formeln  des  griechischen  Christenthums  wieder  Leben  gegeben ; 
er  hat  sie  dem  Glauben  wiedergeschenkt.  Ihm  hat  man  es  zuzuschreiben, 
dass  bis  heute  im  Protestantismus  diese  Formeln 'eine  lebendige  Macht 
für  den  Glauben  sind,  ja  nur  im  Protestantismus.  Hier  lebt  man  in 
ihnen,  vertheidigt  oder  bestreitet  sie;  aber  auch  die,  welche  sie  be- 
streiten, wissen  ihr  relatives  Recht  zu  schätzen.  In  den 'katholischen 
Kirchen  sind  sie  ein  todter  Besitz. 

Man  wird  dem  „ganzen  Luther"  wa^hrHch  nicht  gerecht,  wenn  man 
diese  Seite  seiner  reformatorischen  Bedeutung,  die  für  ihn  selbst  mit  der 
evangelischen  unauflösHch  zu  einer  Einheit  verknüpft  war,  vertuscht 
oder  gering  anschlägt.  Luther  ist  der  Restaurator  des  alten 
Dogmas  gewesen.  Er  hat  das  Interesse  an  demselben  seiner  Zeit 
aufgezwTingen  und  sie  auch  damit  aus  den  Bahnen  des  humanistischen, 
franciskanischen  und  poUtischen  Christenthums  hinausgeworfen :  die  hu- 
manistische und  franciskanische  Zeit  musste  sich  für  das  ihr  Fremdeste 
interessiren —  für  das  Evangelium  und  die  alte  Theologie. 
Ja  man  kann  noch  einen  Schritt  weiter  gehen:  Luther  hätte  das  „Qui- 
cunquevult  salvus  esse,  ante  omnia  opus  est,  ut  teneat  cathohcamfidem" 
des  Athanasianums  jeden  Augenbhck  mit  Plerophorie  vertreten.  Nicht 
nur  die  Augsburgische  Confession  hat  im  1,  Artikel  das  alte  Dogma 
bestätigt,  sondern  auch  die  Schmalkaldischen  Artikel  beginnen  mit  ihm: 
„de  his  articulis  nulla  est  inter  nos  et  advcrsarios  controversia,  quum 
illos  utrinque  confiteamur"  ;  und  wenn  es  dann  bei  dem  gleich  folgenden 
Artikel  de  officio  et  opere  Jesu  Christi  heisst :  „De  hoc  articulo  cedere 
aut  ahrjuid  contra  illum  largiri  aut  permittere  nemo  piorum  potest",  so 
soll  derselbe  durch  solchen  Zusatz  nicht  über  die  zuvor  genannten  Ar- 


()96  I^io  AuPgäuge  des  Dogmas  im  Protestantismus, 

tikel  erhoben  werden :  jene  standen  für  Tjutlier  so  fest,  dass  er  bei  ihnen 
eine  solche  Bemerkung  gar  nicht  für  nöthig  hielt.  Audi  kann  darüber 
kein  Zweifel  sein  —  das  Evangelium  war  ihm  doctrina  salutaris,  doc- 
trina  evangolii,  welche  die  alten  Dogmen  sicher  einschloss;  die  Ver- 
suche, es  anders  darzustellen,'  sind  m.  E.  gescheitert:  das  Evangelium 
ist  eine  heilige  Lehre,  enthalten  in  Gottes  Wort,  die  gelernt  sein 
will  und  der  man  sich  zu  unterwerfen  hat  K 

Wie  ist  es  zu  erklären,  dass  Tjuther  in  einer  Zeit,  die  das  Dogma 
zurückgeschoben  hatte,  und  in  welcher  der  Geist  der  AVissenschaft  und 
Kritik  so  erstjirkt  war,  dass  man  es  bereits  von  verschiedenen  Seiten 
her  zu  bestreiten  begann,  so  sicher  für  dasselbe  eingetreten  ist  und 
es  wieder  lebendig  gemacht  hat?  Auf  diese  Frage  liisst  sich  mehr  als 
eine  Antwort  geben;  eine  wurde  bereits  oben  mitgetheilt:  Luther 
kämpfte  gegen  die  Missbräuche  und  Irrthümer  des  Mittelalters. 
Man  kann  diese  Antwort  noch  erweitern:  Luther  kämpfte  niemals 
gegen  unrichtige  Theorien  und  Lehren  als  solche,  sondern  nur  gegen 
solche  Theorien  und  Lehren,  welche  offenbar  die  puritas  evangelii 
und  den  Trost  desselben  verdarben.  Damit  ist  schon  das  Andere 
gesagt  —  er  stand  nicht  im  Bunde  mit  den  hellen  Geistern,  welche  die 
Theologie  berichtigen  und  damit  eine  zutreffendere  Erkenntniss  der 
Welt  und  ihrer  Ursachen  heraufführen  wollten.  In  ihm  lebte  überhaupt 
nicht  der  unwiderstehliche  Drang  des  Denkers,  der  nach  theoretischer 
Klarheit  strebt,  ja  er  hatte  einen  instinctiven  Widerwillen  und  ein  ein- 
geborenes Misstrauen  gegen  jeden  Geist,  der,  lediglich  von  der  Er- 
kenntniss geleitet,  Irrthümer  kühn  berichtigte.  AVer  auch  hier  für  den 
„ganzen  Luther"  heute  meint  eintreten  zu  können,  der  kennt  ihn  ent- 
weder nicht  oder  setzt  sich  selber  dem  Verdachte  aus,  dass  ihm  die 
AVahrheit  der  Erkenntniss  eine  geringfügige  Sache  ist.  Das  war  die 
empfindlichste  Schranke  in  dem  geistigen  Wesen  des  Reformators,  dass 
er  sich  weder  die  Bildungselemente,  die  seine  Zeit  bot,  voll  angeeignet, 
noch  das  Recht  und  die  Pflicht  der  freien  Forschung  erkannt,  noch 
endlich  die  Kraft  der  kritischen  Einwürfe  gegenüber  der  „Lehre",  die 
damals  schon  lebendig  waren,  zu  ermessen  verstanden  hat.  Es  mag 
sehr  kleinlich  oder  gar  anmassend  erscheinen,  dies  zu  bemerken ;  denn 
Luther  hat  uns  für  diesen  Ausfall  nicht  nur  dadurch  entschädigt,  dass 
er  religiöser  Reformator  war,  sondern  auch  durch  den  unerschöpflichen 
Reichthum  seiner  Persönlichkeit.  AVelch'  eine  Fülle  umschloss  diese 
Persönlichkeit!  wie  hat  sie  in  heroischer  Weise  auch  alles  das  be- 


*  Eine  der  stärksten  Stellen  steht  im  „Kurzen  Bekenntniss  vom  hl.  Abend- 
mahl" (1545.  Erlanger  Ausgabe  XXXII  S.  415):  „Darumb  heissts,  rund  und  rein, 
ganz  und  Alles  geglaubt  oder  Nichts  geglaubt"  (er  meint  seine  Abendmalilslehre). 


Luther's  Stellung  in  der  Dogmengeschichte  als  Problem.  697 

sessen,  was  soeben  vermisst  wurde,  einen  Reichthum  ursprünglicher 
Anschauungen,  der  alle  mangelnden  „Bildungselemente"  aufwog,  eine 
Sicherheit  und  Kühnheit  desBHcks,  die  mehr  war  als  „freie  Forschung", 
eine  Kraft,  das  Unwahre  zu  treffen,  das  Probehaltige  zu  conserviren, 
neben  der  alle  „kritischen  Einwürfe"  matt  und  schwach  erschienen,  vor 
Allem  aber  ein  wundervolles  Vermögen,  dem  starken  Gefühl  und  dem 
wahren  Gedanken  Ausdruck  zu  geben,  wirklich  zu  reden  imd  durch 
das  Wort  zu  überzeugen,  wie  kein  Prophet  vor  ihm.  Allein  alle  diese 
gewaltigen  Eigenschaften  waren  doch  unvermögend,  dem  kommenden 
Geschlecht  eine  reine  Bildung  zu  sichern,  weil  sie  in  Luther  selbst  nicht 
aus  dem  Triebe  herausgeboren  waren,  die  Dinge  zu  erkennen,  wie  sie  sind. 
Gewiss  —  er  hatte  Grösseres  zu  thun,  als  die  Wissenschaft  zu  berich- 
tigen und  die  allgemeine  Kultur  in  der  Breite  ihrer  Entwickelung  zu  be- 
fördern, und  dankbar  dürfen  wir  es  preisen,  dass  wir  einen  Mann  erlebt 
haben,  der  all'  sein  Trachten  in  den  Dienst  derErkenntniss  des  lebendigen 
Gottes  gestellt  hat.  Aber  es  ist  doch  eitel  Romantik  und  Selbsttäuschung, 
wenn  man  die  Schranken  der  Luther 'sehen  Eigenart  als  sein  Bestes  preist, 
und  es  ist  schlimmer  als  Romantik  und  Selbsttäuschung,  wenn  man  das, 
was  einem  Heros  erlaubt  war,  der  nicht  reflectirte,  sondern  that,  was 
er  musste,  zu  einem  allgemeinen  Gesetz  für  eine  Zeit  erheben  will,  die, 
wenn  sie  sich  unbefangen  und  rücksichtslos  der  Erkenntniss  der  Wahr- 
heit hingiebt,  auchthut,  was  sie  thun  muss.  Und  dann  —  wer  wagt  es 
dennwirkhch,  den  „ganzen  Luther"  zu  repristiniren  mit  der  Massivität 
seines  mittelalterlichen  Aberglaubens,  den  vollendeten  Widersprüchen 
seiner  Theologie,  der  seltsamen  Logik  seiner  Argumente,  den  Fehlern 
seiner  Exegese  und  der  Ungerechtigkeit  und  Barbarei  seiner  Polemik? 
Sollen  wir  denn  das  alles  vergessen,  was  wir  gelernt  haben  und  was 
Luther  nicht  kannte,  die  Relativität  des  geschichtlichen  Urthcils,  das 
Mass  der  Dinge  und  das  bessere  Verständniss  des  NT. 's?  Fordert  das 
Ohristenthum,  je  strenger  man  es  als  geistige  Rehgion  fasst,  nicht 
den  Einklang  mit  dem  gesammten  Leben  unseres  Geistes  und  kann 
man  aufrichtiger  AVeise  sagen,  dass  uns  das  Ohristenthum  Luther's  den 
bietet  ? 

Indessen  ist  es  nicht  nur  das  mangelnde  theoretische  Interesse  ge- 
wesen, was  Luther  veranlasste,  bei  dem  alten  Dogma  Halt  zu  machen, 
auch  nicht  nur  die  unsi("herc  Kenntniss  und  das  mangelnde  Verständ- 
niss der  altkathohschon  Zeit,  sondern  das  alte  Dogma  selbst 
kam  der  neuen  Auffassung  des  Evangeliums,  die  er  verkün- 
digte, entgegen '.   Er  hat  sich  also  auch  hier,  wie  überall,  nicht 

'  Man  hat  auch  darauf  hingewiesen,  dass  das  alte  Dogma  seit  Justinian  das 
bürgerliche  Rechtsbuch  eröffnete,    dass  der  Kechtsschutz ,  den  es  vcrhiess,  nur 


f)98  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus, 

nur  von  äusseren  Autoritäten  leiten  lassen,  sondern  die  in- 
nere Uebereinstimmung,  die  er  zwischen  seinem  Glauben  und  jenem 
Dogma  zu  finden  meinte,  hat  ihn  an  demselben  nicht  irre  werden  lassen. 
Er  hat  in  dem  „Glauben"  nur  die  Ehre  Gottes  und  Christi  gesucht; 
die  lüten  Ghiubensformeln  thaten  das  auch.  Er  wollte  in  dem  „Glauben" 
nichts  hören  von  Gesetz,  Werken,  Leistung  und  Verdienst ;  die  alten 
Glaub ensfonneln  schwiegen  über  sie.  Ihm  war  die  Sündenvergebung, 
wie  sie  eine  heilige  Kirche  schafft  und  Leben  und  Seligkeit  bringt,  das 
Hauptstück  der  lleligion;  er  fand  diese  Stücke  in  souveräner  Stellung 
in  den  alten  Formeln.  Er  ergriff*  Jesum  Christum  als  den  Spiegel  des 
väterlichen  Herzens  Gottes,  darum  als  Gott  und  wollte  von  keinem 
anderen  Tröster  wissen  als  von  Gott  selbst,  wie  er  in  Christus  erscliienen 
ist  und  durch  den  hl.  Geist  wirkt;  die  alten  Glaubensformeln  zeugten 
nur  von  Vater,  Sohn  und  Geist,  von  dem  einen  Gott,  der  eine  Drei- 
heit  sei,  und  sagten  nichts  von  Maria,  den  Heiligen  und  anderen  Noth- 
helfern.  Seine  Seele  lebte  in  dem  Glauben  an  den  Gott,  der  uns  irdisch 
so  nahe  gekommen  ist  wie  ein  Bruder  dem  Bruder;  die  alten  Glaubens- 
formeln bezeugten  dies  durch  ihre  Lehre  von  den  zwei  Naturen  in 
Christo.  Er  wappnete  sich  wie  Paulus  wider  die  Anläufe  des  Teufels, 
der  Welt  und  der  Sünde  mit  der  Gewissheit,  dass  Christus  durch  seinen 
Tod  die  Mächte  der  Finsterniss  bezwungen  und  die  Schuld  getilgt  habe, 
und  dass  er  jetzt  als  der  erhöhte  Herr  zur  Eechten  Gottes  sitzt;  die 
alten  Glaubensformeln  bekannten  sich  zu  dem  Kreuzestod,  der  Aufer- 
stehung und  der  Erhöhung  Christi.  Indem  er  unter  dem  Schutt  des 
Mittelalters  den  alten  Glauben  des  Paulus  in  dem  NT.  wieder  ent- 
deckte, entdeckte  er  ihn  auch  in  dem  alten  Dogma:  die  Kirche  besass 
ihn,  bekannte  ihn  täglich,  aber  achtete  seiner  nicht,  wusste  nicht  mehr, 
was  sie  ihre  Priester  murmeln  Hess,  und  hat  so  mitten  im  Besitz  ihren 

der  Orthodoxie  zugesprochen  war,  und  dass  somit  jeder  Angriff  auf  die  Trinität 
imd  die  Christologie  damals  als  Anarchismus  empfunden  werden  musste  und  unter 
den  schwersten  Strafen  stand.  Das  ist  gewiss  richtig;  aber  ich  kann  nicht  finden, 
dass  Luther  an  die  schweren  Folgen,  welche  eine  Auflehnung  wider  das  Dogma  für 
ihn  und  seine  Anhänger  gehabt  hätte,  jemals  gedacht  hat.  Er  kam,  soviel  ich  sehe, 
niemals  so  weit,  um  sich  darüber  Sorge  zu  machen,  da  er  ohne  Schwanken  an  dem 
alten  Dogma  festhielt.  In  dem  anderen  Fall  hätte  er  gewiss  den  Muth  bewiesen, 
den  Servede  gezeigt  hat.  Anders  steht  es,  wenn  ich  nicht  irre,  bei  Melanchthon 
und  Calvin.  Der  Erstere  hat  auch  aus  ängstlichen  kirchen-  und  staatspolitischen 
Erwägungen  jede  Gemeinschaft  mit  Solchen  vermieden,  deren  Stellung  zum  alten 
Dogma  verdächtig  war,  und  Calvin  ist  schwerlich  von  dem  Vorwurf  freizusprechen, 
dass  er  sich  selbst  zu  dem  alten  Dogma  anders  gestellt  und  auch  die  Autitriuitarier 
anders  behandelt  hätte,  wenn  er  minder  politisch  gewesen  wäre.  Andeutungen  über 
die  rechtliche  und  politische  Seite  der  Frage  bei  Kattenbusch,  Luther's  Stellung 
zu  den  ökumenischen  Symbolen  S.  1  ff. 


Luther 's  Stellung  in  der  Dogmengeschichte  als  Problem.  699 

Besitz  vergessen.  "Wie  sollte  er  dieser  Kirche  gegenüber  mit  dem 
NT.  nicht  auch  das  alte  Dogma  preisen,  welches  das  Wort  Gottes  be- 
zeugte! Und  in  einer  sehr  wichtigen  Hinsicht  hatte  er  ja  völlig  Recht 
—  dieses  alte  Dogma  war  wirklich  ein  Ausdruck  der  Religion  der 
alten  Zeit  gewesen:  das,  was  diese  Zeit  daneben  festhielt  und 
wodurch  sie  ihr  Dogma  begrenzte,  hatte  sie  nicht  in 
das  Dogma  selbst  aufgenommen.  Erst  in  dem  Mittelalter 
haben  Gesetz,  Verdienst  und  Leistung  in  den  Glaubenslehren  und  im 
Kultus  eine  Stelle  gefunden.  Die  altkatholische  Kirche  hatte  im  Ver- 
gleich mit  der  mittelalterhchen  überhaupt  ein  mehr  religiöses  Ge- 
präge :  sie  bekannte  in  ihrem  Glauben  und  in  ihrem  Kultus  das,  was 
Gott  durch  Christus  gethan  hat  und  thun  wird. 

Aber  hatte  er  nicht  überhaupt  Recht?  standen  nicht  sein  Glaube 
und  das  alte  Dogma  wirklich  in  schönster  Harmonie  ?  Man  behauptet 
es  heute  noch,  und  man  beruft  sich  dafür  auf  den  scheinbar  stärksten 
Zeugen,  auf  ihn  selber,  der  es  nicht  anders  gewusst  hat.  Nach  dieser 
Auffassung  ist  die  Dogmenbildung  der  alten  Kirche  bis  zum  6.  und 
7.  Jahrhundert  „gesund"  gewesen;  es  fehlte  ihr  nur  die  Rechtfertigung 
aus  dem  Glauben.  Diesen  Zusatz  hat  Luther  hinzugefügt,  indem  er  zu- 
gleich die  mittelalterliche  Fehlentwickelung  gereinigt,  resp.  abgethan 
hat.  Allerdings  spricht  man  dabei  doch  zugleich  auch  von  einem  „Um- 
bau" und  einer  „Neubildung"  des  Dogmas,  die  Luther  vorgenommen 
habe;  aber  es  ist  schwer  anzugeben,  was  dieses  Wort  bedeuten  soll : 
Zusätze  und  Abstriche  sind  kein  Umbau  ^  Man  meint  es  daher  auch 
nicht  ernsthaft  mit  demselben ;  aber  es  bezeichnet  das  Eingeständniss, 
dass  Luther's  Glaubensbegriff  irgendwie  das  gesammte  Dogma  modifi- 


*  S.  Thomasius-Seeberg,  a.  a.  0.  11  S.  748:  „Die  dritte  Periode  bietet 
die  Neubildung  des  Dogmas  durch  die  Reformation.  Hier  ist  vom  Mittel- 
punkt des  evangelischen  Rechtfcrtigungsglaubens  aus  das  mittelalterliche  Verständ- 
niss  des  Christenthums  an  seinen  beherrschenden  Punkten  durchbrochen  worden, 
und  es  ist  von  jenem  Centrum  aus  mit  Beibehaltung  der  gesunden,  an  den 
Urkunden  des  Urchristenthums  sich  bewährenden  Resultate  der  seitherigen  Dogmen- 
bildung ein  Umbau  des  Dogmas  unternommen  worden."  Der  Ausdruck  »an  den 
Urkunden  des  Urchristenthums  sich  bewährend«  ist  übrigens  erstlich  ganz  modern, 
im  Sinne  Luther's  daher  höchst  anstössig,  zweitens  ein  Verzicht  in  Bezug  auf  Alles, 
was  die  Kirche  in  den  letzten  150  Jahren  in  Bezug  auf  das  NT.  und  die  älteste 
Dogmengeschichtc  gelernt  hat.  Noch  deutlicher  hat  Kahnis  (Die  Sache  der  luth. 
Kirche  gegenüber  der  Union  1854  S.  90)  seine  Ansicht  über  das  Verhältniss  der 
lutherischen  Kirche  zur  römischen  ausgesprochen.  Nachdem  er  constatirt  hat,  dass 
Ijcide  Kirchen  die  ökumenischen  Symbole  anerkennen  und  dass  die  lutherische  Kirche 
Nachsicht  mit  den  Rationalisten  undSchleicrmacherianern  übt,  fährt  er  fort:  „Sollten 
wir  denn  keine  Nachsicht  haben  mit  den  römischen  Brüdern,  welche  diese  Wahr- 
heiten festhalten  und  nur  ein  IMus  haben,  gegen  welches  wir  potcstiren." 


700  T)iö  Auaj2:änge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

cirt  hat.  Wie  das  geschehen  ist,  das  kann  man  freilich  nicht  sagen-, 
denn  die  üogmenbildung  der  alten  Kirche  war  ja  „gesund".  Auf  diesem 
Stand[)unkt  muss  nothwendiger  Weise  die  ganze  Entwickelung  des  Pro- 
testantismus seit  dem  Ende  des  1 7.  Jahrhunderts  bis  heute  als  eine  Fehl- 
entwickelung, ja  als  ein  Abfall  erscheinen  —  misslich  nur,  dass  nahezu 
alle  Protestanten  abgefallen  sind  und  sich  hauptsächlich  nur  durch  das 
Mass  von  Klarheit  uiul  Aufrichtigkeit  unterscheiden,  in  der  sie  ihren 
Abfall  eingestehen. 

AVir  haben  zu  untersuchen,  ob  Luther's  Glaubensbegriif,  d.  h,  das, 
was  Zugestandenermassen  seine  reformatorische  Bedeutung  ausmacht, 
das  alte  Dogma  fordert  und  daher  auch  mit  ihm  aufs  innigste  verbunden 
ist  oder  nichts  Wir  stellen  zu  diesem  Behufe  zunächst  die  wichtigsten 
Sätze,  in  denen  sich  sein  Chris  tenthum  darstellt,  zusammen.  So- 
dann werden  wir  die  entscheidendsten  kritischen  Sätze,  die  er 
selbst  als  Folgerungen  seines  religiösen  Verständnisses  des  Evangeliums 
ausgesprochen  hat,  aufführen.  Auf  Grund  dieser  Untersuchungen  wird 
sich  dann  ergeben,  ob  und  in  welchem  Masse  die  Gesammthaltung, 
welche  Luther  dem  alten  Dogma  gegenüber  eingenommen  hat,  eine 
widerspruchslose  gewesen  ist.  Ist  sie  es  gewesen,  so  erhebt  sich  letzt- 
lich die  Frage,  ob  es  der  Kirche  der  Gegenwart  noch  möglich  ist, 
dieselbe  Haltung  einzunehmen. 

2.  Das  Christenthum  Luther's^. 

In  der  Zelle  seines  Klosters  hat  Luther  den  Seelenkampf  ausge- 
kämpft, dessen  Frucht  die  neue  und  doch  alte  evangelische  Erkenntniss 
werden  sollte.  Innere  Unruhe,  die  Sorge  um  sein  Heil,  hatten  ihn  in 
das  Kloster  getrieben.  Er  war  dort  eingetreten,  um  —  echt  katholisch 
—  durch  gehäufte  Leistungen  den  strengen  Richter  für  sich  zu 
stimmen  und  „einen  gnädigen  Gott  zu  kriegen"  ^.   Aber  indem  er  alle 

*  Es  handelt  sich  hier  lediglich  um  die  Frage  der  inneren  Zusammengehörig- 
keit des  Christenthums  Luther's  und  des  alten  Dogmas.  Dass  er  die  äussere  Au- 
torität des  Dogmas  ausser  Kraft  gesetzt  hat,  darüber  s.  oben  S.  582  ff. 

'  Ausfuhrliche  Darstellungen  der  Theologie  Luther's  haben  Köstlin,Theod. 
H a r n a c k  und  Lommatzsch  geliefert.  Dogmengeschichtlich  von  AVichtigkeit  ist 
P litt 's  Einleitung  in  die  Augustana.  Für  die  Anfänge  der  Bildung  des  eigcuthüm- 
lichen  Christenthums  Luther's  kommen  besonders  die  Arbeiten  von  Kost  1  in, 
Riehm,  Seidemann,  Hering,  Dieckhoff,  Bratke,  Ritschi  und  Kolde  in 
Betracht.  Präcis  und  lehrreich  ist  die  Darstellung  von  Loofs  in  seinem  Leitfiiden  zur 
Dogmengeschichte  S.  214  ff.  Eine  zuverlässige  Darlegung,  aber  freilich  im  Lichte 
der  Theologie  der  Epigonen,  haben  Thomasius-Seeberg  geboten,  a.  a.  0.11 
S.  330 — 394.  Im  Folgenden  ist  mein  Vortrag:  „M.  L.  in  seiner  ßed.  f.  d.  Grcsch.  d. 
Wissenschaft  u.  d.  Bildung"  1883  benutzt. 

'  Vgl.  vor  Allem  die  „kleine  Antwort  auf  Herzog  Georg's  nahestes  Buch" 


Das  Christenthum  Luther's.  701 

die  IVIittel  benutzte,  welche  ihm  die  mittelaherhche  Kirche  bot,  wuchsen 
seine  Anfechtungen  und  Qualen.  Er  hatte  das  Bewusstsein  mit  allen 
Mächten  der  Finsterniss  zu  ringen  und  sich  im  Kloster  statt  in  der  Ge- 
meinschaft der  Engel  unter  Teufeln  zu  befinden.  Wenn  ihn  nachmals 
auf  der  Höhe  seines  Wirkens  Kleinmuth  überfiel,  so  bedurfte  es  nur 
der  Erinnerung  an  jene  klösterlichen  Schrecknisse,  um  ihn  wieder  zu 
festigen  ^  In  dem  Systeme  von  Sacramenten  und  Leistungen,  dem  er 
sich  unterwarf,  fand  er  die  Gewissheit  des  Friedens  nicht,  die  er  suchte 
und  die  nur  der  Besitz  Gottes  selbst  gewähren  konnte.  Er  wollte  sein 
Leben  für  Zeit  und  Ewigkeit  auf  einen  Fels  gründen  —  den  Wechsel 
des  Mystikers  zwischen  Entzückung  und  Furcht  hat  er  nicht  erlebt; 
denn  er  w^ar  zu  streng  gegen  sich  selbst  — -,  aber  alle  Stützen,  die  man 
ihm  anpries,  zerbrachen  unter  seinen  Händen  und  der  Boden  wankte 
unter  seinen  Füssen.  Er  glaubte,  mit  sich  und  seiner  Sünde  zu  kämpfen; 
aber  in  Wahrheit  rang  er  mit  der  ReHgion  seiner  Kirche:  eben  das,  was 
ihm  Trost  gewähren  sollte,  offenbarte  sich  ihm  als  der  Schrecken.  In 
solcher  Noth  ging  es  ihm  —  langsam  und  allmählich  —  an  dem  ver- 
schütteten kirchhchen  Glaubensbekenntniss  („ich  glaube  die  Vergebung 
der  Sünden"),  und  an  der  hl.  Schrift  auf,  was  die  Wahrheit  und  die  Kraft 
des  Evangeliums  sei.  Auch  Augustin's  Glaubensauffassung  von  den 
ersten  und  letzten  Dingen  ist  ihm  dabei  ein  Leitstern  gewesen.    Aber 


(Erl.  Ausg.  XXXI  S.  273) :  „Ist  je  ein  Münch  gen  Himmel  kommen  durch  Müncherei, 
so  wollt  ich  auch  hinein  kommen  sein;  das  werden  mir  zeugen  alle  meine  Kloster- 
gesellen." Nach  katholischem  Urtheil  freilich  hat  es  Luther  im  Kloster  ganz  ver- 
kehrt augefangen  und  durch  seinen  Hochmuth  bewiesen,  dass  er  nicht  dorthin  ge- 
hörte. Sein  Hochmuth  l^estand  aber  lediglich  darin,  dass  er  es  ernsthafter  trieb  als 
seine  Cxenossen. 

*  Eine  der  charakteristischsten  Stellen  s.  a.  a.  0.  S.  278  f. :  „Und  mir  ward  auch 
also  Gluck  gewuntscht,  da  ich  die  Profession  gethan  hatte,  vom  Prior,  Convent  und 
Beichtvater,  dass  ich  nu  wäre  als  ein  unschuldig  Kind,  das  itzt  rein  aus  der  Taufe 
käme.  Und  fürwahr,  ich  hätte  mich  gern  gefreuet  der  herrHchen  Tliat,  dass  ich  ein 
solcher  trefflicher  Mensch  wäre,  der  sich  selb  durch  sein  eigen  Werk,  ohn  Christus 
Blut,  so  schon  und  heilig  gemacht  hätte,  so  Icichtlich  und  so  balde.  Aber,  wiewohl 
ich  solches  süsses  Lob  und  j)räclitige  Wort  von  meinem  eigen  AVerk  gei'ii  hörete, 
und  Hess  mich  also  für  einen  Wunderthäter  halten,  der  sich  selbs  so  liederlicher 
Weise  künnt  heilig  machen,  und  den  Tod  fressen  sampt  dem  Teufel  u,  s.  w.,  so  wollt 
es  doch  den  Stich  nicht  lialten.  Denn  wo  nur  ein  klein  Anfechtung  kam  vom  Tod 
odf'T  Sunde,  ho  fiel  ich  daliin,  und  fand  weder  Taufe  noch  Müncherei,  die  mir 
helfen  möcht;  so  hatte  ich  nu  Christum  und  seine  Taufe  längest  auch  verloren.  Da 
war  ich  der  elendeste  Mensch  auf  Erden,  Tag  und  Nacht  war  eitel  Heulen  und  Ver- 
zweifeln, dass  mir  niemand  steuren  kunnte  .  .  .  Gott  sei  Lob!  dass  ich  mich  nicht  zu 
Tfjd  gesell witzf't  halie,  ich  wäre  sonst  längst  im  A])grund  der  Hölle  mit  meiner 
Münchtaufr\  D(!nn  ich  kannte  Christum  nicht  mehr,  denn  als  einen  gestrengen 
Richter,  für  dem  ich  fliehen  wollt,  und  doch  nicht  entfliehen  kunnte." 


702  r)ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

wie  viel  sicherer  ergriff  er  das  Wesen  der  Sache !  Was  er  hier  lernte, 
was  er  mit  aller  Kraft  seiner  Seele  als  das  Einzige  ergriff,  das  war  die 
Offenbarung  des  gnädigen  Gottes  im  Evangelium,  d.  h.  in 
(>hristus.  Dieselbe  Erfalirung,  die  Paulus  einst  gemacht  hat,  erlebte 
Ijuther,  und  wiewohl  sie  nicht  so  stürmisch  und  plötzlich  eintrat  wie 
bei  Jenem  *,  so  hat  doch  auch  er  an  dieser  Erfahrung  gelernt,  dass 
Gottesist,  der  den  Glauben  giebt:  „da  es  Gott  wohlgefiel,  dass 
er  seinen  Sohn  offenbarte  in  mir."  In  Luther 's  Entwickelung  bis  1517 
fehlt  jedes  dramatische  und  romantische  Element:  es  ist  das  vielleicht 
das  Wunderbai'ste  an  diesem  wunderbaren  Charakter  und  das  Siegel 
seiner  innerlichen  Grosse. 

Das  aber,  was  er  erlebt  hatte  und  was  er  nun  mit  steigender 
Klarheit  auszusprechen  lernte,  war  gemessen  an  dem  Vielerlei,  was 
seine  Kirche  als  Religion  bot,  vor  Allem  eine  ungeheure  Reduction. 
In  diesem  Sinne  gleicht  er  Athanasius^,  mit  dem  er  überhaupt  die 
bemerkenswertheste  Verwandtschaft  hat,  und  ist  Augustin  sehr  un- 
gleich, der  den  unerschöpflichen  Reichthum  seines  Geistes  niemals 
beherrscht  und  desshalb  mehr  angeregt  als  erbaut  hat.  Jene  Re- 
duction  bedeutete  nichts  Anderes  als  die  Wiederherstel- 
lung der  Religion.  Aus  einem  weitschichtigen  Systeme  von  Büs- 
sungen,  Leistungen  und  Tröstungen,  von  strengen  Satzungen  und 
unsicheren  Gnadenstücken,  aus  Magie  und  blindem  Gehorsam,  führte 
er  sie  heraus  zu  energischer  Concentrirung.  Die  christliche  Religion 
ist  der  lebendige  Glaube  an  den  lebendigen  Gott,  der  sich  in  Jesus 
Christus  offenbart  und  sein  Herz  aufgethan  hat^  —  nichts  Anderes. 
Objectiv  ist  sie  Jesus  Christus,  seine  Person  und  sein  Werk'*; 
subjectiv  ist  sie  der  Glaube;  ihr  Inhalt  aber  ist  der  gnädige  Gott 
und  desshalb  die  Sündenvergebung,  welche  Leben  und  Seligkeit  ein- 

*  Die  Art,  wie  Luther  seinen  Glauben  in  der  ersten  Zeit  zum  Ausdruck  ge- 
bracht hat,  zeigt  deutlich,  dass  er  ausser  von  Augustin  auch  von  den  mittelalter- 
lichen Mystikern  (von  Bernhard  ab)  gelernt  hat.  Erst  bei  ihnen  ist  die  Verknüpfung 
der  Hingabe  an  Gott  mit  der  Hingabe  an  Christus  deutlich,  die  bei  Augustin  viel 
unsicherer  gewesen  ist.  In  diesem  Sinne  steht  Luther's  Glaube  in  einer  bestimmten 
geschichtlichen  Linie;  allein  die  Ursprünglichkeit  und  Kraft  seiner  Glaubenserfah- 
rung wird  dadurch  nicht  beeinträchtigt.  Eine  generatio  aequivoca  giebt  es  auch  auf 
religiösem  Gebiete  nicht. 

2  S.  Bd.  II  S.  21  ff. 

^  Grosser  Katechism.  II,  3  (S.  460  Müller):  „Neque  unquam  propriis  viribus 
pervenire  possemus,  ut  patris  favorem  ac  gratiam  cognosceremus,  nisi  per  Jesum 
Christum  dominum  nostrum,  qui  paterni  animi  erga  nos  speculum  est, 
extra  quem  nihil  nisi  iratum  et  truculentum  videmus  iudicem." 

*  Vor  Allem  hat  Theod.  Harnack  in  seinem  AVerk  „Luther's  Theologie" 
(s.  bes.  den  2.  Bd.)  gezeigt,  dass  die  ganze  Theologie  Luther's  Christologie  ist. 


1 


Das  Christenthum  Luther's.  703 

schliesst.  In  diesem  Ring  ist  für  Luther  die  ganze  Eeligion  beschlossen. 
Der  lebendige  Gott  —  nicht  die  philosophische  oder  mystische 
Abstraction  — ,  der  offenbare,  der  gewisse,  der  jedem  Christen  er- 
reichbare, gnädige  Gott.  Unwandelbares  Vertrauen  des  Herzens  auf 
ihn,  der  sich  in  Christus  zu  unserem  Vater  gegeben  hat,  persönHche 
Glaubenszuversicht,  denn  Christus  steht  durch  sein  Werk  für  uns 
ein  —  das  wurde  ihm  die  ganze  Summe  der  Religion,  üeber  alles 
Sorgen  und  Grämen,  über  alle  Künste  der  Askese,  über  alle  Vor- 
schriften der  Theologie  hinweg  wagte  er  es,  auf  Christus  hin  Gott 
selbst  zu  ergreifen,  und  in  dieser  That  seines  Glaubens,  die  er  als 
Gottes  Werk  w^usste,  gewann  sein  ganzes  Wesen  Selbständigkeit  und 
Festigkeit,  ja  eine  Selbstgewissheit  und  Freudigkeit,  wie  sie  niemals 
ein  mittelalterlicher  Mensch  besessen  hat^  Aus  der  Einsicht:  „Mit 
unserer  Macht  ist  nichts  gethan"  zog  er  die  höchste  innere  Freiheit 
und  Kraft;  denn  er  kannte  jetzt  die  Macht,  die  dem  Leben  Halt 
und  Sehgkeit  verleiht,  er  kannte  sie  und  rief  sie  bei  Namen.  Glau- 
ben —  das  hiess  ihm  nun  nicht  mehr  das.  gehorsame  Fürwahrhalten 
kirchhcher  Lehren  oder  geschichthcher  Facta,  kein  Meinen  und  kein 
Thun,  kein  actus  initiationis ,  auf  den  Grösseres  folgt,  sondern  die 
Gewissheit  der  Sündenvergebung  und  darum  die  persönliche  und 
stetige  Hingabe  an  Gott  als  den  Vater  Jesu  Christi,  welche  den 
ganzen  Menschen  umschaift  und  erneuert^.  Das  war  sein  Bekenntniss 
vom  Glauben:  ein  lebendig,  geschäftig,  thätig  Ding  sei  derselbe,  eine 
gewisse  Zuversicht,  die  da  fröhlich  und  lustig  macht  gegen  Gott  und 
alle  Creaturen  "'^,   die,   wie  ein  guter  Baum,   gewisslich   gute  Früchte 


^  Die  ausführlichste,  gesichertste  und  zutreffendste  Darstellung  der  Religion 
Luther's  findet  sich  in  Herrmann's  Schrift,  Der  Verkehr  des  Christen  mit 
Gott  1886. 

^  Vgl.  August,  c.  20:  „Admonentur  etiam  homines,  quod  hie  nomen  fidei  non 
significet  tantum  historiae  notitiam,  qualis  est  impiis  et  diabolo,  sed  significet  iidem, 
quae  credit  non  tantum  historiam,  sed  etiam  effectum  historiae,  videlicet  hunc  arti- 
culum,  remissionem  peccatorum,  quod  videlicet  per  Christum  habeamus  gratiam, 
iustitiam  et  remissionem  peccatorum."  Vgl.  die  Auslegung  des  2.  Hauptstücks 
in  der  „Kurzen  Form"  (Betbüchlein):  „Hier  ist  zu  merken,  dass  zweierlei  "Weis  ge- 
glaubt wird :  zum  ersten  von  Gott,  das  ist,  wenn  ich  glaube,  dass  wahr  sei,  was  man 
von  Gott  sagt.  Dieser  Glaube  ist  mehr  eine  Wissenschaft  oder  Merkung,  denn  ein 
Glaub;  zum  andern  wird  in  Gott  geglaubt,  das  ist,  wenn  ich  setze  mein  Trau  in  ihn, 
begeh  und  erwäge  mich  mit  ihm  zu  handeln  und  glaub'  ohn  allen  Zweifel,  er  werd' 
mir  also  sein  und  thun,  wie  man  von  ihm  sagt.  Solcher  Glaube,  der  es  wagt  auf 
Gott,  es  sei  im  Leben  oder  Sterben,  der  macht  allein  einen  Christenmenschen." 

«  Vorrede  zum  Hf'imerbrief  (Erl.  Ausg.LXIII  S.  124 f.):  „Glaube  ist  ein  gött- 
lich Werk  in  uns,  das  uns  wand(!lt  und  neu  gebiert  aus  Gott  ...  O  es  ist  ein  lebendig, 
schuftig,  thätig,  mächtig  Ding  um))  den  Glauben,  dass  unmüglieh  ist,  dass  er  nicht 


704  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

bringt  iiiul  die  immer  bereit  ist,  Jedermann  zu  dienen  und  allerlei 
zu  leiden.  Das  Leben  eines  Christen  ist  trotz  aller  Uebel  und  trotz 
Sünde  und  Schuld  geborgen  in  Gott.  Das  wurde  der  Grundgedanke 
seines  Lebens.  In  diesem  hat  er  den  anderen  mit  gleicher  Gewissheit 
erkannt  und  erlebt,  den  Gedanken  von  der  Freiheit  eines  Christen- 
menschen. Diese  Freiheit  war  ihm  nicht  eine  leere  Emancipation 
oder  der  Freibrief  für  jegliche  Subjectivität,  sondern  Freiheit  war 
ihm  die  Herrschaft  über  die  Welt  in  der  Gewissheit,  dass,  wenn 
Gott  für  uns  ist,  Niemand  wider  uns  sein  kann;  frei  von  allen  mensch- 
lichen Gesetzen  war  ihm  die  Seele,  die  in  der  Furcht,  der  Liebe 
und  dem  Vertrauen  zu  Gott  ihr  höchstes  Gesetz  und  das  Motiv  ihres 
Lebens  erkannt  hatte.  Wohl  hat  er  von  den  alten  Mystikern  gelernt; 
aber  er  hat  gefunden,  was  sie  suchten.  Sie  blieben  stecken  in  erha- 
benen Gefühlen  und  brachten  es  nicht  zur  dauernden  Empfindung  des 
Friedens.  Er  drang  durch  zu  einer  activen  Frömmigkeit  und  zu  stetiger 
seliger  Gewissheit.  Er  hat  das  Recht  des  Individuums  zunächst  für 
sich  selber  erkämpft;  die  Freiheit  des  Gewissens  hat  er  erlebt.  Aber 
das  freie  Gewissen  war  ihm  das  innerlich  gebundene,  und  das  Recht  des 
Individuums  verstand  er  als  die  heilige  Pflicht,  es  muthig  auf  Gott  zu 
wagen  und  dem  Nächsten  selbständig  und  selbstlos  in  Liebe  zu  dienen. 
Damit  ist  auch  bereits  gesagt,  was  ihm  die  Kirche  gewesen 
ist  —  die  Gemeinschaft  der  Heihgen,  d.  h.  der  Gläubigen,  welche 
der  hl.  Geist  durch  das  Wort  Gottes  berufen  hat,  erleuchtet  und 
heiligt,  die  fort  und  fort  durchs  Evangelium  im  rechten  Glauben  er- 
baut werden,  auf  die  herrliche  Zukunft  der  Kinder  Gottes  warten 
und  unterdess  einander  in  Liebe  dienen,  ein  Jeder  an  der  Stelle,  da 
ihn  Gott  hingestellt  hat.  Das  ist  sein  ganzes  Bekenntniss  von  der 
Kirche;  es  ist  reich  und  gross  und  doch  —  welch'  eine  Reduction 
enthält  auch  dieses  Bekenntniss,  wenn  man  es  mit  dem  vergleicht, 
was  die  mittelalterliche  Kirche  von  sich  selber  und  von  ihren  Auf- 
gaben lehrte !  Luther's  Bekenntniss  ist  ganz  und  gar  aus  seinem  reli- 
giösen Glauben  geflossen,  und  es  beruht  auf  folgenden  eng  verbun- 
denen Grundsätzen,  deren  Wahrheit  er  stets  festgehalten  hat.  Erstens 
dass  das  Wort  Gottes  die  Kirche  begründet,   zweitens    dass  dieses 


1 


ohn  Unterlass  sollte  Guts  wirken.  Er  fraget  auch  nicht,  ob  gute  Werke  zu  thuu 
sind,  sondern  ehe  man  fraget,  hat  er  sie  gethan,  und  ist  immer  im  Thun.  Wer  aber 
nicht  solche  Werke  thut,  der  ist  ein  glaubloser  Mensch,  tappet  und  siehet  umb  sich 
nach  dem  Glauben  und  guten  Werken  und  weise  weder  was  Glaube  oder  gute  Werke 
sind  .  .  .  Glaube  ist  eine  lebendige  erwegene  Zuversicht  auf  Gottes  Gnade,  so  ge- 
wiss, dass  er  tausendmal  drüber  stürbe.  Und  solche  Zuversicht  und  Erkennt niss 
göttlicher  Gnade  machet  fröhlich,  trotzig  und  lüstig  gegen  Gott  und  alle  Creaturn." 


Das  Christenthum  Luther's.  705 

Wort  Grottes  die  Predigt  von  der  Offenbarung  Gottes  in  Christus  ist, 
sofern  sie  den  Glauben  schafft,  drittens  dass  desshalb  die  Kirche  keinen 
anderen  Spieh^aum  hat  als  den  des  Glaubens,  dass  sie  aber  innerhalb 
desselben  für  jeden  Einzelnen  die  Mutter  ist,  in  deren  Schosse  er  zum 
Glauben  kommt,  viertens  dass,  weil  die  Religion  nichts  Anderes 
ist  als  Glaube,  nicht  besondere  Leistungen,  auch  nicht  ein  besonderes 
Gebiet,  sei  es  nun  der  öffentliche  Kultus  oder  eine  ausgewählte  Lebens- 
führung, die  Sphäre  sein  können,  in  welcher  die  Kirche  und  der 
Einzelne  ihren  Glauben  bewähren,  sondern  dass  der  Christ  in  den  natür- 
lichen Ordnungen  des  Lebens  seinen  Glauben  in  dienender  Nächsten- 
liebe zu  beweisen  hat. 

Mit  dem  ersten  Grundsatz  trat  Luther  sowohl  der  hergebrachten 
Lehre  von  der  Tradition  als  von  der  Bischöfe  und  des  Papstes 
Gewalt  entgegen.  Er  sah  ein,  dass  bisher  auf  ganz  willkürliche 
und  daher  auch  unsichere  Weise  festgestellt  worden  war,  was 
christlich  sei  und  was  die  Kirche  sei.  Er  lenkte  daher  zu- 
rück auf  die  Quelle  der  Religion,  auf  die.  hl.  Schrift,  insonderheit 
das  NT.  Die  Kirche  gründet  sich  auf  ein  Festes,  Gegebenes,  was 
ihr  auch  nie  gefehlt  hat  —  darin  unterschied  er  sich  von  den  Schwarm- 
geistern — ,  aber  dieses  Gegebene  ist  keine  priesterliche  Geheim- 
wissenschaft, kein  wüstes  Gemenge  von  Satzungen  unter  dem  Schutze 
des  Heihgen,  noch  weniger  die  päpstliche  Willkür,  sondern  etwas, 
was  jeder  schlichte  Christ  zu  erkennen  und  zu  prüfen  vermag:  das 
Wort  Gottes  nach  dem  reinen  Verstand.  In  dieser  These 
war  die  unbefangene  Ermittelung  des  wirklichen  Wortsinns  der  hl. 
Schrift  gefordert.  Jede  willkürliche  Auslegung  nach  Massgabe  von 
Autoritäten  war  abgeschnitten.  Luther  hat,  soweit  er  zu  sehen  ver- 
mochte, mit  dieser  Forderung  in  der  Regel  Ernst  gemacht.  Er  konnte 
freihch  nicht  ahnen,  wie  weit  sie  führen  würde.  Aber  seine  metho- 
dischen Grundsätze  vom  „Dolmetschen",  sein  Respect  vor  den 
Sprachen  haben  die  Schriftwissenschaft  begründet. 

Der  zweite  Grundsatz  unterscheidet  Luther  sowohl  von  den  Theo- 
logen als  von  den  Asketen  und  Sectirern  des  Mittelalters.  Sie  dachten, 
wenn  sie  an  das  Wort  Gottes  dachten,  an  den  Buchstaben,  an  die  Lehr- 
satzungon  und  die  bunten  Verheissungen  der  hl.  Schrift;  er  dachte  an 
den  Kern.  Wenn  er  diesen  Kern  „das  Evangelium  nach  dem  reinen 
Verstand",  „das  lautere  {Evangelium",  „das  lautere  AVort  Gottes",  „die 
promissiones  doi",  vor  Allem  aber  „Jesus  (Jhristus"  nennt,  so  sind  in 
seinem  Sinn  alle  diese  Ausdrücke  identisch.  Das  Wort  Gottes,  welches 
er  stets  meinte,  war  das  Zeugniss  von  Jesus  Christus,  der  die  Seelen 
selig  macht.    Wie  es  der  Glaube  nur  mit  dem  lebendigen  Gott  und 

H  a  r  n  a  c  k  ,  Dogmengesehichte  117 .  45 


706  r^i^  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

Christus  zu  thun  hat,  so  ist  auch  die  Autorität  des  Glaubens  und  der 
Kirche  nur  das  wirksame  Wort  Gottes  als  der  gepredigte  Christus. 
Denigemäss  ist  auch  die  Kirchenlehre  niclits  Anderes  als  die  Darlegung 
des  Evangeliums,  wie  es  die  christliche  Gemeinde  erzeugt  hat  und  zu- 
sammenhält, (üe  Zusannnenfassung  der  „consolationcs  in  Christo  pro- 
positae". 

Ist  aber  die  Ivirche  lediglich  durch  diese  consolationcs  und  den 
ihnen  entsprechenden  Glauben  begründet,  so  kann  sie  auch  keinen  an- 
deren Spielraum  und  keine  andere  Gestalt  haben,  als  die,  welche  ihr 
das  Wort  Gottes  und  der  Glaube  verleihen.  Alles  Andere  muss  als 
störend  oder  doch  als  unwesentlich  w^egfallen.  Damit  ist  der  dritte 
Grundsatz  gew^onnen.  Der  Begriff  der  Kirche  erscheint  gegenüber  dem 
mittelalterlichen  stark  reducirt,  aber  er  hat  dadurch  an  innerer  Kraft 
gewonnen  und  ist  dem  Glauben  zurückgegeben.  Nur  der  Gläubige 
sieht  und  erkennt  die  heilige  christliche  Gemeinschaft;  denn  nur  er  ver- 
nimmt und  versteht  das  Wort  Gottes;  er  glaubt  an  diese  Kirche  und 
weiss,  dass  er  durch  sie  zum  Glauben  gekommen  ist,  weil  der  hh  Geist 
durch  das  gepredigte  Wort  ihn  berufen  hat '. 

Der  vierte  Grundsatz  endlich  hat  äusserlich  die  weittragendsten 

Folgen  gehabt:  liegt  Alles  für  den  Einzelnen  wie  für  die  Kirche  am 

Glauben,  will  Gott  nur  durch  den  Glauben  mit  den  Menschen  handeln, 

ist  ihm  nur   der  Glaube  wohlgefälhg,  so  kann  es  keine  besonderen 

Gebiete  und  Formen  der  Frömmigkeit  und  keine  specifische  fromme 

Lebensweise  un  Unterschied  von  anderen  geben.    Daraus  folgte,  dass 

die  Bewährung  und  praktische  Bethätigung  des  Glaubens  in  den  grossen 

'  S.  den  grossen  Katechism.  (Müller  S.  455):  „Spiritus  sanctussanctificationis 
munus  exsequitur  per  communionem  sanctorum  aut  ecclesiam  christianorum,  remis- 
sionem  peccatoruni,  carnis  resurrectionem  et  vitam  aeternam;  hoc  est  primum  nos 
ducit  Spiritus  s.  in  sanctam  communionem  suam,  poncns  in  sinum  ecclesiae,  per 

quam  nos  docet  et  Christo  adducit ecclesia  est  mater  et  quemlibet  christianum 

parturit  ac  alit  per  verbum,  qnod  spiritus  s.  revelat  et  praedicat  et  per  quod  pec- 
tora  illuminat  et  accendit,  ut  verbum  accipiant,  amplectantur,  illi  adhaerescant  inque 
eo  perseverent."  Dazu  Kirchenpostille,  Predigt  am  2.  Christtage  (Erl.  Ausg.  X 
S.  162):  „Die  christliche  Kirche  behält  alle  Worte  Gottes  in  ihrem  Herzen,  und 
beweget  dieselben,  hält  sie  gegen  einander  und  gegen  die  Schrift.  Darum,  wer 
Christum  finden  soll,  der  muss  die  Kirche  am  ersten  finden.  Wie  wollte  man  wissen, 
wo  Christus  wäre  und  sein  Glaube,  wenn  man  nicht  wüsste,  wo  seine  Gläubigen 
sind?  Und  wer  etwas  von  Christo  wissen  will,  der  muss  nicht  ihm  selbst  trauen,  noch 
eine  eigene  Brücke  in  den  Himmel  bauen,  durch  seine  eigene  Vernunft;  sondern  zu 
der  Kirche  gehen,  dieselbige  besuchen  und  fragen.  Nun  ist  die  Kirche  nicht  Holz 
und  Stein,  sondern  der  Haufe  christgläubiger  Leute ;  zu  denen  muss  man  sich  lullten 
und  sehen,  wie  die  glauben,  leben  und  lehren,  die  haben  Christum  gewisslich  bei 
sich.  Denn  ausser  der  christlichen  Kirche  ist  keine  Wahrheit,  kein  Christus,  keine 
Seligkeit." 


Das  Christenthum  Luther's.  707 

Ordnungen  des  menschlichen  Lebens,  in  Ehe,  FaraiHe,  Staat  und  Beruf, 
zu  geschehen  habe.  Aber  auch  der  gesammte  Kultus  erschien  nun  in 
einem  ganz  anderen  Lichte.  Wenn  es  feststeht,  dass  der  Mensch  nichts 
um  Gottes  willen  thun  kann  und  darf,  wenn  der  blosse  Gedanke,  Gott 
durch  Leistungen  umzustimmen,  der  Tod  der  wahren  Frömmigkeit  ist, 
wenn  das  ganze  Verhältniss  zwischen  Gott  und  dem  Menschen  durch 
die  gläubige  Gesinnung,  d.  h.  durch  felsenfeste  Zuversicht  auf  Gott, 
Demuth  und  stetiges  Gebet  bestimmt  ist,  wenn  endlich  alle  Ceremonien 
werthlos  sind,  so  kann  es  keine  üebungen  mehr  geben,  die  in  beson- 
derem Sinn  „Gottesdienst"  sind '.  Es  giebt  nur  einen  directen  Gottes- 
dienst, den  Glauben;  sonst  gilt  die  unverbrüchliche  Eegel,  dass  man 
Gott  in  der  Nächstenhebe  dient.  AYeder  mystische  Contemplation  noch 
asketische  Lebensführung  liegen  in  dem  Evangelium  beschlossen. 

Das  Recht  der  natürlichen  Lebensordnung  war  für  Luther  sowenig 
ein  selbständiges  Ideal,  wie  die  Freiheit  vom  Gesetz  des  Buchstabens. 
Wie  jeder  ernste  Christ  war  er  eschatologisch  gestimmt  und  wartete  auf 
den  Tag,  da  die  Welt  vergeht  mit  ihrer  Lust,  ihrem  Leid  und  ihren 
Ordnungen.  In  ihr  treibt  doch  fort  und  fort  der  leibhaftige  Teufel 
sein  verwegenes  und  verführerisches  Spiel:  darum  kann  es  in  ihr 
niemals  wirklich  besser  werden.  Selbst  in  einer  seiner  gewaltigsten 
Schriften  „Von  der  Freiheit  eines  Christenmenschen"  ist  er  weit  davon 
entfernt  gewesen,  den  religiösen  Menschen,  den  Menschen  des  Glaubens, 
heimisch  und  zufrieden  zu  machen  in  dieser  Welt  und  ihm  etwa  zu 
sagen,  dass  er  am  Bau  des  Reiches  Gottes  auf  Erden  in  dienender 
Liebe  sein  Genüge  und  sein  Ideal  finden  soll.  Nein  —  der  Christ 
wartet  im  Glauben  auf  die  hcrrhche  Erscheinung  des  Reiches  Christi, 
in  der  seine  eigene  Herrschaft  über  alle  Dinge  offenbar  werden  wird; 
unterdess  muss  er  in  dieser  Zcithchkeit  in  der  Liebe  ein  Knecht  sein. 
Allein,  ob  man  nun  diese  Betrachtung  Luther's  für  eine  Schranke  oder 
für  den  correctesten  Ausdruck  der  Sache  halten  will  —  gewiss  ist, 
dass  er  das  Ideal  religiöser  Vollkommenheit  so  umge- 
stimmt hat,  wie  kein  Christ  seit  dem  apostolischen  Zeit- 

'  S.  die  Auslngimo^  zum  2.  und  3.  Geljot  im  groHson  Katcohism.  (S.  /)99):  „Hie 
enim  rectus  nominis  divini  oultus  est,  ut  de  eo  omnem  nol)is  omuium  malorum  leva- 
tionem  et  consolationcm  polliceamur  eamquc  ob  rem  illuin  imploremus,  ita  ut  cor 
priu8  per  fidem  deo  suum  lioriorem  tri])uat,  deineeps  vcro  os  lionorifica  eoufessione 
idem  faciat."  ])azu  die  ])oriJlimt(!  Stelle  S.  401:  „Ceterum,  ut  hinc  christianum  ali- 
(pieiM  intelleetum  hauriamus  pro  simplicibuH,  quidnam  deuH  lioc  in  praecepto  (seil, 
tertio)  a  nobis  exi^at,  ita  hal)e:  Nos  dien  fefitoH  C(!le]irare,  non  propter 
Intel  legen te 3  et  eruditos  christiano s,  lii  enim  nihil  opus  habent 
ferÜH."  I)azu  AuguBtana  20  (S.  00):  „omiiis  eultus  dei,  al)  liominibus  sine  inan- 
datü  dei  institutuH  et  eleetus  ad  prornerandain  iustificationem  et  gratiam,  impius  est." 

•  45* 


708  Di^  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestautismus. 


alter  vor  ihm,  und  tlass  ihm  dabei  auch  eine  ümstimmung  des 
sittlichen  Ideals  zugeMlen  ist,  wenn  er  das  neue  auch  nur  nach 
der  rehgiüsen  Seite  sicher  zu  begründen  vermoclite '.  Wenn  man  sicli 
die  Bedeutung  Luther's,  seinen  Bruch  mit  der  Vergangenheit,  klar 
machen  will,  so  muss  mau  sein  neues  Ideal  des  cliristlichen  Lebens  und 
der  christlichen  Vollkommenheit  ebenso  ins  Auge  fassen,  wie  seine 
lichre  vom  Glauben,  aus  der  es  entsj3rungen  ist,  und  wie  seine  Frei- 
heit vom  Gesetz  des  Buchstabens,  der  Kirchenlehre  und  der  Kirchen- 
autorität.  Welch'  eine  ungeheure  Reduction  bedeutet  doch  auch 
Luther's  neues  Ideal!  Das,  was  bisher  unter  dem  Sclmtt  ral'finirter 
und  complicirter  Ideale  am  wenigsten  geachtet  worden  ist,  die  de- 
müthige  und  sicliere  Zuversicht  auf  Gottes  väterliche  Vorsehung  und 
die  Treue  im  Beruf  (in  der  Nächstenliebe),  machte  er  zur  Hauptsache, 
ja  erhob  sie  zum  einzigen  Ideal !  Das,  was  die  mittelalterliche  Zeit  für 
ein  geringes  Ding  erklärte,  die  Erkenntniss  Gottes  und  den  Glauben  an 
seinen  Schutz,  erklärte  er  für  das  Hauptstück  des  praktischen  Christen- 
thums:  nur  die  Christo  angehören  haben  ein  Gott;  alle 
Andern  haben  ihn  nicht,  ja  kennen  ihn  nicht  ^.   Das,  was  die  mittel- 

^  Es  ist  Ritschl's  hohes  Verdienst,  die  Bedeutung  der  Reformation  —  man 
darf  sagen,  zum  ersten  Mal  —  klar  und  siegreich  an  der  Ümstimmung  des  Ideals 
religiöser  und  sittlicher  Vollkommenheit  nachgewiesen  zu  haben.  Doch  hat  er  dabei 
die  eschatologische  Richtung  Luther's  m.  E.  nicht  genügend  gewürdigt.  Aber  er 
hat  den  Ausführungen  in  Art.  (2).  16.  20.  26.  27  der  Augustana  ihre  Bedeutung  zu- 
rückgegeben. „Damnant  et  illos,  qui  evangelicam  perfectionem  non  collocant  in 
timore  dei  etfide,  sed  in  deserendis  civilibus  officiis,  quia  evangelium  tradit  iustitiam 
aeternam  cordis.  Interim  non  dissipat  politiam  aut  oeconomiam,  sed  maxime 
postulat  conservare  tamquam  ordinationes  dei  et  in  talibus  ordinationibus  exercere 
caritatem."  .  .  .  „lam  qui  seit  se  per  CJiristum  habere  propitium  patrem,  is  vere 
novit  deum,  seit,  se  ei  curae  esse,  invocat  eum,  denique  non  est  sine  deo  sicut  gentes. 
Nam  diaboli  et  impii  non  possunt  hunc  articulum  credere,  remissionem  peccatorum. 
Ideo  deum  tamquam  hostem  oderunt,  non  invocant  eum,  nihil  boniab  eo  exspectant." 
Von  der  vergangenen  Zeit  heisst  es  c.  26:  „Interim  mandata  dei  iuxta  voeationem 
nullam  laudem  habebant;  quod  pater  familias  educabat  sobolem,  quod  materparie- 
bat,  quod  princeps  regebat  rempublicam,  haec  putabantur  esse  opera  mundana  et 
longe  deteriora  Ulis  splendidis  observationibus."  27:  „Perfectio  christiana  est  serio 
timere  deum  et  rursus  concipere  magnam  fidem  et  confidere  propter  Christum,  quod 
habeamus  deum  placatum,  petere  a  deo  et  certo  exspectare  auxilium  in  omnibus 
rebus  gerendis  iuxta  voeationem;  iuterim  foris  diligenter  facere  bona  opera  et 
servire  vocationi.   In  his  rebus  est  vera  perfectio  et  verus  cultus  dei." 

-  Grosser  Katech.  P.  II,  3  S,  460:  „Proinde  ii  articuli  nostrae  fidei  nos  ehri- 
stianos  ab  omnibus  aliis,  qui  sunt  in  terris,  hominibus  separant.  Quicunque  enim 
extra  christianitatem  sunt,  sive  gentiles  sive  Turcae  sive  Judaei  aut  falsi  etiam 
Christiani  et  hypocritae,  quamtjuam  unum  tantum  et  verum  deum  esse  credant  et  iu- 
vocent,  neque  tarnen  certum  habent,  quo  erga  eos  animatus  sitanimo, 
neque  quid  quam   favori  aut  gratiae  de  deo  sibi  poUi  eeri  audent  aut 


n 


I 


Das  Christenthum  Luther 's.  709 

alterliche  Zeit  mit  Misstrauen  ansah,  der  Beruf  und  die  Pflicht  des 
Tages,  galt  ihm  als  die  eigentliche  Sphäre  des  gottwohlgefälligen  Lebens. 
Die  Wirkungen  waren  unermessliche ;  denn  es  war  nun  mit  einem 
Schlage  die  Religion  aus  der  Verkuppelung  mit  allem  ihr  Fremden 
befreit  und  zugleich  das  selbständige  Recht  der  natürlichen  Lebens- 
gebiete anerkannt.  lieber  dem  grossen  Gebilde,  welches  wir  Mittel- 
alter nennen,  über  diesem  Chaos  unselbständiger  und  in  sich  verschlun- 
gener Gestaltungen,  schwebte  der  Geist  des  Glaubens,  der  seine  eigene 
Natur  und  darum  seine  Schranken  erkannt  hatte.  Unter  seinem  Wehen 
rang  sich  Alles,  was  ein  Recht  auf  freie  Geltung  hatte,  zu  selbständiger 
Entfaltung  empor.  Indem  das  Evangelium  durchgedacht,  verkündigt 
und  angewandt  wurde,  fiel  dem  Reformator  auch  alles  Uebrige  zu.  Er 
wollte  die  Welt  nichts  Anderes  lehren,  als  was  das  Wesen  der  Religion 
sei ;  aber  indem  er  das  wichtigste  Gebiet  in  seiner  Eigenthümlichkeit  er- 
kannte, kamen  alle  anderen  zu  ihrem  Rechte :  die  Wi  s  s  e  n  s  c h  a  f  t  steht 
nicht  mehr  unter  dem  Bann  der  kirchHchen  Autorität,  sondern  sie  soll 
ihr  Object  rein  ermitteln;  der  Staat  ist  nicht  mehr  das  fatale  Gebilde 
aus  Zwang  und  Noth,  bestimmt  sich  an  die  Kirche  anzulehnen,  son- 
dern die  souveräne  Ordnung  des  öffentlichen  gemeinschaftlichen  Lebens ; 
das  Recht  ist  nicht  mehr  ein  undefinirbares  Mittelding  zwischen  der 
Macht  des  Stärkeren  und  der  Tugend  des  Christen,  sondern  die  selb- 
ständige, von  der  Obrigkeit  gehütete  Norm  des  Verkehrs  und  eine  den 
Einflüssen  der  Kirche  entzogene  gottgewollte  Macht ;  die  Ehe  ist  nicht 
mehr  eine  Art  von  kirchlicher  Concession  an  die  Schwachen,  sondern 
die  von  Gott  gestiftete,  von  jeder  kirchlichen  Bevormundung  freie  Ver- 
bindung der  Geschlechter  und  die  Schule  der  höchsten  Sittlichkeit; 
die  Armenpflege  und  Liebesthätigkeit  ist  nicht  mehr  ein  tenden- 
ziöses Getriebe  zur  Versicherung  der  eigenen  Seligkeit,  sondern  der 
freie  Dienst  am  Nächsten,  der  in  der  wirkhchen  Hülfleistung  seinen 
letzten  Zweck  und  seinen  einzigen  Lohn  sieht.  Aber  über  das  Alles : 
der  bürgerliche  Beruf,  die  schlichte  Thätigkeit  in  Haus  und  Hof, 
in  Geschäft  und  Amt,  ist  nicht  mehr  die  misstrauisch  beurtheilte,  weil 
vom  Himmel  abziehende  Beschäftigung,  sondern  der  rechte  geistliche 
Stand,  das  Gebiet,  auf  welchem  sich  das  Gottvertrauen,  die  Demutli 
und  das  Gebet,  also  der  im  Glauben  wurzelnde  christliche  Charakter 
zu  bewähren  hat. 

Das  sind  die  Grundzüge  des  Christcnthums  Luthcr's.    Wer  hier 
seinen  Standort  nimmt  und  sich  in  Luther's  Glaubensauffassung  einlebt, 

possunt,  quamobrcm  in  pcrpetua  mancnt  ira  et  damnationc.  Ncquo  cnim  habent 
ChriBtum  dominum  ncquc  uUis  spiritus  sancti  donis  et  dotibus  illusirati  et  donati 
sunt." 


710  Di«  Ausgänge  des  Doginas  im  I^rotestantismus. 

dem  inuss  es  von  vornherein  schwer  sein,  anzunehmen,  dass  Luther  trotz 
aUedem  zu  dem  alten,  „gesunden"  Dogma  nur  eine  oder  ein  paar 
Lehren  ergänzend  hinzugefügt  hahen  soll.  Kr  wird  geneigt  sein,  hier 
vielmehr  dem  katholischen  Urtheil  zu  trauen,  nach  welchem  Luther  die 
Ghiuhenslehre  der  alten  und  der  mittelalterlichen  Kirche  umgestürzt 
und  nur  Trünunerstücke  derselhen  naclihehalten  hat. 

Es   ist  angezeigt,  die   wichtigsten  Einzellehren  und  tlieologischeu  Begriffe, 
die  Luther  gebraucht  hat,  kurz  zu  besprechen  und  sie  in  dem  Sinne  hier  vorzuführen, 
in  welchem  er  sie  seiner  neuen  Glaubensauffassung  dienstbar  gemacht  hat.    Sie 
kommen  also  hier  nur  in  ihrer  ncugebildcteu,  positiven  Bedeutung  in  Betracht.  Doch 
ist  schon  hier  zu  sagen,  dass  Luther  in  der  theologischen  Terminologie  von  einer 
grossartigen  Unbefangenheit  gewesen  ist,  und  Melanchthon  ist  ihm  bis  zur  Apo- 
logie darin  gefolgt.   Das,  was  Luther  allein  werth  schien,  in  der  Theologie  behandelt 
zu  werden,  war  das  Erlebniss  des  Glaubens  an  eine  göttliche  That.    Eben  desshalb, 
weil  es  sich  nicht  um  eine  blosse  Lehre  handelte,  hat  er  die  Lehrformeln  sehr  frei 
benutzt,  die  zahlreichen  Ausdrücke,  welche  die   Schrift,  die  alten  Symbole  und 
die  Scholastik  boten,  gebraucht,  aber  sehr  häufig  als  Synonyma  behandelt.   Nicht 
Wenige  haben  sich  dadurch  veranlasst  gefühlt,  complicirte  Schemata  für  die  Lehre 
Luther's  zu  entwerfen,  und  so  hat  unter  den  Händen  der  Epigonen  die  Theologie 
Luther's  dieselbe  complicirte  und  eindruckslose  Gestalt  angenommen  wie  die  pau- 
linische  Lehre  in  der  biblischen  Theologie.   Es  ist,  als  wäre  es  unter  allen  Histo- 
rikern und  Biographen  allein  den  Theologen  noch  unbekannt,  dass  man  die  Ge- 
sammtauffassung  eines  grossen  Mannes  am  gründlichsten  verfehlt,  wenn  Inan  sich 
die  Mühe  giebt,  alle  seine  Aeusserungeu  in  eine  künstliche  Einheit  zu  setzen  und 
zu  verspinnen.    Nicht  vorwärts  hat  mau  von  diesen  Aeusserungen  zu  schreiten, 
sondern  rückwärts,  d.  h.  man  hat  die  verschiedenartigen  und  bunten  Sätze  möglichst 
zu  vereinfachen  und  auf  möglichst  wenige  Grundgedanken  zurückzuführen.   Dass 
sich  das  Licht  in  verschiedenen  Farben  bricht,  ist  nicht  aus  dem  Licht  zu  erklären, 
sondern  aus  den  verschiedenen  Medien,  durch  die  es  hindurchgeht.    Vor  Allem 
aber  muss  für  das  Verständniss  der  Theologie  Luther's  die  Einsicht  massgebend 
sein,   dass  ihm  die  christliche  Lehre  keine  Gliederpuppe  gewesen  ist,  die  man  in 
Theile  auseinandernehmen  kann  und  der  man  Glieder  hinwegzunehmen  oder  zu- 
zusetzen vermag.     Luther  hat  die  überkommenen  theologischen  Sche- 
mata  vielmehr  so  behandelt,  dass  er  in  jedem  von  ihnen,  richtig 
verstanden,  die  ganze  Lehre  ausgedrückt  fand.     Mag  er  nun  die  Lehre 
vom  dreieinigen  Gott,  die  Christologie,  die  Versöhnuugslehre,  die  Rechtfertigungs- 
lehre, die  Lehre  von  der  Sünde  und  Gnade,  von  Busse  und  Glauben,  die  Lehre  von  der 
Prädestination  und  vom  freien  AVillen  behandeln,  immer  handelt  es  sich  für  ihn  dabei 
um  die  Darstellung  des  ganz  enChri  stenthums.  Es  ist  ein  ausgezeichnetes 
Verdienst  von  Ka  ttenbusch,  dies  an  zwei  Hauptlehren,  der  trinitarischen  und 
christologischen,  für  Luther  gezeigt  und  bewiesen  zu  haben  (Luther's  Stellung  zu 
den  ökumenischen  Symbolen  1883).   Nur  unter  strenger  Beobachtung  dieser  Er- 
kenntniss  kann  eine  Darstellung  der  Theologie  Luther's  gelingen,  sofern  dieselbe  ein 
Ganzes  war  ^.    Dass  Luther  daneben  als  Fragmente  vieles  Andere  festgehalten 
hat,  ist  unstreitig. 

1 .  In  der  Gotteslehre  ergab  sich  für  Luther  eine  doppelte  Reihe  von  Eigeu- 


^  Vgl.  auch  Gott  schick,  Luther  als  Katechet  1883. 


Das  Christenthum  Luther's :  Gott  und  Christus.  711 

Schäften,  je  nachdem  Gott  ausser  Christus  oder  inChristus  vorgestellt  wird. 
Aber  jede  dieser  Gruppen  fasst  sich  in  einen  einzigen  Gedanken  zusanimen:  dort 
der  schreckliche  Richter,  zu  dem  man  sich  nichts  Anderes  versehen  kann  als  die 
Strafe,  hier  der  gnädige  Vater,  dessen  Herz  uns  zugethan  ist.  In  Christus  angeschaut 
sind  die  Eigenschaften  der  veritas,  iustitia,  gratia  dei  etc.  sämmtlich  identisch; 
denn  sie  sind  alle  unter  den  Gesichtsj)unkt  der  promissiones  dei  gestellt ;  diese  aber 
haben  keinen  anderen  Inhalt  als  die  remissio  peccatorum.  In  Christus  angesehen 
hat  Gott  nur  einen  Willen,  nämlich  den  zu  unserem  Heil;  ausser  Christus  giebt 
es  überhaupt  keine  Sicherheit  über  den  AVillen  Gottes. 

2.  Objecte  des  Glaubens  sind  Gott,  Jesus  Christus  und  der  hl. 
Geist.  Aber  Gott  ist  selbst  nur  insofern  Object  des  Glaubens,  d.  h.  der  herzlichen 
Zuversicht  und  der  kindlichen  Furcht,  als  er  sich  in  Jesus  Christus  äusserlich  und 
ein  für  allemal  unter  den  Menschen  offenbart  hat  und  diese  Offenbarung  durch  seinen 
hl.  Geist  fort  und  fort  in  der  Christenheit  den  Einzelnen  offenbart  ^.  Eine  stren- 
gere Einheit  kann  nicht  gedacht  werden;  denn  es  ist  gar  nicht  Gott  an  sich,  an 
den  der  Glaube  glaubt  —  Gott  an  sich  gehört  den  Aristotelikern  — ,  sondern  es  ist 
der  durch  die  Offenbarung  des  hl.  Geistes  vor  die  Seele  gestellte,  in  Christus  offen- 
bare Gott.  Für  den,  in  welchem  der  hl.  Geist  diesen  Glauben  entzündet  hat,  giebt 
es  hier  kein  Mysterium  und  kein  Räthsel,  am  wenigsten  den  Widerspruch  zwischen 
Eins  und  Drei:  er  ergreift  in  Christus,  „dem  Spiegel  des  väterlichen  Herzens",  Gott 
selbst,  und  er  weiss,  dass  Gott  es  ist,  d.  h.  der  hl.  Geist,  der  solchen  Glauben  ent- 
zündet und  den  Trost  der  Sündenvergebung  schafft. 

3.  Ebenso  ist  der  erste  Artikel  des  Symbols  für  Luther  eine  Darstellung  des 
ganzen  Christenthums ;  denn  dass  der  Mensch  auf  Gott  sein  Vertrauen  setzt  als 
auf  seinen  gnädigen  Schöpfer,  Erhalter  und  Vater  und  in  keiner  Noth  an  ihm 
zweifelt,  das  vermag  er  nur,  wenn  er  auf  Christus  blickt  und  im  Stande  der  Sünden- 
vergebung steht;  wenn  er  es  aber  vermag,  ist  er  ein  vollkommener  Christ  ^. 

4.  Von  JesusChristus  weiss  der  Glaube,  dass  „nu  die  Tyrannen  und  Stock- 
meister alle  vertrieben  sind,  und  ist  an  ihre  Statt  getreten  Jesus  Christus,  ein  Herr 
des  Lebens,  Gerechtigkeit,  alles  Guts  und  Seligkeit,  und  hat  uns  arme  verlorene 
Menschen  aus  der  Höllen  Rachen  gerissen,  gewonnen,  frei  gemacht  und  wiederbracht 
in  des  Vaters  Huld  und  Gnade,  und  als  sein  Eigenthum  unter  seinen  Schutz  und 
Schirm  genommen,  dass  er  uns  regiere  durch  seine  Gerechtigkeit,  Weisheit,  Gewalt, 
Leben  und  Seligkeit"  ^.  Das  ist  die  Erkenntniss  Jesu  Christi,  die  allein  dem  Glauben 
entspricht  und  die  allein  der  Glaube  gewinnen  kann ;  denn  Christus  ist  nur  von 
seinem  „Amt"  und  seinen  „Wohlthaten"  aus  zu  erkennen:  in  diesen  Wohlthaten 
ist  der  eigentliche  und  rechte  Christusglaubc  beschlossen*.  Diese  Wohlthaten  fassen 
sich  zusammen  in  der  Versöhnung,  die  er  gestiftet,  d.  h.  in  der  Sündenvergebung, 
die  er  durch  sein  Leben  und  Sterben  geschafft  hat:    „verc  natus,  passus,  mortuus, 

^  Vgl.  die  oben  S.  702  u.  706  mitgetheilten  Stelleu  aus  dem  grossen  Kate- 
chismus. 

^  S.  die  herrliche  Auslegung  des  1.  Artikels  im  grossen  Katech.  und  in  der 
„Kurzen  Form  der  10  Gebote,  des  Glaubens  und  des  Vater-Unsers"  (1522). 

'  Grosser  Katech.  U,  2  S.  453. 

*  S.  (las  diesem  Buche  vorangestellte  Motto  aus  Luther's  Werken  und  Me- 
lanchthon's  berühmten  Satz  in  der  Einleitung  zur  ersten  Ausgabe  der  Loci:  „Hoc 
est  Christum  cognoscere,  beneficia  eius  cognoscere,  non  eius  uaturas,  modos  incarua- 
tioüi«  contueri.'* 


712  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantifiiiiiis. 

ut  rt'conciliaret  nobis  patrem  et  hostia  esset  nou  tantiim  pro  culpa  originis,  sed 
etiam  pro  oniuihus  iictualibus  hojuiüum  pcccatis'' '.  Dies  ist  das  Jlauptstiick  des 
Evangeliums,  ja  das  Evangelium  selbst,  auf  welches  der  Glaube  sich  richtet.  Die 
ganze  Person  Jesu  Christi  lallt  für  den  Glauben  lediglich  unter  diese  Betrachtung, 
alle  Thateu  Jesu  und  alle  Worte;  ja  Luther  wollte  lieber  jene  entbehren  als  diese-, 
denn  jene  bedürfen  keiner  Auslegung.  Den  Schrecken  vor  Gott,  dem  schrecklichen 
Richter,  kann  das  Herz  nur  vergessen,  wenn  es  auf  Christus  schaut,  dessen  Tod  ver- 
bürgt, dass  dem  Gesetz  und  der  Gerechtigkeit  G  enüge  geschehen  sei,  und  in  dessen 
AVort  und  Zügen  der  gnädige  Gott  selbst  durch  den  hl.  Geist  uns  ergreift.  Eben 
desshalb  ist  es  gewiss,  dass  Christus  für  uns  ein  Anderer  ist  als  nur  unser  Bruder, 
nämlich  ein  rechter  Helfer,  der  Strafe  und  Zorn  für  uns  erlitten  hat,  und  in  welchem 
Gott  selbst  sich  darreicht  und  so  klein  und  niedrig  wird,  dass  wir  ihn  erfassen  und 
ins  Herz  schliessen  können.  Bei  dieser  Erkenntniss  ist  für  den  Glauben  weder  die 
Gottheit  noch  die  Menschheit  Christi  ein  Problem,  auch  nicht  das  Ineinander  von 
Beidem,  vielmehr  waltet  hier  die  klarste  und  tröstlichste  Gewissheit  iGottcsGnade 
ist  nur  offenbar  an  dem  geschichtlichenWirken  des  geschichtlichen 
Christus.  Einerseits  erkennen  wir  au  Christus,  dass  „Gott  sich  ganz  und  gar  aus- 
geschüttet hat  und  nichts  behalten,  das  er  nicht  uns  gegeben  habe",  andererseits 
sehen  wir  ihn  in  der  Krippe  und  am  Kreuz.  Beides  liegt  aber  nicht  neben  einander, 
sondern  in  der  Niedrigkeit  schaut  der  Glaube  die  Herrlichkeit.  Das  Bekenntniss 
zur  Gottheit  Christi  konnte  dem  nie  fraglich  sein,  der  überhaupt  keinen  Gott  —  im 
Sinne  des  Glaubens  kannte  —  als  in  Christus  ^. 


*  August.  3. 

'^  Vgl.  über  Luther's  Christologie  Seh  ultz,  Lehre  von  der  Gottheit  Christi 
(1881)  S.  182  ff.  Das  ist  die  grösste  Reform,  die  Luther,  wie  für  den  Glauben  so 
für  die  Theologie,  aufgerichtet  hat,  dass  er  den  geschichtlichen  Christus  zum  ein- 
zigen Erkenntnissprincip  Go  ttes  gemacht  hat.  Erst  durch  ihn  ist  Matth. 
11,  27  u.  I  Cor.  1,  21 — 25;  2,  4 — 16  wieder  auf  den  Leuchter  gestellt,  damit  aber 
die  "Wurzel  des  alten  dogmatischen  Christenthums  durchschnitten  worden.  „Man 
soll  ausser  dem  Gott,  der  ein  Vater  ist  unsres  Herrn  Jesu  Christi,  keinen  andern 
Gott  ehren  noch  suchen ;  dieser  wahre  Gott  schliesset  auch  Christum  mit  ein."  „Was 
man  ausser  Christo  von  Gott  gedenket,  das  sind  lauter  unnütze  Gedanken  und  eitel 
Abgötterei."  „AVenn  man  Christus  verleuret,  da  wird  aus  allen  Glauben  (des 
Pabstes,  der  Juden,  Türken,  Rotten)  Ein  Glaube"  (s.  Stellen  beiTh.Harnack, 
Luther's  Theol.  I,  S.  371  ft'.).  „Au  dem  Christo  fange  deine  Kunst  und  Studiren 
an,  da  läse  sie  auch  bleiben  und  haften,  und  wo  dich  dein  eigen  Gedanken  und  Ver- 
nunft oder  sonst  jemand  anders  führet  und  weiset,  so  thu  nur  die  Augen  zu  und 
sprich:  Ich  soll  und  will  von  keinem  andern  Gott  wii^sen,  denn  in  meinem  Herrn 
Christo  . . .  Siehe  da  stehet  mir  des  Vaters  Herz,  AVillc  und  Werk  offen  und  erkenne 
ihn  gar;  welches  sonst  niemand  nimmermehr  sehen  noch  treffen  kann,  wie  hoch  er 
steigt  und  speculirt  mit  eignen  klugen  und  spitzigen  Gedanken  . . .  Denn,  wie  ich 
immer  gesagt  habe,  das  ist  der  einige  Weg,  mit  Gott  zu  handeln,  dass  man  nicht 
anlaufe,  und  die  rechte  Stufe  oder  Brücke,  darauf  man  gen  Himmel  fährt,  dass  mau 
hinieden  bleibe  und  sich  hänge  an  dies  Fleisch  und  Blut,  ja  an  die  Worte  und  Buch- 
staben, die  aus  seinem  Munde  gehen,  dadurch  er  uns  aufs  allerfeinste  hinaufführt 
zum  Vater,  dass  wir  keinen  Zorn  noch  schrecklich  Bild,  sondern  eitel  Trost,  Freud 
und  Friede  finden  und  fühlen."  Zu  Joh.  17,  3:  „Merke  wie  Christus  in  diesem 
Spruche  sein  und  des  Vaters  Erkenntniss  in  einander  flicht  und  bindet,  also  dass 


Das  Christenthum  Luther's:  Christus,  Urständ,  Sünde.  713 

5.  Von  der  Sünde  weiss  der  Glaube,  dass  sie  zuhöchst  und  darum  einzig 
besteht  in  dem  Mangel  an  Furcht,  Liebe  und  Vertrauen  zu  Gott.  Eben  desshalb 
sind  alle  Menschen  vor  Christus  und  ohne  Christus  Sünder,  weil  sie  —  gewisslich 
durch  ihre  Schuld  —  Gott  nicht  kennen  oder  doch  nur  als  schrecklichen  Richter, 
also  ihn  nicht  so  kennen,  wie  er  erkannt  sein  will.  Niemand  hat  vor  Luther  die 
Sünde  so  ernst  erfasst  wie  er,  weil  er  sie  misst  an  dem  Glauben,  d.  h.  religiös 
werthet  und  sich  in  dieser  Betrachtung  nicht  verwirren  lässt  durch  den  Blick  auf 
die  Sünden  als  die  abgestuften  Erscheinungen  der  Unsittlichkeit  oder  auf  die 
Tugenden  als  die  verschiedenfältigen  Formen  der  weltlichen  Sittlichkeit.  Er  allein 
hat  den  Sinn  des  paulinischen  Satzes  wieder  getroffen,  dass  Alles,  was  nicht  aus 
dem  Glauben  kommt,  Sünde  sei.  So  ist  denn  der  Gegensatz  von  Sünde  und  Heilig- 
keit erst  von  Luther  wieder  streng  auf  den  anderen  zurückgeführt  worden:  Schuld 
und  Vergebung.  Der  Stand  des  natürlichen  Menschen  ist  die  Schuld,  die  sich  in  dem 
Schrecken  vor  Gott  äussert,  der  Stand  des  neuen  Menschen  ist  die  Vergebung  der 
Schuld,  die  sich  in  der  Zuversicht  auf  Gott  zeigt.  Man  kann  aber  im  Sinne  Luther's  den 
Gegensatz  noch  einfacher  fassen:  keinen  Gott  haben  und  einen  Gott  haben. 
Die  Sünde  in  aller  Sünde  und  die  Schuld  in  aller  Schuld  ist  die  Gottlosigkeit 
im  strengsten  Sinn  des  Worts,  d.  h.  der  Unglaube,  der  Gott  nicht  zu  vertrauen 
vermag  \  und  wiederum  das  höchste  Gute  unter  allen  Gütern  ist  die  Zuversicht  auf 
Gott  als  einem  rechten  Helfer.  Sofern  der  Mensch  zu  Gott  und  für  Gott  geschaffen 
ist,  ist  demgemäss  die  iustitia  originalis  die  Furcht^  die  Liebe  und  das  Vertrauen  — 
nichts  mehr  und  nichts  weniger,  und  der  Sündenfall,  der  aus  Unglauben  entsprang, 
hat  den  vollen  Verlust  der  iustitia  originalis  zur  Folge  gehabt '^.  Daher  ist  die 
iustitia  originalis  keineswegs  in  dem  Sinne  ein  „übernatürliches  Geschenk",  dass  sie  zu 
dem  fertigen,  in  seinen  Grenzen  selbständigen  und  für  gewisse  Zwecke  vollkommenen 
Menschen  hinzugetreten  wäre,  sondern  sie  ist  die  wesentliche  Bedingung,  unter 
welcher  und  in  welcher  der  Mensch  sein  durch  die  Schöpfung  gesetztes  Ziel  allein 


man  allein  durch  und  in  Christo  den  Vater  erkennet.  Denn  das  habe  ich  oft  gesagt 
und  sage  es  noch  immer,  dass  man  auch,  wenn  ich  nun  todt  bin,  daran  gedenke 
und  sich  hüte  vor  allen  Lehrern,  die  der  Teufel  reitet  und  führet,  die 
oben  am  höchsten  anfangen  zu  lehren  und  zu  predigen  von  Gott,  bloss 
und  abgesondert  von  Christo,  wie  man  bisher  in  hohen  Schulen  speculirt 
und  gespielet  hat  mit  seinen  Werken  droben  im  Himmel,  was  er  sei,  denke  und 
thue  bei  sich  selbst."  So  hat  auch  Melanchthon  in  der  ersten  Ausgabe  der  loci 
(1521)  die  ganze  scholastische  Gotteslehre  bei  Seite  gelassen.  Aber  wie  lange  hat 
es  gedauert,  da  ist  sie  zurückgekehrt;  man  spcculirtc  auch  im  Protestantismus 
wieder  wie  „der  Papst,  die  Juden,  Türken  und  Rotten",  statuirtc,  wie  Origenes, 
zwei  Offenbarungsquellcn  Gottes,  das  Buch  der  Natur  und  das  Buch  der  hl.  Schrift, 
und  stellte  Christus  als  einen  Abschnitt  in  beide  Bücher  ein. 

*  Neben  dem  Defectus  des  Glaubens  nennen  Luther  und  die  Augustana  auch 
die  Concupiscenz,  aber  sie  betonen  in  dieser  stets  den  Hochmuth  des  Herzens  und 
die  Weltlust  und  Selbstsucht  des  Geistes.  Luther  hat  mit  der  von  Augustin  her 
eingebürgerten  Vorstellung,  als  sei  die  Geschlechtslust  die  Erbsünde  und  die  Wurzel 
alh;r  Sünden,  gebrochen  und  damit  jenen  zu  den  ekelhaftesten  Ausführungen  und 
zur  bedenklichsten  Schulung  der  Phantasie  führenden  Irrthum  berichtigt. 

'^  Daher  ist  die  Erbsünde  die  rechte  Hauptsünde,  d.  h.  der  Unglaube  ist  es. 
Eben  desshalb  ist  auch  zu  glauben,  dass  Christus  alle  Sünde  tilgt,  weil  er  die  in  der 
Erbsünde  liegende  Schuld  weggeschafft  hat. 


714  J^ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

erreichen  kann.  AVie  nur  Uott  selbst  diese  iustitia  originalis  durch  seine  Offenbarung 
erstmalig  zu  erzeugen  vermochte,  so  kann  aucli  nur  er  sie  wiederherstellen :  das 
aber  ist  durch  Christus  geschehen,  der  die  Schuld  getilgt  und  den  Menschen  den 
gnädigen  Gott  gebracht  hat. 

H.  Was  Luther  hier  in  dem  Schema  von  Sünde  und  Sündentilguug  ausgeführt 
hat,  eben  das  hat  er  auch  in  seinen  Lehren  von  der  Prädestination  und  dem 
unfreien  Willen  zum  Ausdruck  gebracht,  liier  ist  gegenüber  der  mittelalterlichen 
Auffassung  sein  Grundgedanke  der,  dass  Gott  nicht  nur  objective  Heilsveranstal- 
tungen bewirkt  hat,  denen  dann  ein  irgendwie  selbständiges,  in  Busse  und  Glauben 
sich  bewährendes  subjcctives  Verhalten  entsprechen  muss,  sondern  dass  er  den 
Glauben  schenkt  und  die  Busse  schafft.  Die  mittelalterliche  Theologie  — 
auch  diejenige,  welche  denPrädestinatiousgedanken  am  schärfsten  angespannt  hat  — 
hat  ihn  bekanntlich  gerade  in  dem  eigentlich  religiösen  Punkte  stets  gelockert; 
denn  schliesslich  laufen  alle  Bestimmungen,  sowohl  der  Thomisten  als  der  Scotisten, 
auf  einen  mehr  oder  weniger  feinen  Synergismus  hinaus,  oder  vielmehr  umgekehrt: 
das  AVirken  Gottes  erscheint  nur  als  ein  „auxilium"^.  Für  Luther  aber  stand  gerade 
der  religiöse  Hauptpunkt  fest,  dass  nämlich  Gott  es  ist,  der  den  Glauben  wirkt, 
den  guten  Baum  einpflanzt  und  erhält.  Eben  das,  was  von  Aussen  betrachtet  als 
ein  Subjectives  erscheint  und  daher  von  der  Vernunft  als  eine  Leistung  des  Menschen 
angesehen  wird,  erschien  ihm,  der  das  wirkliche  Erlebniss,  wie  er  es  erlebt  hatte, 
ins  Auge  fasste,  als  das  eigentlich  Objective,  von  Aussen  in  ihm  Gewirkte.  Dies  ist 
vielleicht  Luther's  höchste  Bedeutung  innerhalb  der  Theologie,  und  darum  ist  seine 
Schrift  de  servo  arbitrio  in  einer  Hinsicht  seine  gi'össte  Schrift.  Diese  Bedeu- 
tung liegt  darin,  dass  er  überhaupt  mit  der  Vorstellung  gebrochen 
hat,  als  setze  sich  das  religiöse  Erlebniss  aus  historischen  und  sacra- 
mentalen  Acten,  die  Gott  wirkt  und  in  Bereitschaft  hält,  und  aus  sub- 
jectiveu  Acten,  die  irgendwie  Sache  des  Menschen  sind,  zusammen. 
Dieses  Erlebniss  so  beschreiben,  hcisst  ihm  seine  Kraft  nehmen  und  es  der  Vernunft 
ausliefern;  denn  diese  vermag  nun  die  Thaten  Gottes  „objectiv"  zu  registriren,  zu 
beschreiben  und  zu  berechnen,  und  sie  vermag  dann  ebenso  die  Leistungen  des 
Menschen  zu  fixiren  und  vorzuschreiben.  Dass  dies  die  falsch-berühmte  Kunst  der 
Scholastiker  sei,  die  Lehre  der  Vernunft  und  des  Teufels,  das  hat  Luther  erkannt 
und  darin  besteht  seine  Grösse  als  Theologe.  Er  hat  die  dreiste  Pseudotheologie 
der  „objectiven"  Berechnungen  ebenso  abgcthan  wie  die  sich  als  Religion  gebende, 
im  tiefsten  Grunde  gottlose  Moral.  Die  Zertheilung  von  Objectivem  und  Subjec- 
tivem,  des  göttlichen  Factors  und  des  menschlichen  Factors,  im  Erlebniss  des 
Glaubens  hat  er  aufgehoben.  Damit  hat  er  die  Religion  für  Jeden  völlig 
verwirrt,  der  von  Aussen  an  sie  herantritt,  weil  ein  Solcher  alles 
Denken  aufgeben  muss,  wenn  ihm  verwehrt  wird,  bald  die  Thaten 
Gottes  und  bald  die  Leistungen  des  Menschen  ins  Auge  zu  fassen;  aber 
er  hat  eben  damit  die  Religion  für  d  en  Gläubigen  klargestellt  und 
ihr  die  Betrachtung  zurückgegeben,  in  welcher  der  gläubige  Christ 
sie  erlebt  hat  und  fort  und  fort  erlebt.  Nichts  ist  hier  lehrreicher,  als  die  eben 
genannte  Schrift  Luther's  de  servo  arbitrio  mit  dem  Tractat  zu  vergleichen,  auf 
welchen  sie  die  Antwort  ist,  mit  der  Schrift  des  Erasmus.  AVelche  Feinheit  des 
Urtheils,  welche  Umsicht,  welche  ernste  Sittlichkeit  entwickelt  dieser!  Mit  Recht 
erkennt  man  in  seiner  Diatribe  die  Krone  seiner  Schriften ;  allein  sie  ist  eine  ganz 
weltHche,  im  Tiefsten  irreligöse  Schrift.  Luther  dagegen  besteht  auf  der  Gruml- 
thatsache  dei*  chiistlichen  Erfahrung.   Hier  wurzelt  seine  Prädestinationslehre  als 


Das  Christenthum  Luther's:  Prädestination,  Gesetz  uud  Evangelium.      715 

Ausdruck  für  die  Alleinwirksamkcit  der  Gnade  Gottes,  Welche  Bedeutung  die  Ein- 
sicht hat,  dass  die  objective  Offenbarung  uud  die  subjective  Aneignung  nicht  ge- 
trennt werden  darf,  dass  also  die  Erwcckuug  des  Glaubens  selbst  zur  Offenbarung 
gehört,  hat  Luther  freilich  noch  nicht  in  allen  Consequenzen  erkannt^;  sonst  wäre 
es  ihm  deutlich  geworden,  dass  diese  Erkenntniss  den  ganzen  bisherigen  Schul- 
betrieb der  Theologie  ausser  Kraft  setzt  und  daher  auch  solche  Consequenzen  ver- 
bietet, wie  er  sie  in  seinen  Spcculationen  über  die  Erbsünde  und  in  seiner  Schrift 
de  servo  arbitrio  gezogen  hat.  Denn  wenn  Luther  hier  darüber  reflcctirt,  was  der 
deus  absconditus  ist  im  Unterschied  vom  praedicatus,  einen  doppelten  Willen  in 
Gott  zulässt  u.  s.  w.,  so  ist  das  nur  ein  Zeugniss  dafür,  dass  er  die  Unart  des  Schul- 
verstandes, theologische  Erkenntnisse  wie  philosophische  Lehren  zu  behandeln,  die 
man  unter  beliebige  Obersätze  setzen  und  in  beliebige  Combinationen  bringen  kann, 
noch  nicht  abgestreift  hat.  In  der  Hauptsache  aber  hat  er  klar  und  deutlich  mit  seiner 
Lehre  von  der  Prädestination  und  dem  unfreien  Willen  die  Metaphysik  und  Psycho- 
logie als  die  Grundlage,  auf  welche  die  christliche  Erkenntniss  aufzubauen  ist,  abge- 
than.  Auch  hat  er  jenen  „deus  absconditus",  der  ihm  von  dem  Nominalismus  her  übrig 
geblieben  war,  immer  mehr  verblassen  lassen  oder  in  ihm  eben  jenen  schrecklichen 
Richter  gesehen,  den  der  natürliche  Mensch  in  Gott  erkennen  muss.  Wie  er  so  die 
Religion  der  Religion  zurückgegeben  hat,  so  hat  er  auch  die  Glaubenserkenutniss  in 
ihrer  Selbständigkeit  begründet,  indem  er  das  Erlebniss  der  Oöenbarung  Gottes  im 
Herzen,  d.  h.  die  Erzeugung  des  Glaubens,  als  ein  noli  me  tangere  aufgerichtet  hat,  den 
Juden  ein  Aergerniss  und  den  Griechen  eine  Thorheit.  Aber  wer  hat  ihn  verstan- 
den !  Die  alte  Prädestinationslehre  und  nichts  Anderes  hat  man  in  seiner  Erkennt- 
niss erblickt  als  ein  besonders  sprödes  Dogma  neben  anderen,  und  bald  begann 
im  Protestantismus  das  Markten  und  Feilschen  um  dieselbe,  womit  Melanchthon 
begonnen  hat. 

7.  Das  Ganze  des  Christenthums  vermochte  Luther  aber  auch  in  dem  Schema 
von  Gesetz  und  Evangelium  zu  beschreiben,  ja  in  diesem  Schema  hat  er  am 
frühesten  seine  neue  Erkenntniss  niedergelegt.  Er  hat  sich  hier  so  streng  an  Paulus 
angeschlossen,  dass  es  nicht  nöthig  scheint,  im  Einzelnen  seine  Auffassung  darzu- 
legen; er  scheute  auch  die  paulinischen  Paradoxien  nicht,  ja  hat  sie  noch  gesteigert: 
das  Gesetz  ist  gegeben,  damit  es  verletzt  würde.  Allein  das  war  nur  ein  Ausdruck 
dafür,  dass  weder  Gebote  noch  auch  die  süssesten  Lehren  dem  Menschen 
helfen  können,  vielmehr  seine  Gottlosigkeit  steigern.  Helfen  kann  nur  die  Person , 
hier  die  Person  Jesu  Christi.  Das  meinte  Luther,  wenn  er  evangelium,  promis- 
siones  dei  ctc  einfach  =  Christus  setzte.  Der  Gegensatz  von  Gesetz  und  Evangehum 
war  ihm  nicht  nur  der  Gegensatz  einer  Forderung  und  einer  Verheissung,  sondern 
vielmehr  letztlich  der  Contrast  zwischen  einer  leeren  und  beschwerlichen  Hülse  und 
der  Sache  selbst.  Wäre  das  Evangelium,  wie  es  gepredigt  wird,  nur  eine  An- 
kündigung oder  eine  Ermoglichung  des  Heils,  so  wäre  es  nach  Luther  auch 
„Gesetz" ;  es  ist  aber  beides  nicht,  sondern  etwas  viel  höheres,  weil  diesem  ganz 
Incommensurables,  nämlich  die  Erlösung  selbst.  Luther  hat,  wo  er,  unge- 
stört von  irgend  einer  Schablone,  sein  eigenstes  Christenthum  zum  Ausdruck 
gebracht  hat,  nie  über  das  Evangelium    „an  sich"  reflectirt  —  das  ist  ihm  eine 


*  S.  die  schönen  Ausführungen  von  Herrmann  in  der  oben  genannten  Schrift ; 
sehr  wichtig  ist,  dass  Luther  selbst  von  der  rcvelatio  durch  den  hl.  Geist  spricht 
(Grosser  Katechism.  S.  460:  „ne(iuc  de  Christo  quidquam  scire i)088cmu8,  si  uon  per 
Hpiritum  sanctum  nobia  revclatum  esset"). 


716  Diti  Außgäuge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

jüdische  oder  heidnische  Reflexion  gewesen,  wie  die  Erwägung  über  Gott  „an  sich", 
die  Versöhnung  „an  sich",  den  Ghiuben  „an  sich"  — ,  sondern  er  hat  das  Evan- 
geUum  mit  seine  r  Wi  rkung  ins  Auge  getasst,  und  nur  in  dieser  Wirkung  war  es 
ihm  das  Evangelium :  der  im  Herzen  au  der  Person  Christi  wieder  gewonnene  Gott, 
der  (Haube.  Von  diesem  Ghiuben  gilt:  „facili  compendio  per  fidem  lex  impletur." 
Eben  durum  hat  er  die  ('liristenheit  wieder  lehren  können,  weldi'  ein  Unterschied 
zwischen  Gesetz  und  Evangelium  sei:  das  Werk  Augustinus  hat  er  auch  hier  erst 
zu  Stande  gebracht,  wie  in  Bezug  auf  die  Prädestination  und  den  unfreien  Willen. 
Desshalb  hat  er  ferner  nie  daran  zweifeln  können,  dass  wahre  Busse  nur  der  durch 
das  Evangelium  überwältigte  Christ  haben  kann,  und  dass  das  Gesetz  keine  rechte 
Busse  erzeugt:  Schrecken  und  Furcht  ruft  es  hervor;  aber  diese  wenden  sich  zum 
Unglauben  und  zur  Verzweiflung,  also  zur  höchsten  Gottlosigkeit.  Wenn  es  an 
nicht  wenigen  Stellen  in  Luther's  Werken  anders  erscheint,  so  ist  das  zum  Theil  ein 
Schein  —  denn  das  Evangelium  ninmit  auch  das  Gesetz  in  seineu  Dienst  (s.  den 
kleinen  Katechismus),  zum  Theil  pädagogische  Rücksicht,  aus  dem  sehr  berech- 
tigten Zweifel  geboren,  ob  man  den  gemeinen  groben  Mann  als  Christen  oder  als 
Nichtchristen  nehmen  soll,  zum  Theil  eine  Unklarheit,  die  Luther  hier  so  wenig 
ganz  überwunden  hat,  wie  anderswo.  Die  Epigonen  haben  bald  um  das  Gesetz  ge- 
zankt, wie  sie  um  den  freien  AVillen  gezankt  haben,  weil  sie  den  Nerv  der  neuen 
Auffassung  nicht  mehr  trafen.  Luther  selbst  hat  sich  in  diesen  Zänkereien  nicht 
zurecht  gefunden;  denn  er  war  stets  von  der  merkwürdigsten  Unbeholfenheit,  wo 
Streitfragen  aus  dem  Kreise  des  Protestantismus  heraus  auftauchten,  und  in  solchen 
Fällen  inmier  geneigt,  die  couservativste  Fassung  für  die  richtige  zu  halten. 

8.  Das  Ganze  des  Christenthums  stellt  sich  endlich  aber  auch  in  der  Recht- 
fertigung dar.  Eben  weil  man  gewohnt  ist,  Luther's  Bedeutung  ausschliesslich 
darin  zu  erkennen,  dass  er  die  Rechtfertigungsieh re  formulirt  hat,  ist  es  nützlich, 
dem  gegenüber  zu  zeigen,  dass  man  das  Christenthum  Luther's  beschreiben  kann, 
ohne  von  diesem  Titel  Gebrauch  zu  machen.  So  wie  er  die  Rechtfertigung  ver- 
standen hat,  ist  sie  freilich  schon  in  dem  Vorstehenden  überall  zum  Ausdruck  ge- 
kommen, nicht  als  Einzellehre,  sondern  als  die  Grundform  des  Christenstandes. 
Um  diese  zu  bezeichnen,  hat  sich  Luther  am  häufigsten  des  pauliuischen  Ausdrucks 
bedient;  jede  andere  Betrachtung  der  Rechtfertigung  verfehlt  den  Sinn  Luther's. 
Das  Neue  ist  nicht,  dass  Luther  die  iustificatio  und  sanctificatio  ängstlich  und  schul- 
mässig  getrennt  und  jene  als  einen  einmaligen  actus  forensis  betrachtet  hat '  —  das 
ist  die  AVeisheit  der  Epigonen,  die  immer  gross  in  den  Distinctionen  gewesen  ist — , 
sondern  das  Neue  liegt  erstlich  darin,  „dass  die  vivificatio  oder  iustificatio  mit 
seltenen  Ausnahmen  letzlich  in  nichts  Anderem  gesehen  wird  als  in  dem  sine  merito 
redimi  de  iDeccatis,  dem  non  imputari  peccatum,  aber  reputari  iustitiam  alicui,  dass 
zweitens  im  Zusammenhang  hiermit  die  gratia  identificirt  wird  mit  der  misericordia, 
mit  der  gratia  in  remissionem  peccatorum  oder  mit  der  veritas  d.  i.  der  impletio 
promissi  in  dem  geschichtlichen  AVirken  Christi,  und  dass  drittens  in  Folge  dessen 
die  fides  als  das  A^ertraucn  auf  Gottes  veritas  und  Christi  AVerk  für  uns  erscheint: 
fides  =  credere  deo  =  sapientia  crucis  Christi  (seil,  intellegere,  quod  filius  dei  est 
incarnatus  et  crucifixus  et  suscitatus  propter  nostram  salutem)  =  deo  satis- 
facere  in  Christo.   Auf  diesen  drei  Gleichungen  als  den  Regulatoren  der  religiösen 

^  S.  darüber  die  schönen  Untersuchungen  von  Loofs  und  von  Eichhorn 
(Stud.  u.  Kritik.  1884  resp.  1887) ;  sie  beziehen  sich  auf  die  Ausprägung  des  Reeht- 
fertigimgsgedankens  in  der  Apologie,  aber  sie  gelten  nicht  minder  von  Luther's 
Lehre. 


Das  Christenthum  Luther's :  Rechtfertigung.  717 

Selbstbeurtheilung  ruht  Luther's  Frömmigkeit"  '.  In  dem  Schema  von  der  Recht- 
fertigung bringt  demgemäss  Luther  vor  Allem  folgende  (xedanken  zu  besonderer 
Klarheit  und  zur  deutlichsten  Aussprache :  1)  dass  alle  Eigenschaften  Gottes  für 
uns  in  die  Eigenschaft  seiner  Gerechtigkeit,  mit  der  er  uns  gerecht  macht  (die  also 
Gnade,  "Wahrheit,  Barmherzigkeit  und  Heiligkeit  zugleich  ist),  zusammengehen, 
2)  dass  Gott  wirkt  und  nicht  der  Mensch,  3)  dass  unser  ganzes  Verhältniss  zu  Gott 
auf  dem  „propter  Christum"  beruht;  denn  Gottes  iustitia  ad  salutem  ist  sein  Handeln 
durch  das  Evangelium,  d.  h.  durch  Christus ;  es  ist  die  iustitia  Christi,  in  der  er  uns 
anschaut  und  die  er  uns  zuwendet  (imputare  iustitiam  Christi  oderpropter  Christum), 
4)  dass  die  iustitia  dei,  wie  sie  in  dem  Evangelium  ergeht.  Beides  bewirkt,  den  Tod 
und  das  Leben,  nämlich  das  Gericht  und  den  Tod  über  den  alten  Menschen  und  die 
Erweckung  des  neuen,  5)  dass  die  Rechtfertigung  durch  den  Glauben  geschieht, 
d.  h.  durch  die  Erzeugung  des  Glaubens:  dieser  ist  nicht  sowohl  die  menschliche 
Antwort  auf  eine  göttliche  Handlung,  sondern  er  ist  das  Mittel,  in  welchem  Gott 
die  Rechtfertigung  vollzieht  und  aneignet,  6)  dass  die  Rechtfertigung  nichts  Anderes 
ist  als  die  Vergebung  der  Schuld  und  dass  in  dieser  Vergebung  Alles  beschlossen 
ist,  nämlich  Leben  und  Seligkeit,  weil  es  überhaupt  nur  zwei  Stände  giebt,  den  des 
Schuldbewusstseins  und  der  Unseligkeit  und  den  des  Gnadenstandes  und  der  Selig- 
keit, 7)  dass  die  Rechtfertigung  desshalb  nicht  der  Anfang  ist,  sondern  Anfang, 
Mitte  und  Ende  zugleich ;  denn  wie  sie  nur  im  Glauben  vorhanden  ist,  so  unterliegt 
sie  dem  Gesetz  des  Glaubens,  der  täglich  einen  Anfang  macht,  täglich  also  neu  ist, 
weil  er  immer  aufs  neue  die  gratuita  remissio  ergreifen  muss,  aber  auch  der  ganze 
volle  Glaube  ist,  wenn  er  sich  bei  aufrichtiger  Busse  seines  Gottes  f>etröstet,  8)  dass 
die  Rechtfertigung  Beides  in  Eins  ist,  nämlich  ein  Gerechtsein  und  ein  Gerecht- 
werden ;  jenes,  sofern  durch  den  Glauben,  der  die  Vergebung  erreicht,  der  Mensch 
wirklich  vor  Gott  gerecht  ist;  dieses,  sofern  der  Glaube,  derseines  Gottes 
gewiss  geworden  ist,  allein  gute  AVerke  hervorzubringen  vermag. 
In  diesem  Sinne  ist  allerdings  der  Glaube  ein  Initiationsact,  d.  h.  der  Anfang  des 
Werkes  des  hl.  Geistes  an  der  Seele ;  allein  das  ist  nicht  so  zu  verstehen ,  als  habe 
im  Innern  des  Menschen  oder  durch  einen  neuen  Process  Etwas  zum  Glauben  hin- 
zuzutreten, sondern  der  Glaube  ist  in  demselben  Sinne  ein  Anfang,  wie  der  gute 
Baum  der  Anfang  einer  guten  Frucht  ist.  Anders  hat  Luther,  wo  er  sich  selbst  klar 
war,  das  Verhältniss  nie  gedacht,  oder  vielmehr  er  hat  den  Glauben  noch  enger  mit 
den  guten  Werken  verknüpft,  als  dies  aus  dem  angeführten  Gleichniss  hervor- 
leuchtet; denn  der  Glaube  war  ihm  selbst  schon  regeneratio,  hat  sie  nicht  erst  zur 
Folge,  so  dass  sofort  mit  dem  Glauben  auch  der  Beginn  jenes  thätigen  Lebens  und 
jener  unruhig  freudigen  Bewegung  gesetzt  ist,  da  man  Gott  dienen  will  wie  ein 
fröhliches  Kind.  Ist  das  „Fürchten,  Lieben  und  Vertrauen"  nicht  nur  die  Folge  des 
Glaubens,  sondern  der  Glaube  selbst,  so  ist  in  irgend  welchem  Umfang  auch  schon 
die  Frucht  mit  dem  Baume  gesetzt  und  gegeben.  An  einen  Glauben,  der  nicht  in 
sich  schon  regeneratio,  vivificatio  und  daher  bonum  opus  wäre,  hat  Luther  nie  ge- 
dacht; aber  andererseits  —  in  allem  Zweifel,  in  aller  Unsicherheit  und  Kleinmuth 
rettet  nicht  der  Cicdanke  an  den  Glauben,  der  regeneratio  ist,  sondern  nur  der 
Glaube,  der  nil  nisi  fides  ist;  mit  anderen  Worten:  iustiücamur  sola  fide,  d.  h.  allein 
durch  den  Glauben,  der  die  Sündenvergebung  ergreift.  Das  blieb  das  Hauptstück 
Luther's ;  denn  nur  dieser  Glaube  schafft  Heilsgewissheit.  Damit  ist  das  Letzte 
und  Höchste  ausgedrückt,  was  Luther  in  seiner  Beschnn'bung  des  Christenstandes 
als  des  Standes  der  Rechtfertigung  zur  Aussage  bringen  wollte  und  was  er  in  keinem 

*  Loofs,  Jicitfaden  d.  Dogmengesch.  S.  216  f. 


718  Dip  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

anderen  Sclienia  so  eindrucksvoll  zu  predigen  vermochte:  der  arme,  in  seinem  Ge- 
wissenzerschlagene und  darum  gottlose  Mensch  kann  nur  in  dem  Höchsten,  in  dem 
Besitz  Gottes  seibat,  Ruhe  finden  —  das  wusste  aucli  Augustin  — ,  aber  er  findet 
diese  Ruhe  nur,  wenn  er  Gottes  felsenfest  gewiss  wird,  und  er  wird  seiner  nur  ge- 
wiss durch  den  Gl  au  b  en  —  Beides  wusste  Augustin  nicht.  Dadurch  hat  Lutlier  alle 
die  Reformbewegungen  des  Mittelalters  über  sich  selbst  hinausgehoben  und  abge- 
schlossen, dass  er  das  gefunden  hat,  wonach  sie  suchten,  und  das  auszusprechen 
vermochte,  was  er  erlebt  hatte:  die  Gleichung  von  Heilsgewissheit  und 
Glaubet  Kein  anderer  Glaube  aber  als  der  Glaube,  der  sich  an  den  geschicht- 
lichen Christus  hält,  kann  die  Stärke  eines  sicheren  Glaubens  gewinnen  '^.  So  hat 
Luther  die  (irrundgedanken  des  8,  Capitels  des  Römerbriefs  wieder  zum  Fels  der 
Religion  erhoben.  An  keiner  Stelle  lässt  sich  daher  auch  sein  Gegensatz  zur  katho- 
lischen Frömmigkeit  deutlicher  erkennen  als  hier.  Sie  fragte  letztlich  überall  dar- 
nach, wie  wird  der  sündige  Mensch  ])erähigt,  gute  Werke  zu  thun,  um  Gott  wohl- 
genillig  zu  werden,  und  sie  gab  darauf  langathmige  Antworten  und  construirte  einen 
ungeheuren  Apparat  aus  den  Leiden  Christi,  den  Sacramenten,  den  Resten  der 
menschlichen  Tugenden,  dem  Glauben  und  der  Liebe.  Luther  fragte  hier  über- 
haupt nicht,  sondern  er  beschrieb  kräftig  und  freudig,  worin  das  Erlebniss  ))esteht, 
das  ihn  Gottes  Gnade  hatte  erleben  lassen.  Dies  Erlebniss  war  für  ihn  die  Gewiss- 
heit, dass  er  in  dem  Glauben  an  Jesus  Christus  einen  gnädigen  Gott  hatte.  Er 
wusste,  dass  Alles,  was  ihm  gelang,  alles  wirkliche  Leben  und  Seligkeit,  soweit  er 
sie  besass,  ihm  aus  jener  Gewissheit  floss;  er  kannte  sie  als  die  Quelle  seiner  Heiligung 
und  seiner  guten  Werke.  Damit  war  für  ihn  die  ganze  Frage  nach  dem  Verhältniss 
von  Glaube  und  guten  Werken  wesentlich  erledigt.  Dass  es  gilt  fortzuschreiten  in 
der  Heiligung,  zu  kämpfen  und  zu  ringen,  das  wusste  er  auch ;  aber  wenn  er  in 
guten  Werken  lässig  war,  brach  er  in  die  Bitte  aus,  stärke  mir  den  Glauben!  Das 
ausschliessliche  Verhältniss  von  Sündenvergebung,  Glaube  und  Heilsgewissheit  ist 
das  erste  und  letzte  Wort  des  Christenthums  Luther's.  Wo  Erkenntniss  Gottes  ist, 
da  ist  auch  Leben  und  Seligkeit,  ist  das  alteBekenntniss  der  Kirche.  Aber  welche  Er- 
kenntniss Gottes  hier  gemeint  sei,  darüber  war  keine  Klarheit  vorhanden :  die  zu- 
künftige Erkenntniss,  die  philosophische  Erkenntniss,  die  intuitive  Erkenntniss,  der 
mystisch-sacramentale  Genuss  Gottes,  die  Erkenntniss  durch  den  Logos  —  auf  allen 
diesen  IrrwTgen  ging  man,  und  wie  man  hier  Gottes  nicht  gewiss  wurde,  wurde 
man  auch  nicht  selig.  Luther  suchte  nicht  eine  Erkenntniss,  sondern  fand  sie  in 
seinem  Christenstand  gegeben,  Gott  in  Christus;  daher  „wo  Vergebung  der  Sünden 
ist,  da  ist  auch  Leben  und  Seligkeit"  ^.    In  diesem  Glauben  gewann  er  aber  auch 

^  Damit  hat  Luther  die  Mystik  überwunden;  vgl.  Hering,  Die  Mystik  Luther's 
im  Zusammenhang  seiner  Theologie  1879. 

*  Die  Rechtfertigung  gründet  sich  für  Luther  auf  die  Satisfaction,  d.  h.  auf  den 
Tausch  zwischen  Christus  und  dem  Sünder,  s  Th.Harnack,  a.a.O.  II  S. 288— 404. 

^Loofs  S.  230:  „Den  Griechen  trat  die  Sünde  hinter  der  «fd-opä  zurück. 
Verderben  und  Erlösung  wurden  physisch  aufgefasst;  Augustin  und  der  Katho- 
licismus  würdigten  die  Sünde  mehr,  aber  hinter  der  Sünde  stand  die  wesentli(rh 
physisch  gedachte  concupiscentia,  hinter  der  Gerechtigkeit  die  hyperphysische  in- 
fusio  dilectionis  u.  s.  w. ;  in  asketischer  Sittlichkeit  und  in  der  Mystik  culminirt  da- 
her der  Katholicismus;  für  Luther  steht  hinter  der  Sünde  (im  ethischen  Sinne)  die 
Sünde  im  religiösen  Sinne  d.  i.  der  Unglaube,  hinter  dem  Gerechtsein  die  religiöse 
Grundtugend  d.  i.  der  Glaube:  Luther  hat  das  Christenthum  als  Religion  wieder 
entdeckt." 


Luther's  Kritik  an  der  Ueberlieferung  und  am  Dogma.  719 

die  religiöse  Selbständigkeit  und  Freiheit  gegenüber  Allem,  was  nicht  Gott 
war;  denn  nur  Selbständigkeit  und  Freiheit  ist  Leben.  Die  Freiheit,  die  seine  Gegner 
dort  übrig  gelassen  hatten,  wo  sie  gar  nicht  hingehört,  hob  er  auf;  aber  statt  des 
schädlichen  Restes,  den  er  beseitigte,  erntete  er  jene  Freiheit,  die  Paulus  am  Schluss 
des  8.  Capitels  des  Römerbriefs  gefeiert  hat.  Jene  waren  bei  ihrem  „freien  Willen" 
der  Kirche  und  der  Menschen  Knechte  geworden;  Luther  hat  in  dem  Bekenntniss 
zum  „unfreien  Willen",  d.  h.  in  seiner  Gewissheit  von  der  Rechtfertigung  aus  dem 
Glauben,  die  Freiheit  und  den  Muth  gewonnen,  einer  ganzen  Welt  zu  trotzen.  Das, 
was  man  den  Individualismus  des  Protestantismus  nennt  und  mit  Recht  hoch  hält, 
hat  hier  seine  Wurzel :  der  Christ  ist  durch  seinen  Gott  ein  selbständiges  Wesen, 
welches  keines  Dinges  bedarf  und  weder  unter  der  Knechtschaft  von  Geboten  noch 
in  der  Abhängigkeit  von  Menschen  steht.  Er  ist  ein  Priester  vor  Gott,  unbevor- 
mundet  durch  einen  Priester,  und  ein  König  über  die  Welt '. 

3.  Die  Kritik  Luther's  an  der  herrschenden  kirchlichen 
üeb erlief erung  und  am  Dogma. 

Es  sollen  hier  in  Kürze  die  wichtigsten  kritischen  Sätze  Luther's 
zusammengestellt  werden,  um  ein  Bild  davon  zu  gewinnen,  in  welchem 
Masse  sich  der  Reformator  von  der  herrschenden  Tradition  entfernt 
hat.  Wie  und  in  welcher  Abfolge  er  die  einzelnen  Sätze  gewonnen  hat^ 
das  ist  schon  oft  dargestellt  worden.  Es  ist  auch  in  allen  Hauptpunkten 
so  durchsichtig  und  zugleich  so  deutlich  das  Ergebniss  seiner  posi- 
tiven Einsicht,  dass  ein  näheres  Eingehen  auf  die  Geschichte  derEnt- 
wickelung  der  negativen  Thesen  an  dieser  Stelle  nicht  nöthig  erscheint. 
Ein  Doppeltes  aber  ist  zum  Verständniss  seiner  Kritik  vorauszuschicken*, 
erstlich  nämlich  dass  der  Reformator  —  darin  von  Zwingli  verschieden 
—  stets  von  dem  Centrum  in  die  Peripherie  gegangen  ist,  d.  h.  vom 
Glauben  zur  Institution;  zweitens  dass  seine  negative  Kritik  niemals 
Lehren  als  solche  betroffen  hat,  sondern  solche  Lehren,  welche  die 
Praxis  —  das  Wort  im  umfassendsten  Sinn  genommen  —  verdarben. 
Man  könnte  desslialb  ohne  grosse  Schwierigkeit  die  ganze  Reformation 
Luther's  unter  dem  Titel  „die  Reform  des  Gottesdienstes"  beschreiben. 

1.  Tiuther's  Ilrtheil  hat  Melanchthon  in  dem  bekannten  Satz  der 
Apologie  IV  (TI)  init.  wiedergegeben:  „Adversarii,  quum  ncque  quid 
rcmissio  peccatorum,  ncque  quid  fides  nequc  quid  gratia  neque  quid 
iustitia  sit,  intcUigant,  misere  contaminant  locum  de  iustificatione  et 
obsciirant  gloriam  et  })encficia  Christi  et  eripiunt  piis  conscientiis  pro- 
positas  in  Christo  consolationes."  Damit  ist  nicht  nur  einem  Stück  der 
herrschenden  Hcilslehre,  sondern  dieser  selbst  die  Wahrheit  abge- 
sprochen, und  zwar  griff  Luther  jeden  einzelnen  Punkt  derselben  an : 
1)  jene  Gotteslehre,  welche,  statt  über  Cott  allein  in  (Jhristo  zu  denken, 
in  „sophistischer"  Weise  seine  Eigenschaften  berechnet  und  über  seinen 


*  Vgl.  hier  die  Schiifl,  de  Jiljertale  christiana. 


720  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

Willen  speculirt  —  die  ganze  „metaphysisclie"  Gotteslehre  hat  er  oft 
genug  als  ein  Erzeugniss  der  blinden  Vernunft  bedräut  und  ver- 
spottet*, 2)  die  (yhristologie,  sofern  man  sicli  begnügte,  über  die  beiden 
Naturen,  die  Menschwerdung,  die  jungfräuhche  Geburt  u.  s.  w.  zu  spe- 
c'uliren,  statt  das  Amt,  den  Beruf  und  so  die  WohUhaten  Christi  ins 
Auge  zu  fossen'^,  3)  die  Lehre  von  der  Wahrheit,  Gerechtigkeit  und 
Gnade  Gottes,  sofern  der  Trost,  der  in  diesen  Stücken  liegt,  nicht  er- 
kannt wird,  weil  sie  von  der  Vernunft  durch  Rücksicht  auf  das  Gesetz 
und  auf  das,  was  der  IVrensch  thut,  geschmälert  und  um  ihren  evange- 
lischen Sinn  gebracht  werden,  4)  die  Lehre  von  der  Sünde  und  vom 
freien  Willen,  weil  sich  hinter  ihr  eine  pelagianische  Selbstgerechtigkeit 
verbirgt,  5)  die  Lehre  von  der  Rechtfertigung  und  vom  Glauben,  weil 
sie  den  Punkt  gar  nicht  trifft,  auf  den  es  allein  ankommt:  einen  Gott 
haben,  statt  dessen  vielmehr  üngewissheit  und  menschliches  Verdienst 
aufrichtet,  6)  die  Lehre  von  den  guten  Werken,  weil  sie  erstlich  nicht 
weiss,  was  gute  AVerke  sind  und  es  desshalb  zu  wahrhaft  guten  Werken 
überhaupt  nicht  bringt,  und  weil  sie  zweitens  diese  „guten  Werke"  an 
die  Stelle  setzt,  an  welche  allein  der  Glaube  gehört. 

2.  Damit  im  engsten  Zusammenhang  griff  Luther  das  ganze  katho- 
lische (nicht  nur  mittelalterliche)  Ideal  der  christlichen  Vollkommen- 
heit an.  Li  seinem  Kampf  gegen  Mönchtimm,  Askese,  besondere  Lei- 
stungen u.  s.  w.  bekämpfte  er  jenes  ^rpwtov  ^söSoc  der  moralistisch- 
pelagianischen  Betrachtung,  als  gelte  vor  Gott  irgend  etwas  Anderes  als 
er  selbst.  Eben  desshalb  tilgte  er  die  Vorstellung  einer  doppelten  Sitt- 
lichkeit bis  auf  den  letzten  Rest  und  stellte  den  sich  der  Sündenver- 
gebung getröstenden  Glauben  (vivificatio  und  sanctificatio)  als  die 
christliche  Vollkommenheit  dar.  Eben  damit  aber  gewann  er  auch  die 
Herrschaft  über  die  eschatologische  Stimmung  des  alten  Vollkommen- 
heitsideals ;  denn  in  der  Natur  desselben  lag  es  begründet,  dass  es  nur 
ausserhalb  dieser  Erde  im  Himmel  voll  verwirklicht  werden  kann :  das 
englische  Leben  kann  im  Diesseits  nur  in  vorläufigen  Anfängen  bestehen. 
Mit  dieser  Art  von  Eschatologie  hat  Luther  gebrochen  und  sie  abge- 
than,  ohne  die  Sehnsucht  nach  dem  Leben  im  Schauen  preiszugeben. 
Es  ist  ein  neuer  Begriff  von  Seligkeit,  den  er  seinen  Gegnern  entgegen- 
hielt*, sie  dachten  bei  der  Seligkeit  an  einen  Genuss  der  geheiligten 
Sinne  und  der  geheiligten  Erkenntniss ;  er  dachte  an  den  Trost  eines 
befriedeten  Gewissens.  Sie  wussten  von  dieser  Seligkeit  nur  in  Frag- 
menten zu  sprechen:  denn  sie  hatten  sie  höchstens  in  Minuten  erlebt; 

*  S.  H.  Schultz  ,  Lutlier's  Ansicht  von  der  Methode  u.  d.  Grenzen  d.  dogmat. 
Anschauungen  über  Gott  (Ztschr.  f.  K.-Gesch.  IV,  1).    Vgl.  oben  S.  710  ff. 
^  Vgl.  das  diesem  Buche  vorangestellte  Motto. 


Luther's  Kritik  am  Seligkeitsideal  und  am  Sacrament.  72 1 

er  zeugte  von  ihr  wie  ein  Kind  von  der  Liebe  seines  Vaters,  in  der  es 
sich  geborgen  weiss.  Sie  bHeben  arm,  unselbständig  und  ängstlich  bei 
air  dem  Ueberschwall;  welchen  sie  empfanden ;  er  sah  in  dem  Allem  nur 
die  alte  Hölle,  welche  den  Sünder  verfolgt,  und  riss  in  dieser  Gewissheit 
das  Mönchthum,  die  x\skese  und  alle  Verdienste  nieder.  AVie  überall, 
so  hat  er  auch  im  Seligkeitsideal  den  feinen  Dualismus  ausgetilgt,  der 
die  ganze  katholische  Auffassung  vom  Christenthum  durchzieht. 

Aus  diesen  Angriffen  auf  die  Heilslehre  und  die  mönchische  Voll- 
kommenheit ergaben  sich  ihm  mit  Nothwendigkeit  die  Angriffe  auf  die 
Sacramente,  das  Priester-  und  Kirchenthum  und  die  kirchliche  Gottes- 
verehrung, ferner  aber  auch  die  Angriffe  auf  die  formellen  Autoritäten 
des  Katholicismus  und  der  katholischen  Lehre. 

3.  Nicht  nur  die  Siebenzahl  der  Sacramente  hat  Luther  abgethan 
—  das  ist  das  Geringste  — ,  sondern  er  hat  den  ganzen  katholischen 
Sacramentsbegriff  entwurzelt  durch  die  siegreiche  Behauptung  folgen- 
der drei  Sätze:  1)  dass  die  Sacramente  der  Sündenvergebung  dienen 
und  nichts  Anderem,  2)  dass  sie  nicht  „implentur  dum  fiunt,  sed  dum 
creduntur",  3)  dass  sie  eine  eigenthümliche  Form  des  seligmachenden 
Wortes  Gottes  (der  sich  verwirklichenden  promissio  dei)  sind  und 
desshalb  ihre  Kraft  an  dem  geschichtlichen  Christus  haben.  In  Folge 
dieser  Betrachtung  reducirte  Luther  die  Sacramente  auf  zwei  (drei), 
ja  im  Grunde  auf  ein  einziges,  nämlich  auf  das  Wort  Gottes. 
Er  zeigte,  dass  selbst  die  erleuchtetsten  Kirchenväter  von  dieser 
Hauptsache  nur  unklare  Vorstellungen  gehabt  haben  —  Augustin 
weiss  viel  vom  Sacrament  zu  sagen,  aber  wenig  vom  Wort  — ,  und 
dass  die  Scholastiker  die  Sache  vollends  verdunkelt  haben;  er  wendet 
sich  ebenso  gegen  die  Magie  des  opus  operatum,  wie  gegen  die  Ver- 
schiebung des  heilsamen  Effects  des  Sacraments  in  die  menschliche 
Disposition;  er  löst  die  mystischen  Nebel  des  Schwelgens  in  den  Sacra- 
menten  ebenso  auf,  wie  die  anstössigen  gottlosen  Berechnungen  ihres 
Marktwerthes ;  er  vernichtet  den  bequemen  und  doch  so  nichtigen 
Gedanken  von  Gnadenstücken  und  setzt  in  das  Sacrament  den  leben- 
digen (Jhristus,  wie  er  als  Christus  praedicatus  den  alten  Menschen 
bezwingt  und  den  neuen  erweckt;  er  zertrümmert  nicht  weniger  als 
das  ganze  System  und  führt  es  wiederum  auf  den  einen,  einfachen 
grossen,  in  jedem  Cliristenleben  sich  immer  wiederholenden  Act  der 
Erzeugung  des  Glaubens  durcli  Anbietung  der  gratia  zurück.  Durch 
die  Beseitigung  der  katholischen  Sacramentslehre  vor  Allem  hat 
TiUther  principiell  den  aus  ältester  Zeit  stammenden  Trrthum  abge- 
tlian,  als  handle  es  sich  in  der  christlichen  Religion  um  ein,  sei  es 
auch  noch  so  hohes,  dingliches  Gut.    Jene  Lehre  wurzelte  in  der 

Harnack,  Doj^enßeschichte  III.  aq 


722  l^i^''  Ausgänge  des  Doginas  im  Protestantismus. 

(Triinclvorstelliing,  dass  die  llelifijioii  das  Gegoiniiittel  gegen  die  End- 
licJikeit  des  Menschen  in  dem  Sinne  sei,  dass  sie  seine  Natur  ver- 
gotte. Dieser  Gedanke  war  freilich  bereits  durch  Augustin's  Lehre 
erschüttert,  aher  el)en  nur  erscliüttert  worden.  Augustin  hatte,  als 
Vorläufer  Ijuther's,  die  Sacramente  bereits  einem  innerlichen  Process 
ditMistbar  gemacht:  sie  sollen  die  Gerechtigkeit  erzeugen,  vermehren 
und  vollenden.  Aber  indem  er  sie  zu  diesem  Zweck  unter  den  Ge- 
sichtspunkt der  gratia  infusa  (caritas  infusa)  stellte,  führte  er  die 
Betrachtung  nicht  über  die  Linie  hinaus,  dass  sie  Instrumente 
mannigfaltiger  Art  seien,  denen  nur  eine  particulare  Ivraft  innewohnt 
und  die  im  letzten  Grunde  das  nicht  sind,  was  sie  bedeuten,  üie 
Kirche  nach  ihm  ist  ihm  auf  dieser  Bahn  gefolgt.  Indem  sie  sich 
zur  Sacramentskirche  ausgestaltet  hat,  hat  sie  doch  in  AVahrheit  das 
„Sacrament"  entwerthet;  denn  es  ist  nicht  das,  was  es  zu  sein  scheint, 
sondern  es  ermöglicht  nur  das,  was  es  zu  enthalten  scheint;  damit 
es  aber  wirklich  wird,  muss  noch  x\nderes  hinzutreten.  Für  liuther 
dagegen  sind  die  Sacramente  wirkhch  nur  verbum  visibile,  aber  jenes 
Wort,  welches  kräftig  und  mächtig  ist,  weil  in  ihm  Gott  selbst  mit 
uns  wirkt  und  handelt.  Es  ist  zuletzt  der  Gegensatz  in  der  Auf- 
fassung dei'  gratia,  welcher  an  diesem  Punkt  am  klarsten  hervorbricht. 
Nach  katholischer  Auffassung  ist  die  Gnade  die  durch  die  Sacramente 
appHcirte,  eingegossene  Kraft,  die  unter  der  Bedingung  der  Mit- 
wirkung des  freien  Willens  den  Menschen  befälligt,  den  AVillen  Gottes 
zu  erfüllen  und  sich  die  zur  Seligkeit  nöthigen  Verdienste  zu  erwer- 
ben. Nach  Luther  aber  ist  die  Gnade  die  väterliche  Gesinnung 
Gottes,  die  um  Christus  willen  den  schuldigen  Menschen  zu  sich 
ruft  und  ihn  annimmt,  indem  sie  ihm  durch  das  vorgehaltene  Bild 
Christi  Vertrauen  abgewinnt.    Was  soll  da  das  Sacrament? 

Dass  die  einzelnen  Sacramente,  welche  Luther  beibehielt,  dem- 
gemäss  eine  neue  Bearbeitung  erfahren  mussten,  ist  selbstverständlich. 
Wie  er  die  Taufe  und  das  Abendmahl  angesehen  wissen  wollte, 
hat  er  in  den  vier  Sätzen  über  jene '  und  in  den  parallelen  über 
diese  zum  Ausdruck  gebracht,  die  er  in  dem  kleinen  Katechismus 
ausgesprochen  hat.  Was  über  die  dort  gegebenen  Ausführungen 
hinaus  liegt,  resp.  mit  ihnen  nicht  stimmt,  wird  im  nächsten  Abschnitt 


*  „Die  Taufe  ist  das  Wasser  in  Gottes  Gebot  gefasst  und  mit  Gottes  Wort  ver- 
bunden." „Sie  wirket  Vergebung  der  Sünden."  „Wasser  thuts  freilich  nicht,  son- 
dern das  AVort  Gottes,  so  mit  und  bei  dem  Wasser  ist,  und  derCilaube,  so  solchem 
AVort  Gottes  im  AVasser  trauet."  „Die  Taufe  bedeutet,  dass  der  alte  Adam  in  uns 
durch  tägliche  Reue  und  Busse  soll  ersäuft  werden . . .  und  wiederum  täglich  heraus- 
kommen und  auferstehen  ein  neuer  Mensch."   Dasselbe  beim  Abendmahl. 


Luther's  Kritik  an  den  Sacramenten.  723 

zur  Sprache  kommend  Am  einschneidendsten  erscheint  seine  Auf- 
fassung von  der  Busse,  verglichen  mit  dem  kathohschen  Busssacrament, 
dem  Herzstück  der  mittelalterHchen  Kirche.  ErstHch  hat  er  an  die 
Stelle  der  inneren  Bussstimmung,  dem  Sündenbekenntniss  und  der 
Genugthuung  allein  die  Busse  gesetzt;  nicht  als  ob  er  die  confessio 
und  satisfactio  operis  einfach  abgethan  hätte  —  auf  jene  legte  er 
hohen  Werth  und  auch  dieser  konnte  er  ein  gewisses  Recht  einräu- 
men — ;  aber  neben  die  aufrichtige  Busse  darf  nichts  Anderes  ge- 
stellt werden;  denn  nur  sie  hat  vor  Grott  Werth,  weil  er  sie  durch 
den  Glauben  schafft;  zweitens  hat  er  die  Busse  streng  als  contritio 
gefasst,  d.  h.  als  die  durch  den  Glauben  erweckte  Zerknirschung 
über  die  Sünde,  richtiger  den  Hass  gegen  dieselbe;  das,  was  das 
Gesetz  erwirken  kann,  ist  höchstens  attritio,  aber  diese  attritio  der 
Scholastiker  ist  weniger  als  nichts  werth,  weil  sie  nicht  von  Gott 
gewirkt  ist,  und  führt  daher  zur  Hölle;  so  hat  er  die  Busse  aus  dem 
Bereich  der  Moral  und  der  willkürlichen  Kirchenordnung  zurück- 
geführt in  das  Gebiet  der  Religion:  „an  Dir  allein  habe  ich  gesün- 
digt" ;  drittens  hat  er  die  Stetigkeit  der  Bussgesinnung  gefordert  als 
die  Grundform  des  rechtschaffenen  Christenlebens  überhaupt  und 
damit  die  vor  dem  Priester  abgelegte  Busse  für  einen  Specialfall 
dessen  erklärt,  was  allezeit  in  Hebung  und  Kraft  sein  soll;  viertens 
hat  er  damit  die  Nothwendigkeit  der  priesterlichen  Mitwirkung,  sei 
es  bei  der  confessio  —  die  Ohrenbeichte  als  Beichte  aller  Sünden 
ist  unmöglich,  als  brüderliche  Aussprache  heilsam  — ,  sei  es  bei  der 
absolutio,  abgethan:  ein  Ohrist  kann  und  soll  dem  anderen  die  Sünde 
vergeben  und  ihm  dadurch,  wie  Luther  sich  kühnlich  ausdrückt, 
ein  Ohristus  werden;  fünftens  hat  er  auf  die  absolutio  neben  der 
contritio  den  entscheidenden  Nachdruck  gelegt:  diese  beiden  gehören 
allein  zusammen,  und  nichts  darf  ihre  Ver])indung  stören  oder  be- 
schweren; sie  gehören  aber  zusammen,  weil  sie  beide  beschlossen 
sind  in  der  fides;  in  dieser  liegt  aber,  streng  genommen,  nicht  einmal 
die  confessio,  geschweige  die  satisfactio ;  sechstens  hat  er  allen  Unfug, 
der  sich  an  das  Sacrament  angeschlossen  hat,  beseitigt ;  indem  er  die 
Vergebung  ausschhesslich  auf  die  Tilgung  der  ewigen  Schuld  bezieht, 
hat  er  die  seelen gefährlichen  Berechnungen  der  Vernunft,  betreffend 
Todsünden  und  lässliche  Sünden,  ewige  Schuld  und  zeitliche  Schuld, 


*  Nur  das  sei  bemerkt,  dass  Luther's  ursprünglicher  Grundsatz  vom  A])end- 
mahl  lautet  —  in  der  Schrift  de  captiv.  Bahyl.  (Erlang.  Ausg.  Oi)p.  var.arg.  V.p.50), 
die  für  seine  Lehre  von  den  Sacramenten  grundlegend  ist  — :  „iam  missa  quauto 
vicinior  et  similior  primae  omnium  missae,  quam  Christus  in  coena  fecit,  tanto 
Christianior." 

40* 


724  r^ic!  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

ewige  Strafen  und  zeitliclie  Strafen,  abgethan  und  damit  das  Sacra- 
ment  auch  aus  der  Verflechtung  mit  der  Rücksicht  auf  zeitHche 
Vortheile  herausgeführt,  die  eine  nothwendige  Folge  der  Reflexion 
über  zeitliche  Strafen  gewesen  ist;  indem  er  die  Wirkung  der  Ab- 
solution auf  die  ewige  Schuld  reducirtc,  nahm  er  es,  gemäss  seiner 
Einsieht  in  das  Wesen  der  Sünde,  mit  dieser  viel  ernster  als  die 
Scholastiker:  sie  operirten  mit  der  lässlichen  Sünde  und  mit  der 
attritio  und  bewiesen  eine  hohe  Kunst,  die  Sünden  überhaupt  auf 
jene  zu  reduciren  und  die  attritio  Gott  wohlgefällig  zu  machen;  er 
kannte  in  dieser  Sache  nur  seine  unendliche  Schuld  und  seinen  Gott; 
siebentens  hat  er  mit  jenem  Unfug  ausdrückhch  die  raffinirten  Lehren 
vom  Fegfeuer,  von  dem  zugewandten  Verdienst  der  Heihgen  und  von 
den  Ablässen  beseitigt.  In  dem  Contrast  zwischen  Schuld  und  Ver- 
gebung, Hölle  und  Himmel  giebt  es  kein  Mittleres,  also  auch  kein 
Fegfeuer;  Verdienste  der  Heiligen  sind  eine  pelagianische  Erfindung, 
können  also  auch  nicht  angerechnet  werden;  die  Ablässe  sind  eben 
desshalb  schon  ein  thörichter  Wahn,  die  Praxis  derselben  aber  stürzt 
geradezu  die  Ehre  Christi  und  die  Busse  um;  beziehen  sie  sich  aber 
bloss  auf  willkürliche  kirchliche  Ordnungen,  so  gehören  sie  überhaupt 
nicht  zur  Religion.  —  Indem  Luther  das  katholische  Busssacrament 
aus  den  Angeln  hob  und  dafür  den  Gedanken  der  Rechtfertigung 
aus  dem  Gla^uben  einsetzte,  hat  er  die  alte  Kirche  preisgegeben  und 
war  genöthigt,  eine  neue  zu  bauen. 

4.  Vom  Standpunkt  des  Glaubens  aus  hat  er  ferner  das  ganze 
hierarchische  und  priesterliche  Kirchensystem  umgestürzt.  Seine  nega- 
tive Kritik  leidet  auf  diesem  Gebiet  nicht  an  der  geringsten  Unklarheit. 
Durch  die  Rechtfertigung  aus  dem  Glauben  ist  jeder  Christ  ein  voll- 
bürtiger  Christ;  nichts  steht  zwischen  ihm  und  seinem  Gott;  die  Kirche 
aber  ist  die  Gemeinschaft  der  Gläubigen  —  nichts  Anderes;  dieser 
Kirche  sind  die  „Schlüssel"  gegeben,  d.  h.  die  Anwendung  des  gött- 
lichen Worts;  sie  sind  ihr  gegeben,  weil  sie  dem  Glauben  gegeben  sind. 
In  diesen  Sätzen  ist  ein  besonderer  geistlicher  Stand,  an  den  die  Gläu- 
bigen  gebunden  sind,  ebenso  ausgeschlossen,  wie  die  Jurisdictionsgewalt 
der  Kirche.  Damit  ist  aber  nicht  nur  die  mittelalterliche  Kirche  ins 
Herz  getroffen,  sondern  auch  die  alte  Kirche,  mindestens  von  Irenäus 
ab.  Und  mit  welcher  unerbittlichen  Energie  hat  Luther  hier  die  Con- 
sequenzen  gezogen  bis  zu  der  Folgerung,  der  Papst  sei  der  Antichrist; 
wie  konnte  er  spotten  über  „Schmeer,  Theer  und  Butter",  mit  welcher 
die  Kirche  ihre  Zauberer  und  Heuchler  weiht;  in  welchen  AVorten  hat 
er  die  Kirchenordnung,  das  kanonische  Recht,  die  Gewalt  des  Papstes 
als  Greuel  der  Verwüstung  an  heiUger  Stätte  geschildert!  Fragt  man, 


Luther's  Kritik  an  der  Hierarchie  und  dem  Kultus.  725 

welche  Macht  ihm  hier  die  Worte  des  Zorns  auf  die  Lippen  gelegt  hat, 
so  muss  man  antworten,  dass  es  die  Erkenntniss  gewesen  ist,  die  heute  zu 
bekennen  auch  einsichtigen  protestantischen  Theologen  so  schwer  fällt 

—  die  Erkenntniss,  dass  die  Kraft  des  Glaubens  ebenso  durch  hinzu- 
gefügte Lasten  gelähmt  wird  wie  durch  falsche  Lehre.  Warum  sollte 
nicht  in  der  Christenheit  ein  Papst,  eine  Priesterschaft,  eine  bischöfliche 
Verfassung,  eine  über  alle  Reiche  sich  erstreckende  Jurisdictionsgewalt 
der  Kirche  bestehen  können?  es  giebt  nichts,  was  solche  Ordnungen 
verbietet,  wenn  sie  zweckmässig  sind,  und  es  giebt  mehr  als  einen 
triftigen  Grund,  der  sie  empfiehlt.  Aber  sie  im  Namen  des  Evange- 
liums fordern  oder  auch  nur  den  Sehern  bestehen  lassen,  dass  sie  aus 
dem  Evangehum  selbst  fltiessen,  das  heisst  die  Religion  so  belasten,  dass 
sie  unter  dieser  Last  zerdrückt  wird.  Das  hat  Luther  empfunden  und 
erkannt.  Er  hätte  die  Bischöfe,  die  Concihen  und  selbst  den  Papst 
wilhg  bestehen  lassen  oder  doch  ertragen,  wenn  sie  das  Evangelium 
angenommen  hätten;  in  welche  Verhältnisse  hätte  sich  dieser  innerlich 
freie  Mann  nicht  gerne  gefügt,  wenn  das  lautre  Wort  Gottes  gelehrt 
würde!  Allein  sie  wollten  sich  selbst  und  ihre  Praktiken  aus  dem  Wort 
Gottes  behaupten  und  erklärten,  sie  stünden  so  sicher  darin,  wie  die 
Vergebung  der  Sünden:  da  zerschlug  er  sie  und  stellte  sie  an  den 
Pranger  als  die,  die  nach  allem  Möglichen  suchen,  nur  nicht  nach  der 
Ehre  Gottes  und  Christi. 

5.  Nicht  minder  radical  war  seine  Stellung  zur  kirchlichen  Gottes- 
verehrung. Auch  hier  hat  er  nicht  nur  die  mittelalterliche  Ueberliefe- 
rung  aufgelöst,  sondern  die  altkirchliche,  wie  wir  sie  bis  ins  2.  Jahr- 
hundert zurückzuverfolgen  vermögen.  Die  öfientliche  kirchliche  Gottes- 
verehrung ist  für  ihn  nichts  Anderes  als  die  Einheit  der  Gottesverehrung 
der  Einzelnen  nach  Zeit  und  Raum.  In  diesem  Satze  ist  aller  besondere 
und  doch  nur  heidnische  Nimbus  abgethan,  der  über  dem  öffentlichen 
Kultus  schwebt ;  es  ist  der  besondere  Priester  und  das  besondere  Opfer 
abgethan,  und  es  ist  der  Werth  specifischer  kirchlicher  Handlungen, 
an  denen  Theil  zu  nehmen  heilsam  und  nothwendig  ist,  vernichtet. 
Nicht  als  ob  Luther  die  Bedeutung  der  Gemeinsamkeit  verkannt  hätte 

—  doch  finden  sich  selbst  an  diesem  Punkte  Unsicherheiten  bei  ihm  ^  — , 
wie  hat  er  die  Predigt  und  das  ministerium  divinum  geschätzt!  Allein 
der  öffenthche  Gottesdienst  kann  keinen  anderen  Zweck,  keinen  anderen 
Verlauf,  keine  anderen  Mittel  haben  als  der  Gottesdienst  des  Einzelnen; 
denn  Gott  handelt  mit  uns  lediglich  durch  das  Wort,  welches  nicht  an 
bestimmte  Personen  ausschliesslich  gebunden  ist,  und  er  verlangt  von 

^  Es  scheint  manchmal,  als  sei  der  öffentliche  (Jottcsdienst  nur  Erziehungs- 
anstalt der  Unvollkommenen,  und  das  ist  nicht  überall  ein  blosser  Schein. 


726  I^it!  Ausgäuge  des  Dogmas  iui  Protestantismus. 

uns  keinen  anderen  Dienst  als  den  Glauben,  der  sich  in  Lob  und  Dank, 
Deniuth  und  Busse,  sicherem  Vertrauen  aui*  Gottes  Hülfe  in  allen  Nötlien, 
desshalb  in  der  Eerut'streue,  und  im  Gebet  entfaltet.  Also  kann  im 
öffentlichen  Gottesdienst  auch  nicht  anders  f^ehandelt  werden:  Er- 
bauung des  Glaubens  durch  die  Verkündigung  des  gött- 
lichen Worts  und  gemeinsames  Lobopfer  des  Gebets.  Sofern 
aber  im  letzten  Grunde  das  christliche  Leben  der  wahre  Gottesdienst 
ist,  behält  ihm  gegenüber  der  öffentliche  Kultus  stets  nur  etwas  Parti- 
culares.  Dass  Luther  sich  zur  katholischen  Messe  schlechthin  ablehnend 
gestellt  und  den  greulichen  Unfug  abgethan  hat,  der  den  Gottesdienst 
zur  Erzielung  profaner  Vorthcilo  missbrauchte,  leugnet  Niemand.  Dass 
er  unzäldige  Missbräuche  hier  beseitigt  hat,  hegt  auf  der  Hand;  aber 
die  scheinbar  conservative  Haltung,  die  er  bei  seinen  Correcturen  des 
Messbuchs  eingenommen  hat,  und  der  Verzicht  darauf,  den  Gottes- 
dienst von  Grund  auf  neu  zu  bauen,  hat  doch  viele  „Lutheraner"  im 
16.  wie  im  19.  Jahrhundert  zu  den  bedenklichsten  Ansichten  über  einen 
specifi sehen  (religiösen)  AVerth  des  öffentHchen  Kultus,  über  den 
Zweck  des  Kultus  und  über  seine  Mittel  zurückgeführt.  Wie  un- 
lutherisch das  ist,  —  weil  Luther  hier  durch  Luther  selbst  corrigirt 
werden  kann  und  muss  — ,  und  wie  der  Gedanke  der  evangelischen 
Gottesverehrung  tote  coelo  von  der  katholischen  verschieden  ist,  das 
ist  jüngst  in  ausgezeichneter  Weise  gezeigt  worden.  Die  Frage  ist 
innerhalb  der  Dogmengeschichte  von  besonderer  Wichtigkeit,  weil 
Luther' s  Haltung  gegenüber  dem  Kultus  die  genaueste  Parallele  hat  an 
seiner  Haltung  gegenüber  dem  Dogma  K 

*  S.  Grottschick,  Luther's  Anschauungen  vom  christlichen  (Tottesdienst  und 
seine  thatsächliche  Reform  desselben  (1887) ;  vgl.  die  Ausführungen  auf  S.  3,  wo  man 
überall  statt  altlutherische  Liturgie  altlutherische  Dogmatik  sagen  könnte :  „Man 
brauchte  .  .  .  weniger  ängstlich  zu  sein,  wenn  es  so  stände,  dass  die  altlutherische 
Liturgie  ein  auch  nur  relativ  genuines  Erzeugniss  des  cigenthümlichcn  Geistes  der 
Reformation  wäre,  des  Geistes,  von  dem  wir  uns  nicht  befreien  können,  ohne  uns 
selbst  zu  verlieren.  Das  könnte  doch  aber  nur  dann  der  Fall  sein,  wenn  Luther  aus  dem 
Innersten  der  von  ihm  gewonnenen  neuen  Anschauungen  vom  Ganzen  des  Christeu- 
thums  heraus  die  obersten  positiven,  so  zu  sagen  schöpferischen  Principien  seiner 
liturgischen  Neuordnungen  abgeleitet  hätte.  Nun  aber  hat  Luther  thatsächlich  dem 
Gange  der  römischen  Messe  sich  angeschlossen  und  dieselbe  nur  im  Einzelnen 
umgebildet,  indem  er  einerseits  ausstiess,  was  direct  wider  das  Evangelium  war, 
andererseits  gewisse  Einzelheiten  einfügte.  —  Dazu  ist  er  so  wenig  liturgisch 
interessirt,  so  wenig  von  dem  Gedanken  eines  innern,  die  Composition  beherrschen- 
den Lebensgesetzes  des  Gottesdienstes  geleitet  gewesen,  dass  er  fast  bei  jedem 
Stück  des  katholischen  Erbes  hervorhebt,  es  komme  nichts  darauf  an  und  man  könne 
die  Sache  auch  ebensogut  anders  machen.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  wahrlich 
keine  Unterschätzung  der  Verdienste,  die  Luther  auch  um  die  Refonn  des  Gottes- 


Luther's  Kritik  am  Kultus  und  an  den  Autoritäten.  727 

6.  Luther  hat  die  formalen  äusseren  Autoritäten  für  den  Glauben, 
\vie  sie  der  KathoHcismus  aufgerichtet  hat,  vernichtet.  Dass  er  hier 
ebenfalls  nicht  nur  mittelalterliche  Aufstellungen  getroffen,  sondern 
die  altkatholische  Lehre  beseitigt  hat,  ist  unwidersprechlich.  Da  oben 
S.  582  ff.  hiervon  schon  gehandelt  ist,  so  sei  hier  nur  das  Nothwendigste 
zusammengefasst.  Der  KathoHcismus,  wie  er  überall  in  seiner  Be- 
trachtung das  religiöse  Erlebniss  zuerst  zersetzt  hat,  um  es  dann  ver- 
ständig zu  bearbeiten,  hatte  auch  hier  die  Unterscheidung  zwischen  der 
Sache  selbst  undder  Autorität  eingeführt.  Diese  Unterscheidung 
entspricht  der  Methode  seiner  Distinctionen  überhaupt,  die  sich  bald 
in  der  Differenzirung  von  Nothwendigkeit,  Möglichkeit  und  AVirklich- 
keit,  bald  von  Form  und  Sache,  bald  von  Wirkung  und  Heilswirkung 
ergeht.  Alle  diese  höchst  verwirrenden  Künste  der  Vernunft  fehlen  in 
den  ursprünglichen  Ansätzen  Luther's.  So  ist  auch  ihm  nicht  die  Unter- 
scheidung eines  formalen  und  materialen  Princips  aufzubürden  * ;  denn 
die  Sache  war  ihm  die  Autorität  und  die  Autorität  die  Sache.  Diese 
aber  ist  der  gepredigte  geschichtliche  Christus,  das  Wort  Gottes.  Von 
hier  aus  hat  er  die  Einsicht  und  den  Muth  gewonnen,  gegen  die  for- 
malen Autoritäten  des  KathoHcismus  zu  protestiren  als  gegen  Men- 
schensatzungen. Damit  warf  er  aber  das  ganze  System  des  KathoHcis- 
mus, wie  es  seit  Irenäus  gezimmert  war,  über  den  Haufen  *,  denn  die 
Unverbrüchlichkeit  dieses  Systems  ruhte  lediglich  auf  den  formellen 
Autoritäten:  die  fides,  an  welche  die  Kirchenväter  und  Scholastiker 
appellirten,  war  der  Gehorsam  unter  die  Kirchenlehre,  der  seiner  Sache 
desshalb  gewiss  ist,  weil  jene  Autoritäten  angeblich  unerschütterlich 
sind.  Luther  opponirte  aber  gegen  alle  diese  Autoritäten,  gegen 
die  Unfelilbarkeit   der  Kirche,    des  Papstes,   der  ConciHen  und  der 

dienstcs  sich  erworben  hat,  wenn  man  sieh  die  Nothwendigkeit  nielit  versehleiert, 
dass  auf  diesem  Gebiet  von  den  in  Luther's  reformatoriseher  Ansehauuug  liegenden 
Prineipien  aus  ein  wirkliehcr  Neubau  versucht  werden  muss.  Aber  wie  auf 
anderen  Gebieten,  so  Hegt  auch  hier  die  Sache  so,  dass  Luther  selbst  bereits 
die  wirklich  evangelischen  Prineipien  des  Neubaus  aus  seiner  reli- 
giösen Grundans  eh  auun  g  entwickelt  hat  und  zwar  in  viel  wei  terem 
Umfang,  als  dies  aus  seinen  Reformthaten  und  den  auf  diese  bezüg- 
lichen »Schriften  erkennbar  ist."  Der  sichere  Beweis  hierfür  ist  in  der  Ab- 
handlung seilest  gegeben. 

'  S.  Kitschi  in  derZtsehr.  für  K.-Geseh.  I  S.  397  (f.  Nach  dieser  Al)handlung 
wird  jetzt  mehr  und  mehr  die  Unterscheidung  eines  formalen  und  eines  materialen 
Princips  bei  Luther  aufgegeben.  So  sagen  auch  Thomasius-Seeberg  II  S.  345: 
„Das  Princip  des  Protestantismus  ist  der  rechtfertigende,  von  der  hl.  Schrift  be- 
zeugte, durch  das  Wort  Gottes  (durch  den  hl.  Geist)  gewirkte  Glaube  an  Christum 
als  den  alleinigen  Heiland."  Allein  im  Folgenden  wird  diese  Erkenntniss  zu  Gunsten 
des  Schriftprincips  zum  Theil  wieder  verleugnet. 


728  Pitt  Ausgäuge  des  Dogmas  im  Protestautismus. 

Kirchenväter  in  Bezug  auf  Glaubenslehren  wie  in  Bezug  auf  ihre  Schrift- 
auslegung, gegen  die  (Garantie,  welche  die  Verfassung  der  Kirche  der 
Wahrheit  gewähren  soll,  und  gegen  jede  Lehrformulirung  der 
Vergangenheit  als  solche  —  siebedarf  immer  erst  eines  Erweises. 
Luther  opponirte  aber  in  derselben  Zeit,  in  der  er  den  Kampf  gegen 
die  Autorität  der  Concilien  so  tapfer  führte,  auch  gegen  die  Unfehl- 
barkeit der  Schrift,  und  wie  konnte  er  anders  ?  Wenn  nur  das  Autorität 
ist,  was  auch  Sache  ist  —  die  Gebundenheit  und  die  Freiheit  des 
Ohristenstandes  forderte  dies — ,  wie  sollte  da  Autorität  sein  können,  wo 
die  Sache  nicht  deutlich  erscheint  oder  gar  ihr  Gegentheil  erscheint. 
Nie  kann  sich  mit  ehiem  geschriebenen  Wort,  wäre  es  auch  das  klarste 
und  sicherste,  der  Inhalt  einer  Person  decken,  die  sich  zu  eigen  giebt. 
So  hat  Luther  auch  zwischen  Wort  Gottes  und  hl.  Schrift  unterscheiden 
müssen.  Gewiss,  ein  solches  Buch,  welches  sich  als  sicheres  Wort 
Christi  und  iüs  apostolisches  Zeugniss  giebt,  stellt  im  höchsten  Sinn  die 
Anforderung,  dass  es  als  Wort  Gottes  betrachtet  wird.  Aber  dennoch 
Hess  sich  Luther  —  gerade  in  der  schwersten  Zeit,  in  der  er  die  for- 
melle Autorität  des  Buchstabens  am  nöthigsten  zu  haben  schien  —  selbst 
durch  das  Apostolische  nicht  imponiren  und  den  Mund  stopfen.  Welche 
Einschränkungen  und  Einbussen  er  sich  selbst  später  zugezogen  hat, 
darüber  wird  unten  zu  handeln  sein ;  aber  kein  Zweifel  kann  bestehen, 
dass  Luther's  Stellung  zum  NT.,  wie  er  sie  in  den  „Vorreden"  ein- 
genommen hat,  die  correcte,  d.  h.  die  seinem  Glauben  entsprechende 
gewesen  ist,  und  dass  er  durch  seine  Haltung  gegenüber  allen  formalen 
Autoritäten  des  Katholicismus  diesen  an  seinen  geschichtlichen  An- 
fängen aufgelöst  hat. 

7.  Endlich  ist  noch  auf  einen  sehr  wichtigen  Punkt  hinzuweisen. 
Luther  hat  sich  an  sehr  vielen  Stellen  hinreichend  deutlich  darüber  ausge- 
sprochen, dass  er  seinen  Gegnern  die  theologische  Termi  - 
nologie  eben  nur  concedirt  und  sich  selbst  nur  in  der- 
selben bewegt,  weil  er  durch  die  Ueberlieferung  an  sie  ge- 
wöhnt und  der  Gebrauch  von  unzutreffenden  Worten  nicht 
nothwendigvonUebel  sei.  lieber  die  wichtigsten  Termini  hat  er 
sich  so  ausgesprochen.  Erstlich  sind  ihm  alle  die  verschiedenen  Be- 
zeichnungen der  Rechtfertigimgslehre  zuwider  gewesen:  iustificare, 
regenerari,  sanctificare,  vivificare,  iusfcitia,  imputare  etc.  etc. ;  er  empf:md 
sehr  wolü,  dass  die  blosse  Mehrzahl  eine  bedenkliche  Last  für  seine  Auf- 
fassung bildete,  und  dass  kein  einziges  Wort  seiner  Betrachtung  ganz 
entsprach.  Zweitens  hat  er  in  gleicher  Weise  das  AVort  satisfactio  in 
jedem  Sinn  beanstandet ;  er  will  es  den  Gegnern  eben  nur  noch  durch- 
lassen.  Drittens  hat  er  sich  an  dem  Terminus  „Kirche"  (ecclesia)  ge- 


Luther's  Kritik  an  der  dogmatischen  Terminologie.  729 

stossen ;  denn  er  verdunkelt  oder  verwirrt  das,  was  einfach  christliche 
Gemeinde,  Sammlung  oder  —  noch  besser  —  eine  heilige  Christenheit 
heissen  sollte.  Viertens  hat  er  das  Bedenkliche  des  Wortes  „Sacra- 
ment"  sehr  \vohl  bemerkt;  er  wollte  es  am  liebsten  ganz  vermieden 
sehen  und  an  die  Stelle  der  missverständhchen  Formel  „Wort  und 
Sacramente"  lieber  das  Wort  allein  gesetzt  wissen  oder  —  mit  Bei- 
behaltung des  Namens  Sacrament  —  von  einem  Sacrament  und 
mehreren  Z  ei  chen  reden  ^  Fünftens  hat  er  selbst  einen  solchen  Ter- 
minus wie  ö{xoo{)CJioc  für  unerlaubt  im  strengen  Sinn  erklärt,  weil  es  ein 
Unfug  sei,  solche  Worte  in  der  Glaubenslehre  zu  erfinden :  „indulgendum 
est  patribus  ....  quod  si  odit  anima  mea  vocem  homousion  et  nolim 
ea  uti,  non  ero  haereticus;  quis  enim  me  coget  uti,  modo  rem  teneam 
quae  in  conciho  per  scripiuras  definita  est?  etsi  Ariani  male  senserunt 
in  fide,  hoc  tamen  optime  .  .  .  exegerunt,  ne  vocem  profanam  et  novam 
in  regulis  fidei  statui  beeret"  ^.  Ebenso  hat  er  sich  an  den  Worten 
„Dreifaltigkeit"  „Dreiheit"  „unitas"  „trinitas"  gestossen  und  sie  lieber 
vermieden.  Doch  waltet  hier,  wie  die  eben  angeführten  Worte  beweisen, 
der  Unterschied  ob,  dass  er  die  Terminologien  der  mittel- 
alterlichenTheologiemeistens  für  irreführend  undfalsch, 
dagegen  di  e  Terminologien  der  altkirchli  chen  Theologie 
nur  für  unnütz  und  kalt  gehalten  hat.  Allein  noch  von  einer 
anderen  Seite  her  hat  er  den  ganzen  Betrieb  der  Theologie,  wie  er  seit 
den  Tagen  der  Apologeten  überliefert  w^ar,  aufs  ernstlichste  beanstandet, 
und  hier  ist  in  noch  höherem  Masse  seine  Abkehr  vom  alten  Dogma 
zum  Ausdruck  gekommen,  als  in  dem  Tadel  einzelner  Begriffe,  näm- 
lich in  jener  Unterscheidung  des  „für  sich"  und  „für  uns", 
die  sich  so  häufig  bei  Luther  findet.  Immer  wieder  und  zu  allen  Zeiten 
hat  er  Bestimmungen  der  alten  Dogmatik  über  Gott  und  Christus,  über 
den  Willen  und  die  Eigenschaften  Gottes,  über  die  Naturen  in  Christus, 
über  die  Geschichte  Christi  u.  s.  w.  mit  der  Bemerkung  zurückgestellt: 
„das  hat  er  für  sich",  um  dann  unter  der  Formel  „das  hat  er  für  uns" 
oder  einfach  „für  uns"  seine  neue  Betrachtung,  die  ihm  die  Hauptsache, 
ja  das  Ganze  ist,  einzuführen.  „Christus  ist  nicht  darumb  Christus  ge- 
nennet, dass  er  zwo  Naturen  hat.  Was  gehet  mich  dasselbige  an  ? 
Sondern  er  traget  diesen  herrlichen  und  tröstlichen  Namen  von  dem 
Ampt  und  Werk,  so  er  auf  sich  genommen  hat  .  .  .  dass  er  von  Natur 


*  Erlang.  Ausg.  Opp.  var.  arg.  V.  p.  21 :  „tantum  tria  sacramcnta  ponunda  . . . 
qiiamfjuam,  si  usu  scripturae  loqui  velim,  non  nisi  unum  sacramcntum  habcam  et 
tria  8igna  sacramentalia." 

'^  Erlang.  Ausg.  Opp.  var.  arg.  V.  p.  505  sq. 


730  I^io  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

Mensch  und  Gott  ist,  das  hat  er  für  sich"  K  In  diesem  „für  sich" 
und  „für  uns"  kommt  die  neue  Theologie  Luther's  und  zugleich  seine 
conservative  Art  am  deutlichsten  zum  Ausdruck.  Theologie  ist  nicht 
die  Zerlegung  und  Eeschreihung  Gottes  und  der  göttlichen  Thaten 
vom  Standi)unkt  der  selhstilndig  Gott  gegenüherstehenden  Vernunft, 
sondern  sie  ist  das  Hekenntniss  des  Glauhens  zu  seinem  eigenen  Er- 
lebniss,  d.  h.  zur  Offenbarung.  Damit  aber  ist  die  alte  Theologie  mit 
ihrer  Metaphysik  und  ihrem  Vorwitz  abgethan  ■^.  Wenn  aber  Luther 
nun  doch  unter  dem  Titel  „Gott  an  sich"  „der  verborgene  Gott"  „der 
verborgene  AVille  in  Gott"  jene  alten  Lehren  hat  bestehen  lassen,  so 
bestehen  sie  eben  nicht  mehr  als  die  eigentlichen  Glaubens- 
lehren. Darüber  kann  kein  Zweifel  aufkommen.  Dass  er  sie  aber  nicht 
gänzlich  abgethan  hat,  hat  seinen  Grund  einerseits  darin,  dass  er  sie  in 
der  Schrift  zu  finden  meinte,  andererseits  in  einem  Mangel  an  zusam- 
menfassendem, systematischem  Durchdenken  der  Probleme,  auf  den 
wir  im  folgenden  Abschnitt  einzugehen  haben. 


Nach  dem,  was  in  den  beiden  letzten  Paragraphen  über  das 
Christenthum  Luthcr's  und  über  seine  Kritik  am  kirchlichen  Dogma 
ausgeführt  worden  ist,  kann  das  ürtheil  nicht  anders  lauten,  dass 
in  der  Reformation  Luther's  das  alte  dogmatische  Chri- 
stenthum abgethan  und  eine  neue  evangelische  Auffassung 
an  die  Stelle  desselben  gesetzt  ist.  Die  Reformation  ist 
wirklich  ein  Ausgang  der  Dogmengcscliichte.  Die  positiven  und  die 
negativen  Elemente  der  christlichen  Lehre  Luther's  hängen  aufs 
engste  zusammen;  diese  sind  die  Folge,  jene  die  Ursache.  Wenn  er 
mit  dieser  oder  jener  Formulirung  der  alten  oder  der  mittelalterlichen 
Kirche  noch  zusammentrifft,  so  ist  das,  von  hier  aus  angesehen, 
theils  ein  Schein,  theils  ein  freies  Zusammentreffen,  welches  niemals 
seinen  Grund  in  der  aprioristischen  Unterwerfung  unter  die  Tradition 
haben  kann.  Die  formalen  Autoritäten  des  Dogmas  sind  niedergeris- 
sen:   damit  ist  es  selbst  als  Dogma,  d.  h.  als  unverbrüchliche,  vom 


1  Erlang.  Ausg.  XXXV  S.  207  f. 

'^  S.  Thcod.  Harnack,  Luther's  Theologie  I  S.  83:  „Allein  die  Offenbarung 
verbürgt  eine  wahre  und  heilsame  Erkenutniss  »der  wesentliehen  Gottheit  in  ihr 
selbst«.  Ja  die  Christen  allein  können  davon  reden  und  haben  diese  göttliche  AVeis- 
heit.  AVohl  stellt  die  Offenbarung  an  die  Theologie  bestimmte  Bedingungen  und 
legt  ihr  Sehranken  auf,  aber  diese  bestehen  nicht  in  jener  eigenmächtigen  und  trost- 
losen Scheidung  von  Gottes  AVesen  und  Ollenbarung,  sondern  sind  theils  objectiv. 
in  dem  Inhalt,  dem  Mass  und  dem  Zweck  der  Offenbarung  selbst  gegeben,  theils 
beziehen  sie  sich  subjectiv  auf  das  mit  dem  Object  selbst  gesetzte  Priucip  und  dii> 
dadurch  bedingte  Art  und  Tendenz  des  theologischen  Erkeunens." 


Schlussfolgerung.  731 

hl.  Geist  gestellte  Lehrordnung,  abgethan.  Aber  es  taucht  auch 
keineswegs  in  der  alten  Gestalt,  nun  aber  als  Inhalt  des  frommen 
Glaubens  wieder  auf,  vielmehr  erscheint  die  pura  doctrina  evangelii 
gegenüber  der  alten  Dogmatik  als  eine  neue;  denn  alle  jene  ver- 
ständigen Zersetzungen  des  Glaubensinlialts ,  durch  welche  derselbe 
in  Metaphysik,  natürliche  Theologie,  Offenbarungslehre,  Sacraments- 
lehre  und  Moral  zerspalten  wurde,  sind  entfernt.  Die  Revision  hat 
sich  damit  bis  über  das  2.  Jahrhundert  der  Geschichte  der  Kirche 
hinauf  erstreckt,  und  sie  ist  überall  eine  radicale.  Der  Dogmen- 
geschichte, wie  sie  im  Zeitalter  der  Apologeten,  ja  der  apostoli- 
schen Väter  begonnen  hat,  ist  ein  Ende  gemacht. 

Damit  ist  das  Werk  Augustin's  endlich  zum  Ab- 
schluss  gekommen*,  denn  bereits  dieser  grosse  Mann  hat,  wie 
wir  im  zweiten  Buche  gezeigt  haben,  den  Anfang  damit  gemacht, 
durch  Rückgang  auf  den  Paulinismus  die  herrschende  dogmatische 
Ueberlieferung  zu  brechen,  kräftig  umzubilden  und  die  Theologie 
dem  Glauben  zurückzugeben.  Aber  der  Skeptiker  machte  bei  den 
formalen  Autoritäten  des  Katholicismus  Halt,  und  der  Neuplato- 
niker  wollte  das  Schwelgen  im  All-Einen  nicht  lassen:  dazu,  die 
Kj-aft  des  Glaubens  an  Gott  als  den  Vater  Jesu  Christi  wusste  sich 
Augustin  noch  nicht  sicher  anzueignen.  So  hat  er  seiner  Kirche  mit 
einer  Aufgabe  ein  complicirtes  und  verwirrtes  Erbe  hinterlassen,  das 
alte  Dogma,  und  neben  ihm  herlaufend  eine  neue  innere  Frömmigkeit^ 
die  sich  in  ganz  anderen  Gedanken  bewegte  als  das  Dogma.  Diese 
Haltung  zeigt  schon  am  Anfang  des  Mittelalters  Alcuin,  und  von  Bern- 
hard ab  hat  der  Augustinismus,  zum  Theil  um  werthvoUe  Elemente 
vermehrt,  fortgewirkt.  Gewiss  steht  Luther  in  mancher  Hinsicht 
einem  Irenäus  und  Athanasius  naher  als  den  Theologen  des  14.  und 
15.  »Jahrhunderts;  aber  in  vieler  Hinsicht  steht  er  jenen  ferner  als 
diesen,  zum  deutlichen  Beweise,  dass  die  innere  Entvvickelung  der 
Christenheit  im  Mittelalter  keine  bloss  rückläufige  oder  gänzlich  ver- 
fehlte gewesen  ist.  Wenn  Luther  selbst  mit  einem  Tauler  oder  Bern- 
hard brechen  musstc,  wie  viel  mehr  mit  Augustinus  und  Irenäus! 
Die  Reformation  ist  der  Ausgang  der  Dogmengeschichtc ,  weil  sie 
diesen  Ausgang  so  bringt,  wie  er  innerhalb  der  Geschichte 
der  Frömmigkeit  von  Augustin  begründet  und  dann  in  dem  fol- 
genden Jahrtausend  vorbereitet  worden  war.  Sie  hat  den  evan- 
gelischen Glauben  aufgerichtet  an  Stelle  des  Dogmas, 
indem  sie  den  Dualismus  von  dogmatischem  Christcn- 
thum  und  prakti  s  ch  -  christlicher  S  clbstbeur  theilung 
und  Lebensführung  aufgehoben  hat. 


732  r^iti  Ausgiinge  des  Dogmas  im  Protestautismus. 

Aber  sie  hat  eben  den  dhiuben  selbst  und  seine  Gewissbeit  in 
das  Oentrum  der  praktisch-cbristHclien  SelbstbeurtheiUing  und  Lebens- 
lÜlirung  gesetzt.  Damit  hat  sie  dem  theoretischen  Element  —  wenn 
man  den  sicheren  Glauben  an  die  Oflenbarung,  d.  h.  an  den  Gott, 
wie  er  in  Christus  offenbar  ist,  so  bezeichnen  will  —  eine  unmittel- 
bare Bedeutung  für  die  Frömmigkeit  verliehen,  wie  sie  die  mittel- 
alterliche Theologie  nie  gekannt  hat.  „Summa  esto :  charitas  nostra 
pro  vobis  mori  parata  est,  fides  vero  si  tangitur,  tangitur  pupilla 
oculi  nostri.'^  Nichts  ist  daher  unrichtiger  als  jene  weit  verbreitete 
Meinung ,  die  Aufhebung  des  dogmatischen  Christenthums  durch 
Luther  sei  gleichbedeutend  mit  einer  Neutralisirung  jeder  fides  quae 
creditur  überhau})t :  es  komme  nur  noch  auf  fromme  Gefühle  an.  Ein 
thörichteres  Missverständniss  der  Reformation  Luther's  ist  undenkbar; 
denn  es  gilt  vielmehr  genau  das  Umgekehrte  von  ihr:  sie  hat  dem 
Glauben  und  damit  der  Glaubenslehre  —  in  dem  Sinne,  in 
welchem  dieselbe  nichts  Anderes  ist  als  die  Lehre  von  Christus  —  nach 
den  Unsicherheiten  des  Mittelalters,  die  am  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  ihren  höchsten  Grad  erreicht  hatten,  erst 
wieder  ihr  souveränes  Recht  zurückgegeben  und  zum 
Schrecken  aller  Humanisten,  Kirchenmänner,  Franciska- 
ner  und  Aufklärer  die  Theologie,  d.  h.  die  wahre  theologia 
crucis,  als  die  entscheidende  Macht  in  der  Kirche  aufge- 
richtet. Das  Dogma,  welches  stets  nur  gelehrt  hat,  wie  die  Erlö- 
sung möglich  sei,  und  desshalb  überhaupt  nicht  im  Centrum  der 
Frönnnigkeit  stehen  konnte,  ist  von  jener  Glaubensverkündigung  ab- 
gelöst worden,  welche  den  Glauben  selbst  erzeugt  und  erbaut  und 
daher  die  souveräne  Stellung  in  der  Religion  als  ihr  Recht  in  An- 
spruch nimmt.  Luther  ist  vom  Mittelalter  zur  alten  Kirche  zurück- 
gekehrt, indem  er  den  ungeheuren  Stoff  der  Glaubenslehre  wieder 
auf  die  Christologie  reducii't  hat.  Allein  er  unterscheidet  sich  von 
der  alten  Kirche  darin,  dass  er  es  unternommen  hat,  den  Glauben 
an  die  OÖenbarung  in  Christus  so  zu  gestalten,  dass  diese  nicht  nur 
als  eine  Bedingung  unserer  Seligkeit  erscheint,  sondern  —  objectiv 
und  subjectiv  —  als  der  allein  wirksame  Factor. 

Ist  hiermit  aber  der  Umschwung  der  Dinge  bezeichnet,  dann 
lässt  es  sich  wohl  verstehen,  dass  die  grosse  Aufgabe,  um  deren 
Durchführung  es  sich  handelte,  von  Luther  selbst  nicht  rein  vollzogen 
werden  konnte.  Ein  übermenschlicher  Geist  wäre  nöthig  gewesen, 
um  hier  Alles  correct  durchzudenken  und  zu  ordnen;  denn  es  han- 
delte sich  um  eine  Doppelaufgabe,  die  fast  wie  ein  Widerspruch 
schien  und  doch  keiner  war:  die  Bedeutung  des  Glaubens  als  Inhiüt 


Die  katholischen  Elemente  in  Luther's  Lehre.  733 

der  Offenbarung  in  den  Mittelpunkt  zu  rücken  gegenüber  allem  Meinen 
und  Thun  und  so  das  zurückgedrängte  theoretische  Element  hervor- 
zuholen, und  doch  andererseits  nicht  jenen  Glauben  einfach  hinzu- 
nehmen, den  die  Vergangenheit  gebildet  hatte,  vielmehr  ihn  in  der 
Gestalt  zu  zeigen,  in  der  er  Leben  ist  und  Leben  schafft,  Praxis 
ist,  aber  Praxis  der  ReHgion.  Aus  der  Grösse  dieses  Problems  er- 
klärt sich  auch  der  Rückstand  jener  Elemente  in  Luther's  Theo- 
logie, der  dieselbe  verwirrt  und  das  Urtheil,  die  Reformation  sei  der 
Ausgang  der  Dogmengeschichte,  erschüttert  hat. 

4.  Die  von  Luther  neben  und  in  seinem  Christenthum  fest- 
gehaltenen katholischen  Elemente. 

Wie  wenige  oder  wie  viele  katholische  Elemente  in  dem  Christen- 
thum Luther's  enthalten  sein  mögen  —  so  viel  steht  bereits  nach  dem 
bisher  Ausgeführten  fest,  dass  sie  zwar  zum  „ganzen  Luther"  gehören, 
nicht  aber  zum  „ganzen  Christenthum"  Luther's.  Wie  Neander, 
Ritschi*  und  viele  Andere,  so  hat  auch  Loofs  geurtheilt^:  „Die  Ent- 
wickelung  der  lutherischen  Reformation  würde  zu  einem  anderen 
dogmengeschichthchen  Abschluss  gekommen  sein,  als  es  schliesslich  der 
Fall  war,  wenn  Luther  die  Consequenzen,  die  aus  seinen  Grundge- 
danken folgen,  vollständig  und  der  gesammten  Tradition  gegenüber 
durchgreifend  geltend  gemacht  hätte.  Die  gebliebenen  Fragmente 
des  Alten  haben  später  (nicht  schon  gleich  Anfangs?)  eine  Verkümme- 
rung der  neuen  Gedanken  der  Reformation  verursacht."  Die  Frage, 
ob  nicht  Luther  in  den  Jahren  1519  bis  c.  23  einen  Anlauf  ge- 
nommen hat,  der  durchgreifendere  Reformen  verhiess,  wird  von  der 
neuesten  Lutherforschung  in  der  Regel  verneint,  nachdem  H.  Lang^ 
und  Andere  sie  in  unvorsichtiger  und  unhaltbarer  Weise  bejaht  hatten. 
Allein  m.  E.  lässt  sich  die  Verneinung  ohne  grosse  Vorbehalte  nicht 
aussprechen'*.  Es  handelt  sich  m.  E.,  wie  oben  (S.  692)  bereits  be- 
merkt wurde,  nicht  sowohl  um  zwei  Perioden  in  der  reformatorischen 
Wirksamkeit  Luther's,  als  vielmehr  um  eine  grosse  Episode  in  diesem 
seinem  Wirken,  in  welcher  er  über  seine  eigenen  Grenzen  hinausgehoben 
worden  ist.  Doch  mag  dies  hier  auf  sich  beruhen.  Es  gilt  in  diesem 
Zusammenhang  zunächst  die  Gründe  aufzudecken,  die  es  Luther  er- 
möglicht haben,  soviel  Altes,  ja  das  altkatholische  Dogma  selbst,  neben 


»  S.  oben  S.  584. 

2  Leitfaden  S.  233. 

'  M.  L.,  ein  reli^.  Charakterbild  1870. 


*  Teil    freue  Tni(;}i,   aus   den   And(!utunf?en  Weinparten's,    Zeittafeln  und 
Ue]>er})lieke,  3.  Aufl.  S.  UJ7 — 170,  zu  ersehen,  dass  er  ähnlich  urtheilt. 


734  I^i^  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

dem  Neuen  beizubehalten  und  mit  ihm  zu  vertlechten.  Wir  werden  da- 
bei an  die  Ausführungen  anknüpfen  können,  die  wir  oben  8.  691  ff.  ge- 
geben haben.  Sodann  werden  die  wiehtigsten  Gruppen  altdogmatischer 
Lehren  Luther's  kurz  darzustellen  und  zu  beleuchten  sein. 

1.  1.  Luther  trat  für  den  (xlauben  ein  im  Gegensatz  zu  jeglichem 
W  erk,  für  die  doctrina  evangelii  im  Gegensatz  zu  den  Leistungen  und 
Processen,  die  den  Menschen  angeblich  gerecht  machen  sollen.  Daher 
stand  er  in  Geiiibr,  jegliche  Ausprägung  des  (xlaubens  sich  anzueignen 
oder  doch  gelten  zu  lassen,  wenn  sie  nur  frei  erschien  von  Gesetz  und 
Leistung,  AVerk  und  Process  (s.  den  Nachweis  ol)en  S.  698  f.).  Dieser 
Gefahr  ist  er  verüillen.  Demgemäss  trübte  sich  auch  sein  Kirchenbe- 
griff. Der  Begriff  der  Kirche  (Gemeinschaft  des  Glaubens,  Gemein- 
schaft der  reinen  Lehre)  wurde  so  zweideutig  wie  der  Begriff  der  doc- 
trina evangelii. 

2.  Luther  glaubte  nur  gegen  die  Missbräuche  und  Irrthümer  der 
mittelalterlichen  Kirche  zu  kämpfen.  Zwar  erklärt  er  nicht  selten,  dass 
er  mit  den  „lieben  Vätern"  nicht  zufrieden  ist,  und  dass  sie  Alle  in 
die  L're  gegangen  sind ' ;  allein  er  ist  nicht  klarblickend  genug  ge- 
wesen, um  sich  zu  sagen,  dass,  wenn  die  Kirchenväter  im  Irrthum  ge- 
wesen sind,  aucli  ihre  Beschlüsse  auf  den  Ooncilien  unmöglich  die  volle 
Wahrheit  enthalten  können.  Aeusserlich  fühlte  er  sich  freilich  gar 
nicht  mehr  an  jene  Beschlüsse  gebunden,  ja  er  zeigte  sogar,  z.  B.  in  der 
Schrift  von  den  Conciliis  und  Kirchen,  leuchtende  Blitze  einschneiden- 
der Kritik ;  allein  im  Ganzen  blieben  sie  ohne  Wirkung.  Lnmer  wieder 
fiel  er  in  die  Betrachtung  zurück,  als  habe  nur  der  leidige  Papst  alles 
Unheil  verschuldet,  und  als  läge  desshalb  aller  Schaden  nur  im  Mittel- 
alter. So  wurde  von  dieser  Seite  her  das  günstige  Vorurtheil,  welches 
er  für  die  Glaubensformeln  der  alten  Kirche  hatte,  weil  sie  nicht  mit 
Werken  und  Gesetz  umgehen,  nur  noch  verstärkt;  ja  es  wirkte,  ihm 
selbst  unbewusst,  hier  doch  noch  ein  Rest  jener  Vorstellung,  dass  die 
empirische  Kirche  Autorität  sei,  nach. 

3.  Luther  kannte  die  alte  Kirchen-  und  Dogmengeschichte  viel  zu 
wenig,  um  sie  wirklich  kritisiren  zu  können.  Zwar  wird  man,  wenn 
einst  Alles  zusammengestellt  sein  wird,  was  er  durchstudirt  hat,  staunen, 
wie  viel  er  auch  hier  gewusst  hat;  allein  er  konnte  doch  nicht  mehr 
mssen,  als  sein  Jahrhundert  wusste,  und  es  gab  Manche,  die  ihm  an 
patristischen  Studien  überlegen  waren.  In  den  Geist  der  Kirchenväter 
bat  er  sich  nie  versenkt;  andererseits  lag  ihm  zu  allen  Zeiten  eine  ab- 
stracte  Kritik  ganz  fern:  dann  aber  blieb  nur  eine  conservative  Hal- 


»  S.  das  im  1.  Bd.  [2.  Aufl.)  S.  277  n.  2  angeführte  Citat. 


Die  katholischen  Elemente  in  Luther's  Lehre.  735 

timg  übrig.  Luther  hat  sie  eigenthch  nur  dann  sicher  aufgegeben,  wenn 
er  die  Väter  auf  den  AVegen  des  Pelagius  wandehi  sah. 

4.  Luther  rechnete  sich  und  sein  Unternehmen  stets  in  die  eine 
Kirche,  die  er  allein  kannte,  in  die  katholische  Kirche  (wie  er  sie  ver- 
stand) ein.  Er  behauptete,  dass  diese  Kirche  ihm  den  Rechtstitel  zur 
Refonnation  selbst  gebe.  Das  war  richtig,  wenn  es  richtig  war,  dass  die 
empirische  Kirche  nur  so  weit  Kirche  ist,  als  sie  Gemeinschaft  des 
Glaubens  ist;  allein  es  war  falsch,  sofern  die  katholische  Kirche 
fac tisch  bereits  etwas  ganz  Anderes  war  —  nämlich  ein  auf  be- 
stimmten heihgen  Statuten  ruhender  Staat.  Diese  katholische  Kirche 
aber  betrachtete  Luther  als  eine  vorübergehende,  wenn  aucli  bereits 
recht  alte  Missbildung,  die  überhaupt  keine  Rechte  besitzen  konnte. 
So  glaubte  er,  in  der  alten  Kirche  bleiben  zu  können,  ja  —  sei  es  auch 
mit  wenigen  Freunden  —  selbst  die  alte,  wahre  Kirche  zu  sein.  Diese 
merkwürdige  Betrachtung,  die  sich  aus  dem  Idealismus  des  Glaubens 
erklärt,  ermöglichte  es  Luther,  die  katholische  Kirche  preiszugeben 
und  zu  zertrümmern,  dabei  aber  zu  behaupten,  selbst  in  der  alten  Kirche 
zu  stehen.  War  er  bei  solcher  Haltung  auch  so  glaubensfest,  dass  es 
ihn  nicht  kümmerte,  wie  gross  oder  wie  gering  die  Zahl  derer  sei,  die 
in  der  Gegenwart  ihre  Kniee  nicht  vor  Baal  beugten,  so  hatte  er  doch 
das  höchste  Literesse  daran  zu  zeigen,  dass  er  die  Kirche  vertrete,  die 
von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  existirt  hat.  Von  hier  aus  erwuchs 
ihm  die  Pflicht,  nachzuweisen,  dass  er  in  einer  geschichtlichen  Con- 
tinuität  stehe.  Woran  aber  war  das  sicherer  nachzuweisen  als  an  den 
Glaubensformeln  der  alten  Kirche,  die  noch  immer  in  Kraft  standen  ? 

5.  Luther  hat  nie  den  Antrieb  stark  empfunden,  aus  dem  Innersten 
der  von  ihm  gewonnenen  neuen  Anschauung  vom  Ganzen  des  Christen- 
thums  heraus  eine  systematische  Darstellung  des  Ganzen  zu  liefern  und 
pünkthch  aufzuweisen,  was  bleibt  und  was  fällt.  Er  schaltete  in  der 
Theologie  wie  ein  Kind  im  Hause,  Altes  und  Neues  hervorholend  und 
immer  nur  den  nächsten  praktischen  Zweck  im  Auge  liabend.  Um  die 
Berichtigung  theoretischer  Frrthümer  als  solcher  war  es  ihm  gar  nicht 
zu  thun;  nach  der  Helligkeit  eines  geordneten  Lehrgebäudes  hatte  er 
nicht  die  geringste  Sehnsucht;  aber  so  wurde  seine  Kraft  auch  seine 
Schwäche'. 

G.  Lutlier  liat  die  alten  Lehren  so  benutzt,  dass  er  in  jedem  Schema 
das  ganze  (Jhristenthum  zum  Ausdruck  gf^])racht  hat,  d.  h.  er  deutete 
jedes  Schema  in  dem  Sinneseiner  Auflassung  vom  (ganzen  des  Christen- 
thums;  was  darüber  hinaus  in  der  P'oi-mel  lag,  das  kümmerte  ihn  wenig, 

*  Hier  Vu'(fi,  dif  fstron^^f  Parallelr;  zu  seiner  Mafmnahme  in  Bezug  auf  den  Kultus, 
von  (\cr  <}}}<:n  S.  720  (Wc  Kf^Je  gewesen  ist. 


736  r)ie  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

wenn  er  es  auch  gelten  liess.  Diese  eigentliUinliche  Haltung  machte  es 
ihm  möglich,  sich  auch  an  sehr  Fremdes  anzupassen  (s.  oben  8.  710). 

7.  Luther  hat  im  Princip  für  eine  gesunde  geschichtliche  Exegese 
die  ßahn  gebrochen;  aber  wie  viel  fehlte  noch  seinem  Jahrhundert  und 
ihm  zu  der  wirklichen  Ausführung!  Tni  Einzelnen  ist  er  fast  überall 
noch  ein  mittelalterlicher  Exeget,  befangen  in  allen  Vorurtheilen  dieser 
Exegese,  in  der  Typologie  und  in  der  Allegoristik  trotz  mancher  Pro- 
teste. Wenn  er  auch  grundsätzlich  die  Freiheit  des  Schriftverständ- 
nisses von  der  Autorität  der  kirchlichen  lleberlieferung  verlangt  hat,  so 
steckte  er  doch  noch  selbst  tief  in  dieser  lleberlieferung  drinnen.  Er 
durchbrach  sie,  wo  es  sich  um  die  Rechtfertigung  handelte,  aber  er 
durchbrach  sie  dann  auch  in  Bezug  auf  solche  Schriftstellen,  die  von  der 
Rechtfertigungslehre  oder  vom  Glauben  schlechterdings  nichts  oder  nur 
Fremdes  enthielten.  Unter  solchen  Umständen  kann  es  nicht  auffallen, 
dass  er  die  Trinitätslehre ,  die  Zweinaturenlehre  u.  s.  w.  in  der  hl. 
Schrift,  und  zwar  auch  im  AT.,  gefunden  hat.  Aber  man  muss  hier  noch 
mehr  sagen  —  er  hat  überhaupt,  so  wenig  wie  die  allermeisten  seiner 
Zeitgenossen  —  ein  geschichtliches  Verständniss  besessen.  Die  Ge- 
schichte im  höchsten  Sinn  des  Worts  war  ihm  ein  verschlossenes  Buch. 
Weder  für  die  Relativität  des  Geschichtlichen  noch  für  das  Wachsen 
und  Werden  der  Erkenntniss  innerhalb  der  Geschichte  hat  er  einen 
Sinn  gezeigt  \  Wie  sollte  er  unter  solchen  Umständen  im  Stande  ge- 
wesen sein,  das  richtig  zu  ermitteln,  was  die  Schrift  als  geschichtliche 
Urkunde  enthält?  Wie  kann  aber  eine  reine  Ausdrucksform  für  das 
Wesen  des  Christenthums  erwartet  werden,  wenn  diese  Bedingung  nicht 
erfüllt  ist? 

Die  bisherigen  Erwägungen  haben  fast  durchweg  solche  Schranken 
aufgewiesen,  die  in  der  eigenthümlichen  Haltung  des  Reformators  als 
Reformator  oder  in  dem  geistigen  Zustande  des  Zeitalters  gegeben 
waren  und  daher  gar  nicht  übersprungen  werden  konnten.  Allein  es 
haben  Luther's  Gesammthaltung  auch  solche  Schranken  begrenzt,  die 
keineswegs  unter  diese  Betrachtung  fallen,  vielmehr  seiner  Haltung  als 
Reformator  entgegengesetzt  sind.  Wenn  ich  recht  sehe,  sind  es  vor- 
nehmlich folgende  ^ : 

*  Man  darf  bei  diesem  Urtheil  allerdings  nicht  vergessen,  dass  seine  heroische 
Grenialität  an  entscheidenden  Punkten  ihn  das  Ricntige  hat  sehen  lassen. 

^  Ich  möchte  in  das  folgende  Schema  nicht  die  Erinnerung  daran  aufnehmen, 
in  wie  viel  grobem  Aberglauben  Luther  befangen  gewesen  ist,  und  zwar  auf  allen 
möglichen  Gebieten.  Ich  rechne  dazu  nicht  seinen  Teufelsglauben,  denn  der  gehört 
in  ein  anderes,  für  meine  Erfahrung  incommensurables  Gebiet ;  aber  man  kann  zur 
Bestimmung  seiner  Gesammthaltung  als  Confessionsstifter  doch  von  der  Thatsache 
nicht  absehen,  dass  er  abergläubischer  gewesen  ist  als  viele  seiner  Zeitgenossen,  ja 


Die  katholischen  Elemente  in  Luther's  Lehre.  737 

8.  Seine  reformatorische  Einsicht,  dass  das  Wort  Gottes  das 
Fundament  des  Glaubens  sei,  ist  nicht  so  stark  gewesen,  dass  sie  den 
Biblicismus  ganz  ausgetilgt  hätte;  vielmehr  blieb  er  hier  in  einem 
flagranten  Widerspruch  befangen,  indem  er  doch,  während  er  die  Schrift 
selbst  kritisirte,  andererseits  den  Buchstaben  als  Wort  Gottes  auf- 
richtete, sofern  er  die  rabbinisch-katholische  Vorstellung  von  der  wört- 
lichen Inspiration  der  hl.  Schrift  ungeprüft  übernahm.  Zwar  glich  er 
dieses  widerspruchsvolle  Verfahren  in  vielen  Fällen  dadurch  aus,  dass 
er  in  den  betreffenden  Buchstaben  das  Evangelium  selbst  eininter- 
pretirte;  aber  abgesehen  davon,  hat  er  doch  auch  nicht  selten  die 
einzelne  bibHsche  Erzählung,  den  beliebig  gewählten  Spruch,  als  Gottes 
Wort  in  Wirkung  gesetzt. 

9.  In  der  Frage  des  Sacraments  hat  er  ebensowenig  vollkommen 
die  altkirchliche  und  mittelalterliche  Anschauung  überwunden.  Zwar 
hat  er  nicht  nur  Ansätze  genommen,  um  sie  völlig  zu  durchbrechen, 
sondern  sie  wirklich  durch  seine  Lehre  von  dem  einen  Sacrament, 
dem  Wort,  vernichtet;  allein  ihm  blieb  doch  ein  verborgener  Rest,  eine 
wirkliche  superstitio  in  Bezug  auf  das  Sacrament  und  desshalb  auch  in 
Bezug  auf  die  „Gnadenmittel"  nach,  und  diese  hat  die  verhängnissvoll- 
sten Folgen  für  seine  Lehrbildung  gehabt.  Liegen  auch  hier  bei  ihm 
Irrthum  und  Wahrheit  nahe  bei  einander,  so  lässt  sich  doch  nicht  ver- 
kennen, dass  er  schweren  Irrthümern  Raum  gegeben  hat. 

10.  Niemand  ist  der  nomin alistischen  Theologie  schärfer 
zu  Leibe  gegangen  als  Luther;  aber  die  Gegner  nöthigten  ihn  zu  theo- 
logisiren  und  auf  ihre  Fragestellung  zu  antworten.  In  diesem  Zu- 
sammenhang ist  er  auf  nominalistische  Gedankenreihen  eingegangen 
und  hat  sie  als  die  seinigen  weitergeführt.  Aber  auch  abgesehen  davon 
hat  er  Reste  der  nominalistischen  Scholastik  nicht  abgeworfen;  sie 
tauchten  sogar  mit  grosser  Stärke  auf,  nachdem  er  sich  in  der  Abend- 
mahlslehre ausserhalb  des  Kreises  seiner  eigentlichen  Gedanken  begeben 
hatte;  aber  auch  in  seiner  Lehre  von  der  Prädestination  hat  er  den 
Irrthümern  und  dem  Vorwitz  der  Scholastik  Spielraum  gewährte 

11.  Nachdem  Luther  in  den  Kampf  mit  den  Schwarmgeistern  und 
Wiedertäufern  gerathen  war,  hat  er  ein  Misstrauen  gegen  die  Vernunft 


in  mancher  Hinsicht  abergläubisch  wie  ein  Kind.  Die ,  welche  stets  mit  dem 
„ganzen  Luther"  kommen,  verschulden  es,  dass  man  dergleichen  erwähnen  muss. 
*  8.  die  Verhandlungen,  die  üljcr  Luther's  Nominalismus  im  Zusammenhang 
mit  der  Beurthoilung  seiner  Lehre  von  der  Prädestination  geführt  worden  sind; 
Lütkens,  Luther's  Prädestinationslehre  1858;  Theod.  Harnack,  L.'s  Theologie 
I  S.  70  u.  sonst;  Kattonbusch,  L.'s  Lehre  v.  unfreien  Willen  u.  v.  d.  Prädest. 
1875.  Ritschi,  Hechtf.  u.  Versöhn.  Bd.  L 

Harnack,  Dogmengeschiclito  III.  47 


738  Die  Ausgänge  dos  Dogmas  im  Protestantismus. 

gewonnen,  welches  über  das  Misstrauen  wider  dieselbe  als  die  Stütze 
der  Selbstgerechtigkeit  weit  hinausging.    Er  hat  sich  wirklich  vielfach 
in  kühnem  Trotz  gegen  die  Vernunft  verhärtet  und  sich  dann  auch 
jener   bedenklichen   katholischen   Stinmumg  hingegeben,    die   in   der 
Paradoxie  und  der  contradictio  in  adiecto  die  AVeisheit  (xottes  ver- 
ehrt und  den  Stempel  der  göttlichen  Wahrheit  erkennt.    Er  konnte, 
wie  Tertullian,  auf  das  „certum  est,  quia  ineptum  est"  pochen  und  sich 
über  die  Verlegenheiten  freuen,  in  welche  der  Verstand  gesetzt  wird. 
„Geschwelgt"  im  Mysterium  als  Mysterium  hat  er  freilich  nie,  und  hi 
seinen  Paradoxien  lag  unzweifelhaft  auch  ein  Stück  religiöser  Kraft, 
das  Geheimniss  heroischer  Geister  und  das  Geheimniss  der  Religion 
selbst,  die  sich  nicht  wasserklar  machen  lässt.    Allein  Niemand  ver- 
achtet ungestraft  Vernunft  und  Wissenschaft,  und  Luther  wurde  selbst 
durch  die  Verdunkelungen  gestraft,  die  er  über  seine  Glaubensauffassung 
zog ;  noch  viel  mehr  al)er  wurde  er  in  seinen  Anhängern  gestraft,  die  das 
in  eine  neue  Schulweisheit  hinabzogen,  was  er  trotzig  verkündet  hatte. 
Im  Zusammenhang  dieser  Erwägungen  darf  das  Wichtigste  nicht 
verschwiegen  werden:  die  Stellung,  welche  die  Reformation  zu  den 
Wiedertäufern  und  zu  den  ihnen  verwandten  Personen  eingenommen 
hat,  ist  für  sie  und  ihre  weitere  Geschichte  verhängnissvoll  geworden. 
Wir  befinden  uns  heute  in  einer  Phase  der  Geschichtsschreibung  der 
Reformation,  die  diese  Thatsache  wenig  würdigt,  weil  sie  —  aus  guten 
Gründen  — zunächst  für  das  Wichtigste,  Luther's  Glauben  und  Luther's 
Lebensideal,  interessirt  ist  \    Es  giebt  in  der  That  auch  viele  Er- 
wägungen, die  es  höchst  erklärlich  machen,  warum   die  Reformation 
Alles,  was  ihr  von  den  „Schwarmgeistern"  dargeboten  wurde,  einfach  zu- 
rückgewiesen hat.  Allein  mag  man  dafür  noch  so  viele  Erklärungen  und 
Entschuldigungen  anführen  —  die  Thatsache  bleibt  davon  unbetroffen, 
dass  das  ungerechte  Verhalten  der  Reformatoren  gegen  die  „Schwärmer" 

^  Die  confessionelle  Geschichtsschreibung  hatte  für  die  „Secten"  des  Refor- 
mationszeitalters wenig  Sinn  und  wenig  Herz.  Da  sie  aber  dabei  nicht  einmal  die 
wirkliche  Bedeutung  der  Reformation  sicher  traf,  so  war  es  zunächst  nothwendig, 
diese  an  das  Licht  zu  stellen.  Das  hat  Ritsch  1  gethan,  und  seinen  Fingerzeigen 
folgen  die  Jüngeren.  Allein  man  ist  dabei  nicht  über  eine  sehr  spröde,  ja  fast  enge 
Betrachtung  der  Reformation  hinausgekommen  und  hat  wenig  Verständniss  für  die 
Vorzüge  gezeigt,  welche  die  „Schwarmgeister"  auf  peripherischen  Punkten  un- 
streitig besessen  haben.  Allerdings  musste  die  Art ,  wie  manche  dilettantische 
„Kulturhistoriker"  die  Dinge  betrachteten  und  sich  für  das  walire  Wesen  der  Refor- 
mation als  blind  erwiesen,  abschreckend  wirken;  auch  konnte  ein  solcher  Enthusiast, 
wie  Keller,  nicht  überzeugend  wirken.  Allein  man  hätte  von  ihm  doch  Manches 
lernen  können  und  hätte  vor  Allem  den  Leitstern  für  die  Geschichtsschreibung  — 
er  gilt  auch  für  die  Reformationsgeschichte  —  nicht  ausser  Acht  lassen,  dürfen,  dass 
wirkliche  Wahrheiten  niemals  ungestraft  verachtet  werden. 


Die  katholischen  Elemente  in  Luther *s  Lehre.  739 

ihnen  und  ihrer  Sache  die  schwersten  Einbussen  zugezogen  hat.  Wie 
Vieles  hätten  sie  von  den  Verachteten  lernen  können,  wenn  sie  auch  die 
Grundgedanken  derselben  ablehnen  mussten!  Wie  viel  sicherer  haben 
Viele  unter  diesen  der  Sacramentsmagie  ein  Ende  gemacht,  wie  viel 
reiner  und  zutreffender  haben  sie  die  Bedeutung  des  geschriebenen 
Wortes  bestimmt,  wie  viel  deutlicher  haben  sie  oftmals  den  wirklichen 
Siim  von  Schiiftstellen  getroffen  und  einer  gesunderen  Exegese  das 
Wort  geredet,  wie  viel  muthiger  haben  sie  manche  Consequenzen  in 
Bezug  auf  die  Dreieinigkeitslehre,  die  Christologie  u.  s.  w.  gezogen; 
wie  viel  entschiedener  sind  Einige  von  ihnen  für  die  äussere  Freiheit 
als  Folge  der  inneren  eingetreten!  „Timeo  Danaos  et  dona  ferentes", 
sagt  man  wohl  auch  hier,  und  gewiss  die  Voraussetzungen  jener  Leute 
w^aren  den  evangelischen  in  der  Eegel  fremd.  Allein  Niemand  ist  dess- 
halb  von  der  genauen  Erwägung  einer  Wahrheit  dispensirt,  weil  der 
Feind  sie  bringt  und  sie  auch  mit  schlechten  Gründen  empfiehlt.  Dazu 
kommt  noch  ein  Anderes:  nicht  wenige  von  den  Forderungen  der 
Schwarmgeister  waren  bereits  ein  Ergebniss  der  weltlichen  Bildung, 
Wissenschaft  und  Einsicht,  die  im  16.  Jahrhundert  schon  eine  gewisse 
Selbständigkeit  erlangt  hatten.  Es  ist  aber  eine  schlimme  theologische 
Verhärtung  —  man  redet  ihr  freilich  heute  wieder  ungescheut  das 
Wort  — ,  die  da  meint,  dass  Erkenntnisse  jener  Art  einfach  ignorirt 
werden  dürften.  Die  Reformatoren  haben  sich  in  vieler  Hinsicht 
gegen  die  welthche  Bildung  abgesperrt,  wo  diese  die  Aussagen  des 
Glaubens  berülirten.  In  diesem  Sinn  sind  sie  mittelalterlich  gewesen 
und  haben  die  grosse  Auseinandersetzung  zwischen  Offenbarung  und 
Vernunft  bei  Seite  geschoben,  sie  einem  kommenden  Jahrhundert  über- 
lassend, welches  keineswegs  mehr  sicher  im  evangelischen  Glauben  stand, 
also  viel  schlechter  für  die  Lösung  jener  Aufgabe  vorbereitet  gewesen  ist. 
Selbst  wenn  es  gelingen  könnte,  sie  bei  diesem  Verfahren  vollkommen 
zu  rechtfertigen  und  etwa  zu  zeigen,  dass  auch  das  geringste  Eingehen 
auf  „schwarmgeistige"  Erkenntnisse  damals  der  Tod  der  Reformation 
gewesen  wäre,  so  würde  sich  an  der  Thatsache  doch  nichts  ändern,  dass 
die  Reformation  viele  bessere  Erkenntnisse,  die  das  Zeitalter  besass, 
in  Ungerechtigkeit  und  Hass  begraben  und  damit  die  späteren  Krisen 
des  Protestantismus  verschuldet  hat.  Die  französische  Kirche  hat  die 
Hugenotten  und  Jansenisten  ausgetilgt;  sie  erhielt  dafür  die  Atheisten 
und  die  Jesuiten.  Die  deutsche  Reformation  hat  die  „Schwarmgeister" 
verbannt;  sie  erhielt  dafür  die  Rationalisten  und  die  moderne  „Posi- 
tivität". 

ir.  Die   Folge   dieser  Haltung   ist,   dass,   sofern  Luther  seinen 
Anhängern  eine  „Dogrnatik"  liinterlassen  hat,  diese  sich  als  ein  höchst 

47* 


740  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

complicirtes  Gebilde  darstellt:  nicht  als  ein  Neubau,  sondern  als  eine 
Moditication  des  alten  patristiscli-scholastischen  Baues.  Dann  aber  ist 
nach  dem  bisher  Ausgeführten  offenbar,  dass  Luther  dem  evangelischen 
(Jhristenthum  in  dieser  Beziehung  keinen  endgiltigen  Ausdruck  ge- 
geben, sondern  nur  einen  Anfang  gesetzt  hat. 

Erstlich  hat  er  —  nicht  etwa  erst  Melanchthon  —  es  ver- 
schuldet, dass  in  die  doctrina  evangelii  alle  theoretischen  Elemente 
christlicher  Speculation,  die  man  festhalten  zu  müssen  meinte,  ein- 
gerechnet worden  sind.  Er  hat  freilich  nie  aufgehört,  diese  Elemente 
als  mannigfaltige  Zeugnisse  dessen  zu  betrachten,  worauf  es  im  Christen- 
glauben allein  ankommt;  aber  daneben  hat  er  ihnen  doch  auch  einen 
selbständigen  Werth  gegeben,  weil  er  sie  für  vollkommene  Zeugnisse 
und  daher  für  den  Glauben  selbst  hielt.  Der  Widerspruch  gegen  die 
Schwarmgeister  und  die  ungeheure  Aufgabe,  ein  Volk  zum  Christen- 
thum  zu  erziehen,  bestärkte  ihn  in  solchem  Verhalten  noch,  und  so 
glitt  er  unvermerkt  zu  der  Anschauung  hinüber,  als  sei  die  Kirche, 
weil  sie  die  Gemeinschaft  sei,  die  sich  lediglich  auf  Gottes  Offen- 
barung und  den  ihr  entsprechenden  Glauben  gründet,  eben  desshalb 
die  Gemeinschaft  der  reinen  Lehre  in  dem  Umfang  der  richtigen 
Theologie.  Der  rechtfertigende  Heilsgiaube  und  die  Summe  der  ein- 
zelnen articuli  fidei  erschienen  fast  als  identisch.  Damit  aber  trat 
eine  Verengung  des  Kirchenbegriffs  ein,  der  gegenüber  selbst  der 
römische  Kirchenbegriff  überlegen  erscheint,  und  durch  die  sich  das 
Lutherthum  der  socinianischen  Betrachtung  näherte.  Die  Kirche 
drohte  sich  in  eine  Schule,  nämlich  in  die  Schule  der  reinen  Lehre, 
zu  verwandeln.  Ist  aber  die  Kirche  Schule,  dann  wird  für  sie  der 
Unterschied  von  Wissenden  und  Unwissenden  von  fundamentaler 
Bedeutung,  mit  anderen  Worten:  das  Theologen-  und  Pastoren- 
christenthum  ist  geschaffen.  Luther  selbst  hat  für  seine  Person  diese 
Betrachtung  immer  wieder  durchbrochen,  ja  sie  ist  auch  im  16.  und 
17.  Jahi'hundert  nie  völlig  rein  durchgeführt  worden,  vde  z.  B.  die 
geistliche  Liederdichtung  beweist.  Allein  die  evangelische  Grund- 
auffassung vom  Christenthum  als  einem  Ganzen  —  nicht  einer  Summe 
einzelner  Lehrstücke  —  verdunkelte  sich,  und  die  praktische  Ab- 
zweckung  der  Religion  wurde  schwankend.  Somit  ist  hier  der 
Zukunft  statt  einer  klaren  und  eindeutigen  Anweisung 
in  Bezug  auf  Glaube,  Lehre  und  Kirche  vielmehr  ein 
Problem  gestellt  worden,  nämlich  die  „Lehre"  in  echt 
lutherischem  Sinn  hochzuhalten,  sie  aber  von  Allem  zu 
befreien,  was  nicht  anders  angeeignet  werden  kann  als 
durch   das   Mittel    der   geistigen    Unterwerfung,   und    die 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  741 

Kirche  als  Gemeinschaft  des  Glaubens  auszuprägen,  ohne 
ihr  den  Charakter  einer  theologischen  Schule  zu  geben. 
Besonders  verhängnissvoll  wurde  die  Betrachtung  des  Glaubens  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  Zustimmung  zu  der  Summe  vieler  gleich- 
werthiger  articuli  fidei  der  evangeHschen  Lehre  von  der  Rechtfertigung. 
Sie  musste  nun  als  die  correcte  Darstellung  eines  einzelnen  Dogmas 
erscheinen  —  nichts  weiter.  In  dem  Momente  verlor  sie  ihre  wahre 
Bedeutung  und  damit  ihre  Abz weckung.  War  sie  von  der  einen 
Seite  durch  die  „objectiven"  Dogmen  bedrängt,  so  war  es  nur  natür- 
lich, dass  sie  nun  von  der  anderen  Seite  durch  eine  compHcirte  Lehre 
von  der  Heiligung,  unio  mystica  u.  s.  w.  eingeengt  wurde.  Wie  sehr 
sie  unter  diesem  Druck  verkümmerte,  das  hat  uns  Eitschl  in  seiner 
„Geschichte  des  Pietismus"  gezeigt.  Man  braucht  aber  nur  einen 
BHck  auf  die  Geschichte  des  lutherischen  Beichtstuhls  zu  werfen,  um 
die  Verwüstungen  zu  erkennen,  welche  das  Lutherthum  durch  die 
Verengung  des  Glaubens  zu  der  „reinen  Lehre"  angerichtet  hat.  Da 
auf  die  Dauer  kein  ernster  Christ  sich  bei  der  richtigen  Theologie  als 
dem  Ideal  christlicher  Vollkommenheit  beruhigen  kann,  so  war  es  nur 
folgerecht,  ja  eine  wahre  Erlösung,  dass  die  katholischen  asketischen 
Massstäbe  in  der  Praxis  des  Lutherthums  wieder  aufgerichtet  wurden. 
Nun  aber  konnte  man  sich  doch  auch  dabei  nicht  beruhigen;  denn  man 
war  ja  evangehsch  und  brachte  es  daher  nur  zu  schwächlichen  Nach- 
bildern des  Katholicismus.  So  ist  auch  das  evangelische  Lebensideal 
ein  Problem  der  evangelischen  Kjrche  geblieben. 

Zweitens  hat  Luther  eine  unsägliche  Versvirrung  hinterlassen  in 
Bezug  auf  die  Bedeutung  der  alten  Dogmen  im  engsten  Sinn  des 
Worts.  Von  seinem  rechtfertigenden  Heilsglauben  führt  keine  Brücke 
zu  ihnen,  nicht  weil  dieser  Glaube  sie  nicht  erreicht,  sondern  weil 
jene  Dogmen  das  Wesen  Gottes  nicht  so  wunderbar  und 
tröstlich  beschreiben,  wie  es  der  evangelische  Glaube  er- 
kennt. Auf  diesen  Satz  kann  man  überall  die  Probe  machen,  wo 
Luther  sein  Christenthum  unmittelbar  und  lebendig  zum  Ausdruck 
bringt.  Christus  ist  ihm  nicht  eine  göttliche  Person,  welche  die  Mensch- 
heit angenommen  hat,  sondern  der  Mensch  Jesus  Christus  ist 
die  Offenbarung  Gottes  selbst,  und  Vater,  Sohn  und  Geist  sind 
nicht  drei  neben  einander  stehende  Personen,  sondern  ein  Gott  und 
Vater  hat  uns  in  Christus  sein  väterliches  Herz  aufgethan 
und  offenbart  durch  seinen  Geist  Christum  in  den  Herzen. 
Was  hat  diese  Betrachtung  des  Glaubens  mit  den  Speculationen  der 
Griechen  zu  thunV  Wie  viel  verwandter  sind  diese  dem  natürlichen  Ver- 
stände als  Luther's  Betrachtung !  Ein  Philosoph  vermag  die  Mittel  aufzu- 


742  I^iö  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

treiben,  um  die  Dogmen  der  griechischen  Kirche  tiefsinnig  und  weise  zu 
finden;  kehi  Philosoph  aber  ist  im  Stande,  dem  Glauben  Luther's  irgend 
welchen  Geschmack  abzugewinnen.  Imther  selbst  übersah  die  Kluft,  die 
ihn  vom  alten  Dogma  trennte,  theils  weil  er  es  nach  seinem  Sinn  deutete, 
theils  weil  er  einen  Rest  des  Respects  vor  den  Concilienbeschlüssen 
hatte,  theils  weil  er  sich  freute^  einen  greifbaren,  sicheren,  hohen,  un- 
begreiflichen Hauptartikel  Türken,  Juden  und  Schwarmgeistern  ent- 
gegenstellen zu  können.  Nur  wenn  man  die  Lehren  von  der  Trinität 
und  Christologie  als  Hauptartikel  im  Sinne  Luther's  betrachtet,  wird 
man  ihnen  gerecht;  sie  waren  ihm  nicht  nur  Stücke,  an  die  sich  andere 
Lehrstücke  angUedern,  sondern  sie  waren  ihm  die  Lehren,  aus  denen 
er  das  evangelische  Christenthum  zu  entwickeln  verstand:  Gott  in 
Christus.  Allein  was  unter  seiner  Hand  in  seinem  Sinn  lebendig  blieb, 
war  damit  nicht  für  die  Zukunft  geschützt,  und  er  selbst  vermochte  als 
mittelalterlicher  Mensch  nicht  der  Versuchung  zu  widerstehen,  über 
jene  Formeln  in  der  Richtung  zu  speculiren,  welche  durch  ihre  Fassung 
vorgeschrieben  war.  Indem  er  dabei  seine  Grundgedanken  doch  nicht 
preisgeben  wollte,  gerieth  er  auf  Speculationen,  die  den  abenteuerlich- 
sten und  schlimmsten  Phantasien  der  nominahstischen  Sophisten  nichts 
nachgeben.  Sie  unterscheiden  sich  von  ihnen  nur  darin,  dass  Luther 
mit  kindlichem  Glauben  diese  wunderliche  Gedankenwelt  ausbaute.  Jene 
aber  halb  gläubig  und  halbskeptisch  dialektischen  Problemen  nachgingen. 
Von  der  Abendmahlslehre  aus  (s.  unten)  gewann  Luther  einen  beson- 
ders starken  Antrieb  über  die  Christologie  in  alter  Weise  nachzudenken. 
Da  er  aber  die  Einheit  von  Gottheit  und  Menschheit  in  Christus  so 
streng  fasste,  wie  kein  Theologe  vor  ihm,  musste  er  im  Rahmen  der 
Zweinaturenlehre  auf  jene  entsetzlichen  Speculationen  über  die  Ubiqui- 
tät  des  Leibes  Christi  gerathen,  die  sich  auf  den  höchsten  Höhen  scho- 
lastischen Widersinns  bewegen.  Die  traurige  Folge  war,  dass  das 
Lutherthum  gleichsam  als  nota  ecclesiae  die  ausgeführteste  scholastische 
Doctrin  erhielt,  die  je  eine  Kirchengemeinschaft  erhalten  hat.  Es  wurde 
dadurch  auf  fast  200  Jahre  ins  Mittelalter  zurückgestossen.  Die  Re- 
formation schliesst  also  auch  hier  mit  einem  Widerspruch, 
der  der  Folgezeit  ein  Problem  stellte:  sie  gab  der  neuen 
Kirche  den  Glauben  an  Gott,  Christus  und  den  hl.  Geist, 
wie  ihn  Paulus  Rom.  8  bekannt  und  Paul  Gerhardt  im  Liede 
„Ist  Gott  für  mich,  so  trete  gleich  Alles  wider  mich"  noch 
immer  bezeugt  hat;  aber  sie  gab  ihr  zugleich  das  alte  Dogma 
als  den  unveränderlichen  Hauptartikel  zusammen  mit  einer 
christologischen  Doctrin,  welche  das  evangelische  Grund- 
interegse  nicht  verleugnete,   aber  völlig  scholastisch  ge- 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther 's  Erbschaft.  743 

staltet  war  und  daher  nothwendig  den  Glauben  verwirren, 
verdunkeln  und  entleeren  musste.  Es  ist  Lutlier's,  nicht  etwa 
der  Epigonen,  Schuld,  dass  in  der  evangeUschen  Kirche  Jeder  sich 
heute  noch  einen  „Ketzer"  schelten  lassen  muss,  welcher  die  Trinitäts- 
lehre  und  die  chalcedonensische  Formel  für  Menschenfündlein  erklärt, 
die  den  Glauben  schwächen  statt  ihn  zu  stärken.  Diese  Praxis  hat 
derselbe  Luther  überhefert,  der  doch  sonst  sehr  wohl  wusste,  was  Un- 
glaube im  Sinne  des  Evangeliums  ist.  Aber  Luther  hatte,  wie  wir  ge- 
zeigt haben,  grosse  Entschuldigungen  für  seinen  Irrthum;  solche  haben 
die  Heutigen  nicht.  Sie  haben  nur  zwei  Entschuldigungen  —  die  Rück- 
sicht auf  die  einmal  herrschende  Gemeindeorthodoxie  und  die  Unkennt- 
niss  der  Dogmengeschichte  ^  AVie  stark  sie  statt  in  dem  Grundgedanken 
der  Reformation  in  kathohschen  Reminiscenzen  leben,  zeigt  sich  am 
deuthchsten  darin,  dass,  wenn  je  einmal  Einer  die  Zuversicht  zum  alten 


^  Wie  gross  die  letztere  ist,  geht  aus  der  Thatsache  hervor,  dass  man  heute 
Phantasien  über  die  Christologie,  wie  die  kenotische  Theorie,  einfach  unter  den 
Schutz  des  alten  Dogmas  stellt,  d.  h.  dasselbe  factisch  abdecretirt,  aber  sich  dennoch 
als  vindex  dogmatis  gebehrdet.  Nich  anders  steht  es  mit  der  Trinitätslehre.  Man 
spinnt  aus  dem  eigenen  Innern  eine  Speculation,  die  mit  dem  alten  Dogma  nur  den 
Widerspruch  zwischen  Eins  und  Drei  gemeinsam  hat,  sonst  aber  toto  coelo  von  ihm 
verschieden  ist,  und  bezeichnet  sich  nun  selbst  als  orthodox,  die  Gegner  als  Ketzer. 
Als  ob  es  nicht  jedem  dieser  Ketzer  ein  Leichtes  wäre,  ihre  Kritik  des  alten  Dog- 
mas mit  ähnlichen  Einfällen  zu  verbrämen !  Würde  dies  zu  wirklicher  Beruhigung 
dienen,  so  wären  sie  sogar  verpflichtet,  es  zu  thun.  Allein  diese  Verzierungen  lösen 
einander  mit  erschrecklicher  Schnelle  ab ;  keine  einzige  beruhigt  wirklich,  sondern 
jede  dient  im  besten  Falle  dazu,  die  Krisis  hinauszuschieben.  Man  achtet  heute 
gar  nicht  mehr  darauf,  wie  Einer  sich  mit  dem  alten  Dogma  abfindet,  ja  man  zuckt 
wohl  von  vornherein  die  Achsel  über  seinen  Versuch.  Aber  dass  er  sich  abfindet, 
das  genügt.  So  lebt  man  in  der  „positiven"  Theologie  seit  den  Tagen  Schleier- 
macher's  gleichsam  aus  der  Hand  in  den  Mund.  Aber  selbst  das  müsste  man  sich 
gefallen  lassen  —  unser  Wissen  ist  Stückwerk  — ,  wenn  nicht  das  alte  Dogma  den 
(Hauben  im  19.  Jahrhundert  verzäunte,  belastete  und  verwirrte.  AVcil  das  sicher 
ist,  darum  gilt  es,  selbst  wider  die  ganze  Welt  für  das  schlichte  Evangelium  zu 
streiten.  Das  stärkste  Argument,  das  entgegengehalten  wird,  lautet :  „Seht,  nur 
dort  wo  das  alte  Dogma  ist,  ist  heute  im  Protestantismus  tiefe  Sündenerkenntniss, 
wahre  Busse  und  lebendige  kirchliche  Thätigkcit  zu  finden."  Auf  diese  Einwendung 
ist  Folgendes  zu  antworten:  Zum  Ersten,  dass  diese  Selbstbcurtheilung  pharisäisch 
und  übel  lautet,  und  dass  über  Sündenerkenntniss  und  Busse  nicht  die  Kirchen- 
zeitungen, sondern  Gott  der  Herr  die  Rechnung  führt ;  zum  Anderen,  dass  „leben- 
dige, kirchliche  Thätigkcit"  keine  Gewähr  bietet  für  ungefärbten  evangelischen 
Glauben;  entschiede  sie  allein,  so  war  Luther  im  Unrecht,  als  er  über  die  alte  Kirche 
die  Revolution  brachte;  zum  Dritten,  dass  es  kein  Wunder  ist,  dass  die  Anderen 
voraus  sind,  welche  über  die  Macht  des  Herkommens  in  dem  conservativsten  Gebilde 
verfügen,  das  es  gicbt  —  in  der  Kirche.  Ue})rigens  soll  der  Christ  das  Gute  und 
Heilige  auffinden,  unter  welcher  Kutte  es  ihm  auch  begegnen  mag. 


744  T)io  Ausgäugo  des  Dogmas  im  Protestautismus. 

Dogma  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  eingebüsst  hat,  die  fast  regel- 
mässige Folge  die  ist,  dass  er  erklärt,  auf  die  Lehre  käme  über- 
haupt nicht  soviel  an.  Gegen  diese  franciskanisch-erasmische  Hal- 
tung kann  nicht  kräftig  genug  protestirt  werden.  Könnte  man  mit  der 
Wahrheit  überhaupt  pactiren,  so  wäre  das  alte  Dogma  jener  Indifferenz 
gegen  die  Lehre  noch  weit  vorzuziehen ;  denn  sie  führt  unfehlbar  in  den 
Katholicismus  und  ist  dem  evangelischen  Christenthum  so  feindlich  wie 
möglich.  Es  kommt  in  der  That  Alles  auf  die  rechte  Lehre  von  Gott 
als  dem  Vater  Jesu  Clnisti  an.  Eben  desshalb  ist  das  Dilemma:  das  alte 
Dogma  oder  das  blosse  „praktische  Christenthum",  mit  einem  Weder 
—  noch  zu  beantworten.  Der  evangelische[Glaube  kennt  nur  „Lehren", 
die  zugleich  Gesinnungen  sind;  diese  aber  sind  ihm  mit  Luther  das 
Christenthum  selbst. 

Aber  Luther  hat  nicht  nur  das  alte  griechische  Dogma,  sondern 
auch  die  augustinische  Erbsündenlehre,  die  Lehre  vom  Urständ  u.s.w. 
recipirt  und  damit  den  Glauben  nicht  minder  belastet,  sofern  er  eine 
aus  fragwürdiger  Exegese,  stumpfer  Kritik  und  bunter  Speculation  zu- 
sammengestellte und  ausgesponnene  Geschichtsbetrachtung  in  den 
Glauben  hineingezogen  hat.  Allerdings  hat  er  sie  nach  seinen  Prin- 
cipien  corrigirt,  und  wenn  die  Factoren  selbst  bestünden,  könnte  man 
sich  diese  Theorie  zur  Noth  gefallen  lassen ;  allein  es  war  doch,  vom 
Standpunkt  des  rechtfertigenden  Glaubens  betrachtet,  eine  Msraßaai*; 
£t?  aXXo  Ysvo?,  über  diese  Dinge  Glaubenssätze  aufciustellen,  und  diese 
Msraßaai«;  war  und  ist  nicht  ungefährlich.  Gewiss  —  vom  Standpunkt 
des  evangehschen  Glaubens  wird  die  Erkenntniss  gewonnen,  dass  alle 
Sünde  Unglaube  und  Schuld  gegen  Gott  ist,  und  dass  jeder  Einzelne 
sich  in  solcher  Schuld  vorfindet.  Allein  das  Dogma  von  der  Erbsünde 
enthält  mehr  und  weniger  als  diese  Ueberzeugung  besagt,  weil  es  aus 
der  Vernunft  stammt.  Es  enthält  mehr,  weil  es  einen  Satz  christhcher 
Selbstbeurtheilung  in  ein  geschichtliches  Urtheil  verwandelt;  es 
enthält  weniger,  weil  es  immer  dazu  Anlass  bieten  wird,  die  eigene 
Sünde  zu  entschuldigen.  In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  die 
nominaHstische  Fassung  der  Prädestinationslehre  und  die  Lehre  von 
dem  doppelten  Willen  Gottes,  weil  sie  über  die  Glaubenslehre  hinaus- 
gehen. 

Der  dritte  Widerspruch,  den  Luther  seinen  Anhängern  zurück- 
gelassen hat,  liegt  in  seiner  Stellung  zur  Schrift.  Die  Kraft,  die  er 
nicht  besass,  sich  von  der  Autorität  des  Buchstabens  völhg  zu  befreien, 
haben  seine  Nachfolger  noch  weniger  besessen.  Neben  dem  AVort 
Gottes,  welches  Sache  und  Autorität  ist,  hielt  doch  auch  er  die  äussere 
Autorität  des  geschriebenen  Wortes  fest,  obgleich  er  sie  sogar  in  den 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther 's  Erbschaft.  745 

* 

Vorreden  zur  hl.  Schrift  durchbrochen  hat.  Wahrscheinhch  hat  ihn 
der  Gegensatz  zu  den  Wiedertäufern,  von  denen  Einige  in  treffender 
Weise  zwischen  AVort  Gottes  und  hl.  Schrift  unterschieden,  bewogen, 
die  alte  katholische  Gleichung  zwischen  Beiden  nur  um  so  strenger  fest- 
zuhalten K  Wie  verhängnissvoll  dieses  Festhalten  gewesen  ist,  das 
braucht  nicht  erörtert  zu  werden ;  denn  noch  heute  stehen  wir  unter 
den  Folgen  desselben ;  ja  man  darf  wohl  sagen,  dass  kein  anderer  Rest 
des  Katholischen  die  Entwickelung  des  Protestantismus  so  gehemmt 
hat,  wie  dieser.  Die  Forderung,  den  reinen  Verstand  der  hl.  Schrift 
festzustellen,  wurde  durch  die  Betrachtung  derselben  als  des  inspirirten 
Kanons  einfach  gelähmt.  Theils  wurde  die  evangelische  Heilslehre  mit 
hundert  fremden  Stoffen  belastet,  theils  achtete  man  der  Schrift  dort 
nicht,  wo  man  sie  hätte  brauchen  sollen,  weil  man  in  ihr  als  der  unfehl- 
baren Autorität  lediglich  das  finden  musste,  was  man  aus  anderen  Grün- 
den bereits  für  die  reine  Lehre  hielt.  Es  stellte  sich  so  im  Protestantis- 
mus wieder  genau  derselbe  Zustand  ein,  der  im  Katholicismus  herrschte, 
dass  man  nämlich  in  allen  Hauptpunkten  die  Schrift  der  regula  fidei 
unterordnete,  ihren  wesentlichen,  geschichtlichen  Gehalt  also  nicht  ge- 
hörig zur  Geltung  brachte,  und  dass  man  andererseits  Lasten  und  Fall- 
stricke aus  der  Schrift  hervorholte.  Dies  ist  nämlich  stets  die  paradoxe 
und  doch  so  verständHche  Folge  der  Annahme  eines  inspirirten  Schrif- 
tenkanons, dass  er  in  der  Hauptsache  das  Evangelium  der  Idrchlichen 
regula  fidei  unterwirft  und  zugleich  in  Nebensachen  unberechenbare 
und  verwirrende  Wirkungen  auf  den  Glauben  ausübt.  So  sehen  wir  es 
auch  im  Protestantismus.  Aber  das,  was  derselbe  Luther  gelehrt  hat: 
„das  ist  der  rechte  Prüfestein  alle  Bücher  zu  tadeln,  wenn  man  siebet, 
ob  sie  Christum  treiben  oder  nicht",  konnte  doch  nicht  ohne  Wirkung 
bleiben.  Allein  die  geschichtliche  Kritik  der  Bücher  hat  im  Prote- 
stantismus nicht  von  hier  begonnen.  Sie  ist  eine  Folge  der  erstarkten 
weltlichen  Bildung  gewesen.  Weil  sie  diesen  Geburtsschein  hatte,  hat 
sich  die  evangehsche  Kirche  so  heftig  wider  dieselbe  gesträubt  und 
sträubt  sich  noch  immer.  Allein  wenn  sie  nicht  den  Muth  und  die  Kraft 
hat,  die  Kritik  mit  Luther  wider  Luther  im  Interesse  des  Glaubens 
zu  führen,  so  ist  sie  selbst  dafür  verantworthch,  dass  sie  ihr  von  Aussen 
aufgezwungen  wird  und  dann  allerdings  nicht  dazu  dienen  kann,  sie  zu 
stärken,  sondern  nur  zu  schwächen.  Auch  hier  hat  also  Luther 
der  Folgezeit  eine  Aufgabe  hinterlassen,  da  seine  eigene 
Haltung  durch  einen  verhängnissvollen  Rest  katholischer 
Betrachtung  unsicher  gewesen  ist:  die  evangelische  Kirche 

*  Es  ist  nicht  richtig,  wenn  Loofs,  Leitfaden  S.  236,  Ijchauptet,  die  Gleich- 
setzung  von  hl.  Schrift  und  Wort  Gottes  sei  damals  nirgend  angefochten  gewesen. 


746 


Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 


muss  mit  den  anderen  äusseren  katholischen  Autori- 
täten auch  die  äussere  Autorität  des  geschriebenen,  für 
unfehlbar  gehaltenen  Worts  aufgeben;  aber  sie  muss  zu- 
gleich ihren  Standort  in  der  Glaubenslehre  dort  nehmen, 
wo  ihn  der  Glaube  nimmt,  nämlich  bei  der  Person  Christi, 
wie  sie  aus  den  Evangelien  hervorleuchtet  und  von  den 
ersten  Jüngern  bezeugt  ist. 

Viertens  hat  Luther  in  der  Lehre  von  den  Sacramenten  seine 
reformatorische  Position  verlassen  und  ist  Betrachtungen  gefolgt,  die 
seine  eigene  Glaubenslehre  verwirrten  und  in  noch  höherem  Masse  die 
Theologie  seiner  Anhänger  schädigten.  Im  Bestreben,  den  Schwarm- 
geistern zu  widerstehen,  ist  er  von  dem  Punkte  aus,  der  eine  besondere 
Stärke  seiner  Glaubensauffassung  bezeichnet,  durch  eine  scheinbar  kleine 
Verschiebung  zu  sehr  bedenklichen  Sätzen  gekommen,  die  einen  par- 
tiellen Rückfall  zur  Folge  hatten.  Neben  der  Unklarheit,  die  in  der 
Stellung  zur  Schrift  übrig  blieb,  ist  der  Rückfall  in  der  Betrachtung  der 
Gnadenmittel  der  eigentliche  Schaden  desLutherthums  geworden.  Blickt 
man  auf  den  Doctrinarismus,  auf  die  scholastische  Christologie,  auf  die 
magischen  Vorstellungen  vom  Sacrament  u.  s.  w.,  die  sich  ausgebildet 
haben,  so  ist  hier  der  eigentliche  Ansatz  für  diese  Fehler  zu  suchen. 

Aus  der  festen  und  ausschliessHchen  Betrachtung,  in  welche 
Luther  Gott,  Christus,  hl.  Geist,  Wort  Gottes,  Glaube  und  Rechtferti- 
gung (Gnade)  setzte,  ergab  sich  ihm  die  Erkenntniss,  dass  der  hl.  Geist 
an  das  Wort  Gottes  gebunden  ist,  d.  h.  dass  der  Geist  und  das  Wort 
Gottes  in  einem  untrennbaren  und  ausschliesslichen  Verhältniss  stehen. 
Dieser  Grundsatz  hat  den  Zweck,  ersthch  die  sichere  Wirksamkeit  des 
Wortes  zu  begründen,  zweitens  die  Offenbarung  als  eine  im  strengen 
Sinn  äussere,  weil  göttliche,  von  allem  bloss  Subjectiven  zu  unter- 
scheiden. Desshalb  heisst  es  in  den  Schmalkald.  Artikeln  P.  III  a.  8  ' : 
„Et  in  bis,  quae  vocale  et  externum  verbum  concernunt,  constanter 
tenendum  est,  deum  nemini  spiritum  vel  gratiam  suam  largiri,  nisi  per 
verbum  et  cum  verbo  externo  et  praecedente,  ut  ita  praemuniamus  nos 
adversum  enthusiastas  i.  e.  Spiritus,  qui  iactitant  se  ante  verbum  et  sine 
verbo  spiritum  habere  et  ideo  scripturam  sive  vocale  verbum  iudicant, 
flectunt  et  reflectunt  pro  libito  .  .  .  Quare  in  hoc  nobis  est  constanter 
perseverandum,  quod  deus  non  velit  nobiscum  aliter  agere  nisi  per  vocale 


*  Müller  S.  321  f.  Vgl.  die  Schrift  „Wider  die  himmlischen  Propheten" 
(Erlanger  Ausg.  XXIX  S.  134  K  bes.  S.  208  ff.),  Art.  5  der  Augustaua:  „Per 
verbum  et  sacramenta  tamquam  per  instrumenta  donatur  Spiritus  sanctus,  qui  fidem 
efficit"  und  den  oft  ausgesprochenen  Grundsatz  Luther's:  „Deus  interna  non  dat 
nisi  per  externa." 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  747 

verbum  et  sacramenta,  et  quod,  quiclquid  sine  verbo  et  sacramentis 
iactatiir  ut  Spiritus,  sit  ipse  diabolus."  Diese  Gleichung  von  Geist  und 
Wort  ist  so  lange  unzweifelhaft  richtig,  als  unter  dem  Wort  das  Evan- 
gelium selbst  in  der  Kraft  seiner  Wirkung  und  in  dem  ganzen  Umfang 
seiner  Geltung  und  Anwendung  verstanden  wird.  Allein  bereits  die 
Vertauschung  dieses  Worts  mit  dem  engeren  Begriff  „vocale  verbum 
et  sacramenta"  ist  nicht  unbedenklich.  "Wenn  aber  dann  Alles,  was 
vom  „Wort"  gelten  soll,  auch  ohne  Weiteres  auf  die  determinirten  Be- 
griffe „vocale  verbum  et  sacramenta"  angewendet  wird,  so  dass  sie  in 
jeder  Hinsicht  und  in  allen  ihren  Eigenschaften  „dasWort" 
sind,  so  ist  der  Rückfall  in  magische  Vorstellungen  unvermeidhch. 
Luther  wollte  in  seiner  Lehre  von  den  Gnadenmitteln  den  angefoch- 
tenen Gewissen  einen  sicheren  Trost  bieten  und  sie  vor  der  Hölle  der 
Unsicherheit  in  Bezug  auf  den  Gnadenstand  schützen,  die  die 
Schwarmgeister  für  nichts  zu  halten  schienen.  Darum  predigte  er  unab- 
lässig, dass  die  Gnade  Gottes  so  gewiss  in  dem  Wort  gegeben  werde, 
als  handle  Jesus  Christus  selber;  darum  stritt  er  wider  die  scotistische 
Lehre  von  einem  blossen  Nebeneinander  von  Vergebung  und  sinnlichem 
(hörbarem)  Zeichen  *;  darum  legte  er  auf  die  „Objectivität  der  Gnaden- 
mittel" ein  so  entscheidendes  Gewicht  ^  und  war  ängstlich  darauf  be- 
dacht, dieselben  auch  in  jedem  Stück  ihres  Vollzugs  und  in  Allem,  was 
die  Schrift  über  sie  lehrte  oder  zu  lehren  schien,  für  gleich  wichtig  und 
für  unantastbar  zu  erklären.  Allein  nicht  nur  durch  die  Ausscheidung 
bestimmter  Handlungen  als  Gnadenmittel  trat  Luther  in  die  verlassenen 
engen  Kreise  des  Mittelalters  zurück  —  der  Christ  lebt,  wie  er  selbst 
am  Besten  wusste,  nicht  von  Gnadenmitteln,  er  lebt  durch  den  Zu- 
sammenschluss  mit  seinem  Gott,  den  er  in  Christus  ergreift  — ,  sondern 
in  noch  höherem  Masse  durch  das  Unternehmen,  erstlich  die  Kinder- 
taufe als  Gnadenmittel  im  strengen  Sinn  zu  rechtfertigen,  zweitens  die 
Busse  doch  auch  als  das  Gnadenmittel  der  Initiation  zu  fassen,  drit- 
tens die  reale  Gegenwart  des  Leibes  und  Blutes  Christi  im  Abendmahl 
als  das  wesentliche  Stück  in  diesem  Sacrament  zu  behaupten.  Die  blosse 
Beibehaltung  des  Titels  „Gnadenmittel"  hätte  die  evangelische  Lehre 
wahrscheinlich  noch  nicht  getrübt;  denn  zu  deutlich  hat  Luther  immer 
wieder  betont,  dass  das  Gnadenmittel  doch  nichts  Anderes  ist  als  das 


*  Schmalkald.  Art.  P.  III  a.  5  (8.  320):  „Non  ctiam  facimus  cum  Scoto  et 
Minoritis  seu  monachis  Franciscanis,  qui  doccnt,  baptismo  ablui  pcccatum  ex  as- 
sistentia  divinac  voluntatis,  et  hanc  ablutioncm  fieri  tantum  per  dei  voluntatem 
et  minime  per  verbum  et  aquam." 

'■'S.  HarlesH  u.  Harnack,  Die  kirchlich-religiöse  Bedeutung  der  reinen 
Lehre  von  den  Gnadenmitteln  18G9. 


748  Diu  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestaulismus. 

Wort,  welches  den  Glauben  weckt  und  die  Vergebung  der  Sünden  ver- 
sichert. Aber  jenes  dreifache  Unternehmen  brachte  über  die  Kirche 
der  Reformation  den  Schaden  des  Mittelalters  und  hat  es  ihr  viele 
Generationen  hindurch  verwehrt,  mit  dem  geistigen  Charakter  der 
christlichen  Religion  ihren  vollen  Ernst  auszuprägen;  denn  der  Ernst 
der  Religion  wird  herabgesetzt;  wo  das  opus  operatum  auftaucht  und 
das  strenge  Verhältniss  von  Evangelium  und  Glaube  gelockert  oder 
belastet  wird. 

A.  AVas  den  ersten  Punkt  betrifft,  die  Kindertaufe,  so  liegt  die 
Frage  für  Jeden,  der  nicht  aus  „praktischen"  Gründen  die  Sache  ver- 
wirren zu  müssen  meint,  völhg  klar.  Gilt  der  evangelische  und  luthe- 
rische Grundsatz,  dass  Gnade  und  Glaube  untrennbar  zusammenge- 
hören (Grosser  Katech.  IV  S.  496  :  „Absente  fide  baptismus  nudum 
et  inefficax  Signum  tantummodo  permanet"),  so  ist  die  Kindertaufe 
an  sich  kein  Sacrament,  sondern  eine  kirchliche  Feier;  ist  sie  im 
strengen  Sinn  ein  Sacrament,  so  gilt  jener  Grundsatz  nicht  mehr.  Man 
kann  diesem  Dilemma  weder  dadurch  entrinnen,  dass  man  auf  den 
Glauben  der  Pathen,  Eltern  u.  s.  w.  verweist  (so  Luther  selbst  An- 
fangs) —  denn  das  ist  die  schlimmste  Form  der  fides  impHcita  — ,  noch 
durch  die  Annahme,  dass  in  der  Taufe  der  Glaube  gegeben  werde*; 
denn  ein  unbewusster  Glaube  ist  eine  fast  ebenso  schlimme  Species 
jener  fides  implicita.  Somit  hätte  es  dem  evangehschen  Grundsatze 
nur  entsprochen,  entweder  die  Kindertaufe  abzuthun,  wie  die  römische 
Kirche  auch  erst  in  später  Zeit  die  Kindercommunion  abgethan  hat, 
oder  sie  für  eine  kirchliche  Feier  zu  erklären,  die  ihren  wahren  Inhalt 
erst  später  erhält.  Allein  keines  von  Beidem  ist  geschehen ;  vielmehr  hat 
Luther  die  Kindertaufe  als  das  Sacrament  der  Wiedergeburt  beibehalten 
und  sie,  die  in  seinem  Sinn  höchstens  ein  Symbol  der  zuvorkommenden 
Gnade  sein  durfte,  als  effective  Handlung  gefasst.  Damit  war  man,  wenn 
man  es  auch  nicht  wahrhaben  wollte,  zum  opus  operatum  zurückgekehrt 
und  hatte  das  Verhältniss  von  Gnadenwirkung  und  Glauben  gesprengt. 
Schlug  aber  in  der  Folgezeit  das  Gewissen  zu  hörbar  wider  die  sinnlose 
Annahme,  dass  es  Wiedergeburt  ohne  ein  Wissen  um  diese  Geburt 
geben  könne,  so  war  der  Ausweg,  den  man  nun  ergriff,  fast  noch 
schlimmer  als  die  Noth,  der  man  zu  entfliehen  strebte.  Man  zer- 
spaltete die  Rechtfertigung  und  die  Wiedergeburt,  jene  als  das  „Objec- 
tive"  (der  abstracto  göttliche  Act  der  Rechtfertigung,  der  forensische 
Rechtfertigungsspruch,  der  den  impius  für  gerecht  erklärt),  diese  als 

^  Grosser  Katech.  lY  S.  494:  „Puerum  ecclesiae  ministro  baptizandum  ap- 
portamns,  hac  spe  atque  animo,  quod  certe  credat,  et  precamur,  ut  domimis 
eum  fide  donet." 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  749 

das  Subjective.  Damit  wurde  das  herrlichste  Kleinod  des  evangehschen 
Christentimms  seiner  praktischen  Kraft  beraubt,  also  unwirksam.  Die 
abgequälten  Unterscheidungen  zwischen  Rechtfertigung  und  Wiederge- 
burt zogen  die  evangelische  Glaubenslehre  in  Labyrinthe  hinein,  setzten 
die  Bedeutung  der  Rechtfertigung  tief  herab  —  sie  drohte  wie  im 
Katholicismus  ein  dogmatischer  Locus  neben  anderen  zu  werden  — 
und  schnitten  durch  die  zwischeneingeschobenen  neuen  Dogmen  die 
praktische  Abzweckung  der  Rechtfertigung  auf  die  praktische  Ge- 
staltung des  christlichen  Lebens  ab. 

B.  Diese  verhängnissvolle  Entwickelung  wurde  (zweitens)  durch 
eine  unrichtige  Auffassung  von  der  Busse  noch  verstärkt.  Auch  hier 
hat  Luther  selbst  den  Anstoss  gegeben,  resp.  ruhig  geschehen  lassen, 
was  seinen  ursprünglichen  und  nie  aufgegebenen  Grundsätzen  zuwider- 
lief. Dass  auch  hier  die  mittelalterlich  -  katholische  Betrachtung  bei 
ihm  nachwirkte,  sollte  nicht  geleugnet  werden.  Luther  hat  sich  mit 
seiner  ganzen  reformatorischen  Lehre  und  Praxis  grundsätzlich  auf  den 
Boden  des  Glaubens  gestellt:  er  hatte  innerhalb  der  Glaubenslehre 
nicht  gefragt,  wie  wird  der  Heide  und  Türke  ein  Christ,  sondern  wie  bin 
ich  zu  dem  Glauben  gekommen  und  durch  welche  Kräfte  werde  ich  in 
demselben  erhalten.  Von  hier  aus  war  es  ihm  gewiss,  dass  das  Geschenk 
des  Glaubens  den  Christenstand  begründet  und  erhält,  und  dass  der 
Glaube  die  Busse  wirkt.  Beide  gehören  untrennbar  zusammen,  so  je- 
doch, dass  der  Glaube  das  logische  Prius  ist.  Daraus  folgte,  dass  nur 
solche  Busse  vor  Gott  Werth  hat,  die  aus  dem  Glauben  kommt,  und 
dass  sie  eine  ebenso  stetige  Stimmung  sein  muss  wie  der  Glaube.  Durch 
solchen  Glauben  und  solche  Busse  lebt  der  Christ  in  der  stetigen  Sün- 
denvergebung, d.  h.  diese  ist  die  Sphäre  seines  Daseins,  mag  das  nun  als 
ortwirkende  Taufgnade  oder  als  sich  immer  wiederholende  Aneignung 
der  Rechtfertigung  (Sündenvergebung)  gedacht  werden.  Das  ist  aller- 
dings eine  Auffassung,  die  sich  leicht  in  das  furchtbare  Gegentheil,  die 
bequeme  Sicherheit  und  die  auch  nicht  ein  einziges  Mal  stark  hervor- 
brechende Bussgesinnung,  wandeln  kann.  Sagt  man  den  Menschen, 
dass  sie  immer  Busse  thun  sollen  und  dass  einzelne  Bussacte  nichts 
nützen,  so  werden  Wenige  je  Busse  thun.  Allein  —  corruptio  optimi 
pessimal  die  Gefahr,  die  einer  Wahrheit  anhaftet,  kann  nie  ein  Grund 
sein,  sie  zu  verhüllen.  Wohl  kann  die  Erziehung  zur  Wahrheit  nicht 
mit  der  Vorhaltung  ilires  ganzen  Inhaltes,  ihres  Ernstes  und  ihrer  Frei- 
heit, beginnen;  aber  die  Glaubenslehre  darf  desshalb  nicht  getrübt 
werden.  Allein  sie  trübte  sich  im  Lutherthum  gar  bald,  und  scliliess- 
lich  —  wie  immer  —  ist  durch  diese  Trübungen  das  nicht  erreicht 
worden,  was  erreicht  werden  sollte,  nämhch  der  Laxheit  und  dem  Leicht- 


750 


Die  Ausg^änwo  des  Doormas  im  Protestantismus. 


sinn  zu  steuern.  Vielmehr  nahmen  diese  an  der  neuen  Formulirung,  wie 
sie  sich  allnüihhch  einstellte,  erst  recht  Anlass,  sich  ein  hequemes  Ruhe- 
kissen zu  hereiten.  Die  Rücksicht  auf  den  „gemeinen  groben  Mann" 
und  ein  Rest  von  Erinnerung  an  die  imponirende  Stellung  des  Alles 
beherrschenden  römischen  Beichtstuhls  hatten  Melanchthon  bestimmt 

—  zuerst  in  dem  „Unterricht  der  Visitatoren"  —  die  Busse  aus  dem 
Gesetz  abzuleiten  und  dem  Glauben  voranzustellen*.  Als  Agricola 
dagegen  auftrat,  stellte  sich  Luther  auf  Melanchthon's  Seite  2.  Gleich- 
zeitig hatte  man  Grund,  den  Besuch  des  kirchlichen  Beichtstuhls  ernst- 
lich einzuschärfen,  um  dem  Gröbsten  zu  steuern.  Hieraus  erklärt  es 
sich,  dass  auch  die  Theorie  sich  verdunkelte :  Busse  und  Vergebung 
wurden  innerhalb  dieser  Betrachtung  —  unter  anderen  Bedingun- 
gen blieb  bei  Luther  und  Melanchthon  die  ursprüngliche  Betrachtung 
in  Kraft  —  zu  der  Bekehrung  des  Gottlosen,  resp.  des  rückfälligen 
Sünders;  als  solche  wurden  sie  entweder  mit  der  iustificatio  identificirt 
oder  neben  sie  gestellt,  in  beiden  Fällen  aber  aufs  engste  mit  dem  kirch- 
Hchen  Beichtstuhl  verbunden.  Der  Gottlose  kommt  erstmalig  oder 
wiederum  zum  G  laub  en ,  wenn  ihm  auf  Grund  der  Busse  —  aber  diese 
Busse  lässt  sich  von  der  katholischen  attritio  nicht  mehr  unterscheiden 

—  die  Sünde  vergeben  ist,  d.  h.  Gott  ihn  aufs  neue  in  foro  absolvirt; 
leider  wurde  auch  dabei  mehr  und  mehr  an  die  Vermittelung  des  Pfarrers 
gedacht,  den  „der  gemeine  grobe  Mann"  allerdings  nöthig  hatte.  Aber 
was  ist  das  anders  als  eine  Doublette  zum  katholischen  Busssacrament, 
nur  dass  die  obligatorische  Ohrenbeichte  und  die  Satisfactionen  weg- 
fielen! Damit  wurde  die  Sache  erst  vollends  bequem,  und  wie  bequem 


^  S.  über  diese  grosse  Wandelung  Rit  schi,  Rechtfertigung  und  Versöhnung 
I  S.  186 — 191.  Die  charakteristischen,  kein  gutes  Gewissen  verrathenden  Worte 
Melanchthon's  lauten  (Corp.  Ref.  XXVI  p.  51  sq.):  „Wiewohl  Etliche  erachten, 
man  solle  nichts  lehren  vor  dem  Glauben,  sondern  die  Busse  aus  und  nach  dem 
Glauben  folgen  lassen,  damit  die  Widersacher  nicht  sagen  mögen,  man  wider- 
rufe unsere  vorige  Lehre,  so  ist  es  aber  doch  (so)  anzusehen,  weil  die  Busse 
und  das  Gesetz  auch  zu  dem  gemeinen  Glauben  gehören  —  denn  man  muss  ja  zuvor 
glauben,  dass  es  Gott  sei,  der  da  drohe,  gebiete,  schrecke — ,  so  sei  es  für 
den  gemeinen,  groben  Mann,  dass  man  solche  Stücke  des  Glaubens  (hier- 
nach hat  also  der  Glaube  „Stücke"  wider  Luther's  Anschauung !)  lasse  bleiben  unter 
dem  Namen  Gebot,  Gesetz,  Furcht  u.  s.w.;  damit  sie  desto  unterschiedlicher 
den  Glauben  Christi  verstehen,  welchen  die  Apostel  iustificantem  fidem,  das  ist,  der 
da  gerecht  macht  und  Sünde  vertilget,  nennen,  welches  der  Glaube  von  dem 
Gebot  und  Busse  nicht  thut,  und  doch  der  gemeine  Mann  über  dem  AVorte 
Glauben  irre  wird  und  Fragen  aufbringt  ohne  Nutzen." 

*  Auch  hier  ist  Luther's  Haltung  mit  aus  der  fatalen  Thatsache  zu  erklären, 
dass  ihm  Wahrheiten  von  Leuten  entgegengehalten  wurden,  die  ihm  mit  Grund  ver- 
dächtig waren.    Aus  solchen  Händen  wollte  er  nichts  empfangen. 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  751 

man  es  sich  mit  diesem  katholischen  Busssacrament  ohne  die  lästigen 
römischen  Zusätze  im  Lutherthum  gemacht  hat,  dafür  legt  die  Blüthezeit 
der  lutherischen  Orthodoxie  und  dieEeaction  Spener '  s  und  des  Pietis- 
mus ein  sprechendes  Zeugniss  ab.  Die  Vorstellung  von  der  Rechtferti- 
gung schrumpfte  bei  dieser  Betrachtung,  wie  oben  bereits  bemerkt,  zu 
einem  Initiationsactund  zu  einem  ganz  äusserlichen  Handeln 
Gottes,  welches  geeignet  war,  die  Gewissen  abzustumpfen,  zusammen. 
Auch  hier  musste  nun  die  katholische  Lehre  überlegen  erscheinen;  denn 
bei  dieser  Betrachtung  der  Vorgänge  musste  das  Stehenbleiben  bei  der 
„fides  sola"  eine  bedenkhche  Laxheit  zur  Folge  haben.  Hier  wäre  es 
in  der  That  gefordert  gewesen,  die  Christen  darüber  zu  belehren,  dass 
nur  die  fides  caritate  formata  vor  Gott  einen  wirklichen  Werth  hat. 
Man  kann  sich  daher  nicht  wundern,  dass  derselbe  Melanchthon,  der 
die  verhängnissvolle  XJmbiegung  dieser  Betrachtung  verschuldet  hat, 
später  die  sola-fides-Lehre  verlassen  und  einem  feinen  Synergismus  das 
Wort  geredet  hat.  Die  Theologie  der  Epigonen  aber  wurde  durch  die 
Aufgabe,  die  alte  evangelische  Ueberzeugung  mit  der  neuen  Lehre  von 
der  Busse  zu  vereinigen  und  doch  den  melanchthonischen  Synergismus 
zu  vermeiden,  in  die  heilloseste  Verwirrung  gestürzt.  Galt  es  doch  förm- 
lich zwei  „iustificationes"  mit  einander  zu  vermitteln,  die  iustificatio  impii 
(auf  Grund  des  Gesetzes  und  der  Busse)  und  die  iustificatio  als  die 
bleibende  Form  des  Christenstandes.  Dazu  kam  noch  als  die  dritte 
iustificatio  —  sie  stand  wiederum  unter  anderen  Bedingungen  —  die 
iustificatio  der  getauften  Kinder :  man  wird  gerechtfertigt  durch  die 
Busse,  die  das  Gesetz  wirkt  und  kommt  dann  zum  Glauben;  man  wird 
gerechtfertigt  durch  den  Glauben,  den  das  Evangelium  wirkt;  man  wird 
gerechtfertigt  durch  den  Taufact!  Diese  Widersprüche  potenzirten 
sich  noch,  sobald  man  auf  die  regeneratio  Rücksicht  nahm,  und  führten 
in  einen  heillosen  Scholasticismus  zurück.  Und  aus  diesem  Scholasti- 
cismus  traten  wie  in  dem  alten  aus  allen  Nöthen  und  Mühen  die  beiden 
katholischen  Grundfehler  —  verhüllt,  aber  für  ein  an  dem  Christen- 
thum  Luther's  geübtes  Auge  deutlich  genug  —  hervor,  die  Annahme 
einer  Wirksamkeit  der  Gnadenmittel  ex  opere  operato  und  die  Um- 
setzung des  evangelischen  Begriffs  des  Glaubens  zu  einer  ver- 
dienstlichen Leistung. 

Weder  dieses,  noch  jenes,  wohl  aber  die  Verwirrung  der  ent- 
scheidenden Frage  tritt  schon  in  der  Augustana  hervor.  Sehr  richtig 
hat  Loofs  ^  darauf  hingewiesen,  dass  der  12.  Artikel  ein  „Doppel- 
gänger" des  4.  ist,  und  durch  diesen  Hinweis  gewiss  das  Bedenkliche 
dieser  Verdoppelung  treffen  wollen.  Aber  der  12.  Artikel  entspricht 

*  A.  a.  0.  S.  202. 


752 


Die  Ausgänge  dos  Dogmas  im  Protestantismus. 


in  seiner  Fassung  selbst  nicht  mehr  der  reinen  evangelischen  Con- 
ception*;  denn  er  ist  dem  katholisclien  Busssacrament  angenähert. 
Der  Hinweis  auf  die  ecclesia  ist  in  diesem  Zusammenhang  eine 
mindestens  irreführende  Ooncession,  und  die  Zertheilung  der  paeni- 
tentia  in  contritio  und  fides,  wobei  jene  vorangestellt  ist  und  nur 
diese  ausdrücklich  auf  das  Evangelium  zurückgeführt  wird,  ist  sehr 
bedenkhch.  Aber  am  bedenklichsten  ist,  dass  der  Artikel  der  katho- 
lischen Vorstellung  Vorschub  leistet,  als  falle  der  Christ,  wenn  er 
fällt,  jedesmal  aus  dem  Gnadenstande  und  müsse  nun  durch  das 
Busssacrament  wieder  in  denselben  aufgenommen  werden.  In  dieser 
Betrachtung  wäre,  wenn  sie  unmissverständlich  deutlich  dem  Artikel 
zu  Grunde  läge,  das  Hauptstück  des  evangelischen  Glaubens  verleugnet. 
Dieser  Glaube  macht  zwischen  Sünde  und  Sünde  keinen  Unterschied, 
wie  die  katholische  Lehre,  und  er  weiss,  dass  „wir  täglich  viel  sündigen". 
Wenn  damit  stets  die  Auflösung  des  Gnadenstandes  verbunden  zu 
denken  wäre,  so  wären  wir  mitten  in  den  Katholicismus  zurückgeführt, 
und  es  wäre  völlig  gleichgiltig,  ob  mr  die  übrigen  Lehren  desselben 
annehmen  würden  oder  nicht.  Denn  von  diesem  Artikel  darf  man  in 
der  evangelischen  Kirche  nicht  weichen,  dass  Gott  seinem  Kinde, 
dem  gerechtfertigten  Christen,  die  Sünden  vergiebt,  dass  also  die 
Sündenvergebung  und  Rechtfertigung  nicht  nur  in  der  iustificatio 
impii  besteht,  sondern  dass  der  Christ  von  der  Sündenver- 
gebung lebt  und  trotz  Sünde  und  Schuld  ein  Kind  Gottes 
ist.  Diesen  Hauptgedanken,  dass  der  Christ  nicht  aus  der  Gnade 
fällt,  wenn  er  sich  des  Gottes  getröstet,  der  Sünden  vergiebt,  hat 
die  Augustana  im  12.  Artikel  mindestens  verschleiert,  während  er 
sonst  doch  das  Fundament  vieler  ihrer  wichtigsten  Ausführungen 
bildet.  Wie  könnte  denn  Alles  das  zu  Recht  bestehen,  was  die  Augu- 
stana über  das  stetige  Gottvertrauen  so  eindrucksvoll  lehrt,  wenn  der 
Christ  sich  seiner  Kindschaft  nicht  stetig  getrösten  dürfte!  Aber  in 
welcher  traurigen  Weise  hat  man  diesen  Artikel  verdunkelt  —  um 
der  Gefahr  der  Laxheit  willen,  die  doch  nun  von  einer  anderen  Seite 
um  so  schlimmer  kam  — ,  wie  dunkel  ist  er  noch  jetzt  im  Pro- 
testantismus, und  wie  schwer  fällt  es,  die  berufenen  Lehrer  des  christ- 
lichen Volkes  davon  zu  überzeugen,  dass  man  den  stumpfen  Gewissen 

*  „De  paenitentia  docent,  quod  lapsis  post  baptismum  contingere  possit  re- 
missio  peccatorum  quocunque  tempore,  quum  convertuntur,  et  quod  ecclesia  talibus 
redeuntibus  ad  paenitentiam  absolutionem  impertiri  debeat.  Coustat  autem  paeni- 
tentia proprie  bis  duabus  partibus.  Altera  est  contritio  seu  terrores  incussi  con- 
scientiae  agnito  peccato;  altera  est  fides,  quae  concipitur  ex  evangelio  seu  absolu- 
tione  et  credit  propter  Christum  remitti  peccata,  et  consolatur  conscientiam  et  ex 
terroribus  liberat.   Deinde  sequi  debent  bona  opera,  quae  sunt  fruetus  paenitentiae." 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  753 

den  Ernst  des  Evangeliums  nur  durch  die  Verkündigung  der  Liebe 
Gottes  vorzuhalten  vermag! 

C.  Der  dritte  Punkt  ist  Luther's  Lehre  vom  Abendmahl ^   An 
unzähligen   Stellen  hat  Luther  bekannt,   dass  Wort  und  Sacrament 
die  Heilsmittel  sind,  weil  sie  die  Sündenvergebung  enthalten,  und 
dass   schlechthin  nur   in   dieser  ihr  Werth  beschlossen  liegt.     „Mit 
grimmiger  Verachtung"    hat    er  alle    phantastischen   Vorstellungen, 
welche  von  dem  abführen,   was  allein  dem  Christen  Trost  gewähren 
kann,  oft  genug  abgewiesen.     Demgemäss    durfte  seine   Lehre   vom 
Abendmahl  nur  lauten,  dass  das  Wort  Gottes,  welches  mit  und  bei 
dem  Essen  ist,   die  Sündenvergebung  bringt  und   damit  Leben  und 
Seligkeit  schafft.    Die  Frage  nach  dem  Leibe  und  Blute  Christi  im 
Sacrament   durfte    daher   überhaupt   keine    theologische    Frage 
werden  —  „Theologie"  im  Sinne  Luther's  —  oder,  wenn  sie  es  wurde, 
musste  sie  in  strengster  Beziehung  zu  dem  geschichtlichen  Christus 
erörtert  werden;  denn  nur  durch  das  Werk  des  geschichtlichen 
Christus  ist  das  Wort  Gottes  das  Wort  der  Sündenvergebung.  Dann 
konnte  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  der  Leib  und  das  Blut 
Christi  eben  das  seien,  was  er  in  den  Tod  gegeben  hat,    d.  h.  sein 
natürlicher   menschlicher  Leib.     So   allein   konnten   ihn  auch   seine 
Jünger  verstehen.     War  aber  der  Leib,   den  er  seinen  Jüngern  zu 
essen  gab,  sein  natürlicher  Leib,   so   ist  damit  ohne  Weiteres  klar, 
dass   es  sich  in  Bezug  auf  den  Leib  um  ein  Symbol  handelt,    wäh- 
rend der  Glaube  die  Sündenvergebung   keineswegs  bloss  symbolisch 
erhält.    Es  ist  dann  ferner  klar,  dass  der  Christ  durch  das  Abend- 
mahl nicht  in  eine  nähere,  mystische  Beziehung  zu  Christus  gesetzt 
wird  als   durch  das  Wort,  welches  ja  auch  nicht  ein  blosser  leerer 
Schall  von  Christus  ist,  sondern  die  Kraft,  die  von  seinem  geschicht- 
lichen Werke  ausgeht.    Es  ist  aber  endlich  die  Vorstellung  von  einer 
„näheren,  mystischen"  Beziehung  des  Christen  zu  Christus  im  Sinne  der 
evangelischen  Glaubensauffassung  Luther's  überhaupt  die  schlimmste 
Ketzerei;    denn  sie  stellt  die  souveräne  Kraft  und  vollgiltige  Wirk- 
samkeit des  Wortes  Gottes  zu  Gunsten  einer  halbdunklen  Empfindung 
in  Frage  und  beraubt  damit  den  Gewissen  den  vollen  Trost  des  AVortes 
Gottes.     Es  muss  also    aufs  strengste  dabei  bleiben,    dass  die  ver- 
schiedenen   sinnlichen   Zeichen,    unter  denen   das  Wort   dargereicht 
wird,  zwar  keineswegs  gleichgiltig  sind,  dass  ohne  dieselben  ein  Ge- 

*  S.  DieckholT,  Die  ovangel.Abondmahlslehro  (1854)  S.  167  ff.  H.  Schultz, 
Die  Lehre  vom  lil.  Abendmahl  1886.  Schmid,  Der  Kampf  der  luth.  Kirche  um 
L.'s  Lehre  vf)m  Abendmahl  1868.  Selir  ausführlich  auch  Thomasiu  s -Seeberg 
U  S.  522  ff. 

Harnack,  Dogmengeschichte  III.  4g 


754  r)ip  Auswänp^e  dos  Dogmas  im  Protostantismus. 

schiclitliches  überhaupt  niclit  vorgestellt  werden  kann,  dass  sie  das 
Werk  des  geschichtlichen  Christus  in  verschiedener  AVeise  den  Herzen 
nahe  bringen,  dass  sie  aber  der  Kraft  des  Wortes  nichts  hinzuzu- 
l'iigen  vermögen. 

Wenn  im  Folgenden  eine  andere  Auffassung  Luther's  dargelegt 
werden  muss,  so  hat  man  sich  stets  zu  erinnern,  dass  er  die  eben  ent- 
wickelte aufs  kräftigste  vertreten  und  nie  aufgegeben  hat*,  denn  sogar 
durch  die  Schriften,  welche  man  mit  Recht  für  eine  andere  Betrachtung 
citirt,  zieht  sie  sich  deutlich  genug  hindurch.  Es  bedarf  keiner  Stellen, 
um  sie  zu  belegen;  denn  z.  B.  der  kleine  Katechismus  bezeugt  sie,  und 
sie  allein.  Man  kann  sich  gegen  dieselbe  doch  nicht  auf  das  Wörtchen 
„wahr"  in  dem  Satze:  „Es  ist  der  wahre  Leib"  berufen,  mag  Luther 
auch  sicherlich  hierbei  schon  an  den  Gegensatz  zu  Zwingli  gedacht 
haben.  Um  den  „wahren"  d.  h.  den  geschichtlichen  Christus  handelt 
es  sich  auch  im  Wort,  und  nicht  nur  das  Wort,  sondern  dieses 
allein  hat  nach  Luther  die  Kraft,  den  wahren  Christus,  der  für  die 
Sünder  gestorben  ist,  in  den  Herzen  zu  vergegenwärtigen. 

Dennoch  ist  er  in  der  Betrachtung  des  Abendmahls  auf  eine  „Er- 
gänzung" der  Glaubensvorstellung  gerathen,  die  er  aufs  hartnäckigste 
vertheidigt  und  zu  einem  articulus  stantis  et  cadentis  ecclesiae gestempelt 
hat.  Er  hat  damit  ein  Heer  von  Uebeln  über  die  Schöpfung  gebracht, 
die  er  hinterlassen  hat:  die  Lehre  vom  Sacrament  überhaupt  wurde  ver- 
wirrt, der  Auffassung  des  opus  operatum  ein  Thor  geöffnet,  der  Doctri- 
narismus  verstärkt,  die  evangelische  Christologie  in  die  traurigen  Bahnen 
der  verlassenen  Scholastik  geleitet  und  so  eine  Orthodoxie  aufgerichtet, 
die  nothwendig  engherzig  und  lieblos  werden  musste.  Das  sind  die 
schweren  inneren  Folgen  gewesen.  Die  äusseren  sind  bekannt  genug; 
sie  haben  den  Protestantismus  zerspalten.  Dennoch  sind  diese  nicht 
die  schlimmsten  gewesen;  ja  man  kann  hier  sogar  umgekehrt  sagen, 
die  zeitweise  Isolirung  der  lutherischen  Reformation  war  nothwendig 
und  heilsam,  damit  sie  sich  nicht  auf  fremdem  Gebiete  verlöre.  Hätte 
Luther  in  der  Abendmahlsfrage  nachgegeben,  so  hätte  das  kirchliche 
und  j)olitische  Verbindungen  zur  Folge  gehabt,  die  aller  AVahrschein- 
lichkeit  nach  für  die  deutsche  Reformation  verhängnissvoller  gewesen 
wären  als  ihre  Isolirung;  denn  die  Hände,  die  sich  nach  Lutlier  aus- 
streckten —  Karlstadt,  Schwenkfeld,  Zwingli  u.  s.  w.  --  und  die 
scheinbar  nur  durch  die  Abendmahlslehre  am  Zugreifen  gehindert 
waren,  waren  keine  reinen  Hände.  Grosse  politische  Pläne  und  be- 
denkliche Unsicherheiten  in  Bezug  auf  das,  was  evangelischer  Glaube 
ist,  sollten  Bürgerrecht  in  der  deutschen  Reformation  erhalten.  Da 
bildete  die  Abendmahlslehre  eine  heilsame  Schranke.    Das,  was  Luther 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  755 

geltend  machte,  war,  auf  den  Wortlaut  gesehen,  nicht  richtig ;  aber  es 
entsprang  letztlichder  Absicht  des  einzigen,  starken  Mannes,  seine  Sache, 
so  wie  sie  ihm  aufgegangen  war,  rein  zu  erhalten  und  sich  nichts  Frem- 
des aufdringen  zu  lassen;  es  entsprang  dem  berechtigten  Misstrauen,  ob 
jene  Leute  nicht  einen  anderen  Geist  hätten  als  er.  In  der  Wahl  des 
Mittels  hat  er  sich  vergriffen;  in  der  Sache,  sofern  es  sich  um  die  Ab- 
wehr verfrühter  Unionen  handelte,  hatte  er  wahrscheinlich  Recht. 

Damit  ist  schon  ein  Motiv  für  seine  „Ergänzung"  der  Abend- 
mahislehre  genannt,  und  vielleicht  das  stärkste.  Luther  fürchtete,  resp. 
erkannte,  dass  seine  Gegner,  einschliesslich  Zwingli's,  die  Gnaden- 
mittel überhaupt  unterschätzten,  dass  sie  den  „Geist"  predigen,  ohne 
die  Bedeutung  des  Wortes  zu  erkennen.  Die  Versuchung,  die  Gewissheit 
des  Ineinander  von  Geist  (Heilsgut)  und  Mittel  scheinbar  am  sichersten 
dadurch  zu  erweisen,  dass  man  im  Abendmahl  die  Gegenwart  des 
leibhaftigen  Christus  lehrte,  war  sehr  gross.  Dieser  Versuchung  ist 
Luther,  wenn  er  sie  auch  immer  wieder  in  seinem  ursprünglichen 
Sinn  corrigirte,  erlegen.  Zweitens  schien  ihm  der  Schriftbuchstabe 
keine  andere  Deutung  zuzulassen,  und  an  diesen  Schriftbuchstaben 
fühlte  er  sich  gebunden.  So  hat  er  schon  vor  dem  Jahre  1524  die 
Ueberzeugung  ausgebildet,  dass  im  Sacrament  des  Altars  die  Sünden- 
vergebung so  enthalten  sei,  dass  sie  durch  die  äussere  Darreichung 
des  wahrhaftigen  Leibes  und  Blutes  Christi  (zum  Essen  und  zum 
Trinken)  gegeben  werde.  Zuerst  kehrte  er  diese  Erkenntniss  gegen 
Karlstadt  '  und  suchte  durch  Briefe  wider  diesen  zu  wirken.  Seit 
1525  wendeteer  sich  indirect,  seit  1526  direct  auch  gegen  Zwingli, 
den  er  nicht  ganz  ohne  Grund  der  Parteinahme  für  die  Schwärmer  für 
verdächtig  hielt.  Zwingli  hat  das  freilich  abgestreift  und  war  auch  schon 
damals  in  der  rechtfertigenden  Heilslehre  wesentlich  fest  —  nicht 
zum  mindesten  durch  Luther's  Schriften  — ;  allein  um  Lutlier's  Stellung- 
nahme gegen  Zwingli  zu  verstehen,  muss  man  diesen  Verdacht  im  Auge 
behalten.  In  dem  Schriftenwechsel,  der  nun  zwischen  beiden  Refor- 
matoren begann,  hat  Ijuther  seine  Anschauung  ausgeführt  und  ist,  von 
Zwingli  gedrängt,  immer  tiefer  in  die  Scholastik  liineingerathen  ^.    Zu- 

*  Karlstadt  hatte  gelehrt,  dass  Christus  mit  zohxo  auf  seinen  wirklichen  Leib, 
mit  dem  er  vor  seinen  Jüngern  sass,  gewiesen  habe. 

*  Die  ältesten  Schriften  Luther's  über  das  Abendmahl  sind  „Sermon  von  dem 
hochwürdigen  Sacrament  des  hl.  wahren  Leichnams  Christi"  1519,  „Erkl.  Dr.  L.'s 
etlicher  Artikel  in  seinem  Serinon  v.  d.  hl.  Sacr."  1520,  „Sermon  von  dem  NT.,  d. 
i.V.  d.  hl.  Messe"  1520  (Erlang.  Ausg.  XX  VIT).  „Vom  Missbrauch  der  Messe" 
1522,  „Von  beiderlei  Gestalt  des  Sacraments  zu  nehmen"  1522,  „Vom  Anbeten  des 
Sacraments  de«  hl.  Leichnams  Christi"  1523  (XXVIII).  „Wider  die  himmlischen 
Propheten  v.  d.  fiiUhrn  n.  Sacrament"  1524/5,  „Sermon  v.  d.  Sacramc^nt  des  Leibes 

48* 


756 


Dio  Ausgaiißfp  des  Do^rniaR  im  Protostantiamus. 


nächst  Hess  er  sich  einreden,  der  walirhafti^e  licib  müsse  der  Leib  des 
erhöhten  Christus  sein;  denn  der  geschic-htUche  Ficib  ist  ja  allerdings 
im  Kreuzestode  abgethan.  Auf  den  Einwand  aber,  dass  es  unmöglich 
sei,  dass  der  verklärte  Leib  des  Erhöhten  im  Brote  und  Wein  sein 
könne,  erwiederte  er  so,  dass  er  die  Vorstellung  von  der  un- 
trennbaren Einheit  der  Gottheit  und  Menschheit  in  dem  ge- 
schichtlichen (vliristus  auf  den  Erhöhten  ausdehnte  und,  um 
diese  vorstelHg  zu  machen,  die  Schohistik  Occam's  zu  Hülfe  rief. 
„Die  Sophisten"  (seine  alten  Feinde!)  —  so  bekennt  er  nun  — 
„reden  hiervon  recht,  da  sie  sagen:  Es  sind  dreierlei  Weise  an 
einem  Ort  zu  sein,  localiter  oder  circumscriptive,  definitive,  repletive, 
welchs  ich  umb  leichteren  Verstandes  willen  will  also  verdeutsclien"  K 


u.  Blutes  Christi,  wider  die  Scliwarmgeister"  1526  (XXIX).  „Dass  diese  Worte 
noch  feststehen"  1527,  „Bekcnntniss  vom  Abendmahl  Christi"  1528  (XXX).  „Kur- 
zes ßekenntniss  Dr.  M.  L.'s  vom  hl.  Sacrament"  1545  (XXXII).  Dazu  verschiedene 
Briefe,  vor  Allem  der  an  die  Strassburger  vom  Dec.  1524  (s.  auch  seine  Urtheile 
über  die  „Böhmen")  mit  dem  berühmten  Satz :  „Das  bekenne  ich,  wo  Carlstad  oder 
jemand  anders  vor  5  Jahren  mich  hätte  mögen  berichten,  dass  im  Sacrament  nichts 
dann  Brot  und  Wein  wäre,  der  hätte  mir  einen  grossen  Dienst  than  .  .  .  Al)er  ich 
bin  gefangen,  kann  nit  heraus ;  der  Text  ist  zu  gewaltig  da,  und  will  sich  mit  Worten 
nit  lassen  aus  dem  Sinn  reissen."  Zwingli  tritt  in  den  Abendmahlsstreit  durch 
seinen  Brief  an  Alber  (Nov.  1524).  Es  folgten  sein  „Commentarius",  seine  „Klare 
Underrichtung"  (1526),  sein  „Amicaexegesis"  (1527),  die  „Fründhch  Verglimpfung", 
„dass  diese  Worte  ewiglich  den  alten  Sinn  haben  werdend"  (1527).  Briefe  und 
Schriften  der  südwestdeutschen  Theologen  spielen  in  dem  Streit  eine  wichtige 
Rolle.  Am  bedeutendsten  ist  Oekolampad's  Schrift  „de  genuina  verborum  domiui 
etc.  expositione  liber".  Zwingli  fasste  das  „est"  der  Einsetzungsworte  ^=  „es  be- 
deutet", nahm  Joh.  6  als  Commentar  der  Einsetzungsworte,  Hess  also  nur  eine  sym- 
bolische Auslegung  des  Leibes  und  Blutes  Christi  im  Sacrament  zu,  verrieth  keine 
Plerophorie  und  Sicherheit  in  der  Auffassung  des  Sacraments  als  eigenthümlicher 
Ausgestaltung  des  „Worts",  fasste  die  Handlung  wesentlich  als  sacrificiell  (nota 
ecclesiae,  Erinnerung)  und  Hess  sich  doch  von  Luther  auf  das  scholastisch-christo- 
logische  Gebiet  ziehen,  auf  welchem  er  durch  seine  doctrinäre  Fassung  der  Zwei- 
naturenlehre und  durch  die  dem  Nestorianismus  sich  annähernde  Zerspaltung  der 
Naturen  nicht  nur  keine  Lorbeeren  erntete,  sondern  einen  merkwürdigen  Mangel 
an  religiöser  Einsicht  in  das  Problem  neben  einem  verwunderlichen  Zutrauen  zur  Be- 
deutung sophistisch-scholastischer  Formeln  verrieth.  Die  südwestdeutschen  Theo- 
logen, soweit  sie  nicht  mit  Brenz  zu  Luther  hielten,  redeten  einer  mystischen 
Abendmahlsauffassung  das  Wort,  welche  die  Nachtheile  der  lutherischen  Fassung 
mit  den  Nachtheilen  der  Zwingli'scheu  verband  und  nachmals  von  Calvin  und 
Melanchthon  aufgegriffen  worden  ist.  Aber  sehr  Tüchtiges  leistete  Oekolampad  in 
dem  Bericht  über  die  patristische  Lehre. 

1  Bek.  v.  Abendmahl  (XXX  S.  207  ff.)-  Wie  anders  noch  in  der  Schrift  vom 
Jahre  1519  (XXVII  S.  38):  „Etliche  üben  ihre  Kunst  und  Subtilikeit,  ü-achten, 
wo  das  Brot  bleibt,  wenns  in  Christi  Fleisch  verwandelt  wird,  und  der  Wein  in 
sein  Blut?   Auch  wie  unter  so  einem  kleinen  Stück  Brots  und  AVeins  muge  der 


Verwirrungen  und  Probleme  in  Luther's  Erbschaft.  757 

Es  folgt  nun  eine  lange  Auseinandersetzung,  die  die  Möglichkeit  und 
Gewissheit  der  Gegenwart  von  Christi  Leib  im  Abendmahl  erhärten 
soll.  Also  ist  diese  Scholastik  nöthig,  um  den  christlichen  Glauben 
zu  begründen !  ^  Dabei  verirrte  er  sich  immer  mehr  in  die  katholische 
Auffassung,  dass  das  Abendmahl  als  die  Parallele  und  Bürgschaft  der 
Menschwerdung  aufzufassen  sei  -.  Am  stärksten  tritt  das  in  der  letzten 
Schrift  hervor,  und  hier  ist  zugleich  auch  deutlich,  wie  sich  der  evan- 
gelische Heilsglaube  für  Luther  in  Folge  seiner  Abendmahlslehre  in 
„Stücke"  auflöste,  obgleich  er  sich  Mühe  gab,  diese  Consequenz  zu 
vermeiden  ^. 

Mit  der  blossen  Behauptung,  dass  der  wahre  Leib  im  Abendmahl 
sei,  war  es  nicht  gethan,  wenn  dieser  Satz  eine  auch  ausserhalb  des 
Glaubens  giltige,  wunderbare,  äusserliche  Thatsache  bezeichnen  sollte. 
Es   musste   nachgewiesen  werden,  wie   der  leibhaftige  Christus   im 

ganz  Christus  beschlossen  sein?  Da  liegt  nit  an,  ob  du  das  nit  suchist;  es  ist  gnug, 
dass  du  wissest,  es  sei  ein  gottlich  Zeichen,  da  Christus  Fleisch  und  Blut  wahrhaftig 
innen  ist;  wie  und  wo,  lass  ihm  befohlen  sein." 

^  Von  hier  hat  dann  die  lutherische  Lehre  von  'der  Idiomencommunication 
ihren  Ausgang  genommen. 

^  Hierzu  hatte  ihm  Zwingli  durch  seinen  Nestorianismus  allerdings  Anlass 
gegeben. 

^  Kurzes  Bekenntniss  S.  413:  „0  lieber  Mensch!  wer  nicht  will  glauben  den 
Artikel  im  Abendmahl,  wie  will  er  doch  immermehr  glauben  den  Artikel  von  der 
Menschheit  und  Grottheit  Christi  in  Einer  Person?  Und  flehtet  dich  an,  dass  du 
den  Leib  Christi  mündlich  empfähest,  wenn  du  das  Brot  vom  Altar  issest  .  .  .,  so 
muss  dich  gewisslich  viel  mehr  anfechten  (sonderlich  wenn  das  Stundlin  kömpt),  wo 
die  unendliche  und  unbegreifliche  Gottheit,  so  allenthalben  wesentlich  ist  und  sein 
muss,  leiblich  beschlossen  und  begriffen  werde  in  der  Menschheit  und  in  der  Jung- 
frauen Leibe  .  . .  Und  wie  ists  müglich,  dass  du  solltest  glauben,  wie  allein  der 
Sohn  sei  Mensch  worden,  nicht  der  Vater  noch  hl.  Geist,  so  doch  die  drei  Personen 
nichts  Anderes  sind,  denn  der  einige  Gott  im  allereinigsten  "Wesen  und  Natur  der 
einigen  Gottheit ...  0  wie  sollen  sie  allererst  recht  schwärmen,  taumeln  und  pol- 
tern, wenn  sie  hierher  kommen !  Da  sollen  sie  zu  deuten  flnden ;  wie  ich  denn  höre, 
dass  sie  Ijcreitan  getrost  und  weidlich  hinangehen  mit  Eutycherci  und  Nestorei, 
Denn  das  dacht  ich  wohl,  habe  auch  gesagt,  sie  müssten  hierher  kommen;  der 
Teufel  kann  nicht  feiern,  wo  er  eine  Ketzerei  stiftet,  da  muss  er  mehr  stiften,  und 
bleibt  kein  Irrthum  allcine.  Wenn  der  Ring  an  einem  Ort  entzwei  ist,  so  ist  er 
nicht  mehr  ein  Ring,  hält  nicht  mehr,  und  bricht  immerfort.  Und  wenn  sie  gleich 
viel  rühmen,  dass  sie  diesen  Artikel  von  Christus  Person  glauben,  und  viel  davon 
plaudern,  so  sollt  du  es  ihnen  nicht  glauben,  sie  lügen  gewisslich  alles,  was  sie  hier- 
von sagen  .  .  .  Der  Türke  rühmet  auch  den  Namen  Gottes,  aber  im  Sterben  finden 
sie,  wer  ihr  Gott  sei.  Denn  gewiss  ists,  wer  einen  Artikel  nicht  recht  glaubet  oder 
nicht  will,  der  glaubt  gewiss  keinen  mit  Ernst .  .  .  Darumb  heissts,  rund  und  rein, 
ganz  und  Alles  gegläul^t,  oder  Nichts  geglaubt.  Der  hl.  Geist  lässt  sich  nicht  trennen 
noch  theilen,  dass  er  ein  Stück  sollt  wahrhaftig,  und  das  ander  falsch 
lehren  oder  glauben  lasBcn." 


758  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

Sacrament  sei  iiiul  gegessen  werde.  Auch  hier  hat  Luther  hypothe- 
tische Specuhitionen  der  Nouiinalisten  aufgenommen  ^  Der  ganze 
Christus  ist  in  den  Elementen;  aher  diese  sind  nicht  transsubstanziirt; 
auch  sind  die  Elemente  und  Christus  nicht  vermischt ;  auch  liegen  beide 
nicht  unverbunden  und  lose  neben  einander,  sondern  beide  bleiben,  was 
sie  sind,  verschmelzen  aber  in  ihren  Idiomen  so  vollständig,  wie  in  der 
Menschwerdung  Gottheit  und  Menschheit  verschmelzen.  So  hat  Luther 
dem  Melanchthon,  als  er  zu  den  Verhandlungen  mit  Butzer  (1534) 
nach  Kassel  ging,  die  Instruction  mitgeben  können:  „Dass  wahrhaftig 
in  und  mit  dem  Brot  der  Leib  Christi  gegessen  wird,  also  dass  Alles, 
was  das  Brot  wirket  und  leidet,  der  Leib  (Christi  wirke  und  leide,  dass 
er  ausgetheilt,  gegessen  und  mit  den  Zähnen  zerbissen  werde"  '^,  Das 
Bedenkhchste  dabei  war,  dass  nach  Luther  zwar  nur  für  den  Genuss 
Leib  und  Blut  Christi  im  Abendmahl  vorhanden  war^,  dass  aber  auch 
der  Ungläubige  und  Heide  sie  erhalten  sollte.  Damit  war  die  katho- 
lische Sacramentslehre  mit  ihrer  Unterscheidung  der  „objectiven" 
Bedeutung  des  Sacraments  und  der  Heils  Wirkung  im  Sacrament 
wieder  aufgerichtet.  Zugleich  aber  war  durch  diese  Zertrennung  fac- 
tisch  der  Glaube  an  die  Wirksamkeit  des  Sacraments  ex  opere  operato 
wiederhergestellt.  Dass  dieser  Glaube  dann  in  dem  späteren  Luther- 
thum  die  Wendung  genommen  hat,  dass  man  sich  auf  das  objective 
Sacrament  verliess,  ist  nicht  zu  verwundern.  Andererseits  wurde  so  das 
mysterium  tremeudum  für  den  Glauben  wieder  aufgerichtet.  Mochte 
man  leichtfertig  oder  mysterienängstlich  werden  —  in  beiden  Fällen 
war  der  ursprüngliche  Gedanke  der  hl.  Handlung  und  die  evangelische 
Betrachtung  derselben  verdunkelt. 

Nur  an  einem  Punkte  bheb  Luther  selbst  fest  oder  hat  doch  eine 
ihm  fremde  Anschauung  nur  gestreift  —  in  der  Gewissheit,  dass  es  sich 
bei  der  ganzen  Handlung  nur  um[Sündenv  er  gebung  handelt^.  Allein, 
was  er  gestreift  hat,  haben  Andere,  wenn  auch  nicht  gleich  Anfangs, 
stärker  betont.  Das  ist  nicht  verwunderlich.  Wenn  es  für  diese  Hand- 
lung von  fundamentaler  Bedeutung  sein  soll,  dass  hier  Christus  nicht 


»  S.  oben  S.  494. 

*  Schon  im  „Bekenntniss"  (1528)  gab  er  den  Gegnern  Berengar's  Recht 
(XXX  S.  297) :  „Darumb  thun  die  Schwärmer  unrecht,  sowohl  als  die  Glosse  im 
geistlichen  Recht,  da  sie  den  Papst  Nicolaus  strafen,  dass  er  den  Berengar  hat  ge- 
drungen zu  solcher  Bekenntniss,  dass  er  spricht:  Er  zudrücke  und  zureibe  mit 
seinen  Zähnen  den  wahrhaftigen  Leib  Christi.  AVollt  Gott,  alle  Päpste  hätten  so 
christlich  in  allen  Stücken  gehandelt." 

'  Daher  kein  Anbeten  des  Sacraments;  s.  die  Schrift  vom  Jahre  1523. 

*  Auf  Ansätze  zu  einer  anderen  Auffassung  ist  von  Köstl  in  u.  A.  hingewiesen 
worden;  Loofs  (S.  253)  verweist  auf  Erlang.  Ausg.  XXX  S.  93  f.  116  IV.  125.  141. 


Schlussbetrachtung.  759 

nur  für  den  Glauben,  sondern  leibhaftig  gegenwärtig  ist,  so  muss  solche 
Gegenwart  —  das  Empfangen  des  leibhaftigen  Christus  —  auch  eine 
specifische  Folge  haben.  Worin  aber  kann  diese  Folge  anders  ge- 
funden werden,  als  in  der  Unverweslichkeit  des  Leibes  Christi,  dessen 
Genuss  unsere  Leiber  in  geheimnissvoller  Weise  unverweslich  macht, 
oder  in  einer  mystischen  Vereinigung  mit  Christus,  die  noch  etwas 
Höheres  ist  als  Sündenvergebung  und  Kindschaft? 

Durch  die  Fassung,  die  Luther  der  Abendmahlslehre  gegeben  hat, 
hat  er  es  mit  verschuldet,  dass  die  spätere  lutherische  Kirche  in  ihrer 
Christologie,  in  ihrer  Sacramentslehre,  in  ihrem  Doctrinarismus  und 
ihrem  falschen  Massstabe,  mit  dem  sie  abweichende  Lehren  mass  und 
für  Ketzereien  erklärte,  eine  kümmerliche  Doublette  zur  katholischen 
Kirche  zu  werden  drohte.  Dass  diese  Gefahr  über  dieser  Kirche  ge- 
schwebt hat  und  noch  immer  nicht  völlig  gehoben  ist,  kann  kein  Ein- 
sichtiger verkennen.  Sieht  man  auf  das  Christenthum  Luther's  und 
vergleicht  es  mit  dem  katholischen,  so  ist  das,  was  sie  trennt,  die  Wirk- 
hchkeit;  was  sie  verbindet,  sind  Worte.  Blickt  man  aber  auf  die  Ge- 
stalt des  Lutherthums,  die  sich  seit  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts, 
nicht  ohne  Schuld  Luther's,  vielfach  ausgebildet  hat,  so  muss  man 
sagen,  dass  es  nur  AVorte  sind,  die  sie  vom  KathoHcismus  trennen, 
während  die  Wu'klichkeit  sie  verbindet;  denn  Katholicismus  ist  nicht 
der  Papst  und  nicht  die  Heiligenverehrung  oder  die  Messe,  sondern  die 
Lehre  vom  Sacrament,  von  der  Busse  und  von  dem  Glauben  und  den 
Glaubensautoritäten. 

5.  Schlussbetrachtung. 

In  den  vorstehenden  vier  Abschnitten  (S.  691  ff'.)  ist  der  Versuch 
gemacht,  die  Stellung  Luther's  zur  katholischen  Ueberlieferung  und 
zum  alten  Dogma  so  deutlich  wie  mögHcli  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Nicht  die  Theologie  Luther's  in  der  Breite  ihrer  Entwickelung  galt  es 
zu  schildern,  sondern  der  schwierigeren  Aufgabe  musste  genügt  wer- 
den, die  Bedeutung  Luther's  —  und  damit  der  Reformation  —  inner- 
halb der  Dogmengeschichte  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Es  ist, 
hoffe  ich,  gezeigt  worden,  dass  Luther  (die  Reformation)  ebenso  einen 
Ausgang  der  Dogmengeschichte  bezeichnet  wie  in  anderer  Weise  der 
nachtridentinischc  Katholicismus  und  der  Socinianismus.  An  diesem 
Urtheil  kann  das  nicht  irre  machen,  was  im  vierten  Abschnitt  ausgeführt 
werden  musste*,  denn  es  ist  gezeigt  worden,  dass  die  neue  Betrach- 
tung des  Evangeliums  bei  Luther  ein  Ganzes  bildet,  und 
dass  die  Elemente  des  Alten,  die  er  beibehalten,  zu  diesem 
Ganzen  nicht  stimmen,  ja  dass  er  auf  allen  den  Punkten,  wo 


760  Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 

er  das  Katholische  bestehen  gelassen,  doch  zugleich  selbst 
die  Grundzüge  eines  Neubaus  angegeben  hat. 

Dieses  Ganze  aber,  welches  er  mit  sicherer  Hand  entworfen,  er- 
hebt sich  nicht  nur  über  dieses  oder  jenes  einzelne  Dogma,  sondern 
über    das    dogmatische   Christen thum    überhaupt:    Christen- 
thum  ist  etwas  Anderes  als  eine  Sunnne  tradirter  Lehren.    Christen- 
thum  ist  nicht  die  biblische  Theologie,  nicht  die  Lehre  der  Concilien, 
sondern  die  Gesinnung,  die  der  Vater  Jesu  Christi  durch  das  Evan- 
gelium in  den  Herzen  erweckt.    Alle  Autoritäten,  welche  das  Dogma 
begründen,  sind  niedergerissen  —  wie  sollte  sich  da  das  Dogma  als  un- 
fehlbare Lehre  zu  halten  vermögen,  was  aber  ist  ein  Dogma  ohne  Un- 
fehlbarkeit?  Die  christliche  Lehre  bestellt  nur  für  den  Glauben  zu 
Recht  —  welchen  Antheil  kann  an  ihr  die  Philosophie  dann  noch 
nehmen  ?  was  aber  ist  das  Dogma  und  das  dogmatische  Christenthum 
ohne  diese?  Man  kann  freihch  hier  Luther  wider  Luther  anrufen,  aber 
doch  nur  in  derselben  Weise,  wie  man  wider  Augustin,  den  Prädestina- 
tianer,  den  Pelagianer  Augustin  zu  erwecken  vermag,  und  wie  man  jeden 
Genius  mit  leichter  Mühe  tödten  kann,  wenn  man  ihm  aus  seinen  Un- 
vollkommenheiten  und  aus  dem,  was  er  mit  seinem  Zeitalter  tlieilte, 
einen  Strick  dreht.    Die  Dogmengeschichte  macht  bei  Luther  Halt. 
Wer  Luther  Luther  sein  lässt  und  seine  entscheidenden  Sätze  für  das 
Gut  der  evangelischen  Kirchen  hält  —  sie  also  nicht  etwa  nur  propter 
angustias  temporum  duldet  — ,  der  hat  das  hohe  Recht  und  die  strenge 
Pflicht,  mit  ihm  die  Dogmengeschichte  zu  beschliessen  K   AVie  kann  es 
im  Protestantismus  eine  Dogmengeschichte  geben  nach  Luther's  Vor- 
reden zum  NT.  und  nach  seinen  grossen  Reformationsschriften?  Eine 
Geschichte  der  Arbeit  um  das  richtige  Verständniss  des  Evangeliums 
hat  es  gegeben,  und  diese  Geschichte  ist  ungefähr  150  Jahre  lang  in 
den  Bahnen  und  Formen  des  alten  Dogmas  verlaufen.   Aber  was  be- 
deuten 150  Jahre  für  die  Kirche!  Die  römische  Kirche  hat  mehr  als 
300  Jahre  gebraucht,  um  vorn  Tridentinum  zum  Vaticanum  zu  gelangen, 
und  wie  wenig  war  scheinbar  doch  schon  um  1550  nöthig,  um  die  vati- 


*  Mau  darf  innerhalb  der  umversalgeschichtlichen  Betrachtung  der  Dogmen- 
geschichte von  Zwingli  absehen.  AVas  von  ihm  gut  gesagt  ist,  das  hat  er,  wie 
es  Luther  hat,  und  dass  es  bei  ihm  zur  vollen  Klarheit  gekommen  ist,  ver- 
dankt er  Luther.  Worin  er  von  Luther  abweicht,  das  gehört  in  die  Geschichte  der 
protestantischen  Theologie.  Er  hat  im  Einzelnen  Manches  heller  auszudrückeu  ver- 
standen als  Luther,  und  manche  Negationen  des  Ueberlieferten  sind  von  ihm  sicherer 
ausgeprägt.  Aber  er  war  nicht  minder  doctrinär  als  Luther,  vielmehr  war  er  es  in 
höherem  Masse,  und  von  seinen  schönen  humanistischen  Erkenntnissen  hat  er  nicht 
immer  einen  vortheilhaften  Gebrauch  für  die  Glaubenslehre  gemacht.  Calvin  aber 
ist  als  Theologe  ein  Epigone  Luther's. 


Schlussbetrachtung.  761 

kanische  Formel  zu  erreichen !  Aber,  wendet  man  uns  ein,  der  Prote- 
stantismus hat  eine  symbolbildende  Epoche  gehabt;  in  dieser  hat  er 
seinen  Glauben  als  Dogma  zum  Ausdruck  gebracht ;  also  muss  diese 
Epoche  mit  in  die  Dogmengeschichte  eingerechnet  werden.  Hieraufist 
zu  erwiedern:  1)  alle  lutherischen  Symbole  mit  Ausnahme  der  Concor- 
dienformel  sind  ursprünglich  gar  nicht  als  Symbole  im  Sinne  der  mass- 
gebenden Lehrnorm  gedacht,  sondern  erst  in  späterer  Zeit  zu  Symbolen 
erhoben  worden,  und  zwar  immer  nur  von  einem  Theile  der  lutherischen 
Protestanten^,  2)  nicht  die  lutherische  Kirche  hat  sie  zu  Symbolen 
gemacht,  sondern  das  Reich  (1555)  und  die  Fürsten,  letztere  besonders 
desshalb,  um  die  Streitsucht  der  Theologen  zu  zügeln,  3)  lutherische 
Symbole,  welche  alle  Lutheraner  verbunden  hätten,  hat  es  so  wenig  je 
gegeben  wie  reformirte  Symbole,  welche  alle  Reformirten  zu  einer  Ein- 
heit zusammenschlössen,  4)  der  Bruch  mit  der  Symbolgläubigkeit  inner- 
halb des  Protestantismus,  wie  er  im  18.  und  19.  Jahrhundert  erfolgt 
ist,  kann  von  Niemandem  als  ein  Bruch  mit  der  Reformation  bezeichnet 
werden  und  wird  thatsächlich  selbst  von  der  modernen  Orthodoxie 
unserer  Tage  sehr  milde  beurtheilt,  weil  sie  sich  selbst  zu  weit  von  den 
Symbolen  entfernt  hat^.  Sind  diese  Sätze  richtig^,  so  ist  die  „symbol- 
bildende Epoche",  in  welcher  die  „lutherische  Kirche^  ihren  „defini- 
tiven Willen"  kundgegeben  hat,  eine  fable  convenue.  „Diese  lutheri- 
sche Kirche  hat  als  äusseres  Ganzes  überhaupt  nie  existirt,  und  die 
Wortführer  der  strengsten  »lutherischen  Partei«  waren  gerade  die 
schlimmsten  Feinde  einer  solchen  Einigung  gewesen.  ...  Es  hat  aber 
immer  nur  ein  wenn  auch  starker  Bruchtheil  der  lutherischen  Kirchen 
sich  um  das  Concordienbuch  geschaart,  und  auch  in  diesem  hat  es  zu- 
nächst nur  als  Lehrgesetz  der  einzelnen  Landeskirchen  gegolten.  Von 
Symbolen  »der  lutherischen  Kirche«  zu  reden,  ist  daher  schon  eine  ge- 


'  In  welchem  Zwielicht  erscheint  die  Augustana,  wenn  mau  sie  als  Symbol 
des  Lutherthums  betrachten  muss;  eine  wie  treffliche  Urkunde  aber  ist  sie,  wenn 
man  sie  als  das  würdij^t,  was  sie  selbst  allein  sein  will  —  eine  Darle<^un*r  gegenüber 
den  Gegnern,  inwieweit  man  mit  ihnen  trotz  der  Neuerungen  noch  einig  ist. 

'^  Das  sehliesst  nicht  aus,  dass  sie  in  ganz  willkürlicher  Weise  dieses  oder  jenes 
Stück  aus  den  Symbolen,  welches  sie  selbst  noch  festzuhalten  glaubt,  als  äussere 
Autorität  ihren  Gegnern  vorhält,  dabei  aber  regelmässig  verschweigt,  dass  sie  gar 
nicht  Willens  ist,  dies  mit  allen  Stücken  zw  thun. 

'Eine  sehr  lichtvfjlle  Darstellung  hat  K.  Müller  in  den  i'reuss.  .jahrl)b. 
Bd.  63  H.  2  gegeben:  „Die  Symbole  des  Lutherthums".  Verwiesen  sei  namentlich 
auf  die  ausgezeichneten  Scldussworte  S.  14H  IV.  (irundlegend  ist  Ritsch  Ts 
Aljhandlung  über  die  EntHichung  der  1iii)i(irischen  Kirche;  (Ztsehr,  für  K. -Gesch.  I, 
S.  5J  n,  11  S.  366  fl.j.  Doch  sind  hier  Jjuther  und  Melanchthon  m.  E.  in  eine  zu 
grosse  Spannung  gesetzt. 


762 


Die  AuRgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 


schichtliche  Unmöpjlichkeit."  Aber  wenn  diese  klare  geschichtliche 
Thatsache  auch  nicht  zu  Recht  bestünde,  so  bliebe  doch  das  Urtheil 
wahr,  dass  die  Epigonenzeit  nicht  die  Zeit  der  klassischen  Ausprägung 
des  evangelischen  Gilaubens  gewesen  ist,  sondern  eine  merkwürdige 
Episode  *.  Wollte  man  anders  urtheilen,  so  müsste  man  nicht  nur  das 
18.  und  19.  Jahrhundert  als  die  Zeit  des  Abfalls  der  Kirche  von  der 
Reformation  auflassen,  sondern  auch  das  Christenthum  Luther's  aus- 
streichen ;  denn  dieses  lässt  sich  nicht  in  die  Schultheologie  der  Symbole 
zwingen.  xVlso  ist  nur  die  doppelte  Möglichkeit  gegeben,  entweder  die 
Doginengeschichte  mit  der  Reformation  Luther's  zu  schliessen  oder  ihr 
als  zweiten  Tlieil  die  Geschichte  der  protestantischen  Theologie  bis  zur 
Gegenwart  beizugesellen.  Aber  dieser  ungeheure  Anhang  wäre  etwas 
ganz  Anderes  als  Dogmengeschichte,  weil  es  sich  in  ihm  zwar  Anfangs 
um  etwas  dem  alten  Dogma  höchst  Aehnliches  zu  handeln  den  Anschein 
hätte,  während  sich  im  Portgang  zeigen  würde,  dass  es  sich  vielmehr 
um  das  Verständniss  des  Evangeliums  wider  das  Dogma  handelt.  Es 
würde  sich  zeigen ,  dass  auch  der  Pietismus  und  Rationalismus  einen 
nicht  zu  missenden  Antheil  an  der  Entwickelung  dieses  Verständnisses 
gehabt  haben,  dass  dasselbe  durch  Schleiermacher  aufs  kräftigste  ge- 
fördert worden  und  sogar  innerhalb  der  pietistisch-confessionellen  Re- 
action  des  19.  Jahrhunderts  in  mancher  Hinsicht  gewachsen  ist.  Es 
würde  sich  endlich  zeigen,  dass  der  geschmähteste  Theologe  des  Zeit- 
alters, Ritschi,  in  seiner  Beschreibung  des  Evangeliums  in  kräftiger 
Weise  —  wenn  auch  in  den  Schranken,  die  jeder  Individualität  anhaften 
—  den  Ertrag  der  zweihundertjährigen  Arbeit  der  evangelischen  Theo- 


*  Müller,  a.  a.  0.:  „Die  Kirche  der  Reformation  will  nach  dem  Zeugniss  ihrer 
eigenen  Väter  zunächst  nur  eine  religiöse  Grösse  sein,  nicht  eine  rechtliche.  Als 
religiöse  aber  kann  sie  ihre  Einheit  nicht  in  äusseren  Einrichtungen  rechtlichen 
Charakters  verbürgt  finden,  sondern  nur  in  dem  eigenthümlichen  religiösen  Besitz, 
der  ihren  Ursprung  begründet  und  ihr  ein  für  allemal  die  Richtung  gewiesen  hat. 
Das  aber  kann  niemals  von  einzelnen  Schriften  gelten,  so  hoch  sie  auch  in  der 
Achtung  der  Gläubigen  stehen  mögen.  Das  gilt  auf  dem  Boden  der  Reformation 
lediglich  von  der  durch  jene  und  zahlreiche  andere  Schriften  bezeugten  Auffassung 
des  Christenthums,  dem  Evangelium.  Dieses  aber  hat  vor  Allem  durch  Melanch- 
thon's  Eiufluss  sein  ursprünglich  praktisch-religiöses  Gepräge  verloren  und  ist  mit 
den  Mitteln  einer  religiös  überwundenen  Zeit  zum  Gegenstand  theologisch-philo- 
sophischen Erkennens  gemacht,  auseinandergerissen  und  theilweise  entstellt  worden. 
Die  Zeit  der  Epigonen  wiederum  hat,  nicht  ohne  Schuld  Melanchthon's  selbst,  diese 
Stufe  rasch  abgeschlossen  und  in  einem  Entwickeluugsgang,  der  sich  in  der  Ge- 
schichte des  Christenthums  immer  wiederholt,  die  Ergebnisse  jener  theologischen 
Thätigkeit  als  Glaubensgesetz  der  Kirche  der  Reformation  auferlegt,"  Aber  diese 
Kirche  unterscheidet  sich  von  der  katholischen  Kirche  dadurch,  dass  sie  die  Fähig- 
keit und  die  Mittel  besitzt,  das  auferlegte  Gesetz  wieder  abzuwerfen. 


Schlussbetrachtung.  763 

logie  an  dem  Verstänclniss  der  Reformation  und  die  Ergebnisse  der 
Kritik  am  doctrinären  Luthertlium  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 


Das  Evangelium  ist  in  die  Welt  eingetreten  nicht  als  eine  Lehre, 
sondern  als  eine  frohe  Botschaft  und  als  eine  Kraft  des  Geistes  Gottes, 
ursprünglich  in  den  Formen  des  Judenthums.  Es  hat  diese  erstaun- 
lich schnell  abgestreift  und  hat  sich  verbunden  und  verschmolzen  mit 
der  griechischen  Wissenschaft,  dem  römischen  Keich  und  der  antiken 
Kultur,  als  Gegengewicht  dazu  die  Weltflucht  und  das  Streben  nach 
dem  übernatürlichen  Leben,  nach  der  Vergottung,  ausbildend.  Alles 
dies  war  in  dem  alten  Dogma  und  in  dem  dogmatischen  Christenthum 
zusammengefasst.  Augustin  hat  dies  dogmatische  Gefüge  in  seinem 
Werthe  herabgesetzt,  es  einer  reineren  und  lebendigeren  Erfassung  der 
Rehgion  dienstbar  gemacht,  aber  in  seinen  Grundlagen  und  in  seinem 
Ziele  schliesslich  doch  bestehen  lassen.  Nach  seiner  Anleitung  hat  im 
Mittelalter  seit  dem  IL  Jahrhundert  eine  erstaunliche  Arbeit  begonnen : 
die  Rückschritte  sind  vielfach  nur  scheinbar  oder  werden  doch  aufge- 
wogen durch  grosse  Fortschritte.  Aber  ein  befriedigendes  Ziel  wird 
nicht  erreicht:  neben  dem  Dogma  und  zum  Theil  wider  dasselbe  steht 
eine  praktische  Frömmigkeit  und  eine  religiöse  Selbstbeurtheilung,  die 
vorwärts  und  rückwärts  —  zum  Evangelium  —  zugleich  weist,  aber 
immer  mehr  in  Unruhe  und  Ermattung  unterzugehen  droht.  Ein  un- 
heimlich mächtiges  Kirchenthum  ist  auf  dem  Plan,  welches  die  Gleich- 
giltigen  und  Stumpfen  längst  schon  besitzt  und  über  die  Mittel  verfügt, 
um  die  Unruhigen  zu  beschwichtigen  und  die  Ermatteten  einzusammeln. 
Das  Dogma  erscheint  erstarrt  —  elastisch  nur  in  der  Hand  pohtischer 
Priester  —  und  in  Sophisterei  verwildert  ^  der  Glaube  flüchtet  sich  aus 
demselben  und  überlässt  das  alte  Gefüge  den  Hütern  der  Kirche.  Da 
erschien  Luther,  um  die  „Lehre"  wieder  aufzurichten,  zu  der  Niemand 
mehr  ein  inneres  Zutrauen  hatte.  Die  Lehre  aber,  die  er  wieder  auf- 
richtete, war  das  Evangelium  als  eine  frohe  Botschaft  und  als  eine 
Kraft  Gottes.  Dass  sie  das  sei,  erhob  er  auch  zum  obersten,  ja  zum 
einzigen  Grundsatz  der  Theologie.  Das  Evangelium  ist  aus  der  hl. 
Schrift  zu  ermitteln;  die  Kraft  Gottes  kann  man  nicht  construiren,  son- 
dern muss  sie  erfahren;  den  Glauben  an  Gott  als  den  Vater  Jesu 
Christi,  der  dieser  Kraft  entspricht,  kann  man  nicht  durch  die  Ver- 
nunft oder  die  Autorität  hervorlockcn,  sondern  muss  ihn  erleben :  Alles, 
was  nicht  aus  dem  Glauben  geboren  ist,  ist  der  christlichen  Religion  und 
desshalb  auch  der  christlichen  Theologie  fremd,  alle  Philosophie  sowohl 
wie  alle  Askese.  Matth.  11,  27  ist  das  Fundament  des  Glaubens  und 
der  Theologie.  Indem  Luther  diese  Gedanken  geltend  machte,  zerschlug 


764 


Die  Ausgänge  des  Dogmas  im  Protestantismus. 


er,  der  conservativste  Mann,  die  alte  Kirclie  und  setzte  der  Dogmen- 
geschiehte  ein  Ziel.  8ie  hat  ihr  Ziel  an  der  Rückkehr  zum  Evangelium 
erhalten.  Nicht  ein  Fertiges  hat  er  damit  der  Christenheit  übergeben 
sondern  eine  Aufgabe,  aus  manchen  Hüllen  zu  entwickeln,  in  stetigem 
Zusammenhang  mit  dem  gesammten  Leben  des  Geistes  und  mit  der 
socialen  Lage  der  Menschheit  zu  behandeln,  aber  nur  im  Glauben  selbst 
zu  lösen.  Fortschreitend  muss  die  Christenheit  lernen,  dass  auch  in 
der  Religion  das  Einfachste  das  Schwerste  ist,  und  dass  Alles,  was  die 
Religion  belastet,  ihren  Ernst  abstumpft.  Darum  kann  das  Ziel  aller 
christlichen  Arbeit,  auch  aller  theologischen,  nur  das  sein,  immer 
sicherer  die  Schlichtheit  und  den  Ernst  des  Evangeliums  zu  erkennen, 
um  in  der  Gesinnung  immer  reiner  und  lebendiger,  in  der  That 
immer  liebevoller  und  brüderlicher  zu  werden. 


Sachregister 

zum 
I.,  II.  und  III.  Band. 


Aachen,  Synode  III,  258 
271. 

Abälard  23  m,  113  317 
321  ff.  326  ff.  339  358  f. 
421 447  45 1453  463  f.  527. 

Abendländische  Christolo- 
ofie  und  Versöhnunors- 
lehre  II,  77,  s.  auch  „Je- 
sus" „Tod  Christi"  „Ter- 
tullian",  „Leol."  etc.  III, 
341—358. 

Abendländisches  Christen- 
thum  in,  3  ff.  12  ff. 

Abendmahl  55  59  f.  136  138 
174  f.  178  ff.  189  225  264 
289  301  386  f.  390  ff.  396 
bis  400,  s.  Mysterien  u.  II, 
421  f.  426— 441 453  ff.  m, 
42  141  ff.  189  238  240  ff. 
260  275—287  333—341 
433  462  475  488—498 
597-600  680  722  743747 
753—759. 

Abercius  285  404  406. 

Aberglauben  720  722  u. 
sonst. 

Abgar  135. 

Ablässe  in,  292  f.  413  504  f. 
511  ff.  574  603  f. 

Abraham  538  628. 

Abschroibefohler  II,  113. 

Absolution,  s.  Busse. 

Acceptanten  III,  638. 

A  cceptatio  III,  459  f.  554  ff. 

Adam  262  264  268  500  f. 
504  fr.  515  518  520  522 
698  ir.  74  3  f.  II,  137  f.  146  f. 
171  25r,  289  304  315(1'. 
329  331  336  TU,  44  f.  53 

'  177  f.  193  ff.  208  221  f. 
544  f.  548  ff.  607  672  71 3  f. 

Adamantius  (Pseudo-Ori- 
genes,  s.  dort)  226  ff.  483 
521  696. 

Adelmann  von  Brixen  III, 
339. 


Adiaphoriten  II,  390. 

Adoptianer  und  -ismus  104 
160 — 65  passim. ;  167 
615ff.  621  ff.  (röm.)  648 
653  658  664  667  704  II, 
14  183  f.  187  199  217  f. 
242  410  m,  48  f.  248  ff. 
305  333  451  f.  664  667  689. 

Adoptianische  Christolo- 
o-ie,  alte  70  f.  91 154  f.  160 
bis  168  263  f.  515  f.  597 
608  615 — 648  passim. 

Ad  sanctam  Petri  sedem, 
Bulle  in,  635  f. 

Aedesius  732. 

Aegidius  III,  436. 

Aegypterevangelium92 166 
216  307  402  679. 

Aegyptische  Gemeinden 
131  248  305  366  402  529f. 

Aemter  Christi,  drei  III, 
677  ff. 

Aeneas  von  Paris  III,  274. 

Aeonen,  cf.  Gnostiker  §  6 
S.  188  208  219  f.  228  480 
490  497  61 1659  665  742  f. 

II,  123  126  f.  444. 
Aequiprobabilismus      III, 

644  646. 
Aerius  II,  69. 
Aeschines  (Montanist)  650. 
Ao:tiusII,118186f.l95  219 

245  247  f.  250  f.  428  464 

III,  154. 

Aötius  V.  Lydda  II,  184. 
Aftermystik  111,  640. 
Afrikanische  Kirche,  s.  Car- 

thago. 
Agapen  396. 
Agapetll,  393. 
Agutlio686  11,  31  39  408  ff. 
Agelius  II,  273. 
a-^v^-ri^zrjr    n.    f/.'(irrr^xfjc    II, 

192  f. 
Agnoöten  II,  389f.  402  III, 

259. 


Agobard  III,  246, 261  273  f. 
Agricola  III,  571  750. 
Akacius  von  Antiochien  II, 

236  246  f.  250  f.  261. 
Akacius  v.  Konstantinopel 

II,  379  ff: 
Akephaler  II,  387. 
Akoimeten  II,  382. 
Aktisketen  II,  390. 
Alarich  III,  158. 
Albertus  Magnus  III,  313 

374  449  454  470  481  488 

497  514  548. 
Albingcnser  III,  370  408. 
Alcuin  in,  245  f.  253f.  257ff. 

270  ff.  272  f.  277  451  574 

731. 
Alexander  II.,  Papst  III, 

307  309. 
Alexander  III.,  Papst  III, 

307  311  401  451  464. 
Alexander  VII.,  Papst  III, 

548  f.  635  f.  643  f. 
Alexander  VIIL,  Papst  III, 

620  644  646. 
AlexanderHalesius  III,  454 

477  478  480  f.  492  499 

502  f.  505  507  514  f. 
Alexander  von  Aclia  550. 
Alexander  v.  Abonoteichos 

202. 
Alexander  von  Alexandrien 

470  645  689  704  707  II, 

50  72  188  ff.  192  f.  200  ff. 

207  210  225  229  303  450. 
Alexander  von  Jerusalem 

386  549. 
Alexander  von  Konstanti- 
nopel 707  II,  190  235. 
Alexander  Severus  412. 
A  h^xander  (Valentinianei-), 

204  509  706. 
AlexaTidrien,     Patriarcliat 

11,  99  100  102  ff.  341  f. 

348  ff.  358  362  364  f.  376 

377  379  ff.  473. 


7fi6 


Sachropister. 


Alexaiulrien,  Synoden  TI, 
189  254  tr.  259  280  284 
319  344. 

AU'xumlrincu",  claistlicho 
HO  213  258  281  iV.  287 
299  iV.  319  f.  322  332  f. 
401  f.  410  485  512  517 
529  f.  549  ()09  <)27  «45  «85 

II,  34  78  84  90  121  144 
1«2  1«9  302  33311".  3«2 
und  das  9.  Cai)itel  397 
401f.  423ir.  in,  72. 

Alexandriuische  Katcche- 

tensdiule   547—59    «87 

691  706. 
Alexandrinisnuis,  jüdischer 

50ir.91  93  tr.  107128  130 

187  f.  418. 
Aloer  von  Lüttich  III,  339. 
Alkibiades,  Confessor  366. 
Alkibiades,    Elkesait   261 

267. 
Alle^oristik    86  f.     187  ff. 

217  f.  227  309  325  f.  483  ff. 

529  f.  721  II,  75  f. 
Allffeoenwart  (iottcs  577  u, 

passim. 
Allmacht  Gottes  577  710  u. 

passim. 
Allwissenheit  Gottes  710  u. 

passim. 
Almosen    388  f.    III,    189 

206  291  510  f.  546. 
Aloger  164  307  359  365  402 

529  549  612  616  ff.  656. 
Altar  II,  450. 
Altercatio    (Jasonis)     159 

162  f. 
Altersbeweis,    s.    Weissa- 

gungsbeweis. 
Alterthum ,     Begriff    des 

kirchlichen  II,  96. 
Altes  Testament  39 f.  70  f. 

76  f.  86f.  93f.  100  129  f. 

132  136  140  143  145  bis 

149  154  157  166  f.  169 

187ff.  191ff.205ff.  209f. 

215  218f.223  228ff.241f. 

244  f.   248  ff.   252  259  f. 

262  268  30O  304  ff.  321  f. 

332  385  413—64  passim. 

464f.  531  ff.  554  574  627 

III,  291;  s.  auch  Schrift, 
heilige. 

Altes  Testament,  deutero- 

kanonische  Theile  95 1 75, 
Altes  Testament,  Versuche 

eines  christlichen  100  f. 

327. 
Alttestamentliche      Sacra- 

mente  III,  470. 


Alvar  III,  261. 

Alvarus  Pelagius  ITI,  398. 

Al^'pius  632  HI,  48. 

Amalrich  v.  Bena  111,  407 
444. 

Amandus,  Biscliof,  II,  40«. 

And)rosiaster  «73111,  44ff, 

Andjrosius  199  375  4«9 
525  «73  II,  10  12  321.  «7 
79  100  122  13«  138  174 
178  ff.  2«3  2ö9  f.  272  274 
297  308  342  f.  359  390 
448  451  III,  25—30  43 
bis  46  48  f.  51  171  211 
252  284  355. 

Amelius  727  730. 

Ammonius  Sakkas  108  681 
727  733. 

AmoloIII,  265f. 

Anacletll.,  Papst,  ITI,  407. 

A  nastasius,  Kaiser,II,  38()  f. 

Anastasius,  Papst  II,  473. 

Anastasius,  Prcsb.  II,  339. 

Anastasius  Sinaita  699  II, 
133  400  438. 

Anatolius  von  Konstantino- 
pel II,  364  367  f.  369  f. 
377  f. 

Anaxagoras  ITT,  172. 

Anaximander  ITT,  172. 

Anaximcnes  III,  172. 

Ancyra ,  Synode  379  II, 
247  f.  260  f. 

Angelsachsen  III,  245  247 
290  386. 

Anicet  409. 

Anomöer245ff.  248  ff. 

Anselm  II,  164178111,317 
321  324f.  330  333  339  341 
bis  358  384  422  425  443  f. 
446  f.  450  f.  453  ff.  460 
527  547  548  f.  551  558. 

Anselm  v.  Lucca  III,  309 
392. 

Anthimus  vonKonstantino- 
pel  II,  393. 

Anthropologie  IT,  129  ff. 

Anthropomorphismus  487 
576  II,  76  f.  122  204 
471  ff. 

Antichrist  140  527  f.  II,  66 
200  III,  235. 

AntignostischeLehre  534  ff. 
627. 

Antilegomena  321  324  IT, 
74. 

Antinomismus  224  f. 

Antiochenische  Schule  und 
Theologie  IT,  29  34  f.  36 
65  69  76  ff.  82  f.  84  90 
125  138  151  ff.  165  169  f. 


181  184  ff.  224  312  320 
325  ff.    342  f.  34«  f.  369 

376  385  394  ff.  397  f.  401  f. 
423  f.  475  f.  478  111,  24. 

A  ntiochenische  Synd)()lell, 
228  236  f.  239  241  ff.  248 
278. 

Antiochcnisches  Schisma 
IT,  101  255  260  262. 

Antiochien,  (lemeindo  und 
Patriarchat  319  381  402 
412  637  11,99  103  f.  349 

377  474  f. 
Antiochien ,     Schule     627 

646. 
Antiochien,   Synoden   687 

II,  93  98  106  183  186 
228f.  234  23«ff.  241  247 
25«  2«1  ff.  284  319  III, 
169. 

Antithesen  230  243. 

Antitrinitarier  der  Refor- 
mationszeit III,  573  653 
bis  668  669  ff.  698. 

Antonius,  Mönch,  IT,  8  24 
449  ITT,  234. 

Apelles217f.  219  f.  221223 
227  ff.  350  483. 

Aphraates  131  287  303  f. 
647  696  IT,  231. 

Aphtharkodoketismus  222 
IT,  337  388  f.  394  400  429 
438. 

Apokalypse  Johannis  72 
87  f.  91  138  148  163  251 
312  355f.  365  525ff.  529 
618  672  697  704  IT,  65 
72f.  75ITT,  137  f.  582. 

Apokalypse  Petri  87  139. 

Apokalypsen  87  f.  100  129 
132  139  f.  144  f.  150  203 
304f.  318  f.  327  527  530. 

Apokalyptische  Hoffnun- 
gen 68  87  f.  139  ff.  187  f. 

III,  387,  s.  auch  Chilias- 
mus  u.  Propheten. 

Apokatastasis  506  II,  65  67 

165  IIT,  661  663. 
Apokryphe   Apostelgesch. 

136    164    203    215    263 

267  ff.  313  342. 
Apokryphe  Evangelien  133 

164  203. 
Apokryphen  II,  75  441 III, 

593. 
Apollinaris    v.    Hierapolis 

315  IT,  96. 
Apollinaris  von    Laodicea 

«33  TT,  20  28  33  4«  t)2  «5 

79  9«  1«9  173  21«  232 

255  259  2«2  285  289  f. 


Sachregister. 


767 


308  310  312—324  u.  im 
9.  Cap.  häufig  411  414 
429  467  471  482  III,  85. 

ApoUinaristen  II,  64  97 
312  319  f.  333  338  392 
III,  115. 

Apollonius  V.  Tyana  104. 

Apologeten  110  110  141 
146  150  156  158  277  ff. 
280  f.  284  298  379  413 
bis  464  464  ff.  476  f.  494 
498  504  518  610  II,  14 
27  53  83  88  140  164  208 
221  237  287. 

Apostel  86  120  123  132  bis 
137  154182f.215f.237f. 
242  288  f  293—303  304 
bis  328  ß.  339  ff.  345  ff. 
357  f.  362  366  394  574  f 
609. 

Apostelgeschichte  52  134 
251  f.  269  307  312  ff.  609. 

Apostellegenden  11,  88  f 
443. 

Apostelstühle  II,  95  97  ff. 

Apostelwort  132  314  327. 

Apostoliker  III,  300. 

Apostol.  Constit.  156  249 
288  304  320  332  384  f. 
391  393  402  f.  533  II,  9 
88  f.  91  112  128  138  141 
259  276  423  f.  434. 

Apostol.  Glaubensregel,  s. 
Glaubensregel. 

Apostol.  Kanones  II,  6  88 f. 

Apostol.  Kirchenordnung 
92  156  391. 

Apostol.  Leben  III,  365  f 

Ay)Ostol.  Schriften,  s.  Neues 
Testament. 

Apostol.  Succession  184 
273  f.  288  328— 49  402  f 
Jl,  91  ff.  107  109  III, 
135. 

A^jostol.  Symbol,  s.  Römi- 
sches Symbol  u.  II,  87 
300  III,  23  47  f  218  438 
571. 

Apostol  .Trad  ition ,  s.  Trad  i- 
tion  und  I F,  3  5  f  27  72 

84  ff.  88  rr. 

Apostol.  Väter,  bes.  Ihich 
1,0.  1-3  278  f.  354  419. 

Apostol.  Zfätalter  66  f.  617 
II,  91  f.  113. 

Appellant(!n  III,  638. 

Apf)ulejus  177. 

Acjuaviva  III,  633. 

Afjuileja,  Stuhl  von  II,  399. 

Aquilfja,  Symbol  II,  66. 

Aquileja,  Synode  II,  263. 


Araber  II,  52  454  III, 
251  ff. 

Arabien,  Christen  249. 

Archelaus -Akten  161  163 
287  647  696  740  ff. 

Arethas  471. 

Arianer  613  646  681 II,  28 
33  76f  97  114  118  148 
184—224  225  ft;  232  f. 
238  ff.  245  ff.  264  269  271 
bis  274  278  f.  286  292 
298  f.  310  312  f.  321449 
451  464  f.  III,  85  667  673 
689. 

Aristides87  134f.  173  420 
454  498  511  II,  450. 

Aristo  v.Pella  254  f  257. 

Aristoteles  201  205  439  643 
652f.719ff.  72711,30  37 
40  52  61  115  f.  118  123 

153  156  170  186  f.  223 
245  259  285  289  f  294 
312  315  319  325—333 
383  f.  386  391  411  f.  435 
439  461  464f.  470  476  ff. 
481  III,  8  10  30  f.  95  f 

154  172  318  ff.  322  324  f. 
328f.  403  420  ff.  429  431 
435  f.  444  446  473  531  f 
542  f.  555  566  573  656 
694. 

Arius,    Arianismus     645  f. 

689  f.  II,   22  f.    118    162 

184  ff.    188—224   225  ff. 

230f.234f.  258278  309  ff. 

318  340  III,  251. 
Arles,  Synoden  379  410  IT, 

92  94  244  III,  35  f.  226 

252. 
Arme ,     Bezeichnung    der 

Christen  255. 
Armenier  II,  113. 
Armenunterstützung  174  f. 

178  f. 
Arminianer  III,  654  690. 
Armuth ,     franciskanische 

III,  364ff.  371f. 
Amauld  III,  643. 
A  rnobius  287  427  653  670  if. 

II,  116  III,  19. 
Arnobius  der  Jüngere  III, 

227. 
Arnold,  Gottfried  25  IIT, 

659. 
Arsinoe  530. 
Artemas  621  630  f.  II,  201 

331. 
Artemoniten  161   631  658. 
Articuli  mixti  III,  423. 
Ascf'nsio.Iesaiaf'87  131  135 

155  173. 


Asclepiodotus  624  f.  733. 

Asiatische  Kirchen  III,  42, 

Asiatische  Religionen  192. 

Askese  60  98  102  122  f.  143 
175  184  194ff.  200f.  208 
214  224  f.  234  f  236  f. 
357  f.  378  387  703  735 
738  744ff.,s.Mönchthum 
III,  297  ff. 

Askusnages  II,  290. 

Associationswesen,  griech.- 
röm.  105. 

Assumptio  Mosis  87  89 
139. 

Asterius  II,  184  200  232 
237. 

Astrologie  193  f. 

Asturier  III,  252. 

Athanasianum  II,  298  ff. 
318  III,  270  695. 

Athanasius  157  309  470  583 
610  643  666  674  f.  678 
680  682  684  ff.  689  704 
709  718  II,  21—28  31 
41  f.  43  f  46  f.  52  f.  60 
63  f.  70  f.  75  77  83  93  96 
97  f.  106  116  ff.  125  128 
131146— 149 158  ff.  167  f. 
170  f  172  f.  175  192  ff. 
204— 272  279  ff.  283  286  f 
292  298ff.  302  309ff.  312 
327  333  f.  346  348  f.  359 
375  416  422  431  433  450 
464  ff.  481  f.  III,  5  342 
355  695  702. 

Athanasius,  arianischer  Bi- 
schof II,  184  197. 

Athen  732,  s.  Hellenismus. 
Schule  V.  Athen  II,  36  ff. 
397. 

Athenagoras  167  278  413 
bis  464  427  ff.  726. 

Atomtheorie  687. 

Atticus  III,  170. 

Attritio  III,  482  502  ff. 
511ff.  554  601614  643ff. 

Auferstehung  Christi  60 
73 ff.  137  169ff.  623  671 
690  715. 

Auferstehung  des  Fleisches 
(s.  auch  [ewiges]  Leben) 
74  f.  131  140  f.  151  f.  223 
232  292  397  408  428  451  f 
531  572  60U".  718  731 
735  11,  44  f.  62  65  129  ff. 
143. 

Augustana  ITT,  477  483  571 
583  r.  589  695  708  75 1761. 

Augustin  7rr.  116  128  219 
308  343  353  389  393  502 
572  ()32f.   674  680  724 


768 


Saclirogistpr. 


733  7:J5f.  741  f.  74«  750 
11,7  9t'.  laült*.  3:M7r)4 
♦;2  tUit".  71  741*.  7*)  HO  IV. 
«4  88  91  93  f.  98  r.  100 
104  1051"  llHtr.  119— 22 
125  132—137  1441".  152 
174  178iV.  291  294—300 
308  3421".  344  310  300 
421  427  447  11.111,  3  bis 
2 1 5  21 0—244  244tV.248ir. 
20  ItV.  27 1273  2771V.  28311'. 
293  300  301 IV.  305  309  31 2 
319  3221.  333  337  f.  3411". 
345  355  357  376  378  382 

393  401  f.  405  IV.  424  iV. 
434  iV.  439  ir.  443  f.  447 
450f.454  401  4621V.  (vgl. 
die  ganze  Sacrameuts- 
lehrc)  524—562  565  1'. 
5691'.  574  576f.  5901'.  605tV. 
628-640  646  672  701  f. 
722  731 1".  760. 

Auoustin,    Missionar    III, 

243. 
AujL»ustinorEremitonschule 

in,  436. 

Au^ustinisnius,  Kritik  des 

in,  196  f. 

Auoustinus  Triumplius  IJI, 

394  398. 

Aurelian,  Kaiser  412  637. 
Aurelius  von  Karthago  III, 

158. 
xAutoritätu.Yernunfti.MA. 

III,  15  f.  70 ff.  171  ff.  246 

321  ff.  422ff.4291".433  530f. 
Autoritäten    (in  d.  ersten 

beiden   Jahrh.)    86    119 

129—37. 
Auxentius  II,  249  262. 
Averrlioes  11 1,  420  444. 
Avicenna  III,  420. 
Avignon,  Schisma  III,  388. 
Avitus  V.  Vienne  III,  230. 

Babylonische    Mytliologie 

206  f.  209. 
Eajus  III,  628  ff.  634. 
Bafiez  III,  632. 
Bardesanes  u.  -saniten  191 

197  204  549  706  741  II, 

183. 
Barnabasl)rief  87   92    100 

121  125ff.  130— 73  17411'. 

188  192  253  f.  3041'.  312 

321  323  5311".  716. 
Bartholomäus   de   Medina 

III,  642  ff. 
Baruchapokalypse  88  139. 
Basel,  Concil  III,  308  3991'. 

411  561. 


Basilidea  u.  Sehule  161  197 
200  ff.    204    2111V.    2151'. 
2191V.  225  598  706  72()1". 
748  II,  117  III,  382. 
BasiliskuB  II,  379. 
Biisiliiisd.  (Jr.  ()13  676  680 
684  693  II,  15  63  90  102 
169    25511".    2591'.    26111'. 
272  278   2811'.  284  319 
321  433  461  111,28. 
Basilius  von  Aneyra  1 1,  216 
2481'.  2531".  256  269  284 
289. 
Bauer,  Bruno  48. 
Baumgarten-  Crusius  30. 
Baur,  V.  Cln-.  32  46  682. 
Bautain  III,  ()47. 
Beatus  III,  253  256  f.  260. 
Beda  III.  244  247  258  277. 
rieghardenIII,373. 
Beichte,  s.  Busse. 
Bekenntniss,  Anlange  dess. 
69  12911'.  275  f.  288—303 
314  605. 
Bellarmin  24  III,  308  625 

628  632. 
Belletristik,  christliclie  203 

II,  444. 
Benedict  XIII.,  Papst  III, 

638. 
Benedict  XIV.,  Papst  III, 

511  638  f. 
Benedict  von  Aniane  III, 

258. 
Benedictionen  III,  604. 
Berengar   III,    320  f.    323 

333  ff.  494. 
Bernhard  III,  9  213  301  ff. 
317  321  360f.  378ff.  461 
463  f.  467  527  559  561  f. 
575  702  731. 
Bernhard  Primus  III,  370. 
Beröa  256. 
Berufung  144. 
Beryll  v.  Bosta  634 ff. 
Berytus,   Synode   von  11, 

363. 
Beschneidung  93  148  f  255 
262f.   268   II,   422  III, 
470. 
Bettelorden    III ,     364  ff. 
386f.  397  4021.414  420  f. 
Bibelübersetzung  III,  413. 
Bibelverbot  III,'  462. 
Bibliothek,  theol.  550. 
Biel,  Gabriel  III,  434  4611. 

467  469  484. 
Bilderdienst   II,   42  f.  415 
417  f.  420  441   4^16  452 
bis  462  481  III,  252  261 
271  fV.  275  413  561  603. 


Bildersturm  u.  -streit  42 f. 
3521'.  405  4101'.  450  452 
bis  462  111,  2711V.  275. 
Bischöfe  178  182  ff.  205  214 
226  276  288  328—33  339 
344     50     363  f.     368  ff. 
3711V.  378  ff.  3841'.  4021'. 
409  II,  911'.  112f.  4231. 
111,  351".  487  f.  509  520 
521  f.  546  ()02  617  IT.  649  f. 
()88. 
Bischofslisten  331  402. 
Bithynien,  Synode  von  11, 

190. 
Blandratalll,  665f. 
Böhme  III,  662. 
Böhmen,  s.  Tschechen. 
B<)se  u.  Gut,  das  Problem 
des   570  f.   588   742   II, 
129  f.  III,  10411'. 
ßoethius  734  III,  30  f.  218 

319  3231'. 
Bogomilen  751  II,  69  III, 

300. 
Bologna  III,  311. 
Bonald  III,  621. 
Bonaventura  III,  374  380 
385  429  449  468  470  480 
491  ff.  503  505  507  523  f. 
548  ff.  552  559. 
Bonifatius,    Apostel     III, 

247  310. 
Bonifatius   I.,    Papst   III, 

168. 
Bonifatius  II.,   Papst   III, 

230  232. 
Bonifatius  VIII.,  Papst  III, 

395  f.  401. 
Bonizo  III,  309. 
Bonosus  II,  451  III,  252. 
Borromeo  III,  616. 
Bossuet  III,  61 9  f.  640. 
Bradwardina  III,  436  f,  550 

553  f.  556. 
Bräutigam  u.  Braut  525  II, 
11  f.^  III,  9  25  29  303  ff. 
Brüder  vom  gemeinsamen 

Leben  III,  377. 
Brüder  v.  neuen  u.  freien 

Geist  III,  408. 
Brenz  III,  756. 
Buchstabe  der,  hl.  Schrift 

II,  76  f.  443  744  f. 
Buddhisnuis  63  587  744  748. 
Bulgarei,  Bulgaren  III,  300 

408. 
Bund  Gottes  535  ff. 
Busse     inul     Eutsühnung, 

griech.  102  f. 
Busse,    Bussdiscipliu    und 
Busssacrament   54    561". 


Sachregister. 


769 


122  170f.  367—78  392f. 

672   II,   177  f.  III,    33  f. 

37  146  206  f.  236  f.  240  f. 

283  287—295  340  ff.  379 

349  407  464  480  484  498 

bis  519  600ff.  614  640 ff. 

723  747  749. 
Bussprediger  III,  386  f. 
Butzer  III,  758. 

Cäcilian  III,  35. 
Cälestin,    Papst    II,    102 

340ff.  III,  169  224. 
Caelestius  u.    Caelestianer 

in,  154f.  158  ff.  161  bis 

183  228. 
Cäsarea,  Symbol  11,  226  f. 

239,  Synode  II,  234. 
Caesarius    v.     Arles    III, 

230  ff. 
Cajetanlll,  399f.  516  553. 
Cajus  409  529. 
Calixt331f.  337  f.  345  349 

354  368  ff.  372  374  403 

409  f.  654  ff.   663  ff.  667 

679  685  II,  297  III,  36 

52  132. 
Calixt  V.  Helmstädt  26  III, 

692. 
Calvin  III,  147 196  287  574 

654  f.  659  665  f.  669  685 

698  756  760. 
Campanus  III,  663. 
Capreolus,  Bischof  11,  345. 
CapreoluSjScholastiker  III, 

430. 
Capua,  Synode  III,  253. 
Carthago  287  300  329  337 

345  ff.  360  ff.  363  380  402 

408  f.  III,  34  Synoden  II, 

7174  450111,  158  163  ff. 
Cassian    III,    154    220  ff. 

226  ff". 
Cassiodorius  11,  32  72  III, 

27  218. 
Casuistik  III,  421  431  f.  435 

551  ff'. 
Catechismus   v.  Rakau,  s. 

Rakauer  Cat. 
Catechismus  Luther's  III, 

391. 
Catechismus  Romanus  III, 

596  618  628. 
Causalität  Gottes  576  und 

sonst. 
Celsus  105   107  122  f.  150 

159    162  f.    165    173    190 
198  202  222  232  240  255 

259  336  41 9  f.  422  560  f. 

566 — 604     passim.     609 

620  11,  468. 


Cerdo209f.  212  227ff. 

Ceremonien  (s.  Gesetz) 
173ff.  248f.  250f.  414  f. 

Cerinth  139  208  f.  259  f. 
616ff. 

Chalcedonensische  Formel 
511  f.  Synode  u.  Symbol 
II,  34  f.  86  94  99—101 
337  352  353  f.  364  f.  367 
bis  378  378— 401402406 
407f.  410  477  482  III,  743. 

Chaldäismus  738. 

Charakter  indelebilis  III, 
142  f.  471  f.  522  596. 

Charisius  II,  284. 

Charisma  (s.  Propheten  u. 
§  3  5  S.  123  182  365f. 
466  619  680). 

Chateaubriand  III,  621. 

Chemnitz,  Martin  III,  306 
625. 

Cherubim  II,  443. 

Chiersey,  Synoden  III,  264 
267  f.  292  342. 

Chiliasmus  139  ff.  248  f.  292 
365f.  525ff.  612  635  671 
687  704  II,  65  f.  317  467 
471  III,  214. 

Chrisma,  s.  Confirmation. 

Christen,  ausserh.  d.  Gem. 
126. 

Christenheit ,  zwei  geogr. 
Hälften  400. 

Christenthum  64  ff.  125 
552  ff.  563  593  692  699 
734  747  f.  u.  sonst. 

Christenthum  zweiter  Ord- 
nung II,  7  f.  13  f.  441  ff. 

Christine  v.  Schweden  III, 
692. 

Christologieen  (Anfänge 
der)66ff.  69ff.  81f.  87  fr. 
112  114  130f.  153—73 
208  214  f.  220  ff.  231  f. 
235  f.  262  264  357  422  ff. 
454  ff'.  469  598  632  633 
l>is  648  664  670  f.  679 
s.  Jesus. 

Christologieen,  philos.  604 
bis  610fr.  674—709,  s. 
Jesus. 

Christus  154  f,  s.  Jesus. 

Chronik,  Bücher  der  II,  70. 

Chrysantius  732. 

Chrysaphius  II,  356. 

(Jhrysostomus  137  II,  11 
34  50  60  73  76  78  82  90 
91  98  102  Ulf.  153  170 
176  326  340  360  423 
436n'.473f.475f481111, 
171. 


Harnack,  Doj^Mi^HSchicIitf;  [ll. 


Cicero  441  III,  20  44  156 
172. 

Cilicische  Synode  III,  169. 

Claudius  von  Turin  III,  273. 

Clemange  III,  412. 

ClemensVI.,  Papst  III,  516. 

Clemens  IX.,  Papst  III, 
636. 

Clemens  XI.,  Papst  III, 
636  ff. 

Clemens  v.  Alex.  116  132 
135  f.  155  164  174  191 
197  200  ff.  220  224  228 
248  250  281  f.  299—303 
306  308  315  320—324 
332  ff.  336  f.  340  ff.  343 
384  386  394  f.  398  402 
470  476  547—59  564  ff. 
576  578  f.  582—604  650 
679  693  752  II,  56  67 
89  97  112  127  f.  142  144 
161  f.  171  282  332  388 
418  423. 

Clemens  u.  erster  Clemens- 
brief 87  100  121  125  f. 
130—73  178—84  305  f. 
312  321  323  383  403  f. 
716  II,  73  127  III,  13. 

Clemensbrief,  zweiter  87  92 
127  129—73  175  ff.  188 
304  f.  307  334  342  387 

525  679  714  716. 
Clerus,  s.  Priester. 
Clichy,  Synode  III,  252. 
Clugny  III,  245  296  ff.  310  f. 
Coelestis  Pastor,  Bulle  III, 

640. 
Colosserbrief,       Irrlehrer 

208  f.  259  f. 
Coluccio  Salutato  III,  407. 
Colluthus  II,  188. 
Commemorationen  II,  427f. 
Commodian   287   453  477 

526  533  669ff.  III,  22  24 
44  f. 

Communio  sanetorum  III, 

218 
Conciiien  II,  8  31   85   89 

92  ff'.  96  97  f.  104  f.   108 

456  481  III,  passim.,  s. 

Basel,  Constanz  etc.  567 

571  ff.  619  f.  626. 
Conciiien,     Zählung    III, 

308. 
Concomitanz  III,  493 f. 
Concordate   III,   399  621 

623. 
Concordienformel  III,  582 

585  f.  761. 
Concupiscenz  699 ITI,  1 75fl". 

190  IT.  4  84  f.  544  f.  607  f. 

49 


770 


Sachregister. 


Confirmatlon  225  394  f.  TT, 
421  434111, 4(>3471  4871'. 
597. 

Congregatio  tle  auxiliis  III, 
«32. 

(Konservativismus  d.  Theo- 
logen U,  19f. 

OousiUa,  8.  Sittlichkeit  dop- 
pelte. 

Konstantin  etc.  s.  Konstan- 
tin etc. 

Consubstantiatio  ITT,  339 
491  f. 

Oontarini  TH,  553. 

Conventikel  12«  212. 

Copula  carnalis  TTT,  523  f. 

Cordova  IIT,  253. 

Cornelius  Mussus  TTT,  625. 

Cornelius  v.  Rom'  372  377 
379  411. 

Creatianismus  TT,  1321". 

Creatur  710  u.  sonst. 

Cultische  Stücke  138. 

Cultische  Reinheit  385. 

Cultus,  s.  Gottesdienst. 

Cum  occasione,  Bulle  TTT, 
635. 

Curialismus,  s.Papst,  Römi- 
scher Bischof  u.  ITT,  566ff. 
571  ff.  578  ff.  580  f.  617 
bis  623. 

Cyniker  107. 

Cyprian  159  176  28G  f.  303  f. 
331ff.345— 53369— 78ff. 
384fl'.  387—97  403  410  ff. 
469  493  506  524  526  542 
668  f.  672  TT,  90—92  98 
100  106  109  177f.  346 
421  427  440  IH,  5  22ff. 
34  ff.  38  ff.  94  127  f.  234 
241  288  401  625. 

Cyprian,  Schüler  des  Cä- 
sarius  TTT,  230. 

Cyriacus  TT,  479. 

Cyrill  V.  Alex.  608  703  n, 
20  36  f.  62  64  76  83  f.  90 
93  96  98  102  Ulf.  169 
172  176  292  310  333  bis 
348  349  f.  u.  sonst  passim 
im  9.  Cap.  401  404  412 
427  438449  451 477  481  f. 
TTT,  116  169  250  258  280 
451  695. 

Cyrill  von  Jerusalem  IT,  12 
14  44  50  54  f.  60  61  f.  66 
70  83  f.  86  f.  90  f.  109  ff: 
117  119  143  172f.  175 
243  266  ff.  271  326  416 
434  448  465. 

Cyrillus  Lucaris  TT,  71  293. 

Cyrus  V.  Alex.  IT,  63  403. 


Daches   von   Berenike  TT, 

184. 
Dämonen    151  ff.    158   205 

289  425  429  431   434  f. 

441  ff.    452  f.   458    587  ff 

591    743 f.    II,   7 f.   125 f. 

127  138  158  4431. 
Damascius  733. 
Damasus  II,  14  33  101  262 

264f.  271  f.  284  3191:  111, 

53. 
Damian,  Patriarch  IT,  290. 
Daniel  139. 
Dante  III  401  411. 
David  V.  Augsburg  TTT,  375 

388. 
David  V.  Dinanto  TTT,  444. 
Davidis,  Franz  ITT,  667. 
Davidssohnschaft  131   165 

173. 
Decius  380  412  III,  341. 
Decretalcn  IIT,  308  f.  393  ff. 

404  f. 
Deisten,  englische  25. 
Dekalog  149  531  534  536 

II,  140  f. 
Demetrius  v.  Alex.  386. 
Demiurg  208  ff.    218    220 

480  ff. 
Demokrit  HI,  172. 
Demophilus  IT,  305. 
DenckITI,  662f.  692. 
Denis  572. 

Deusdedit  ITT,  309  392. 
Deutsche  Theologie,  Buch, 

ITT,  381  384. 
Deutschland  und  der  Pro- 
testantismus III,  692  f. 
Diakonen  178 182f.  412IIT, 

522  688. 
Dialektik  u.  Dogma  IT,  63  f. 

IIT,  320  ff. 
Didache  51  126ff.  130—73 

174—184   186   202   212 

244f.290f.  298  307  321f. 

334  357  383  385  525  III, 

324. 
Didymus  357 f.  IT,  74   79 

166  282  337  406  448  466. 
Dimöriten  IT,  168. 
Diodor  IT,   78   116   325  f. 

348. 
Diognet  104  155. 
Dionysius  Alex.  213248303 

351   366  376  f.   385   397 

401  410  635  637  674  676 

681—88   691  ff.   IT,   218 

221  223  229. 
Dionysius  Areopagita  110 

IT,  37  46  112  118  123  f. 

126f.  128 167  f.  387  391  f. 


401  421  426  437  f.  448 

453  461  469 ff.  477  480  f. 

III,  30  244  247  316  318 

376  378  382   443  f   449 

4(i3  488. 
Dionysius  Exiguus  III,  310. 
Dionysius  v.  Korinth  132  f. 

285  293  f.  311  365  368  f. 

404  f.  IT,  63. 
Dionysius   v.    Mailand   II, 

244. 
Dionysius  v.  Rom  410  668  f. 

681—88  IT,  221  223  229 

282  297. 
Dioskur  348—378  407. 
Diospolis,  Synode  TTT,  153 

159  161  f. 
Disciplin,  apostolische  II, 

b8f. 
Disposition   für  d.   Sacra- 

ment  u.  die  Gnade  ITT, 

460  479  ff.  536  ir.  555. 
Ditheismus  686. 
Dogma,   Begriff,   Aufgabe. 

Factoren  des  3  ff.  14  tt. 
Dogma  u.  (bibl.)  Theologie 

10  ff.  45  f. 
Dogma  u.  Philosophie  15  ff. 

734—37  ITT,  322  ff. 
Dogma  u.  Abendland  ITT, 

4ff.92ff.  153161162166 

170214f.233  270f.309ff. 

31 7  ff.  341  363  373  f.  390 

416  418  422  435  441  f. 

566  ff.  569  ff.  571   574  ff. 

578  f.  580  ff.    647    652  ff. 

bis  z.  Schluss  d.  Werkes, 

bes.  692—700  741  f.. 
Dogma  u.  Morgenland  IT, 

3—68  462  ff. 
Dogma  u.  Protestantismus 

4ff.  24ff.  TTT,  691  ff. 
Dogmatik   204  275   280  ff". 

325  382  439  ff.  460  463 

478  f.  553  f.  559  562  611 

652  659  672  708  f.   717 

734— 37  Tic.  2u.  11  ITT 

c.  1  2  c.  3S.  84  ff: 
Dogmen  191  280  418. 
Dog-matik,  lutherische  ITT, 

739  ff. 
Dogmengeschichte,  Begriff' 

und  Geschichte  der  3  ff'. 

22ff*.  558  f.  603  f.  IIT,  4  ff'. 

192. 
Doketismus ,     gnostischer 

218  220  f.  236  508  ff".  595 

618. 
Doketisches  auch  TT,  302 ff". 

u.  sonst  z.B.  414  429  441. 
Doketisnms,  naiver  164201 . 


Sachregister. 


771 


Dominikaner  ITI,  370  372 

398  430  434  560  f.  631  f. 

640  f. 
Domitian  159. 
Domnus  Antioch.  II,   356 

363. 
Donatismus  373  380  II,  99 

101   106    111   III,   35  ff. 

127  ft:  145  407  519. 
Doppelte  Wahrheit  III,  429. 
Dorotheus  II,  78  184  326. 
Dortrechter  Beschlüsse  III, 

585  f. 
Dositheus  207. 
Dotes  ecclesiae  III,  41  f. 
Dreicapitelstreit  II,  394  ff. 

477—480  III,  253. 
Dualismus  151  f.  569  ff  697 

720  f.  742  II,  132  f.  204 

441  444. 
Duns  Scotus  u.  scotistische 

Mystik  u.  Theologie  HI, 

111313  383f.429ff.  433f. 

444  ff.    447     449  ff.    452 

459  ff.  468  f.  470  477  478  f. 

481  f.  483  f.  489  491  ff. 

502f.  506 f.  522  547—58 

560  562  607  655. 
Durandus,  Scholastiker  III, 

429  f.  502  524. 
Durandus  von  Hueska  III, 

370  395. 
Durandus  v,  Troanne  III, 

339. 
Dyotheletismus  II,   39  86 

404—412. 

Ebenbild  499  ff.   .504  f.   II, 

130f.  134ff.  146  ff.  154. 
Ebenbild,  v.  Sohne  Gottes 

gebraucht  II,  1 94  202  204 

207  210  214  226  237  246. 
Ebioniten,s..Tudcnchristen. 
E))erard  III,  264. 
Ebner,  Margaretha  III,  377 

388. 
Eckhart  TU,  376f.  382  385 

388  438. 
Edessa  287  IT,  183  348. 
Eduard  VT.,     König    III, 

666. 
Ehe,  Eheenthaltung,  -Beur- 

thoilung  u.  -(ilesetzgeljg. 

200  236  263  358  361  3f)3 

365  3681".  387  70211,  9  ff. 

III,   176   189  1911.    194 

198  206  226  233  235  709. 
EhcsacraTneiit  III,  394  4«;4 

522  IT.  6021". 
Eigenschaften  (lottes  576  IT. 

652  6611.  710  II,  118t: 


III,  98  ff  674,  s.  auch  Got- 
teslehre. 
Eingeborner  Sohn  156  159. 
Einhard  III,  247. 
Einheit  d.  Kirche  336  346  ff. 

410  f.  II,   109  ff.  III,  40 

130  f. 
Ekstase  97  194. 
Ekthesis  II,  404  f. 
Eldad-  und  Modad-Apoka- 

lypse  87. 
Eleusius  V.  Cyzikus  II,  284. 
Eleutherus  407  621  656  f. 
Elias  V.  Cortona  III,  372. 
Elias  v.Nisibis  II,  114  291. 
Elipandus  III,  250 ff. 
Elisabeth,  heilige  III,  381. 
Elkesaiten  203  209  260  ff. 

368  740  748. 
Elvira,  Synode  369  379  380 

III,  24. 
Emanation  II,  189  204,  s. 

Gnosticismus. 
Emmerich,  A.  K.  III,  640 
Empedokles  III,  172. 
Empfängniss,  s.  Maria. 
Emser  Punktation  III,  622f. 
Encyklika  II,  379. 
Engel  89  150  160  167  208  f. 

258  f.  261   446  449  509 

584ff.591II,66123125ff. 

150  166  442  443f.  448 

III,    119    235 ff.    343 f. 

449  f. 
Engel  als  Bez.  Christi  155. 
Enhypostasie'II,  40  337  384 

387  411  f.  * 
Enkratiten  200  f.  240  307 

361  f.  377  379  465  508. 
Ennodius  III,  227. 
Enthusiasmus  43  46  50  92 

119  140  237  251  279  292 

316f.  325 f.  336  338  341 

355ff.  483  630ITI,  35. 
Entsühnung  §  8  S.  193. 
Epheserbrief  84  91  281  305 

340. 
Ephesus,  Bisthum  II,  99. 
EphesuH,  Synode  v.  j.  431 

II,  35  97  100  102  34411. 

363  f.  372  f.  ITT,  169. 
Ephesus,  Synode  v.  .T.  449 

11,359499  351  355  36211". 

366  3701'. 
Epiiraein  Syrus  TT,  46  169. 
Ei)])raem  v.  Antiochion  IT, 

39.3. 
Epigonijs  und  Schule   652 

654  ir.  657. 
Epiktet  104  1061'.  110. 
Epiklct,  Bischof"  TT,  168. 


Epikur  201  426  432   687 

721. 
Epiphanes  201  f. 
Epiphanie635  713  716ff. 
Epiphanius  226ff.  249  260ff 

470  616—48  6731".  677  ff". 

680  690  695  741  IT,  341". 

61  65  76  f.  86  90  111267 

271  284  292  472  475. 
Episkopalsystem  III,  411 1. 

617—623. 
Episkopat,  s.  Bischöfe. 
Eranisches  III,  516. 
Erasmus  III,  438  f.  573  692 

714  744. 
Erbsünde  506  590  II,  138 

152  f   155  452  III,  44  ff. 

69f.   158ff.   175ff.    178f. 

187  190  ff.  226  236  237  f. 

349  484  f.  528  544  f.  548  ff 

605  607  f.  713  f.  744. 
ErhöhungChristi  164f.  713f. 

716. 
Erkenntniss  (u. Quellen  der) 

Ulf.   120f.  123f.  137ft". 

151ff.  180f.  187ff.  552f. 

569  573  576,  s.  Autorität 

u.  Vernunft. 
Erleuchtungl77f.  (Bezeich- 
nung der  Taufe)  599  ff*. 
Erlösung  590  ff.  697  ff.  703 

708  738  II,  45  ff.  121124 

139  ff.    157  ff'.   219   221  f 

416. 
Erlösungsfähigkeit  151  f. 
Ernesti27. 
Erwählung  83  124. 
Erwählung  Christi  154  f. 
Erzeugung  Christi  636. 
Eschatologie  60  88   110  f. 

119  135— 45  151  f.  223  f. 

233f.236  244f  355  f.  473 

477  524  ff.  594  609  ff.  TT, 

45f.  59  65f.  174  317  ni, 

21  81  ff.  707  720. 
Eschatologischc        Reden 

Jesu  60  88  139. 
Esnik227f.  11,  475. 
Espen,  van  ITT,  622. 
Esra  u.  Nehemia  TT,  70. 
Esraapokaly  pse  87f .  1 39  7 1 3 

ITI,  503. 
Essenisirius  62  f.  206. 
Esthern,  70. 
Eterius  ITT,  253  256. 
Ethik,«.  Sittlichkeit,  Askese 

720  f. 
Eucharistie^  (s.  Abendmahl 

u.  Mysterien)  178  f. 
Eucher'ius  v.  Lyon  IT,  81 . 
Euchiten  II,  61. 


49 


772 


Sachrepfister. 


Eiulokia  II,  358. 
Kudüxius  11,  246  ff.  250  f. 

2H1  309. 
Euelpis  in  Larancla  386. 
Kutreii  l.,  Pui)st  11  407. 
Killen  11.,  Papst  111,  273. 
Eilten  IV.,  Papst  111,  399 

411  465  (s.  aucli  Sucra- 

mentcii.FloreutinorOon- 

eil)  487  f.  495  498  520  t'. 

524  593  597. 
Eulogius,  Patriarcli II,  390. 
Eulügius  von  Cäsarea  III, 

161. 
Eunomius   u.  Eunomianer 

11,90  118  195  245f.  251 

259  272  f.  278  283  309  312 

449  464  III,  154. 
Euphranor  681  683. 
Euphrates    von    Köln   II, 

242. 
Eusebianer  II,   20   24   93 

101   162  207   214  220f. 

225ff.236ff.239ff.  241«. 

251. 
Eusebius  v.  Cäsarea  22  256 

343  379  390  550  624  ff. 

630  634 f.  637  687  689 

694  f.  704  709  750  II,  14 

18  57  62  72  f.  77  79  90  f. 

95  97  f.  100  158  176  184 

189f.   198    223f.    225ff. 

229f.232f.236f.  239  252 

321  433  455  464f.  HI, 

626. 
Eusebius  v.  Doryläum  412 

II,  354  356  363. 
Eusebius  v.  Emesa  II,  246 

326. 
Eusebius  v.  Nikomedien  II, 

184  189ft'.  194ff.  225ff. 

231  232  ff.  235  240. 
Eusebius  v.  Rom  II,  14  III, 

36. 
Eusebius  v.Vercelli  II,  244. 
Eustathius    v.   Antiochien 

II,  224  f.  232  234  237  253 

311  326  433  f.  464. 
Eustathius  v.  Sebaste  (Eu- 

stathianer)  II,  10  28  69 

246  259  283. 
Eutherius  II,  350. 
Euthymius  II,  206  479. 
Eutyches  u.  Eutychiauer  II, 

98  354—74  375  If.  passim, 

z.  B.  386  f.  429  458. 
Eutychius  v.  Konstantinop. 

II,  439. 

Eva  505  508  699  701  743  f. 

III,  561. 

Evagrius  II,  20  275  474. 


Evangelien  84  86  121  129 

132    185   215    251    256 

306  ff. 
Evangelien,  gnostisclic  121 

203  f. 
Evaugclienkanon  304—308 

321  f. 
Evangelisches       Christen- 

thuni  i.  (1.  alten  K.  u.  i. 

MA.  111,41  51  n. 
Evangeliseiles  Leben  200  f. 

377. 
Evangelium  54  ff.  143  144  f. 

382  556  569  591. 
Evangelium  u.  Dogma    II, 

49  f.  52  61. 
Evangelium  und  AT.  39  ff. 

145  ff. 
Evangelium  u.  Hellenismus 

42 ff  62  Ulf.  185  187 ff. 

214tf.   225   227 f.   247 ff 

276ff'.  279  282f.  413— 64 

p.  464—79  556  566  611. 

719  ff'.  734  ff. 
Evangelium  u.  Judcnthum 

40ff'.  75 ff'.  124 f.  147  ff'. 
Evangelium  Marcions  236ff. 
Evangelium   i.    Sinne   der 

Reformation  HI,  705  f, 

s.  Glauben. 
Ex  Omnibus  afflictionibus, 

Bulle  III,  629  f. 
Excommunikation  367 — 78 

III,  509. 
Execrabilis,  Bulle  III,  567. 
Exegese  II,  75  ff.  III,  29. 
Exomologese  178  368. 
Exorcismus  II,  422. 
Exsuperius  III,  593. 
Exukontianer  II,  245. 
Eybel  III,  623. 

Fabian  410  685  II,  262. 
Fabius  v.  Antiochien  687. 
Fabricius  742. 
Facundus  von  Hermiane  II, 

395  397  III,  253 
Fälschungen II,  63  f.  96  97  f. 

357  368  373  392  398  409 

473  III  passim. 
Fasten   174   170  251    361 

387  f.  525,  etc,  z.  B.  III, 

510. 
Fatalismus  II,  119f.  124. 
Faustus,  Manichäer  750 
Faustus  von  Reji  II,  450 III, 

218  225  ff'.  251. 
Febronius  111,  622  f. 
Fegefeuer  526  II,  67  III, 

209  211  239  f.  369  511fr. 

513  f.  519  603. 


Felix  L,  Papst  II,  312  346. 
Felix  11.,  Papst  II,  380. 
Felix  III.,  Papst  II,  94. 
Felix  IV,  Papst  111,  230. 
Felix  V.  Urgel  111, 250-261 . 
Fenelon  111,  640. 
Feste  350. 
Fides  implicita  III,  38  72 

417  432  f.  554  558  568 

645  671  685. 
Fihrist  738  740  f.  745  f. 
Firmelung,  s.  Confirmation 

u.  II,  421  434. 
Firmilian  349  410  637  643. 
Flacius  24  III,  306. 
Flamiues  380. 
Flavian  v.  Antiochien  II, 

265  271. 
Flavian  v.  Konstantinopel 

686  11,354  356—64  371. 
Fleisch  Christi  163ff'.  181 

220f.291663f.670  715f. 

III,  48;  s.  auch  Mensch- 
werdung. 
Fleischwerdung  160  163  f. 

165;  s.  auch  Menschwer- 
dung 509  717  f. 
Florentiner  Concil  III,  308 

452  464  470  472  f. 
Florinus  295. 
Flor  US  Magister  IIT,  266. 
Fomes  peccati  III,  485. 
Franciskus  u.  die  Minoriten 

III,  9  213  305  f.  364—91 

560  f.  573  575  658  744. 
Franck,  Sebastian  III,  657 

662. 
Franken  u.  Franzosen  II, 

298  299f.  III,  7  217  245 

270  ff'.  275  ff'.  399  61 8  ff'. 
Frankfurt,  Synode  III,  257 

272 
Fraticellen  III,  372  f. 
Fredegis  III,  246. 
Freier  Wille  in  Christus  II, 

311  338  u.  sonst  im  8.  u. 

9.  Cap. 
Freiheit  d.  Menschen  142  f. 

399 f.  413— 464  p.  499  ff'. 

571  f.  585  589f.  II,  53 tV. 

119f.  124f.  130ff'.  140ff'. 

145  146f.  422f.  432  III, 

57 ff.  lOOff'.  157 ff'.  173ff. 

177  ff.  221  f.  226  f. 
Freiheit,christlichelll,704. 
Friedrich  I.,  Kaiser  111,393. 
Friedrich  II.,  III,  393. 
Friedrich  III.,  III,  399. 
Frohschammer  111,  647. 
Fronleichnamsfest  II I,  496 

598. 


Sachregister. 


773 


Fulbert  III,  320  335. 
Fulgentius  III,  228  ff.  262. 

Gabendarbringung  174  fi". 

Gajanus  II,  394. 

Galen  104  198. 

Gallien,  S.Lyon  III,  7  220ff. 

Gallikanismus  III ,  6 1 9  f. 
639. 

Gallische  SchriftstellerII,9. 

Gangra,  Synode  II,  10  69. 

Gebetl37f.  154  174ff.  179f. 
388ff.  601  III,  86  510f. 

Gebet  für  Verstorbene  III, 
209, 

Gebet  zu  Jesus  154. 

Geburt  Jesu,  s.  Jungfrauen- 
geburt. 

Geduld  143. 

Gefallene  (lapsi)  367 ff. 

Geheimtradition  136  215  f, 
300  ff.  554. 

Geist  Gottes,  heiliger  47 
68f.  119  123130  137160f. 
163  167  178  182  202 
238  f.  258  262  306  316  ff. 
329  f.  333  f.  337  fr.  347 
355  ff.  363  f.  394  f.  446 
493f.499f.515f.  522  575 
583  ff.  619  ff.  627—648 
653  668  679  f.  684  690 
699f.  II,  90f.  106  199 
244  252  254  268  271  275 
bis  285  291  ff.  296  ff.  428 
434  ff.  439  f.  445  tu,  270f. 
452  f.  681  f. 

Geist,  menschlicher,  crea- 
türlicher  564  585  ff.  601 
710  715f. 

Geist  u.  Fleisch  715  f.  718. 

Geisterwelt  (s.  auch  Engel 
u.  Dämonen)  586  ff.  591 
601  fl.  711  II,  125ff. 

Gelasius,  Papst  II,  94  474 
III,  227  f. 

Gelasius,  Decret  II,  74. 

Geliebter,  Bezeichn.  Christi 
155. 

Gemeinden  (h.  auch  Kirche) 
125  ff.  174  178  ff.  181  ff. 
186  f.  214  285  287  298  fr. 
328  fr.  334  337  f.  346  ff. 
391  714. 

Gemeinschaft,  christl.  556. 

(jencalogic  Jesu  87  161. 

Gennadius  II,  46  III,  227. 

(ientilis  III,  665. 

(ientilly,  Synode,  II,  459 
III,  270  272. 

Genugthuung,  h.  Satisfac- 
tion. 


Georgius,  Presb.II,  184  258. 
Georgius  v.  Alex.  II,  245. 
Georgius  v.  Konstantinop. 

II,  408. 
Georgius  v.  Laodicea  11, 

197  246  f. 
Gerbert  III,  320  f. 
Gerechtigkeit  Gottes    142 

577f.II,c.  2  u.  4111,182. 
Gerhoch  IH,  333  339  451. 
Gericht,  jüngstes  54 f.  57  60 

139  144f.  602641 II,  67  f. 
Germanische  Christen  II, 

178  220  447  m,  6  f.  275 
288—295  341  ff.  510. 

Germanus  V.  Konstantinop. 
II,  441. 

Germinius  v.  Sirmium  II, 
247  249  261. 

Gerson  HI,  412  461. 

Geschichte  und  Dogma  II, 
143. 

Geschichte  Jesu  s.Kerygma. 

Geschleclitslust,  s.  Ehe. 

Gesetz,  mosaisches  41  f.  61 
76  f.  93f.  147  245  ff.  252  f. 
258 ff.  268  531—541575. 

Gesetz,  neues  54  80  123 
143  250  f.  286  298  335 
360  fr.  377  393  450  f.  462 
II,  53  f.  u.  c.  5III,  14  23 
181f.  197  236f.  403ff. 
409  f.  440  f.  678  f.  715  f. 

Gesetz  u.  Dogmall,  64 131f. 

140  ff. 
Gesetzesfrage,  im  apostol. 

Zeitalter  75  ff. 
Gestirne,  als  Geister  586 f. 
Gilbert  III,  447. 
Giordano  Bruno  III,   657 

663  692. 
Glaber  m,  299. 
Glaube  §  5  S.  143  222  f. 

227f.  552  f.  556  f.  573  603 

II,  44— 68  III,  40  ir.  45  f. 

51  ff".  61  ff.  70  ff".  77  ff.  112f. 

187  416  477  478  f.   547 

607  608— 616  671  f.  676f. 

681685f.  700f.  713  716f. 

732. 
(ilaubensgesetz  und  -regel 

129  f.    217  fr.   220   273  fr. 

282  f.     288—303     318  f. 

327  ff.  335ff.  464  fr.  483f. 

525  f.   557  562  570  583 

605  fr.  644  f.  665  673  704 

709. 
Glauljcnsgewissheit  III,  1 1 

536  fr.  614  700  fr.  7171". 
Glaubenslehre ,      Anlange 

137  f.  (s.  Dogmatik). 


Glaubensregel  und  Philo- 
sophie 276  ff.  282  f.  464 
bis  479. 

Glaubenswissenschaft  603  f. 
704. 

Glaukias  216. 

Gnaden,  44  f.  47  54  130ff. 
140fif.  146ff.,  s.  Erlösung. 

Gnadenlehre,  abendländi- 
sche III,  21  43  59  f.  61  f. 
75— 8186  151— 90221  ff. 
440  ff.  525  ff.  608  ff. 

Gnadenmittel  388  ff.  392  bis 
400  600  f.  II,  44  ff.  443  ff. 
in,75ff.  140— 151186ff. 
746 f.  754 f. 

Gnomen  128  291  387. 

Gnostiker  u.  -cismus  121 
bis  125 136  146  f.  161165 
183f.  186— 226  246  f.  254 
258ff.273ff.  278ff.  291flf. 
301  f.  304 ff.  328  ff.  338 
383  385397  406430464  ff. 
472—77  480—85  490  516 
525  531  534f.  569  574 
576  585  593  ff.  603  608 
611650f.  695  ff.  703705  ff. 
726f.  II,  34  123 127  f.  132 
174f.  193  204  303 f.  309 
318  421  425429  443  450 
467  475  478  III,  357. 

Gnostiker,  die  wahren  281  f. 
332  340  342  522  f.  553 
590. 

Gnostiker  und  Apologeten 
413  ff. 

Götzendienst,  Abfall  zum 
367  f.  375  ff. 

Gonzalez  III,  645  f. 

Gothiklll,  391  f.  428. 

Gott  (fränkische  Vorstel- 
lungen) III,  275  ff. 

Gott  (griechische  Vorstel- 
lungen) 103f.  159 160651. 

Gott  (jüd.  Vorstellungen) 
710. 

Gott  (nachaugustin.  Vor- 
stellungen) III,  288. 

Gott,  Christus  als  91  156  ff. 
220f.235f.  255  575  579f. 
594  ff.  608  ff.  618—48 
65811".  665  669  fr.  709  715. 

Gottesbeweise  II,  1 16  f.  III, 
443  f. 

Gottesdienst  138  147  173  fr. 
194  207  248f.  275  383fr 
386  390  ff.  606  641  722 
746  II,  20  26  40  ff.  88  f. 
112f.125f.411  414  417fr. 
423  ff.  437  442  465  482 
III,  122  244  707  725  f. 


774 


Sachregister, 


GüUfstreundt'  TTT,  377. 
Ciütti-s^ebanM-iii  1 1,2«M  21« 

3!J8  333  33«  339  343  347 

412  417  445  451. 
(lottes^erichtü  11,  447. 
UütWyk'hrü     54  tV.     15011". 

44011".  480  t".  48511.  571 

57«  tV.  589  f.  «59  f.  678708 

II,  ll«tV.  111,  9811".  44311". 
4491.  5291.  «731.  7011. 
710  719. 

Gottessolm  58  15«  159  1  «2 

bis   1«4   1«7   2«2tl".   281 

491 495  50«  tl".  517  f.  57911". 

5901.  59()  «09  «2311.  ««0 

««5  ««71".  «8211". 
(Tüttmeusch,  s.  Meuschwcr- 

dimjr,  U.S.  47311".  49411". 

50«  ff.  «98. 
(iottschalk  m,  2«2ff.  270 

434. 
Gratia  operans  et  coopcrans 

III,  528  530—542. 
Gratiau ,   Hechtssammlung 

ni,  310f  392f.  397  499. 

Gratiau,  Kaiser  II,  34  263 
270. 

Gregor  I.,  Papst  II,  39  72 
94  127  133  174  179  390 
400  40«  III,  5  12  216 
218  225  233—244  246 
259  269  272  288  342  464 
496  525. 

Gregor  II.,  II,  455f. 

Gregor  VII.,  III,  297  307 ff. 
311  338  395. 

Gregor  XL,  Papst  III,  407. 

Gregor  XIII.,  Papst  III, 
629. 

Gregor  XVI.,  Papst  IQ, 
621. 

Gregor  v.  Alex.  II,  236  243. 

Gregor  v.  ßerytus  II,  184. 

Gregor  v.  Heimburg  III, 
412. 

Gregor  v.  Nazianz  II,  11 
45  f.  62  f.  64  70  78  90  93 
98  102  106  172—174  176 
205  257  265f.  281ff.321f. 
360  425  448  461. 

Gregor  v.  Nyssa  706  f.  II, 
11  21  25  39  46  55f.  60 
62f.  65—67  76  120f.  133 
135  149—151  163  ff'.  172 
bis  174  255  256 f.  281  f. 
321  f.  388  401  423  f.  428 
434  ff.  439  4651. 

Gregor  v.  Paviain,309  392. 

Gregor  v.  Rimini  III,  436. 

Gregor,  Statthalter  11, 405. 

Gregor,  Thaumaturgos  581 


693ff.  705ff.  II,  16  63  8« 

228  28«  312. 
Gregoria,  Kaiserin  III,  242. 
(Jribaldo  iU,  ««5. 
Griechisclie  Kirche  11,  71 

8«90  95  1031. 1101".  1121. 

115  123  12«  1381.  153 
2931".  411  414  420  4401. 
450  452  4«4  4««  47« 
481 11". 

Grotius,  Hugo  III,  «22. 
Günther  III,  647. 
Guitmund  v.  Aversa   III, 

339. 
Gury  III,  «44  647. 
Gut,  s.  Böse. 
Guyon,   Mad.  de  III,   94 

640. 

Hades  II,  66. 

Hadrian  I.,  Papst  III,  251 

256  272  f. 
IladrumetischcMönchelll, 

169  220. 
Häretiker,  s.  Gnostiker  u. 

346—353  543  682. 
Hätzcr  III,  663. 
Hagemann  652  f.  682. 
Haggada  86 f.. 
Hamcl  III,  624  631. 
Havet  48  53  80  115. 
Hebräerbrief  72  79  f.  84  91 

116  126  146  162  175  252 
312  323  n,  74  78  127  III, 
583  593  687. 

Hebräerevangelium  92  253 

257  f. 

Hegel  31  f.  III,  674. 
Hegesipp  132  155  205  210 

253  269  299  305  335  471. 
Hegias  733. 
Heidenchristenthum     78  f. 

80f.  94  125  133f.  244f. 

248  ff. 
Heiden  unter  der  Gewalt 

der  Kirche  III,  394. 
Heidenmission  76  f.  78  ff. 
Heiland  (acox-fip)  123  150  f. 

153  f.  159. 
Heilige,  Heiligendienst  II, 

7  41f.  67  442  4451.  448f. 

458  III,  189  239  251  f. 

369  413  561  574  603. 
Heiligkeit  der  Kirche  335  f. 

354  ff.  364  f.  367— 78  III, 

132f. 
Heiligthümer,  irdische  712. 
HeilGgeschichte476ff  51811". 

534  f.  680  II,  78. 
Heilsgevvissheit,    s.    Glau- 

bensgewissheit. 


Heilsgut  llOf  135ff.  281 
284  11,4411".  417. 

Heilsthatsaclien  51811. 

Heinrich  IL,  111,  297  299. 

Heinrich  111,111,297  299. 

Heinrich  IV.  v.  Frankreich 
III,  619. 

Heinrich  VI.,  III,  393. 

Heinrich  v.  Gent  III,  480. 

Heinrich  v.LaugensteinlLI , 
412. 

Heinrich  v.  Nördlingen  IH, 
377  388. 

Heliand  III,  «. 

Hclladius  H,  350. 

Hclleuisclic  Wissenschaft, 
s.  Hellenismus  u.  II,  20 
28  57  188  217  f.  219  25« 
349  4«7  ff".  471474. 

Hellcuisirung  II,  3  27. 

Hellenismus  42  ff.  83  ff.  120 
Ulf.  18711".  192  ff".  1981". 
27«  11".  282  ff.  413— 4«4 
4«6f.478f.  607  645  717f. 
732—734. 

Hellenistische  Juden ,  s. 
Alexandrinismus. 

Helvidius  II,  451 

Hemerobaptistcn  740. 

Henoch  -  Apokalypse  87 
lOOf.  139  713. 

Henotikonll,  379ff.  387. 

Heraklas  551. 

Herakleon  191  197  204  224 
377  580  II,  193  301. 

Heraklianus  11,  261. 
I  Hcraklit424f.651f.III,172. 

Hcraklitische  Briefe  95. 

Heraklius,  Kaiser  II,  39 
403  f. 

Heraklius,  römischer  Häre- 
tiker III,  36  50  52. 

Hermas  90  92  104  120—27 
129—173  174—184  202 
212  244  261  279  285  308 
312  321  f.  334  340—342 
357  364  367  f.  387  396 
402  404  407  420  437  623 
628  ff  641  ff.  714f.  II,  73 
III,  22  324  593. 

Hermes  III,  647. 

Hermogencs  221. 

Heros,   gallischer   Bischof 

m,  161. 

Herr,  Bezeichnung  Christi 

71  f.  91  153  f. 
Herrenius  727. 
Herrnschriften  132  309 1. 
Herrnworte  86  13011".   139 

146  300  305  ff.  314  327  f. 

377. 


Sachregister. 


775 


Herz-Jesu-Kultus  III,  301 
460  649. 

Hesychastenstreit  II,  126. 

Heterousiasten  II,  245. 

Hexaemeron  450. 

Hierakas  u.  -iten  629  690 ff'. 
703  II,  10  189. 

Hierarchie,  s.Kirchc  1 1,91  f. 
112f.  423f.437  444f.in, 
138f.243  368f.372  393ff. 
406  f.  724  f.  u.  sonst. 

Hieronymus  191  256  f.  359 
408  670  689  II,  9 f.  12  32 
35  63  65  67  69  71  73  f. 
77  79  lOOf.  133  152  166 
260  271  320  390  449  451 
472  fr.  III,  22  26  f.  44  51 
154f.  1590".  171  192  198 
211  593. 

Hierotheus  II,  478. 

Hilarius  672  H,  29  [32  79 
169  178  181 233  236  244f. 
2460".  249  f.  261  272  283 
303  f.  308  f.  323  360  388 
m,  26  28  f.  44  46  48. 

Hilarius  alter  IH,  169  220. 

Hilarius  von  Arles  HI,  220. 

Hildebert  v.  Tours  IH,  338. 

Himmelfahrt  92  131  172f. 
718. 

Hinkmar  III,  246  262—70 
274  275. 

Hiob  U,  70. 

Hippo,  Synode  71  74. 

Hippolyt  110  122  205  208 
260  f.  280  f.  286  299  303 
331  f.  345  351  354  3571". 
368f.  383  385  403  412 
464  ff.  471  476  483  ff. 
488ff.  493ff.  503  51611'. 
523 ff  526  520  541  548 
550  604  612  616  ff'.  648 
bis  681  p.  686  695  ff.  705 
II,  Ol  79  96  117  230  277 
331  III,  221".  28  48. 

Hölle  u.  Höllcnstrafc  54  57 
145  572  602  II,  65f.  UI, 
512  u.  passim. 

Höllenfahit  92  172 ff.  523 
536  II,  66. 

Hocnsbroech,  Paul  v.  III, 
650. 

Hoffmann,  Melchior  III, 
664. 

Iloffnunfj  (Glaube,  Liebe) 
143. 

HohoriHtaufcn  Hl,  393. 

Kohepri(!8ter  383  385  409 
601. 

Hohcfllicd  525  II,  Uf.  23 
70  III,  303. 


Homöer  II,  106  247—251 

259  261. 
Homöusiancr  II,  212  214 

246ff.  252ff.  261  268  280f. 

292 
Homoios  II,  211  f.  242  ff. 

247ff.  250  f.  252  261. 
Homoiusios  II,  211  f.  246ff'. 

253  ff.  268. 
Homologumenen  -  Kanon 

306ff.  402n,  73f. 
Homousios  219  f.  222  488 

491  f.  543  579ff.  583  643 

646  680  f.  683  687  692 

709  II,  16  22  f.  51  f.  98 

104ff.l83193ff.202212ff. 

224  226  228— 261  266  ff. 

270  272  281  ff.  285  ff.  289 

301  315  316f.  320  HI,  729. 
Honorius,  Papst  II,  403 ff. 

409. 
Honorius  v.  Autun  III,  339. 
Hormisdas  II,  381  f.  III, 

998  f 

Hoslus  469  669  H,  191  f. 

224  f.  228  ff.  240  244  247 

253  272  287. 
Hugenotten  in,  633  638  f. 

739. 
Hugo  V.  Langres  HI,  339. 
Hugo  von  St.  Victor  LII , 

328  330  332  401  f.   463 

466  f.  470  473  477  486 

497  ff.  527. 
Humanismus,     s.    Renais- 
sance. 
Humbert,  Cardinal  III,  334. 
Humiliaten  HI,  368. 
Hungarica   Confessio    HI, 

623. 
iIusitenu.HusIII,373  389 

400  409  412ff.  436 f.  495 

518  571  576  658. 
Hymenäus  644. 
Hymnen,  Psalmen  u.  Oden, 

kirchl.  u.  gnostische  138 

158  204. 
Hypatia  732. 

Hypatius  v.  Ephcsus  11,392. 
Ilypcrius  25. 

Hyperorthodoxic  II,  286, 
Hypokeimcnon  II,  229. 
HypostasisII,  199  203213f. 

229  f.  252  255  2561".  260 

285  290u.da8  8.u.9.Cap. 

Jacübazzi  III,  390. 
.Tacopone  III,  381  389. 
Jakobus  u.  -lirief  216  244 

312  357  II,  468  III,  52 

188  520  582. 


Jamblichus  HO  194  727 
731  f.  735. 

Jansen  u.  Jansenismus  116 
III,  620  633—640  643  f. 
739 

Ibas  v.  Edessa  II,  356  363 
377  395  f. 

Idealismus  720. 

Idioten  651. 

Jerusalem(irdisch.  u.  himm- 
lisches) 140  335  f.  711  f. 
III,  299  f. 

Jerusalem,  Kirche  von  205 
255  f.  II,  99  103  f.  270. 

Jerusalem,  Reich  Christi  in 
140  527  f. 

Jerusalem,  Symbol  II,  66 
228  266  f. 

Jerusalem ,  Synoden  II, 
235  237  243  394  UI,  161 
452. 

Jesuiten  III,  431f.  594  617f. 
620f.  624ff.  628ff.  631ff. 
633  ff.  640—647  686  739. 

Jesus  Christus  39  f.  54  ff. 
69  ff.  129—32  135  f.  153 
bis  173  188  207  274  502  f. 
506  ff.  552  566  569  ff.  578 
592  ff.  601  606—648 
659  ff.  701  f.  713—719 
743  f.  748 II,  passim.  HI, 
112ff.  181  f.  184f.  235 f. 
241  253  ff.  355  f.  451  ff. 
675—687  702  711  ff.  720 
741  f. 

Jesusliebe  II,  11  f.  III,  9  25 
29  45f.49  300ff.305379ff. 
575. 

Jczira,  Buch  260. 

Ignatius87  120f.  126  f.  130 
bis  173  174—81  192  210 
212  214  254  291  306  334 
383f.398  401f.404f.407 
472  496  525  660f.  696  II, 
9  91  112128  192  221237 
423f.  429  111,484. 

Ignatius  v.  Loyola  III,  3, 
s.  Jesuiten. 

Ildcfonsus  III,  234. 

Illyrischc  Synode  II,  284. 

Impanation  III,  493 f. 

Impcralistische  Opposition 
III,  410  f. 

Individualismus  701  712 
III,  56 ff.  300  ff.  373  fl. 
577  ff  719. 

Indulgenzen,  s.  Ablässe. 

lücffabilis  dcus,  Bulle  III, 
639. 

In  cm  inen ti,  Bulle  III,  635. 

Infallibilität  der  Kirche  u. 


77(> 


Sachregister 


(It'rCmicilicu  If,  85  i»2tr. 

*>7  III,  135. 
liitallihilität  ileti  Papstes,  s. 

IJufehlburkeit. 
luiralapsarisinus  III,  19H. 
liikaruatioiijS  Monschwer- 

hikaniatioii  (des  hl.  G.  in 

Christo)  (Uüt)13ö5U)58 

698  703  735. 
lukaruatiou  cl.  Teufels  IIJ, 

235. 
liiuoceuz  I ,  Tapst  633  II, 

75111,155  163  f.  252  463 

593. 
1  imüceiu  II. ,  Papstlll,  407. 
luuocenz  III.,  Papst  III, 

307  f.  302  395  398  401. 
Innoceuz  IV.,  Papst  III, 

401  433  568. 
luuoceuz   X. ,   Papst    III, 

620  643. 
luüoceiiz  XI.,  Papst  III, 

640  644. 
lunoceuz  XIII. ,  Pai^st  III, 

638. 
Inquisition  III,  394. 
Inspiration  309  317  f.  321 

325  f.  567  574  f.  583  II, 

75  f.  82  92  f.  104111,624. 
Intention  III,  472 f.  476 f. 

'191  596. 
Intcrcessioneu  11,  c.  10  III, 

237  f.  292 f. 
Joachim  v.  Fiore  III,  306 

372  f.  387  410  447. 
Jobius  n,  317. 
Johann  IV.,  II,  404  f. 
Johann  VIIL,  III,  271. 
Johann  XXII.,  III,  372  382 

388'398  430  513. 
Johann  v.  Baconthorp  III, 

430. 
Johann  v.  Jandun  III,  411. 
Johann  v.  Paltz  III,  504. 
Johann  v.  Paris  III,  494. 
Johann  v.Salisbury  111,421 . 
Johanneische  Schriften  72 

79f.  84f.  91  116  141  156 

159  162  173  180  197  213 

291  298  306  f.  355  358  f. 

471  529  61 7  ff.  620  659 

665  717ff.  II,  202  221. 
Johannesacten  136  154 

163  f.  166  204  216  222. 
Johannes  Cassianus  II,  449. 
Johannes  Damascenus  II, 

30  39  40  61  90  98  111 

116  118  1230'.  127  130f. 

136153—56170  174  193 

290  ff.    383  f.    411—414 


439  f.  451  456 11.460  481  f. 

III,  247  258  275  280  318 

151  453  575. 

Johannes  de  Oliva  III,  372. 

Johannes,  d.  Apostel   133 

609. 
Johannes,  d.  Täufer  58  92. 
Johannes Philoponus  II,  76 
123  290  391111,318  325. 

Johannestaufe  177  633. 

Johannes  v.  Antiochien  II, 
341  345  f.  349  f.  357. 

Johannes  v.  Ephesus  II,  378 
391  400. 

Johannes  v.  Jerusalem  II, 
472  f.  III,  160  fr. 

Jonas  V.  Orleans  III,  274. 

Jordanus  v.  Osnabrück  III, 
7. 

Joris  III,  664. 

Josefinisnms  III,  622 f. 

Josephsehe  III,  523. 

Josephus,  Jude  93  f. 

Jovian  II,  260. 

Jovinian  II,  10  66  451  III, 
25  50ff'.  157  165  192. 

Irenäus  110  116  125  135 
146  f.  165  174  181  202 
205  211ff.  214  2261'.  243 
255  280  f.  283  286  292 
293—96  299  f.  308—328 
329  ff.  335  ff.  338  ff.  343  f 
350  ff.  365  f.  383—88  393 
395  f.  398  401  f.  405  f. 
408  f.  464— 547  f.  556  fif. 
570  f.  577—92  598  601 
604ff.  61211,14  63  82  91 
96  f.  105  130  135  138  141 
151  158  165  169—72  174 
176  194  202f.  213  221 
237  276  f.  282  287  302 
308  333  888  450  464  HI, 
38  525  561  731. 

Irenäus  v.  Tyrus  II,  35(?  363. 

Irene  II,  459. 

Iroschotten  III,  290. 

Irvingianer  III,  369. 

Isidorus  733 II,  348439  ni, 
244  251  262  277  319. 

Islam,  s.  Muhammed. 

Italiener  III,  7  217  f.  659  f. 
644  ff. 

Jubelablass  III,  516. 

Judaisiren  244 f.  2471'.,  s. 
auch  Judenthum. 

Judasbrief  210  289  312. 

Juden,  spanische  III,  420. 

Judenchristenthum  78  ff. 
119  133  209  229  237  f. 
244—70  313  507  595  II, 
201. 


Judenchristejithuni,  pjnosti- 
sches  (synkretistisches) 
162  206  ir.  246  f.  25811'. 
2661V.  614  636 

Judeuchristliche  Schriften 
251  If. 

Judenthum  40 ff.  124  140 
14711".  187  2411"  244«'. 
2581'.  418  531  f.  536  tt".  540 
575  7471'.  II,  110  112 
1401'.  154  191  201  206 
232  243  286  288  329  370 
454f.  III,  331  516  644 
667. 

Judenthum,  alexandr.  50 f. 
262  418. 

Jünger,  die  siebzig  322. 

Julian  (Kaiser)  732  II,  28 
34  66  251  254  260  264 
446. 

Julian,  Apollinarist  II,  315. 

Julian  von  Eklanum  III, 
153  15411".  16711".  170— 83 
211  228  550. 

Julian  V.  Halicaruass  II,  52 
388  f. 

Julian  V.  Kos  II,  359  361. 

Julianisten  (Grajauer)  II, 
388. 

Julius  Afrikanus  380  550 II, 
331. 

Julius  V.  Rom  II,  92  101 
237 ff.  272  312  346  358. 

Jungfrauengeburt  87  91 1 14 
131  161  170  ff.  174  217 
220  255  ff.  264  507  f.  520 
661  f.,  s.  auch  Gottesge- 
bärerin  III,  203  235  252 
276f.b48  675. 

Junilius  II,  32  62  70  74  78 
81  III,  27  218  253. 

Jurisdiction  der  Priester 
III,  507  f.  515  f.  522. 

Jurisprudenz ,  s.  Rechts- 
begrifi'e. 

Juristen,  röm.  108, 

Justin  I.,  Kaiser  II,  36 
381  f. 

Justin  II.,  Kaiser  II,  400. 

Justin  87  89  92  100  119  121 
125  130  132  1341".  138 
140f.  1431481".  15511'.  159 
161  f.  167  171  f.  173  174 
bis  184  205  207  210  212 
227  f.  243  252  269  278 
280  282  289—911'.  300 
3051'.  319  334  366  379 
398  413—64  42111'.  439  f. 
456ft'.  465  4711'.  476  504 
526  529  531  553  580  687 
72611,277  2871.312  418 


Sachreofister. 


777 


435  450  III,  71  203  324 
460. 

Justin,  Gnostikcr  200  215. 

Justina,  Kaiserin  II,  272. 

Justinian  (Kaiser)  733  II, 
30  36  f.  39  65  88  94  122 
380  382  f.  391—400  402 
405  f.  410  454  478  f.  III, 
697, 

Justinian  von  Valentia  III, 
252. 

Juvenal  v.  Jerusalem  II,  363 
367  369  371  377. 

Ivo  III,  520. 

Kain  U.Abel  743  f. 

Kaiserkult  103  f. 

Kaliist,  s.  Calixt. 

Kanon  129  132  309  620  (s. 
Glaubensregel,  Bekennt- 
niss,  hl.  Schrift,  A.u.  NT.) 

Kanon  d.  NT.  (Erfolge  des- 
selben) 324—28. 

Kant  111,  672. 

Kappadoc.  Theol.  110  608 
689  II,  24f.  33  45  65  77 
79  82  84  90f.  93  118  125 
136  153  158  175  238  253 
255—72  285ff.  290ff.  295f. 
301310319f.320ff.333f. 
346  391  425  433  ff.  449 
465  f.  468  477  481  III, 
24  ff. 

Karlen,  Synode  von  U,  186 
261. 

Karl  d.  Grosse  II,  298  300 
455  III,  247 ff.  257  270 ff. 
291  296  299  310  319f. 

Karl  d.  Kahle  II,  300 f.  III, 

247  268. 

Karl  von  der  Provence  III, 

268. 
Karl  V.,  Kaiser  III,  571  f. 
Karolingische  Epoche  III, 

244ff.  319f. 
Karlstadt  III,  754  f. 
Karpokratianer  104  201  f. 

203. 
Karthago,  s.  Carthago. 
Katastascn    II,    151  f.    154 

170  329  ill,  673. 
Katharer  377  f.  751  111,300 

309  :}70  408  464  487. 
Katholicismus,    katholisch 

64  f.  183  185  190  ir.  214  f. 

248  fr.  265  f.  273  fr.  283  fr. 
287  H'.  298  fr.  303  324  fr. 
334  fr.  363  379  3S1  ff.  400 
bis  412  614  703  737  f. 
747 f.  11,  HO  113  III,  38 
39  f.  134. 


Katholische   Briefe   312  ff. 

II,  73  f. 
Kautz  III,  663. 
Kelchentzichung   III,   339 

496  598  f. 

Kenose  II,  304  322  f.  III, 
743. 

Kertzen  III,  604. 

Kerygma  66-74  129  ff.  169 
bis  173  188f.  216f.  222 
289 f.  293 ff.  306f.  455 
479  11,90  105  f.  282. 

Kessler  737—51. 

Ketzer,  s.  Gnostiker,  Häre- 
tiker u.  die  einzelnen 
Secten  III,  394  408. 

Ketzertaufstreit  347  f.  351 
375  411  687  II,  427. 

Kindercommunion  399  II, 
440  III,  496. 

Kindertaufe  176'^395f.  II, 
427  III,  145  158ö;  182 
485f.658  679f.  747  748f. 

Kirche  41  f.  68  ff.  77  f.  114 
119f.l25ff.l37162181ff. 
221f.275f.308  310  324ff. 
328  ff.  333—53  353—83 
389  396  399  f.  518  523 
525  533f.  563  565  f.  583 f. 
606  626  fi'.  672  700  702  f. 
705  f.  714  f  II,  84  fr.  91  ff. 
104  109ff.422flf.  431433 

III,  lOf.  35ff.39£f.  53  59 
68  70  ff.  74  124  128—151 
393— 419  422ff.440f.458 
462  488  561  570  687  ff. 
704f.  724  728f.  735  740f. 

Kirche  als  civitas  342  f.  III, 

124  136—140. 
Kirche  als  Mutter  337  III, 

136. 
Kirche  u.  Christus  127  ff. 

333  f.  m,    131    148,   s. 

Kirche. 
Kirche  u.  Staat  379  f.,  im 

2.  Band  passim.  III,  136 

bis  140. 
Kirchcnbegriff,   hierarchi- 
scher 338fi".  34  3fl".  II,  90  ff. 

138  f.  145  fl  393—419. 
Kirchenjahr  II,  442. 
Kirchenlied  706. 
Kirchensprachc  111,  13  20 

413  593  f. 
Kirchenstaat  III,  650  f. 
Kledonius  II,  285. 
Kirchciizucht  363  f.  367  bis 

378. 
Klcinasiatisches    Christcu- 

thum  u.  Kirche  125 f.  131 

136213245247290293fr. 


307  311  f.  323  347  353  ff. 

362  f.  386  410  f.  407  ff.  471 

653. 
Kleobius  207. 
Klcomenes  652  654  657  660. 
Kleriker,  niedere  403. 
Klerus,  s.  Priester. 
Kliefoth33f.  III,  582. 
Knecht,   Bezeichn.  Christi 

155. 
Köllner  III,  623. 
Köln,  Synode  II,  242. 
König,  Christus  als  713. 
Körperlichkeit  Gottes  150 

586. 
Kollydianerinucn  II,  451. 
Konstans  I.,  II,  239  f.  243. 
KonstansIL,  II,  404ff. 
Konstantia  11,  234. 
Konstantin  d.  Grosse  381 

385  II,  8  13  18  31  64  72 

92  94  101 189 190f.  220 f. 

224  f.  226  ff.  231— 235264 

374  464  ni,  438. 
Konstantin  IL,  II,  239. 
Konstantin     Kopronymus 

II,  450  454  457  f. 
Konstantin  Pogonatus  II, 

408  i. 
Konstantinopel  378,  II,  99f. 

103 f.  348  ff.  358  368  377 

400  403  ff.  410  473  III, 

216  247  270  317ff. 
Konstantinopcl,  Synode  v. 

336  II,  235  237. 

—  Synode  v.  360  II,  250. 

—  Synode  v.  381  II,  33  93 
99  264  ff.  284  319  372. 

—  Synode  v.  382  II,  267 
270  f.  284. 

—  Synode  v.  383  II,  273. 

—  Synoden  v.  448  u.  450 
II,  357  361  367  371. 

—  Religionsgespräch  von 
531  II,  392. 

—  Synode  von  536  II,  393. 

—  Synode  von  680  II,  39 
408  ff.  447. 

—  Synode  V.692II,  410427. 

—  Synode  v.  754  II,  452 
457  f.  III,  273  275. 

—  Synode  v.  84211,461. 

—  Synode  v.  869  III,  274. 

—  Synode  V.  1156  111,358. 
Konstantinop.  Symbol  II, 

86  f.  266  ff.  281  284  293 
298  300  III,  270  f.  592 
626  666. 
Konstantius  II,  235  ff. 
240  ff.  243  fr.  251  261 
264  374. 


778 


Sachregister 


Konstanzt'r  Concil  III,  308 
400  411  417  4im  519  552. 

Kopttii  11,  :i49. 

Koptische  Möiu-hc,  siehe 
Mouche  II.  öüOf. 

Koriiith.  (Jcnieiiicle  124. 

Kosinolooic  1464  lOlUHOlV. 
<)H0   11,  62  1221V.  2171". 

iii,y8tr. 

Kosmos  710. 

Kreuz,  8.  Tod  Christi. 

Kreuzeszeicheu  II,  90  126 

422  450  457  III,  561. 
Kreuzzü^re  III,  299  il  511. 

Luctuutius  287  477  487  493 
5266701V.  73111,122125 
283  III,  20  156  171. 

Laien  u.Laicnchristenthum 
606ff.  III,  386  390f.  394. 

Lameuuais  III,  021  647. 

Lanipsakus,  Synode  II,  26 1 . 

Lant'rauc  III,  321  335  ff. 

Lange  29. 

Langres,  Synode  LEI,  266 
268. 

Laodicea,  Synode  309 II,  70 
126. 

Laodieenerbrief  III,  593. 

Laurentius  Valla  III,  438. 

Läuterungsfeuer  602. 

Lateransynode  von  649  II, 
406  f. 

—  V.  863  III,  274. 

—  V.  1123  ni,  307  ff.  407. 

—  V.  1139  III,  307  ff; 

—  V.  1179  III,  308  f.  451 
464. 

—  V.  1215  II,  100  III,  308 
340f.  394  441  447 f.  464 
488  f.  499  505. 

—  V.  1515  in,  400. 
Laxismus,  s.Probabilismus. 
Lazarus,  gallischer  Bischof 

III,  lOl. 
Leben,    asketisches,  siehe 

Mönchthum. 
Leben,   ewiges  und  Aufer- 

stehung73102r22f.l41ff. 

180  f.    382   394  572  II, 

c.  2  5  III,  182,  s.  auch 

Vergottung  529  f.  541  f. 

672  ff.  681. 
Leben,  thätigcs  III,  384  ff. 

706  ff. 
Lehrer,    Bez.  Christi    156 

300  413—464  passim. 
Lehrer,  s.  Propheten. 
Leibniz  571  III,  3  65. 
Leiden  Christi,  siehe  Tod 

Christi. 


Leidrad  von  Lyon  III,  258 

261. 
Leo  L,  412469  507  512  686 

751  n,   30  35  39  94  100 

102  174   179   181  297  f. 

308  342  350  ff.  354  356 

357-378   (cp.  ad  Flav. 

359  361)37811.  386  f.  402 

438  474111,216  224  234. 
Leo  III.,  Tapst  II,  298  III, 

271. 
Leo  IX.,  Papst  III,  307  309. 
Leo  X.,  Papst  III,  400  567 

617. 
Leo  I.,  Kaiser  II,  378. 
Leo  der  Armenier  II,  461. 
Leo  der  Isaurier  II,  454  f. 
Leo,  russischer   Patriarch 

II,  46. 
Leontius   von   Antiochien 

II,  184. 

Leontius  v.  Byzanz  646  II, 
37  290  383  ff.  387  391  ff. 
402  410 ff.  438  477  f.  481 

III,  258  575. 
Leontius  in  Gallien  III,  226. 
Leporius  II,  344. 
Lerinumin,  220  f.  228. 
Leseschriften,  kirchl.  306  f. 

311f.  314. 

Lessing  28. 

Lessius  III,  624  6  U. 

Leucius,  s.  Johannesacten 
u.  II,  440. 

Leukipp  III,  172. 

Libanius  II,  258  f. 

Liberius  II,  244  248  261, 
III,  53. 

Licht   u.  Finsterniss  742. 

Lichtgott  743. 

Licinius  II,  189  f. 

Liebe  54  f.  125—127  143 
555  600  III,  61  f.  80  f. 
105  f.  187  f.  209  f.  358  f. 
541f.  612f. 

Liguori,  Alphons  III,  646f. 

Limbus  III,  513. 

Lipsius,  Justus  III,  679. 

Litteratur,  christliche  81 
bis  86  120 f.  129f.  132 
203 f.  312  324. 

Litteratur,  gnostische  197 
203  f. 

Litteratur,  jüd.-theol.  712. 

Litteratur,  kirchlich  -pro- 
fan 324  f. 

Liturgien  350 II,  41  89  417 
419f. 

Livania,  Wittwc  III,  160. 

Lösegeld  II,  174f.,  s.  Ver- 
söhnung. 


Logos  85  91  96  f.  163  166 
268  277  280  283  f.  297 
303  42211".  443  ff  488  ff. 
491  ff.  499  f.  514  ff.  543 
546  553  ff.  565  f.  569  574 
576  578—86  590—604 
605-618  619-73  675 
679  ff.  682  ff.  686  693  698 
700  f.  7031".  708  717  f.  II, 
128  143  f.  158  ff.  184  ff. 
196  ff.  207  ff.  217  ff.  227 
237  242  244  258,  s.  d.  8. 
u.  9.  Capitel. 

Logoschristologie,  Gegner 
der  605—616. 

Loman  49. 

Lombardische  Arme  III, 
368  f.  372. 

Longin  132  727. 

Loofs  III,  585  f. 

Loskaufung  521,  s.  Ver- 
söhnung. 

Lothar  v.Lothring.III,  268. 

Lucasevangelium  52  f.  3 1 1  f. 

Lucasprolog  132. 

Lucian,  der  Märtyrer  und 
seine  Schule  381  549  613 
645  704  708  II,  16  18  78 
118  183 ff.  199f.  218  225 
bis  231  239  278  309  319 
326  464  475  f. 

Lucian,  der  Spötter  104. 

Lucidus,  Presb.  III,  225  f. 

Lucifer  v.  Cagliari  II,  233 
244  f.  254  272111,22  25. 

Lucius  III.,  Papst  III,  368. 

Ludwig  d.  Bayer  III,  372. 

Ludwig  XIV.,  König  III, 
619  f.  636  645. 

Ludwig  d.  Fromme  II,  461 
III,  247  264  273  320. 

Lüge  III,  200  f. 

Lupus  v.Ferricres  111,265. 

Luther  4  ff'.  24  116  277111, 
37  73  98147  198  213391 
409  416  437  516  553  571f. 
582  605  643  646  65 1  659 
665  672  691—764. 

Lyon  287  300  356  360  364 
387407  526111,268  559. 

Lyon,  Synoden  111,226  308 
403  452. 

Lyoneser  Arme  III,  368. 

Machiavelli  III,  578. 
Maccdonianer  II,   90   186 

262  265 ff.  280ff.  111,85. 
Macedonius  II,  280  f. 
Märtyrer  u.  Martyrium  184 

299  361  365  387  393  f. 

II,  7  66  96  445  f.  453. 


Sachregister. 


779 


Magdeburger  Centurien  24. 

Magier  202  f. 

Magnentius  II,  243  f. 

Mailand,  Synoden  II,  242 
244  269. 

Mailand,  Stuhl  II,  399  f. 

Maimonides  III,  420  516. 

Mainz,  Synode  III,  261. 

Maistre,  de  III,  621. 

Makarius,  Lehrer  Lucian's 
549. 

Makarius  Magnes  731. 

Makarius  v.  Antiochien  II, 
408  f.  439. 

Makarius  v.  Jerusalem  II, 
227. 

Makarius  d.  Grosse  II,  12  f. 
54  141  145  168  423  433f. 
449. 

Makkabäerbuch,  viertes  95. 

Malchion  637. 

Mandäer  740. 

Manelfi  III,  664. 

Mani  u.  Manichäer  243  304 
313  647  690  737—751 
11,34  45  69  110  117  120 
124  f.  132  189  243  293 
362 f.  374  409  445  449 
456  471  475  III,  29f.  48 
50  70  85  109  111  114  f. 
168  178  183  191  198 
214  226. 

Marathonius  II,  284. 

Marburger  Artikel  III,  583. 

jMarc-Aurel  106  HO. 

Marceil  v.  Ankyra  23  470 
675  681 II,  24  69  98  151 
200  235  236  IT.  239  ff. 
243  246  253  257  260  262 
270  279  286  292  297  311 
312  313f.  320  326  464. 

Marcellus,  Papst  III,  36. 

Marcia  404  407. 

Marcian,  Kaiser  II,  100, 
110  366  ff.  373  ff.  377. 

Marcion  u.  s.  Kirche  79 
116121  122  125  134  166 
173 191 197203211 215ff. 
221  ff.  226—43  248  252 
267  273  280  291  ff  304  ff. 
327  f.  338  359  368  377 
379  383  4061.  464ff  471 
480—485  488  49  ^  508 
510  513  531  577  ff.  615 
650  680  685  705  741 
748  750  II,  69  110  174 
302  475  III,  65  191  203. 

Marcus,  Evang.  312. 

Marcus  ,  Gnostikcr  202  ff. 
212  225  383. 

Marcus  v.Arothusall,  249. 


Marcus ,  spanischer  Irr- 
lehrer III,  252. 

Maria,  s.  Gottesgebärcrin, 
Jungfrauengeburt  u.  II, 
47  204  216  328  333  336 
339  357  445  450  ff.  III, 
198  203  211  235  276  f. 
369  523  558  ff.  608  626 
639. 

Marinus  733. 

Maris,  Perser  II,  395. 

Maris  v.  Chalcedon  II,  184. 

MariusMercatorlll,  154  ff. 
169  252. 

Maroniten  II,  410. 

Marsihus  v.Padua  111,411. 

Martin  I.,  Papst  II,  406 f. 

Martin  V.,  Papst  111,411. 

Martin  von  Tours  II,  449 

in,  53. 

Martin  v.Troppau  III,  398. 
Massilia  III,  220  f. 
Materialismus  720. 
Materie  218  228  449  481 

571587  595ff.  688f.  729. 
Mathilde  v.   Sachsen  III, 

296. 
Matthäus,  Ev.  312. 
Matthias  216. 
Maxentius ,       skythischer 

Mönch  III,  228. 
Maximilla  356  ff. 
MaxirainusThrax.  332  412. 
Maximus  Confessor  II,  292 

401  405  ff.  412  426  454 

460  480  f.  III,    244  247 

319. 
Maximus,  Candidat  f.  Kon- 

stantinop.  II,  265  f. 
Maximus,  Philosoph  732. 
Maximus  v.  Antiochien  II, 

369. 
Maximus  v.  Jerusalem  II, 

243. 
Maximus,    Usurpator,   II, 

272. 
Meiert  F.  K.  30. 
Melanchthon  24   III,    663 

698  711  713  719  740  750 

756  f. 
Mclchiscdck  168  627   660 

090. 
Meletianer    in    Acgyptcn 

III,  37. 
Molctianischc       Sjialtung, 

Meletianer  II,   188  232 

234f. 
Mcletius    von    Antiochien 

II,  255  260f.  262ff.  265f. 
Melctius   V.  Lykopolis  II, 

184. 


Melissus  III,  172. 

Melito  150  157  165  f.  280 

293  308  365  379  402  429 

465  470  f.  476  487  496 

509  ff.  526    529  660  II, 

70  194  310. 
Memnon  v.  Ephesus  II,  345. 
Mcmra  91. 
Menandcr  207. 
Mennas  v.  Konstantinopel 

II,  345. 
Menno  Simons  u.  Menno- 

niten  III,  65  i  656. 
Menophantus    v.  Ephesus 

II,  184. 
Mensch,  Lehre  vom,  s.  Apo- 
logeten und  499  ff.  504  f. 

514  f.  588  f.  etc.  etc. 
Menschensohn  58165  506ff. 

596. 
Menschheit  Christi  160  bis 

166,bes.l65f.220f.595f. 

598  608 f.  622  670  713ff. 

II,302ff.u.  sonstIII,49. 
Mensch  werdungChristi  281 

296f.  454  ff.  473  ff.  497  f. 

506  ff.  572  592  598  608 

611  627—48  661664  666 

688  70171811,45  ff.  139 

l46ff.  156157— 172172f. 

199  215  f.  302  ff.  328  ff. 

u.  überhaupt  das  9.  Cap. 

421428f.435f.438450f. 

453ff.  461  467f.  482111^ 

117  258ff.  355f. 
Mcritum  de  congruo  et  de 

condigno  ill,  227 ;  s.Ver- 

dienst. 
Merswin  III,  388. 
Messe,  s.  Abendmahl. 
Messianische    Stellen    im 

I.  Bd.  passim.  u.  II,  78  f. 
Messias  (heid.  Vorstellung) 

103  206. 
Messias  (jüd.  Vorstellung) 

47  55  57  f.  88  f.  98  206 

256  712f. 
Metatron  91. 
Methodius  110  260  283  f. 

692  696— 705 II,  11  15  f. 

28  65  144  163   165  168 

221  232  322  423  f.  433f. 

463  III,  25  f. 
Metro dorus  321. 
Metropolitanverfass.     380 

II,  8  31. 

Michael,  der  Engel  150  II, 

127. 
Micliacl,  der  Stammler  II, 

461  111,  273. 
Migctius  III,  251. 


780 


Sachrejiister. 


INIikiokoHmos  II,  133  149 
155  433. 

Miltiadcs  429  470  476. 

Mimiciuy.Fdix  104  106278 
389  4l3f.  434 tr.  111,  20. 

INlithras  103  205  392  395 
11,  434  442. 

Moilalismus  u.  Modalistou 
157  495  512  fV.  59(5  015 
634  tV.  648—81,  s.  auch 
Sabcllianisnius  Hl,  447. 

Müdalisinus,   naiver   153  f. 

166  221  235  651. 
Modestus  470. 
Möiichthuni    225  284  291 

379  t'.  530  606  702  ff.  745 

II,  9 f.  23 f.  35  f.  42 f.  55 f. 
60  62  66  69  114  118  123 
133  136  f.  165  259  848 
358  376  378  f.  386  395 
405  f.  423  ff.  437  444  f. 
453ff.  458  467  477f.  III, 
9  f.  25  ff.  50  ff.  53  125 
155  ff.  189  225  f.  233  234  ff. 
289  ff.  296  ff.  364  ff'.  386 
546  700  f.  706  ff.  720. 

Mönchs vereiue  691. 
Moghtasilah ,      Confcssion 

der  740  747. 
Molina  III,  628  631  f. 
Molinos  III,  640. 
Mommsensches   Verzcich- 

niss  der  hl.  Schriften  III, 

22. 
Monarchianeru.-ismus  166 

284  328  352  360  466  496 

578ff'.  611— 48  649— 681 

686  718. 
Monergismus  II,  401  ff. 
Moneta  III,  487. 
Monophysiten   II ,    36  40 

51  f.  64  74  86  89  113f. 

167  169  290  304  333  ff'. 
337  ff.  u.  das  9.  Cap.,  s. 
u.  A.  375  f.  379  ff.  386 ff. 
392  f.  401  ff.  429  438 III, 
248  ff.  452  f. 

Monotheismus,  christlicher 

150ff.  159  610ff.665  671 

678  695. 
Monotheismus,  griechisch. 

102  ff. 
Monotheletischcr       Streit 

646  II,  39  386  401—412 

III,  248. 
Montanisten   und  Montan 

104  130  140  166  201248 
273  f.  307  316  ff.  327  344 
352353—67,378386402 
407  529  608  612  ff.  650 
II,  275  f. 


INI  oral  u.  Dogma  II,  53  f. 
iHJ  446,  dazu  das  4.  u. 
5. Cap.  Im  III.B.passini. 

Moralismus  14211'.  170  278 
281  284  413-164  499 
5(11  f.  504  563  671  111,21 
47  660  f.  u.  sonst. 

Morgan  III,  154. 

Moses,  5  Bücher  93 f.  587 
639  711  744. 

Mosheim  25  f. 

Miinscher  30. 

Münzer,  Thomas  III,  663. 

Muhainmed,  Muhammeda- 
ner  261  265  740  746  749 
II,  66  68  291  415  454 
475  III,  97  251  f.  331. 

Muratorisches  Fragment 
131  197  308  ff.  336  366 
II,  82. 

INIusanus  201  471. 

Mystagogische  Theologie 
II,  37  f.  41 6  ff.  423  ff.  439 
453  ff.  467  ff.  477  f.,  s.  auch 
Methodius. 

Mysterien  u.  -kultus,  My- 
steriosophic  und  Mysta- 
gogie  102  f.  126  176  ff. 
189  f.  194  f.  203  214  222 
225  228  275  281284  287 
383 ff. 3923941'.  398 f. 731 
II,  40ff.  62f.  64  89  111 
H2f.  126  fr.  139  142  153 
162  168  224  831339  413 
bis  462482111,260  271  f. 
275  f. 

Mystik  140f.  284  341  485 f. 
504f.  571  630  701  733 
735 f.  II,  37  144  165  ff. 
375  390  416  423ff'.467ff. 
477f.  III,  94ff.  214248 ff. 
260  271  f.  314  ff.  322  ff. 
374—384  388  573  656 ff. 
660  f.  692  704. 

Mythologie  97  107  193  ff. 
722  f.  731  749  und  im 
II.  Bd.  passim. 

Naassener203f.215f. 

Nachfolge  Christi,  s.  Jesus- 
Liebe. 

Napoleon  I., Kaiser  III,  621. 

Narcissus  v.  Neronias  II, 
184  230. 

Natalius  624. 

Natur  (i.  d.  Dreieinigkeit) 
489  (Christologic)  511  f. 
719,  s.  auch  Hypostasis, 
Substanz,  Physis. 

Natura  et  gratia  500  III, 
21  44  f.  57  f. 


Naturbetrachtuug ,  christl. 
146  150 ff.  III,  102f.  313. 

Nazaräer  257  260. 

Neaudcr31f.  650  III,  584. 

Nektarius  v.Konstantiuop. 
II,  265  271. 

Nemesius  II,  312. 

Ncocäsarea,  Synode  379. 

Nepos,  Bischof  530. 

Nero,  wiederkehrender  527 
II,  67. 

Nestorius  u.  -auer  248  631 
638  II,  52  70  78  89  114 
290ff.  339— 48  u.  passim. 
im  9.  Cap.  361  438  451 
458  475  III,  154  169  228 
248  ff.  256  329  451  460 
756. 

Neues  Testament  45  f.  92 
115  f.  132  134  215ff.255 
273  ff.  285  288  301  f.  304 
bis  328  347  353  362  365 
370  377  402  464  ff.  519 
531  ff.  575  609  614  f.,  s. 
Schrift,  heilige. 

Neuplatonismus  106  f.  194 
196  282  284  419  554  f. 
571  605  626  652  f.  672 
683688  708  719—37  738 
750  II,  16  37  40  67  76 
115117f.  r23f.l27f.  132 
143  195  217  259  297  307 
417  419  425  434  444  461 
465  468 ff.  477  480  III, 
30ff.  47  50  74  89f.  99 ff. 
113  f.  118  f.  244  266  303 
318  322ff.  378  381  448. 

Neupythagoräism.  107  725. 

Nicäa,  l.Concilu.  Kanones 
399  403  411  669  692  708 
11,21  34  92f.  99101  105 
192  204  224  ff.  237  244 
254  372  III,  28  42. 

Nicäa,  Synode  v.  787  II, 
95  127  441  442  448  450 
452  459ff.III,  272f.  274 
277  603. 

Nicäno  -  Constantinopoli- 
tanum  II,   86  f.  92  f.  94 
225ff.  236f.  239f.  266ff. 
275  297  299345  358363 
368  373  379. 

Nice,  Synode  II,  106  249  f. 

Nicephorus  676. 

NicetasIII,  218. 

Nicolaus  von  Kus  III  412 
438  557  657. 

Nicolaus  V.  Methonc  III 

Nicolaus  I.,  Papst  III,  299 
307  309. 


Sachregister. 


781 


Nicolaus  IL,  Papst  III,  337. 

Nicole  III,  643. 

Nihilianismus  III,  451. 

Nilus  II,  438. 

Nisibis,  Schule  n,  70  81. 

Nitrische  Mönche  II,  473. 

Nitzsch  35  635  677111,316. 

Noailles  III,  636. 

Noet  u.  Schule  166  648 

650  ff.  653  ff.  658 ff.  661 

674  677. 
Nominalismus  652  III,  313 

323f.  336  384  404  430  ff. 

440 '144 ff.  467  469  478  f. 

482f.  486  489  492ff.  548 

bis   562  568  573f.   576 

606  ff.  633  655 f.  659  ff. 

664   737   756   758,  vgl. 

Socinianismus. 
Nonadorantismus  III,  666 

678  f. 
Nordafrikanische  Kirchen 

II,  94  397  ff.  405  f.  III, 

216f. 
Normen,  kathol.273ff.  288ff. 
Noting  ni,  264. 
Novatian  u.  Schule  (Person 

und  Schisma)  104  153  ff. 

159  287  303f.345f.351f. 

354  350  369—78  379  469 

491  493  524  542  547  637 

649  652  f.  655664667672 

68711,34  92  101  114  254 

273  f.  343  III,  21  23  28 

34  39  94. 
Numenius  98  107  110  692 

725 f.  II,  143  217. 
Nus  (voü;)  728 ff. 

Obex  111,481. 

OccamIII,410f.  429f.  433 
444 ff.  453  469  484  494 
550  556  ff.  560  756. 

Occhino  III,  CS^. 

Udo  V.  Morimond  III,  30  j. 

Oek()lamr>ad24IlI,  756. 

Oekonomon,  montanisti- 
sche 356. 

Oekonomie,  s.  Apologeten 
u.  490  f.  497  500. 

Oekumenischo  Synoden,  s, 
Concilien. 

Of'lung,  H.  Confirmation  u. 

II,  421. 

Oelung,  letztem,  520  602. 

OnV^nljarung  .Ifdiannes,  s. 
Apokalyj).  .loh. 

Orieiibaniiig,  Lehre  von  der 
420  fr.  436  f.  453  ff.  565 
569  573  576  ff.  591   738 

III,  112f.u.  sonst 


Offenbarungsgeschichte 

362  565. 
Offenbarungsphilosophie 

97  193f.415ff.42(»ff.722 

738. 
Offenbarungssehnsucht 

102f.  108  417. 
Offenbarungszeit ,         Ab- 

schlussder316f.326358f. 

366  578. 
Ohrenbeichte  III,  413. 
Oj)era  supererogatoria  II, 

136. 
Opfer,  christliches  115  137 

169f.l73ff.  178ff.386bis 

92  52211,1 12 174  ff.427  ff. 

432—440  III,  240  f.,  s. 

Abendmahl  291. 
Opferwesen,      heidnisches 

I75ff.  179f._ 
Opferwesen,  jüdisches   62 

179f.208f.258f.  263  385. 
Ophitenl73  200  202  211f. 

216. 
Optatus  353  C73  II,  99 III, 

22  35  38ff.  48  127 f.  139 
Opus   operantis   (operans) 

III,  470  479. 
Opus  operatum  III,  470  479 

596  721  751  754. 
Orange,  Synode  III,  230f. 

269. 
Ordalien  III,  275. 
Ordination  393  III,  37  f. 

145  f.  398  407  464  471 

520  ff. 
Ordines  Septem  III,  521  f. 
Orientalischer  Kultus  192  f. 
Origenes  u.  Schule   10  67 

89  92  99107  116  136  150 

155162167172188190f. 

197  200  221  223  ff.  245 

250  253  256f.  260  277ff 

281  ff.  302f.  309  315  324 

326  f.  332  f.  .342  ff.  351  f. 

358  366  372ff.  380fr.  383ff. 

386ff.   391    395f.    398f. 

402f.  410  419  466  468 

483  488  499  517  f.  525 
-604    608  6'29 


r.'\i  nr.Q^ 


oo 

633  ff.  642  048  f.  653  658 
660  669  676  f.  681  685 
687  f.  690— 705  727  734  f. 
II,  3f.  11  f.  14—25  27 f. 
35  36  f.  53  56  63  65  f.  67 
70  72  74  f.  77  79  80  ff.  89 
111  120  122f.  125  f.  128 
1.30  ff.  135  137  f.  143  f. 
149f.  154  158  101  166f. 
172174  175r.  184  194  200 
203  207  1".    217  f.   220  ff. 


225  ff.  232  239  243  253  f. 
258 f.  272277f.  282  286f. 
303  309  f.  3 12  f.  320  ff. 
349  361  383  388  395  f. 
398  406  418  423  f.  426 
432  f.  443  462  ff.  466  bis 
480  in,  13  25 ff.  28 f.  69 
91  97  160  278  303  323f. 
332  378  450. 

Origenistische  Streitigkei- 
ten II,  29  110  383  395 
471  ff.  477  ff. 

Orleans,  Synode  III,  252. 

Orosiusin,  156  101  f. 

Ortlieber  III,  408. 

Ossener  260. 

Otto  L,  Kaiser  III,  299. 

Otto  V.  Bamberg  III,  464. 

Pacian  III,  22  34f. 

Palästina,  Christen  in  §  5 

6S.245ff.251ff.256f.26L 
Palladius  II,  449. 
Pamphilus  342  634  688  704 

11,90  464. 
Pamphylische   Synode  II, 

379. 
Pantänus  552. 
Pantheismus  569    II,   128 

144  163  166f.  168f.  390 

424  446  478  IH,  381  f. 

408420444f.448f.656ff. 

662  f. 
Papias8892127132ff.l39f. 

245  342  357  526  528. 
Papst,  s.  Römischer  Bischof 

u.  III,  10  216  243  307 ff. 
392  ff.  487  f.  509  514  f. 
519520521  f.  566ff.571ff. 
590ff.  594  617— 623  625 
bis  628  647—653  724 f. 
Paradies,  s.  Chiliasmus  und 

II,  66   135 f.  146f.   154 
Tza^ärjozic.  aYpacpoc  II,  88f. 

105  456  f. 
Pardulus  III,  267. 
Paraklet,  s,  hl.  Gleist. 
Paris,  Synoden  II,  251  450 

III,  273. 

Paris,  Universität  111,7  398 
411  f.  561  629. 

Parmenianlll,  38  ff.  48. 

Parmenides  III,  172. 

Parsismus  746  f. 

Parteien  im  apostol.  Zeit- 
alter 76  f.  78  ff. 

Pascal  III,  634  643. 

Paschasinus  II,  368. 

Paschasius  Ra(i})ertus  III, 

246  27()  278  ff  334  :}38 
558. 


782 


Sadlirepfistor. 


Vassahstreitigkeiten      245 

24S. 
Pastor  aeternus,  Bulle  III, 

-100  507  Gl 7. 
l»aatc)aill)riete  1:54  184  210 

230  2G0291306308313f. 

335. 
Pataroiier  III,  408. 
Pathoii  395  III,  486. 
Patriarchatsvertassun^  II, 

97  f.  111,210. 
Patriarchen,  ATlioho  535  f. 

11,8  35  95  98fr.  113. 
Patriarchen ,     montanisti- 
sche 357. 
Patripassianor,  s.     Moda- 

listen. 
Paul  V.,  Papst  III,  G32. 
Paulicianor751  II,  G9  III, 

300. 
Pauliuus  von  Aquilcja  III, 

245  254  207  ff. 
Paulinusvon  Antiochien  II, 

260  2021.  2G5— 271. 
Paulinus  v.  Iconium  38G. 
Paulinus  von  Nola  II,  447 

ITI,  40  155  157. 
Paulinus  von  Mailand  III, 

158  166. 
Paulinus  von  Trier  II,  24^. 
Paulinus  von  Tyrus  II,  184 

194  f. 
Paulus  von  Konstantinopel 

II,  235. 
Paulus   II.   von   Konstan- 

tiuopel  II,  405  f. 
Paulus  V.  Samosata  23  1C5 

304  385  613  656  ff.  666 

693  706  II,  16  24  92  98 

183  ff.  200  201  204  218  f. 

221  237  239  242  252  309 

813f.  320  322  324  ff.  340  f. 

354  u.  passim.,  401  III, 

117  252. 
Paulus,  Apostel  (Lehre  u. 

Briefe)  45  f.  52  f.  72  75  ff. 

81ft;87  9199  111113ff. 

125  129132ff.l40f.  143f. 

146  149  162   164  169  ff. 

178  185  192  197  201204 

207  f.  209  216  228ff.  237  ff. 

241  f.  250ff.  256f.  260ff. 

269   281  304—328  334 

404  ff.  465  ff.  472f.  492 

499  501  f.  504  f.  509  520 

522  524  526f.  609  714 

bis   719  748  II,  50  317 

323  III,  31  f.  37  46  52 

65  68  74  194  2071'.  686 

691f.  702  718. 
PelagiusL,  Papst  II 99399. 


Pelagius,  Pela^ianer  II,  G7 
100  153  17 133 134 2  34 11'. 
474  III,  23  27  151—183 

225  228  435  533  548  ff. 

56 1  605  015  0311".  633 1". 

686  689. 
Pella  256. 
Pepuza  140. 
Peraten200  215. 
Perep^riuus  104  202. 
Ttspi^iupfjOK;  II,  291    412f. 
Perpetua  u.  Filioitas-acten 

144. 
Perrone  III,  G24. 
Persien  II,  348  476. 
Persische  Gottheiten  193. 
Person  (i.  d.  Dreitalti,^keit 

und  Christologie)  489  ff. 

511  f.   599    II,  230  252 

25Cf.  2871".  und  das  8.  u. 

9.  Cap. 
Persönhchkeit ,  Idee    der, 

s.  Augustin,  Mystik  und 

III,  431  529. 
Petrikau,  Synode  III,  667. 
Peter  de  Marca  III,  620. 
Petrobrusianer  III,  487. 
Petrophilus  II,  184. 
Petrus  133—137  216  267  ff. 

348f.405ff.410f.  II,  100 

III,   243   300,   s.   auch 

Leo  L,  Primat,  Römische 

Gemeinde. 
Petrus  Alex.  691  f.  696  II, 

25  188  346  463. 
PetrusII.Alex.il,  262  ff. 

320. 
Petrus-Apokalypse  87  139 

305  312  357. 
Petrus  Aureolus  III,  430. 
Petrusbriefe  72  84  91  132 

159  171  304f.  306  312. 
Petrus  Comestor  III,  305. 
Petrus  Damiani  III,  464. 
Petrus  d'Ailly  III,  412. 
Petrus  Fullo  II,  381  385  f. 
Petrus  Lombardus  III,  328 

330f.  332  861f.  401  443 

447  451  f.  457  464  466  f. 

473  477  480  481  f.  485 

489  491  490  499  505  513 

520f.  522  523  525  ff.  550. 
Petrus  Mongus  II,  380  387. 
Petrus  V.  Kallinico  II,  200. 
Petrus  de  Palude  III,  505. 
Petrus  von  Poitiers  111,470, 
Phantasiasten  II,  388. 
Pharisäismus    52    61  f.  83 

246  f.  258 f.  262  III,  420 

605. 
Philastrius  616  650  676. 


Philemonbriefll,  73. 
Pliili|)p()i)()lis,    Synode  II, 

241  248  270. 
Pluli))[)us  Arabs  412. 
PliilippuH  v.  Gortyiia  471. 
Philo  85  94  ff.  190  204  215 

277  282  418  443f.  553f. 
576  7261.11,78  121  127 
132  208  217  223  272  III, 
28. 

Philo's  Hermeneutik  99  f. 

Philosophie ,  griechische 
106  ff.  187  11'.  226—43 
(s.  auch  Evang.  u.  Helle- 
nismus) 276  ff  298  413 
bis  464  466  f.  480  493 
530  553  f.  505  569  603  f. 
720  734  Philosophie  und 
Dogma  auch  II,  4 9  52  59  f. 
I15ff.  294f.  296f.  383  ff. 
411  422  f.  III  c.  2u.  3 
S.  89  f.  317  ff. 

Philostorgius  II,  7  184198 
200  259  272  312  428. 

Philoxenus,  s.  Xenajas. 

Phlegon  136. 

Phöbadius  II,  247. 

Phokylides  128  f. 

Photin  632  646  II,  238  241 

242  244  262  320  341  III, 
117  252. 

Photius  595  688 f.  741  II, 

44  98  105  293  298  410 

419  in,  274. 
Phrygien  355  ff. 
Phthartolatrie  II,  388. 
Physis   II,  203  213  f.  252 

257  290,  dazu  das  8.  und 

9.  Cap. 
Pierius  688  f.  II,  218. 
Pietismus  III,  751  762. 
Pionius-Acten  249. 
Pistis  Sophia  173  216  604 

703. 
Pistoja,  Synode  III,  623. 
Pistus  II,  236. 
Pithou  III,  619. 
Pius  IL,  Papst  III,  567. 
Pius  V.,  Papstlll,  628f. 
Pius  VI.,  Papst  III,  623. 
Pius  VIL,  Papst  III,  621. 
Pius  IX.,  Papst   III,  625 

639. 
Piatonismus  u.  Plato  106  f. 

109  f.  193  199  201  f.  205  f. 

21l342f.417421ff  426tt-. 

432  4341'.  565  571  587 

611  651  672  71911'.  727  f. 

II,  37  40  52  57  (51  123 

125  132f.  156 1631.1861'. 

245  258  f.  294  312  468 


Sachregister. 


783 


477  IIT,  29  30f.  172,  s. 

auch       Neuplatonismus 

329  436  437  ff.  550  565. 
Pleroma  196  219  223  572. 
Plinius  138  156. 
Plotin   110    493   653    722 

725  ff.  729  f.  735  II,  8 

117  132  217  297  312  481 

in  378 
Plutarch98  106  110  733. 
Pneumatiker  221  f.  608. 
Pneumat.  Christologie  161 

bis  168. 
Pneumatomachen,  s.  Mace- 

donianer. 
Polemon  II,  389. 
Polnische  Kirche  III,  666  f. 
Polychronius  II,  326. 
Polykarp  u.  Brief  104  125 

127    131—173    174  212 

243  285  289  f.  294  304  f. 

306  402  406  409  471. 
Polykarp  -  Martyrium   130 

I55f.  336. 
Polykrates  229  409. 
Polytheismus  103  151  277 

282  414ff.  453  565  720 

II,  7  13  17  f.  41  f.  117 
126  f.  139  201  206  209 
217ff.234  250  418f.  422 
425  f.  429  f.  441  ff.  452  f. 

III,  97. 

Pontian,  röm.  Bischof  412 
607  677  685. 

Porphyrianer  II,  231. 

Porphyrius  110  418  567  ff. 
692  722  726 f.  730  f.  734 
II,  18  28  117  132  297 
312  394  481  III,  323. 

Port  Royal  III,  036. 

Posidonius  106. 

Possessor,  Bischof  III,  229 

Prädestes  616. 

Praedestinatus,  Hb.  111,225. 

Prädestination  ir,  155  171  f. 
111,3381 113f.149f.184f. 
196  207  f.  213f.  222  f. 
224—233  2.38  241  261 
bis270  405ff  414ff.436f. 
542f.552f.686  714f.744. 

Prädicatio  Petri  129  134 
I42f.  146148  150f.  162f. 
174  176259.321. 

Präoxistonz  und  -Vorstel- 
lungen (Christi)  71  72 
88  f.  109  161  f.  167  ff  254 
256  30:{  641  645  f.  661 
709—719  111,  677. 

J'räexistenz  der  Seelen  688 
7 10  f.  (s.  auch  Seelo)  II, 
132  ff.  138  149. 


Präscriptionsbeweis     480, 

s.  Tradition,  Ueberliefe- 

rung. 
Pragmatische  Sanction  III, 

399. 
Praxeas  356  407  409  488  f. 

655  ff.  665  673. 
Presbyter  182f.  226  384f. 

n,  188. 

Presbyter  b.  Irenäus  134 
173  294f.  329f.  405  471 
496  498  523  526  536. 

Priester  ,  christliche  §  4, 
S.  183  276  338  346  372 
383— 86533606  ff.II,  112 
428  f.  III,  146  243  340 
369  393ff.  407  496  500f. 
507  ff.  519  521  f.  601  602 
724  f. 

Priestergewänder  III,  605. 

Primat  Roms  400—412  II, 
100  f.  III,  42  135  216,  s. 
Römische  Gemeinde. 

Priscilla(Prisca)356ff. 

Priscillian  751  II,  297  III, 
53  51  f.  300. 

Priscus  732. 

Probabiliorismus  III,  644. 

Probabilismus  III,  430  435 
589591597605  640—47. 

Proculus  358  380  409  470 
650. 

Professio  fidei  Tridentinae 
III,  340  618  624  f. 

Proklus  110  733  735. 

Prokop  691  II,  275. 

Propheten,christl.u.Lehrer 
87  92  129  132  1.36  138 
145  182  f.  202  f.  215  f. 
235  245  305  310  314 
316  ff.  330  f.  355  f.  363  ff. 
383  386  466  529  .537  ff. 
617  ff.  III,  .373  387. 

Propheten  d.AT.'s  639  744 . 

Prophet.  .Succession  359. 

Propositiones  gallicanae 
III,  619  ff. 

Prosopenlehre  678  ff. 

l»ros])erIII,169220ff.223ff. 
227. 

Proterius  II,  351. 

Protestantismus,  s.  Refor- 
mation. 

Protogeues  II,  240. 

Protoplast  698  f.,  s.Adnm. 

Provin/ialsynoden  II,  92  f. 

Prudcniius  11,240  297111, 
22  26  46. 

IVudentius  v.  Troyes  III, 
265  f. 

Psalmen  64  85  147  111,74. 


Psalmen,  christl.  138  204. 
Psalmenüberschriften     II, 

70. 
Psalmen,  Salomonis  62. 
Pseudoambrosius  III,  230 

491. 
Pseudoaugustin    III,     230 

499. 
Pseudochrysostomus       II, 

438. 
Pseudoclemens  devirigini- 

tate  130  132  703. 
Pseudoclementinische  Ho- 

milien  u.  Recognitionen 

265—70. 
Pseudocyprianl59  377  III, 

21  f.  34  48. 
Pseudocyrill  III,  397. 
Pseudogregor  III,  514. 
Pseudohippolyt  II,  46. 
Pseudoisidor  III,  290  307 

309  f.  397  488. 
PseudoJustin,  oratio  ad  Gr. 

432  de  monarchia  437  de 

resurrectione  433  f.  508. 
Pseudoorigenes  -  Adamau- 

tius  226  f.  483  521   696 

(s.  Adamantius). 
Pseudotertullian  657. 
Psychiker  222  f.  363  381. 
Psychologie  II,  62  129  ff. 

III,  19  94  f.  98  ff.  431. 
Ptolemäus,    Valentinianer 

156  174   197  f.  216  218 

220  223  306  309  480  531 

II,  193. 
Pulcheria  II,  359  ff.  366  ff. 

374. 
Pyrrhus  v.    Konstantinop. 

II  404  f. 
Pythagoras201  205211434 

11,312  111,  172. 

(Juaternität  III,  447. 

Quartadecimaner,  s.  Pas- 
sahstreitigkeiten. 

Qucsnel,  Paschasius  III, 
636  f. 

QuietismusIII,  66f.81  123 
640. 

IlabanusIII,244  264  f.  268 

277  283. 
Radbert,  s.  Paschasius. 
Rakauer  Katechismus  III, 

65,",  i".  668  ff. 
Rationalismus  112  f.  142  f 

195  f.   225  416-464  ]). 

466  f.  473  477  4SI  485  f. 

535ff736n,ll(;ffl29ff. 

139  f.  1431".  416  111,  15  ff. 


784 


Sachrep^istor. 


23  50  57  112f.  154  156ff. 

nur.  327  f.  3G0f.  422  f. 

762  etc.,  8.  das  3.  Cap.  des 

3.  Buches. 
Ratraiimus   III,    265    270 

276  283  IV.  3;;4  f. 
Kaumtlieorien  III,  492  f. 
Haymuud  III,  3ü3. 
Realismus      (spoculativer) 

<;!»7f.7o;'.iii,322ir.42im 

430. 
Kealpiäsonz,  s.  Aljendmahl 

u.  111,  494  f. 
Recapitulatio   471  f.   474  f. 

494  5031V.  509  515  517 

520  521  fV. 
Reccared  II,  298  III,  252. 
Rechtfertiouüg  III,  33  45 f. 

79  f.  1851V.  405  481  485f. 

487  537  fV.  554  ff.  005  bis 

616  686  f.  716  ff.  720. 
Rechtsbcgi'iffe  in  der  Dog- 

matik  389  f.  468  f.  489 

511  513  II,    177  f.  288  f. 

300f.  307f.  III,  5  ff.  14  f. 

26  47  234  ff.  242  307  bis 

312  392ff.570  574  640ff. 

647. 
Redemptoristen  III,  646. 
Reformation  II,  08  84  III, 

390  f.  430  475  479  579  f. 

582ff.589f.593  599600f. 

605ff.  616628  655  f.  661f. 

691—  764. 
Reformconcilien  III,  389. 
Reformirte    Kirchen    III. 

065  ff. 
Regensburg,    SjTiode   III, 

256. 
Regula  fidei,  s.   Kerygma, 

Üeberlieferung,      Glau- 
bensregel. 
Reich  Gottes  (Christi)  54 

56  ff.  119  131  139  ff.  144 

152  173  223  334  525  f. 

III,  136— 140  297  ff.  406. 
Reichersberger,  Theologen 

m  339. 
Reichskirche    378  ff.    626 

II,  31. 
Religion,  mythische  566  f. 
Religion,   natürliche  93  f. 

338  720  746  f.  etc. 
Religion  und  Sittlichkeit, 

griechische  102. 
Religiousphilosophie  §  7  8 

S.  193  ff.  198  f.  551  f.  557 

563  603  729  f.  etc. 
Reliquienkultus  380  II,  7 

41  f.  415  420  422  f.  441 

445  f.  448  f.  452  fl'.   III, 


239  251  f. 
561  603. 


369  379  413 


Remigius  III,  205  f.  268  f. 
Renan  36  78. 
Rcnaistiancezeitalter      736 

III,  381  388  43711'.  5731'. 

577  655  1'.  659  f.  666. 
Renato,   Camillo  III,  664. 
Reordination  III,  398  407 

521  f. 
Repräsentanz   der  Kirche 

II,  91  ff 
Reticius  III,  34. 
Ueue54  56t'.  142f.  II,  142, 

s.  Busse. 
Reuter  III,  321  360. 
Revolution,      französische 

III,  621  623. 
Rlustorik  II,  63. 
Rhodon203  227  f.  243  351 

465  470. 

Ricci  III,  623. 

Richard  v.  St.  Victor  III, 
377  380  444  447. 

Richeheu  III,  616. 

Richter,  Jesus  der  55  68  f. 
155  156  f. 

Rimini,  Synode  II,  249  f. 
262. 

Ritschi  36  273  IIT,  303  377 
383  584  658  ff.  677  ff.  738 
741  761  f. 

Robert  Pullus  III,  332  464 
480. 

Römische  Gemeinde  und 
Bischof  u.  Christenthum 
126  131  136  213  261  264 
267294  300  303  31  If.  323 
331f.  344  f.  348  f.  356  360 
363  371  f.  375—78  380 
406-412  II,  32  95  99 
100  ff.  112  f.  114  f.  234 
243  261ff.  271298f.341ff. 
349  ff.  358  362  377  391  f. 
393ff.  397ff.  405ff.  408f. 
410  f.  III,  5  ff.  23  ff.  36 
42  135  216  217  227  bis 
233251 270274  290  307ff. 
566  ff.  571  ff. 

Römisches  Symbol  87  131 
140  151  155  f.  173  287 
289  f.  294  f.  296  f.  836 
401  f.  II,  87  308  343  860 
m,  218. 

Römischer  Weltstaat  105  f. 

II,  c.  1  III,  215  ff. 
Roger  Baco  III,  401  420. 
Rom,   Synoden   II,   238  f. 

262  f.  269  f.  319  344  473 

III,  166  337  f.  (s.  auch 
Lateransynoden). 


Romanen  TU,  7. 
Romantiker  III,  621  623. 
Roscellin  III,  323  421  430 

446  f. 
Rothe  37. 
Rousseau  III,  512. 
Rufin  II,   11  32  71  79  87 

472f.  III,  29  154. 
Rufus  V.  Thessaloiiich  III, 

168. 
Rupert  v.Deutz  III,  339. 
Ruysbrock  III,  377  388. 

Sabas  II,  479. 

Sal)bath255f.  2621'.  385  408. 

Sa])ellianer  u.  -ismus  235 
:^.07  596  643  ()48  ff.  663 
667  673  674—93  705  II, 
14  189  192  194  202  204 
209  220  222  226  232  236f. 
239  241  243  248  252  257 

260  262  268  270  277  286 
290  294  297  308  382  III, 
251  329  447. 

Sabier  265. 

Sabinian  v.  Perrha  II,  363. 

Sabinus  II,  92  225. 

Sachsen  III,  245. 

Sacrament  180  f.  225  297 
351  371  392  ff.,  siehe  My- 
sterien III,  10  35  ff.  39  ff. 
51  f.  140  —  147  180  182 
186  f.  330  333  335  340  f. 
368ff.378f.402405ff.410 
414 ff.  440  462—524  595 
bis605  661  721—724729 
737  746  ff. 

Sacramentalien  111,413  466 
486  604  f. 

Saeculum  obscurum  III, 
321. 

Salimbene  III,  373. 

Sallustius  732  III,  172. 

Salomonische  Schriften  II, 
70. 

Salvian  III,  217. 

Samarien  (Religion)  206  f. 

261  II,  243. 
Sampsäer  260. 
Sardika,  Synode  II,  63  101 

230  238  MO  f.  255  278. 
Sardinien,BischöfeIII,228f. 
Sarpi  III,  591. 
Satisfaction  387  524  f.  II, 

177  f.  III,   16  f.    22   206 

288  ff.  ;M1— 358  453  ff. 

508  ff.  663  682  ff  711  f. 

728 
Satornil209f.  212  220f. 
Savouarola  III,  386  578. 
Savonieres, Synode  111,268. 


Sachregister. 


785 


Schafi  m,  587  f. 

Schechina  91. 

Scherr,  Erzbischof  III,  626. 

Schisma  v.  484-519 II,  380. 

Schisma,  das  grosse  päpst- 
hchelll,  411f. 

Schismatiker  852  lU,  127  ff. 

Schleiermacher  31  f.  III, 
762. 

Schlüsselgewalt,  s.  Busse. 

Schmalkaldische  Artikel 
III,  582  627  695. 

Schöpfung  150  208  fif.  218  f. 
480  f.  490  575  f.  587  f. 
666  f.  698  716  f.  735  743 
I[,  65  208  in,  103  108  f. 
181  448  f.  711. 

Scholastik  7  32  f.  II,  37  40  f. 
121  126  291  295  308  333 
383  f.  889  897  399  407 
411£f.420439478ff.481ff. 
III,  312  ff.  419  ff.  439  ff., 
s.  Nominalismus,  Tho- 
mas, Duns  etc. 

Schrift,  heilige,  s.  A.  und 
NT.  II,  50^f.  64  70-83 
84f.  199  200  201211216 
252294  315  817  320332f. 
361  376  433  443  458  482 
III,  14  20  65  87  f.  413 
424  f.  430  439  462  582 
593  f.  623  ff.  658  661  f. 
668  ff.  705  727  f.  736  737 
744  ff. 

Schriftauslegung,  s.  AUe- 
goristikS.386  483f.573 
672  III,  736  u.  sonst. 

SchriftbeweisII,  75ff.  281 
457  465  477. 

Schriftorakelbefragung  II, 
446  f. 

Schriftstellerei,  s.  Litterat. 

Schrifttheologie  483  f.  518. 

Schuld  524  III,  42  f.,  siehe 
Sünde,  Erl)sünde. 

Schulen,  guost.  u.  kirchl. 
203  209ff.228  234f.255f. 
297  f.  549  ff.  627  709. 

Schutzengein,448III,  235f. 

Schwarmgeister,  S.Wieder- 
täufer. 

Schwenkfeld  III,  657  6G3 
754. 

Schwindler,  christl.  202  f. 

Scillitani.sche  Märtyrer- 
Akten  305. 

Scotus  Duns,  s.  Duns. 

ScotuH  (Erigena)  IT,  1 07  298 
.",91  lir,  32  2441".  247  266 
319  .334  378  420  444. 

Secta  203. 


Secten,    jüdische  §  3  6  7 

S.  205  f. 
Secundus  v.  Ptolemais  II, 

184  189  230. 
Secundus  v.  Tauchira  II, 

181. 
Seele,  als  Braut  Christi  525 

600  701  f.  II,  11  f.  110. 
Seele  Christi  II,  303  ni, 

115  f. 
Seele,  menschl.  585  f.  589 

595  671  688  728  ff. 
Seelenmessen    III,    237  ff. 

241  275  287. 
Seelenschlaf  601  f. 
Seleucia,   SjTiode  11,    186 

249  f. 
Seligkeit  590  ff.  II,  45  fif.  66 

III,121ff.  388405  f.  440ff. 

720. 
Semiarianer  643,  s.  Euse- 

bianer  u.  Homöusianer. 
Semipelagianer    III,     169 

219  ff.  615  635  643. 
Semitische     Kosmologien 

193  f. 
Semler  29. 

Seneca  106  119  IH,  21. 
Sens,  Synoden  in,  267. 
Sentianus  v.ßoräum  11, 184. 
Septuaginta99  f.  484 II,  71f. 

83. 
Serapion  v.  Antiochien  1 32 

249  317  319. 
Serapion  v.  Thmuis  II,  280. 
Sergius  v.  Konstantinopel 

II,  403  f. 
Servatus  Lupus  III,  265. 
Servede,  Michael  III,  661 

664  f.  692. 
Sethianer  u.  Seth  200  744. 
Seuse  m,  37  7  f.  382  385  388. 
Severianer(Enkratiten)201 

253  313. 
Severus,  Monophysit  und 

Severianer  II,  380  383  f. 

386  ff.  392  f.  402  438. 
Sibyllen  51  93  f.  128  f.  155 

418  437  511  527  547. 
Siebenbürgen  III,  666. 
Siegel,     Bezeichnung    der 

Taufe  177  f. 
Simon  Magus    104  206  ff. 

267  ff.  747. 
Simon,  Richard  III,  624. 
Simonianer  166. 
Simonie  III,  207. 
Simrtnistisclie  Weihen  III, 

407. 
Sirni)licius,  Papst  II,  370. 
SimpliciuH,  Philosoph  733. 


H a rn  a  f! k  ,  Do{?iii<!iigo,H(;hiclite  III . 


Sirach  388. 

Siricius  in,  51  252. 

Sirmium,  Synoden  u.  Sym- 
bole II,  66  242  ff'.  247  ff 
278. 

Sisinnius,  Lector  II,  273. 

Sittengebote  u.  Sittlichkeit,. 
Christi.  119  128  ff.  145 
290  f.  297  f.  327  f.  354 
357f.360ff.365400414ff. 
450f.n,53ff.l29ff.  136ff. 
m,  c.  3,  c.  4  S.  405  f. 

SittHchkeit,  doppelte  201 
365  379  381  563  745  ff. 

II.  c.  1  u.  2  ni,  43  50  f. 
189  645  f.  561  720. 

Sittlichkeit,  gnost.  224  f. 
Sittlichkeit,   manichäische 

744  ff. 
Sixtus  IL  681  II,  349  f. 
Sixtus  IV.,  Papst  III,  561. 
Skepticismus  721  III,  68 

70  f. 
Sketische  Mönche  II,  122 

471. 
Skythische     Mönche     II, 

382  ff.  385  in,  228  ff. 
Slaven  U,  43  III,  6. 
Socin  n.  d.  Socinianismus 

III,  3  8  170  430  453  573 
581  653—91. 

Sokratesl04  108421ff.430 
563. 

Sokrates,  Kirchenhistori- 
ker 342  369  378  669  II, 
7  f.  20  28  45  57  88  90 
102  136  254  258  273  f. 
340  474. 

Sonntag  251  256  385. 

Sopater  732. 

Sophrouius  II,  46  55  403f. 

Soter,  röm.  Bischof  404. 

Soterichos  III,  338. 

Soteriologie  680  III,  50  ff. 
etc.  etc. 

SozomenusII,7  74  102  449 
474. 

Sozzini,  s.  Socin. 

Spanische  Dogmengesch. 
III,  7  248  ff.  270. 

Spanische  Synode  v.  Jahre 
447  II,  297. 

Spener  III,  751. 

Spinoza  III,  328. 

Spiritismus  II,  8. 

Spiritualcnm,309  372658. 

Spiritualismus  u.  -lisirung 
llOf.140  151f.187ff.697. 

Staat,  christl.  Beurtheilung 
des  62  f.  140  427  il  im 
IILBd.  passim.  Z.B.709. 

50 


786 


Sachregister. 


Staat  u.  Kirche  II,  35  f. 

42  f.  35 Ur.  393  405  454 

bis    4Ö2    III,    130—140 

307ir.392rt".403f.7ü9utc. 
Stiuitsreligiüu  103  f.  u.  II, 

passim  III,  571  f. 
Staupitz  III,  27  384437573. 
Stellvertretung  172  522  II, 

175,  s.  Satisfactiüii. 
Stei)haiiu9  bar  Sudaili  II, 

128  169  390  f.  424  478. 

III,  244. 
Stephaiius  Gobarus  23  G80 

II,  98  391. 
Stephanus  Niobes  II,  390. 
Stephanus,    röm.    Bischof 

347  ff.  372  403  408  410. 
Stephanus  von  Antiochien 

II,  241. 
Stiftshütte  711. 
Stoicismus  106  f.  109  f.  153 

205  211  269  417  ff.  426 

432    4e39   485   487    570 

651  ff.  720  ff.  725  II,  57 

122  III,  15  19  21  27  50 

154  172  179. 
Strafleiden  III,  342  351  f. 

u.  sonst. 
Subordination,  s.  Logos  u. 

II,  16  f.  200  202  237  244 

247  258  '^89  294. 
Substanz  (i.  d.  Gotteslehre 

und  Christologie)  489  ff. 

511  ff.  II,  199  203  213f. 

229f.  252  256f.  285  287f. 

290  u.  das  8.  u.  9.  Gap. 
Sünde  55  59  f.  72  f.  82  106 

108  142  144  170  f.  219 

367—78  499  501  f.  505 

509  571  590  ff.  690  699 

715  f.  II,  137  ff.  146  ff. 

158  164  171  III,  29  42f. 

50  ff.    59  ff.   79  f.   102  f. 

104f.  173ff.  177ff.  190ff. 

236  ff.  242  289  ff.  343  ff. 

498ff.533ff.  544ff.548ff. 

607ff.713f.  720  744  752. 
Sündenfall  151f.218f.499ff. 

504  ff.  571,  siehe  Sünde, 

Adam. 
Sündenvergebung    54 — 57 

59  f.  72  f.  106  108  142  ff; 

169  ff.  176  f.  180  262  f. 

363f.  367— 78  380  393  ff. 

397f.  457f.522n,  142f. 

III,33f.  77ff.  158f.l81f. 

187  205  238ff.242  288ff. 

843ff.  537ff.  544f.  609ff. 

680  ff.  701  f.  716  ff.  758. 
Sulpitius  Severus  II,  4  9  f. 

449. 


Superabundans  satisfactio 
III,  455  ff. 

Superadilitum  III,  531  ff. 
544  f.  607  029  713. 

Syllabus  III,  648. 

Syllogismen  d.  Ai)olles230. 

Symbol,  augustinische  Er- 
klärung desselben  III, 
200  ff. 

Symbole  (Glaubcnsregeln) 
130  f.  283  f.  288  ff.  303 
336348  401f.  704  f.  707  ff. 
n,  61f.  65  f.  85  ff.  267  f. 
298  ff'.  308  420  465  u.  das 
11.  Cap.  III,  47  f.  85  f. 
87f.200ff.218443ff.571f. 

Symbole  (Zeichen)  176  ff. 
180  187  ff'.  II,  41  f.  u.  das 
10.  Cap.  III,  s.  Abend- 
mahl. 

Symbole,  evangelische  III, 
761  f. 

Symmachus,  Ebionit  256. 

Synagoge  des  Satan  148. 

Guvdccpeia  II,  237  331. 

Sutri,  Synode  III,  309. 

Synesius  732  735  II,  34  00 
143  468. 

Synkretismus  102  f.  187  ff. 
206  ff.  281  284  380  f.  IT, 
7  13  f. 

Synode  285,  s.  Concilien  u. 
Provinzialsynoden, 

Synoptiker  609  618  ff. 

Syrian  733. 

Syrischer  Kultus  (Gnosti- 
ker,  Kirche)  192  ff.  206  ff. 
209  ff.  247  256  267  320 
402. 

Tacitus  104. 

Talleyrand  III,  202. 

Talmud  246  260  III,  420 
605  644. 

Tamburini  III,  645. 

Tarasius  v.  Konstantinopel 
II,  459  III,  270. 

Tatian  u.  Schule  121  132 
157163165  167174200  f. 
203  215  f.  307  315  361 
402  525  653  680  690  II, 
72  131  475. 

Taufbekenntniss,  s.  Be- 
kenntniss,  Glaubensre- 
gel, Symbole. 

Taufe  68  113  122 136 142  ff. 
147  176  ff.  189  225  237 
263f.289368ft'.387f.392f. 
394— 396413— 464429ff. 
461  f.  471  476  488  503 
506  600,  s.  auch  Myste- 


rien u.  II,  420  f.  434  443 
III,40f.51  52  141  ff.  182 
187f.  232  f.  238  340  394 
470  f.  484  ff.  597  609 
679  f.  722. 

Taufe  Christi  91  131  161 
164  173208220  264515f. 
618633639041 III,  255  f. 

Taufformel  08  f.  113  167 
176  f. 

Tauler  III,  377  385  731. 

Tempel  711. 

Terminologie,  dogmati- 
sche, von  Luther  bean- 
standet III,  728  f. 

Tersteegen  III,  94. 

Tertiarier  III,  366  387. 

Tertullian  100  104110  126 
132  135  f.  142  f.  150  157 
159  174  176  f.  184  190  f. 
198  205  211ff.  214f.  221 
226  ff.  250  280  f.  285  ff. 
292  296—299  300  306 
308—328  329  ff.  335  ff. 
338  ft\  343  ff.  350  f.  350 
358ff.  364f.  368tf.377ff. 
381  383  f.  386  ff.  391  ff. 
394—397  401  ff.  408  ff. 
420  434ff.  413—464  pas- 
sim. 464—547  548  550 
577  592  598  604ff.612ff. 
649  653  ff.  656  661  664  ff. 
672   677  697  702  705  f. 

II,  122  133  138  177 
229  f.  276  f.  286  ff.  297 
307  f.  342  314  359  427 

III,  5  12—22  68  88  198 
246  312  353  498  569  673 
738. 

Testamente,  s.  A.  u.  NT.  u. 

Schrift,  heilige. 
Testam.  XII   Patriarchen 

157  166. 
Tetraditen  II,  290. 
Tetzel  III,  512. 
Teufel,  s.  auch  Dämonen  u. 

151ff.218f.264  351520f. 

588  592  743  II,  65  125  f. 

127  174f.181f.443f.  III, 

184  235  f.  344  357  358 

361  707. 
Textrevisionen  bei  Zusam- 
menstellung des  Kanons 

311  f. 
Thaies  III,  173. 
Thamer  III,  657. 
Thatsachen  der  Geschichte 

Jesu,  s.  Kerygma. 
Theklaacten  155  308. 
Themistius  732. 
Theodas,  Gnostiker  210. 


Sachregister. 


787 


Theo(üceII,124f.m,112ff. 

450. 
Theodora    (Kaiserin)     II, 

393  ft\ 
Theodora(9.Jahrh.)n,461. 
Theodoret  653  676  II,  34 

61   78  84  102  293   326 

346f.  355 ff.  358  363  365 

370ff.  395 f.  438  449  461 

475  ff. 
Theodorich  v.  Freiburg  III, 

375  388. 
Theodorus  Askidas  II,  395f. 
Theodorus  v.  Heraklea  II, 

326. 
Theodorus  v.  Konstantino- 

pein,  408f. 
Theodorus  v.  Mop.  646  II, 

12  40  70  73f.  76  78f.  100 

151—153  169  171  292 

325—333  348  356  395  f. 

438  476  ff.  m,  154  169 

228  253  673. 
Theodorus  v.  Rom II,  405. 
Theodorus  Studita  II,  452 

460  ff.  466. 
Theodorus  von  Tarsus  III, 

247  290. 
Theodorus  v.  Synnada  386. 
Theodosius  I.,  U,  80  33  f. 

88100f.264ff.  269— 274. 
Theodosius  n.,  11,  345  348 

355—366. 
Theodosius  ,      arianischer 

Bischof  II,  198. 
Theodosius  v.  Alex.  II,  894. 
Theodosius  v.  Ephesus-II, 

457. 
Theodotianer ,    s.    Adop- 

tianer. 
Theodotus,  Gnostiker  161 

225  525  11,81  421. 
Theodotus,   Monarchianer 

408  621—48  passim.  652 

656  659  III,  664. 
Theodotus,   der  Wechsler 

624  ff 
Theodotus  v.  Laodicea  II, 

184. 
Theodulf  III,  271. 
Theognis  II,  184  225  231 

234. 
Theognost  688ff.  II,  16  61 

221. 
Theoktistus  v.  Cäsarca  386 

550. 
Theologie,  Aufgaljc  u.  Ur- 

sjjruug  d.  christl.  §  5 — 8 

U.S.  Ulf.  137  ff.  190  ff 

203f.  366f.  439f.  466f!. 

560  573.   Dibcrediliruiig 


derselben  III,  537  f.  Lu- 
ther's  Stellung  zu  ihr  III, 
710;  s.  auch  Dogma  und 
Abendland  etc. 

Theologie  ,  natürliche  ,  s. 
Rationalismus  u.  II,  49 
53  ff.  115  ff.  129  ff.  143 
146ff.  157f.  163  170  289 
416  464  482,  s.  auch  Au- 
torität u.  Vernunft. 

Theologie,  orthodoxe  561 

II,  c.  11. 

Theologie ,  wissenschaftl. 
560  562  568  709  II u.ni, 
passim. 

Theologie  u.  Dogma  II,  27f. 
462ff.479ff.,s.  auch  Dog- 
ma im  Abendland. 

Theonas  v.  Marmarika  II, 
184  189  230. 

TheopaschitischerStreit  II, 
290  381ff.  385  392f.  398 

III,  228. 
Theophanie,  alttestam.  609 

629  f.  660. 
Theophilus,  Apologet  292 

299  319f.413— 464  432ff. 

471  476  503. 
Theophilus,  Kaiser  11,461. 
Theophilus  v.  Alex.  II,  28 

166  232  346  348  473  III, 

319. 
Theo^Dompus  694. 
Thesaurus   indulgentiarum 

III,  514f. 
Thierkreis      (Sternbilder) 

748. 
Thiersch  36. 
Thomas  a  KempisIII,  377f. 

385  575. 
Thomas  v.  Aquino  III,  313 

314  374  376  378  380  382 

383f.385  393  396ff.402ff. 

407  f.  420  422—428  431 

434  443—562  565  f.  568 

576  589 f.  597  605  ff.  618 

628ff.  642  672  f.  685  f. 
Thomas  Münzer,  JII,  384. 
Thomasacten  II,  42. 
Thomasevangelium  204. 
Thomasius,  Christian  III,  3. 
Thomasius,  Gottfried  34. 
Thomasius-Secberg  111,316 

360  f.  402  585  699  700 

727. 
Thomassin  111,  620. 
Tichouius  III,  79  110  133 

156. 
Timothcus  Aelurus  II,  378. 
Timothcus,  Ax)olliDari8t  II, 

320. 


Timothcus,  Presb.  II,  258. 

Titus  V.  Bostra  741. 

Tobias  388. 

Tod  452f.  501  f.  505  699  II, 
45f.137ff.145151f.155f. 
157ff.  164f.  445f.  4ö3f. 
III,177f.l94u.sonst672. 

Tod  Christi  55  72  f.  114131 
157  f.  169  ff.  179  f.  221 
457f.  520f.  523ff.  569 
592ff.700f.715II,  172ff. 
430  III,  48  f.  181  184  f. 
235 f.  292  341—358  380 
458  ff.  472  496  ff.  676  ff. 
682  ff. 

Todesstrafe  III,  295. 

Todsünden  367f.  375  378 
398  m,  176  f.  481  f.  491 
501  f.  509  516  614. 

Toledo,  Stuhl  ni,  251  f. 

Toledo,  Synoden  II,  298 
III,  252. 

Tolomeo  v.  Lucca  III,  398. 

Torquemada  III,  399  f. 

Toucy,  Synode  III,  269. 

Tours,  Synode  III,  451. 

Tradition  129  130—137 
215ff.  237ff.  242  273ff. 
278  f.  288—303  328  ff. 
465ff.  5481552  5571608 
II,  84—109  273  2811 
391  4561,  s.  Papst,  Rö- 
mischer Bischof  u.  III, 
559  593  ff.  623  ff.  6611 
682ff.  7271  734. 

Traditionalismus  II,  27  f. 
651681  260  273  349419 
424  4631  465  466  472  ff. 
480  ff.  etc.  III,  647. 

Traditor  ni,  351 

Traducianismus  II,  133III, 
441  1781226. 

Transformation  II ,  434 
436  ff.  440. 

Transsubstantiation  225 II, 
429  43311.  III,  144  241 
275  ff.  338  413  433  4411 
488—496  598. 

Trichotomie  589. 

Tridentinum  lU,  232  308 
412  504  525  553  580  588 
bis  617  760. 

Trinität,  Anfänge  und  Ent- 
wickelung  68 11291  220 
446  469  489  ff.  498  584 
611  649  n,  25  45  53  116 
143  182  ff.  199  284  285 
bis  301  318  383  387  421 
4671  482  III,  471  270 
380  446  ff.  575  6731  711 
729  7411 

50* 


788 


Sachregister. 


Trishap^iun  11,  :  8lt.  412. 
'rritlu'isnms  HS2  H8r.  f.  Hy;U'. 

11,290  38«  391  111, 446  f. 
x^ÖKfii  oKttp^suic;  11,252  25Ht" 

28«  294  f. 
Tryphü  427. 
Tsclicchuii  111,  ;^86  389. 
Tiij(üiul  413—464  729  738 

II,  53  f.  129  f.  111,  122. 
Turbo  742. 
Turriauus  638. 
Tutiorismus  III,  644. 
Tyaua,  Bischof  von  II,  230. 
Tyaua,  Synode  II,  261. 
Tyi)osll,405f. 

Tyro  III,  220. 
Tyrus,  Synoden  II,  234  237 
363. 

Ubertino  deCasaleIII,372. 

Ubiquität  111,494  742  7561i". 

Uebel  570  f.  etc.,  s.  Sünde. 

Ueberliefernng  129  130  bis 
137  215  ft"  237  ff.  242 
273  ff.  278  f.  288—303 
328  ff.  465  ff.  548  f.  552 
557  f.  626.,  s.  Tradition. 

Ullilas  II,  220. 

Ultramontanismus  III,  621 
623  u.  sonst. 

Unam  sanctam,  Bulle  III, 
396. 

Unbefleckte    Emptängniss 

III,  211  639. 
Unfehlbarkeit   m,  897  ff. 

567  625f.  647— 653. 
Unificirung  d.  Kirchen  II, 

31  f. 
Unigenitus,  Bulle  III,  517 

636  ff.  646. 
Union  III,  585  f. 
Unionssymbol  v.  J.  433  II, 

346  f.  354  f.  357  375. 
Unionsverhandl.  Roms  mit 

den  Griechen   III,  396 

402  f.  452  f. 
Unitarier,    s.  Adoptianer, 

Antitrinitarier. 
Universalität  des  Christen- 

thmns  566. 
Universalreligion    §   3 — 8 

S.   186  ff.    207  ff.    244  ff. 

259  f.  566. 
Unsichtbare    Kirche    III, 

409  f. 
Unsterblichkeit  102  141  ff. 

193     413—464    passim. 

473  ff.   738  II,   45  f.  59 

129  ff.  445  f. 
Uranius  von  Tyrus  II,  247. 
Urban  VIII. ,  Papst  111,635 . 


Urbilder  89  f.  712  (Urbild 

u.  Abbild)  728. 
Urnieusch  743. 
UrsaciuslI,  240  242f.246ff. 

251. 
Urständ,  8.  Apologeten  u. 

499  ff.   II,   i:55ff.  146  fr. 

III,   177  ff  190  ff.  195  f. 

531  it  544  f.  607  f.  629 

713  f. 
Urwesen  727  f. 
Usia,  s.  Substanz. 
Utrecht,  Kirche  von  III, 

633. 

Valence,  Synoden  III,  230 
266  268. 

Valens,  Bischof  II,  240 
242  f.  246  f.  249  251. 

Valens,  Kaiser  II,  34  259 
261  ff. 

Valentin,  Apollinarist  II, 
389. 

Valentin  u.  Schule  99  122 
125  127  135  155  161 
173  184  191  194  197  f. 
200ff.  204  211— 214  215 
bis  225  282  315  336  406 
464  ff".  468  476  490  494 
507  f.  519  534  571  f.  592 
597  f.  601  608  653  665 
680  690  705  f.  726  f.  II, 
11  81  128  189  193  f.  211 

302  ff.  311  357  363  III, 

303  382  664. 
Valentinian ,     Kaiser     II, 

263  f. 
Valentinian  II.,  Kaiser  II, 

272f. 
Valentinian  III.,  Kaiser  II, 

365. 
Valerius  comes  III,    168. 
Vandalen  III,  225. 
Vasquez,  Gabriel  III,  643. 
Vater,  Gott  als  der  54  ff. 

58  f.  150  f.  581  f.  6591*. 

683  ff. 
Väter,  Instanz  der  II,  96  f. 

481  u.  sonst  III,  594. 
Vaticanum  III,  412    623 

624  639  647—653  760. 
Vegetarianer  200  f.  263. 
Vercelh,  Synode  III,  334 

337. 
Verdammung     der    unge- 

tauften  Kinder  III,  193 

221. 
Verdienste    u.    Verdienst 

Christi  387  f.   524  f.  II, 

177  f.    in,  16  f.  22  77  ff. 

188  f.  210  237  ff.  291  ff. 


341  350  3581.  453  ff.  478 
482  f.  505  514  f.  526  f. 
529  ff.  532—542  (merita 
de  condiguü  et  de  con- 
gruo  54811'.  55411.  61 3  ff. 

Verfassung  181  ff.217  248f. 
276  II,  8  88f.  91  ff.  112 
III  passim. 

Vergerio  III,  665. 

Vergottung  (Antheil  an  d. 
göttlichen  Natur)  103  f. 
160  281  472«.  499  f.  503 
524  546  f.  564  f.  593  f. 
610  II,  44  ff.  139  f.  307  f. 
u.  sonst  häufig,  z.  B. 
429  432  III,  20  463  468 
479  483  522  f.  547. 

Vergottung  Christi  164  596 
667. 

Verklärung  697. 

Verklärung  Christi  596  f. 

Versöhnung  519  521  f.  525 

II,  175f.  177f.  180f.  III, 
42  341  ff  358ff.  453ff. 
711f. 

Versuchung  Christi  520, 
Verwandlung  des  Logos  in 

Fleisch  165  512f.  596. 
Veuillotlll,  621. 
Vienne,  Conciim,308486. 
Vigilantius  II,  67  449f.  III, 

25  51  251. 
Vigilius  II,  395  397  f.  409 

479. 
Viktor  I.  299  331  344  349 

404  407f.  622  654  ff'.  685. 
Viktorinus  Pett.  470  526 

672  733111,26. 
Viktorinus  Rhetor  lU,  26 

30  ff.  250  (INIarius). 
Vincentius  v.  Lerinum  II, 

83  87  92  100  105  106  f. 

308  342  344  346  474  III, 

219 f  625 
Virgini'tät  II,   10  f.  62  136 

III,  25  f. 

Vitalianll,  380f. 

Vitalian,  Papst  II,  407  f. 

Vitalins  II,  319. 

Vocatio  gentium  (Abhand- 
lung) ni,  224. 

Vollkommenheit,  evangel. 

§4S.  200 f.  377  379  594 

741. 
Voltaire  III,  639. 
Vorreformatoren  III,  144 

374ff.  469. 
Vorsehung II,  124  f.  m450 

675  etc. 
Vulgata  III,  593  f. 
Walafrid  III,  247  274. 


Sachregister. 


789 


Walch  26. 

Waldenser  HI,  367 f.  408 

410  571  658. 
Walter  v.  St.  Victor  III, 

339  421. 
Walter  v.   d.  Vogelweide 

III,  453. 
Weigel  in,  657  661  663. 
Weihrauch  III,  604. 
Weisheit  Salomonis  95  314. 
Weissagungsbeweis  70  f.  87 

93  146f.  217  f.  423  ff.  438 

453ff.  522  531  534  593. 
Weizsäcker  2  19  36  45  67 

73  77  79  81  137  185. 
Weltl50ff.570ff.714728f. 

743II,  c.  4in,  448f. 
Weltbürgerthum  94  105  f. 
Weltgeschichte  680  722. 
Weltstaat,  römischer  105 

400  f.  407  719  723  f.  III, 

297  f. 
Weltverklärung  153. 
Wergeid  lU,  292  f. 
Werk  Christi  54 f.  59  72  f. 

169—173  518ff.  593  599 

II,  172ff.  Im  III.  Bande 

passim.,  s.  Augustin,  An- 

selm,    Abälard,    Petrus 

Lombardus ,       Socinus, 

Versöhnung,      Satisfac- 

tion,  Jesus. 
Werke,  gute  387  ff.  524  f. 

IIc.  2u.  5  III,  188  f.,  s. 

Verdiensten.  III,  717  f. 

720. 


Wesel  III,  437  495  518  f. 

553  576. 
Wessel  [li,    437  462  480 

514  518  f.  553  576. 
Westgothen  m,  251  f. 
Westminster      Confession 

III,  585  587  f. 
Wicliflll,  388f.  402  412ff. 

430  436f.  488  495  498 

514  518  f.  576. 
Wiedergeburt  82  143  394 

600  700  III,  378  484  f. 
Wiederkunft  Christi  60  71 

126  f.  139f.  152223355f. 

519  526  f.  II,  65  f. 
Wiedertäufer  360  378,  der 

Reformationszeitlll  ,573 

654ff.658f.664  689  737ff. 

747. 
Wilhelm  v.  Auxerre  III, 

470  480. 
Wilhelm  v.  Champeaux  III, 

324  421. 
Wilhelm  v.St.Thierry  III, 

361. 
Wille  142  f.  223  II,  53  ff. 

130  ff.  in,  100  ff.  173  ff. 

221  f.  226  f.  431    445  f. 

526ff.533ff.551ff.6  9ff. 

714  f. 
Wittwen  184. 
Wort  und  Sacramcnt  III, 

140  f.  243  721  ff.  737  744  ff. 

753  f. 
AVunder  59  566  f.  n,  7  III, 

111  235  450. 


Xenajas  II,  169  380  388  f. 

391. 
Xcnophanes  III,  172. 
Xystus,  Gnomen  129. 

Zacharias  von  Mytilene  II, 

354. 
Zahl   der   Sacramentc  II, 

421  m,  463  f.  595. 
Zahn  675. 
Zeno,  s.  Stoicismus  u.  II, 

348  379  III,  172. 
Zeno  von  Verona  III,  46. 
Zenodotus  733. 
Zephyrin  408  631   651  ff. 

663  676  685. 
Zeugung  Christi  581. 
ZojDyrus  v.  Barka  II,  18'J. 
Zoroaster  u.  -strismus  744 

747. 
Zosimus,  Papst  III,  135  1 53 

165  ff. 
Zweinaturenlehre       164  f. 

220  f.  476  511  ff.  515  f. 

597  ff.  II,  310  321  343, 

dazu  das  9.  Cap.,    bes. 

383ff.  389429  575677  ff., 

s.   auch  Adoptianismus, 

Nestorianismus ,     Jesus 

Christus  etc. 
Zwingli  III,   144  287  469 

665  719  754ff.  760. 
Zwischenzustand  II,  (j6  f., 

s.  Fegefeuer. 
Zwölf,  die  132—137. 


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